COLUMBIA LIBRARIES OFFSITE
liniifi'rL'i'n^filF.'^CES STANDARD
HX00052213
■^}^.
Digitized by the Internet Archive
in 2010 with funding from
Open Knowledge Commons
http://www.archive.org/details/bibliothekderges05dras
BIBLIOTHEK
DER GESAMMTEN
MEDICINISCHEN WISSENSCHAFTEN
FÜR
PRAKTISCHE AERZTE UND SPECIALAERZTE.
HERAUSGEGEBEN
VON
HOFRATH PROF. DR. A. DRÄSCHE IN WIEN
untee mitwirkung der hekeen
Prof. Arnold, Dr. Asmus, Prof. Babes, Doc. Bach, Dr. Barnick, Doc. Baumert, Dr. Beckh,
Dr. Bergeat, Prof. Bergmeister, Doc. Bkrnheimer, Prof. Beumer, Prof. Biedert, Prof.
Birnbacher, weil. Prof. Birnbaum, Dr. Boas, Prof. Böke, Prof. Brandl, Prof. Brandt,
Prof. Braun, Doc. v. Braun, Dr. M. Braun, Doc. Braünschweig, Redact. A. Brestowski,
Dr. Brik, Prof. Brunker, Dr. Buchholz, Prof. v. Buchka, Prof. Bürkner, Prof. Büsing,
Prof. Chiari, Prof. Claus, Doc. Gohn, Prof. Chvostek, Prof. Czermak, Prof. Dittrich,
Prof. Döderlein, Dr. Dräer, Prof. Dreser, Prof. Droysen, Prof. Düring, Prof. Dührssen,
O.-A Dr. Eichhoff, Prof. Elischer, Doc. Elschnig, Prof. Emmert, Prof. Escherich, Prof.
Finger, Prof. v. Fodor, Dr. E. Freund, Prim. v. Frisch, G. A. Frölich, Prof. Frommel,
Prof. Gärtner, Doc. Geigel, Prof. Geppert, Prof. Goldschmiedt, Doc. Gomperz, Prof.
Gottlieb, Prof. Gradenigo, Dr. Graefe, Prof. Greeff, Dr. Gutzmann, Doc. Hajek, Prof.
Hammarsten, Prof. Harnack, Doc. Haug, Doc. Havas, Doc. Heinz, Doc.Herrnheiser, Doc. Herz-
feld, Dr. Heryng, Prof. Hess, Dr. Higier, Doc. Hilbert, Dr. Hirsch, Prof. Hochenegg, Prof.
Hofmann, Doc. v. Hüttenbrenner, Prof. Jadassohn, Dr. Jaenner, Prof. Janowsky, Prof. Ja-
quet, Prof. Jendrassik, Dr. Jessner, Doc. Joachimsthal, Prof. Ipsen, Prof. Jrsai, R. A. Dr.
Kamen, Doc. Kaufmann, Prof. Kirn, Doc. Klein. Prof. Klug, Prof. Kohlsghütter, Doc.
Kopp, Dr. Kornauth, Prof. Kossel, Doc. Koväcs, Prof. Kratter, Prof. Kraus, Dr. Kreutz,
Dr. Krüche, Prof. Kuhn, Dr. Kurz, Dr. Kwisda, Prof. Lang, Prof. Lassar - Cohn, Prof.
Lesshaft, Prof. Lieeermann, Prof. t. Limbeck, Prof. Litten. Prof. Loos, Prof. Maydl,
Doc. R. Meyer, Prof. Mosso, Prof. Mracek, Doc. Naumann, Dr. Neudörfer, Prim. Neu-
gebauer, Hofr. Prof. Neümakn, Hofr. Prof. Neusser, Prof. Nevinny, Prof. Obalinski,
Dr. V. Oefele, Doc. Ortner, Doc. Pal, S. R. Pätz, Doc. Pawinski, S. R. Dr. Pelizaeus,
Prof. Penzoldt, Prof. Piskacek, Prof. Pohl, Dr. Polyak, Prof. Pott, O.-A. Dr. Prior,
Prof. Proskauer, Doc. Redlich, Prof. Riffel, Dr. Ritsert, Prof. Röhmann, Dr. Rosenberg,
Doc. Rosin, M. R. Roth, Dr. Saalfeld, Doc. Salzmann, S. R. Samelsohn, Zahnarzt Dr.
Schaeffer-Stuckert, Ger.-A. Dr. Schäffer, Prof. Schauta, Prof. Schech, Dr. Scheier,
Prof. Schimper, Prof. Schnabl, Doc. Schustlf.r, Geh.-R. Prof. Schweninger, Doc. Seydel,
Dr. Siedler, Prof. Silex, Prof. Singer, Prof. v. Sobieranski, Prof. Sommer, Dr. Spira,
Dr. Spkrling, Prof. Steinbrügge, Prof. S. Stern, Prof. R Stern, Prof. Stricker, Prof.
Tappeiner, Dr. Thimmweil, Prof. Trzebicky, Prof. üffelmann, Dr. Vahlen, Doc. v. Vajda,
Prof. H. Vierordt, Prof. v. Wagner, Doc. Jul. Weiss, Hofr. Prof. Wiesner, Doc. Winkler,
Prof. Witzel, Prof. Wolters, Dr. Woltersdorf, Prof. Zander, Dr. Zarkiko, Prosect. Dr.
Zemann, Dr. Zerner, O.-A. Dr. Zum Busch, Prof. Zuntz.
REDIGIRT VON
DR. JUL. WEISS UND A. BRESTOWSKI.
KARL PROCHASKA
WIEN K. UND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG
1. KUMPFGASSE 7. TESCHEN IN SCHLESIEN. ~ KÖNIGSSTRASSB 9/11.
1899.
HYGIENE
UND
GERICHTLICHE MEDICIN.
MIT BEITRÄGEN VON:
Prof. Dr. Anacker, Bingerbrück, — Dr. Balser, Köppeldorf, — Prof. Dr.
Beumer, Greifswald. — Redact. A. Brestowski, Wien. — Dr. Herm. Buch-
holz, Assistent am Institut für Inpectionskrankheiten, Berlin. — Prof.
BüsiNG, Friedenau. — Dr. Hbinr. Charas, Chefarzt und Leiter der Wiener
Freiwilligen Rettungsgesellschaft, Wien. — Dr. Carl Däubler, Berlin. —
Dr. f. Dornblüth, Rostock. — Dr. A. Dräer, I. Assistent am hygien. In-
stitut, Königsberg in Pr. — Dr. M. Elsner, Berlin. — F. Entlicher, Director
DES Blindeninstitutes Purkersdorf. — Prof. Dr. C. Emmert, Bern. — Prof.
Dr. J. von Fodor, Director des hygien. Instituts, Budapest. — Dr.
E. Freund, Vorsteher des Chem. Laboratoriums im k. k. Rudolfspital, Wien. —
Generalarzt Dr. H. Feölich, Leipzig. — Docent Dr. R. Heinz, München.
— Prof. Dr. F. Hutyra, Budapest. — Prof. Dr. Carl Ipsen, Vorstand des
Institutes für gerichtliche Medicin a. d. Universität Innsbruck. — Dr.
S. Jessnbr, Königsberg i. Pr. — Reg. -Arzt Dr. L. Kamen, Czernowitz. —
Dr. Knapp, Landesgerichtsarzt, Wien. — Prof. Dr. Kirn, Freiburg. — Dr.
Kornauth, Vorstand des bakteriol. Laboratoriums an der k. k. landwirth-
SCHAFTLICHEN CHEM. VERSUCHSSTATION, WiEN. PrOF. Dr. J. KrATTER, VoR-
stand des Institutes für Staatsarzneikunde, Graz. — Dr. Ad. Kreutz,
Strassburg i. E. — Pjiof. Dr. J. Loos, Innsbruck. — Dr. Marx, Assistent
Am Institut für Inpectionskrankheiten, Berlin. — Docent Dr. 0. Naumann,
Leipzig. — • Dr. Freiherr von Oefele, Bad Neuenahr. — Sanitätsrath Dr.
Paetz, Director der Pro vincial- Irrenanstalt Alt-Scherbitz. — Sanitätsrath
Dr. Pelizaeus, Suderode a./h. — Dr. A. Pfleiderer, Bondorf. — Prof. Dr.
PiSKACEK, Director der Landesgebäranstalt Linz. — Prof. Dr. B. Proskauer,
Berlin. — Dr. G. Puppe, Assistent am Institut für Staatsarzneikunde,
Berlin. — Prof. Dr. A. Riffel, Karlsruhe. — Medicinalrath Dr. Roth,
Bamberg. — Gerichtsarzt Dr. Emil Schäffer, Mainz. — Geh. Medicinal-
rath Dr. Schwartz, Köln. — Marine- Stabsarzt Dr. Spiering, Charlotten-
burg. — Dr. J. Stöhr, Chefarzt der k. k. Staatsbisenbahngesellschaft,
Wien. — Dr. G. Woltersdorf, Greifswald.
REDIGIET VON
A. BRESTOWSKL
Mit 2 Farbentafeln und 13 Figuren im Text.
KARL PROCHASKA
WIEN K. UND K. HOF- & VERLAGSBUCHHANDLUNG LEIPZIG
i. KüMPFGAssB 7. TESCHEN IN SCHLESIEN. köxigsstrasse 9/n.
1899.
Heil
1^1
Abdeckereien. Die Abdeckereien sind für die prophylaktische Hygiene
wichtige Anstalten, die zu derjenigen Gruppe von Abwehrmaassregeln gehören,
welchen die Unschädlichmachung bezw. Beseitigung der Abfälle zukommt.
Das Abdeckereiwesen bildet, wie R. Wehmer ^) ausführt, ein Glied, welches
zwischen dem Leichenbestattungswesen einerseits und der Beseitigung mensch-
licher und gewerblicher Abfallstoffe andererseits die Verbindung herstellt.
Aufgabe der Abdeckereien ist es, die Leichen für die menschliche Nahrung
untauglicher oder wegen infectiöser Erkrankungen getödteter Thiere unschäd-
lich zu machen, bezw. zu Producten umzuwandeln, die für manche tech-
nische und gewerbliche Zwecke brauchbar sind. Vielfach dienen Abdeckereien
noch dazu, Thiere, welche verdächtig sind, an gewissen Infectionskrankheiten,
wie Hundswuth, Rotz, zu leiden, bis zur Feststellung der Diagnose zu be-
obachten.
Die Abdeckereien müssen einer strengen gesundheitspolizeilichen Con-
trole unterworfen werden, welche hauptsächlich auf drei Punkte ihr Augen-
merk zu richten hat; nämlich:
1. dass eine Verbreitung von Infectionskrankheiten auf Menschen oder
Thiere von den Abdeckereien her vollständig ausgeschlossen ist,
2. dass durch das Abdeckereigewerbe keine irgendwie erheblichen Ver-
unreinigungen der Luft, des Wassers und des Bodens herbeigeführt werden;
3. dass unter Berücksichtigung der vorstehend aufgeführten beiden
Punkte unter Umständen eine Verwerthung der Materialien aus ökonomischen
Gründen möglich ist.
Diese Gesichtspunkte hat deshalb derjenige Theil der Gesetzgebung
aller Länder berücksichtigt, welcher sich mit dem Abdeckereiwesen beschäftigt;
wir finden nicht nur allgemeine Gesetze über Thierbeseitigung, sondern auch
Sondergesetze dafür 2). Besonders hervorzuheben ist das Deutsche Reichs-
gesetz über die Rinderpest vom 7. April 1869 und das Viehseuchen-
gesetz vom 23. Juni 1880 mit den Ausführungsbestimmungen
vom 21. Mai 1878 und 12. und 24. Februar 1881. Nach den letzteren
müssen alle von der Rinderpest, Milzbrand, Wildseuche, ToUwuth und Rotz
«befallenen oder dieser Krankheit verdächtigen Thiere getödtet und nebst
ihren Abgängen, sowie damit beschmutzten Gegenständen, ferner auch „die an
diesen Seuchen umgestandenen Thiere unschädlich beseitigt werden." Thier-
theile dürfen technisch nicht verwerthet werden. Die an Rinderpest ver-
dächtigen oder erkrankten Thiere müssen nach ihrer Tödtung entfernt von
Wegen und Gehöften in tiefen Gruben verscharrt und mit einer Schicht
von 2 m Erde bedeckt werden. Diese Plätze sind zu umzäumen und später
mit schnell wachsenden, tiefe Wurzeln treibenden Pflanzen zu bepflanzen. In
grösseren Städten und auf den unter regelmässiger veterinärpolizeilicher
^) ß. Wehmer, Abdeckereiwesen, Handbuch der Hygiene von Weyl. 2 Bd. II. Abthlg.
3. Lfg.
^) Zusammenstellung von Gesetzen, Verordnungen und sonstigen Bestimmungen über
das Veterinärwesen, insbesondere die Veterinärpolizei, sowie über verwandte Gebiete, welche
vom 30. Juni 1891 in Kraft waren im Jahresb. über die Verbreitung von Thierseuchen, be-
arbeitet im kais. Gesundheits-Amte in Berlin 5. Bd. S. 123. Jul. Springer Berlin
1891. — B. Beyer, Viehseuchengesetze, Berlin 1886 Parey. —
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 1
2 ABDECKEREIEN.
Controle stehenden Schlaclithöfen kann die Verwerthung der Häute und des
Fleisches von Thieren, welche bei der Untersuchung im lebenden und ge-
schlachteten Zustande gesund befunden sind, gestattet werden. Die Häute
müssen 3 Tage in Kalkmilch liegen bleiben, ehe sie freigegeben werden. —
Beim Milzbrand und bei der Wildseuche müssen die enthäuteten
Cadaver nach dem Uebergiessen mit Desinfectionsmitteln vergraben und die
Häute zerschnitten werden. Die Verscharrung hat an solchen Stellen zu ge-
schehen, welche von Pferden, Wiederkäuern und Schweinen nicht betreten
werden, und ^an denen Viehfutter weder geworben noch vorübergehend auf-
bewahrt wird." Die Entfernung solcher Gräber soll von menschlichen Wohn-
orten oder Ställen mindestens 30 m, von Wegen und Gewässern mindestens
3 m entfernt sein; die Gruben sind so anzulegen, dass die Oberfläche der
Cadaver wenigstens von einer 1 m starken Erdschicht überdeckt ist. — Für
Tollwuth gelten die gleichen Bestimmungen, wie für Milzbrand, nur dürfen
die von tollen Thieren gebissenen Schlachtthiere nach Ausschneidung der
Bissstellen genossen werden; diese Theile, sowie die getödteten Hunde und
Katzen müssen verscharrt werden. — Rotz (Wurm) der Pferde, Esel, Maul-
thiere und Maulesel macht die sofortige Tödtung der Thiere erforderlich und
zwar hat dies an abgelegenen, von der Polizei bestimmten Orten zu geschehen.
Beim Transport ist die Berührung der kranken Thiere mit gesunden zu ver-
meiden. Die Unschädlichmachung der Cadaver hat durch Hitze (Kochen bis
zum Zerfall der Weichtheile, trockene Destillation, Verbrennen) oder durch
chemische Mittel zu geschehen, eventuell sind die Häute durch Zerschneiden
unbrauchbar zu machen und in Gruben so zu verscharren, dass sie mit einer
ein Meter tiefen Erdschicht bedeckt sind.
Füi' die hier in Rede stehende Frage kommen ferner noch die Bestim-
mungen des Pteichsgesetzes betreffend den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genuss-
mitteln und Gebrauchsgegenständen vom 14. Mai 1879 und 29. Juni 1887 in
Betracht. — Ferner regelt noch eine grosse Anzahl von speciellen deutschen
Landesgesetzen das Abdeckereiwesen.
Von besonderer Wichtigkeit hiefür ist der in Preussen unterm 14 April 1875
veröffentlichte Minis terialerlass, enthaltend die Anleitung zur Wahrnehmung der
den Kreisausschüssen hinsichtlich der Genehmigung gewerblicher Anlagen übertragenen
Zuständigkeiten nach den Vorschlägen der technischen Deputation für Gewerbe. ^) Der für
„Abdeckereien" bestimmte Abschnitt spricht von den Uebelständen, die in Folge der Ver-
breitung übelriechender Dünste entstehen u. zwar beim Zerlegen der Cadaver, beim Trocknen
der Felle, bei ungenügender Verscharrung der Cadaver oder Cadavertheile. „Da bisher
keine zur Beseitigung dieser Misstände geeigneten Mittel existiren, so müssen Abdeckereien
in möglichst entlegene Gegenden verwiesen werden. Bei der Beurtheilung der Zulässigkeit
einer solchen Anlage kommt es namentlich auf die Entfernung der nächsten Wohnhäuser
und der in der Umgegend vorhandenen Wege an. OeffentUche Verkehrsstrassen dürfen in
nicht zu geringem Abstände vorhanden sein, weil die Passanten durch üble Gerüche be-
lästigt werden, auch die Pferde leicht vor dem Aasgeruche scheuen. Ueber die einzuhalten-
den Entfernungen lassen sich allgemeine Bestimmungen nicht vorschreiben, da hierbei
vorwiegend die lokalen Verhältnisse, die Beschaffenheit des Terrains, die vorherrschenden
Windrichtungen etc. in Betracht kommen und für die Zulässigkeit derartiger Anlagen ent-
scheidend sind. Um den Arbeitsplatz, möglichst abzugrenzen, auch die Betriebsoperationen
den Augen der Passanten thunlichst zu entziehen, ist es zweckmässig, den Arbeitsplatz mit
einer mindestens 2-o in hohen, dichten Umfriedung (Wand- und Bretterzaun) zu umgeben;
ausserdem empfiehlt sich eine Umpflanzung der letzteren mit einer Hecke." Unter gleichen
Gesichtspunkten betrachtet der Erlass die Poudrette- und Düngerpulverfabriken, die häufig
mit Abdeckereien verbunden sind.
Von Oesterreichischen Gesetzen*) seien hier erwähnt die §§ 399— 402 des
Österreich. Strafgesetzbuches, welche Strafbestimmungen bei Uebertretung der gegen Vieh-
seuchen erlassenen Bestimmungen enthalten, und das Gesetz vom 29. Februer 1880, die
Abwehr_ und Tilgung ansteckender Thierkrankheiten betreffend, deren Bestimmungen im
Wesentlichen mit denjenigen des deutschen Viehseuchengesetzes übereinstimmen (s. o.)
^) Koch, Veterinärnormalien, betr. dass österr. Veterinärwesen. Perles, Wien 1893.
ABDECKEREIEN. 3
Der Betrieb des Abdeckereiwesens*) erfolgt entweder durch die
Viehbesitzer selbst, namentlich in kleinen Ortschatten und auf dem flachen
Lande, oft noch heimlich und unter Umgehung der gesetzlichen Bestimmungen.
Aus diesem Grunde kommt es vielfach vor, dass krankes Vieh kurz vor dem
Verenden abgeschlachtet („Kaltschlächter", „Katzen- und Polkaschlächterei")
und das Fleisch desselben in den Handel gebracht wird. Durch das Fleisch
„nothgeschlachteter" Thiere sind vielfach Intoxicationen und Infectionen ver-
ursacht worden (Wurstvergiftung, Botulismus, Fleischvergiftung, intestinale
Sepsis u. dgl. m.), die sogar zu umfangreichen Epidemieen geführt haben. ^)
Abgesehen von der an einzelnen Orten (z. B. in den bayerischen Alpen),
ausgeführten Verbrennung der Thiercadaver oder der Unschädlichmachung
durch Kochen der letzteren, was häutig unter Zusatz von Schwefelsäure
geschieht, hat die Abdeckerei durch die Viehbesitzer selbst den Nachtheil,
dass das Verscharren der Leichname an beliebigen Stellen zu neuen Epidemieen
führen kann. Diesem Uebelstande kann durch die Anlage von Wasen-
platzen (Schindanger, Schinderkuhlen) nur dann abgeholfen werden, wenn
diese so beschaffen sind, dass eine Verschleppung der Infectionsstoffe aus
ihnen unmöglich gemacht ist. Bolinger hält die Rasenplätze, immer für
einen gesundheitlichen Missstand, wenn das Vergraben der Thierleichen
ohne vorhergehende Zerstörung durch Chemikalien oder Hitze erfolgt.
Die Unschädlichmachung der zur menschlichen Nahrung unbrauchbaren
Thiere lässt sich in vielen Fällen mit einer Umwandlung derselben zu land-
wirthschaftlich und technisch verwerthbaren Producten verbinden. So hat man
vielfach Düngemittel (Poudrette) aus Thiercadavern hergestellt. Die Ueber-
führung der Thierleichen in eine der Landwirthschaft oder den Gewerben zu
Gute kommende Form geschieht entweder durch trockene Destillation, oder
durch Dämpfe (Dampfsterilisatoren). Bei der ersteren Art gewinnt man unter
Zusatz von Pottasche und Eisen gelbes Blutlaugensalz, oder ohne Zusätze
Thierkohle. Besser scheint sich die zweite Art der Unschädlichmachung zu
rentiren, indem sie ausser Fleischpulver und Knochenmehl als Düngemittel,
auch noch Leim (Gelatine) und Fett (Talg) liefert. Gerade in neuester Zeit
sind Apparate construirt. worden, die sich für diese Zwecke als praktisch
bewährt haben. Hierher gehören sogenannte Dampfsterilisatoren, auch
Digestoren, Hochdruckdämpfer genannt, wie solche z. B. von der
Dampfkunstdünger-Fabrik in Eutritsch-Leipzig, von der Berliner Abdeckerei,
in Kaiser-Ebersdorf bei Wien und vielen anderen Orten eingeführt sind. Vor-
nehmlich ist hier der von Dr. PtOHRBECK in Berlin construirte Dampfkocher,
der auf dem Berliner Schlachthof geprüft wurde und welcher sonst als un-
geniessbar erachtetes Fleisch für den Genuss tauglich machen soll, zu nennen,
sowie der von der Firma Pv,ietschel und Henneberg construirte Kafildes-
infector; letzterer gestattet in einer Operation Fleischdüngpulver, Leim-
wasser und Fett aus den Cadavern zu gewinnen. Ferner muss des Systems
Podewil zur Verarbeitung von Thierleichen gedacht werden.
Schliesslich können die Thierleichen in Poudrettefabriken mittels der
zur Müllverbrennung dienenden Destructoren vernichtet werden.
Ueber die Anforderungen, welche an das Abdeckereiwesen zu stellen
sind, hat sowohl der Deutsche Veterinärrath, als auch der Deutsche Land-
wirthschaftsrath, sowie der Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege
eine Ptcihe von Leitsätzen aufgestellt, die in den citirten WEHMER'schen
Abhandlungen eingesehen werden können. Eine Regelung des Abdeckerei-
*) Eich. Wehmer, Ueber Abdecker und Abdeckereien. Vierteljahr Schrift, f. öffentl
Gesundheitspflege 1887. Bd. 19. Heft 2.
^) E. V. EsMARCH, das Verhalten der Bacterien im todten Körper. Zeitschrift für
Hygiene. Band 7. Heft 1. — Petri, Ueber das Verhalten der Bacterien des Milzbrandes,
der Cholera etc.: in beerdigten Thierleichen. Arb. a. d. kais. Gesundh. Amt. Bd. 7. 1.
LoESENER, Ueber das Verhalten von pathosenen Bacterien in beerdigten Thiercadavern, ibid;
Band 12. Heft 2. 1*
4 ABORTE.
Wesens wird sich nur dann in einer den Anforderungen der Hygiene ent-
sprechenden Weise herbeiführen lassen, wenn ihr eine allgemeine obligatorische
Fleischschau zur Seite steht. b. peoskauer.
Aborte. Die Aborte dienen zur unmittelbaren Aufnahme, beziehungs-
weise als Sammelstelle für die menschlichen Entleerungen, von wo diese,
je nach den vorhandenen Einrichtungen eines Ortes (Canalisation, Abfuhr),
bald schneller, bald langsamer aus dem Bereich der menschlichen Wohnungen
entfernt werden. Da die Entleerungen, von Personen, welche an einer sich
im Darm abspielenden Infectionskrankhieit (z. B. Typhus, Ruhr, Dyssenterie,
Cholera) leiden, die die Krankheit verursachenden Infectionsstoffe enthalten,
so müssen die Aborte derartig angelegt sein, dass eine Weiterverbreitung
der Krankheitskeime von ihnen aus vollständig ausgeschlossen ist, vor allen
Dingen muss eine Infection des benachbarten Bodens und des Grundwassers
durch sie nicht zu befürchten sein. In zweiter Linie müssen die Aborte ge-
ruchlos sein, es dürfen keine stinkenden Gase aus ihnen entweichen, welche
womöglich den Aufenthaltsort der Menschen verpesten. Früher glaubte man,
dass die üblen Gerüche direct inficirend wirken, Typhus, Ruhr, Cholera u,
s. f. erzeugen. Diese Annahme ist durch die neueren Forschungen über das
Entstehen und die Weiterverbreitung von Infectionskrankheiten widerlegt
worden. Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch die Möglichkeit, dass
durch das fortwährende Einathmen solcher übelriechenden Dünste bei empfind-
lichen Menschen Ekel und dadurch eine Störung des allgemeinen Wohlbefin-
dens erzeugt wird. Die Belästigung, die Menschen in einer durch Cioset-
dünste verunreinigten Atmosphäre empfinden, muss gleichfalls als ein hygi-
enischer Uebelstand bezeichnet werden.
Was die Giftigkeit der gasförmigen Producte betrifft, welche sich
aus einem schlecht angelegten Abort entwickeln können, so wird deren Gefahr
meist übertrieben. Bei freier Communication mit der Luft sind solche gif-
tige Gase, wie Schwefelwasserstofi, Kohlensäure, Ammoniak, in der Regel
so verdünnt, dass eine Intoxication ausgeschlossen ist. Dagegen können sich
giftige Gase in geschlossenen Kothgruben reichlich ansammeln und auf die
Menschen (Arbeiter), welche sich ohne Vorsieh tsmaassnahmen in diese Behäl-
ter hineinbegeben, giftig einwirken. Aus diesen Gründen sind wirksame Ven-
tilationseinrichtungen wichtige Erfordernisse für Abortanlagen, namentlich für
Sammelgruben.
Weitere Forderungen an eine Abortanlage sind noch folgende: Der Abort
soll so gelegen und eingerichtet sein, dass Belästigungen der Bsnutzenden durch
„Luftzug" oder Witterungseinflüsse nicht vorhanden sind. Sie sollen gut be-
leuchtet und in den Wänden, Decken, Fussböden so gehalten sein, dass der
Sauberkeit möglichst Vorschub geleistet wird. Es ist wünschenswerth, dass
jede Familie in einem sogenannten Miethshause über einen eigenen, verschliess-
baren Ciosetraum verfüge.
Was die Einrichtungen der Aborte anbetrifft, so soll derselbe mehr als
1 (pn Grundfläche und mindestens 2-5 m Höhe besitzen. Fussböden und Wände
müssen abwaschbar, und leicht zu desinficiren, erstere ausserdem wasserdicht
sein. Die Anlage von Aborten unter bewohnten Räumen ist möglichst zu ver-
meiden. Für die Ciosetsitze eignet sich polirtes Holz, auf dem Verunreini-
gungen leicht erkennbar sind und das leicht abwaschbar ist. In Wohnhäusern
gibt man der Closetöff"nung („Brille") einen Deckel, der bei öffentlichen Cioset-
anlagen fehlen kann. Für Schulen, Fabriken, Kasernen sollen dieselben sich
ausserhalb der Aufenthaltsräume befinden. Anlagen der letzteren Art wer-
den zuweilen mit Sitzbrettern versehen, die Einrichtungen enthalten, um das
Aufsteigen auf die Sitze zu verhüten.
ABORTE. 5
Den unter der Brille befindlichen erweiterten Tlieil des Abtrittes, den
„Trichter," stellt man aus glasirtem Thon, manchmal leider auch aus Holz,
meist wohl jetzt und mit Kecht aus emaiilirtem Gusseisen her; letzteres
Material ist am besten rein und sauber zu erhalten und zugleich dauerhaft.
In den Orten, die über eine centrale Wasserversorgung verfügen und
mit Schwemmcaualisation versehen sind, trifft man gewöhnlich Wasser-
closets an, die den Vorzug vor den anderen Aborten besitzen, geruchlos
ausgeführt werden zu können und zugleich bei genügender Wasserverwendung
und hinreichendem Wasserdruck den Trichter sauber zu erhalten. Man hat
Vorrichtungen construirt, um die Spülung unabhängig von dem Willen des
Benutzenden zu machen, indem man entweder die Thür mit dem Spülhahn
■derart in Verbindung setzt, dass beim Oeff'nen oder Schliessen derselben das
Wasserventil geöffnet wird oder indem man das Sitzbrett auf einem Hebel
anbringt, der bei Be- oder Entlastung (Hinsetzen oder Aufstehen des das Closet
Benutzenden) den Wasserverschluss öönet und so für Spülung sorgt.
Diese Vorrichtungen sollen nach dem Urtheile der Techniker mehr oder
minder grosse Mängel besitzen. Mehr bevorzugt werden solche Spülvorrich-
tungen, die selbstthätig eine zur Spülung genügende Menge Wassers unter
Druck liefern. Das Spülwasser befindet sich bei diesen Einrichtungen in
einem unter der Ciosetdecke des Ciosetraumes befindlichen Behälter, der sich
von Zeit zu Zeit selbstthätig entleert und zugleich wieder füllt. Nöthigen-
falls lässt sich dem Wasser in den Behältern ein Desinfectionsmittel zusetzen.
Um das Aufsteigen von riechenden Gasen aus den Fäkalbehältern oder
Hauscanalisationsleitungen in die Cioseträume hinein und von da in die Wohn-
räume unmöglich zu machen, stellt man zwischen Trichter und Fallrohr
einen Verschluss durch eine Wassersäule her. Zu diesem Zwecke endet der
Trichter nicht direct in das Fallrohr, sondern wird mit diesem durch ein
öj -förmiges Rohr verbunden. Derartige „Wasser- oder Koth verschlusse" sind
in den mannigfachsten Constructionen vorhanden. — „Fallrohre" aus Holz,
die man vielfach noch antrifft, sind zu verwerfen; am besten eignet sich
auch hiezu ein emaillirtes gusseisernes Rohr oder, da dieses sehr theuer ist,
glasirtes Thonrohr.
In Ortschaften, die noch keine Schwemmcanalisation haben, die es er-
möglicht, in schnellster Weise die Fäkalien aus dem Bereiche der mensch-
lichen Wohnungen fortzuschaffen, müssen die Fäkalien bis zu ihrer „Ab-
fuhr" aufgespeichert werden; es geschieht dies entweder in Gruben „Gruben-
system" — oder in beweglichen Behältern „Tonnen oder Fasssystem."
— Im ersteren Falle werden die Excremente in Gruben aufgefangen, die
unter allen Umständen ausserhalb der Häuser und mindestens, bei gut filtri-
rendem Sandboden 10 w vom nächsten Brunnen, womöglich aber noch weiter
entfernt anzulegen sind. Diese Fäkalgruben müssen von den Häuserfundamenten
durch undurchlässiges Material sicher isolirt und ferner wasserdicht sein. Dies
wird nicht nur durch Verwendung von Baumaterialien bester Beschaffenheit
anzustreben sein, sondern auch noch ausserdem dadurch, dass man die Gruben-
wand mit einer Hinterfüllung aus fettem Thon von ca. 0'5 m Stärke versieht.
Den Abschluss nach Oben hin erreicht man durch Anlage von Gewölben oder
durch Eisendeckel, die man mit Erde überschüttet.
Geradezu verwerflich ist es, die Fäkalgruben nach dem System der
„Schwindgruben" (Schling- oder Sickergruben) anzulegen. Diese
Gruben werden nämlich absichtlich mit für Wasser durchlässigen Wandungen
umgeben, so dass die Flüssigkeit in das umliegende Erdreich versickert und
dieses verunreinigt.
Als dichte Vorrichtungen haben sich die Fäkalreservoirs von Schleh
erwiesen, die zudem noch eine Abführung der stinkenden Gase und Absorp-
tionsvorrichtungen für diese besitzen. Bei dem Grubensystem und ebenso
6' ABORTE.
auch bei dem Tonnensystem macht sich das Bedürfnis für die Entfernung
der genannten Gase in besonderem Maasse bemerkbar. Man führt die Gase
am zweckmässigsten über das Dach des Hauses durch ein Rohr fort, welches
von dem Fäkalbehälter, sei es Grube, sei es Tonne, luftdicht ausgeht und
durch eine Flamme, oder besondere Feuerung, oder sonstige Wärmequelle
(Nähe des Schornsteins) die nöthige Erwärmung und dadurch Luftbewegung
erhält. Derartige Lüftungsvorrichtungen ventiliren zugleich das Closet selbst,
indem durch die in dem Rohre aufwärts gerichtete Luftströmung eine Luft-
verdünnung in dem Fäkalbehälter erzeugt wird, die wiederum einen, abwärts
zu diesem letzteren gerichteten Luftstrom durch die Closetbrille hindurch
zu Wege bringt.
Die Entleerung der Gruben soll geruchlos und reinlich ge-
schehen. Am besten haben sich zu diesem Zwecke die fahrbaren Eisentonnen
bewährt, welche mittels einer durch Dampf getriebenen Pumpe den Gruben-
inhalt aufsaugen. Hygienisch ist diese maschinelle Entleerung jeder anderen
durch Handbetrieb bewirkten vorzuziehen.
Beim „Tonnensystem" (Fosses mobiles) mündet das Fallrohr der Closets
in eine hölzerne oder eiserne Tonne. Hygienisch verlangt man von den
Tonnen vollständige Undurchlässigkeit, angemessene Grösse, hermetischen
Verschluss mit dem „Fallrohr" und während der Abfuhr, die Möglichkeit, sie
gründlich reinigen, womöglich desinficiren zu können. Den Tonnen hat man
jede mögliche Gestalt gegeben; man hat sie ferner tragbar gemacht oder auf
Wagen gestellt, oder so auf einem Gestelle angebracht, dass sie direct von
diesem auf einen Wagen abgehoben werden können. — Beim Tonnensystem
sollte für eine recht regelmässige, häufige Abfuhr und Auswechselung der Behäl-
ter gesorgt werden; auch ist gerade hierbei die oben erwähnte Ventilation
der Abtritte und der Fallrohre durch über Dach geführte Ventilationsröhren er-
wünscht. Eiserne Tonnen sind den hölzernen* vorzuziehen. Eines besonders
guten Rufes erfreut sich das „Heidelberger Tonnensystem," bei dem
die Tonnen aus starken Eisenblech cylindern von 86 cm Höhe und 46 cm Durch-
messer bestehen und einen Ueberlauf besitzen, durch den bei unvorhergese-
hener Ueberfüllung die Jauche in einen kleinen neben der Tonne stehenden
Eimer abfliesst.
Ist die Abfuhr gut eingerichtet, der Betrieb ein regelmässiger, dann
lässt das Tonnensystem auch hygienisch nichts zu wünschen übrig und ist
dem Grubensystem unbedingt vorzuziehen.
Man hat die Aborte ferner so construirt, dass die festen Excremente
von den flüssigen Antheilen getrennt werden, in der Absicht, das Volum der
abzuführenden Massen zu verringern. Die festen Massen werden dann ge-
wöhnlich nur gesammelt und abgefahren, während man die flüssigen Massen
in den Boden (Sickergruben) versickern lässt oder den Canälen übergibt.
Um die Excremente in eine bequem abfahrbare Form zu bringen, und die-
selben zu desodorisiren hat man sie mit desodorisirenden Stoffen (Erde, Torf,
Torfstreu) vermengt (Moule's Erd-, Streucloset, Torfstreucloset).
Derartige Closets besitzen einen Mechanismus, der nach Gebrauch des Closets
abgemessene Mengen des Desodorans auf die Fäkalmassen streut. Zu bemerken
ist, dass weder in den Erd-, noch Torfstreuclosets durch die Erde oder den
Torf eine Desinfection der Fäkalien herbeigeführt wird; um eine solche zu
bewirken, ist es nothwendig, die Erde oder den Torf mit Säuren (Schwefel-
säure), sauren Salzen (Superphosphaten) oder Carbolsäure, Kalkmilch u. dgl.
m. zu imprägniren und den mit dem Desinfektionsmittel imprägnirten Torf
öfter zu erneuern.
Schliesslich sei noch erwähnt, dass man empfohlen hat, die flüssigen
von den festen Massen zu trennen und diese durch Hitze zu zerstören (Feuer-
closet).
ABWÄSSER. 7
Weiteres über Aborte lindet sich noch in dem Artikel „Abwässer".
Für die „Pissoirs" haben im Wesentlichen die gleichen Gesichts-
punkte Geltung, wie für die Aborte. Hier ist namentlich reichliche Wasser-
spülung geboten, oder Auftangen des Urins in Torfmull u. dgl. m., um
Fäulnis und Geruch zu vermeiden. Als Geruchsverschluss sind für Pissoirs
sogenannte Oelsyphons angewendet worden. proskauer.
Abwässer. Die Abwässer, deren möglichst schnelle Entfernung aus
dem Bereiche der Städte unumgänglich nothwendig ist, können enthalten:
1. feste und tiüssige Excremente der Menschen und Hausthiere, 2. die Haus-
abwässer, bestehend aus den Abgängen der Küche, der Reinigung des Haus-
wesens, aus Wasch- und Badewässern, 3. die Abgänge aus gewerblichen und
industriellen Betrieben (Schlachthäusern, Fabriken); 4. das von Dächern,
Strassen, Höfen sich sammelnde Regenwasser. Die Abwässer bilden einen
wesentlichen Bestandtheil der Abfallstoffe, welche letztere ausser den oben
genannten Bestandtheilen auch noch die menschlichen Leichen, die Thier-'
cadaver, den Haus- und Strassenkehricht umfassen.
Die Angaben über die Quantität der pro Tag entleerten Excremente
schwanken sehr; man nimmt augenblicklich die von PETTENKOFEE'schen Zahlen
als zu Recht bestehend an, denenzufolge auf den Kopf und Tag 90 g Faeces und
1170^ Urin kommen. Nach Erisman scheidet der Durchschnittsmensch in
einem Jahre in den festen Excrementen 0*4 — 0-65 leg Stickstoft" und im Harn
5 — ^l-g Stickstoff aus. Pro Mensch und Jahr sind nach Flügge ungefähr
34 lig Koth, 430 hg Harn, 110 hg feste Küchenabfälle und Kehricht, 36 000 hg
Küchen- und Waschwasser zu rechnen. Die Gesammtmenge der thierischen
Excremente beträgt in kleineren Städten mit viel Landwirthschaft ungefähr mehr
als doppelt so viel wie die Ausscheidungen der Menschen, in grösseren Städten
aber nur ca. Vi so viel. Die Menge der aus Küchen, Waschküchen und Bade-
anstalten stammenden, sowie der gesammten Abwässer ist in den einzelnen
Städten sehr verschieden; sie richtet sich nicht nur nach der Lebensweise
der Bevölkerung, sondern hauptsächlich nach der Art der Wasserversorgung.
Bei centraler Wasserversorgung sind in der Regel bedeutend grössere Quan-
titäten Abwässer zu entfernen, als bei der Versorgung einer Stadt mit Pump-
brunnen. In ersterem Falle können auf die Hausabwässer 100 — 150 ^, ja sogar
bis 200 l pro Tag gerechnet werden, je nachdem der Wasserbedarf einer Stadt'
grösser oder geringer ist (100 — ISOi^ Gebrauchswasser pro Tag und Kopf).
Die Abwässer aus gewerblichen und industriellen Anlagen wechseln je
nach der Art des Betriebes in ihrer Beschaffenheit ganz ausserordentlich. Als
besonders reich an gährungs- beziehungsweise fäulnisfähigen Stoffen gelten
die Abwässer aus Schlachthäusern. Nach König enthielt z. B. das Abgangswasser
des Erfurter Schlachthauses im Liter suspendirte organische Stoffe llOrSm^/,
darin Stickstoff" 81-ömg, gelöste organische Stoffe 1320-0 mg, organischgebun-
denen Stickstoff 547 mg. Den Schlachthausabwässern reihen sich an die Abwässer
aus Gerbereien, Bierbrauereien, Branntweinbrennereien (namentlich das soge-
nannte Hefenwasser), Stärke- und Zuckerfabriken, Cellulose- und Papier-
fabriken, Leimsiedereien, Färbereien u. dgl. m. So wurden gefunden im
Abgangswasser einer Weizenstärkefabrik 3775 mg organische Stoffe, mit
1468 mg Stickstoff, in demjenigen einer Strohpapierfabrik 2267 mg gelöste
und 146 mg suspendirte organische Substanz mit 70"8 mg organischem Stickstoff
pro Liter. Auch die bakteriologische Flora ist von der Herkunft des Ab-
wassers abhängig.
Das Regen-, Schneeschmelz- und Strassenwasser schwankt nicht nur je
nach den meteorologischen Verhältnissen des betreffenden Ortes hinsichtlich
seiner Menge, sondern auch je nach den localen Verhältnissen in seiner
8 ABWÄSSER.
chemischen Beschaffenheit. Gegenden mit zahlreichen Industrien beeinflussen
z. B. den Gehalt der atmosphärischen Wässer an suspendirten festen (Russ)
und gelösten gasförmigen Bestandtheilen ganz wesentlich. Gemeinsam allen
derartigen Abwässern sind beigemengter Luftstaub, mitgeschwemmte Schmutz-
stoffe und Mikroorganismen.
Hygienisch kommen bei den Abwässern hauptsächlich in Betracht:
1. die Inf ections Stoffe. Diese können enthalten sein in allen aus den
menschlichen Wohnungen oder deren Umgebung herrührenden Schmutzwässern,
also nicht blos in den Fäcalien, sondern in allen im menschlichen Haushalte
gebrauchten und aus demselben wieder zu entfernenden W^ässern, sowie in
in den Niederschlags- und Reinigungswässern von Höfen, Strassen und Plätzen.
Von den Dachwässern gilt dies nur unter ganz exceptionellen Umständen. Zu
den infektionsverdächtigen Abwässern gehören ferner die Abgänge von Schlacht-
häusern und aus solchen Gewerbebetrieben, welche Lumpen, Felle, Haare oder
thierische Abfälle (cfr. Abdeckereien) bearbeiten.
2. Toxisch wirkende Stoffe. Solche kommen, und zwar nach den
gegenwärtigen Erfahrungen, nur als mineralische Gifte (Arsenik, Blei) und in
den gewerblichen Abwässern in Betracht.
3. FäulnisfähigeStoffe. Diese können nicht nur eine Luftverschlech-
terung in den menschlichen Wohnräumen herbeiführen (vgl. Aborte) (1 m^
Abtrittsjauche vermag in 24 Stunden etwa 18 m^ Gase zu liefern, nämlich: 10 m^
flüchtige Fettsäuren und Kohlenwasserstoffe, 5 — 6 m^ Kohlensäure, 2 — 3 m^ Am-
moniak, 20 Liter Schwefelwasserstoff), sondern sie machen ebenso, wie die
unter 1 und 2 aufgezählten Stoffe, wenn man die betreffenden Abwässer in
öffentliche Wasserläufe einleitet, das Wasser der letzteren zum Trinken, Haus-
gebrauch, für die Fischzucht u. dgl. mehr unbrauchbar. Von der Ver-
unreinigung eines Wasserlaufes durch Infectionsstoöe unterscheidet sich die-
jenige mit fäulnisfähigen Stoffen in mehreren Punkten. Zunächst ist erstere
in jeder Verdünnung, wenn auch in abnehmendem Grade gefährlich, lelztere
dagegen hört bei einer geAvissen Verdünnung auf, stinkende, d. h. belästigende
Fäulnis hervorzurufen, auch wenn die verunreinigenden Stoffe zu den am
leichtesten zersetzlichen und stinkende Fäulnis verursachenden gehören. Ferner
ist das Zustandekommen der stinkenden Fäulnis zum grossen Theil von der
Ablagerung zersetzungsfähiger Schlammmassen abhängig, welche wiederum durch
die Strömungsgeschwindigkeit des betreffenden Wasserlaufes bedingt ist. Die
Fäulnis erreicht ein Ende, wenn die fäulnisfähigen Stoffe vollständig zerlegt
sind, was immer nach längerer oder kürzerer Zeit eintreten muss. Ein stin-
kendes, trübes Wasser klärt sich daher allmälig und verliert den Fäulnis-
geruch, eine Erscheinung, welche man als Selbstreinigung der Flüsse
bezeichnet hat; dieselbe ist aber eigentlich weiter nichts, als ein vollständiger
Verbrauch der zersetzungsfähigen Stoffe, also eine Art von Ausfaulen. Die
lebenden Infectionsstoffe dagegen verhalten sich von dem todten fäulnisfähigen
Material ganz verschieden. Erstere werden, wie verschiedene Typhusepidemien
gezeigt haben, häufig weit stromabwärts getrieben; in der Regel wird aber
nur die engere Umgebung desjenigen Theiles im Wasserlauf inficirt, wo die
inficirten Abwässer in diesen eintreten. Die Choleraepidemien 1892 — 94 in
Deutschland haben letzteres ebenfalls in unzweideutigster Weise gezeigt. Sogar
ein Stromaufwärtsgelangen von Infectionsstoffen hat man sehr oft beobachtet;
dieses wurde z. B. während der erwähnten Choleraepidemieen von der inficirten
Schiffsbevölkerung besorgt.
Auf Grund vorstehender Erörterungen wird eine zweckentsprechende
Beseitigung der Abwässer Folgendes leisten müssen: 1. die Infections-
keime müssen abgetödtet oder sonst wie unschädlich gemacht werden; es
dürfen weder von den in der Wohnung oder in deren Umgebung vorhan-
denen Abfallstoffen aus, noch auch durch Vermittelung der Bodenoberfläche,
ABWÄSSER. 9
des Brunnen- und Flusswassers Infectionen ausgehen; 2. die übelriechenden
Gase müssen von den Wohnungen ferngehalten, 3. Grund- und Flusswasser
dürfen durch Abwässer nicht so stark verunreinigt werden, dass dieselben,
selbst nach ihrer Keinigung durch Filtriren, zum Genüsse, zu wirthschaftlichen,
gewerblichen Zwecken, für die Fischerei ungeeignet sind; 4. die Verunreinigung
des Bodens darf nicht so grosse Dimensionen annehmen, dass üble Gerüche
entstehen; 5, die Beseitigung muss so billig als möglich sein, sie soll die
Interessen der Landwirthschaft berücksichtigen, ohne dabei die hygienischen
Forderungen zu umgehen.
Die Systeme der Beseitigung der Abwässer sind zweierlei Art:
1. solche, die ohne Wasserspülung arbeiten (Abfuhreinrichtungen), w'ozu ge-
hören das Gruben-, Tonnensystem, die Abfuhr mit Präparation der Faecalien
(Compostirung, Poudrettefabrication), die pneumatische Abführung der Faeca-
lien durch ein unterirdisches Röhrennetz nach Central Stationen, wo die Tren-
nung der festen von den flüssigen Antheilen bewirkt wird (Trennsysteme, Difte-
renzirsysteme) (LiERNUK'sches, SnONE'sches, BERLiER'sches, BuEiER'sches und
NADEiN'sches System) — 2. Systeme, bei welchen sämmtliche Abwässer mit
den Fäcalien durch reichliche Wasserspülung, mit oder ohne Ptegenwasser
(aber ohne Haus- und Strassenkehricht), durch Canäle fortgeschw^emmt werden
(Schwemmcanalisation). Die Sp ülcanalisation führt nur das Brauch-
und event. PiCgenwasser, nicht aber die Fäcalien ab.
Ueber die Ab fuhr Systeme ist bereits Einiges im Capitel „Aborte"
gesagt worden. Hier sei noch hinzugefügt, dass man beim Tonnensystem
bei 2mal wöchentlichem Wechsel der Tonnen für eine 10 Köpfe zählende
Familie 50 Liter fassende Tonnen, bei einmaligem Wechsel in der Woche
solche von 100 Liter Inhalt wählt. Soll auch Haushaltungswasser hinein-
gelangen, so rechnet man bei wöchentlicher Entleerung 0'25 m^ pro Kopf.
Schulen, Kasernen u. dgl. verwenden vortheilhaft eiserne, auf Rädern ange-
brachte Tonnen mit 500—2500 l Inhalt.
Die Präparation der Fäcalien geschieht theilweise durch Trennung
von Harn und Fäces, theilweise durch nachträgliches Verdampfen der flüssigen
Theile, vornehmlich aber durch Zusatz von Chemikalien, welche zugleich
desinficirend und desodorisirend wirken sollen. Man muss diese beiden Wir-
kungen streng auseinanderhalten. Die Desinfection soll die Krankheits-
keime vernichten, die Desodorisation entweder durch blosse Absorption
oder durch Entwickelungshemmung der Fäulnissorganismen die Entstehung
übler Gerüche verhindern; bei letzterer können demnach die Krankheits-
keime noch am Leben bleiben und unter ungünstigen Umständen die
Verbreitung von Krankheiten bewirken. Da in den Abw^ässern Infections-
keime neben saprophytischen Keimen vorkommen und man bei der Desinfection
beide nicht isoliren und gesondert abtödten kann, so müsste man eigentlich
an die gelungene Desinfection der Abwässer die Forderung stellen, dass diese
durch das Desinfektionsmittel keimfrei werden. Jedoch gibt es eine Anzahl
von unschädlichen Bakterien, welche Sporen bilden oder an und für sich
bedeutend widerstandsfähiger sind als diejenigen Mikroorganismen, w^elche
bei der Desinfection der Abwässer in Betracht kommen. Aus diesem
Grunde wird sich bei Prüfung des Desinfectionseffectes durch die üblichen
bacteriologischen Verfahren immer noch eine gewisse Anzahl von Keimen
entwickeln, ohne dass unter letzteren pathogene sich zu befinden brauchen.
Man wird demgemäss in diesem Falle weniger auf völlige Keimfreiheit zu
sehen haben, als darauf, dass eine sehr starke Verminderung des Keimgehaltes
stattgefunden hat.
Man wird zu fordern haben, dass zur Desinfection der Abwässer
solche Mengen eines Desinfectionsmittels angewendet werden,
durch welche, zufolge der mit dem betreffenden Abwasser vorher
10 ABWÄSSER.
angestellten, experimentellen Versuche die sichere Vernich-
tung sogar der widerstandsfähigeren Krankheitskeime darin
gelingt. Diese Menge hängt ab von der Concentration der organischen
Stoffe in den Abwässern, bezw. deren Gehalt an Fäcalien. Es ist eine
festgestellte Thatsache, dass die Fäcal- und an organischen Stoffen sehr reichen
Abwässer, grössere Mengen von Desinficientien erfordern, als Abwässer, die
arm an den erwähnten Substanzen sind. Dies erklärt sich daraus, dass die
organischen Stoffe, zum Theil auch einzelne der mineralischen Bestandtheile
der Abwässer einen Theil des Desinfectionsmittels binden und so der Wirkung
auf die Bacterien entziehen. Man kann in zweiter Linie den Desinfections-
effect auch noch danach bemessen, ob die in jedem Abwasser vorkommenden
Keime von Bacterium coli am Leben geblieben sind oder nicht. (Platten-
cultur, am besten unter Benützung der ELSNEn'schen Kartoffelsaft-Jodkalium-
gelatine). Im ersteren Falle ist die Desinfection als eine ungenügende zu
bezeichnen. Das hier als Index vorgeschlagene Bacterium coli besitzt eine
etwas grössere Widerstandsfähigkeit gegen Desinfektionsmittel, als die Typhus-
bacillen, und übertrifft an Resistenz die Cholerabacillen um ein Bedeutendes.
Für die Desinfection des Grubeninhaltes und der Tonnen
hat sich die Kalkmilch (hergestellt aus 1 Theil Kalk und 4 Theilen Wasser)
am besten bewährt; in allen Fällen genügt ein Zusatz derselben bis zu einem
Gehalte von 27o Kalk in der Fäcalmasse. In manchen Fällen wird auch
schon 1% Kalk ausreichend sein. Jedenfalls muss die Reaction nach dem
Zusatz der Kalkmilch stark alkalisch werden. Eine gute desinficirende Wirkung
üben auch Schwefelsäure (roh) und Salzsäure (rohe) aus, die man bis zur stark
sauren Reaction des Gruben- oder Tonneninhaltes unter Umrühren zusetzt.
Chlorkalk ist dem Kalk zwar an desinficirender Wirkung überlegen, aber
theurer als dieser und nicht indifferent gegen das Material, aus dem die Fäcal-
behälter hergestellt sind. Die Desinfectionsmittel müssen ge-
nügend lange einwirken. — Torf und Torfmull ist nur in Mischung
mit Säuren oder stark sauer reagirenden Salzen als Desinfectionsmittel an-
zusehen. Zu erwähnen ist noch, dass man nur die Desinfection solchen Gruben-
und Tonneninhaltes vornehmen wird, bei denen der Verdacht auf die Gegenwart
infectiöser Abgänge vorliegt.
Das Geruchlos machen oder Desodorisiren lässt sich durch
entwickelungshemmende (nicht desinficirende) Salze, wie Eisenvitriol, Mangan-
chlorür, übermangansaures Kalium, (das auch als Desinficiens bei reich-
licher Anwendung gilt), ferner durch absorbirend wirkende Substanzen wie
Torf, Asche, Holzkohle bewerkstelligen. Carbolsäure wirkt nicht desodorisirend
und im vorliegenden Falle auch erst bei grossen Mengen desinficirend. —
Saprol, eine Lösung von Kresolen in indifferenten Kohlenwasserstoffen,
schwimmt auf dem Grubeninhalt und verhindert das Ausströmen von Miasmen;
durch Abgabe der Kresole an den Grubeninhalt wirkt es auch nach und nach
desinficirend.
Die meisten Verfahren zur Präparation, Desinfection und Desodorisation
der Fäcalien verwenden Kalkmilch. Am bekanntesten sind 1. das SüvERN'sche
Verfahren, welches auf 100 Theile Kalk, mit 300 Theilen Wasser gelöscht,
8 Theile Theer und 33 Theile Magnesiumchlorid verwendet. Die Chemikalien
bewirken einen Niederschlag, den man absetzen lässt und abfährt, während
die Flüssigkeit ablaufen gelassen wird. — 2. Der A-B-C-Process, der in
England häufig angewendet wird, besteht in der Verwendung einer Mischung
von Alaun, Blut, Kohle und Magnesia beziehungsweise Dolomit (Alum,
BlooD; Clay). — 3. Das FRiEDRiCH'sche Verfahren: Thonerdehydrat 3Vo,
Eisenoxydhydrat 15°/o, Kalkhydrat 15% und Carbolsäure 12% sind in einem
aus Drahtgewebe hergestellten Korb enthalten, dieser steht wieder in
einem eisernen Kasten, der mit dem Closet verbunden ist. Die mit Spül-
ABWÄSSER. 11
wasser vermengten Fäcalien laugen nach und nach die FmEDRicH'sche Masse
aus und gelangen in Klärbassins, wo die Trennung der entstandenen Schlamni-
massen von der Flüssigkeit erfolgt. — 4. Das WiLHELMY'sche Verfahren ist
dem vorigen ähnlich; die Mischung der Fäcalien mit der Fällungsmasse
findet in einer Vorgrube statt. — 5. Das PETui'sche Verfahren stützt sich
auf Verwendung einer aus Torf und Gastheer hergestellten Mischung und auf
die Verarbeitung der hiedurch gewonnenen Massen zu sogenannten „Fäcal-
steinen", die als Brennmaterial dienen sollen.
Die Kosten der Abfuhrsysteme stellen sich nach Bmx in Mark wie folgt:
pro Kopf und Jahr pro m^
Grubensystem mit Abfuhrwagen 0-80— 1-70 1-60— 3-50
„ Torfstreuclosets 1-70— 2-75 3-30— 5-50
Tonnensystem 1-30— 2-20 2-60— 4-40
mit Torfstreu 1-70— 2-60 3-40— 5-20
Den Abfuhrsystemen schliessen sich unmittelbar an:
1. Das pneumatische System nach Liernur. Hier geschieht die
Entfernung der gesammten Abfallstoffe durch ein unterirdisches Canalnetz,
während das Bodenwasser durch Drainage, das Meteorwasser oberflächlich beseitigt
werden soll. Die Fäcalien werden aus den mit eigens für das System con-
struirten Syphons (Kothverschlüssen) versehenen Closets in eiserne Strassen-
röhren geleitet, M^elche sich in bestimmten Stadtbezirken in einem luftdicht
schliessenden Eisenkasten vereinigen. Von einer Pumpstation her wird der
Kasten luftleer gemacht, nachdem vorher die an den Strassenröhren an-
gebrachten Hähne geschlossen worden Maaren. Werden nach Evacuirung des
Eisenkastens die Hähne geöffnet, so wird der Rohrinhalt in den Kasten hinein-
gesaugt. Von hier gelangen ebenfalls durch Aspiration die Massen nach der
Pumpstation, wo ihre Verarbeitung zu Poudrette erfolgt. Das System hat
viele Mängel, besonders ist es in der Anlage theuer und daher nur in ein-
zelnen Ortschaften eingeführt.
2. Das pneumatische System von Berlier hat mit dem vorigen
das gemeinsam, dass ebenfalls nur die Excremente aufgenommen und diese
durch Luftverdünnung fortgeschafft werden.
3. Das SHONE'sche Trennsystem. Hiebei fliessen die Fäcalstoffe
unterirdisch in Recipienten, die in einer grösseren Anzahl über die Stadt ver-
breitet sind. Sobald in diesen Eecipienten oder Ejectoren die Schmutzstoffe
eine gewisse Höhe erreicht haben, wird ein an einem Schwimmer befestigter
Hebel in Bewegung gesetzt, welcher einen Schieber öffnet, durch den von
einer Maschinenanlage zugeführte comprimirte Luft in den Ejector hindurch-
dringt. Diese Druckluft befördert die Massen aus dem Behälter in
die Abführungsrohre. Hat der Ejector sich entleert, so wird die Druckluft
durch Sinken des Schwimmers wieder von ihm abgesperrt, zugleich entweicht
die überschüssige Pressluft und in dieser Weise füllt und entleert sich der
Ejector automatisch.
• 4. Das Trenn System nach Waring beansprucht besondere Canäle
für das Ptegenwasser, die oberirdisch liegen, und kleinere, tiefliegende Canäle
für die Hausabwässer und Fäcalien. Die letzteren fliessen durch eigenes
Gefälle ab.
Vortheile bieten diese Differenzirsysteme wohl nur unter ganz besonderen
Umständen, so z. B. an solchen Orten, wo man das Ptegenwasser und die
anderen weniger stark verunreinigten Abwässer billig und leicht beseitigen kann.
Bei der Schwemmcanalisation werden die gesammten Abwässer
(Fäcalien, Haus-, Küchenwasser, Meteorwasser) in unterirdischen Canälen
durch eigenes Gefälle schnell aus dem Bereich der Wohnungen fortgeführt.
Der Canalinhalt wird entweder direct oder erst dann in einen öffentlichen
12 ABWÄSSER.
Wasserlauf einfliessen gelassen, wenn seine Reinigung durch Berieselung
oder seine Klärung auf mechanischem, oder mechanischem und
zugleich chemischem Wege erfolgt ist.
Der Untergrund der Stadt ist von einem Canalnetz durchzogen, in
denen sich die Abwässer mit natürlichem Gefälle nach einem Samraelcanal
hin bewegen, welcher schliesslich in einem Sammelbehälter mit Sandfang und
Abfangvorrichtung für gröbere Schwimmstoffe endet. In die Canäle münden
sowohl die Aborttrichter, als auch die Ausgüsse für Küche, sowie die das
Regenwasser sammelnden Dachrinnen. Eine gut durchgeführte Canalisation
bewirkt nicht nur eine rasche, sondern auch vollständige Entfernung
der Abfallstoffe. Daher ist ein gutes Gefälle, eine reichliche Wasserspülung,
glatte Wandung und zweckmässige Gestaltung der Canäle in erster Linie
erforderlich. Man soll es sich besonders zum Grundsatz machen, Canalisation
und Wasserleitung neben einander zu projectiren.
Eine Canalisation erfordert eine Masse von Vorarbeiten. So sind die
Bodenverhältnisse festzustellen, ein Bodennivellement aufzunehmen, der
tiefste zu entwässernde Punkt, ferner die Grundwasserverhältnisse, Boden-
teraperaturen (Frostgrenze), Vorfluthverhältnisse, die mittlere Regenmenge
des Ortes, die Bevölkerungsdichte und -zunähme, der Wasserverbrauch, die
Abwassermenge und vieles andere mehr zu bestimmen.
Die Anlage der Canäle wird entweder derart ausgeführt, dass ein Haupt-
canal (Sammelcanal, Stammsiel) die von kleineren Canälen zufliessenden
Wassermassen aufnimmt (centrale Disposition, Abfangsystem), oder dass die
Canäle in einem oder mehreren tiefstgelegenen Sammelbassins münden (Fächer-
system), oder dass der Ort in Bezirke eingetheilt ist, in denen peripher
gelegene Pumpstationen die Abwässer, welche vom Centrum her zuströmen,
aufnehmen und weiter befördern (Radialsysteme).
Die Strassencanäle haben in den einzelnen Orten verschiedene Form
und sind aus verschiedenem Material angefertigt. Man nimmt gewöhnlich
glasirtes Steingut für die engeren Canäle, und mauert die weiteren aus Back-
stein und Cement. Die Dichtung der ersteren geschieht durch getheerte Hanf-
stricke oder mit Thon, oder durch Asphalt und Theer. Die gemauerten
grösseren Siele haben vielfach eine eiförmige Gestalt, mit der Spitze nach
unten, um eine möglichst hohe und wenig breite Wasserschicht zu erhalten
und so das Sedimentiren von Schmutztheilen zu vermeiden. Das Sohlenstück
der gemauerten Canäle muss absolut für Wasser undurchlässig hergestellt
sein. Es ist gewöhnlich von kleinen kantigen, am Ende der Leitung offenen
Canälen durchzogen, welche zur Drainage des Grundwassers dienen. Den
gleichen Zweck hat eine neben den Canälen angebrachte Kiesschüttung, mit
und ohne Drainröhren (Senkung des Grundwasserspiegels).
Die Canäle sind ferner frostfrei zu legen und möglichst so tief, dass alle
Keller entwässert werden können. Ihre Weite richtet sich nach den zu be-
wältigenden Wassermassen, die besonders bei starken Regengüssen zu so
ungeheuren Quantitäten anschwellen, dass sie die Canäle, welche nur auf
Abführung mittlerer Regenmengen (wegen der hohen Kosten, welche zu weite
Kanäle verursachen) berechnet sind, nicht zu fassen vermögen. In diesem
Falle treten sogenannte Nothauslässe in Function, das sind breite flache
Canäle, die aus dem oberen Theil der Strassensiele mit gutem Gefälle direct
zum nächsten Wasserlauf führen und die das Canalwasser erst dann auf-
nehmen, nachdem es im Canal eine bestimmte Höhe erreicht hat. Diese
Kothauslässe führen also grosse Massen ungereinigten, obwohl stark verdünnten
Canalinhaltes in den öffentlichen Wasserlauf ein. Ist die Wassermenge des
letzteren und seine Stromgeschwindigkeit nur gering, so treten durch die
Function der Nothauslässe zeitweise starke Flussverunreinigungen auf, die
sich, wie in Berlin, durch massenhaftes Sterben der Fische dem Auge bereits
ABWÄSSER. 13
bemerkbar machen können. Die Nothauslässe sind deshalb noch ein Miss-
stand der Canalisation, den man jedoch wegen der anderen grossen Vortheile
der letzteren gern mit in den Kauf nimmt. Es wäre aber ernstlich zu erwägen,
ob man nicht das von den Dächern ablaufende Meteorwasser, welches am
wenigsten bedenklich ist, von den Canälen abschliesst und dort, wo es mit
geringen Kosten verbunden ist, direct in einen Wasserlauf einleitet oder
sogenannten Sickergruben zuführt, aus denen es in den Erdboden eindringt.
Auf diese Weise würden die Nothauslässe bedeutend entlastet, womöglich
entbehrlich und die Flussverunreinigung durch sie auf ein Minimum beschränkt
beziehungsweise ganz vermieden werden.
Das Gefälle der Canäle und Siele macht man bei Hausleituugen 1:50,
bei kleinen Strassenleitungen 1 : 200 — 250 und bei grösseren Sielen 1 : 500, bei
Sammelcanälen sogar 1 : 1500 — 2000. Die Geschwindigkeit des Sielinhaltes
beträgt 0-70 — 1*80 m in der Secunde. Die Durchquerung von Flüssen geschieht
durch Düker, eine Art Syphons aus weiten eisernen Röhren, die im Flussbett
liegen und durch kräftige Spülung vor Verstopfungen bewahrt werden müssen.
Um bei langem Ausbleiben atmosphärischer Niederschläge oder bei grossen
Massen mitgeführter Schlammtheile ein Absetzen der letzteren in den Sielen
auszuschliessen, ist ein öfteres Anspülen derselben oder bei engeren Röhren
das Durchziehen von Bürsten erforderlich. Für die Durchspülung sind mit-
unter besondere Einrichtungen vorhanden, sogenannte Spülschieber mit Stau-
vorrichtungen, die durch Anstauen von Wassermassen und plötzliches Hinein-
fliessenlassen der letzteren in die Canäle wirken. Zu erwähnen ist noch,
dass für die Aufnahme des Strassenwassers besondere Kästen (Gullies)
vorhanden sind, das sind eiserne im Niveau des Pflasters endende Sinkgruben,
in denen ein Absetzen der gröberen suspendirten Stoffe stattfinden kann.
Diese Gullies besitzen ausserdem einen syphonartigen Wasserverschluss zur
Verhütung des Austretens von stinkenden Gasen aus den Sielen. Zur Revision
der Canäle dienen gemauerte Einsteigeschachte (Revisionsschachte),
die in Entfernungen von ca. 100 in und so gross angelegt sind, dass ein
Einsteigen der Arbeiter möglich ist. Da der Boden der Revisionsschachte
tiefer als die Sielsohle liegt, so findet in den so gebildeten Bassins ebenfalls
ein Absetzen von Schlammtheilen statt, die dann von Zeit zu Zeit mittels
Eimer beseitigt werden. Die Revisionsschächte dienen auch zur Ventilation
der Siele, besonders bei plötzlicher Füllung derselben durch Regenwasser.
Die Ventilation wird zudem noch durch besondere Lufteinlass- bezw. Auslass-
öffnungen, auch durch die über Dach verlängerten Fallrohre der Closets besorgt.
Grosse Sorgfalt ist auf die Herstellung der Verbindungen der Haus-
auslässe mit den Canälen zu verwenden. Die Hauscanalisationseinrichtungen
sollen möglichst leicht zugänglich, vollkommen wasser- und luftdicht sein,
sie sind ferner frostsicher anzulegen. Die von den Häusern kommenden Canäle
münden entweder in spitzem Winkel oder flachem Bogen in die Strassensiele
ein; sie bestehen aus Steingut- oder asphaltirten Eisenröhren von lo cm
Weite. Ihren Anfang nehmen sie von den Closets (vgl. Aborte), Küchenaus-
güssen, Badewannen, Spülvorrichtungen etc. sie vereinigen sich in besonderen
Gullies, wo sich Sand und andere gröbere Theile absetzen können, oder es
liegt im Hausflur oder Keller ein „Revisionsschacht" (eiserne Erweiterung
des Canals). in dem einerseits das Fallrohr, andererseits das Verbindungsrohr
des Strassensieles mündet. Um ein Eindringen von Canalluft oder Canal-
flüssigkeit in die Hausleitung zu verhindern, enthält der Revisionsschacht
eine Rückstauklappe. — Die Rinne, welche das auf die Dächer fallende
Regenwasser sammelt, führt direct in das Strassensiel hinein.
Man hat — besonders in England — viel Werth auf die Ableitung der
Canalluft gelegt und letztere als die Ursache von Infectionskrankheiten ange-
sehen. Diese Annahme ist mit unseren heutigen Kenntnissen vom Wesen
14 ABWÄSSER.
der Krankheitserreger nicht vereinbar. Ein Austritt der letzteren aus dem
Canalinhalt mit den Fäulnisgasen in die Luft ist, wie wir jetzt wissen, nicht
möglich, weil die Keime durch diese Gase nicht mitgerissen werden, sondern
in der Flüssigkeit und an den feuchten schlüpfrigen Sielwänden fest haften
bleiben. Untersuchungen der Canalluft haben in der That ergeben, dass
diese keimfrei ist oder nicht mehr an gewöhnlichen Saprophyten und Schim-
melpilzen enthält, als die Aussenluft. Nur durch ein Verspritzen der Siel-
flüssigkeit können Keime in die Canalluft gelangen. Die Wirkung der Canal-
gase ist also keine andere, als diejenige der übelriechenden Gase überhaupt
(siehe Aborte), aber die durch sie hervorgerufenen Belästigungen und Miss-
stände machen es an und für sich schon nöthig, Vorkehrungen gegen ihr
Eindringen in das Haus zu treffen. Die Maassnahmen dagegen sind im Vor-
hergehenden bereits angeführt.
Der endliche Verbleib der Abwässer ist ein sehr verschiedener; er
ist auch von Fall zu Fall verschieden zu regeln. Ein allgemeines Schema lässt
sich hierfür nicht aufstellen. Es gibt zwei Wege sich der Abwässer definitiv
zu entledigen:
a) man leitet sie direct in ein öffentliches Wasser (Fluss, See) ab, ohne
sie vorher zu reinigen oder zu desinficiren, oder
h) man reinigt und klärt sie vorher durch Filtration (Sandfilter, Boden-
filtration, Berieselung) oder durch mechanische Klärung mit
oder ohne Zusatz von Chemikalien (Klärverfahren.)
Die Gefahren, welche die Einleitung städtischer und gewerblicher Ab-
wässer in die Flüsse mit sich bringen, gehen aus den bereits oben ent-
wickelten hygienischen Gesichtspunkten hervor. Demnach ist vor allen Dingen
Sorge zu tragen, dass die Infectionsstoffe mit sich führenden Abwässer über-
haupt nicht undesinticirt den öffentlichen Wasserläufen übergeben werden
dürfen. Da die Haus- und Fäcalwässer, Abwässer aus Schlachthäusern und aus
den thierische Abfälle bearbeitenden Betrieben stets intectionsverdächtig sind, so
werden dieselben jedenfalls vorher unschädlich zu machen sein. — Hinsicht-
lich der fäulnissfähige Stoffe mit sich führenden Abwässer, die als infections-
unverdächtig anzusehen sind, wie z. B. die Abwässer gewisser chemischer
Industrieen, ist darauf zu achten, dass sie den öffentlichen Wasserläufen
erst in völlig geklärtem Zustande zugeführt und durch das Wasser der
letzteren soweit verdünnt werden, dass eine stinkende Fäulniss hinterher nicht
eintreten kann. Strassenwässer sind ebenfalls demgemäss zu behandeln.
Erwünscht ist die Feststellung von Grenzwerthen für den Gehalt der gereinigten
Abwässer an fäulnissfähigen Stoffen verschiedener Art mit Rücksicht auf
Temperatur und Bewegung des Flusswassers. Vorläufig soll man den zulässigen
Grad der Verunreinigung darnach bemessen, dass unverkennbare Anzeichen
stinkender Fäulnis (Fäulnissgeruch, Entwicklung von Gasblasen) auch bei
niedrigem Stand des Flusswassers und bei höchster Sommertemperatur fehlen.
Die getrennte Beseitigung der Fäcalien macht die Schmutzwässer nach obigen
Darlegungen nur unwesentlich weniger fäulnissfähig.
Was die toxisch wirkenden Stoffe anbetrifft, diein den gewerblichen Ab wässern
in erster Reihe in Betracht kommen, so muss darauf Bedacht genommen werden,
dass diese nach dem Einleiten in den Fluss eine so starke Verdünnung durch
das Flusswasser erfahren, oder nur innerhalb einer solchen Grenze dem Wasser-
laufe zugeführt werden, dass Gefahren völlig ausgeschlossen sind. Ab-
wässer, welche den Gebrauch des Flusswassers zum Trinken, zum Haus-
gebrauch, für die Landwirthschaft und Industrie beschränken oder die Fischzucht
gefährden, stammen insbesonders von Färbereien, von Soda-, Gas- und anderen
chemischen Fabriken, von Paraffin- und Petroleumfabriken, es gehören hierher
ferner heisse Condensationswässer und Chemikalien, die zur Klärung und
Desinfection von Abwässern gedient haben. Entscheidend für die Frage, ob
ABWÄSSER. 15
die Zulassung dieser Art Abwässer in die Flüsse mit Ptücksicht auf so gear-
tete Stoffe erst von einer vorhergehenden Reinigung abhängig zu machen sei,
bleibt der Satz, dass das Flusswasser in seiner Klarheit, Farbiosigkeit,
an Geschmack, Geruch, Temperatur, Gehalt an gelösten Mineral Stoffen, sowie
Reaktion auf Lackmus nicht wesentlich verändert sein darf.
Wenn nur irgend angängig, sollte man nur gestatten, vorher gereinigtes
(geklärtes) Abw-asser dem öffentlichen Wasserlauf zuzuführen.
Die Erlaubnis, ungereinigte Abwässer fiiessenden Wässern zuzuführen,
soll stets abhängig gemacht werden, einmal von der Menge der zu beseitigen-
den Sielwässer, dann von der Wassermenge des Flusses, von dessen Strom-
geschwindigkeit, von der Ufergestaltung und dem Verlauf des Flusses,
von der Bewohnung der stromabwärts gelegenen Ufer und schliesslich von
der Benutzung des Flussw^assers. Man verlege die Einlaufmündung des
Canalwassers stets in die Mitte des Stromes, nicht oberhalb von Bade- und
Waschanstalten und vermeide besonders hierzu die Nähe von Entnahmestellen
der Wasserwerke. W^as die Verdünnung der Jauche durch das Flusswasser
anbetrifft, so hat man ein Verhältniss von 1:15 für ausreichend angenommen,
dies gilt allerdings nur für die fäulnissfähigen Stoffe und Bestandtheile
dieser Art ; für Infectionsstoffe führende Abwässer kann dieser Grad der Verdün-
nung durchaus nicht etwa als eine völlige Beseitigung der Infectionsgefahr
angesehen werden.
Für Abwässer aus gewerblichen Betrieben, die viel organische Stoffe
enthalten, wird man strenge Vorschriften, jedenfalls aber vorherige Klärung
vorschreiben.
Von den Methoden der Reinigung der Abwässer hat sich die
Filtration durch den Erdboden bewährt. Der Boden allein vermag,
namentlich wenn er aus gut filtrirendem, feinkörnigem Sande in seiner
natürlichen Lagerung besteht, zwar sehr gut die Mikroorganismen zurückzuhalten
und die Abwässer chemisch derart zu verändern, dass man diese in so tiltrirtem
Zustande unbedenklich den Flüssen übergeben darf. Von intensiverer Wirkung
jedoch ist die Mithilfe der Vegetation bei der Bodenfiltration. Die Pflanzen
verhüten besonders die rasche Uebersättigung des Bodens mit fäulnissfähigen
Stoffen, sie verändern die zersetzungsfähigen Stoffe so weit, dass sie nicht
weiter fäulnissfähig sind. Zugleich gestattet diese Art der Filtration, Be-
rieselung genannt, eine Verwerthung des Canalwassers für landwirth-
schaftliche Zwecke. Man hat deshalb diesem Verfahren vor der blossen Boden-
filtration den Vorzug gegeben.
Eine absolute Sicherheit gegen das Verschleppen von Infectionsstoffen
bietet das Berieselungsverfahren ebensowenig, wie das chemische Verfahren,
da bei jenem das Schmutzwasser auf den ausgedehnten Flächen nicht ganz
gleichmässig filtrirt wird und bei dem anderen eine gleichmässige Desinfection
der bedeutenden Flüssigkeitsmengen wohl kaum zu erwarten ist. Jedoch kann
man sich vorläufig mit den Erfolgen, die erzielt worden sind, beruhigen.
Bei der Berieselung wird das Schmutzwasser zunächst in grosse Sammel-
behälter geleitet, wo suspendirte Stoffe durch Gitter abgefangen und Senk-
stofle abgelagert werden (Sandfang); diese Substanzen werden herausgebaggert
und fortgefahren. Das so von gröberen festen Bestandtheilen befreite Canal-
wasser wird durch Pumpen auf das Rieselfeld gedrückt und hier von einem
höher gelegenen Sammelpunkt aus durch eigenes Gefälle mittels Gräben auf
die Oberfläche der einzelnen Felder vertheilt (Oberflächenberieselung). Die
Felder sind aptirt, besitzen eine Neigung, so dass das Canalwasser sich
möglichst gleichmässig auf ihnen vertheilt und keine Stauungen erleidet, ferner
sind sie mit Drainröhren versehen, die das filtrirte Wasser aufnehmen und
einem Hauptdrainrohr zuführen, von wo dasselbe in den Hauptentwässerungs-
graben und von da in den Fluss abgeleitet wird. Im Winter gelangt das
16 ABWÄSSER.
Canalwasser in sogenannte Staubassins, das sind grosse Flächen mit wenig
durchlässigem Boden und mit Erdumwallungen umgeben, so dass nur eine
langsame Versickerung des Wassers stattfindet.
Die Grösse des Rieselterrains ist je nach der Bodenbeschaffenheit eine
verschieden grosse, im Durchschnitt nimmt man 1 ha auf 250 Einwohner,
oder auf 10 — 50000 m^ Wasser an.
Vorbedingungen für die zuverlässige Wirkung des Rieselfeldes sind einmal
die Bodenbeschaffenheit (am besten ist Sandboden oder der lehmige Sand, wenig
geeignet fester Lehmboden oder fetter Humusboden), ferner die gute Aptirung
und der rationelle Betrieb. Wo diese Bedingungen erfüllt sind, haben die
Rieselfelder überall gute Resultate gegeben. Die suspendirten Stoffe werden
vollständig entfernt, ob dies auch für Bacterien gilt, ist noch nicht sicher
festgestellt, wird aber angenommen; die gelösten organischen Substanzen werden
bis 907o> die anorganischen bis 60''/o vom Boden zurückgehalten.
Eine besondere Art der Berieselung ist die Unter grün db erie se-
1 u n g, welche nur die flüssigen, abgeklärten Schmutzwässer beseitigt und für
kleinere Mengen Abwasser geeignet ist. Das Princip derselben besteht in der
Abführung der Abwässer in den Untergrund, im Gegensatz zur eben bespro-
chenen Oberflächenberieselung, bei welcher die Wassermassen auf die Bodenober-
fläche gelangen.
Zu erwähnen ist an dieser Stelle das Verfahren von Püoskowetz, das
in der Zuckerfabrik Sokolnitz angewandt wird und nach Strohmer u. Anderen
gute Resultate liefern soll. Dasselbe besteht darin, dass die an fäulnissfähigen
Stoft"en reichen Abwässer zunächst unter Beihilfe von Kalkmilch eine Vor-
klärung durchmachen, darauf zweimal gerieselt werden, und nachdem hierdurch
eine Mineralisirung der organischen Stoffe bewirkt worden ist, von den nun-
mehr vorhandenen fällbaren Stoffen von Neuem durch Kalkzusatz befreit werden.
Das resultirende Wasser soll so beschaffen sein, dass es ohne Bedenken
wieder dem Betriebe zugeführt w^erden darf. Die erste Berieselung ist eine
oberirdische und so eingerichtet, dass die Luft in die Drains eintreten kann;
die zweite Berieselung geschieht auf einer Rieselwiese, welche durch vertikal
untereinander angeordnete Drainröhren drainirt ist; diese Anordnung ermöglicht
die Verwendung einer viel kleineren Rieselfläche, als das gewöhnliche Riesel-
verfahren beansprucht. Es ist sehr anzuempfehlen, das Verfahren hinsichtlich
seiner Verwendbarkeit für Abwässer anderer Industrieen und Gewerbe zu prüfen.
Die zweite Methode der endgültigen Beseitigung der Abwässer ist die
Klärung mit oder ohne Zusatz von Chemikalien, in ersterem Falle mecha-
nische, in letzterem Falle chemische Klärung genannt.
Nachdem man von den für die Reinigung des Oberflächenwassers be-
nützten Sandfiltern in Erfahrung gebracht hatte, dass sie nur die suspendirten
Stoffe entfernen, die gelösten aber bloss unbedeutend beeinflussen, in letzter
Beziehung also nicht dasselbe leisten, was die Filtration durch den Boden leistet,
kann man die Reinigung von Abwässern durch Sandfilter ebenfalls nur zu den
mechanisch klärenden Systemen rechnen. Derartige Filter bestehen aus ge-
mauerten Bassins, wie bei den Sandfiltern für die Wasserversorgung; sie sind
auch in gleicher Weise wie diese beschickt, nur ist das Korn der obersten
Sandschicht gewöhnlich etwas gröber. Die Filtrationsdauer ist eine geringere, d. h.
die Filtrationsgeschwindigkeit eine grössere, wie für Trinkwasser. Man rechnet
für 1 m'^ Abwasser 1 — 2^^ Filterfläche, oder ein Hektar für 40—50000 Ein-
wohner. Die Abwässer werden meist auf die Oberfläche des Filters geleitet,
mitunter ist noch eine seitliche Filtration oder eine von unten nach oben
gerichtete (aufsteigende Filtration) in Verwendung. Die gröberen suspendirten
Stoffe werden hierbei vollkommen entfernt, die Bacterien aber nur zum
Theil. Das Filtrat ist dabei immer noch fäulnisfähig, weil die gelösten orga-
nischen Stoffe vom Filter nicht zurückgehalten werden.
ABWÄSSEE. 17
Zu der mechanischen Keinigung gehören in zweiter Linie die auf Sedimen-
tirung beruhenden Methoden. Es werden Klärhecken (KUirbrunnen) angelegt,
in welche das Abwasser eintritt, nachdem die gröberen schwimmenden Massen
und die Stinkstofie durch Gitter abgefangen und der Flüssigkeit alsdann even-
tuell Zusätze gegeben sind, welche Niederschläge erzeugen. In diesen Klär-
becken wird das Abwasser zu sehr langsamer Strömung oder gar zum Stag-
niren gezwungen, so dass sich eine Sedimentation der suspendirten Substan-
zen vollzieht. Das abgeklärte Wasser kann durch einen Ueberlauf abtiiessen.
Die Zusätze sind gleicher Art, wie die zur Präparirung der Fäcalien bei den
Abfuhrsystemen angewandten und dort aufgezählten (Kalk, Thonerdesulfat,
Magnesiumsulfat, Kieserit, Phosphate u. dgl. m.). (Ueber die Beseitigung des
Schlammes s. u.). — Ein anderer Betriebsmodus bestellt darin, die Abwässer
am Boden des Klärbassins einfliessen, darin langsam aufsteigen und oben ge-
klärt austreten zu lassen. Während des Aufsteigens sinken die suspendirten
Stoffe allmälig nieder, so dass das frisch eintretende Canalwasser die herab-
sinkenden festen Massen passiren muss und dadurch eine Filtration (Schlamm-
filter) erfährt. Dieses letztere System heisst auch Klärung durch „aufstei-
gende Filtration." Ein Beispiel der Klärung erster Art ist die Anlage
in Frankfurt a/M. und in Wiesbaden.
Das Princip der „aufsteigenden Filtration" ist u. a. bei dem Röckner-
RoTHE'schen Verfahren in sehr wirkungsvoller Weise durchgeführt. Die Ab-
wässer werden in Schlamm- und Sandfängen von groben Sink- und Schwimm-
stoften befreit, dann mit Chemikalien versetzt, unter denen sich vorzugsweise
Kalkmilch neben mechanisch klärenden Stoffen befindet, hierauf behufs inniger
Vermischung der Chemikalien mit den Abwässern, und um den Kalk mit
diesen längere Zeit in Berührung zu lassen, durch lange Rinnen in einen
gemauerten Sammelbehälter (Tiefbrunnen) geleitet, über dem sich ein luft-
leer gemachter eiserner Klärthurm befindet. In diesem steigen die
Abwässer, durch den Atmosphärendruck getrieben, sehr langsam in die Höhe,
passiren hierbei ein sog. Schlammfilter und fliessen völlig geklärt durch
einen Ueberlauf ab. Der Schlamm sammelt sich in dem konisch nach unten
verengten Boden des Tiefbrunnens und wird durch Schlammpumpen entfernt.
Da bei diesem Verfahren die Abwässer längere Zeit mit dem Kalk in Be-
rührung bleiben, weil ferner die Zufuhr desselben automatisch in der Weise
geregelt ist, dass mit der Menge der Abwässer auch diejenige des Kalkes
wächst, so wird neben einer ausgiebigen Klärung auch eine befriedigende
Desinfection erzielt. Noch mehr Erfolg verspricht eine Combination des
PiöCKNEE-PtOTHE'schen mit dem Degexer ' s c h e n Verfahren (Kohlebrei-
verfahren). Bei letzterem geschieht die Klärung der Abwässer durch Zusatz
von Braunkohlen- oder Torfbrei und Spuren von Eisenchlorid, Passiren des
luftleergemachten PtöCKNER-RoTHE'schen Thurmes und eventuelle Nachdesin-
fection des geklärten Wassers durch Kalk. Der Reinigungseffect kann hier
über 807o betragen, so dass höchstens 20^0 organische Stoffe im Klärwasser
gelöst bleiben, ein Erfolg, welcher von den andern mechanisch-chemischen
Systemen kaum erreicht wird. (Bei diesen beträgt die Entfernung der fäul-
nissfähigen gelösten Substanz nur höchstens 40 — 60%).
Andere Verfahren dieser Kategorie sind das NAHNSEN'sche Verfahren
(Kalk, Aluminium Sulfat und lösliche Kieselsäure); das HuLWA'sche Verfahren
(Eisen, Thonerde, Kalk und Magnesia nebst Zellfaser ; in das geklärte Wasser
wird Schornsteinluft, die Kohlenoxyd liefert, oder Schwefeldioxyd geleitet).
Ausserdem liegen noch zahlreiche andere Systeme vor, die hier nicht weiter
angeführt werden können.
Von den Chemikalien, die man zur Desinfection und Klärung den
Abwässern zusetzt, hat sich der Kalk bis jetzt in der Praxis am besten
bewährt; er ist billig und leicht zu beschaffen. Nur diejenigen unter den jetzt
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 2
18 ABWÄSSER.
Üblichen Klärmethodeu wirken sicher desinfiicrend, welche hinreichende Mengen
von Aetzkalk verwenden und demselben Zeit genug lassen, um seine Wir-
kung auszuüben. Bei den an Fäcalien reichen Abwässern wird man nicht un-
ter l°/oo Kalkzusatz (als Kalkmilch) und einstündiger Einwirkungsdauer her-
untergehen dürfen. Sind die Abwässer aber durch Regen-, Spülwässer u. s.
w. stärker verdünnt, oder enthalten sie keine Fäcalien, so genügt O-ö'^/oo Kalk
bei gleicher Zeitdauer. Einen Nachtheil besitzt der letztere, nämlich, dass in
den geklärten Wässern noch nachträglich Schlammbildung eintritt; diese lässt
sich aber durch passende Einrichtungen vermeiden. Man kann z. B. für eine
ausgiebige Lüftung der abfliessenden kalkhaltigen und stark alkalisch reagiren-
den Wässer sorgen, sie vorher in Absitzgruben leiten u. dgl. m., wodurch
der Kalk in unlösliches Carbonat übergeführt wird. Da die ursprünglich
vorhandenen pathogenen Bacterien abgetödtet sind, falls die obigen Bedin-
gungen eingehalten waren, so ist eine nachher wieder auftretende Bacterien-
wucherung belanglos.
Desinfectionsmittel aus der Carbolsäurereihe sind theurer wie Kalk und
können die Verwendung des Schlammes in Frage stellen. Säuren, Schwefel-
säure und Salzsäure sind gleichfalls theurer wie Kalk, wirken aber sicher
keimtödtend. Ueber die Verwendung des Ozons oder der Elektricität für
die Reinigung und Desinfection der Abwässer sind die Acten noch nicht ab-
geschlossen.
Für die gewerblichen Abwässer kommen in der Regel Desinfections ver-
fahren nicht in Betracht (ausgenommen für die weiter oben angeführten wie
Schlachthausabwässer u. dgl.); es genügt, durch Fällungsmittel die organischen
Stoffe in ausgiebiger Weise nach den auch für andere Abwässer geltenden
Methoden aus ihnen zu entfernen.
Die Schlammniederschläge — 1 m^ Abw^asser gibt je nach seinem Ge-
halt an fällbaren Stoffen ca. 4—10/ Schlamm, der bis 907p Wasser enthalten
kann — werden durch Schlammpumpen gehoben und auf Hürden oder Sandfil-
tern vom Wassergehalt möglichst befreit, oder, wie Röckner-Rothe es macht,
durch Filterpressen getrocknet, so dass sie eine abstechbare und transportir-
bare Form annehmen. Der so entwässerte Schlamm wird bald mit Strassen-
kehricht, bald mit Torf, bald Wollabfällen gemischt, bisweilen auf heissen
Walzen getrocknet, gepulvert und als Düngemittel verwendet Namentlich
das mit Wollstaub gemischte Schlammpulver soll nach Vogel ein werthvolles
Düngemittel abgeben. Vielfacher Verwendung fähig wird der nach dem Decie-
NER'schen Kohlebreiverfahren gewonnene Schlamm sein; derselbe wird in ge-
trocknetem Zustande nicht nur als Düngemittel und Heizmaterial zu verwen-
den sein, sondern es werden sich auch die in ihm vorhandenen Fettstoffe leicht
extrahiren und als Schmierfette verwerthen lassen. Nach Degener erscheint
letzteres Vorgehen das lohnendere zu sein, wobei eine weitere Verwerthung
der entfetteten Schlammrückstände für Dünge- und Heizzwecke nicht aus-
geschlossen ist.
Immerhin bereitet vorläufig noch an vielen Orten dieser Klärschlamm
Schwierigkeiten und Verlegenheit, namentlich dort, wo ihn der Landmann
nicht mag. Er sammelt sich dann in grossen Massen an, geht, nachdem der
in ihm befindliche Kalk in Carbonat verwandelt ist, in Fäulnis über und führt
zu grossen Belästigungen der Nachbarschaft. Aufgabe der betheiligten Kreise
muss es daher sein, solche Verwerthungsweisen des Schlammes zu ersinnen,
die nicht nur eine schnelle Beseitigung desselben im Gefolge haben, sondern
auch, wie hoffentlich die DEGENER'sche, einen gewissen Gewinn versprechen.
Es würden dann auch Ortschaften, die die ersten grossen Kosten des Beriese-
lungssystems nicht erschwingen können, oder die geeignetes Rieselland nicht
besitzen, Kläranlagen im Interesse ihrer hygienischen Verhältnisse einrichten.
Max.
Mittel
5-50
3-65
700
4-90
6-25
4-00
5-UO
330
7-25
4-60
3-65
2-50
815
5-50
7-35
5-20
6 90
4-70
PßOSKAUER.
AKKLIMATISATION. 19
Die jährlichen Kosten für Beseitigung der Abwässer durch die verschie-
denen gebräuchlichen Systeme stellen sich nach Biax pro Kopf in Mark bei:
Min.
Schwemmsystem mit Rieselfeldern 2-10
„ „ „ und Pumpanlage 3'10
„ „ Kläranlage 2'30
„ und unmittelbare Einleitung in einen
Wasserlauf 2-00
Getrenntes System (Schmutz- und Regenwassernetz, Klär-
anlage für Schmutzwässer) 295
Desgl. ohne Regenwassernetz, mit Kläranlage für Schmutz-
wässer 1*65
Spülcanalisation, gemeinschaftliche Canäle, mit chemischer
Klärung und Abfuhr der Fäcalien 3*40
Spülcanalisation, wie oben, aber Einleitung in Wasserlauf
und Abfahr der Fäcalien 3'40
Spülcanalisation ohne Klärung, mit Einleitung in
Wasserlauf 3 10
Akklimatisation. Unter Akklimatisation verstehen wir die Angewöhnung
(Anpassung) lebender Wesen, hier besonders des Menschen, und zwar sowohl
des gesunden, als auch des kranken Menschen an ein Klima, das in irgend
einer Weise anders ist, als das Klima, in dem das betreffende lebende Wesen,
resp. der Mensch vorher gelebt hat.
Bei dieser anderweitigen Beschaffenheit des Klimas des neuen Aufent-
haltes, gegenüber dem altgewohnten Klima, kommen natürlich alle die Fac-
toren in Betracht, die auch maassgebend sind für die Beurtheilung der Ein-
wirkung eines Klimas auf gesunde und auf kranke Menschen, die also die
Unterlage bilden für die therapeutischen Maassnahmen eines Klimawechsels,
wie wir sie als „Klimatotherapie" zusammenfassen, und wie sie in dem
Artikel Klimatotherapie, näher bezeichnet und auf ihren Werth geprüft, zu
finden sind.
Die Werthe der einzelnen Factoren des Klimas, also
der Beschaffenheit des Bodens,
der Temperatur der Luft und ihrer Schwankungen,
des Feuchtigkeitsgehaltes der Luft und seiner Schwankungen
der Dichte der Luft und ihrer Schwankungen,
der Elektricität in der Luft und ihrer Schwankungen,
der Reinheit der Luft und ihrer Schwankungen,
der Durchlässigkeit der Luft für die Sonnenstrahlen, das Licht, die
Wärme und die chemischen Strahlen und deren Schw^ankungen,
der Häufigkeit, Menge und zeitlichen Vertheilung der at-
mosphärischen Niederschläge und
des j eweiligen Zustandes der Luft, ob in Ruhe, oder Bewe-
gung (Wind) und die Häufigkeit des einen oder des anderen Zustandes,
richten sich bei der Frage nach der Akklimatisation ganz ebenso, wie
das für die Klimatotherapie maassgebend ist, nach dem Unterschied eines
jeden Factors in dem neuen, gegenüber dem alten Klima und nach dem Zu-
sammenwirken der Differenzen der einzelnen Factoren.
Diesen Unterschied empfindet der gesunde und der kranke menschliche
Körper als angenehmen oder auch als unangenehmen Reiz, der jeweils nützlich
€der auch schädlich sein kann.
Dieser Reiz aber ist gerade das, was wir therapeutisch verwerthen, und
dieser Reiz, der zur Angewöhnung, zur Anpassung an die neuen Verhältnisse
führt, dauert so lange, bis die Akklimatisation, das heisst die Angewöhnung
an das neue Klima vollzogen ist.
2*
20 AKKLIMATISATION.
In diesem Werke ist ja hauptsächlich das, was den heilen wollenden
Arzt interessirt, enthalten; es ist desshalb zweckmässig die Verhältnisse der
Akklimatisation, wie sie ausserhalb der gewollten therapeutischen Maassnahmen,
durch zufällige Entwicklung der äusseren Lage des betreffenden Menschen sich
gestalten können, nur zu streifen.
Bekannt ist, dass gleiche Anpassungsfähigkeit vorausgesetzt, derjenige
wohl am ehesten sich akklimatisirt, der den Bewohnern seiner neuen Wohn-
stätte, seines neuen Klimas also, am Besten abzulauschen versteht, wie si&
leben, und der ihnen das nachmacht, was sie auf Grund langer Erfahrung zu
thun pflegen, das heisst, der — natürlich mit den nothwendigen Aenderungen
in Bezug auf durch die frühere Entwicklung bedingte Gewohnheiten und
Gebräuche — sich in Vielem anpasst an die Lebensweise der Eingeborenen.
Dass Europäer, die in tropische Gegenden gehen und denken, sie können
leben wie in Europa, das nur allzu oft büssen müssen, ist eine bekannte
Sache. Dass dagegen Andere, die sich in der angegebenen Weise anpassen
können und wollen, ihre volle Leistungsfähigkeit auch in ungünstigem Klima
für lange Jahre und zuweilen dauernd behalten können, ist wohl nicht zu
bestreiten.
Man sagt, dass die Menschen verschiedener Rasse sich verschieden leicht
akklimatisiren, dass dieselben ein verschieden grosses Akklimatisations-
vermögen haben. Am leichtesten akklimatisirt sich wohl der Europäer und
für die Tropen und Subtropen leichter der Süd-Europäer als der Nord-Euro-
päer, dann die gelbe Rasse und dann die Neger. Bei den Angehörigen an-
derer Rassen hat man wenig Erfahrungen, da deren gewollte oder erzwungene
Verbreitung über verschiedene Klimate zu gering ist.
Unsere Erfahrungen über die Akklimatisation von Thieren und Pflanzen,
der wir eine grosse Anzahl unserer Nutzthiere und Nutzpflanzen verdanken;,
lassen es wahrscheinlich erscheinen, dass ähnliche Veränderungen, wie sie im
Laufe langer Zeitfristen sich bei Thieren und Pflanzen entwickelt haben, sich
auch an Theilen eines Volkes, die ein anderes Klima dauernd aufsuchen und
bewohnen, entwickeln werden.
Am einzelnen Individuum und in der Zeit eines Menschenlebens sind
diese Veränderungen nicht gross und äussern sich meist in der grösseren
Widerstandsfähigkeit gegen vordem ungewohnte Einflüsse des neuen Klimas
und der in demselben endemischen Krankheiten. Diese Aenderungen be-
zeichnen wir als Akklimatisations Veränderungen. Die häufigsten.
Akklimatisationsveränderungen sind wohl die Veränderungen in der Beschaffen-
heit der Haut, die z. B. in den Tropen vielfach blutärmer, zuweilen auch,
pigmentirter wird. Ob man wirklich sagen darf, dass der Europäer sich auch
ohne Blutmischung in etwas den Eingeborenen des Landes in seiner anthro-
pometrischen Beschaffenheit nähert, in sich selbst und seinen Nachkommen,
wie das von den Nachkommen der Portugiesen in den Tropen in der Richtung^
auf die Eingeborenen und bezüglich der Einwanderer in Nordamerika in
Richtung auf die Indianer behauptet wird, muss dahingestellt sein.
Wir sprechen auch von Akklimatisationskrankheiten, die ent-
stehen, wenn das Akklimatisationsvermögen zu gering ist. Man wirft aber
hier oft Dinge zusammen, die nicht zu einander gehören.
Vieles von dem, was als Akklimatisationskrankheit bezeichnet wird, ist
die Erwerbung einer in der betreffenden Gegend häufigen Krankheit, als
deren vornehmsten Vertreter ich die Malaria und ihre verschiedenen Formen
nenne. Durch eine Menge neuer bezüglicher Forschungen, die besonders mit
der Erwerbung deutscher Colonien, die auch bei deutschen Forschern ein mehr
als vorher starkes Interesse an den subtropischen und tropischen Malaria-
formen und anderen diesen Gegenden eigenthümlichen Krankheiten erweckt
haben, erscheint die tropische Malaria als ein Sammelbegriff' für vielleicht.
AKKLIMATISATION. 21
recht verschiedenartige Erkrankungen. Dann nenne ich gelbes Fieber, für das
vielleicht Aehnliclies gilt, Leber- und Darinkrankheiten, Cholera, Beri-Beri,
Aussatz u. s. w. Das sind die wichtigsten der Krankheiten, die den in die
Tropen verzogenen Europäer befallen, während die Tuberkulose es ist, die den
in das kältere Klima verzogenen Tropenbewohner häuhg befällt.
Bei all diesen Krankheiten handelt es sich aber meistens, um nicht zu
sagen immer, um Infectionskrankheiten, deren Erwerb mit dem Klima im
strengen physikalischen Sinne nichts zu thun hat, die unter Umständen auch
in ganz anders geartetem Klima erworben werden können.
Eine Störung, die man dagegen vielleicht als wirkliche Akklimatisations-
krankheit, d. h. von den physikalischen Factoren des Klimas abhängige Krank-
heit, bezeichnen darf, ist die Blutarmuth der Europäer im heissen Klima und
die anders gestaltete Entwicklung der Kinder von Europäern in den Tro-
pen, die dort ebenfalls leichter blutarm werden, zugleich rascher und
schmäler wachsen und früher geschlechtsreif werden. Daraus hat sich die
ganz verbreitete Sitte entwickelt, dass Europäer, die in den Tropen wohnen,
ihre Kinder vor der eigentlichen Entwicklungszeit aus den Tropen in die
Heimat schicken.
Ausserdem wüsste ich kaum eine von den physikalischen Factoren des
Klimas abhängige Akklimatisationskrankheit noch sicher anzuführen, wenn
ich die scharf und eng begrenzte, früher gegebene Definition des Klimas
beibehalten will.
Wohl muss ich hier noch eingehen auf die „sogenannten" Akklimati-
sationskrankheiten, die zum grossen Theil, wenn nicht alle, endemische In-
fectionskrankheiten sind, die auch, wie schon gesagt, in ganz anderen Klimaten
erworben werden können und die desshalb, meiner Meinung nach, nicht als
vom Klima allein abhängige Krankheiten angesehen sind.
Die Beschaffenheit des Bodens und des Wassers spielt bei deren Ent-
stehung eine grosse Holle und dabei in erster Linie die Reinheit oder
LTnreinheit von Wasser und Boden.
Wenn sich Jemand in einem Orte ansiedelt, der von Typhus abdominalis
durchseucht ist und er erwirbt aus dem Boden oder aus dem Wasser oder
sonst woher eine Typhusinfection, dann fällt es Niemanden ein, zu sagen,
das sei eine Akklimatisationskrankheit.
Ich wiederhole deshalb noch einmal, wir müssen unterscheiden lernen
-zwischen wirklichen Akklimatisationskrankheiten, die nur von den klima-
tischen Factoren abhängig sind, auf die Schmutz und ünreinlichkeit in
Wasser, Boden u. s. w. keinen Einfluss haben, und zwischen dem, was man
heute oft Akklimatisationskrankheit nennt, was aber besser endemische
Krankheit genannt wird, da sie vielfach durch Verunreinigung von Boden,
Wasser und Luft und unter Mitwirkung mehrerer physikalischer klimatischer
Factoren entsteht, oder entstehen kann. Wie schon gesagt, gehören hierher
in erster Linie alle Malaria- und Gelbfieberformen. Den Streit kann ich
nicht entscheiden ob z. B. das Schwarzwasserfieber der einen oder der anderen
Oruppe einzureihen ist, auch kann man noch nicht bestimmen, wie viel
parasitären Erregern und wie viel den Mängeln des Klimas (physikalisch
genommen) jeweils zuzuschreiben ist. Gerade in den letzten Jahren sind eine
Reihe verdienstvoller Arbeiten auf diesem Gebiete publicirt worden und es
steht zu hoÖen, dass der, der in einigen Jahren sich mit der vorliegenden
Frage beschäftigt, ganz wesentlich weiter sein wird, als der Schreiber dieser
Zeilen.
Nächst Malaria und Gelbfieber sind es Dyssenterie, Beri-Beri, Aussatz,
vielfach Magen-, Leber- und Darmkrankheiten, seltener Thyphus und Diphtherie,
die den südwärts ziehenden Europäer befallen.
22 AKKLIMATISATION.
Der Europäer, der südwärts und bis in die Tropen zieht und ebenso
der Tropenbewohner, der nordwärts zieht, thun gut, sich, wie ich oben schon
sagte, von den Bewohnern jenes neuen Klimas lehren zu lassen, was ihnen
die Jahrhunderte lange Erfahrung für ihre Lebensgewohnheiten gelehrt hat,
in Bezug auf Wohnung, Kleidung, Essen, Trinken, Schlafgewohnheiten
u. s. w.
Derjenige, der an einen Ort zieht, in dem erfahrungsgemäss Ankömm-
linge krank werden, thut gut, sich Kenntnis zu verschaffen über die Krank-
heiten, die an diesem Ort vorkommen. Er mag sich dann mit einem Arzte
berathen, wie er nach seiner Ankunft in der neuen Heimat, in dem neuen
Klima, sich zunächst und später zu verhalten hat. Dabei kommt in erster
Linie in Frage: Wohnung, Nahrung und Kleidung.
Nahrung und Kleidung ist gewöhnlich gegeben durch das was Sitte, oder
möglich ist, zum Theil auch in gleicher Weise die Wohnung. In Bezug auf
die Wahl der Wohnung sollte Jeder, der gezwungen ist, sich zu akklimatisiren,
den Rath eines erfahrenen, am neuen Wohnorte w^ohnenden Arztes und in
Ermangelung desselben, erfahrene Freunde und sachverständige, vertrauens-
würdige, ortsangesessene Europäer oder auch Eingeborene hören. Was für
die Wohnung gilt, gilt im Grossen und Ganzen auch für das Wasser. Beides,
ist von sehr, sehr grosser Bedeutung für die Zukunft des neu Eingewanderten.
Wenn dieselben vorsichtig sind und es nicht für nöthig oder angenehm
halten, wie leider so viele Europäer in den Tropen, die allzu oft Whisky-
Soda zu sich nehmen, und wenn sie das Vorhergesagte befolgen und sich
keinen überflüssigen Schädlichkeiten aussetzen, dann glaube ich, dass die Ak-
klimatisationsfähigkeit auch in den Tropen erheblich grösser sein würde,
als die jetzigen Erfahrungen annehmen lassen.
Wer genug Energie besitzt, um nur das zu thun, was er nach dem
Rathe Erfahrener thun darf, der hat Aussicht, sich zu akklimatisiren und im
fremden Klima so behaglich und vielleicht behaglicher zu leben, als in seiner
Heimat. Für den in die Tropen ziehenden Europäer gilt das oft. Dass es
schon früher so angesehen wurde, sagt der Ausspruch Linne's: „Nur in den
Tropen lebt der Mensch natürlich."
Ob die Rasse sich dauernd und auf Jahrhunderte hinaus in dem fremden
Klima erhalten kann, ohne Mischung mit den Eingeborenen, das ist eine noch
ungelöste Frage. Die Verbreitung der Juden, der weissen, gelben und der
schwarzen Rasse in denselben ursprünglich ungewohnten Kliraaten- spricht
sehr für die „Möglichkeit" einer solchen Anpassung, obwohl dieselbe auf
Grund statistischer Mittheilungen vielfach bestritten wird. Die P'rage nach
der eventuell nothwendig wiederholten Auffrischung des Blutes durch Neu-
einw^anderung aus dem Ursprungslande ist ja ausserordentlich schwer zu
entscheiden. Dass Einzelne sich auch in mindergünstigem Klima, so lange,,
als ihre Lebensfrist auch anderwärts gewesen wäre, erhalten, ist wohl nicht
zu bestreiten.
Wenn war uns erst frei gemacht haben werden von der Vermengung
der Krankheiten, die von den physikalischen Factoren des Klimas allein ab-
hängig sind, mit den jeweiligen endemischen Krankheiten, an deren Ent-
stehung naturgemäss die klimatischen Factoren mitwirkende Componenten
sind, wenn wir erst sagen, das ist klimatisch bedingte und das ist durch in
jenem Klima endemische Krankheit bedingte Veränderung, dann werden wir,
wie ich hoffe, bald grössere Fortschritte in der Lösung der Frage der Akkli-
matisation machen, auch im Rückblick auf die Erfahrungen vergangener
Zeiten. balsee.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHß. 23
Apothekenwesen und Arzneimittelverkehr. Das Wort Apotheke
ist griechischen Ursprungs. Apotheke (dTroilY/'/j von ot-oxiör^jjLi hinstellen) nannten
die Griechen jeden Ort, wo etwas aufgespeichert oder aufbewahrt wurde,
speciell den oberen Theil des Hauses, der zur Aufbewahrung von Wein diente,
und wir linden das ins classische Latein übertragene Wort apotheca bei den
Römern in derselben Bedeutung z. B. apotheca librorum, Büchermagazin,
Bücherei. Erst im Mittelalter wurde diese Bezeichnung nur mehr jenen
Localitcäten zutheil, in denen Arzneimittel vorräthig gehalten, zubereitet und
verkauft wurden. Die Verwalter solcher Geschäfte nannte man Äpothecarii.
Diese Bezeichnungen sind schon frühzeitig auch in die germanischen
und romanischen Sprachen in der ursprünglichen Bedeutung übergegangen,
wie die Worte : Botica der Spanier, Bottega der Italiener und Boutique der
Franzosen beweisen. In Frankreich sind nach der Revolution statt „Boutique
d'apothicaire" und ^Äpothicaire^' die Namen Pharmacie und Pharmacien in
Gebrauch gekommen, abgeleitet vom griechischen cpap|jia/ov, Heilmittel. In der
Bedeutung der Apothekerkunst als Wissenschaft ist das Wort Pharmacie
auch in der deutschen Sprache üblich, im weiteren Sinne versteht man darunter
das gesammte Apothekenwesen. Unter der letzteren Bezeichnung aber, fassen wir
Alles zusammen was mit der Apotheke und dem Arzneimittelverkehr, soweit
derselbe nicht dem freien Handelsverkehr überlassen ist, zusammenhängt.
Nach der gegenwärtigen Anschauung ist die Apotheke als eine unter
staatlicher Aufsicht stehende Anstalt zum Vorräthighalten und zur Abgabe
von Arzneimitteln zu bezeichnen, welche von Personen verwaltet wird, die
eine bestimmte, staatlich vorgeschriebene Ausbildung genossen haben und zur
Ausübung ihres Berufes die staatliche Approbation (Diplom) erhalten.
Geschichte. Die ersten Anfänge des Apothekenwesens verlieren sich
im grauen Alterthum. Es ist wahrscheinlich, dass schon bei den alten
Egyptern und Indiern neben den Aerzten bestimmte Personen sich mit dem
Einsammeln von Heilgewächsen und mit dem Handel von zu Heilzwecken
dienenden Substanzen befassten, in welchen wir also die Vorläufer der späteren
Apotheker zu sehen hätten.
Bei den Griechen -und Römern bereiteten zumeist noch die Aerzte selbst
die Arzneien, doch wird schon frühzeitig von Personen gesprochen, die sich
neben den Aerzten gewerbsmässig mit der Herstellung von Arzneien und dem
Einsammeln von Rohdrogen beschäftigten. Die Römer nannten diese Kräuter-
und Wurzelsammler Herharn, die Griechen Bhizotomen. Schon vor der Zeit
des Augustus gab es Arzneihändler, Pharmacopolae, die entweder mit ihren
Arzneimitteln und Erzeugnissen umherzogen oder diese in eigenen Localen
feilboten. Erstere nannte man Pharmacopolae circumforanei, Circulatores,
Periodeliten, Agijrten oder Ochlagogen, letztere Sellularii, Seplasiarii. Die
Pharmacopei oder MedicamentarU, Pharmacotritae, von denen zur selben Zeit
die Rede ist, beschäftigten sich mit der Herstellung von Arzneimitteln
und Arzneimischungen, die sie feilboten, während die Pimentarii, die im
IV. Jahrhundert u. Ch. in der Stadt und auf dem Lande zu finden waren,
sich mit dem Mischen von Arzneien nach Angabe der Aerzte beschäftigten,
sich jedoch, wie es scheint, keiner besonderen Achtung zu erfreuen hatten.
Auch besondere Salbenköche {Unguentarii) waren bei den Römern thätig,
welche, wie es scheint, auch das Curpfuschen betrieben und den Aerzten
Concurrenz machten. Eine stricte Trennung der Kunst der Arzneienbereitung
von der Heilkunst wurde zuerst von den Arabern im VIII. Jahrhundert durch-
geführt. Der Kalif El-Mansur (f 774) errichtete in Bagdad die erste öffent-
liche Apotheke und sorgte für die Schaffung wissenschaftlicher Institute. Die
eigentliche Apothekerkunst, die Pharmacie als Hilfswissenschaft der Heilkunde,
verdanken wir also den um die Arzneimittellehre so hoch verdienten Arabern.
24 APHOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
Durch die Araber nun wurde die Institution auch in Italien und Spanien, wo
sie Besitzungen gehabt, eingeführt und wurde so auch dem christlichen Abend-
lande bekannt. Doch dauerte es immer noch einige Jahrhunderte, bis sie
hier Wurzel fasste. In Neapel wurde im XII. Jahrhundert durch König Roger
die erste Apotheke errichtet. Dem genialen Hohenstaufen Kaiser Friedeich II.
entstammen die ersten gesetzlichen Bestimmungen über die Regelung des
Apothekenwesens. Im XII. Jahrhundert schon kam man so weit, dass der
Apotheker an der medicinischen Schule sich ausbilden und vor Zulassung zur
Ausübung seines Berufes seine Pflichttreue durch einen feierlichen Eid erhärten
musste. Kaiser Feiedeich's IL Apothekergesetzgebung aus dem XIII. Jahr-
hundert zeichnete in grossen Zügen dem Apotheker jene Bahnen vor, in denen
er heute noch wandelt. Er bot den Apothekern in erhöhtem Maasse Schutz
gegen Concurrenz, sorgte für eine zeitgemässe wissenschaftliche Ausbildung
derselben und wollte weder einen Handwerker noch einen Krämer aus ihm
machen.
Nach den Bestimmungen dieses ersten in Italien erlassenen Apotheker-
gesetzes war den Aerzten das Dispensiren von Arzneien und die Haltung
eigener Apotheken (damals stationes genannt) untersagt, ebenso das Compag-
niegeschäft mit den Apothekern {Confectionarii). Es wurde die Zahl der Apo-
theken für eine bestimmte Volksmenge festgesetzt und dieselben unter die
Aufsicht beeideter Revisoren gestellt, welche bei der Bereitung gewisser
Latwergen u. dgl. zugegen sein mussten. Ausserdem wurde der Preisauf-
schlag für die Arzneien festgesetzt und das „Antidotarium" von Salerno als
Richtschnur für die Arzneibereitung eingeführt. Wie man sieht, enthält diese
Apothekengesetzgebung bereits das Wesentlichste aller späteren Pharmacie-
gesetze. So viel urkundlich nachzuweisen, waren in Deutschland bereits im
XIII. Jahrhundert zu Trier, Schweidnitz, Münster und Glogau (1281) Apo-
theken vorhanden, im XIV. Jahrhundert in Prenzlau (1303), Hildesheim
(1318, 1341), Prag (1342). Im XV. Jahrhundert findet man bereits an vielen
grösseren Städten Apotheken, so in Leipzig (wo 1409 die erste Apotheke
durch die von Prag ausgewanderten Universitätsangehörigen gegründet wurde),
in Basel (1440), Stuttgart (1457), Frankfurt a/M (1476), Berlin (1488), Halle
(1493) etc. Die Mehrzahl der Apotheken in Deutschland und Oesterreich
stammen jedoch aus späteren Jahrhunderten. Schon im XIV. Jahrhundert und
vielerorts auch noch bis in viel spätere Zeit wurden die Apotheken von der
Geistlichkeit oder von Städten gegründet und erhalten. Die Apotheker da-
gegen erhielten einen fixen Gehalt. In Nürnberg erscheint 1377 ein Äpothe-
carius als Beamter der Stadt. Später gingen die Apotheken allmälig in
Privatbesitz über, doch haben sich derartige Verhältnisse an manchen Orten
bis Ende des vorigen und sogar bis zu Anfang des gegenwärtigen Jahrhun-
derts erhalten. An vielen Orten wurden aber die Apotheken auch gleich an
qualificirte Personen verliehen und dieselben durch ein mehr oder weniger
umfassendes Privilegium geschützt. Diese Privilegirung ist leicht erklärlich,
wenn man bedenkt, dass die Zahl der gelernten und geprüften Apotheker
eine verschwindend kleine war, so dass denselben ganz besondere Vortheile
geboten werden mussten um sie zu veranlassen sich an einem Orte dauernd
niederzulassen. Später nahm die Zahl der Apotheker zu, während gleich-
zeitig der Bedarf nach Apotheken allmälig im Verhältnisse sank, so dass die
Verleihung besonderer Privilegien nicht mehr nöthig war. In den meisten
Staaten, welche das System der Privilegien hatten, ging man daher bereits
Ende des vorigen und Anfangs des jetzigen Jahrhunderts auf die Ertheilung
von Concessionen über und seither werden keine Realprivilegien mehr (Real-
rechte) verliehen.
Ursprünglich waren die Apotheker durch besondere Privilegien allein
berechtigt, Arzneiwaaren zu verkaufen, erst später, im XVII. Jahrhundert,
APHOTIIEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 25
tauchten die Arzneiwaarenliändler, ^.Materialisten" und „Trochisten" auf, welche
als sogenannte Detail-Drogisten auch heute noch bestehen und den eigent-
lichen Handel mit Arzneiwaaren betreiben, Avährend die Apotheker immer
mehr auf das Dispensiren der ärztlichen Verschreibungen und die Verabfol-
gung zusammengesetzter Medicamente beschränkt werden.
Die Entwicklung des Apothekenwesens in den einzelnen Staaten war
wesentlich bedingt durch die Gesetzgebung, doch ist der Eintiuss derselben
auf die Pharmacie selbst kein grosser gewesen, da sich dieselbe in den civili-
sirten Ländern ohne Rücksicht auf das vom Staate adoptirte System des
Apothekenbetriebes ziemlich gleichmässig entwickelt hat. In Frankreich, w^o
die Apotheker eine mehr zunftmässige Verfassung hatten, hat sich die Phar-
macie in denselben Bahnen bewegt, wie in Deutschland und Oesterreich, wo
der Apotheker eine privilegirte Stellung einnahm. Die eigenthümliche Mittel-
stellung des Apothekers zwischen den gelehrten Ständen und den Gewerbe-
treibenden kam in den Ländern, wo der Apothekenbetrieb ein mehr oder
weniger freies Gewebe bildet ganz ebenso zum Ausdruck, wie in den Staaten
mit staatlicher Beschränkung. Es gab Zeiten, wo die Apotheke fast die ein-
zige Pflegestätte der Naturwissenschaften war, insbesondere haben sich die
Apotheker überall um die Entwicklung der Botanik und Chemie sehr verdient
gemacht. Die Chemie verdankt bis auf die neuere Zeit ihre Hauptförderung
Männern, w^elche aus der Pharmacie hervorgegangen sind. Anderseits wurde
der Apothekenbetrieb immer mehr in commercielle Bahnen gelenkt, so dass
die Apotheke der Gegenwart immer mehr zu einer einfachen Arzneimittel-
handlung herabsinkt. Inwieweit hiezu die enorme Entwicklung der chemischen
Industrie und die Fortschritte auf allen Gebieten menschlicher Thätigkeit
beigetragen haben, soll hier nicht weiter erörtert werden, es ergibt sich aber
immer mehr die Nothwendigkeit, das Apothekenwesen einer den modernen
Verhältnissen entsprechenden Umgestaltung zu unterziehen und den geänderten
Productions- und Consumptionsverhältnissen anzupassen, damit es seinen Platz
als wichtiger Factor des allgemeinen Sanitätswesens weiter behalte.
Pharmakopoen. Das Wort „Pharmakopoe." aus dem Griechischen stam-
mend, bedeutet „Vorschrift für die Arzneibereitung'', ein Buch, welches eine
Reihe von arzneilichen Rohstoffen, sowie von arzneilichen Zubereitungen der-
selben, die in den Apotheken vorräthig gehalten werden sollen, meist in alpha-
betischer Anordnung enthält. Dieser allgemeine Begriff ist gegenwärtig so weit
umgrenzt, dass wir unter Pharmakopoe ein Arzneigesetzbuch verstehen, welches
für einen bestimmten Bezirk — meist für ein ganzes Reich — Geltung besitzt
und die Beschaffenheit der darin aufgenommenen (sogenannten „officinellen")
Arzneimittel vorschreibt, entweder indem bestimmte Merkmale, ein bestimmter
Gehalt an gewissen Substanzen, ein bestimmtes Verhalten gegenüber gewissen
Reagentien gefordert werden, oder indem eine genaue Vorschrift für die Her-
stellung derselben gegeben wird, wodurch die gleichmässige Beschaffenheit der
betreffenden Stoffe in allen Apotheken des Geltungsbezirkes der betreffenden
Pharmacopoe erreicht werden soll. In fast allen civilisirten Ländern ist es
die Staatsbehörde selbst, welche unter Mitwirkung einer aus hervorragenden
Fachleuten bestehenden Commission, die Pharmakopoen herausgibt und selbe
von Zeit zu Zeit, nach dem jeweiligen Stande der Heilkunde, neu bearbeiten
lässt. Der Schwerpunkt der Pharmakopoen gipfelt gegenwärtig darin, dem
Apotheker möglichst genaue Vorschrilten für die Erkennung und Prüfung der
vorräthig zu haltenden Arzneistoffe zu geben, mögen es nun einfache oder
zusammengesetzte Substanzen sein, da nach den in den meisten civilisirten
Staaten geltenden gesetzlichen Bestimmungen der Apotheker für die durch
die Pharmakopoe vorgeschriebenen Arzneistoffe verantwortlich gemacht ist.
Den Bestimmungen der Pharmakopoen gemäss, sind dieselben meist kurz gefasst.
26 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
entweder in der betreffenden Landessprache oder (gegenwärtig seltener) in
lateinischer Sprache. Zur praktischen Erläuterung dienen dann die verschie-
denen Commentare zu den Pharmakopoen, welche die pharmaceutische Lite-
ratur aufzuweisen hat. Als Anhang zu den Pharmakopoen pflegen denselben
gewöhnlich noch eine Reihe von Tabellen beigegeben zu werden, z. B. solche,
welche die Maximaldosen für stark Avirkende Arzneistofle festsetzen, Tabellen
über die Löslichkeit verschiedener Substanzen in Wasser und Alkohol, solche
über das specitische Gewicht verschiedener Flüssigkeiten etc.
Die Geschichte der Pharmakopoen ist eine Geschichte der Pharmacie,
deren jeweiliger Zustand sich am deutlichsten in dem Inhalte der Pharma-
kopoen des betreffenden Zeitabschnittes ausspricht. Von officiellen Pharma-
kopoen in unserem heutigen Sinne kann allerdings erst ziemlich spät ge-
sprochen werden, indessen gab es schon sehr früh Bücher, in welchen die
Zubereitung und Heilkraft verschiedener Arzneimittel aus dem Thier- und
Pflanzenreiche beschrieben wurden. Ein derartiges Buch ist das von Scei-
BONiüs Laegus zur Zeit des Kaisers Claudius verfasste Werk „Compositiones
medicae", in Avelchem eine ganze Anzahl von Arzneimittelvorschriften ver-
einigt sind und das daher gewissermaassen als die erste Pharmakopoe angesehen
werden kann, wenn man von den noch weit älteren Schriften aus der Zeit
der alten Aegypter absieht.
Die späteren Schriften römischer Aerzte, wie die von Cajus Plinils
secundus, Galen u. A. kann man weniger als Pharmakopoen betrachten, da
sie eher Arzneimittellehren vorstellen. Ueberhaupt hat die Entwicklung der Phar-
macie, mit Ausnahme von Galen, nach dem noch heute eine ganze Reihe
zusammengesetzter pharmaceutischer Präparate als „galenische Mittel" be-
zeichnet werden, unter den Römern keine wesentlichen Fortschritte gemacht,
sondern bewegte sich im Ganzen in den von den Griechen beziehungsweise
Aegyptern vorgewiesenen Bahnen. Mit dem Zusammensturz des römischen
Reiches und den Verschiebungen, die der Einbruch der nordischen Völker-
schaften in Europa zur Folge hatte, verfiel auch die Wissenschaft Europa's
und flüchtete zu den Arabern. Unter den kunstsinnigen und die Wissenschaften
liebenden Kalifen des damals so mächtigen arabischen Reiches fand auch
die Pharmacie, bis dahin die vernachlässigte Stiefschwester und Dienerin der
Medicin, eine ausgezeichnete Pflegestätte, ja man kann überhaupt Bagdad als
die Wiege der wissenschaftlichen Pharmacie bezeichnen. Die ersten Männer
der Wissenschaft beschäftigten sich mit der Ausgestaltung der Pharmacie,
so insbesondere Geber und Ebn Jahel, welcher eine Reihe von Arznei-
bereitungsvorschriften in seinem Werke „Krabadin" vereinigte, welche die
Inhaber der Officinen gehalten waren zu beobachten. Dieses Werk erhielt
damit einen amtlichen Charakter und ist daher als die erste Pharmakopoe in
unserem Sinne aufzufassen.
Um die Förderung des Arzneischatzes und der Pharmacie machte sich
insbesondere auch Avicenna im 10. Jahrhundert, der berühmteste unter den
arabischen Aerzten, sehr verdient. Er sowohl als Andere bemühten sich nicht
nur neue heilkräftige Stoffe aufzufinden, sondern auch möglichst bequeme
und angenehme Anwendungsformen für die Heilmittel zu ersinnen. Aus jener
Zeit stammen denn auch eine ganze Menge Latwergen, Confecte, Sirupe und
Couserven. Im 12. Jahrhundert gab Ebn Talmid, Leibarzt des Kalifen in
Bagdad die 2. Pharmakopoe heraus, welche den arabischen Apothekern als
Richtschnur zu dienen hatte. Daneben gab Kohen-Attar, Apotheker in
Kairo, eine Art Handbuch der pharmaceutischen Praxis heraus. Später galt
einige Zeit lang das Antidotarium von Nicolaus Myrepsus aus Alexandria
als Gesetzbuch der Apotheker, ist somit als 3. Pharmakopoe anzusehen, wäh-
rend ein noch später von Saladin von Ascolo verfasstes Handbuch für Apo-
theker, in welchem eine Anleitung zur Sammlung und Zubereitung von Arznei-
mitteln gegeben wird, keinen Pharmakopoe-Charakter besessen zu haben scheint.
•APOTHEKEN WESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 27
Im Abendlande beschränkte man sich anfangs darauf die durch die
Araber erhaltene "Wissenschaft zu pflegen, worauf durch die Alchymisten und
Aerzte Albertus Magnus, Raimund Lull, Roger Baco u. A, eine Förderung
der pharmaceutischen Wissenschaft eintrat. Das von dem fränkischen Arzte
Ortolf von Bayerland (Oktolf Megtenbergeiv') 1477 herausgegebene
„Arzneibuch" in deutscher Sprache ist wohl das erste deutsche Apothekerbuch.
Eine neue Epoche in der Ausgestaltung der wissenschaftlichen Pharmacie
beginnt mit Pal'acelsus (1493 — 1541), der die Einführung chemischer
Präparate in die Heilkunde versuchte. Bis dahin setzte sich der Arzneischatz
hauptsächlich aus pflanzlichen und thierischen und einigen wenigen mine-
ralischen Stoffen zusammen. War bis dahin die Pharmacie als wissenschaft-
liche Drogenkunde zu bezeichnen, so beginnt mit Paracelsus die Schaffung
einer neuen Disciplin, der pharmaceutischen Chemie, welche bald den ersten
Rang unter den Hilfswissenschaften der Pharmacie einnahm. Das Wieder-
erwachen der wissenschaftlichen Bestrebungen und ihre eifrige Förderung im
16. Jahrhunderte brachte auch auf anderen Gebieten der Pharmacie, ins-
besondere in der Botanik zahlreiche für die damalige Zeit werthvolle Werke
hervor und führte endlich zur Herausgabe der ersten amtlichen Pharmakopoe
in Deutschland. Es ist dies das vom Arzte Valerius Cordus im Auftrage des
hohen Rathes zu Nürnberg 1.535 verfasste und 1545 eingeführte „Dispen-
satorium" (Pharmacorum conficiendorum ratio, vulgo vocant dispensatorium),
welches grosse Verbreitung auch ausserhalb Deutschlands fand. Diese
Pharmakopoe enthält: Aromatische Mittel, Opiate (darunter die berühmten
Latwergen Theriak und Mithridat), Confecte, Conserven, Abführmittel, Pillen,
Sirupe, Lecksäfte, Trochiscen, Pflaster, Gerate, Salben und Gele, es fehlen
also darin noch die Extracte und die chemischen Präparate.
Dieser ersten deutschen Pharmakopoe folgte 1564 die zweite in Augsburg,
es ist dies die von Adolf Occo verfasste erste Augsburgische Pharmakopoe.
Diese zerfällt in 2 Hauptabschnitte, die Simplicia und die Gomposita. Unter
den Simplicia sind 230 Herbae, 106 Semina, 60 Flores, 108 Radices, 51 Fructus,
16 Cortices, 36 Succi, eine Menge ganzer Thiere und thierischer Stoffe, ferner
eine Reihe Metalle, Terrae, Lapides, Gemmae etc. angeführt. Die Gomposita
zerfallen in Electuarien, Gonserven, Gonfecte, Sirupe, Gollyria, Decocta,
Pulveres medicati, Unguenta, Emplastra, Gerata etc. — Im Jahre 1565
erschien eine Kölner Pharmakopoe und 1567 das von florentiner Aerzten
herausgegebene „Ricettario Fiorentino", welches bald amtliche Geltung hatte
und lange Zeit hindurch in Gebrauch blieb.
Später haben sich Libavius, Minderer, Homberg um die Einführung
chemischer Präparate in den Arzneischatz sehr verdient gemacht. Von ihren
Wirken geben heute noch verschiedene nach ihnen benannte Präparate
(Spiritus Libavii, Spiritus Mindereri, Sal Sedativum Hombergii) Zeugnis. Bis
in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein erstreckte sich der Kampf um die
alten galenischen Mittel gegen die seit Paracelsus immer siegreicher auftretende
Ghemiatrie, deren Anhänger sich namentlich in Deutschland, England und in
den Niederlanden befanden, während In den romanischen Ländern die Galenica
noch in hohem Ansehen standen. Uebrigens haben sich diese Verhältnisse
sogar bis heute noch erhalten, was am besten aus dem Vergleich der ein-
schlägigen Pharmakopoen erhellt. Die Zahl der Arzneimittel überhaupt und
speciell jene der pharmaceutischen Präparate ist z. B. in der französischen
Pharmakopoe noch heute bedeutend grösser als im deutschen oder öster-
reichischen Arzneibuche. Gegen das Ende des 17. Jahrhunderts entstand
aus einer Verschmelzung beider Richtungen die Schule der Eklektiker, das
18. Jahrhundert gehörte aber schon ganz der chemischen Richtung an. Es
begann mit der von Stahl aufgestellten Phlogistontheorie und endete mit
Lavoisier, der die Phlogistontheorie, die bis dahin Alles beherrschte, gänzlich
28 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
entthronte. Dazwischen fällt die Thätigkeit des schwedischen Apothekers
Scheele, der eine ganze Reihe der bedeutendsten chemischen Entdeckungen
machte. Er stellte zuerst Arsensäure, Blausäure, Oxalsäure, Milchsäure,
Harnsäure, Salzsäure, Aepfelsäure, Glycerin etc. dar, ermittelte die Zusammen-
setzung der Luft aus Stickstoff und Sauerstoff und stellte diesen letzteren rein
dar. Baume, Apotheker und Professor am College de Pharmacia in Paris,
erfand das Aräometer und machte sich um das Studium des specifischen Ge-
wichtes der Körper verdient. Durch Jussieu und Linne wurde die wissen-
chaftliche Botanik ausgestaltet und dadurch das Studium der medicinisch-
pharmaceutischen Botanik sehr gefördert. Auf die Entwicklung der pharma-
ceutischen Chemie hatte dann der Stockholmer Arzt und Chemiker Bebzelius
grossen Einfluss. Vauquelin, der Entdecker des Cyans, Davy, der zuerst die
Alkalimetalle darstellte, Sertürmer, der das erste Alkaloid (das Morphium)
darstellte und andere Pharmaceuten arbeiteten eifrig mit.
In dem Maasse als das Gebiet der pharmaceutischen Chemie und des
pharmaceutischen Wissens überhaupt sich erweiterte, machte sich das Be-
dürfnis nach wissenschaftlichem Unterricht immer mehr geltend. In Frankreich
bestand schon lange ein College de Pharmacie, aus dem die „Ecole normale
de Pharmacie" in Paris hervorging, an die sich im Laufe der Zeit eine
Anzahl pharm aceutischer Institute in verschiedenen Provinzstädten anreihte.
In Deutschland wurden zunächst private Unterrichtsanstalten errichtet, so 1795
von G. B. Trommsdorff in Erfurt, wo besonderer Nachdruck auf das Arbeiten
im Laboratorium gelegt wurde. Nach und nach wurde dafür gesorgt, dass
dem Bedürfnisse nach praktischer Arbeit auch an den Universitäten genügt
werde und es wurden chemische Laboratorien für Pharmaceuten errichtet.
Damit wurde der Schwerpunkt der pharmaceutischen Chemie aus den Apotheken-
laboratorien, wo sie bis dahin neben den erwähnten Privatinstituten ihre
einzige Pflegestätte hatte, an die Hochschulen verlangt. Männer wie Döber-
REiNER, Rose, Liebig, Wöhler, zum Theil selbst Pharmaceuten, sorgten
dafür, dass diese Disciplin sich rasch in ungeahnter Weise entwickelte. Unter
der weiteren hervorragenden Mitwirkung von Männern wie Geiger, Buchner,
BuNSEN, Will, Fresenius, Gorup-Besanez und vieler Anderer haben sich
die verschiedenen Disciplinen der Pharmacie, insbesondere aber die analytische
und die allgemein pharmaceutische Chemie bis zu ihrer jetzigen Achtung
gebietenden Höhe ausgebildet, wo wir an Männern wie E. Schmidt, F. A.
FüCKiGER, Planchon, Holmes, Dragendorff, R. Kobert, A. Vogl u. A.
hervorragende Förderer der wissenschaftlichen Pharmacie aufzuweisen haben.
Die Pharmakopoe-Literatur nahm inzwischen einen mächtigen Aufschwung.
1618 erschien die erste Ausgabe der Londoner Pharmakopoe, 1636 der „Codex
medicamentarius Parisiensis" der Pariser Aerzte. 1622 erschien die „Pharma-
copoea spagirica nova et inaudita" von De la Poterie, 1641 Schröder's
„Pharmacopoea medicophysica". Im Jahre 1677 erschien zu Genf eine
„Pharmacopoea Helveticorum" und schon früher in Kopenhagen, Haag, Ant-
werpen, Utrecht etc. Dispensatorien, welche von den Aerzten der betreffenden
Städte herausgegeben wurden. Im Jahre 1698 erschien die erste preussische
Pharmakopoe unter den Titel „Dispensatorium Brandenburgicum seu norma,
juxta quam in Provinciis Marchionatus Brandenburgici medicamenta officinis
familiaria dispensanda ac praeparanda sunt", welche nach unzähligen Um-
arbeitungen und Neuausgaben erst in unseren Tagen durch die Pharmacopoea
Germanica ersetzt wurde. Ab 1799 lautete der Titel dieser Pharmakopoe
einfach „Pharmacopoea Borussica". Ausser der preussischen waren in
Deutschland noch eine ganze Anzahl anderer Pharmakopoen in Geltung. In
Oesterreich erschien 1729 das „Dispensatorium Austriaco-Vienense", aus dem
die spätere „Pharmacopoea Austriaca" entstand, deren 7. Ausgabe noch
gegenwärtig in Geltung steht.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 29
Im Jahre 1722 erschien die berühmte „Pharmacopoea Edinburgensis",
1771 die „Pharmacopoea Helvetica", 1772 die erste dänische, 1773 eine
sardinische, 1775 eine schwedische, 1778 eine russische, 1794 eine spanische
Pharmakopoe. Es folgten dann 1805 Holland, 1807 Irland, 1818 Frankreich
mit dem „Codex medicamentarius s. Pharmacopoea Gallica" (bis dahin waren
neben dem Codex Parasiensis noch verschiedene andere locale Pharmakopoen
in Geltung). In Nordamerika erschien 1806 das erste „American Dispensatory",
jedoch ohne otticiellen Charakter. Die noch heute in Geltung befindliche
„Pharmakopoeia of the United States of America" erschien erstmals im
Jahre 1820. Pharmakopoen neueren Datums sind: Die ungarische, rumänische
und japanische. Die jüngsten Pharmakopoen sind jene der Schweiz und
Italiens. Bis zu deren erst kürzlich erfolgtem Erscheinen gab es in diesen
Ländern keine das ganze Staatsgebiet umfassende obligatorische Pharmakopoe^
Die Zahl der gegenwärtig als Arzneigesetzbücher in Kraft befindlichen
Pharmakopoen auf der ganzen Erde beträgt 22 (wenn man die ganz veralteten
Pharmakopoen von Serbien und Griechenland nicht dazu rechnet), von denen 3
auf die neue Welt entfallen und 19 auf die alte; von diesen wiederum besitzt
Europa allein 18, während die eine aussereuropäische die japanische ist. Die
einzelnen Erdtheile betheiligen sich hieran wie folgt: Europa 18, Amerika 3,
Asien 1, Afrika und Australien keine. Unter den europäischen Ländern ist
Oester reich -Ungarn mit drei Pharmakopoen bedacht ; es besitzt nämlich
die Pharmacopoea austriaca, deren siebente Auflage 1890 erschien, die Phar-
macopoea hungarica, in zweiter Auflage, 1888 publicirt, und die damit identische
Pharmacopoea croatico-slavonica. Am 1. Juli 1896 erschien ein Nachtrag zur
Pharmacopoea hungarica. — Belgiens Pharmakopoe wurde zuletzt 1885
gedruckt und erschien in französischer und lateinischer Sprache zugleich. —
Die britische Pharmakopoe gilt gewissermassen als Norm für das ganze
britische Pieich, obwohl in Kanada die United States Pharmacopoeia gleich-
falls Geltung besitzt und in Indien auch eine Pharmakopoe existirt hat, die
jedoch längst obsolet geworden ist. Es besteht die Absicht eine „Imperial Phar-
macopoeia" für ganz Grossbritannien zu schaffen (also für England, Indien und die
Colonien), doch ist es bis jetzt noch nicht dazugekommen. — InPiumänien
ist eine neue -Pharmakopoe, die dritte von den bisher erschienenen (die erste
in lateinischer und rumänischer Sprache erschien 1862, die zweite 1874, nur
in rumänischer Sprache) 1894 erschienen und ist in rumänischer Sprache ver-
fasst, nur die Aufschriften sind in rumänischer lateinischer, französischer
und deutscher Sprache angeführt. — Bulgarien besitzt keine eigene Pharma-
kopoe, sondern benützt die russische. — Griechenland, welches sich gleich-
falls durch den Mangel eines Arzneigesetzbuches auszeichnet, besass vor etwa
60 Jahren eine Pharmakopoe, welche von Boueos, Landeree, Saetoeius u. A.
herausgegeben worden war; dieselbe wurde 1868 unverändert wieder abge-
druckt und mit einem Supplement von der Regierung anerkannt. Doch ist
dieses griechische Arzneibuch schon längst obsolet und hat der Aufnahme der
Normen aus dem deutschen und französischen Arzneibuch Platz gemacht. —
Dänemark besitzt bereits seit 1772 eine officielle Pharmakopoe, deren letzte
Auflage 1893 als 500 S. starker Band in dänischer Sprache erschien. — In
Frankreich erschien erst 1818 als erste nationale Pharmakopoe der „Codex
medicamentarius'' und seitdem erschienen vier Auflagen desselben, von denen
die augenblicklich in Kraft befindliche zehn Jahre alt ist. Deutschland
übernahm als Kaiserreich zuerst die Pharmacopoea borussica als Erbschaft,
welche seit 1799 das bedeutendste Arzneibuch in den deutschen Bundesstaaten
war. 1872 wurde die Pharmacopoea germanica zum ersten Male veröfl'ent-
licht, deren zweite Nachfolgerin seit 1890 den Titel „Arzneibuch für das
Deutsche Pteich" trägt. Der Nachtrag zum D. A.-B. trat am 1. April 1895
in Kraft. — Das geeinigte Königreich Italien besitzt seine erste Pharmakopoe
30 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR
erst seit 1892. Dieselbe hat einen durchaus modernen Charakter, daher wir
näher darauf eingehen wollen. Sie führt den Titel „Farmacopea ufficiale del
Regno d'Italia", bildet einen Oktavband von 443 Seiten, und ist in italie-
nischer Sprache verfasst. Die Zahl der abgehandelten Artikel beträgt 597,
welche dem Alphabet nach von Acetanilid bis Zucker (Zuchero) beschrieben
sind. Die chemischen Producte sind fast durchgehends mit dem wissenschaft-
lichen Namen als Hauptnamen angeführt und eine Ausnahme wurde nur dort
gemacht, wo der wissenschaftliche Name zu lang ist. Weil das Arzneibuch
italienisch geschrieben ist, so sind auch die Haupttitel italienisch und der
lateinische Name, nebst den gebräuchlichsten Synonymen in zweite Reihe
gestellt. Von den gleichen Gesichtspunkten wie bei den Chemikalien ging
man bei der Bezeichnung der galenischen Präparate aus, für welche genaue
Darstellungs-Verfahren angegeben sind. Desgleichen wird auch bei den
meisten chemischen Präparaten das Darstellungs- Verfahren behandelt und bei
den stark wirkenden Präparaten überall die höchsten Gaben am Schlüsse des
Textes erwähnt. Die Vegetabilien führen als Haupttitel die einfache Be-
nennung, während der Theil der Pflanze, welchem sie entstammen, aus der
lateinischen Bezeichnung zu entnehmen ist. Von den 597 Artikeln sind 124
mit einem Stern bezeichnet, was bedeutet, dass die so gekennzeichneten
Artikel „in jeder Apotheke des Königreichs sich durchaus befinden müssen,
weil sie in dringenden Fällen Anwendung finden, oder besonders wirksam sind,
oder im Handel nicht leicht in der erforderlichen Picinheit zu haben sind"
wie die Vorrede sagt. Jene sind dann in der Tafel XXH nochmals als
„obligate Arzneien'^ namhaft gemacht. 33 von den Pharmakopoe- Artikeln
sind unter besonderem Verschluss zu halten und in der Tafel XXIII wieder-
holt namentlich angeführt. Der Text ist durch 23 Tafeln vervollständigt,
welche über I Atomgewichte, H Chemische Formeln, Constitution und Mole-
culargewicht, III Den procentualen Alkaloidgehalt der entsprechenden Salze,
IV Dichte und Siedepunkt der Flüssigkeiten, V — XVI Dichtigkeitszahlen und
-grade, XVII Löslichkeits Verhältnisse der Salze, XVIII P^einheitsgrad der Pulver,
XIX Reagentien, XX Apparate und Utensilien, XXI Höchste Gaben, XXII
obligate Arzneien und XXIII Separanda handeln. Es folgen nun Verzeichnisse
jener Einrichtungsgegenstände und Arzneien, welche für die zwei Arzneikästen
bestimmt sind, die jede Gemeinde, welche zu entfernt von einer öffentlichen
Apotheke liegt, zu führen hat, wovon der erste Kasten die heftiger, der
zweite die mild wirkenden, im Ganzen 55 Arzneien zu enthalten hat. Diesem
schliessen sich 2 weitere Verzeichnisse an und zwar a) von 85 Artikeln,
welche in bestimmten Mindestmengen und unter Rücksichtnahme auf die Be-
stimmungen des Giftgesetzes und b) 126 Artikel, die ohne Vorbehalt Jeder-
mann (also auch ein Nichtapotheker) verkaufen kann. Den Schluss bilden die
wichtigsten Sanitäts-Verordnungen und die Inhalts-Verzeichnisse. — Die Nieder-
lande erhielten erst 1851 eine nationale Pharmakopoe; seitdem sind zwei
neue Auflagen derselben veröffentlicht worden, die letzte 1889. — Von den
beiden Ländern Schweden und Norwegen besitzt jedes seine Pharmakopoe,
aber sie sind einander ganz ähnlich ; eine neue (die 3.) Ausgabe der norwe-
gischen Pharmakopoe ist 1896 in norwegischer Sprache erschienen. Auch eine
neue Ausgabe (die 8.) der schwedischen Pharmakopoe ist in Vorbereitung.
Ein Ausschuss, bestehend aus dem Vorsteher der Medicinal- Verwaltung als
Vorsitzenden, einem Medicinalrath, einem Professor der medicinischen Facultät,
2 Professoren des pharmaceutischen Institutes und 2 praktischen Apothekern,
ist zur Zeit damit beschäftigt. — Portugals letzte „Pharmakopea Portu-
gueza" wurde 1878 veröffentlicht und steht in bemerkenswerthem Gegensatze
zum Arzneigesetzbuch Spaniens, der „Farmacopea Offizial Espanola", welche
nahezu 1700 Arzneimittel enthält, unter denen die meisten für das moderne
Europa einen sehr mittelalterlichen Geschmack besitzen. — Russland
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELYERKEHR. 31
hat seit 1866 vier Ausgaben seiner nationalen Piiarraakopoe gesehen, die
letzte 1891. — Serbien hat 1881 eine Pharmalvopoe herausgegeben, welche
aber kaum noch zählt. Dieselbe lehnt sich stark an die Pharmacopea austriaca
VI. an und ist ganz veraltet. — Grösste Anerkennung verdient das Arzneigesetz-
buch der Schweiz, die Pharmacopoea helvetica editio III, welche 1894 in
3 Ausgaben (französisch, deutsch und italienisch) erschien. Dieselbe umfast
398 Seiten und ist ganz modern gehalten. Dem eigentlichen Pharmakopoo-
texte gehen „Allgemeine Bemerkungen" voran, welche eine Anzahl A'or-
schriften und Erläuterungen enthalten. Die Ueberschriften der einzelnen
Artikel sind lateinisch. Die erste 186.5 erschienene Ausgabe der Schweizer
Pharmakopoe verdankte ihr Erscheinen dem Schweizer Apotheker-Verein und
war mehr ein Dipensatorium, welches nur nach und nach von 9 Cantonen
otticiell anerkannt wurde. Die 1872 erschienene, ebenfalls vom Schweizer
Apotheker-Verein herausgegebene zw^eite Ausgabe erlangte schon leichter die
Anerkennung die Mehrzahl der Cantone, so dass, nachdem 1876 Ergänzungen
dazu erschienen — im Jahre 1888 die Bundesregierung die Herausgabe
der neuen 3. Auflage beschloss, welche von einer aus Aerzten, Apothekern,
Thierärzten und Chemikern bestehende Commission bearbeitet wurde und durch-
wegs auf der Höhe der Zeit steht. — Die Türkei besitzt keine Pharmakopoe.
Von den Ländern Asiens ist mit Ausnahme von Japan kein Staat
im Morgenlande, welcher eigene gesetzliche Normen für seine Arznei-
mittel besässe, obw^ohl China, Indien und Persien, sowie andere Länder
eine ihnen specifische Materia medica haben, die mehr oder weniger auf
geschriebenen Traditionen beruht. In Japan erschien die „Pharmacopoea
japonica" 1892 in 2. Ausgabe. Bekanntlich ist die erste Ausgabe im J. 1886
erschienen und im J. 1888 eine lOgliedrige Pharmakopoe-Commission ge-
gründet worden, deren Arbeit die 2. Pharmakopoe ist. Sie umfasst an 440
Artikel, wovon 100 in jeder japanischen Apotheke vorräthig zu halten,
17 cautissime und 89 caute aufzubewahren sind. Die Pharmakopoe ist in
lateinischer Sprache verfasst. Zur Grundlage dienten ihr die österreichische
und deutsche Pharmakopoe, an Vielehe sie sich in vielen Punkten anlehnt.
- In der neuen Welt sind die Pharmakopoen Chiles, Mexikos und der Ver-
einigten Staaten von Nordamerika die einzigen Arzneibücher von gesetzlicher
Giltigkeit. Das Arzneibuch von Chile ist wesentlich französisch in seinem
Charakter, obwohl die französischen, portugiesischen und spanischen Normen
nahezu gleichmässig verbreitet und anerkannt sind in den südamerikanischen
Staaten. — Die mexikanische Pharmakopoe wurde 1874 veröffentlicht und
10 Jahre später erschien eine neue Ausgabe sowie ein Supplement. In den
Vereinigten Staaten von Nordamerika sind eigene Pharmakopoen seit
1820 in Gebrauch, in welchem Jahre die erste „United States Pharmacopoeia"
in Boston erschien. Sie war das Werk von Aerzten; Apotheker wurden erst
im Jahre 18.50 zur Theilnahme an der vierten Pharmakopöecommission ein-
berufen. Seitdem sind in zehnjährigen Zwischenräumen Pharmakopöecommis-
sionen zusammengetreten. Das Werk der letzten 1890er Commission wurde
1893 ausgegeben. Die gegenwärtig in Geltung befindliche Pharmakopoe führt
den Titel: „The Pharmacopoeia for the united states of America seventh
decennial Pievision." Sie ist seit 1894 in Kraft. — In Argentinien ist zur Aus-
arbeitung einer Pharmakopoe mittelst Ministerial-Decret vom 30. März 1892
€in Ausschuss ernannt worden, in welchem Dr. del Area den Vorsitz führt.
Aus einer Prüfung dieser 22 Pharmakopoen, welche gegenwärtig in Kraft
sind, lässt sich das Resume ziehen, dass die Mehrzahl unter ihnen ziemlich
hohe Anforderungen an die Pteinheit und Güte der Arzneimittel stellt und mit
einer oder zw^ei Ausnahmen ist ihre Tendenz auf Beschränkung der Arznei-
mittelzahl gerichtet.
Die ersten Pharmakopoen waren vorwiegend Lehrbücher, sie enthielten
Beschreibungen von Arzneimitteln und Angaben über das Einsammeln, Ge-
32 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
winnen und Zubereiten derselben. Lange Zeit hindurch bildeten sie die ein-
zigen Werke, aus welchen die Kenntnis der Heilmittel zu schöpfen war.
Später trat dieser Charakter immer mehr zurück und die Pharmakopoen
beschränkten sich darauf die nothwendigen Angaben über die als officinell
geltenden Arzneimittel zu machen. Die Wandlungen, die sich im Laufe der
Jahrhunderte in der Heilkunde vollzogen, spiegeln sich getreulich in den
Pharmakopoen wieder, namentlich ist die Zahl und die Art der darin aufge-
nommenen Mittel kennzeichnend für die medicinischen Ansichten ihrer Geltungs-
perioden. Selbst die neueste Richtung unserer heutigen Therapie wird bald
in den Pharmakopoen ihren Ausdruck finden da z. B. die jetzt (1896) im Zuge
befindliche Revision der österreichischen Pharmakopoe zweifellos zur Aufnahme
der Serumpräparate führen wird. Doch hat von jeher auch in den Pharma-
kopoen der verschiedenen Staaten grosse Verschiedenheit geherrscht. Während z.
B. die finnische Pharmakopoe kaum 400, die deutsche nur ca. 600 Mittel enthält,
weist die französische auch heute noch deren fast 2000 auf. Dieser auffallende
Unterschied erklärt sich wohl dadurch, dass in den romanischen Ländern auch
heute noch ein starkes Ueberwiegen der galenischen Präparate zu constatiren
ist und dass in diesen Ländern thatsächlich von jeher viel mehr medicinirt
wurde, als in anderen, speciell in den germanischen.
Die Ausarbeitung der Pharmakopoen erfolgte ursprünglich durch ein-
zelne, besonders angesehene Aerzte, meist im Auftrage irgend einer Behörde,
später waren es die obersten Medicinalbehörden, welche sich damit befassten
und gegenwärtig werden in den meisten civilisirten Ländern eigene, aus Medi-
cinalbeamten, Klinikern, Pharmakologen, Chemikern und Apothekern beste-
hende Commissionen zu diesem Zwecke eingesetzt, deren Aufgabe es ist die
neu auftauchenden Heilmittel einer strengen Musterung hinsichtlich ihrer
Aufnahmefähigkeit zu unterziehen, die alten Mittel, so weit sie nicht mehr
oder wenig gebräuchlich sind, zu entfernen und insbesondere die Verbesserung
der Prüfungsmethoden herbeizuführen, sowie eine Vereinfachung der Vor-
schriften zusammengesetzter und nach Möglichkeit auch eine üebereinstimmung
der starkwirkenden Arzneimittel wenigstens mit den wichtigsten Nachbar-
pharmakopöen zu erreichen. Die Ansichten über die in eine Pharmakopoe
aufzunehmenden Mittel sind natürlich verschieden, doch ist ein zu weit gehen-
der Puritanismus hier entschieden zu verwerfen. Die Pharmakopoe soll nicht nur
jene Heilmittel enthalten, deren Zweckmässigkeit die medicinischen Autoritäten
jener Zeitperiode anerkennen, sondern sie muss, ihrem Charakter als Gesetzbuch
für ein ganzes Reich, entsprechend den auch thatsächlichen Verhältnissen
Rechnung tragen. Durch die Pharmakopoe soll nicht, wie man noch vielfach irriger
Weise annimmt, den einzelnen darin aufgenommenen Mitteln gewissermaassen
der wissenschaftliche Stempel der Heilkräftigkeit aufgedrückt werden, sondern
es sollen darin die wirklich in Gebrauch stehenden Mittel enthalten sein,
damit für deren gleichmässige Beschaffenheit vorgesorgt ist. Selbstverständlich
darf hierin nicht zu weit gegangen werden einerseits durch Aufnahme völlig
werthloser Zubereitungen, wie sie sich stellenweise noch als Vermächtnis
früherer Zeiten erhalten haben, anderseits durch Aufnahme jedes Volksmittels.
Die richtige Mitte zu treffen, darin besteht eigentlich die Hauptaufgabe der
mit der Auswahl der aufzunehmenden Mittel betrauten Pharmakopoe- Commis-
sion. Es ist ein Irrthum zu glauben, dass durch die Pharmakopoen die zu
gebrauchenden Mittel vorgeschrieben werden können. Für die Praxis ist es
ganz gleichgiltig, ob ein Mittel in der Pharmakopoe enthalten ist oder nicht.
Hat die Pharmakopoe es gestrichen, so ist es deshalb noch nicht ausser Curs
gesetzt, wenn die Praxis daran festhält. Es entfallen dann nur die Garantien
für die gleichmässige Beschaffenheit des Präparates. Anderseits macht auch
die Aufnahme eines neuen Mittels in die Pharmakopoe dasselbe nicht lebens-
fähig, wenn es in der Praxis nicht gebraucht wird,
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELYERKEHR. 33
Um dem unläugbaren Uebelstande, der daraus resultirt, dass viele
Arzneimittel nur in einzelnen Gegenden gebräuchlich sind, zu begegnen,
haben manche Pharmakopoen die Einrichtung getroöen, dass nur eine bestimmte
Anzahl von Mitteln in allen Apotheken ihres Geltungsgebietes zu halten sind,
während die Haltung der übrigen, nicht in dem betreffenden Verzeichnisse
enthaltenen Mittel, dem Bedürfnisse des einzelnen Apothekers überlassen bleibt.
Diese sogenannten Serie s medicaminum werden im deutschen Reiche von
den einzelnen Bundesstaaten festgesetzt. Von den 597 Artikeln der 2. Ausgäbe
des deutschen Arzneibuches müssen in Preussen 266, in Bayern 439, in
Sachsen 319, in Würtemberg 250, in Baden 385, in Hessen 321, in Braun-
schweig 459 vorräthig gehalten werden. In Oesterreich bestimmen die Landes-
chefs welche Arzneimittel der Pharmakopoe in den Landapotheken des betref-
fenden Verwaltungsgebietes vorräthig zu halten sind, doch haben die meisten
österreichischen Apotheker im Wege ihrer Gremien auf diese Beschränkung ver-
zichtet, damit ihre Officinen nicht als Apotheken 2. Classe gelten, und führen
alle in der Pharmakopoe enthaltenen Mittel. Das Richtigste wäre wohl nur eine
bestimmte Anzahl der in der Pharmakopoe enthaltenen Mittel in geschickter
Auswahl festzustellen, die in allen Apotheken unbedingt vorräthig zu halten
wären, die Haltung aller übrigen aber gänzlich dem Bedürfnisse zu über-
lassen, welchem in seinem eigenen Interesse jeder Apotheker Rechnung
tragen wird.
Die meisten Pharmakopoen waren früher in lateinischer Sprache verfasst,
doch ist man hievon nach und nach fast allgemein abgegangen und bedient
sich gegenwärtig immer mehr der betreffenden Landessprachen. Auch da, wo
die lateinische Sprache als letzter Ueberrest ihrer früheren Geltung als
Sprache der Wissenschaft noch beibehalten ist, wird daneben die Uebersetzung
in der Landessprache beigegeben, so dass füglich von der ersteren ohne
Schaden gänzlich abgesehen werden könnte. Nur in Ländern mit grossen
sprachlichen Verschiedenheiten wie z. B. in Oesterreich ist die Beibehaltung
des lateinischen Urtextes wohl gerechtfertigt. Die Beibehaltung der lateini-
schen Nomenclatur ist selbstverständlich unter allen Umständen nöthig.
Die Frage einer internationalen Pharmakopoe ist schon öfters,
namentlich bei den internationalen medicinischen und pharmaceutischen Con-
gressen erörtert worden. Es wurden auch verschiedene Entwürfe dazu aus-
gearbeitet, die jedoch keinen Erfolg hatten, was bei der zum Theil noch
ungemein grossen Verschiedenheit, die zwischen den einzelnen Pharmakopoen
herrscht, ganz begreiflich erscheint. Thatsächlich sind ja auch die Bedürf-
nisse, die ärztlichen Behandlungsmethoden etc. in den einzelnen Ländern
noch viel zu gross um ein solches Project durchführen zu können. Bis auf
die stark wirkenden Arzneistoffe ist die Verschiedenheit der Bereitungsweise
der Medicamente auch ziemlich gleichgiltig. Bezüglich jener aber wäre eine
internationale Vereinbarung mit Rücksicht auf den so enorm gestiegenen
Verkehr dringend geboten. Diese hätte sich auf das Stärkeverhältnis bei der
Bereitung galenischer Präparate (Extracte, Tincturen etc.) aus starkwirkenden
Stoffen, sowie auf den Gehalt gewisser Präparate (wie Mineralsäuren u. a.)
an wirksamer Substanz zu erstrecken. Eine solche Vereinbarung könnte,
unbeschadet der übrigen Verschiedenheiten, die sich jeder Staat nach
Herzenslust wahren mag, ohne Schwierigkeit getroffen werden und es ist nur
zum Staunen, dass dies noch immer nicht geschehen ist.
Dass das Bedürfnis nach einer internationalen, alles umfassenden
Pharmakopoe übrigens schon lange vorhanden ist, das beweisen die ver-
schiedenen Universal-Pharmakopöen und ähnliche Werke, die lange
vor der bekannten Universal-Pharmakopoe von Hiesch erschienen. So
erschien schon 1697 in Paris von Nie. Lemery eine „Pharmacopee universelle,
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 3
34 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
contenant toutes les compositions de Pharmacie tout en France que par toute
l'Europe; leurs vertus, leurs doses; les manieres d'operer les plus simples et
les meilleiirs". Im Jahre 1764 gab D. W. Triller in Frankfurt a/M. ein
ähnliches Werk unter dem Titel „Dispensatorium pharmaceuticum universale"
in 2 Bänden heraus. 1783 erschien von D. R. Spielmann in Strassburg eine
„Pharmacopoea generalis", 1835 Geiger's Universal-Pharmakopoe.
Die Prüfung und Werthbestimmung der Arzneimittel *) ist unstreitig
die wichtigste Aufgabe des Apothekers, daher denselben in jeder Pharmakopoe
die weitgehendste Beachtung gewidmet werden muss. Jede Pharmakopoe
muss demnach, soll sie ihrem Zwecke entsprechen, die erforderlichen Angaben
über die Feststellung der Identität, über die Erkennung der Beschaffenheit
und Reinheit der in dieselbe aufgenommenen Heilmittel enthalten. Die vor-
geschriebenen Methoden müssen selbstverständlich stets die neuesten und
besten sein. Schon aus diesem Grunde soll einer Pharmakopoe niemals eine
allzulange Lebensdauer gewährt werden, denn nicht allein die Prüfungs-
methoden, auch die vorkommenden Verunreinigungen und Verfälschungen sind
dem Wechsel der Zeit unterworfen. Damit nun eine Pharmakopoe stets auf
der Höhe der Zeit und der Wissenschaft stehe, ist die Forderung nach
ständigen Pharmakopoe-Commissionen gerechtfertigt. Die Aufgabe dieser
Commissionen wäre, die Prüfungsmethoden fortwährend im Auge zu behalten,
sie auf ihre Zulänglichkeit zu prüfen und im Falle der Unzulänglichkeit
durch geeignete andere Methoden zu ersetzen. Am zweckentsprechendsten
wäre es wohl, wenn diese ständige Pharmakopoe-Commission jährlich einen
Bericht ausgeben würde, in welchem alle im Laufe des Jahres etwa noth-
wendig gewordenen Aenderungen an den Bestimmungen der Pharmakopoe
aufgezählt würden. Dieser Bericht wäre im Verordnungswege den Apothekern
zur Darnachhaltung zu übergeben. Nach einem Zeiträume von längstens
10 Jahren sollte stets eine Neuausgabe der Pharmakopoe vorgenommen werden,
in welcher auch den sonstigen Fortschritten auf dem Gebiete der Pharmacie
und der Medicin Rechnung getragen wird. Durch dieses einfache, gegen-
wärtig aber leider noch nirgends geübte Verfahren würde die Pharmakopoe
erst das werden, was sie sein soll, ein stets den Anforderungen der Wissen-
schaften und der Praxis entsprechendes Gesetzbuch, dessen Vorschriften mit
vollster Sicherheit eingehalten werden können.
Die vorgeschriebenen Prüfungsmethoden und sonstigen Angaben bezüglich
der Erkennung und Reinheit der Heilmittel der Pharmakopoe sollen bei aller
Kürze und Knappheit des Ausdruckes stets präcis und deutlich sein. Ausserdem
sollte auch stets angegeben sein, auf welche Unreinigkeiten, Verfälschungen
und Verwechslungen zu prüfen ist und woher dieselben stammen, was die
meisten Pharmakopoen gar nicht, einige wenige aber nur kurz und mangelhaft
angeben. Daher hat sich das ständige Bedürfnis nach sogenannten Commen-
taren zu den Pharmakopoen ausgebildet. Da die Pharmakopoe aber ein
Gesetzbuch bildet und Gesetze möglichst klar und bestimmt stylisirt werden
sollen, so sind genaue diesbezügliche Angaben entschieden zu fordern. Der
Einwand, dass der Apotheker ohnehin in den meisten Fällen sofort weiss, um
welche Substanzen es sich beim Gebrauche dieser oder jener Reaction handelt,
oder zum mindesten bei einigem Nachdenken gleich erkennen muss
wohinaus eine vorgeschriebene Prüfungsmethode zielt, ist nicht stichhältig,
denn erstens wird die Pharmakopoe auch von den Aspiranten der
Pharmacie zum Studium benutzt und zweitens sind auch viele Aerzte und
Medicinalbeamte bemüssigt sich mit derselben zu befassen, welchen, als nicht
geprüften Apothekern, keine derartigen Kenntnisse zugemuthet werden können.
Aber auch dem geprüften Apotheker selbst wird bei der ungeheuren, fort-
während zunehmenden Fülle des Materials sein Gedächtnis oft im Stiche
*) Vergl. den Artikel „Prüfung der Arzneimittel" im Band „Medicinische Chemie".
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 35
lassen, so dass er den Commentar oder sonst ein Nachschlagewerk zu Hilfe
nehmen muss, oder, was noch schlimmer ist, er kann leicht etwas verwechseln
und dadurch in seinen Arbeiten Schaden erleiden. Genaue Angaben über
die möglichen Verwechslungen, Verunreinigungen und Verfälschungen, über
den Zweck jeder einzelnen Reaction oder Untersuchungsmethode sind daher
unbedingt zu fordern.
Ein beklagenswerther Umstand, der sofort ins Auge fällt, wenn man
die Pharmakopoen verschiedener Länder durchsucht, ist die Verschiedenheit
der Nomenclatur. Ganz abgesehen von den sprachlichen Verschiedenheiten,
welche ja nicht zu umgehen sind, herrschen nämlich auch in den lateinischen
Bezeichnungen der Arzneimittel, die noch in den meisten Pharmakopoen, auch
wenn sie in der Landessprache verfasst sind, beibehalten sind, bedeutende
Unterschiede. Die pharmaceutische Nomenclatur, die sich auf rein empirischem
Wege ausgebildet hat und mit Vorliebe in Synonymen schwelgt, lässt da
sehr zu wünschen übrig. Hier wären internationale Vereinbarungen zum
Nutzen aller Betheiligten sehr am Platze, zum mindesten was die latei-
nischen Bezeichnungen betrifft, deren Beibehaltung auch in jenen Pharma-
kopoen, die ausschliesslich in der Landssprache verfasst sind, neben der Be-
zeichnung in der betreffenden Sprache sehr wünschenswerth wäre. Besonders
gross ist der Unterschied zwischen der lateinischen Nomenclatur der deutschen
und österreichischen und der englischen Pharmakopoe. So sagen die deutsche
und die österreichische Pharmakopoe: Ferrum sulfuricum, Natrium sulfuricum,
die englische und andere dagegen: Ferri Sulphas, Sulphas Ferri, Sulphas
ferrosus, Sulphas Sodae, Sulphas natricus etc.
Die meisten Pharmakopoen, namentlich die neueren Datums, enthalten
ausser den Angaben über die vorschriftsmässige Beschaffenheit der Arznei-
mittel noch eine Reihe von Tabellen und einen Reagentienapparat
(Apparatus reagentium), welcher die zur Prüfung der Identität und der Be-
schaffenheit der Arzneikörper nothwendigen Reagentien und Utensilien vor-
schreibt. Mit den Tabellen v/erden Bestimmungen bezüglich der stark-
wirkenden Arzneistoffe getroffen und Angaben über das specifische Gewicht
flüssiger Arzneistoffe gemacht. So enthält die österreichische Pharmakopoe
vom Jahre 1889 (Phafmacopoea austriaca editio VH.) in Tabelle I jene
Arzneimittel, die von den übrigen gesondert in einem versperrten
Schranke zu halten sind; in Tabelle H jene Arzneistoffe, welche von den
übrigen abgesondert zu halten sind (die sogenannten Separanda), in
Tabelle HI die höchsten Arzneigaben für einen erwachsenen Menschen,
welche der Arzt bei der Verschreibung für den innerlichen Gebrauch nicht
überschreiten darf, ohne ein Ausrufungszeichen (!) beigesetzt zu haben
(Maximaldosen -Tab eile). Tabelle IV verzeichnet jene Arzneimittel,
•deren Verabfolgung ohne ärztliche Verschreibung dem Apotheker
verboten ist. Tabelle V verzeichnet die bei 15° C zu ermittelnden
specifischen Gewächte der flüssigen Arzneipräparate. Als Anhang enhält
diese Pharmakopoe noch folgende Tabellen, die für die pharmaceutische Praxis
und die Zwecke der Pharmakopoe von Nutzen sind: Tabelle la über die Be-
2;iehungen des specifischen Gewichtes zur Menge der Gewichtsprocente
Alkohol, die in mit Wasser verdünntem Alkohol enthalten sind; Tabelle Ib
über die Beziehungen des specifischen Gewichtes zu den Volumprocenten
Alkohol, welche in mit Wasser verdünntem Weingeiste enthalten sind.
Tabelle II zeigt die Beziehungen des specifischen Gewichtes zur Menge
Essigsäure, welche in 100 Theilen der mit Wasser verdünnten Säure ent-
halten ist. Tabelle IH zeigt die Beziehungen des specifischen Gewichtes zur
Menge Chlorwasserstoff, welche in 100 Theilen der mit Wasser ver-
dünnten Säure enthalten ist. Tabelle IV dasselbe bezüglich Salpetersäure,
Tabelle V dasselbe "aezüglich Phosphorsäure, Tabelle VI dasselbe be-
3*
36 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
züglich verdünnter Schwefelsäure, Tabelle VII dasselbe bezüglich
Ammoniaklösung, Tabelle VIII bezüglich Kalium hydroxyd, Tabelle IX
bezüglich Natriumhydroxyd. Tabelle X gibt die ungefähre Menge der in
Wasser löslichen chemischen Arzneipräparate an, die von 100 Theilen de-
stillirten Wassers bei gewöhnlicher Temperatur gelöst wird. Tabelle XI gibt
die Symbole und Atomgewichte der wichtigsten einfachen Stoffe an. Tabelle XIL
gibt die Moleculargewichte der in die Pharmakopoe aufgenommenen zusammen-
gesetzten chemischen Verbindungen an.
Das deutsche Arzneibuch IL Ausgabe enthält folgende Tabellen: Tabelle A)
enthaltend die Maximaldosen für erwachsene Menschen, Tabelle B) enthaltend
das Verzeichnis der Gifte, die unter Verschluss aufzubewahren sind und C)
enthaltend die starkwirkenden Arzneistoffe, die von den übrigen getrennt und
vorsichtig aufzubewahren sind (Separanda). Ferner ist enthalten eine Ueber-
sichtstabelle über die zwischen -[- 12<* und 25*' eintretenden Veränderungen
der bei den Revisionen der Apotheken festzustellenden specifischen Gewichte
von Flüssigkeiten.
Von besonderer Wichtigkeit sind die Maximaldosentabellen, welche
stets mit grösster Sorgfalt auszuarbeiten wären. Da diese Maximaldosen sich
in den meisten Pharmakopoen nur auf die per os verabreichten Medicamente
beziehen, wäre die Aufnahme von Höchstgabentabellen für subcutan, per clysma
und in Form von Suppositorien u. dgl. verabreichte Arzneimittel dringend
nothwendig. Auch eigene Maximaldosentabellen für Kinder sind gewiss am Platze.
Ausser den erwähnten Tabellen enthalten manche Pharmakopoen auch
eine Reihe von auf die Pharmakopoe und den Verkehr mit Arzneimitteln be-
züglichen Bestimmungen, manche sogar eine vollständige Sammlung aller den
Apothekenbetrieb betreffenden gesetzlichen Bestimmungen, was entschieden als
sehr praktisch zu bezeichnen ist und überall so gehalten werden sollte.
Arzneitaxen. Besondere Taxen für die Abgabe von Arzneien aus den
Apotheken bestanden schon sehr frühe. Die amtlichen Arzneitaxen sind weit
älter als die amtlichen Pharmakopoen. Schon Kaiser Friedrich IL hat eine
solche eingeführt, Augsburg hatte bereits im Jahre 1512 eine Arzneitaxe, au
die sich zu halten die Apotheker verpflichtet waren. Die erste Arzneitaxe
für die churfürstlich Brandenburg'schen Staaten erschien 1564. Dass die
Preise für die Arzneien damals festgesetzt wurden ist wohl begreiflich, nach-
dem damals die Behörden für alle Waarenverkäufer und für alle Dienst-
leistungen überhaupt bestimmte Taxen festsetzten. Später schwanden die
Waarentaxen gänzlich und die Regelung der Preise wurde ganz der freien
Vereinbarung überlassen. Nur mit den Apothekerwaaren macht man auch
heute in jenen Staaten, wo das Apothekenwesen auf dem Concessionssystem
beruht eine Ausnahme, während in den Ländern, wo der Apothekenbetrieb
ein freies Gewerbe bildet, auch die Nothwendigkeit einer amtlichen Arznei-
taxe nicht anerkannt wird. Es ist jedoch ein Irrthum zu glauben, das ein&
das andere bedingt. Das Concessionssystem ist ganz gut denkbar ohne amt-
liche Arzneitaxe, während wieder der freie Apothekenbetrieb auch bei einer
officiellen Arzneitaxe bestehen kann.
Der Hauptzweck der amtlichen Arzneitaxe ist natürlich von jeher der
gewesen, die Vertheuerung der Arzneimittel und die Uebervorth eilung des
Publikums zu verhindern und dieser Zweck wird damit auch in der That
erreicht, was am besten daraus hervorgeht, dass in den Ländern wo keine
Arzneitaxe besteht, die Preise der Arzneien im Durchschnitt höher sind, als
in jenen mit Taxe. Ein weiterer Zweck der Arzneitaxe ist der, eine mehr
oder weniger schmutzige Concurrenz der Apotheker unter einander, unter
welcher gewöhnlich nur die Güte der verabreichten Arzneien leidet, zu ver-
hüten. Dieser an sich gewiss löbliche Zweck wird durch die amtliche Taxe
allerdings erreicht, Hesse sich aber auch auf dem Wege des privaten Ueber-
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 37
einkomraens der Apotheker erzielen, wie dies ja auch jetzt bezüglich sehr
vieler nicht officineller Arzneipräparate bei uns und bezüglich aller in manchen
Ländern ohne Taxe geschieht.
Die in Deutschland und Oesterreich, sowie in anderen Staaten einge-
führten staatlichen Arzneitaxen sind Maximaltaxen, d. h. sie dürfen nicht
überschritten werden. Eine Ermässigung oder vielmehr ein Nachlass von der
Taxe ist jedoch gestattet und hat sich bei Arzneilieferungen für Rechnung
von Krankenanstalten und öffentlichen Fonds sogar zur Regel ausgebildet.
In der letzten Zeit ist die Nachlassfrage in Deutschland sowohl als in Oester-
reich durch die immer steigende Begehrlichkeit der Krankenkassen und ähn-
licher Vereinigungen zu einer wahren Calamität für die Apotheker geworden,
da sich immer wieder solche darunter finden, die sich wenigstens im Nach-
lasse unterbieten. Da aber bei der ohnehin niedrigen Taxe und der einfachen
Yerschreibweise der Kassenrecepte ein grösserer Nachlass überhaupt nicht
gewährt werden kann, wenn die Arzneien gewissenhaft bereitet werden sollen,
so wird in neuerer Zeit die gänzliche Abschaffung solcher Nachlässe verlangt.
In den Ländern, die das Concessionssystem adoptirt haben, soll die Taxe
zugleich auch eines der Schutzmittel des Staates für die Apotheken vorstellen,
indem sie dem Apotheker eine auskömmliche Existenz sichern soll. Ob dieser
Zweck erreicht wird, hängt wesentlich davon ab, nach welchen Grundsätzen
bei der Abfassung der Taxe vorgegangen wird. Die amtlichen Apotheker-
taxen der früheren Zeiten wurden lediglich nach kaufmännischen Gesichts-
punkten festgesetzt, d. h. es wurde auf die Einkaufspreise der einzelnen
Arzneistoffe ein bestimmter Zuschlag gemacht, der den Nutzen des Apothekers
vorstellte. Da die Receptur in jener guten alten Zeit eine ganz andere war
^Is heute, indem zu einem einzigen Recepte oft zwanzig und mehr Mittel
verbraucht wurden, und da ferner auch ziemlich grosse Quantitäten von Arz-
neien vertilgt wurden, so hatte der Apotheker jener Zeiten wohl immer seinen
ausgibigen Nutzen dabei. Erst im Jahre 1815 erschien in Preussen eine
Taxe, die nach bestimmten Grundsätzen ausgearbeitet war. Dieselbe ging von
der Annahme aus, dass, wenn das Geschäft eines Apothekers = 10 ist, die
Ausgaben für die Beschaffung der Drogen = 4 und sämmtliche Nebenaus-
lagen einschliesslich des Verlustes ebenfalls = 4 sind, so dass dem Apotheker
von den Gesammteinnahinen blos -/jq als Reingewinn verbleiben. Der Ver-
kaufspreis der Arzneistoffe wurde daher in der Taxe im Verhältnisse 4:10
festgesetzt, welches Verhältnis 1872 nach dem Maasstabe 4:8 bis 4:12 ge-
ändert wurde und zwar wurde für billige Drogen die höhere, für theure die
niedrigere Stufe angenommen. Nach ähnlichen Grundsätzen sind die Arznei-
taxen in Bayern, Sachsen, Würtemberg und Hessen festgestellt, doch sind
natürlich die Taxansätze aller dieser Taxen verschieden, so dass ein und das-
selbe Recept nach den Taxen der verschiedenen Bundesstaaten berechnet, oft
ganz verschiedene Preise ergibt. Daher ist schon ziemlich lange der Wunsch
nach einer einheitlichen Arzneitaxe für das ganze deutsche Reich laut gewor-
den. Die Einführung einer Reichsarzneitaxe scheiterte aber bisher an dem
Hinweise darauf, dass die grosse Verschiedenheit der auf eine Apotheke
entfallenden Einwohner in den verschiedenen Ländern die Noth wendigkeit
verschiedener, diesen Verhältnissen angepasster Landestaxen erheischt. Nichts-
destoweniger dürfte eine Reichsarzneitaxe doch bald zustande kommen.
Die erwähnten Verschiedenheiten, die thatsächlich überall vorhanden
sind, lassen das Princip, für ein grösseres Gebiet eine einheitliche Arzneitaxe
festzustellen, in einem sehr ungünstigen Lichte erscheinen, besonders wenn
man noch die grosse Verschiedenheit in den Vermögensverhältnissen der Be-
wohner bedenkt, wie sie z. B. zwischen dem Publikum einer Grossstadt oder
eines besuchten Curortes und dem eines armen Gebirgs- oder Küstenstriches
thatsächlich besteht. Diese Verschiedenheiten treten vielleicht nirgends so
38
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
sehr hervor als in Oesterreich, wo zwischen dem Publikum einer Apotheke
in der Residenz oder in einem der böhmischen Bäder und jenem einer Land-
apotheke in Dalmatien oder Galizien ein himmelweiter Unterschied besteht.
Wenn man diese Verhältnisse bedenkt, so müsste man folgerichtig dazu ge-
langen das Princip einer einheitlichen Pteichstaxe aufzugeben und Landes-
oder Bezirkstaxen einzuführen, was wieder die so erwünschte Einheitlichkeit
vollständig vernichten würde. Ein Ausgleich der Unterschiede Hesse sich
zwar, ohne das Princip der Einheitlichkeit wesentlich zu berühren, dadurch
erreichen, dass den Landapotheken ein gewisser Zuschlag für jedes Recept
eingeräumt würde. Dies hätte aber zur Folge, dass das Publikum diesen
Unterschied bald herausfinden und demgemäss noch mehr als dies schon jetzt
der Fall ist, der Stadt zuströmen würde, so dass sich diese Maassregel in
praxi eher zum Schaden als zum Nutzen der betreffenden Apotheker gestalten
würde. So lange die Stellung des Apothekers die eines privaten Geschäfts-
mannes ist, lassen sich diese Verhältnisse wohl kaum anders gestalten.
In den Ländern, wo der Apothekenbetrieb keiner staatlichen Beschrän-
kung unterliegt, also in Frankreich, England, in Belgien etc. hat man die
Aufstellung amtlicher Arzneitaxen gänzlich aufgegeben und hat die Fest-
stellung der Arzneipreise ganz dem freien Ermessen der Apotheker, bezie-
hungsweise der natürlichen Regelung nach dem Verhältnisse von Nachfrage
und Angebot überlassen. Auch hier haben sich in der Praxis ziemlich stabile
Preise entwickelt, sei es in Folge privater Arzneitaxen, sei es in Folge der
Gleichartigkeit der Verhältnisse. Im Allgemeinen ist aber hier in Folge der
mangelnden Concurrenz bei den Apotheken auf dem Lande stets die Tendenz
für höhere Preise gegenüber den Stadtapotheken vorhanden, wie denn über-
haupt die Arzneipreise in diesen Ländern im Allgemeinen weit höher sind,
als in den Ländern mit amtlicher Taxe, was am besten aus folgender Zu-
sammenstellung ersichtlich ist, nach welcher der Preis von 6 bestimmten
Recepten in verschiedenen Staaten wie folgt ermittelt wurde:
Oester- Deutsch-
reich land
Belgien
Italien
Schweiz
Holland ^^^^
Vene-
zuela
Euss-
land
Frank-
reich
Pf.
Pf.
Pf.
Pf.
Pf.
Pf.
Pf.
Pf.
Pf.
Pf.
1.
2.
3.
4.
5.
6.
55
90
75
110
110
160
75
125
115
90
165
125
60
70
100
85
50
175
80
80
120
80
100
240
90
100
140
110
100
210
120
160
165
100
140
265
150
150
150
150
150
250
140
123
140
160
120
320
126
166
174
194
190
212
210
210
250
170
185
180
Sum-
ma
630
695
540
700
750
950
1000
1000
1062
1205
Diese Zusammmenstellung zeigt zwar das absolute Verhältnis in den
betreffenden Fällen, gibt aber keinen weiteren Aufschluss über die sonstigen
bestimmenden Verhältnisse, namentlich nicht über die Verschiedenheit des
Geldwerthes und die Zahl der Einwohner, die auf eine Apotheke entfallen,
welche Verhältnisse in den angeführten Staaten sehr verschieden sind, immer-
hin ist daraus ersichtlich, dass durch die Freigebung des Apothekenbetriebes
eine wesentliche Verbilligung der Arzneimittel nicht erreicht würde, vielmehr
ist gerade das Gegentheil anzunehmen.
Nach den in Europa und Nordamerika seitens des dänischen Apotheker-
Vereins veranlassten Ermittelungen stellen sich die Ergebnisse, wenn man
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 39
den Preis der Arzneien in Dänemark mit 100 feststellt, wie folgt: Norwegen
116, Oesterreich 117, Ungarn 125, Schweden 126, Belgien 141, Deutschland
145, Holland 147, Schweiz 149, Portugal 163, Russland 197, Italien 242,
Frankreich 247, England 259 und Nord-Amerika 350. Hieraus geht hervor,
dass die Preise der Arzneien gerade in denjenigen Ländern am höchsten sind,
in denen das Apothekenwesen ein freies Gewerbe ist.
Bei der Feststellung einer Arzneitaxe spielen 2 Gesichtspunkte, die sich
im vollkommenen Widerstreite befinden, eine Ptolle. Einmal das gewiss be-
rechtigte Bestreben des Staates die Beschafiung der Arzneien möglichst zu
verbilligen, das andere Mal die Nothwendigkeit dem Apotheker durch die
Taxe ein Aequivalent für die zur Erlernung seines Berufes aufgewandten Kosten
und für die mit demselben verbundenen Einschränkungen und Opfer aller
Art zu bieten. Bei diesem Widerstreite ist es natürlich, dass gewöhnlich der
Apotheker den Kürzeren zieht, obwohl er vollkommen berechtigt ist zu ver-
langen dass, wenn der Staat im Interesse seiner Bürger glaubt ihm eine dies-
bezügliche Verpflichtung auferlegen zu müssen, diese seine Lebensinteressen nicht
beeinträchtigen darf. Ohne den Bestand amtlicher Arzueitaxen würden sich die
Arzneipreise in Oesterreich und Deutschland entschieden etwas höher stellen als
jetzt, aber, wie aus obiger Zusammenstellung ersichtlich ist, nicht so hoch,
dass über eine nennenswerthe Vertheuerung der Arzneimittel zu klagen wäre.
Es würde sich ein natürlicher Ausgleich vollziehen, der jetzt durch die Taxe
unterbunden ist. Der Staat könnte aber sehr leicht den berechtigten Anfor-
derungen des Apothekers (Berücksichtigung der allgemeinen Vertheuerung
der Lebensverhältnisse, des Anwachsens der Concurrenz, der Vereinfachung
und Verbilligung der ärztlichen Verschreibweise, der Abnahme des Hand-
verkaufes und der Receptur überhaupt infolge Zunehmens der sogenannten
Naturheilverfahren etc.) entsprechen, ohne den Interessen der Bevölkerung zu
nahe zu treten. Durch die Schaffung der zahlreichen Krankenkassen ist näm-
lich ohnehin eine Sonderung der Bevölkerung in 2 Hauptclassen erfolgt:
Kassenangehörige, also Minderbemittelte, und Nicht-Kassenangehörige d. h.
Bemittelte und Wohlhabende. Der Staat kann nun, sei es durch eine eigene
Taxe für Krankenkassen und ähnliche Anstalten, sei es durch Feststellung
einer bestimmten Ordinations- und Expeditionsnorm, sei es endlich durch
Feststellung eines diesen Anstalten zu gewährenden Mindestnachlasses auf
die Taxpreise (mit gleichzeitiger Festsetzung eines Höchstausmaasses desselben)
die Arzneien für diese minderbemittelte Bevölkerungsciasse wesentlich herab-
setzen, dafür aber müsste er wieder die Preise der gewöhnlichen, für die
bemittelteren Classen bestimmten Taxe in entsprechendem Verhältnisse erhöhen.
Dadurch würde ein alle Betheiligten befriedigender Ausgleich erzielt, der
durchaus nichts Ungeheuerliches an sich hat, wenn man bedenkt, dass in
allen anderen Berufsclassen und Gewerbebetrieben auch ohne Taxe ähnliche
Preisberechungen bestehen (z. B. bei den Aerzten, die sich doch auch ein und
dieselbe Leistung anders von einem armen Bauer und anders von einem
reichen Fabrikanten honoriren lassen und das mit vollstem Recht) und dass
in den Staaten ohne Arzneitaxe die Berechnung des Preises der xVrzneien eben-
falls allgemein nach den Vermögensverhältnissen des Käufers erfolgt. In
Deutschland und Oesterreich hat dieses unläugbar ganz rationelle Princip
nur insoweit Berücksichtigung gefunden, als in der Taxe für Gefässe neben
gewöhnlichen Gefässen auch Preise für Luxusgefässe vorhanden sind.
Die meisten Arzneitaxen enthalten 1. Ansätze für die Arznei waaren
2. für die Recepturarbeiten (Arbeitstaxe) 3. für die Gefässe. Ausserdem meist
noch eine besondere Taxe für Thierheilmittel und für Verbandstoffe. Auch
für homöopathische Arzneimittel bestehen in manchen Staaten eigene Taxen.
Für die Arzneiwaaren bestehen meist mehrere Ansätze nach bestimmten
Gewichtseinheiten z. B. für 10^, 100^, 1000 5-, wobei die grösseren Mengen
40 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
stets im Verhältnis billiger angesetzt sind. Die Taxe für die Recepturarbeiten ist
sehr verschieden gehalten und enthält eine ganze Anzahl von Preisansätzen für
die verschiedenen Arbeiten. Dieser Theil der Taxe ist äusserst complicirt und
häufig auch sehr unklar, so dass er in vielen Fällen verschiedene Deutung zu-
lässt. Die Folge davon ist, dass sich hierüber oft genug Streitigkeiten mit den
Consumenten ergeben. Die Krankenkassen und ähnliche Anstalten lassen daher
durch eigene Retaxatoren die auf ihre Rechnung expedirten Recepte retaxiren,
wobei sie die unklaren Bestimmungen natürlich in ihrem Sinne auslegen und
oft willkürliche Streichungen vornehmen. Eine Vereinfachung der Arbeits-
taxe wäre daher dringend geboten, die sich am zweckmässigsten dadurch er-
zielen Hesse, dass die vorzunehmenden Recepturarbeiten in bestimmte Kate-
gorien einzutheilen wären und dafür eine Grundtaxe festgesetzt würde.
Diese Grundtaxe könnte in vier Classen zerfallen, und zwar würden sich hie-
zu am besten folgende Preissätze empfehlen: 1. 10 kr. für die kleinen Ar-
beiten (Lösungen, Wägungen u. dgl.). 2, 20 kr. für mittlere Arbeiten (Infusa,
warme Lösungen, Pulvermischungen u. dgl.). 3. 30 kr. für längere Arbeiten
(Pillen, Suppositorien, abgetheilte Pulver etc.). In die 4. Classe hätten alle
aussergewöhnlichen Arbeiten, die viel Zeit oder besondere Verrichtungen er-
fordern, zu fallen, wie z. B. das Vergolden oder Ueberziehen von Pillen mit
irgendwelcher Masse, die Bereitung von Bacillen etc. Für Thierheilmittel
wären diese Preissätze, da es sich hier meist um grössere Massen handelt,
mit welchen sich schlechter arbeiten lässt, zu verdoppeln. Gegenüber der
jetzigen Berechnungsweise hätte die hier vorgeschlagene den grossen Vortheil
der Einfachheit. Streitigkeiten wären da von Vorneherein ausgeschlossen.
Die Taxe für Gefässe bringt Preisansätze für alle Gefässe, die zur Ex-
pedition der Medicamente dienen. Aus der Zusammenziehung der Preise für
die auf einem Recepte verschriebenen Arzneiwaaren, für die dabei vorzuneh-
mende Arbeit und für die Gefässe ergibt sich der Gesammtpreis der Arznei,
der auf dem Recepte mit deutlichen Ziffern zu bemerken ist. In Oesterreich
und anderen Staaten müssen die einzelnen Preisansätze gesondert aufgeführt
und summirt werden.
Ueberschreitungen der Arzneitaxe (wozu auch die Berechnung theurerer
Gefässe als der wirklich verabfolgten gehört) werden in Deutschland nach
§ 148, 8 der Gewerbeordnung bestraft.
Die pharmaceutische Ausbildung ist in den meisten Staaten verschieden,
doch sind die zur Erreichung des Zweckes aufgewandten Unterrichtsmittel
überall so ziemlich die gleichen. Das Endziel des pharmaceutischen Unter-
richtes ist die Erlangung eines Diplomes oder einer Approbation, auf Grund
welcher erst der Apothekerberuf selbständig ausgeübt werden kann.
Die Verhältnisse bei der Ausbildung zum Apotheker liegen in den
meisten Staaten wesentlich anders, als bei anderen wissenschaftlichen Berufs-
arten. Während sonst die Ausbildung in der Weise erfolgt, dass nach dem
Besuche allgemeiner Bildungsschulen die eigentlichen Fachkenntnisse an be-
stimmten, diesem Zwecke dienenden höheren Unterrichtsanstalten, mögen es
nun Hochschulen oder specielle Fachschulen sein, erworben werden, und erst
nach oder während dieses theoretischen Unterrichtes die nöthigen praktischen
Kenntnisse erlangt werden, ist der Unterricht des angehenden Apothekers
vorerst ein praktischer und dann erst gesellt sich der theoretische Unterricht
dazu. Ob dieser Bildungsgang gerade der richtige ist, soll hier nicht weiter
untersucht werden, thatsächlich entspricht der gegenwärtig noch geübte Aus-
bildungsmodus den gesteigerten wissenschaftlichen Anforderungen, die an diesen
Beruf gestellt werden, in vielen Staaten nicht mehr, daher gerade jetzt eine
ziemlich allgemeine Bewegung herrscht, welche dahin zielt den pharmaceu-
tischen Unterricht zu erweitern -und zu vertiefen, wobei, aller Wahr-
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 41
scheinliclikeit nach, auch der Gang der theoretischen und praktischen Ausbildung
eine Verschiebung erfahren dürfte.
Die pharmaceutischen Mitglieder der Commission zur Berathung der Grandzüge zur
Regelung des Apothekenwesens, welche am 13. April 1896 in Berlin zusammentrat, haben
eine Eingabe betreffs Erweiterung der Vorbildung und Vertiefung der Ausbildung der
Apotheker dem Staatsminister v. Bötticher überreicht. In derselben wurden, mit Rück-
sicht darauf, „dass die deutsche Pharmacie den an sie zu stellenden Anforderungen in der
gegenwärtigen Verfassung nicht mehr genügen könne", folgende Forderungen gestellt:
1. Zum Eintritt in die Pharmacie berechtigt nur das Maturum eines Gymnasiums beziehungs-
weise eines Realgymnasiums. 2. Die Lehrzeit dauert 2 Jahre und findet ihren Abschluss
durch das Bestehen einer praktischen und wissenschaftlichen Prüfung. 3. Eine der Lehrzeit
folgende einjährige Gehilfenzeit erscheint erforderlich, um die jungen Fachgenossen an ein
selbstverantwortliches Arbeiten zu gewöhnen. 4. Das Universitätsstudium umfasst 6 Se-
mester. Diese den neuzeitlichen Anforderungen entsprechend erweiterte wissenschaftliche
Ausbildung findet ihren Abschluss durch das Bestehen der Prüfung als Apotheker. 5. Zur
selbständigen Führung einer Apotheke sind nur diejenigen „Apotheker'' berechtigt, welche
den Nachweis erbringen, dass sie noch fernere 3 Jahre im pharmaceutischen Berufe thätig
gewesen sind.
Der Ausbildungsgang des Apothekers in Deutschland und Oesterreich, sowie
in einigen anderen Staaten ist im Wesentlichen folgender: nach Absolvirung
einer bestimmten Reihe von Mittelschulclassen (in Oesterreich 6 Gymnasial- oder
Realschulclassen, im letzteren Falle mit einer Ergänz ungspriifung aus latei-
nischer Sprache, in Deutschland nach Erlangung des Schulzeugnisses für den
einjährig- freiwilligen Militärdienst, d. i. der Reife für Obersecunda, was den-
selben Classen entspricht) folgt die 3- oder 2-jährige (für Candidaten, welche das
Reifezeugnis besitzen) Lehrzeit in einer öffentlichen Apotheke. Während
dieser (in Oesterreich T i r o ci n i u m genannten) Zeit hat der Lehrherr für die the-
oretische und praktische Ausbildung des Apotheker-Lehrlings (in Oester-
reich Tiro oder Apotheker -Praktikant; nach neuester amtlicher Be-
zeichnung Aspirant der Pharmacie), nach bestem Wissen zu sorgen. Der
angehende Apotheker muss während dieser Zeit ziemlich bedeutende Kennt-
nisse in den Naturwissenschaften, speciell in Chemie und Botanik erwerben,
was umso nothwendiger ist, als in den Mittelschulen mit ihrem den todten
Sprachen so breiten Raum gewährenden Unterrichtsplane, die Naturwissen-
schaften sehr stiefmütterlich behandelt werden. Schon dieser Ausbildungs-
modus ist nicht einwandfrei, denn es ist dabei zu bedenken, dass nicht jedem
Menschen die Fähigkeit zukommt Andere zu unterrichten. Der junge Aspirant
wird also in vielen Fällen auf den Selbstunterricht angewiesen sein und kann
froh sein, wenn ihn der Lehrherr oder dessen Gehilfen wenigstens so weit
unterstützen, dass sie ihm die nöthigen Erläuterungen geben. Hinsichtlich
der praktischen Ausbildung, namentlich was gewisse manuelle Fertigkeiten
betrifft, ist die Lehrzeit jedenfalls sehr geeignet.
Nach Beendigung der 3- oder 2jährigen Lehrzeit folgt die Gehilfen-
prüfung (in Oesterreich Tirocinalprüfung), welche in Deutschland durch
die Bekanntmachung betreff, die Prüfung des Apotheker-
gehilfen vom 13. Nov. 1875 geregelt wird. Die wesentlichen Bestimmungen
derselben lauten:
Die Prüfungsbehörden für die Gehilfenprüfung bestehen aus einem höheren Medicinal-
beamten als Vorsitzenden und zwei Apothekern, von denen mindestens Einer am Sitze der
Behörde als Apothekenbesitzer ansässig sein muss.
Die Prüfungen werden in der zweiten Hälfte des Monates März, Juni, September und
December jeden Jahres, an den von dem Vorsitzenden der im § 1 bezeichneten Aufsichts-
behörde festzusetzenden Tagen abgehalten.
Die Anträge auf Zulassung und Prüfung sind seitens des Lehrherrn bei dem ge-
dachten Vorsitzenden spätestens bis zum 15 des vorhergehenden Monats einzureichen.
Der Meldung zur Prüfung sind beizufügen:
1 Das Zeugnis über den in § 4 Nr. 1 der Bekanntmachung vom 5. März 1875 ge-
forderten Nachweis der wissenschaftlichen Vorbildung;
2. Das von dem nächstvorgesetzten Medicinalbeamten (Kreisphysikus, Kreisarzt u. s. w.)
bestätigte Zeugnis des Lehrherrn über die Führung des Lehrlings, sowie darüber, dass der
42 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
letztere die vorschriftsmässige dreijährige — für den Inhaber eines zum Besuche der Uni-
versität berechtigenden Zeugnisses der Reife, zweijährige — Lehrzeit zurückgelegt hat,
oder doch spätestens mit dem Ablauf des betreffenden Prüfungsmonats zurückgelegt
haben wird.
3. Das Journal, welches jeder Lehrling während seiner Lehrzeit über die im Labo-
ratorium unter Aufsicht des Lehrherrn oder Gehilfen ausgeführten pharmaceutischen Ar-
beiten fortgesetzt führen, und welches eine kurze Beschreibung der vorgenommenen Ope-
rationen und der Theorie des betreffenden chemischen Processes enthalten muss (Labora-
toriumsjournal) .
Die Prüfung zerfällt in drei Abschnitte: 1. Die schriftliche Prüfung 2. die praktische
Prüfung und 3. die mündliche Prüfung.
Als Prüfungsgebühren sind 24 JVlark zu entrichten.
Für die gesammte Prüfung sind 2 Tage bestimmt.
In der Regel dürfen nicht mehr als 4: Examinanden zu einer mündlichen Prüfung
zugelassen werden.
Das Nichtbestehen der Prüfung hat die Verlängerung der Lehrzeit um 6 — 12 Monate
zur Folge, nach welcher Frist die Prüfang wiederholt werden muss. Wer nach zweimaliger
Wiederholung nicht besteht, wird zur weiteren Prüfung nicht zugelassen.
Der Candidat hat 3 in Clausur und ohne Benutzung von Hilfsmitteln
schriftlich zu bearbeitende Fragen und zwar je eine aus Physik, pharmaceuti-
scher Chemie und Botanik oder Pharmakognisie zu bearbeiten. Er hat
weiters 3 Becepte zu verschiedenen Arzneiformen zu lesen, lege artis anzu-
fertigen und zu taxiren, dann ein leicht anzufertigendes galenisches und ein
chemisch-pharmaceutisches Präparat der Pharmakopoe zu bereiten, zwei che-
mische Präparate auf ihre Reinheit zu untersuchen, endlich in einer münd-
lichen Prüfung, bei der er sein Herbarium vorzulegen hat, chemisch-phar-
maceutische Präparate, rohe Drogen und getrocknete Pflanzen zu erkennen und
zu erläutern, ferner seine Bekanntschaft mit der lateinischen Sprache, sowie
mit den Grundlehren der Botanik, der pharmaceutischen Chemie und der
Physik nachzuweisen.
In Oest er reich wird die Ausbildung und Prüfung der Lehrlinge ge-
regelt durch die Verordnung des Minist, d. Innern vom 9. Mai 1890. Danach
sind in die Apothekerlehre nur solche Candidaten aufzunehmen, welche sich
mit einem vom Amtsarzte ausgestellten Zeugnisse über ihre physische Eig-
nung und mit einem staatsgiltigen Zeugnisse über die mit Erfolg abgelegte
6. Gyran. Classe oder einer Realschule (im letzteren Falle nebst separater
Prüfung aus Latein) ausweisen. Die Lehrzeit ist mit 3 Jahren bemessen, für
Candidaten mit Maturitätsprüfung auf 2 Jahre. Die Tirocinalprüfung ist so-
fort nach Ablauf der vorgeschriebenen Lehrzeit abzulegen und das pharma-
ceutische Universitätsstudium mit Beginn des Studienjahres, welches zunächst
folgt, anzutreten.
In Ungarn bestehen folgende Vorschriften, giltig vom I.Jänner 1888.
Dieselben sind hinsichtlich der Aufnahme und Lehrzeit dieselben wie in
Oesterreich. Betreffs der abzulegenden Prüfung weichen sie jedoch erheblich
ab. Die Prüfungen werden nämlich nur an den beiden Universitäten in
Budapest und Klausenburg durch eigene, vom Unterrichtsminister ernannte
Prüfungscommissionen vorgenommen. Die Commissionen bestehen aus je
einem o. ö. oder a. o. Professor oder Privatdocenten der medicinischen und
der philosophischen Facultät, die sich mit der Ausbildung der Pharmaceuten
beschäftigen, und 2 auf Vorschlag des Landes-Apothekervereines vom Minister
ernannten Apothekern. Die Mitglieder der Commission werden auf 3 Jahre
ernannt. Die Prüfung besteht aus 2 Theilen, einem praktischen und einem
mündlichen. Der Zweck der praktischen Prüfung ist, die Ueberzeugung zu
verschaffen, ob der Lehrling eine gehörige Fertigkeit in der Bereitung von
ärztlichen Recepten und in der Ausführung einfacherer chemischer Operationen
besitzt. Die mündliche Prüfung dient zur Beurtheilung dessen, ob derselbe
aus den vorgeschriebenen Studiumsgegenständen (Chemie, Botanik, Physik,
ÄPOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 4B
Pharmakopoe, Apothekenbuchführung) so viel Kenntnisse besitzt, als ein
Apothekergehilfe zur Erfüllung seines Berufes und zur Fortsetzung seiner
Universitätsstudien nothwendig hat. Die vorgeschriebene Gehilfenzeit beträgt
2 Jahre und kann vor oder nach dem Universitätsstudium verbracht werden.
Von diesen 3 Vorschriften über die Ausbildung und Prüfung der Aspi-
ranten der Pharmacie ist diejenige Ungarns wohl die modernste und zweck-
entsprechendste. Zu bemerken ist, dass in Oesterreich in den grösseren
Städten (Wien, Prag, Lemberg) eigene, von den dortigen Apothekergremien
erhaltene Fachschulen für die theoretische Ausbildung der Aspiranten be-
stehen, welche sehr gute Erfolge haben. In Oesterreich und Ungarn schliesst
sich unmittelbar an die Gehilfenprüfung (welche laut Ministerialverfügung dem
Maturum gleich zu achten ist) das Hochschulstudium, während in Deutchland
noch die veraltete, in Oesterreich-Ungarn bereits aufgehobene, Bestimmung
besteht, dass der Apothekergehilfe zunächst eine mehrjährige Servirzeit
(Conditionszeit) in öffentlichen Apotheken durchgemacht haben muss,
bevor er zum Hochschulstudium zugelassen wird. Diese Bestimmung hatte in
erster Linie wohl den Zweck dem angehenden Apotheker weitere praktische
Kenntnisse zu verschaffen, aber auch den, den Apothekenbesitzern billige
Arbeitskräfte zu ermöglichen. Durch diese lange Unterbrechung des Studiums
wird jedoch erwiesenermaassen das bis dahin erworbene theoretische Wissen
höchst ungünstig beeinflusst, so dass man in Oesterreich-Ungarn mit Ptecht
davon abgekommen ist. Zweifellos wird auch Deutschland bald folgen.
Das Hochschulstudium beträgt in Deutschland mindestens 3 Se-
mester, in Oesterreich und Ungarn 4 Semester. Für die Approbation als
Apotheker ist in Deutschland eine in 5 Abschnitte zerfallende Hauptprü-
fung (Staatsexamen) abzulegen, bei welcher zunächst als Vorprüfung drei schrift-
liche Clausurarbeiten über je eine Frage aus der anorganischen und orga-
nischen Chemie, sowie aus Botanik und Pharmakognosie zu liefern sind. Dann
werden in dem pharmaceutisch-technischen Prüfungsabschnitt zwei galenische
und zwei chemisch-pharmaceutische Präparate angefertigt; sodann wird in dem
analytisch-chemischen Prüfungsabschnitt eine qualitative, eine quantitative und
eine Giftanalyse ausgeführt. In einem weiteren mündlichen pharmaceutisch-
wissenschaftlichen Prüfungsabschnitt müssen 10 frische oder getrocknete offi-
cinelle Pflanzen bestimmt und demonstrirt, sowie mindestens 10 rohe Drogen
nach Abstammung, Verfälschung und pharmaceutischer Verwendung erläutert,
endlich von vorgelegten Piohstoffen und chemisch-pharmaceutischen Präparaten
Bestandtheile, Darstellung und Verfälschung angegeben werden. Schliesslich
wird in einer öffentlichen mündlichen Schlussprüfung ermittelt, ob der Can-
didat in der Chemie, Physik und Botanik so gründlich ausgebildet ist, wie es
sein Beruf erfordert, ferner ob er mit den das Apothekenwesen betreffenden
gesetzlichen Bestimmungen gehörig vertraut ist.
Die Approbationsbestimmungen in Deutschland sind nach der
Bekanntmachung des Pteichskanzlers vom 5. März 1875 folgende:
§ 4. Die Zulassung zur Prüfung ist bedingt durch den Nachweis:
1. Der erforderlichen wissenschaftlichen Vorbildung. Der Nachweis ist zuführen
durch das von einer als berechtigt anerkannten Schule, auf welcher das Latein obliga-
torischer Lehrgegenstand ist, ausgestellte wissenschaftliche Qualificationszeugnis für den
einjährig-freiwilligen Militärdienst. Ausserdem wird zur Prüfung nur zugelassen, wer auf
einer anderen als berechtigt anerkannten Schule dies Zeugnis erhalten hat, wenn er
bei einer der erstgedachten Anstalten sich noch einer Prüfung im Latein unterzogen hat
und auf Grund derselben nachweist, dass er auch in diesem Gegenstande die Kenntnisse
besitzt, welche behufs Erlangung der bezeichneten Qualification erfordert werden;
2. der nach einer dreijährigen, für die Inhaber eines zum Besuche einer deutschen
Universität berechtigenden Zeugnisses der Pieife, zweijährigen Lehrzeit, vor einer deutschen
Prüfungsbehörde abgelegten Gehilfenprüfung und einer dreijährigen Servirzeit, von
welcher mindestens die Hälfte in einer deutschen Apotheke zugebracht sein muss;
44 ÄPOTHEKENWESEN UND AEZNEIMITTELVERKEHR.
3. eines durch ein Abganp;szeugnis als vollständig bescheinigten Universitäts-
studiums von mindestens drei Semestern.
Dem Besuche einer Universität steht der Besuch der pharmaceutischen Fachschule
bei der herzoglich braunschweigischen polytechnischen Schule (Collegium Carolinum), sowie
der Besuch der polytechnischen Schulen zu. Stuttgart, Karlsruhe und Darmstadt gleich.
0 es ter reich. Das Hochschulstudium der Pharmaceuten regelt die pharma-
ceutische Studien- und Prüfungsordnung vom Jahre 1889 (Erlass des Ministers
für Cultus und Unterricht vom 16. December 1889j. Die Gegenstände, welche die Studiren-
den der Pharmacie zu frequentiren haben, sind: im I. Jahre u. zw. im Wintersemester:
Physik und specielle Botanik je 5 Stunden, im Sommersemester allgem. Botanik wöchent-
lich 3 Stunden, Uebungen im Bestimmen der Pflanzen wöchentlich 2 Stunden und Uebun-
gen in der ehem. Analyse wöchentlich 15 Stunden; ferner allgemeine (anorganische und
organische) Chemie in beiden Semestern wöchentlich 5 Stunden. — Im IL Jahre: Pharma-
kognosie im Wintersemester wöchentlich 5 Stunden, pharmaceutische Chemie im Winter-
semester wöchentlich 4 Stunden, oder im Sommersemester wöchentlich 5 Stunden, Uebun-
gen in der ehem. Analyse im Wintersemester wöchentlich 15 Stunden, dann Uebungen in
der Pharmakognosie mit Anwendung des Mikroskopes im Sommersemester wöchentlich
10 Stunden, endlich Uebungen in der pharmaceutischen Chemie und in der angewandten
ehem. Analyse im Sommersemester wöchentlich 15 Stunden. — Zur Erlangung des Diplo-
mes haben die Candidaten 3 Vorprüfungen und 1 strenge Präfang (Rigorosum) abzulegen.
Die Vorprüfungen werden aus Physik, Botanik und allgemeiner Chemie abgelegt. Das
Rigorosum besteht zunächst aus je einer praktischen Prüfung aus der analytischen und
pharmaceutischen Chemie und aus Pharmakognosie mit Anwendung des Mikroskopes,
dann aus einer theoretischen Gesammtprüfung. Gegenstände der letzteren sind: 1. allge-
meine und pharmaceutische Chemie 2. Pharmakognosie, Dem bei dem Rigorosum appro-
birten Candidaten wird das Diplom eines Magisters der Pharmacie überreicht. Jenen Ma-
gistern der Pharmacie, welche den Doctorgrad der Philosophie rite erworben haben, ist
es gestattet, den Titel „Doctor der Pharmacie" zu führen.
Ungarn, Die Universitätsausbildung dauert 2 Jahre. Die Lehrgegenstände sind
folgende: I. Jahr im 1. Semester: wöchentlich je 5 Stunden Physik, Zoologie u.nd Mine-
ralogie; im 2. Semester: wöchentlich 15 Stunden Uebungen im chemischen Laboratorium;
in beiden Semestern 5 Stunden allgemeine und Experimental-Chemie (anorganischer und
organischer Theil) und 5 Stunden theoretische und praktische Botanik mit Pflanzenbestim-
mungen und Uebungen in der Pflanzen- Anatomie (Gewebelehre). — IL Jahr, 1. Semester:
wöchentlich je 5 Stunden Pharmakognosie und analytische Chemie, 3 Stunden Hygiene,
15 Stunden analytische Chemie (Uebungen). 2 Semester: wöchentlich 5 Stunden pharma-
ceutische Chemie, 15 Stunden pharmaceutisch-chemische Uebungen und 10 Stunden phar-
makognostische Uebungen. Zur Erlangung des pharmaceutischen Magistergrades sind
3 Vorprüfungen und 2 Rigorosen erforderlich. Die Vorprüfungen werden abgelegt aus:
Physik (am Ende des 1.), aus Chemie und Botanik (am Ende des 2. Semesters des 1. Jahres).
— Von den Rigorosen ist das 1. eine praktische, das 2. eine theoretische Prüfung. Das prak-
tische Rigorosum wird am Ende des 4. Semesters abgelegt. Der Candidat hat eine qua-
litative oder eine einfachere quantitative Analyse auszuführen, ferner ein chemisches oder
pharmaceutisches Präparat nach der ungarischen Pharmakopoe zu bestimmen und auf
Identität und Reinheit zu prüfen, endlich aus der Pharmakognosie eine oder mehrere
Arzneiwaaren zu bestimmen, auf Reinheit zu prüfen und mikroskopisch zu untersuchen.
Das Resultat der Untersuchung hat der Candidat in einer kurzen schriftlichen Abhandlung
vorzulegen. — Die theoretische mündliche Prüfung umfasst die allgemeine und pharma-
ceutische Chemie, die Pharmakognosie und die pharmaceutische Praxis. — Um das Doctorat
der Pharmacie zu erlangen, muss der Candidat ein Maturitätszeugnis besitzen, den Grad
eines Magisters der Pharmacie erlangt haben, hierauf noch 1 Jahr in den chemisch-phar-
makognostischen und hygienischen Instituten arbeiten und eine Dissertation ausarbeiten.
Die Vereidigung des Apothekers wird entweder (wie in Oesterreich
und Ungarn) gleich nach beendigter Schlussprüfung, oder aber, wo sie
überhaupt besteht, erst dann vorgenommen, wenn der Betreffende die selbst-
ständige Leitung einer Apotheke übernimmt.
In Oesterreich und Ungarn erlangt der Apotheker durch das
Diplom als Magister der Pharmacie noch nicht die Berechtigung zur selbst-
ständigen Leitung einer Apotheke, um diese zu erlangen muss vielmehr erst
die vorgeschriebene Conditionszeit in öffentlichen Apotheken folgen,
welche in Oesterreich 5 Jahre, in Ungarn 2 Jahre beträgt.
Die wesentlichsten Bestimmungen über die pharmaceutische Ausbildung
in den übrigen Staaten Europas sind folgende:
England. Eine obligatorische Lehr- und Gehilfenzeit gab es bis vor
kurzem in England nicht, ebensowenig ein obligates Hochschulstudium. Der
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 45
junge Mann, der sich der Pharmacie widmete, trat in eine Apotheke als Lehr-
ling. Vorher hatte er gewöhnlich noch eine Vorprüfung (preliminary exami-
nation) abzulegen, falls er sich nicht mit Schulzeugnissen ausweisen konnte,
dass er namentlich Latein gelernt hat. Hierauf folgte die Minor- und die
Maj or-Examination .
Nach dem Prüfungsreglement, welches am 1. Jänner ISiJO in Kraft trat,
soll die bisherige kleine Prüfung (minor examination) in drei besondere Ab-
schnitte oder Theile zerfallen, deren erster (Schulprüfung, umfassend Latein,
Englisch, Rechnen) beim Eintritt in die Pharmacie, deren zweiter, eine schrift-
liche Prüfung in Pharmacie, pharmaceutischer und allgemeiner Chemie und
Uebersetzung von Recepten erst nach dem Nachweis der Absolvirung einer
dreijährigen Lehrzeit, und deren dritter, eine mündliche und praktische Prüfung
in Botanik, Materia medica, Chemie und Recepturkunde erst dann abgelegt
werden darf, wenn der Candidat die Absolvirung je eines Universitätscurses
in Botanik, Chemie, Materia medica und eine praktische Beschäftigung im
Universitätslaboratorium nachgewiesen hat. Zwischen der Ablegung des
zweiten und dritten Prüfungsabschnittes muss mindestens ein Zwischenraum
von einem Jahre liegen. Die Ablegung der „minor examination" berechtigt
zur selbständigen Ausübung des pharmaceutischen Berufes, ausserdem ist
aber noch eine „major examination" eingeführt; eine ausgedehntere Prüfung
in Botanik; materia medica, Physik und allgemeiner Chemie, deren Bestehung
das Recht zur Führung des Titels als „Pharmaceutical Chemist" verleiht,
Schweiz. Ein einheitliches Prüfungsreglement für Medicinal-
personen ist unterm 2. Juli 1870 erschienen, welches für Apotheker eine
Gehilfen- und eine Fachprüfung einsetzt und die Zulassung zu ersterer von
dem Nachweise des Abgangszeugnisses der zweiten Classe eines Obergym-
nasiums, oder der obersten Classe einer höheren Realschule, sowie einer drei-
jährigen Lehrzeit abhängig macht. Ausländern oder Schweizern, welche
sich über eine in einem anderen Staate abgelegte entsprechende Prüfung aus-
weisen, kann nach Art. 56 von den cantonalen Behörden die Licenz zur Be-
kleidung einer Gehilfenstelle ertheilt werden, jedoch gibt diese Licenz keine
Berechtigung zur Anmeldung zur Fachprüfung. Zur Zulassung zu letzterer
berechtigt nach Art. 57 der Nachweis der bestandenen Gehilfenprüfung, einer
einjährigen Conditionszeit und eines Universitätsstudiums von mindestens vier
Semestern.
Die pharmaceutische Fachprüfung ist eine praktische (Darstellung zweier
chemisch-pharmaceutischer Präparate, qualitative und quantitative Analyse,
mikroskopische Bestimmung einiger Substanzen, Ausführung einer schriftlichen
Arbeit) und eine mündliche (Botanik, Physik, Mineralogie, theoretische Chemie
Chemie der officinellen Präparate, analytische und forensische Chemie, Hy-
giene und Sanitätspolizei, Pharmakognosie, Pharmacie).
Ausländer, welche in der Schweiz die Pharmacie selbständig ausüben,
wollen, müssen den hiefür gestellten Anforderungen voll und ganz entsprechen,
also die Schweizer Approbationsprüfung abgelegt haben. Nur im Canton Genf
werden auch die Besitzer ausländischer Approbationen zugelassen.
Holland. Das Gesetz vom 25. Dec. 1878 bestimmt über die pharma-
ceutische Ausbildung Folgendes:
§ 11. Der Titel als Apotheker verleiht die Befähigung zur Ausübung der Arznei-
bereitungskunst und wird erworben durch die Ablegung eines praktischen Apothekerexa-
mens. In diesem Examen werden genügende Beweise praktischer Kenntnisse in der Arznei-
bereitungskunst und der chemischen Analyse, in der Apotheke wie im Laboratorium ge-
fordert. Vor der Zulassung zum Examen muss die Erklärung eines inländischen Apo-
thekers beigebracht werden, dass der Candidat wenigstens 2 Jahre unter Leitung eines
Apothekers die Arzneibereitungskunst ausgeübt hat.
46 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
§ 12. Zur Ablegiing des praktischen Apothekerexamens sind nur diejenigen befugt:
a) die in Art. 96 des Gesetzes vom 28. April 1867 genannt sind, so weit dessen Bestim-
mungen mit den vorliegenden übereinstimmen; b) die das im § 13 genannte theoretische
Examen mit Erfolg abgelegt haben.
§ 13. Das theoretische Apothekerexamen umfasst: Arzneibereitungskunst, Toxikologie
und analytische Chemie.
§ 14. Berechtigt zur Abnahme von theoretischen Prüfungen und zur Ertheilung von
Approbationen an diejenigen, welche die Prüfung mit Erfolg bestanden haben, sind die
naturwissenschaftlichen Facultäten der Landesuniversitäten. Vor der Ablegung der Prüfung
wird an den Vorsitzenden die Summe von 50 fi. gezahlt.
§ 15. Berechtigt zur Ablegung der theoretischen Prüfung sollen nur diejenigen sein,
die mit Erfolg das im § 4 genannte erste naturwissenschaftliche Examen abgelegt, oder
sonst Beweise ihrer naturwissenschaftlichen Kenntnisse gegeben haben.
(Das erste naturwissenschaftliche Examen umfasst: Natarkunde, Chemie und Bo-
tanik. Zur Ablegung desselben sind nur berechtigt: a) die auf einem Gymnasium mit
sechsjährigem Cursus die Uebergangsprüfung von der vierten und fünften Classe mit Er-
folg abgelegt, oder den Unterricht der höchsten Classe eines Progymnasiums mit Erfolg
genossen haben b) die Abgangsprüfang von einer höheren Bürgerschule bestanden haben,
c) die auf andere noch näher zu bestimmende Weise ihre Berechtigung zur Zulassung zu
dem naturwissenschaftlichen Examen nachgewiesen haben.)
§ 17. Als Apothekerbedienstete mit gleichen gesetzlichen Rechten und Pflichten als
die der Apothekergehilfen können diejenigen zugelassen werden, die nach beendetem 18.
Lebensjahre mit gutem Erfolge eine Prüfung abgelegt haben, in der genügende Beweise
der zur Anfertigung von Ptecepten erforderlichen Kenntnisse und Fertigkeiten gefordert
werden.
Um das Doctorat der Pharmacie zu erwerben, muss der Candidat das Gym-
nasium absolvirt haben und eine Vorprüfung (die „Candidatur") aus Physik, Chemie, Bo-
tanik, Geologie und Mineralogie ablegen. Die Hauptprüfung, das Doctorat besteht aus 2
Prüfungen: 1. pharm. Chemie, pharm. Natu.rwissenschaften (Botanik, Zoologie etc.), Toxi-
kologie und analytische Chemie. 2. Bestimmung vorgelegter Objecte. Ausserdem muss der
Candidat eine Dissertation verfassen, hierauf kann er promoviren. Um das Recht zur Aus-
übung der Pharmacie zu erlangen, muss jedoch auch der Doctor der Pharmacie das vor-
geschriebene Staatsexamen für Apotheker (die oben erwähnte theoretische und praktische
Prüfung) ablegen.
Franki'eich. Es gibt 2 Classen von Apothekern, solche 1. Classe und
solche 2. Classe. Ausserdem gibt es noch „Pharraaciens superieurs" (höhere
Pharmaceuten), welche den Doctoren der Pharmacie anderer Staaten gleich-
kommen.
Die Apotheker erster Classe müssen das ganze Gymnasium absolvirt und
Matura gemacht haben, die Apotheker zweiter Classe haben eine geringere
Vorbildung (entsprechend dem Untergymnasium). Die Lehrzeit in einer
Apotheke beträgt 3 Jahre, worauf eine Gehilfenprüfuug abgelegt wird. Die
,,Ecole de pharmacie" ist hierauf ebenfalls drei Jahre lang zu hören; das
Examen kann nicht vor vollendetem fünfundzwanzigsten Lebensjahre gemacht
werden.
Um den Titel Apotheker 2. Classe zu erlangen muss der Candidat 3 Prü-
fungen über folgende Gegenstände ablegen: 1. Physik, Chemie, Toxikologie,
Pharmacie, 2. Botanik, Zoologie, Naturgeschichte der einfachen Drogen, Hy-
drologie und Naturgeschichte der Mineralien 3. Eine praktische Arbeit, zwei
mündliche Vorträge. — Um Apotheker 1. Classe zu werden macht der Can-
didat dieselben Studien, muss jedoch das Baccalaureat haben und unbedingt
die Studien an einer Hochschule (ecole superieur de pharmacie in Montpellier,
Nancy und Paris) oder an einer gemischten Facultät für Medicin und Phar-
macie machen. — Um den Grad eines pharmacien superieur zu erlangen muss
man Apotheker 1. Classe und „licence en sciences physiques ou naturelles"
(in Naturwissenschaften diplomirt) sein oder an einer pharm. Hochschule oder
einer gemischten Facultät ein 4. Jahr frequentiren und eine Prüfung aus
Physik und Naturwissenschaften ablegen.
Belgien. Der pharm. Unterricht wird an den Universitäten ertheilt
u. zw. an eigenen Abtheilungen der medicinischen Facultäten. An der Uni-
versität in Brüssel trägt diese Abtheilung den Titel „ecole de pharmacie."
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 47
Das Studium dauert im Allg'emeinen 4 Jahre u. zw. wird nach den ersten
2 Jahren eine Prüfung für die „( Kandidatur der Pharmacie" abgelegt ausfol-
genden Gegenständen: Botanik, Chemie, Physik, Mineralogie und Geologie,
ferner aus praktischer Chemie. Zum Apotheker-Examen wird man zugelassen
nach Vorweisung des Diploms als Candidat der Pharmacie oder als Candidat
der Naturwissenschaften (bei diesen wird über Naturwissenschaften etwas ein-
gehender geprüft). Das Examen besteht aus einer theoretischen (Pharma-
kognosie, Verfälschungen und Maximaldosen, Elemente der analytischen
Chemie und Toxikologie, pharm. Technik und theoretische Pharmacie) und
einer praktischen (Darstellung von 2 Präparaten, Nachweis von 2 Verfälschungen
in Lebensmitteln, eine toxikolog. Analyse und eine mikroskopische Unter-
suchung) Prüfung. Das Doctorat der pharmaceutischen Wissenschaften wird
von den medicinischen Facultäten der Staats-Universitäten an Jene verliehen,
die sich dem pharmaceutischen Unterrichte widmen wollen. Zur Erlangung
dieses Doctorates muss man 2 Jahre diplomirter Apotheker sein und eine
Inauguraldissertation ausarbeiten, sowie eine Prüfung aus den pharmaceut.
naturwissenschaftlichen Fächern ablegen.
Italien. Der pharmaceutische Unterricht dauert 3 Jahre, worauf die Lehr-
zeit von einem Jahre in einer vom Rector der betreffenden Universität be-
stimmten Apotheke folgt. Der pharmaceutische Unterricht wird an eigenen
Abtheilungen (pharmaceutische Schulen genannt) der Universitäten ertheilt.
Das I. Examen (Licenza) wird in 2 Abtheilungen abgelegt: 1. Physik, allge-
meine Chemie, 2. Botanik, Mineralogie, Geologie und Zoologie. Ein Jahr nach Er-
halt der „Licenza" folgt das II. Examen (Promotion) über pharmceutische Chemie,
Materia medica, Toxikologie, hierauf praktische Arbeiten. Um das Doctorat
der Pharmacie zu erlangen, müssen die Candidaten als Vorbildung die „Li-
cenza liceale" (eine Art Matura), hierauf die 3 Studienjahre und die beiden
Examina zur Erlangung des Apothekerdiploms aufweisen und dann nacti
2 weiteren Studienjahren eine praktische und mündliche Schlussprüfung able-
gen. Ausserdem muss eine Dissertation ausgearbeitet werden.
Ein Entwurf, welcher der Deputirtenkammer unlängst vorgelegt wurde, bezweckt eine
Neuregelung der Bestimmungen über die pharm. Ausbildung und die Ausübung der Phar-
macie. Nach demselben sollen zwei Classen von Apothekern gebildet werden: 1. Land-
apotheker, welche das Dij)lom auf Grund eines Staatsexamens erhalten haben, 2. Apothe-
kerdoctoren (dottori-farmacisti), welche die Doctorwürde in Chemie und Pharmacie an einer
Universität des Staates erlangt haben. Die Landapotheker sollen das Gewerbe nur in den-
jenigen Landgemeinden ausüben dürfen, welche vom Ministerium des Innern für diesen
Zweck bezeichnet sind. Der Aspirant auf diese Prüfung muss das 21. Jahr vollendet, ein
Gymnasium oder eine Realschule absolvirt und eine Lehrzeit von einem Jahr in einer der
vom Präfecten für die betreffende Provinz bezeichneten Apotheken durchgemacht haben.
Die jetzigen sogenannten ,,assistenti-farmacisti'' können zu der Staatsprüfung zugelassen
werden, auch wenn sie nicht die vorgeschriebene Schulbildung besitzen, falls sie sich einer
wissenschaftlichen Prüfung unterziehen.
Spanien. Der pharmaceutische Unterricht wird an eigenen pharmaceuti-
schen Facultäten an den Universitäten ertheilt. Zur Erlangung des Diplomes
muss der Pharmaceut mindestens 4 Jahre (meistens 5 bis 6 Jahre) lang die
Universität hören, zu deren Besuch man aber ohne Mittelschulstudium berech-
tigt ist, man hat nur eine Aufnahmsprüfung zu machen. Während der ersten
2 Jahre des Universitätsstudiums erlernt der Candidat die Pharmacie auch
praktisch in einer Apotheke. Zur Erlangung des Doctorates der Pharmacie
ist noch ein weiteres Universitätsjahr nöthig, in welchem u. A. auch die
Geschichte der Pharmacie studirt werden muss.
Das Doctorat kann nur an der Madrider Universität erlangt werden.
Norwegen. Die Pharmaceuten haben zwei Prüfungen abzulegen. Die
Gehilfenprüfung nach drei Jahren Lehrzeit und das Apothekerexamen nach
einem Jahr Servirzeit und einem willkürlichen Universitätsstudium. In einigen
48 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
Jahren soll eine pharmaceutisclie Hochschule in Christiania errichtet werden
und zu dem Zwecke werden alle persönlich concessionirten Apotheker ver-
pflichtet, eine Unterrichtssteuer von 40 bis 400 Kronen jährlich zu zahlen.
Bevor examinirte Apotheker entweder als Provisoren angestellt werden
können oder ein Realprivilegium ankaufen dürfen, müssen sie noch zwei Jahre
nach absolvirter Staatsprüfung serviren.
Sowohl die Gehilfenprüfungs- als die Apothekerexaraens-Commission haben
ihren Sitz in Christiania.
Griechenland. Zur Ausbildung von Pharmaceuten sind nebst 3 Jahren
Vorschule, 4 Jahrgänge des Gymnasiums vorgeschrieben, worauf eine ein-
jährige Praxis und dann — nach bestandener Aufnahmsprüfung — ein drei-
jähriger Universitätsbesuch folgt, welcher auch die chemischen und pharma-
ceutischen praktischen Uebungen in sich schliesst. Nach absolvirten Univer-
sitätsstudien und bestandenem Examen erhält man das Diplom als Apotheker;
sechs Monate später hat man noch ein zweites, theoretisch-praktisches Examen
zu machen, worauf man erst die Erlaubnis zur Ausübung der Pharmacie erhält.
Russland. Um in die Lehre in eine Apotheke eintreten zu dürfen, muss
die betreffende Person 4 Classen eines lateinischen Gymnasiums besucht haben
oder ein Zeugnis eines abgelegten Externalexamens vorlegen. Diese For-
derungen sind für Tironen weiblichen und männlichen Geschlechtes gleich.
In einer Apotheke muss der Discipel 3 Jahre prakticiren. Dabei wird nur
die volle 6monatliche Praxis in einer und derselben Apotheke angerechnet.
Nach Ablauf dieses 3jährigen Dienstes kann sich der Discipel einem Examen
in einer der medicinischen Facultäten irgend einer Universität oder an der
St. Petersburger medicinischen Academie unterwerfen. Die Prüfung ist theore-
tisch (in der Chemie, Pharmacie, Pharmakognosie, Botanik u. s. w.) und prak-
tisch, wozu unter Anderem einige chemisch-pharmaceutische Präparate ver-
fertigt werden müssen. Hat der Tiro das Examen bestanden, dann bekommt
er ein Diplom eines Apothekergehilfen und wird, falls er nicht adelig ist,
Ehrenbürger. Als Gehilfe muss der junge Mann 3 Jahre in einer normalen
Apotheke prakticiren, oder er kann eine Filialapotheke verwalten, die Ver-
waltung einer Dorfapotheke wird ihm nicht gerechnet. Nach Ablauf dieser
Zeitperiode kann er auf eine Universität gehen, wo er 2 Jahre (in Dorpat
(Jurjew) waren bis vor Kurzem nur 1^2 Jahren nöthig) als Hörer studirt.
Wir entnehmen dem Programm der Moskauer Universität die zum Provisor-
examen gehörenden Disciplinen: Zoologie, gerichtliche Chemie, Mineralogie,
organische Chemie, Physik, Pharmakologie und Toxikologie, unorganische
Chemie, Pharmakognosie, Pharmacie und Botanik, ausserdem muss der Provi-
sorant auch im Laboratorium der Universität thätig sein und zum Examen
mehrere praktische Prüfungen bestehen. Provisoren, die das Examen gut be-
standen haben, erhalten nach einer nochmaligen Prüfung (theoretisch und
praktisch) und nach Vertheidigung einer Dissertation den Grad eines Ma-
gisters der Pharmacie, der höchste auf diesem Gebiete in Russland. Um eine
Apotheke zu verwalten, muss der Magister respective Provisor 25 Jahre alt
sein. Nur der Minister des Innern kann einem Jüngern Pharmaceuten eine
Apotheke zu verwalten gestatten.
Das oben angeführte bezieht sich nur auf die männlichen Pharmaceuten,
die weiblichen können nur den Grad eines Gehilfen erreichen, da sie zur
Universität nicht zugelassen werden, was zum Provisorexamen durchaus noth-
wendig ist. Es ist zu erwarten, dass mit der Eröffnung des weiblichen medi-
cinischen Instituts in Petersburg im Jahre 1897 die weiblichen Gehilfen das
Recht erhalten werden, das Provisorexamen abzulegen. Ausserdem ist noch
zu erwähnen, dass mit den Frauen noch eine Ausnahme gemacht wird: sie
dürfen in der Apotheke nur den Tag über beschäftigt sein, wogegen den
Nachtdienst nur die Männer halten dürfen.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 49
Apotheken-Gesetzgebung.
Errichtung, Betrieb und Controle der Apotheken. Die gesetzlichen
Bestimmungen, die das Apothekenwesen regeln, sind in den einzelnen Staaten
Europas sehr verschieden. Während in manchen Staaten der Betrieb der
Apotheken an bestimmte Privilegien und Concessionen gebunden ist, die der
approbirte (diplorairte) Apotheker erst erwerben muss, ist er in anderen wieder
ganz frei gegeben, so class das Apothekenwesen ein freies Gewerbe bildet,
dessen Ausübung jedoch nur durch gelernte Apotheker erfolgen kann, die die
vorgeschriebenen Prüfungen abgelegt haben. Welches System für den richtigen
Betrieb der Apotheken besser ist, welches grössere Garantieen für die Er-
reichung des sanitären Zweckes, dem die Apotheken dienen: jederzeit und
für jedermann stets Arzneien in tadelloser Beschaffenheit vorräthig zu halten
und kunstgerecht abzugeben, bietet, ist äusserst schwer zu sagen. Anscheinend
würde w^ohl der staatliche Schutz der Apotheke nebst entsprechender wissen-
schaftlicher Ausbildung die grösste Gewähr dafür bieten, aber unter diesem
Schutze haben sich Verhältnisse herausgebildet, welche in den meisten
Staaten, die das Privilegien- und Concessionssystem haben, einfach unhaltbar
geworden sind und von Tag zu Tag dringender Abhilfe verlangen. Andererseits
ist es ganz gut denkbar und durch die Erfahrung erwiesen, dass bei strengen
Anforderungen in Bezug auf die wissenschaftliche Ausbildung auch die Nieder-
lassungsfreiheit mit einem allen Anforderungen entsprechenden Apotheken-
betriebe vereinbar ist. Auch die wissenschaftliche Stufe der Pharmacie ist
in jenen Ländern, wo ihre Ausübung frei gegeben ist, im Ganzen keineswegs
eine niedrigere, als in den Ländern mit staatlicher Beschränkung, wenn auch
zugegeben werden muss, dass die Durchschnittsapotheke in den Staaten mit
freier Pharmacie heute immer mehr zu einer einfachen Handlung mit Arznei-
waaren und Patentmedicinen herabgesunken ist.
In den meisten Staaten Europas unterliegen die Apotheken einer staat-
lichen Beaufsichtigung, mit welcher eine zeitweilige Revision derselben ver-
bunden ist. Die Apotheken-Revision hat den Zweck die richtige Ein-
richtung und Ausstattung der Apotheken und ihre vorschriftsmässige Führung
durch Organe des Staates zu controliren. Sie erstreckt sich demgemäss auf
die Gesammteinrichtung der Apotheke, auf die Officin und die dazu gehörigen
Räume (Laboratorium, Materialkammer, Kräuterboden, Keller), welche be-
stimmten Anforderungen entsprechen müssen, auf die Beschaffenheit und
richtige Aufbewahrung der vorräthig gehaltenen Arzneien, welche den An-
forderungen der Pharmakopoe entsprechen müssen, auf die allgemeine Rein-
lichkeit und Sauberkeit, auf die richtige Führung der Bücher, auf die richtige
Taxirung der Recepte nach der Arzneitaxe (wo eine solche besteht), auf die
Einhaltung der Vorschriften hinsichtlich der Aufbewahrung der Gifte und
starkwirkenden Stoffe, sowie auf die vorschriftsmässige Beschaffenheit der
Waagen und Gewichte; endlich auf das in den Apotheken zur Verwendung
gelangende Hilfspersonale.
Die Apotheken- Visitation gehört meist zu den Agenden der Amtsärzte.
In grösseren (Universitäts-) Städten bestehen auch eigene Commissionen dafür.
Diesen sow^ohl als den einzelnen Amtsärzten sind meist Apotheker als Sachver-
ständige beigegeben. Richtiger und zweckentsprechender wäre es wohl, wenn die
Visitationen von eigens dazu angestellten „ Apotheken-Inspectoren" (Apothekern),
wie solche seit einiger Zeit in Belgien fungiren, ausgeführt würden, da der
Arzt doch niemals ein solches Verständnis für die Einzelheiten des Apotheken-
betriebes haben kann, wie es im Interesse einer strengen und gerechten
Controle wünschenswerth wäre. Die Institution derartiger Apothekeninspectoren,
die unmittelbar der betreffenden Medicinalbehörde untergestellt sein müssten, der
das Apothekenwesen untersteht, wäre gewiss geeignet das Apothekenw^esen
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 4
50 .APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
ZU fördern, ebenso wie die in neuerer Zeit geltend gemachte Forderung der
pharmaceutischen Kreise, dass bei den Centralbehörden, denen das Apotheken-
wesen untersteht, Vertreter des Apothekerstandes anzustellen sind. Der
Anfang wurde kürzlich in Preussen gemacht mit einem Apotheker-Beirath,
der dem Ministerium für Cultus- und Medicinalangelegenheiten beigegeben
wurde. Dieser Apothekerrath, wie seine officielle Bezeichnung lautet,
erhielt folgende Geschäftsordnung:
§ 1. Der Apothekerrath ist eine berathende Behörde. Er hat die Aufgabe, der
Med.-Verwaltung in Organisations- und Verwaltungsfragen, welche das Apothekerwesen be-
treffen, als Beirath zu dienen und Gutachten zu erstatten. Demgemäss hat der Apotheker-
rath: 1. über alle ihm von dem Minister der Med.-Angelegenheiten vorgelegten Verhand-
lungen, Vorschläge oder Fragen sich gutachtlich zu äussern. 2. Aus eigenem Antriebe dem
Minister Vorschläge zur Abstellung von Mängeln in Bezug auf das Apothekerwesen zu
machen, auch neue Maassnahmen in Anregung zu bringen, welche ihm geeignet erscheinen,
das Apothekerwesen zu fördern. — § 2. Der Apothekerrath besteht: 1. Aus dem Director
der Med. Abtheilung des Ministeriums der geistlichen etc. Angelegenheiten als Director;
2. aus den technischen vortragenden Räthen der Medicinalabtheilung; 3. aus vier Apo-
thekenbesitzern; 4. aus vier approbirten, nichtbesitzenden Apothekern als Mitgliedern. Der
Director wird vom König, die Mitglieder werden vom Minister der Med.-Angelegenheiten
ernannt, und zwar diejenigen aus dem Apothekerstande auf die Dauer von fünf Jahren.
Der Director und die Mitglieder werden bei ihrer Einführung mit Verweisung auf die sonst
etwa geleisteten Amtseide durch Handschlag auf die Erfüllung ihrer Amtspflichten, ins-
besondere auf die Pflicht der Amtsverschwiegenheit, verpflichtet. — § 3. Der Director
und die in Berlin wohnhaften Mitglieder erhalten keine Besoldung oder Entschädigung, die
auswärtigen Mitglieder dagegen Tagegelder und Pieisekosten nach den diesbezüglich bestehen-
den Verordnungen. — § 4. Der Apothekerrath wird von dem Minister der Med.-Angelegen-
heiten in der Regel jährlich einmal berufen. Der Director erlässt die erforderlichen Ein-
ladungen zu den Sitzungen. Das Nichterscheinen eines Mitgliedes bedarf einer Entschul-
digung mit Angabe des Behinderungsgrundes. — § 5. Der Apothekerrath ist beschlussfähig,
wenn ausser dem Director oder seinem Stellvertreter und einem der technischen vortragen-
den Räthe mindestens vier der Mitglieder aus dem Apothekerstande anwesend sind. —
§ 6. Die Beschlüsse des Apothekerrathes werden durch Stimmenmehrheit gefasst. Bei
Stimmengleichheit entscheidet die Stimme des Directors. — § 7. Der Director regelt den
Geschäftsgang des Apothekerrathes. Er hat dabei die von dem Minister der Med.-Ange-
legenheiten getroffenen Bestimmungen genau zu beachten. In Behinderungsfällen wird er
durch den anwesenden dienstältesten technischen vortragenden Rath vertreten, sofern
seitens des Ministers nicht anderweitige Verfügung getroffen wird. Alle Anträge auf Er-
stattung von Gutachten oder auf Aeusserung über zweifelhafte Fragen, welche von Privat-
personen an den Apothekerrath oder den Director gelangen, sind dem Minister zur Ver-
fügung vorzulegen. — § 8. Die Aufträge, welche der Minister der Med.-Angelegenheiten dem
Apothekerrathe ertheilt, werden an den Director abgegeben. Der Director überträgt die
schriftliche Bearbeitung je zwei Mitgliedern als Referenten und Correferenten und sorgt
für die Erledigung. JDie von dem Minister dem Apothekerrathe zur Berathung überwie-
senen Vorlagen werden nebst den Referaten vervielfältigt und den Mitgliedern vor der
Sitzung zugestellt. In der Sitzung trägt der Referent das von ihm verfasste Referat vor,
der Correferent nur die von ihm etwa zu machenden Aenderungsvorschläge. Keine Sache
darf ohne Vortrag erledigt werden. § 9. Ueber die Verhandhingen in den Sitzungen des
Apothekerrathes ist ein Protokoll zu führen. Dasselbe muss den wesentlichen Inhalt der
Berathungen und die gefassten Beschlüsse nach ihrem Wortlaute enthalten. Das Protokoll
ist nach Abschluss der Verhandlungen von einer Commission zu redigiren und zu unter-
schreiben; diese Commission besteht aus dem Director, dem Protokollführer und einem von
dem Director zu bestimmenden Mitgliede des Apothekerrathes. Einwendungen gegen das
Protokoll können bei dem Director angebracht werden. — § 10. Nach Abschluss der Ver-
handlungen des Apothekerrathes überreicht der Director mittelst Berichtes dem Minister
der Med.-Angelegenheiten die beschlossenen Gutachten und Anträge nebst den Protokollen.
Diese und die sonstigen Schriftstücke werden in der Registratur der Med.-Abtheilung des
Ministeriums aufbewahrt.
Deutschland. Das Apothekenwesen untersteht in Preussen dem Minister
für Cultus- und Medicinalangelegenheiten. In gewerblicher Beziehung ist die
Gewerbeordnung, in medicinalpolizeilicher Hinsicht sind die Medicinal- oder
Apotheke f Ordnungen für den Apothekenbetrieb maassgebend. Die Reichs-
gesetzgebung hat bisher nur das pharmaceutische Prüfungswesen (siehe Aus-
bildung), den Verkehr mit Arzneimitteln (siehe Arzneimittelverkehr) und die
Darstellung, Prüfung und Aufbewahrung der Arzneien (siehe Pharmakopoen)
APOTHEKENWESEN UND AEZNEIMITTELVERKEHR. 51
geregelt. Alle übrigen für den Apothekenbetrieb geltenden Vorschriften sind
in den einzelnen Staaten durch eigene Medicinal- oder Apothekerordnungen
enthalten.
Die älteren Apotheken (in Preussen die bis zum Jahre 1810 verliehenen)
beruhen auf landesherrlichen Privilegien, welche zum Theil das Recht der
Ausschliessung haben. Diese Apothekerprivilegien sind veräusserlich und
vererbbar (dingliche Apothekenrechte sind unbedingt vererblich und verkäuflich,
sogenannte Picalconcessionen sind verkäuflich) und können als selbständige
(Real-) Gerechtsame in die Grund- respective Hypothekenbücher eingetragen
werden. In Preussen unterliegen dieselben beim Uebergange auf einen neuen
Erwerber dem Immobiliarwerthstempel. Ausser diesen privilegirten
Apotheken (Realprivilegien) gibt es in den deutschen Staaten con-
cesslonirte Apotheken (Personalprivilegien), d. h. Apotheken,
welche auf einem Personalrecht beruhen. Ursprünglich hatten nur die Real-
privilegien das Recht der Veräusserlichkeit und Vererbung, nach und nach
haben sich aber in den meisten Staaten auch bezüglich der concessionirten
Apotheken ähnliche Verhältnisse ausgebildet. Erst in neuerer Zeit wurde in
Preussen mittelst Ministerial-Erlass vom 21. Juli 1886 die Bestimmung ge-
troffen, dass neu errichtete Apotheken ohne besondere Genehmigung der Be-
hörde erst 10 Jahre nach ihrer Errichtung verkauft werden dürfen. Gegen-
wärtig wird eine reichsgesetzliche Regelung des Apothekenwesens geplant,
zu deren Grundlage die reine Personalconcession genommen wurde. Die dies-
bezüglich ausgearbeiteten „Grundzüge" enthalten über die Berechtigung
zum Apothekenbetriebe folgende Bestimmungen:
1. Wer eine Apotheke betreiben will, bedarf hierzu unbeschadet der Bestimmungen
im § 29 der Gewerbeordnung der Erlaubnis der zuständigen Behörde. — 2. Die Zahl der für
einen Gemeindebezirk oder für einen räumlich abgegrenzten Theil eines solchen Bezirkes
zuzulassenden Apothekenbetriebe wird nach Maassgabe des örtlichen Bedürfnisses durch die
höhere Verwaltungsbehörde festgesetzt. — 3. Wenn die Erlaubnis zum Betriebe einer Apo-
theke ertheilt werden soll, so lässt die Behörde eine öffentliche Aufforderung zur Bewerbung
ergehen und entscheidet nach Ablauf der Bewerbungsfrist über die Ermächtigung zum
Apothekenbetriebe. — 4. Die Erlaubnis muss versagt werden, wenn der Nachsuchende
a) sich nicht im Besitze der bürgerlichen Ehrenrechte befindet, h) infolge gerichtlicher An-
ordnung in der Verfügung über sein Vermögen beschränkt ist, c) sich im Besitze einer
dinglichen Apothekenberechtigung oder einer veräusserlichen Apothekenconcession befunden
hat oder befindet, sofern er nicht auf seine hieraus entspringende Befugnis zum Apotheken-
betrieb unentgeltlich verzichtet hat oder verzichtet. 5. Die Erlaubnis kann ausserdem ver-
sagt werden a) wenn der Nachsuchende wegen eines Verbrechens oder Vergehens, bei
welchem auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden kann, oder eines Verstosses
gegen die Berufspflichten eines Apothekers rechtskräftig verurtheilt worden _ ist;
b) wenn der Nachsuchende durch wiederholte Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften
über den Betrieb von Apotheken seine ün Zuverlässigkeit in Bezug auf die Ausübung des
Apothekerberufes dargethan hat. — 6. Sind mehreie Bewerber aufgetreten, so ist die Er-
laubnis Demjenigen zu ertheilen, welcher die Approbation früher als die übrigen Mitbewerber
erhalten hat. Unter mehreren an demselben Tage approbirten Bewerbern wählt die Behörde
nach eigenem Ermessen. Bei Berechnung des Alters der Approbation wird diejenige Zeit,
während welcher der Bewerber nicht im Inlande im Apothekerberufe thätig gewesen ist, in
Abzug gebracht. — 7. Bei Ertheilung der Erlaubnis ist der örtliche Bezirk, in welchem die
Apotheke betrieben werden soll, zu bezeichnen und die Frist, binnen welcher der Betrieb
begonnen werden muss, zu bestimmen. — 8. An andere als die gesetzlich zugelassenen
Verpflichtungen, Bedingungen oder Beschränkungen darf die Erlaubnis nicht geknüpft
werden. Insbesondere ist eine Genehmigung des Apothekenbetriebes auf Zeit oder Wider-
ruf nicht zulässig. — 9. Wenn die Erlaubnis an Stelle einer nach Maassgabe des Gesetzes
erloschenen und entzogenen Betriebserlaubnis ertheilt wird, so darf dem Bewerber bei der
Ertheilung die Verpflichtung auferlegt werden, von seinem Vorgänger oder dessen Erben
die zur Einrichtung und zum Betriebe der Apotheke gehörigen, in gutem Zustande befind-
lichen Vorrichtungen, Geräthschaften und Waarenvorräthe gegen Entschädigung zu über-
nehmen. Die Entschädigung ist im Streitfalle oder falls der zwischen den Betheiligten ver-
einbarte Preis nach pflichtmässigem Ermessen der zuständigen Behörde den wahren Werth
übersteigt, von einem Schiedsgerichte festzustellen, welches aus Sachverständigen besteht und
dessen Vorsitzender ein höherer Medicinalbeamter ist. — 10. Wenn der Berechtigte den
Betrieb der Apotheke binnen der festgesetzten Frist nicht beginnt, so kann die Erlaubnis
zurückgenommen und auf Grund der früheren Ausschreibung nach Maassgabe der Grund-
4*
52 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
Sätze in Ziffer 4 bis 6 einem anderen Bewerber ertheilt oder eine neue Anffordernng zur
Bewerbung erlassen werden, — 11. Der Berechtigte ist zum Betriebe der Apotheke verpflichtet;
will er denselben einstellen, so hat er hiervon mindestens drei Monate zuvor der zuständigen
Behörde Anzeige zu erstatten. — 12. Der Bundesrath erlässt die näheren Bestimmungen
darüber, inwieweit der Berechtigte die Befugnis hat, in Behinderungsfällen den Betrieb der
Apotheke zeitweise durch Stellvertreter wahrnehmen zu lassen. — 13. Die Erlaubnis zum
Betriebe der Apotheke erlischt: a) wenn die Approbation der Berechtigten zurückgenommen
wird, h) wenn dem Berechtigten die Erlaubnis zum Betriebe einer anderen Apotheke
ertheilt wird, c) wenn der Berechtigte durch gerichtliche Anordnung in der Verfügung über
sein Vermögen beschränkt wird, d) mit dem Tode des Berechtigten. In dem unter lit. d)
bezeichneten Falle ist jedoch den Erben auf Antrag zu gestatten, dass der Betrieb der
Apotheke noch höchstens ein Jahr lang nach dem Tode des Berechtigten, falls sich aber
unter den Erben eine Witwe oder ein minderjähriges eheliches Kind des Berechtigten be-
findet, bis zur Wiederverheiratung der Witwe, beziehungsweise bis zur Grossjährigkeit des
hinterlassenen Kindes auf ihre Rechnung durch einen approbirten Apotheker fortgesetzt
wird. — 14 Die Erlaubnis zum Betriebe der Apotheke kann entzogen werden, a) wenn der
Berechtigte wegen eines Verbrechens oder Vergehens, bei welchem auf Verlust der bürger-
lichen Ehrenrechte erkannt werden kann oder ein Verstoss gegen die Berufspflichten eines
Apothekers vorliegt, rechtskräftig verurtheilt worden ist, h) wenn der Berechtigte durch
wiederholte Zuwiderhandlungen gegen die Vorschriften über den Betrieb von Apotheken
seine Unzuverlässigkeit in Bezug auf die Ausübung des Apothekerberufes dargethan hat,
c) wenn die Unrichtigkeit der Nachweise dargethan wird, auf Grund deren die Erlaubnis
ertheilt worden ist, d) wenn der Berechtigte unbefugt den Betrieb der Apotheke eingestellt hat
oder stellvertretungsweise wahrnehmen lässt, e) wenn der Berechtigte die Heilkunde ausübt.
— 15. Wegen der Behörden, welche über die Ertheilung und Entziehung der Erlaubnis zum
Apothekenbetriebe zu entscheiden haben, und wegen des zu beobachtenden Verfahrens gelten
die Vorschriften der §§ 20 und 21 der Gewerbeordnung.
Ob diese „Grundzüge" gesetzliche Kraft erlangen werden, ist noch un-
bestimmt. Wahrscheinlich dürften vorher einige Aenderungen an denselben
vorgenommen werden.
In einigen Staaten gibt es, wie in Süddeutschland, Apotheken, die über-
haupt nicht verkauft werden können, sondern bei Besitzwechsel immer im
Concurswege vergeben werden („reine Personal-Concession.")
Die Personal-Concession ist in Baden und Württemberg nichtüber-
tragbar und ruht blos auf der Person des Apothekers. Stirbt derselbe, so
hat seine Witwe, so lange sie nicht weiter heirathet (jetzt noch) das Recht,
die Apotheke verwalten lassen zu dürfen, bis sie stirbt. Sind Kinder oder
Schwiegersöhne als Apotheker vorhanden, kann die Concession im Gnadenwege
auf sie übertragen werden. — In Bayern ist es wohl dem Gesetze nach
ebenso wie in Baden und Württemberg. Der Praxis nach hat aber Bayern die Ueber-
tragung von Concessionen auf den vom Vorgänger vorgeschlagenen Bewerber
(Käufer) fast stets geduldet. — Das württemberg-badische System hat sich daselbst
im Allgemeinen bewährt. Uebelstände liegen darin, dass etwa reiche Witwen,
wie es in Stuttgart der Fall war, das Geschäft noch 30 Jahre nach dem Tode des
Mannes für ihre reichen Erben ausnützen und so dem Nachwuchs den Zu-
gang erschweren. Man wird das in Bälde abändern, auch die badische Be-
stimmung des Aufrückens der Concessionäre in bessere Concessionen an-
nehmen. Die Behauptung, dass persönliche Concessionen in Bezug auf Ein-
richtung u. s. w. knapper, d. h. schlechter geführt werden, als verkäufliche,
trifft für Württemberg und Baden nicht zu. Im Gegentheile, die Einrichtung
ist meist neuer und reicher, weil die Besitzer nicht die Zinsen für das Real-
recht (oft mehr als 507o der Kaufsumme) zu zahlen haben.
Es gibt in Württemberg etwa 215 Realrechte und 55 Concessionen, in
Baden ist das Verhältnis das gleiche, in Bayern etwa gleiche Theile.
Die Vorschriften in Bezug auf die Errichtung und den Betrieb der
Apotheken, auf die Befähigung des Apothekers und seines Hilfspersonales, die
geeignete Einrichtung der Apotheken-Localitäten und die gewerbliche Ge-
schäftsführung sind in den Apothekerordnungen enthalten.
Die Errichtung einer neuen Apotheke erfolgt auf Grund einer
vom Staate verliehenen Concession im nachzuweisenden Bedarfsfalle. Zur
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 53
Vergebung derselben wird ein Concurs ausgeschrieben. Die rechtliche Natur
der verliehenen Concession ist derzeit noch in den verschiedenen Staaten
verschieden. Die seit 1. Juli 1895 errichteten Apotheken dürfen jetzt auch
in Preussen nicht mehr verkauft werden, sondern nur immer im Concurs-
wege weiter vergeben werden. Auch die Errichtung von Filialapotheken und
Dispensiranstalten in Krankenhäusern unterligt der staatlichen Genehmigung.
Filialapotheken werden an Orten concessionirt, in denen wegen ihrer
Entfernung von selbständigen Apotheken das Bedürfnis nach einer Dispensir-
anstalt für Arzneien vorhanden ist, ohne dass die Bedingungen für die Er-
richtung einer selbständigen Apotheke vorhanden wären. Die Errichtung
pharmaceutischer Dispensiranstalten wird grösseren Krankenhäusern
u. dergl. von Fall zu Fall gestattet, sie müssen aber von Pharmaceuten ver-
waltet werden und die Abgabe von Arzneien ist auf die Insassen der be-
treffenden Anstalt beschränkt.
Die Vorschriften über Einrichtung und Ausstattung der Apo-
theken stimmen darin überein, dass jede öffentliche, selbständige Apotheke
folgende Ptäumlichkeiten enthalten muss: die Ofl'icin, ein Laboratorium, eine
Materialkammer, einen Medicinalkeller und einen Kräuterboden. Jeder dieser
Ptäume muss entsprechend gelegen und mit den nöthigen Geräthschaften in
hinreichender Anzahl versehen sein.
Die Vorschriften über den Geschäftsbetrieb der Apotheken legen
dem Apotheker in den meisten Apothekerordnungen im Wesentlichen folgende
Verpflichtungen auf: Sämmtliche in den Series des deutschen Arzneibuches be-
zeichneten Arzneimittel, in der vom Arzneibuche vorgeschriebenen Beschaffenheit
jederzeit vorräthig zu halten, ebenso auch sonst gebräuchliche Arzneimittel,
sowie alle weiteren von einem Arzte geforderten Arzneimittel herzustellen oder zu
beschaffen. — Jede Arznei nach ärztlicher Vorschrift ist sofort zuzubereiten
und abzugeben, sofern der Fall ein dringlicher auch ohne Bezahlung. — Die
Arzneimittel der Tabellen B und C des Arzneibuches nur auf Verordnung eines
approbirten Arztes abzugeben. — Jede auf ärztliche Verordnung angefertigte
Arznei ist mit der vom Arzte gegebenen Gebrauchsanweisung, dem Datum und
der Firma der Apotheke (in Preussen auch mit den Namen des Anfertigers)
zu versehen. — Bei der Feststellung der Arzneipreise die von der Landes-
regierung erlassene Arzneitaxe einzuhalten bezw. nicht zu überschreiten.
Revision. Die Bestimmungen über die Revision der Apotheken sind
in den einzelnen Staaten verschieden. Als Grundlage für die Beurtheilung
und Prüfung der Arzneimittel gilt jedoch überall das deutsche Arzneibuch.
Die Apotheken sind periodischen Revisionen zu unterziehen hinsichtlich des
Zustandes der ganzen Apotheke, des Vorrathes und der Beschaffenheit der
Arzneiwaaren, der Einrichtung und Verwaltung der Apotheken, des Hilfs-
personales. Die Revision wird in einigen Staaten (Sachsen, Württemberg,
Baden, Thüringen, Braunschweig, Hessen) von besonderen, staatlich ernannten
Apothekenrevisoren, in anderen von Commissionen, bestehend aus einem
Medicinalbeamten und einem Apotheker, ausgeführt. Ausserdem stehen die Apo-
theken fortwährend unter der Aufsicht der betreffenden Amtsärzte (Physiker)
und können auch ausserordentlichen Revisionen unterzogen werden. Ueber
die Revision wird ein Protokoll aufgenommen.
In Württemberg übt die Controle aus: 1. Der Oberamtsarzt. Er
hat das Recht die Apotheke zu diesem Zwecke so oft zu betreten als er will,
nach der Legalität der Recepte zu fahnden, kurz den ganzen Betrieb zu über-
wachen. In den allermeisten Fällen erledigt der Oberamtsarzt diese Aufgabe
in 1 bis 3 jährlichen Durchgängen durch Apotheke, Nebenzimmer und Labo-
ratorium. Die Untersuchung der Waaren auf Güte ist nicht eigentlich seine
Aufgabe, das ist Sache des 2. Visitators. Das ist ein vereidigter Apothe-
kenbesitzer, dem alle Jahre eine Anzahl Apotheken zur Visitation von dem
54 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
Medicinal-Collegium zugetheilt wird (etwa 10 bis 15 bei jetzt vorhandenen
5 Visitatoren). Der Visitator kommt mit seinen Reagentien allein und braucht
volle 2 Tage. Er ist an eine sehr strenge Visitationsordnung gebunden und
ist die Sache durchaus keine blosse Form, sondern nach ihrer ganzen Hand-
habung eine sehr ernste Sache. Am zweiten Visitationsnachmittage zieht der
Visitator den Oberamtsarzt des Bezirkes bei, der dann die medicinalpolizeiliche
Seite der Vorschriften erledigt. Beide sind coordinirt, der Apotheken-Visitator
völlig selbständig. — In Baden visitiren zwei nicht mehr besitzende
Apotheker je einen Tag, also kürzer als in Württemberg. — In Bayern visitirt
der Bezirksarzt alljährlich nach einem bestimmten Schema (oft mit sehr
wenig Verständnis). Alle 5 Jahre kommt der Regierungs-Medicinalrath mit
einem Apotheker zu einer kurzen, höchstens halbtägigen Visitation. — In
Hessen visitirt der pharmaceutische Sachverständige des Medicinal-Collegiums.
— Aehnlich verhält es sich in den meisten anderen Staaten.
Die strafgesetzlichen Bestimmungen, welche die Apotheken be-
treffen, beziehen sich auf den Verkauf von Abortivmitteln (§219 des Reichs-
strafgesetzes, mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren), auf die fahrlässige Tödtung
oder Körperverletzung durch Arzneivergiftung (§ 222, fahrlässige Tödtung,
Gefängnis bis zu 3 oder 5 Jahren, §§ 230 — 232 fahrlässige Körperverletzung,
Geldstrafe bis 300 Thaler oder Gefängnis bis zu 2 oder 8 Jahren), die unbe-
fugte Offenbarung von Privatgeheimnissen (§ 300, Geldstrafe bis 500 Thaler,
oder Gefängnis bis zu 3 Monaten), die Uebertretung der pharmaceutischen
Berufspflichten (§ 367, Geldstrafe bis 150 M oder Haft).
Oesterreich. Das Apothekenwesen in Oesterreich ist ein sanitäts-
polizeiliches Gewerbe (Hofkd. 2. Mai 1810), welches der Gewerbe-
Ordnung nicht unterliegt, sondern nach den dafür bestehenden besonderen
Vorschriften zu behandeln ist. Das Apothekenwesen untersteht dem Ministerium
des Innern bezw. der Sanitätsabtheilung desselben, an dessen Spitze ein Me-
diciner als Sanitätsreferent fungirt. Ein Vertreter des pharmaceutischen
Standes befindet sich in dieser Centralbehörde nicht, dagegen sind im
Obersten Sanitätsrathe, welcher dem Ministerium des Innern als be-
rathendes Organ zur Seite steht, 2 Vertreter des Apothekerstandes als ausser-
ordentliche Mitglieder zugezogen, welche jedoch nur von Fall zu Fall an den
Sitzungen theilnehmen. Ebenso sind in den meisten Landessanitäts-
räthen, welche als berathendes Organ der Landesverwaltungen fungiren,
Apotheker als ausserordentliche Mitglieder beigezogen. Die Aufsicht über das
Apothekenwesen steht dem Bezirksarzte bezw. dem Stadtphysikus zu.
In Oesterreich gibt es 3 verschiedene Arten von Apotheken 1. Radicirte
Real- Apothekergewerbe, 2. Freiverkäufliche Apothekergewerbe, 3. Personal-
gewerbe. Radicirte Apothekergewerbe sind nach Hofkd. 9. Dec. 1824,
Z. 35822 „solche, welche ausdrücklich in der Hausgewähr enthalten sind"
d. h. sie sind an ein bestimmtes Haus gebunden und müssen grundbücherlich
eingetragen sein. Sie können verpfändet werden und im Grundbuche einer
Schuldvormerkung unterzogen werden. Selbstverständlich können sie auch
frei verkauft und vererbt werden. Frei verkäufliche Apothekerge-
werbe sind nach demselben Hofkd. „solche, welche keinem Hause förmlich
ankleben, doch aber von dem Eigenthümer an seine Kinder übertragen, ver-
kauft, verschenkt, verpfändet werden können, sie müssen, um für solche zu
gelten, schon vor dem Jahre 1774 bestanden haben. Personal-Apotheker-
gewerbe sind nach demselben Hofkd. „solche, welche blos auf die Person
des Bewerbers verliehen werden, sie sind, wofern er unverehelicht stirbt, mit
dessen Tode sogleich erloschen, hinterlässt er aber eine Witwe, so ist zwar
derselben, so lange sie nicht zu einer zweiten Ehe schreitet, keineswegs aber
den Kindern gestattet das Gewerbe fortzuführen. Diesen letzteren darf nur
dann, wenn sie die erforderlichen Eigenschaften besitzen, bei übrigens gleichen
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR, 55
Fähigkeiten und Verdiensten nach dem Tode oder der neuerlichen Yerhei-
rathung der Witwe der Vorzug vor anderen Mitbewerbern eingeräumt werden.
Personalgewerbe sind demnach weder erblich noch verkäuflich, und ebenso-
wenig einer Verpfändung und Schuldvormerkung fähig." An diesen Bestim-
mungen wurde jedoch durch die a. h. Entschl. vom 5. Jänner 1861, bekannt
gemacht mittelst Min.-Verd. 11. Jänner 1861 RGB, Nr. 8, welche für sämmt-
liche ausserungarische Kronländer Geltung hat, in der Weise geändert, dass
die §§58 und 59 (jetzt 55 und 56) der Gewerbe-Ordnung auch bei dem
Apothekergewerbe in Anwendung kommen. Hiedurch ist die Uebertrag-
barkeit der Personalconcessionen gestattet.
Die Errichtung von Apotheken und Filialapotheken erfolgt,
indem die betreffende Gemeinde oder Privatperson ein Gesuch an die Bezirks-
hauptmannschaft bezw. den Magistrat richtet und die Nothwendigkeit der
Apotheken entsprechend begründet. Die Bezirkshauptmannschaft leitet die er-
forderlichen Erhebungen ein und leitet die Angelegenheit an die Landes-
behörde, w^elche auf Grund des Gutachtens des Landessanitätsrathes die Apo-
theke bewilligt. Nach dem Hofkd. 25. Aug. 1824, Z. 21930 und 10. Aug.
1835, Z. 26066 ist im Allgemeinen eine Bevölkerung von 3 — 4000 Seelen und
eine Entfernung von 2 Meilen von der nächsten öffentlichen Apotheke als
zureichend für die Errichtung einer öffentlichen Apotheke anzunehmen. Die
Verleihung des Apothekenpersonalbefugnisses steht dem Bezirksamte bezw.
dem Magistrate zu. Die Verleihung hat im Wege des Concurses zu ge-
schehen „damit für dieselbe das würdigste Individuum aufgefunden werde."
Diesbezüglich hat die Behörde ein Gutachten des zuständigen Apotheker-
gremiums abzuverlangen, lieber die Errichtung und den Standort einer öffent-
lichen Apotheke, ebenso über den für die Verleihung „Würdigsten" ent-
scheiden die Administrativbehörden nach freiem Ermessen.
Zwei Apothekergewerbe können von derselben Person selbst an ver-
schiedenen Orten nicht betrieben werden.
Die Apotheker -Instruction, die mittelst Hofkd. 3, Nov. 1808,
Z. 16135 erlassen wurde und welche eine der Zeit angepasste Wiedergabe
der mit kais. Patent v. .8. Mai 1644 für Wien und Oesterreich erlassenen
Apotheker-Ordnung ist, gilt, trotz ihrer vielfach veralteten und durch
spätere Verordnungen aufgehobenen Bestimmungen auch heute noch. Die
wichtigsten, noch in Kraft befindlichen Punkte derselben sind:
§ 1. Die Apotheker auf dem Lande sind dem Kreisamte, in den Städten auch dem
Magistrate unmittelbar untergeordnet.
§ 2. Niemand kann zu dem Besitze einer Apotheke gelangen um derselben selbst-
ständig vorzustehen, oder als Provisor eine Apotheke dirigiren, der sich nicht mit einem
von einer österr. Universität erhaltenen Diplome entweder als Doctor oder als Magister der
Pharmacie ausweist.
§ 3. Die Pharmakopoe bestimmt die einfachen Arzneikörper, die bereiteten und
zusammengesetzten Arzneimittel, welche in einer Apotheke vorräthig sein müssen.
§ 5. Aller Vorrath muss in guter Qualität und in solcher Menge vorhanden sein,
dass der ordentliche Absatz gedekt ist.
§ 6. Gefässe, Utensilien, Behältnisse und die Aufbewahrungsorte müssen von der Art
sein, dass die Arzneien weder davon schädliche Eigenschaften annehmen und Veränderungen
erleiden können, noch derselben Verderbnis durch erstere befördert wird.
§ 7. Allenthalben muss die grösste Ordnung, Genauigkeit und Reinlichkeit beobachtet
werden.
§ 8. Die Aufschriften an den Gefässen und Behältnissen, in welchen Arzneien auf-
bewahrt werden, müssen mit Buchstaben deutlich und verständlich geschrieben sein.
§ 10. Giftig wirkende, giftartige Arzneien werden sowohl in der Officin nebst den
dazu gehörigen Utensilien, als auch in der Materialkammer und auf dem Kräuterboden zu-
sammen in einem abgesonderten Orte, in einem versperrten Kasten aufbewahrt, wozu der
Schlüssel unter Tags in der Apotheke sich befindet, bei der Nacht von dem Patron oder
Provisor selbst oder von dem die Nachtwache habenden Gehilfen verwahrt wird.
§ 15. Arzneien müssen für Jedermann Tag und Nacht, mit BereitwilHgkeit, Red-
lichkeit, ohne unnöthigen Verzug und mit gehöriger Signatur bezeichnet, verabreicht werden.
56 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
§ 16. Gelinde wirkende, unschädliche Arzneimittel dürfen im Handverkaufe aus der
Apotheke abgegeben werden.
§ 18. Nur ärztliche Vorschriften (Recepte), welche von dazu berechtigten Aerzten
und Wundärzten unterzeichnet sind, dürfen in den Apotheken verfertigt werden.
§ 20. Es ist dem Apotheker strenge verboten geheime Einverständnisse mit Aerzten
oder Wundärzten zum Nachtheile der Kranken und kaufenden Personen zu unterhalten.
§ 21. Bei Verfertigung der Arzneien wird sich der Apotheker immer genau und ge-
wissenhaft nach der Vorschrift des Arztes richten. Es ist ihm daher nie erlaubt von der
Vorschrift desselben im geringsten abzuweichen oder von Arzneikörpern, die ihm gleich-
wirkend scheinen, einen oder den andern nach Willkür zu substituiren.
§ 22. Vermuthet er in der Vorschrift des Arztes einen Irrthum, der dem Leben des
Kranken nachtheilig werden könnte, so nat er seine Meinung vor der Verfertigung des
Receptes dem verordnenden Arzte allein in Freundschaft zu eröffnen. Wäre dieses aber
wegen zu grosser Entfernung oder Abwesenheit des Arztes für jetzt unmöglich, und hat
der Apotheker die üeberzeugung, dass in der Vorschrift des Arztes ein Irrthum unterlaufen
sei, der dem Leloen des Kranken nachtheilig sein könne und kann er sich nicht mehr mit
dem verordnenden Arzte berathen, so muss er sich noch vorerst, wenn es möglich ist, mit
einem anderen Arzte hierüber berathen; wäre aber auch dies unmöglich, so ist es ihm er-
laubt, ja es ist Pflicht, das Recept so abzuändern, dass es den gewöhnlichen Verordnungen
vernünftiger Aerzte entspreche. Der Apotheker wird aber dieses, sobald es nur möglich
ist, dem Arzte, von dem die Verordnung herrührte, auf eine geziemende Art und ohne
Aufsehen zu erregen, bekannt machen.
§ 24 Lehrlingen soll die Verfertigung heftiger Arzneimittel nie überlassen werden.
§ 25. Bei der vorschriftsmässigen Untersuchung der Apotheken wird der Apotheker
mit Anstand sich benehmen und den Anordnungen der Visitatoren Folge leisten. Glaubt er
sich gekränkt, so ist der zweifelhafte Arzneikörper unter zweifaches Siegel zu legen und an
die medicin. Facultät der Provinz zur Untersuchung zu schicken.
§ 27. Curen innerlicher oder äusserlicher Gebrechen zu unternehmen ist dem Apo-
theker nie und nimmer, unter keinem Vorwande erlaubt.
§ 28. Ein musterhafter Zustand der Apotheke, richtige, genaue und gewissenhafte
Bedienung der Parteien soll das einzige Mittel des Apothekers sein, seiner Apotheke Ruf
und Zuspruch zu verschaffen.
§ 29. Der Apotheker oder Provisor ist für die Verrichtungen seiner Gehilfen und
Lehrlinge verantwortlich, er wird daher über dieselben genaue Aufsicht führen.
Die Apotheker der meisten Kronländer in Oesterreich bilden eigene
Apotheker-Gremien, welchen die Wahrung der Staatsinteressen zusteht.
Eine Gremial-Ordnung bestimmt den Wirkungskreis der Apothekergremien
und deren Pflichten und Rechte. Diese ziemlich veralteten Bestimmungen
sollen jetzt durch modernere Gremialordnungen ersetzt werden.
Revision. Ueber die Apothekenvisitation bestehen eine ganze
Anzahl alter Hofkanzleidecrete und Verordnungen. Dieselbe hat alljährlich in
der Periode von Mitte Juli bis Ende October in Gegenwart eines politischen
Commissärs (Gemeindevorsteher, Bürgermeister etc.) durch den Bezirksarzt
(in einer Hauptstadt, wo eine Universität ist, durch eine Commission, be-
stehend aus den Professoren der Chemie und der Pharmakologie, den Gremial-
vorstehern, dem Stadtphysikus und landesfürstlichen Commissär) stattzufinden
(gegenwärtig nimmt in der Provinz fast überall der Bezirksarzt allein die
Revision vor). Das hierüber aufgenommene Protokoll ist der Statthalterei
vorzulegen. Bei diesen Visitationen hat man sich namentlich zu überzeugen,
ob in Allem und Jedem vorschriftsmässig vorgegangen wird, ob die Arznei-
körper rein, in hinreichender Quantität vorhanden, ob die gerade vorfindlichen
Recepte gehörig geordnet, taxirt sind u. s. w. Es ist dann 1. in der Officin
eine genaue Revision über die Arzneikörper, ihre Aufbewahrungsgefässe, deren
Aufstellung, ihre zweckmässige Signatur, über Wagen, Gewichte u. s. w. vor-
zunehmen. Ebenso ist 2. das Laboratorium zu inspiciren, die Oefen, die
Dampfapparate, Retorten, Kolben, Flaschen, Aerometer u. s. w. in Augen-
schein zu nehmen, um darüber genauen Bericht erstatten zu können. Sodann
kommt 3. die Vorrathskammer an die Reihe u. zw. die Kräuterkästen, die
Gefässe mit den Extracten, den Pulvern, den Chemikalien, wobei zu sehen,
ob Verschluss, Signatur, gehörige Sonderung der Substanzen und die übrigen
Vorsichten obwalten. 4. In dem Medicinalkeller ist auch den einzelnen
Drogen, ihrer Aufbewahrung; ihren Signaturen sowie 5. in der Stosskammer
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 57
den Mörsern, Schneidebrettern, Sieben u. a. Apparaten, endlich G. in den
Trockenböden den gerade vorhandenen Pflanzen und Pflanzentheilen die Auf-
merksamkeit zuzuwenden. Alle diese Locale müssen behufs ihrer Eignung
besonders beurtheilt werden. Wird eine Substanz verdorben oder schlecht
befunden, so ist sie sofort zu vertilgen. Glaubt sich der Apotheker gekränkt,
so ist nach § 25 der Apothekerinstruction (s. d.) vorzugehen. Die Pievision
erstreckt sich auch auf die Documente des Apothekers sowie auf das Per-
sonale der Apotheke. Das Ergebnis der Visitation wird dem Apotheker durch
Vermittlung des Gremiums von der Statthalterei mitgetheilt. Zu aussorordent-
lichen Untersuchungen und Superrevisionen, wenn solche erforderlich sind,
wird von der Länderstelle der Protomedicus oder Kreisarzt abgeordnet. Für
die Visitation ist eine Taxe von 6 Ducaten in Wien und von 3 Ducaten in
der Provinz zu entrichten. Die Abschaffung dieser Taxe ist von den Apo-
thekern wiederholt versucht w^orden, da doch die Visitation nicht in ihrem
Interesse, sondern einzig und allein im Interesse des Staates unternommen
wird, bisher jedoch vergebens. — Die Eevision lässt im Allgemeinen zu
wünschen übrig. Die Revisions-Commissionen der Universitäts-Städte func-
tioniren ja ganz gut, dagegen lassen die Revisionen in der Provinz Manches
zu wünschen übrig, indem die Bezirksärzte einerseits anderweitig sehr in An-
spruch genommen sind, und anderseits auch nicht genügende Fachmänner sind,
um die Function eines Apotheken-Revisors mit allem Verständnis erfüllen
zu können ; hiezu eignen sich eben nur Pharmaceuten.
Strafgesetzliche Bestimmungen. Das österr. Strafgesetz vom
27. Mai 1852 enthält folgende auf das Apothekenw^esen bezügliche Bestimmungen:
Die §§ 345—348 bestrafen den widerrechtlichen Verkauf Yon Arzneimitteln sowohl
an dem Eigenthlimer der Apotheke, als an dem Provisor und Gehilfen. Der Eigenthümer
wird, falls er von dem Verkaufe nichts gewusst hat mit 25 — 50 fl. Geldbusse, bei dem
2. Falle mit 50—150 fi. bestraft. Beim 3. üebertretungsfalle wird ihm die Führung der
Apotheke genommen und 1 Provisor bestellt. Falls er davon gewusst hat, wird er im
1. Untersuchungsfalle mit 50 — 100 fl. im 2. mit 100 — 200 Geldbusse bestraft und falls durch das
gegebene Arzneimittel jemand zu Schaden gekommen mit strengem Arrest von 1—6 Monaten.
Den Provisor trifft eine Arrest-Strafe von 3 Tagen bis zu 1 Monat das erstemal, das zweite-
mal wird er seines Dienstes enthoben falls er nichts von der Sache gewusst hat, hatte er
aber von dem Verkaufe der verbotenen Arznei Kenntnis, so wird er mit strengem Arrest
von 1 — 6 Monaten bestraft ufid für unfähig erklärt ferner in einer Apotheke zu dienen.
Der Gehilfe wird mit Arrest von 1 — 6 Monaten bestraft und verliert im 2. üebertretungs-
falle überdies die Befugnis als Gehilfe in Apotheken verwendet zu werden.
Die §§ 349 — 352 setzen Strafen für unrichtige Anfertigung von Arzneien bezw. die
Verwendung von verdorbenen Stoffen zur Anfertigung von Arzneien fest. § 353 bestraft
die Verweclislung oder unrichtige Ausgabe von Arzneien mit Arrest von einer Woche, bei
grösserer oder oftmaliger Unaufmerksamkeit bis zu 3 Wochen. § 354 und 355 bestraft den
unbefugten Verkauf von Heilmitteln in Bezug auf deren Verabfolgung besondere beschrän-
kende Anordnungen bestehen ausserhalb der Apotheken. § 499 bestraft die Offenbarung
von Privatgeheimnissen.
Die gegenwärtig in Oesterreich in Kraft befindliche Pharmakopoe ist die
7. Ausgabe der Pharmacopoea austriaca und gilt seit 1890. — Die Arzneitaxe
wird alljährlich durch eine eigene Taxcommission neu bearbeitet.
Ungarn. In Ungarn untersteht das Apothekenwesen dem Ministerium des
Innern u. zw. der VI. Section desselben, welche in 2 Fachabtheilungen zerfällt :
a) für Sanitätsverwaltung h) für Krankenanstalten und Apothekenwesen. Die
Apotheken sind gesetzlich anerkannte Sanitätsanstalten. Dem ungarischen
Landessanitätsrath, welcher als berathendes Organ dem Ministerium des Innern
in Sanitätsangelegenheiten zur Seite steht, gehören ein oder 2 Apotheker der
Hauptstadt als ausserordentliche Mitglieder an.
Die Bestimmungen über das Apothekenwesen sind im Sanitätsgesetze
vom Jahre 1876 enthalten. Danach gibt es in Ungarn Apotheken mit Real-
recht und solche mit Personalrecht. Gegenwärtig werden nur Personalrechte
verliehen.
58 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
Die Errichtung der Apotheken erfolgt auf Grund einer Bewilligung
des Ministers des Innern. Auch für die Uebertragung eines Personalrechts
ist die Bewilligung des Ministers erforderlich. Das Personalrecht der conces-
sionirten Apotheken erlischt mit dem Tode des Concessionärs, doch hat dessen
Witwe bis zu ihrer Wiederverehelichung oder ihrem Tode die Nutzniessung.
Stirbt oder verehelicht sich die Witwe während der Minderjährigkeit der
Kinder, so geht die Nutzniessung auf die Kinder über. Der Concessionsinhaber
kann das Personalrecht jederzeit an eine andere qualificirte Person übertragen.
An Orten, wo eine selbständige öffentliche Apotheke nicht bestehen kann,
kann eine Filialapotheke seitens eines der nächsten Apotheker mit Bewilligung
des Ministers des Innern errichtet werden.
Die Revision der Apotheken erfolgt alljährlich durch den Comitats-
physikus und erstreckt sich auf die gewöhnlichen Erfordernisse. Für die
amtliche Revision ist seitens des Apothekers keinerlei Gebühr zu entrichten.
Ausser der gewöhnlichen Visitation können im Bedarfsfalle auch ausserordent-
liche Visitationen stattfinden.
Die gegenwärtig in Kraft befindliche Pharmakopoe ist die Pharmacopoea
hungarica editio 11 mit Nachtrag vom Jahre 1896. Die Arzneitaxe wird in
Zwischenräumen von mehreren Jahren neu ausgegeben. Dieselbe wird vom
Landessanitätsrath unter Zuziehung einiger hauptstädtischer Apotheker be-
arbeitet.
Croatien. Die Bestimmungen über das Apothekenwesen, welche früher
auf einer Vorschrift der einstigen k. k. Statthalterei vom 2. Februar 1858
fussten, werden jetzt durch ein neues, 1894 vom Landtage genehmigtes Gesetz
geregelt. Zu diesem Gesetze hat die Regierung noch eine Reihe von Durch-
führungsbestimmungen erlassen, welche Alles genau präcisiren.
In Croatien bestehen wie in Oesterreich und Ungarn Realapotheken und
Personalapotheken. Die Realapotheken können wie bisher frei verkauft und
abgetreten werden. Die Apotheken mit Personalrecht, welche vor dem Inkraft-
treten des Gesetzes bestanden, können auch weiterhin übertragen werden, die
seither errichteten dürfen aber erst 5 Jahre nach Uebernahme der Concession
weiter übertragen werden. Nach dem Tode des Concessionärs steht der Witwe
(bis zu ihrer Wiederverehelichung oder bis zu ihrem Tode) oder den minder-
jährigen Kinder (bis zu ihrer Grossjährigkeit) das Nutzniessungsrecht zu. —
Für jede Uebertragung eines Apothekerrechtes wird eine Taxe von 100 — 500 fl.
für die Concession gezahlt, aus welchen Beträgen ein Fond zur Expromission
von Realrechten gebildet wird. Die Termine und die Art der Expromission
der Realrechte wird durch ein specielles Gesetz geregelt werden.
Schweiz. In der Schweiz besitzen alle diplomirten Apotheker das Recht
der freien Niederlassung. Das Apothekergewerbe ist aber nur im Canton
Glarus direct freigegeben, indem daselbst die Verfassung bestimmt: die
medicinische Praxis in allen ihren Branchen ist freigegeben. Die französischen
Cantone hatten nach dem Codex frangais seit jeher kein beschränktes
Concessionssystem, sondern Jeder, der den Befähigungsnachweis lieferte, musste
eine Concession erhalten.
Genf als cosmopolitische Stadt lies und lässt heute noch auf Genehmigung
der pharmaceutischen Commission auch ausländisch diplomirte Apotheker zu.
Alle anderen Cantone hatten bis 1874 ähnliche Concessionsverhältnisse
wie in Oesterreich und Deutschland. Erst durch die Bundesverfassung von
1874 wurde das beschränkte Concessionssystem für die ganze Schweiz auf-
gehoben und Jedem, der sich mit einem eidgenössischen Diplom ausweist,
steht die Leitung einer Apotheke frei. Die Concession zum Betriebe einer
Apotheke kann allerdings (wenigstens in Bern) auch ein Nichtpharmaceut,
beispielsweise der Hausherr, nehmen. Er muss dann einen legalen Leiter der
Apotheke der Sanitätsbehörde präsentiren.
APOTHEKEN^YESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 59
Für die Errichtung von neuen Apotheken gibt es genaue Bauvor-
schriften, z. B. gewölbter, feuersicherer Keller mit eiserner oder eisenbeschla-
gener Thüi'e, im Laboratorium ein Gas- oder Darapfabzug, welcher mit keinem
für den Haushalt bestimmten Kamin in Verbindung stehen darf, etc. Zur
Einhaltung der Vorschriften findet eine Begehung darch die Baucommission
statt. Ferner durch eine Commission von Seite der Sanitätsbehörde. Ihr
liegt ein gedrucktes Formular vor, welches sehr zahlreiche Punkte enthält
und als Protokoll ausgefüllt wird. Dasselbe fordert separirte Stosskammer,
separirten Giitkeller, luftige Bodenräumlichkeiten, Abstand der Begale von der
Wand, Aufzählung aller Utensilien mit Stückanzahl etc. Auch wird die Prüfung
einiger galenischer und chemischer Präparate, der specifischen Gewichte und
Drogen vorgenommen. Erst auf Grundlage der Berichte beider Commissionen,
eventuell bei Beanstandungen nach einer neuerlichen Commissionsbegehung,
ertheilt die Sanitätsbehörde die Concession zur Inbetriebsetzung der Apotheke,
was von der Stunde des Herablangens der schriftlichen Mittheilung an geschieht.
In Ortschaften, wo mehrere Apotheken bestehen, kann die zeitweilige Schlies-
sung eines Theiles der Apotheken an Sonn- und Feiertagen bewilligt werden.
Aerztliche Eecepte dürfen ohne neue Verordnung repetirt werden, wenn 1. der
Ai'zt nicht ausdrücklich durch Beifügung der Worte „ne repetatur" die Wieder-
holung verbietet; 2. wenn die Arznei, zum innerlichen Gebrauch bestimmt,
keine Stoffe enthält, die in Tabelle A und B aufgeführt sind, oder diese nur
in solchen Mengen, welche die Maximaldosen (Tab. C) nicht erreichen.
Arzneien zum äusserlichen Gebrauch unterliegen dieser Beschränkung nicht;
Auflösungen von Atropin, Cocain und Morphium zu subcutanen Injectionen,
sowie Ordinationen von Chloroform, Chloralhydrat und Digitalis-Präparaten
dürfen unter keinen Umständen ohne ärztliche Bewilligung repetirt werden.
Diese Einschränkungen finden nicht Anwendung, sofern der Arzt auf dem
Recepte ausdrücklich die Repetition gestattet.
Revision. Die Reihenfolge der Visitationen ist so einzurichten, dass in
der Regel jede Apotheke wenigstens alle 6 Jahre einmal visitirt wird. Visi-
tationen können jederzeit ohne vorherige Anzeige angeordnet werden. Die
Revisions-Commissionen bestehen in der Regel aus Amtsärzten und einem
chemischen oder pharmac.eutischen Experten. In den einzelnen Cantonen sind
eigene Vorschriften über die Visitation in Geltung oder in den betreffenden
Medicinalordnungen enthalten. Geschehen seitens der Gehilfen strafbare
Fehler und Vergehen, so sind die Gehilfen auch persönlich dafür haftbar.
Frankreieli. In Frankreich geniessen die approbirten Apotheker das Recht
der freien Niederlassung. Die diesbezüglichen Bestimmungen enthält das Beeret
vom 25. Juli 1885. Es werden danach 2 Classen von Apothekern ausgebildet :
Pharmacien 1. und Pharmacien 2. Classe. Um Apotheker 1. Classe zu werden
müssen die Candidaten das Baccalaureat (Maturum) haben, was für Apotheker
2. Classe nicht gefordert wird. Hierauf folgt eine 3-jährige Lehrzeit und eine
Gehilfenprüfung. Das Universitätsstudium ist auf 3 Jahre festgesetzt, worauf
die Schlusspriifung erfolgt. Die Apotheker 1. Classe haben das Recht sich
überall im ganzen Lande niederzulassen, jene 2. Classe nur in der Provinz
u. zw. nur im Bezirke derjenigen Pharmacieschule, von der sie approbirt
wurden. Diese Bestimmung wird jedoch nicht sehr strenge eingehalten. Das
Diplom wird erst nach zurückgelegtem 25, Lebensjahr (nach erreichter Mün-
digkeit) ausgefolgt. Durch den Gesetzentwurf vom Jahre 1894 werden bezügl.
der Ausübung des Apothekergewerbes neue Bestimmungen getroffen, durch
welche die Apotheker 2. Classe in Hinkunft aufhören und nur mehr Diplome
als Apotheker 1. Classe verliehen werden sollen.
Die Errichtung der Apotheken ist unbeschränkt und an keinerlei
besondere Bestimmungen gebunden. Eine Apotheke kann nur ein diplomirter
Apotheker besitzen und verwalten. Der Apotheker trägt selbst die Ver-
60 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
antwortung für alles, was in der Apotheke abgegeben wird. Bei Krankheit
oder längerer Abwesenheit darf der Apotheker einen Verwalter (Gerant)
anmelden, der die Prüfung bestanden hat (pharmacien regu); dieser trägt
dann die Verantwortung. Witwen oder sonstige Erben haben das Recht die
Apotheke von einem diplomirten Pharmaceuten verwalten zu lassen, jedoch nur
für 1 Jahr; die Apotheke, welche nach dieser Frist noch nicht veräussert ist,
wird in öffentlicher Auction versteigert. — Die Revision der Apotheken erfolgt
jährlich durch eigens dazu ernannte Apothekeninspectoren, In Paris und
jenen Provinzstädten, welche Pharmacieschulen besitzen, werden dieselben aus
dem Lehrkörper dieser Anstalten entnommen, in den übrigen Provinzorten
werden sie den hygienischen Commissionen entnommen u. zw. 2 Pharma-
ceuten und 1 Mediciner, denen 1 Polizeibeamter beigegeben ist. Diese
Bestimmungen werden durch das neue Apothekergesetz theilweise abgeändert.
Für jedes Departement wird nach demselben ein Pharmacie-Inspector ernannt;
derselbe muss Apothekenbesitzer gewesen sein; die Inspectoren haben ihr
ganzes Inspections-Departement zu visitiren. Durch ein noch zu publicirendes
Reglement werden die Attribute dieser Inspection testgesetzt werden.
Eine amtliche Arzneitaxe gibt es in Frankreich nicht. Die in Kraft
befindliche Pharmacopoe ist der Codex medicamentarius.
Holland. Die approbirten Apotheker haben das Recht der freien Nieder-
lassung. Auch Nicht-Apotheker können im Besitze einer Apotheke sein,
müssen dieselbe jedoch durch einen diplomirten Apotheker verwalten lassen.
Trotzdem sind die Apotheken in den Städten mehr angehäuft als auf
dem Lande, weil es den Aerzten erlaubt ist, dort, wo keine Apotheke besteht,
Arzneimittel zu dispensiren und der Arzt dieses Recht auch dann behält,
wenn im selben Orte eine öffentliche Apotheke von einem Apotheker er-
richtet wird.
Revision. Die Beaufsichtigung der Apotheken ist den Medicinalcollegien
(Geneeskundige Raden) überlassen. Es bestehen 7 derartige CoUegien, welche
gewöhnlich aus 6 Medicinern und 4 Apothekern unter dem Vorsitz des Inspec-
tors zusammengesetzt sind. Der Inspector ist durch das Gesetz verpflichtet,
das Collegium wenigstens zweimal im Jahre zusammenzurufen. In den Sitzun-
gen kommen neben den Besprechungen der hygienischeil Verhältnisse in dem
Bezirke des Collegiums, den Massnahmen des Inspectors, Anträgen des Mini-
steriums, auch die Apothekenangelegenheiten zur Sprache. Aus den Mitglie-
dern und stellvertretenden Mitgliedern werden vom Inspector Commissionen
von je 2 Personen (einem Arzt und einem Apotheker) zusammengestellt, welche
eine Anzahl Apotheken im Bezirke zu revidiren haben. Die Revision erstrekt
sich natürlich auch auf die Apotheken der selbstdispensirenden Aerzte, und
kehrt für jede Apotheke mindestens jedes 2, oder 3. Jahr wieder. Die
Controle hat aber keine grosse Bedeutung. Die alljährliche Visitation besteht
nämlich meistens nur in einem momentanem Herumsehen, nicht aber in einer
tüchtigen Revision, Prüfung und Gehaltsbestimmung einiger Arzneien. Der
Besuch dauert einige Minuten. Muss eine Re- Visitation stattfinden, so geschieht
diese von zwei Apothekern und einem Arzte, Mitgliedern des Sanitätsrathes
jener Provinz, wo der Apotheker wohnt.
Eine amtliche Arzneitaxe besteht nicht.
Belgien. Die Ausübung der Pharmacie ist den approbirten Apothekern
freigegeben. Eine amtliche Arzneitaxe besteht nicht. Die Revision der
Apotheken erfolgt durch eigene Apotheken-Inspectoren, welche mit dem
Erlasse vom 11. Dec. 1893 creirt wurden und welchen es obliegt, Apotheken
und alle diejenigen Locale, in welchen Arzneien und Drogen verkauft werden,
zu inspiciren, die Einhaltung der gegebenen Gesetze und Verordnungen zu
controliren, die Verfälschungen von Arzneien zu verhüten, den Handel und
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 61
Verkauf nur guter Arzneien und Drogen zu sichern und den Handel mit
Geheimmitteln zu überwachen. Sie sind zur Beschlagnahme schlechter, ver-
dorbener oder nicht vorschriftsmässig hergestellter Präparate, wie auch zur
Entnahme von Proben verdächtiger berechtigt und ihre Anzeigen haben
insolange volle Bew^eiskraft, als sie nicht durch Gegenbeweise entkräftet sind.
England. Der Handel mit Arzneiwaaren und die Anfertigung von
Arzneimitteln ist vollständig frei.
Es gibt für die Apotheken weder Limitation (numerus clausus) noch
eine Revision. Die Pharmacie ist frei. Das einzige, was man von einem
Apotheker verlangt, wenn er Gifte verkaufen oder giftige Stoffe enthaltende
Arzneien zubereiten will, ist, dass er „registered pharmacist" oder „registered
chemist und druggist" sein muss, was er nur auf Grund eines vor der
„Pharmaceutical society" gemachten Examens wird.
Arzneimittel, die keine Gifte enthalten, kann Jeder machen und ver-
kaufen und thatsächlich gibt es auch zahllose Geschäfte, die sich von den
eigentlichen englischen Apotheken fast durch nichts unterscheiden, alle mög-
lichen Recepte anfertigen und sogar die Aufschrift „prescriptions dispensed"
tragen, aber nicht von Apothekern, sondern von ungeprüften Leuten geführt
werden, die sich „druggist" nennen. Auch die Aerzte dispensiren selbst
Arzneien, wofür sich die Apotheker wieder durch ärztliche Curpfuscherei
(„prescribing") revanchiren. Der „Pharmaceutical chemist" und der „chemist
and druggist" haben so ziemlich dieselben Rechte, nur ist ersterer von den
Jurydiensten befreit und rechnet die Arzneien gewöhnlich theurer.
Zur Erlangung der Titel registered „pharmaceutical chemist" und
„chemist and druggist" sind seit 1868 bestimmte Studien, ein „minor examen"
für letztere und ein „major examen" für erstere vorgeschrieben. Von der
Zeit vor 1868 her gibt es auch noch ungeprüfte Apotheker. Die Prüfungen
büssen dadurch an Werth ein, dass Jedermann (ohne Examen) eine Apotheke
besitzen kann, wenn er sich einen geprüften Pharmaceuten hält.
In Schweden bestehen Apotheken, Filialapotheken und Medicamenten-
Depots. Die Apotheken sind sämmtlich privilegirt und zwar gibt es Real-
und persönliche Privilegien, welche jedoch jetzt durch ein eigenes Ver-
fahren in reine Personalrechte umgewandelt werden. Der Unterschied zwischen
Filialen und Medicamenten-Depots, von denen die der ersteren Kategorie alle
älteren Datums sind, vielfach auch nebst den Stammapotheken von dem Amor-
tisirungsfond eingelöst werden, ist der, dass die Filialen als den Apotheken
zugehörig und im Privilegium inbegriffen zu betrachten sind und nur durch
allerhöchste Verfügung in selbständige Apotheken verwandelt werden können,
in welchem Falle dieselben mitunter einen Theil der Amortisirung zu tragen
haben. Die Medicamenten-Depots dagegen, die namentlich in den nördlichsten
Provinzen bestehen und überwiegend aus neuerer Zeit stammen, werden nur
als Uebergang zu selbständigen Apotheken errichtet und nach der Con-
currenz-Ausschreibung Apothekenbesitzern für bestimmte Zeit (gewöhnlich
fünf Jahre) zugetheilt, um nach dieser Zeit, falls es angebracht erscheint, in
selbständige Apotheken verwandelt zu werden.
Die Privilegien werden für alle nach 1830 errichteten Apotheken nur
als rein persönliche ertheilt, ebenso für die von dem älteren Amortisirungs-
fond von 1873 eingelösten 94 Ap. und die von dem neueren Amortisirungs-
fond von 1893 eingelösten 13 Apotheken. Niemals wird — wie dies mehr-
mals im Gnadenwege angestrebt wurde — das Recht zum Weiterbetriebe der
Apotheke zu Gunsten der Witwe oder Waisen bewilligt.
Als verkäufliche Apotheken bestehen jetzt noch 12 Privilegien. Mit
dem Jahre 1920, in welchem die Amortisirung vollendet ist, werden auch
diese, und zwar ohne jede Entschädigung, in persönliche Apotheken ver^vandelt.
62 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
Zur Errichtung neuer Apotheken geben im Allgemeinen die Behörden,
civile oder communale — (vielfach auch Privatleute) des betreffenden Platzes
den Anstoss durch Einreichung an die Medicinalverwaltung. (In seltenen
Fällen ^Yird wohl auch von der betreffenden Commune einer neuen Apotheke
ein „Miethsbeitrag" zugesichert, jedoch nur für die ersten fünf Jahre). Von
der Medicinal-Verwaltung wird, nachdem Aeusserungen der Aerzte, der Bezirks-
uud Provinz-Behörden und der nächsten ansässigen Apotheker eingefordert
sind, der Vorschlag zur Neuerrichtung an die Regierung eingereicht, die zu-
stimmenden Falles die Medicinal-Verwaltung zu der Concessions-Ausschrei-
buug ermächtigt, wobei auch die näheren Bestimmungen (über Zeit der Er-
öffnung, Beitragshöhe zum Pensionsfond u. s. f.), angegeben werden.
Als erste Bedingung für eine Neuerrichtung gilt, dass auf dem betreffenden
Platze ein Arzt ansässig ist und zwar muss eine etatsmässige Aerztestelle
daselbst eingerichtet sein — womit die Existenzfähigkeit einer neuen Apo-
theke nach Möglichkeit gesichert erscheint. Berücksichtigung finden weiter:
Entfernung von der nächsten Apotheke und eventuelle Schädigung derselben,
Einwohnerzahl, Berechnung des Kundenkreises u. s. f.
Revision. Revidirt werden die Apotheken in Schweden 1. durch jähr-
liche Visitationen, 2. durch in unbestimmten Zwischenräumen stattfin-
dende Inspectionen und 3. durch die bei jeder Neuerrichtung sowie Besitz-
wechsel erfolgenden Besichtigungen.
Die ersteren werden in Stockholm von einem von der Medicinal-Ver-
waltung ernannten Visitator (jetzt der Professor der Chemie an dem Pharma-
ceutischen Institute), in der Provinz von dem ersten Provincial-Physikus oder
Arzt (Schweden ist der adm.inistrativen Landeseintheilung entsprechend in 24
erste Provincialärzte-Districte getheilt) unter Zuziehung des Stadt- oder Bezirks-
arztes vorgenommen. Diese Visitationen werden im Sommer und gleichzeitig
mit der Inspection der Krankenhäuser, des allgemeinen Gesundheitswesens etc.
vorgenommen, — Die ausserordentlichen Visitationen, „Inspectionen" genannt,
werden von ein oder zwei dazu besonders beorderten Personen, gewöhnlich
dem Professor der Chemie, an den Universitäten oder pharm aceutischen In-
stituten ausgeführt.
Die Visitation erstreckt sich auf die Prüfung der Legitimationspapiere
(Urkunden) des Apothekenvorstandes und des Personales, auf die Einrichtung
und die Räume der Apotheke, die Geräthe und Utensilien, die Beschaffenheit
der Arzneimittel etc. Ueber das Ergebnis wird ein Protokoll aufgenommen.
Auch werden bei den Visitationen bisweilen nach Angabe der Medicinal-
Verwaltung einige chemische sowie galenische Präparate zur besonderen ver-
gleichenden Prüfung aus sämmtlichen Apotheken entgegengenommen und zur
Medicinal-Verwaltung eingesandt.
Norwegen, Die Concessionen zur Führung von Apotheken sind theils
verkäufliche (Realprivilegien), theils persönliche. Neu errichtete Apotheken
mit persönlicher Concession dürfen gemäss einer kgl. Resolution vom Jahre 1850
nicht mehr veräussert werden und müssen sich die Inhaber derselben allen
bei Erlassung neuer Vorschriften eintretenden Aenderungen in ihrer Stellung
und ihren Gerechtsamen von vorneherein unterwerfen. Mit dem Gesetze vom
25. Februar 1860 wurde das den Apothekerwitwen früher auf die Zeit, als
sie eine zweite Ehe nicht eingingen, zugestandene Recht der Weiterführung
der Apotheken aufgehoben und auf einen durch besonderen königlichen Gna-
denact auf zehn Jahre von der Begründung, von fünf Jahren von der Ueber-
nahme des Betriebes zu bewilligenden Zeitraum eingeschränkt. Ein Apotheker,
welcher in Zukunft eine persönliche Gerechtsame erhält, muss seiner Frau
nach den für Staatsbeamte geltenden Vorschriften durch Eintritt in die all-
gemeine Pensionscassa eine Witwenpension sichern. Die Erben eines Apo-
thekers, welcher eine persönliche Gerechtsame innehatte, müssen die Apotheke
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 63
mindestens sechs Monate nach dem Tode desselben bis zum Antritte seines
Nachfolgers durch einen approbirten Provisor fortführen, dieser Zeitraum darf
aber über ein Jahr, von der Ertheilung der Concession an gerechnet, nicht
ausgedehnt werden. Der Nachfolger ist gehalten, das Inventar und die Lager-
bestände, soweit selbe im brauchbaren Zustande sind und über den angemes-
senen Bedarf nicht hinausgehen, zu erwerben, und wenn eine Einigung über
den Preis sowie über die Verkaufsbedingungen nicht zu Stande kommt, sich
dem Ausspruche von drei Schiedsmännern, von denen jede Partei einen, der
König oder die von diesem betraute Stelle den dritten ernennen, zu unter-
werfen. Seit dem Jahre 1891 ist Jeder, der eine persönliche Apotheken-
concession erhält, verpflichtet, sich darin zu schicken, wenn seine Concession
in Folge einer gesetzlichen Aenderung des Apothekenwesens verfallen sollte,
wobei Inventar und Vorräthe unter gewissen Bedingungen übernommen werden
und ihm eine Anstellung als Apothekenleiter vorbehalten bleibt, ferner mit
Schluss eines jeden Jahres der Medicinalbehörde über den Umsatz im ver-
flossenen Jahre einen Auszug aus den Ptechnungen vorzulegen.
Die Verwaltung des Apothekenwesens liegt in den Händen eines
Medicinaldirectors, der Arzt ist. Die Apotheker haben in der Administration
keinen Vertreter aus ihrer eigenen Mitte.
Die Arzneitaxe wird vom Könige, beziehungsweise dem Medicinaldirector
festgestellt und alljährlich revidirt. Durchschnittlich sind die Arzneipreise
im Verhältnisse niedriger als in anderen Staaten.
Die Initiative zur Errichtung neuer Apotheken liegt in den
Händen der Regierung. Bestimmte Ptegeln dafür existiren nicht. Unter den
Bewerbern sucht die Regierung die tüchtigsten oder ältesten aus, oder viel-
mehr drei, von welchen der König den einen ernennt. Dies gilt jedoch nur
von den persönlichen Concessionen; mit den realprivilegirten Apothekern hat
der König nichts zu thun; diese werden von der Regierung autorisirt.
Revision. Durch ein Gesetz vom Jahre 1672 ist bestimmt, dass
die Physici (Stadt- oder Kreisphysici) die Apotheken einmal jährlich visitiren
sollen. Diese Visitation ist jedoch nur ein formeller Act, da diesen Aerzten
die nöthigen Vorbedingungen fehlen, um eine Apotheke ordentlich revidiren
zu können. Im Jahre 18'94 wurde dem Medicinalrathe ein examinirter Apo-
theker beigegeben, welcher die Revision der Apotheken besorgen soll und
auch als Revisor der öffentlichen Arzneirechnungen fungirt.
Die Revision erstreckt sich auf die gewöhnlichen Erfordernisse. Von
dem Ausfall derselben wird ein Protokoll aufgenommen.
Dänemark hat mit einer Bevölkerung von ca. 2 Millionen Einwohnern
166 Apotheken. Diese sind in Beziehung auf die Concession in zwei Kate-
gorien getheilt. Alle Privilegien, welche vor dem Jahre 1842 ertheilt wurden,
werden als Realrechte betrachtet, das heisst, sie können frei verkauft werden
(an Pharmaceuten, welche das Staatsexamen gemacht haben und mindestens
25 Jahre alt sind). Alle Concessionen, welche nach 1842 ertheilt wurden,
sind persönliche und erlöschen nach dem Tode des Besitzers. Die Personal-
rechte dürfen unter keinen Umständen verkauft werden. Stirbt ein „Personal"-
Apotheker, so wird die Concession im Concurswege ausgeschrieben und
nach der Anciennität in der später zu erörternden Weise verliehen. Bis jetzt
war es den Witwen gestattet, das Privilegium nach dem Tode des Mannes
bis zum eigenen Ableben fortzuführen. Im April 1894 ist aber ein neues
Gesetz erschienen, nach welchem die Witwen die Apotheke nur eine bestimmte
kurze Zeit behalten dürfen und derjenige, welcher die Apotheke verwalten
soll, vom Justizminister bestätigt werden und mindestens 10 Jahre lang Can-
didatus pharmaciae sein muss. Fernerhin sollen alle persönlichen Apotheken
in Zukunft, wenn der Umsatz mehr als 10.000 Kronen beträgt, eine be-
64 APOTHEKEN\YESEN UND AEZNEIMITTELVEBKEHE.
stimmte Abgabe an den Staat zahlen. Diese Abgabe soll percentiscli nach
dem Umsätze berechnet werden. Jedes Jahr soll in Zukunft ein jeder Apo-
theker (sowohl des Personal- als des Realrechtes) dem Justizministerium
Rechenschaft ablegen, wie gross sein Umsatz gewesen ist im Receptur- und
im Handverkaufe. Die Abgaben, welche die Personalapotheker an den Staat
zu leisten haben, verbleiben als ein eigener Fond unter der Verwaltung des
Justizministeriums und der Minister kann nicht darüber verfügen ohne die
Bewilligung des Reichsrathes. Man hofft, dass dieser Fond in erster Linie
zur Pensionirung von Apothekerswitwen verwendet werden soll, fernerhin zur
Subventionirung kleinerer Apothekergeschäfte, welche ohne diese Hilfe nicht
bestehen können.
Das Gesetz hat folgenden Wortlaut:
„ § 1. Bei der Zulassung zur Betreibung persönlicher Apotheken, die bereits früher
als solche verliehen waren, kann dem neuen Concessionar, insoweit dazu nach der Grösse
des Umsatzes der betreffenden Apotheke Grund vorhanden zu sein scheint, die Verpflichtung
einer jährlichen Abgabe auferlegt werden. Bei weiterer Errichtung neuer persönlicher
Apotheken wird vorbehalten, entweder sofort oder später Demjenigen, welchem die Er-
laubnis zur Anlage ertheilt ist, die Entrichtung einer jährlichen Abgabe aufzuerlegen, wenn
der Umsatz der betreffenden Apotheke eine solche Höhe erreicht hat, dass dazu Grund
vorhanden ist. — § 2. Inwieweit und in welchem Betrage in den betreffenden Fällen die
in § 1 erwähnte Abgabe entrichtet werden soll, wird für jeden einzelnen Fall vorläufig vom
Justizminister bestimmt. In der Versammlung des Reichstages von 1894/95 ist dieses Gesetz
zur Revision vorzulegen, und insofern dann eine gesetzliche Taxe für die in dem vorlie-
genden Gesetze behandelte Abgabe durch ein Gesetz festgestellt werden wird, werden die
Apotheker, für welche die entsprechende Abgabe in Uebereinstimmung mit diesem Para-
graphen vorläufig vom Justizminister bestimmt wird, dieser Taxe unterworfen werden. —
§ .3 Jeder, dem die Zulassung zur Betreibung einer Apotheke ertheilt ist, ist verpflichtet,
autorisirte Rechnungsbücher so zu führen, dass daraus die Höhe des Umsatzes klar her-
vorgeht und soll jährlich Ende Februar an das Justizministerium eine auf Treu und
Glauben abgefasste Angabe der Bruttoeinnahme im abgelaufenen Kalenderjahre einsenden.
Diese Declaration hat nach einem vom Justizministerium ausgefertigten Schema zu erfolgen.
Die Einsendung der Declaration kann durch Geldbussen, welche der Justizminister fest-
setzt, erzwungen werden. Die Apotheker, denen die Entrichtung einer Abgabe nach § 1
des Gesetzes obliegt, sind verpflichtet, der Obrigkeit Einsicht der von ihnen geführten
Rechnungsbücher zu gestatten. Die Unterlassung der Führung von Handelsbüchern und
die unordentliche Führung dieser, ebenso unrichtige Angabe der Einkünfte und die Weige-
rung, der Obrigkeit die Rechnungsbücher vorzulegen, kann die Zurücknahme der Zu-
lassung zur Betreibung der Apotheke nach dem Ermessen des Justizministers nach sich
ziehen. — § 4. Die in § 1 erwähnte Abgabe bildet unter Verwaltung des Justizministeriums
einen eigenen Fonds, über welchen durch Finanzgesetz Rechnung abgelegt wird und über
den nicht ohne Genehmigung des Reichstages verfügt werden darf."
Die Errichtung der Apotheken geschieht in folgender Weise:
Das Sanitätscollegium schlägt dem Justizministerium vor, wo eine Apotheke
errichtet werden soll und das Ministerium trifft dann die endgiltige Bestim-
mung darüber. Die Bewerber müssen dann binnen sechs Wochen ihre Ge-
suche beim Sanitätscollegium einreichen und diese Autorität schlägt drei
Candidaten vor. Von diesen drei Candidaten wählt das Ministerium Einen
zum Apotheker und der König bestätigt die Wahl endgiltig. Ein jeder Apo-
theker in der Hauptstadt Kopenhagen muss beim Staatsexamen den ersten
Grad erhalten haben.
Die Revision der Apotheken war früher so eingerichtet, dass die
Revision einmal jährlich geschehen sollte und zwar in der Hauptstadt durch
den Präses des königlichen Sanitätscollegiums, den Stadtarzt in Kopenhagen
und noch ein Mitglied des Sanitätscollegiums. Ausserhalb der Hauptstadt
wurde die Revision ebenfalls alljährlich durch den Physikus, den Districtsarzt
und den Polizeimeister ausgeführt. In der Regel wurde die Revision dem
Apotheker einige Tage vorher angemeldet. Diese Verhältnisse sind jetzt ge-
ändert. Im Jahre 1892 hat der Justizminister dem Reichstage ein Gesetz
vorgelegt, wodurch das königl. Sanitätscollegium aufgehoben werden und statt
dessen ein Medicinaldirector mit Beihilfe von drei Aerzten und zwei pharma-
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 65
ceutischen Mitgliedern die oberste Leitung des Sanitätswesens erhalten sollte.
Ein Visitator sollte alle Apotheken allein revidiren. Der Visitator sollte ein
examinirter Pharmaceut sein. Das Gesetz wurde nicht angenommen, ein Vi-
sitator (pharmaceutischer Candidat) ist aber vorläufig angestellt und er unter-
sucht nun in Verbindung mit dem genannten Arzte die Apotheken. Nach
dem Plane soll jede Apotheke jedes dritte Jahr untersucht werden. Der
Visitator kommt unangemeldet und die Revision dauert ein bis zwei Tage.
Chemikalien und galenische Präparate, welche genauer untersucht werden
sollen, nimmt der Visitator mit sich und untersucht sie im eigenen Labora-
torium, während er dem Apotheher für eventuelle Reclamationen ein ver-
siegeltes Packet mit einem ähnlichen Quantum der zur Untersuchung mitge-
nommenen Probe zurücklässt. Ein Protokoll über die ganzen Visitationen
wird abgefasst und unterschrieben, um dem Obersten Sanitätsrathe übergeben
zu werden. Im Falle die Ptevision zeigt, dass eine Apotheke nicht zweck-
mässig eingerichtet ist, oder die Waare nicht mit den Vorschriften der Phar-
macopoe stimmt, muss die Revision der Apotheke nach kurzer Zeit wiederholt
werden.
In Riissland gibt es zwei Arten von Apotheken die aber wesent-
lich von den Apotheken in anderen Ländern abweichen, es sind dies
die gewöhnlichen privilegirten (concessionirten) Normalapotheken und
die Dorfapotheken.
Die ersteren, die sogenannten freien Apotheken werden mit Er-
laubnis des Medicinal-Departements des Ministeriums der inneren Angelegen-
heiten errichtet (Art. 238, Band XIII der Gesetzsammlung vom Jahre 1857).
Dieselben dürfen errichtet und unterhalten werden in den Residenzen und den
übrigen Städten und Orten des Reiches von Jedem, der solches wünscht, nur
unter der Bedingung, dass der Errichter oder Besitzer, oder im entgegen-
gesetzten Falle der von ihnen erwählte Verwalter den Grad eines Provisors
habe und nicht jünger als fünfundzwanzig Jahre sein darf. Eine Ausnahme
von letzterer Regel ist nur mit Erlaubnis des Ministers der inneren Ange-
legenheiten zulässig.
Der Besitzer einer freien Apotheke kann über dieselbe nach seinem
Gutdünken verfügen, kann sie verschenken, vererben, verkaufen, in Arrende
abgeben oder vernichten, er muss nur zur Zeit darüber der Medicinalbehörde
Mittheilung erstatten, damit diese ihre Maassregeln treffen kann.
x\ls Norm für die Errichtung von Residenz-Apotheken gilt eine Nummer-
zahl von 30.000 Ordinationen und eine Einwohnerzahl von 14.000 pro Apotheke
(St. Petersburg und Moskau). Für Apotheken in Gouvernementsstädten ist die
Norm auf 12.000 Ordinationen bei 7000 Einwohner pro Apotheke festgesetzt. Für
Normal-Apotheken in kleinen Orten gilt eine Entfernung von 15 Werst (ca.
1 5 Kilometer) je einer Normal- Apotheke von der anderen. Ferner gibt es sogenannte
Dorfapotheken, d. h. solche, die kein Recht haben, Lehrlinge auszubilden,
kein Laboratorium zu besitzen brauchen und von Gehilfen im Alter von mehr
als 25 Jahren verwaltet werden können, für diese gilt eine Entfernung von
7 Werst von der nächsten Normal- oder Dorf-Apotheke.
Die sogenannten ;;Landschafts-Apotheken," w^elche von den Land-
schaftsverwaltungen (den sogenannten „Semstwo") angelegt werden, sind Spi-
talsapotheken, die an den Landschaftshospitälern errichtet werden und unent-
geltlich Arzneien abgeben. Aus all dem geht hervor, dass die Apothekencon-
cessionen eigentlich nur dem Namen nach bestehen, in Wirklichkeit ist der
Apothekenbetrieb sehr wenig beschränkt.
Wer eine Apotheke zu errichten wünscht, reicht darüber eine Bittschrift
ein: Für St. Petersburg im Physikat (jetzt Residenz-Medicinal Verwaltung ge-
nannt), in Moskau im dortigen Medicinalcomptoir (jetzt Medicinalverwaltung
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 5
66 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
genannt), und in den übrigen Gouvernements in den örtlichen Gouvernements-
Medicinalverwaltungen unter Beilage eines Zeugnisses über den pharmaceu-
tischen Grad. Die örtliche Medicinalbehörde wendet sich nach Berathung
mit der Gouvernements-Beliörde mit ihrem Beschluss an das Medicinal-Depar-
tement des Ministeriums der inneren Angelegenheiten, nachdem sie Erkun-
digungen eingezogen über: 1. Die wirkliche Nothwendigkeit der Errichtung
einer neuen Apotheke im Verhältnisse zur Bevölkerungszahl und zur Zahl
der am Orte bereits befindlichen Apotheken und 2. wird von den am Orte
ansässigen Apothekern ein schriftliches Einverständnis abverlangt, ob eine
neue Apotheke zulässig und, wenn nicht, mit Angabe des Grundes, warum
selbe nicht zulässig ist. Die Errichtung einer neuen Apotheke wird auch
ohne Einverständnis des örtlichen Apothekers erlaubt, wenn der Minister des
Innern die Errichtung für nothwendig und die Gegengründe des Apothekers
für nicht wichtig hält.
Nachdem die Medicinalbehörde den Consens des Departements erhalten,
gibt sie die Erlaubnis zur Errichtung, die im Laufe eines Jahres erfolgen
muss, widrigenfalls der Bittsteller das Recht zur Eröffnung der Apotheke ver-
liert. Die Apotheke darf nicht früher eröffnet werden, als bis sie von der
Medicinalbehörde auf Einrichtung und Materialien etc. revidirt worden ist.
Dieselbe Ordnung wird beobachtet beim Umzug einer Apotheke von
einer Stadt in die andere oder von einem Haus ins andere an ein und dem-
selben Orte, nur mit dem Unterschiede, dass in letzterem Falle nur der Con-
sens der örtlichen Behörde nachzusuchen ist.
Bei Vertheilung der Apotheken auf einen Ort, wird darauf gesehen, dass
sie in gehöriger Entfernung von einander sich befinden.
Wer in einer Stadt schon eine Apotheke besitzt, kann nicht in der-
selben Stadt eine zweite Apotheke errichten. Ausnahmen sind nur mit Er-
laubnis des Ministers des Innern zulässig. Wenn an einem Orte sich zwei
oder mehrere Apotheken befinden und eine von ihnen einen so geringen
Umsatz macht, dass die Regiekosten nicht bestritten werden können, so
können die übrigen Apotheker solche Apotheken mit Erlaubnis der Medicinal-
behörde ankaufen und vernichten.
Ueber Einrichtung und Betrieb der Apotheken bestehen fol-
gende Vorschriften:
Jede Apotheke muss derart eingerichtet sein (Art. 245, Bd. XIII), dass sie die nö-
thigen Räumlichkeiten sowohl zur Aufbewahrung als auch zur Anfertigung und zum Ablass
der fertigen Arzneien besitzt. Deswegen muss jede Apotheke haben:
1. Ein Recepturzimmer (Officin); 2. eine Materialkammer, die derart eingerichtet sein
muss, dass weder Feuchtigkeit noch allzu grosse Hitze die in ihr aufbewahrten Medicamente
■verändern können; 3. ein Coctorium und ein Laboratorium, zu welchen Zwecken übrigens
auch ein Raum genügen kann; 4. einen Eiskeller; 5. einen trockenen Keller; 6. eine
Trockenkammer für Kräuter, nebst einem trockenen Raum zur Aufbewahrung von Kräutern,
Blüthen, Rinden etc.
Eine Apotheke muss haben: 1. Eine genügende Quantität von frischen und guten
Medicamenten und Materialien, sowohl solche, die in der Pharmacopoe aufgenommen, als
auch solche, die oft wegen ihrer Güte verschrieben werden. 2. Die zur Aufbewahrung und
zum Ablass der Arzneien nöthigen Gefässe. 3. Waagen, Gewichte, pharmaceutisch-che-
mische und physikalische Instrumente und Apparate. 4 Eine Apothekenverordnung, Arznei-
taxe, Aerzteverzeichniss, russische Pharmacopoe, russische Militärpharmacopoe, Pharmacopoea
Germanica und einige bessere Specialwerke über Chemie und Physik. 5. Schnurbücher:
a) zum Einschreiben der Recepte, h) Handverkaufsbuch, c) Giftbuch. 6. Sammlung ge-
trockneter, in Russland wildwachsender Medicinalpflanzen (Herbarium siccum pharma-
ceuticum).
Gifte müssen sowohl in der Apotheke als auch in den übrigen Räumen in beson-
deren Schränken und unter Verschluss aufbewahrt werden. Zum Abwägen derselben dienen
besondere Waagschalen.
Ausser dem Verwalter sind bei der Apotheke noch Gehilfen und Lehrlinge angestellt;
ihre Zahl muss dem Umsätze der Apotheke entsprechen.
Das Engagement und die Entlassung von Conditionirenden hängt ab vom Besitzer
oder Verwalter der Apotheke unter der Bedingung, dass über jeden solchen Fall der ort-
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 67
liehen Medicinalbehörde Mitfheilung gemacht und am Schlüsse des Jahres eine Jahres-
abrechnung über Ein- und Ausgetretene vorgelegt werde. — Die Bereitung der Arzneien
liegt dem Besitzer der Apotheke oder dem Verwalter ob, welcher auch beim Ablass der
Arznei anwesend sein muss; im Falle ihrer Abwesenheit werden sie von Apothekergehilfen
vertreten. Zur Nachtzeit muss wenigstens ein Pharmaceut vorhanden sein.
Arzneien werden verabfolgt: 1. Nach ärztlichen Verordnungen: 2. nach Copien von
Recepten: 3. nach Signaturen und nach mündlichen und schriftlichen Forderungen von
Privatpersonen.
Die ärztlichen Verordnungen müssen zu jeder Zeit ohne Aufenthalt und der Reihen-
folge nach befriedigt werden. Statim- (cito-) Recepte werden ausser der Reihe (sofort) ver-
abfolgt. Die Recepte müssen täglich in ein besonderes Buch eingetragen werden und
wenigstens drei Jahre aufbewahrt werden, die Receptbücher zehn Jahre.
Die Arznei muss gut verkorkt, verbunden und versiegelt sein. Die beigegebene
Signatur muss die Benennung der Apotheke, Namen des Besitzers, des ordinirenden Arztes,
die Ordination, Preis, Datum und auf der Rückseite die Copie des Receptes tragen. Aeusser-
liche Arzneien erhalten Signaturen von gelber Farbe. Der Taxpreis der Arznei darf nicht
überschritten werden.
Revision. Die Medicinalbehörden haben nach den Bestimmungen des Eegle-
ments vom Jahre 1864 die Controle über die Apotheken zu führen. Die Revisionen
werden mindestens einmal im Jahre plötzlich vollführt, wobei das Hauptaugen-
merk auf den Ablass und die Güte der Arzneien gerichtet wird, worüber ein
Protokoll aufgesetzt wird, welches dem Medicinaldepartement zu übermitteln
ist. Die Revision wird ausschliesslich von Aerzten vorgenommen, nur in
St. Petersburg wird derselben ein Deputirter der Apothekenbesitzer beigezogen.
Die Kosten der Revision trägt die Staatscasse.
Arzneitaxe. Dieselbe wird nur zeitweilig ausgeben, die letzte 1892.
Die Berechnung der Arzneistoffe ist in derselben nach einem neuen Prin-
cipe durchgeführt worden und zwar nach dem der progressiven Steigerung
bei verringerter Menge. Es werden jetzt aufgeschlagen: auf den Pfundpreis
(pond. med.) — 50, auf ein halbes Pfund — 75, auf eine Unze — 100, auf
den Drachmenpreis — 125, auf den Granpreis — 200 pCt wobei vom neuesten
Preis-Courant der nächsten Gross-Drogisten als Grundlage ausgegangen wird.
Die Taxe berücksichtigt weiter nicht nur die in der Pharmakopoe aufgenom-
menen, sondern wohl so ziemlich alle anderen, in der Medicin gebräuchlichen
Mittel ; es finden sich im Ganzen mit Einschluss der gebräuchlichsten Synonyme
über 3100 Preisansätze in der Taxe vor. Die in der Landespharmakopoe nicht
berücksichtigten Arzneistöffe sind durch besonderen Druck kenntlich gemacht
worden; verpflichtet sie auf Lager zu haben ist der Apotheker natürlich nicht.
Die in der Taxe nicht aufgenommenen galenischen Präparate sind analog den
aufgenommenen galenischen Präparate zu berechnen. Bei nicht aufgeführtem
Preise für die grössere Gewichtseinheit wird der Granpreis mit 40, der
Drachmenpreis mit 20, der Unzenpreis mit 10 multiplicirt. Im Falle eines
Preisnachlasses seitens des Apothekers sind beide Preise, der nach der Taxe
und der ermässigte auf der Signatur oder Copie zu vermerken. Bei Dispen-
sirung vergrösserter oder verringerter Arzneimengen, als wie vom Arzt ordinirt
wurden, ist der Preis für die Arzneistoffe sowie für die Anfertigung und den
Ablass entsprechend umzurechnen. Von einiger praktischen Bedeutung ist die
Bestimmung, wonach der Apotheker, wenn er ein galenisches Präparat von
anderer Zusammensetzung, als wie in dem der Taxe beigegebenem Manual
aufgenommenen ablässt, er die Vorschrift auf der Signatur genau anzugeben
oder auf die entsprechende Pharmakopoe hinzuweisen hat. Das der Taxe
beigegebene Manual enthält nicht ganz 500 Vorschriften solcher galenischer
Präparate, die in der Pharmac. Ross. ed. IV nicht aufgenommen sind.
Italien. In Italien herrschen zur Zeit noch ziemlich verworrene Bestim-
mungen über die Ausübung des Apothekergewerbes. Während in den meisten
Provinzen des geeinigten Königreiches die Pharmacie seit jeher ein freies
Gewerbe bildete, ist sie in anderen an eine Concession gebunden, über welche
ebenfalls ganz verschiedene Bestimmungen existiren, in manchen Provinzen
68 APOTHEKENWESEN UND AEZNEIMITTELVERKEHR.
(so namentlich in den früheren österr, Provinzen Venezien und Lombardei)
existiren sogar noch Realgewerbe. Mittelst Gesetz vom Jahre 1888 wurde
nun in diese verschiedenartigen Verhältnisse insoferne Ordnung gebracht, als
damit die allgemeine Einführung der Niederlassungsfreiheit decretirt wurde.
Ursprünglich sollte dieselbe bereits 1893 in Kraft treten, wird aber nun durch
ein neues vom italienischen Parlamente genehmigtes Gesetz bis zum Jahre
1906 verschoben. Dieser Aufschub war nothwendig geworden, weil einmal
nur schwierig die Entschädigung zu ermitteln war, die den Inhabern von
Privilegien und gewissen Concessionen nach dem genannten Gesetz zustand,
weil weiterhin aber auch die financielle Lage des italienischen Staates eine
solche Entschädigung unausführbar machte. Die betreffenden Eechte werden
nun ohne jede Entschädigung erlöschen, Das betreffende Gesetz lautet:
1. Alle im Gesetz vom 22. December 1888, § 68, erwähnten Privilegien und gegen
Abgaben an den Staat erworbenen Concessionen gelten mit dem 81. December 1906 als
aufgelioben. Mit diesem Anfschnb erlischt jedes Recht auf die in dem Gesetz bestimmte
Entschädigung. 2. In denjenigen Orten, in welchen bis zu jenem Zeitpunkt privilegirte
oder gegen Abgaben an den Staat concessionirte Apotheken bestehen, können inzwischen
neue Apotheken eröffnet werden gegen Zahlung einer Entschädidungssumme zu Gunsten
der geschädigten Apotheken. 3. Können sich die Parteien über die zu zahlende Entschä-
digung nicht einigen, so wird diese von einer aus richterlichen, Verwaltungs- und Sanitäts-
beamten zusammengesetzten Provinzial-Commission festgestellt. Die Commission kann,
während das Verfahren noch schwebt, die sofortige Eröffnung einer Apotheke verfügen,
sofern der Antragsteller eine Caution in Höhe der voraussichtlich zu zahlenden Entschä-
digungssumme hinterlegt. Die Bestimmungen dieses und der vorhergehenden Artikel finden
auch Anwendung auf die seit Erlass des Gesetzes vom 22. December 1888 bereits eröffneten
Apotheken. 4. Gegen die Entscheidung der Commission ist Berufung zulässig. Wird die
Berufung anerkannt, so wird die Sache zur erneuten Entscheidung einer benachbarten
Provinzial-Commission überwiesen.
Zur Ausübung der Pharmacie sind aber jetzt sehr hohe Studien
(Gymnasial-Matura und 3 Jahre Universität) vorgeschrieben, so dass nicht
genügend Nachwuchs vorhanden ist und viele Apotheken auf dem Lande eingehen.
Man hat sich inzwischen damit geholfen, ausser den ordnungsmässig diplo-
mirten Apothekern noch alte, unstudirte Pharmaceuten („vecchii practicanti",
d. i. „alte Praktikanten" genannt) zur Ausübung der Pharmacie zuzulassen
und verlangt man von den letzteren nur eine kleine Prüfung, wonach sie
Landapotheken auch selbständig führen können. Ausserdem wurden in den
kleinen Orten Gemeinde-Arzneikästen eingeführt.
Eine regelmässige Revision der Apotheken fand bisher nicht statt.
Solche wurden in der Regel nur bei Besitzwechsel oder aus besonderen
Gründen vorgenommen und zwar verfügen dieselben die Präfecten der Pro-
vinzen, zumeist auf Antrag des Provinzial-Sanitätsrathes. Die Visitation
erstreckt sich auf die Prüfung des Diploms des Apothekenvorstandes, auf den
allgemeinen Zustand der Apotheke, auf die Reinheit einiger wichtiger Arznei-
mittel und auf den Giftverkauf, über den ein besonderes Buch zu führen ist.
Ende 1892 ordnete die Regierung eine Revision der Apotheken durch Polizei-
beamte und in deren Ermangelung durch Gendarmerie an, um zu controliren,
ob überall die neue Pharmakopoe vorhanden und ob die betreffenden Apotheker
die behördliche Licenz zur Ausübung der Pharmacie besitzen. Mit vollem
Rechte waren die Apotheker über diese Art der Revision durch Gendarme
empört und beschwerten sich hierüber.
Nach einer Bestimmung der Pharmakopoe sind die sämmtlichen
Apotheken des Königreiches Italien alle 2 Jahre zu revidiren.
Seit Kurzem besteht in Italien eine amtliche, für das ganze Königreich
geltende Pharmakopoe und ebenso eine amtliche Arzneitaxe. Letztere erschien
1892 und ist wesentlich höher als andere Arzneitaxen, hat aber nur Preise
für die Arzneiwaren und eine Arbeitstaxe, während eine Taxe für Gefässe fehlt.
Spanien. In Spanien herrscht, wie in allen romanischen Ländern das
System der ■ Niederlassungsfreiheit.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 69
Die Errichtung neuer, bezw, Uebernahme bestehender Apotheken
steht jedem examinirten Apotheker frei. Er hat nur dem Alcalden (Bürger-
meister) des Ortes unter Beilage folgender Documente hievon Mittheilung zu
machen: 1. Approbations- Diplom, 2. Plan der Localitäten, 3. Liste der vorhan-
denen Arzneiwaaren, Apparate, Instrumente, Einrichtungsstücke und Utensilien.
Revision, Die Controle der Apotheken führen die „Subdelegados de
farmacia", der „Juntas provinciales y municipales" (Landes-, bezw. städt.
Sanitätsräthe), in welchen nebst dem Gouverneur und Deputirten der Provinz,
dem Bürgermeister und in Seestädten dem Hafencapitän, noch 1 Architekt,
2 Aerzte, 2 Apotheker, 1 Wundarzt und 1 Thierarzt Sitz und Stimme haben.
Einer dieser 2 Apotheker ist der „Subdelegado de farmacia" und hat den
Titel und die Zeugnisse der Apotheker zu prüfen, darüber Listen zu führen
und zu achten, dass kein Unbefugter die Pharmacie ausübe. Er besorgt die
Inspection über alle Apotheken, Droguerien, Fabriken von Gift und Arznei-
waaren etc. und hat alle neueröffneten und wiedereröffneten „Boticas" zu
visitiren, aber nur über Aufforderung der politischen Behörde und im Beisein
des Bürgermeisters und einer oder zweier Aerzte als Zeugen.
Rumänien. Die Apotheken bilden ein vom Staate concessionirtes Ge-
werbe. Die Concessionen werden vom Ministerium des Innern ertheilt. Die
Regelung des Apothekenwesens fusst auf dem Sanitätsgesetze vom
14. Juni 1894, das in der Abtheilung V über die Ausübung der Pharmacie
bestimmt.
Das Ansuchen um Errichtung neuer Apotheken kann durch die
Localbehörden, sowie auch durch Pharmaceuten gestellt werden. Das Mini-
sterium des Innern prüft die Stichhältigkeit der vorgebrachten Begründung
durch seine Organe, als da sind: der Oberste Sanitätsrath, die pharmaceutische
Commission, die Gesundheitscommissionen (Conseils d'hygiene) der Districte und
Städte, und veröffentlicht den Concurs (§ 122).
Die Zulassung zu diesem Wettbewerbe ist genau bestimmt und zwar
muss der Candidat nachweisen:
1. Den Besitz eines Diplomes als Licentiat (Magister) der Pharmacie der Bukarester
pharmaceutischen Fachschule oder eines durch vorhergegangene Admissionsprüfung aner-
kannten Diplomes einer ausländischen Fachschule. — 2. Den Besitz des rumänischen
Staatsbürgerrechts, d. h. der Candidat muss Rumäne oder in aller Form naturalisirt sein.
— 3. Ein als Licentiat abgelegtes Militärdienstjahr. — 4. Zwei Jahre Praxis als Licentiat
(Magister), worin das Militärjahr nicht inbegriffen ist. — 5. Seine ünbescholtenheit. — Nach-
weis des Vermögens wird nicht gefordert.
Der Wettbew^erb ist ein wissenschaftlicher und umfasst 4 Prüfungen:
a) Eine schriftliche aus der Pharmakognosie, wofür dem Candidaten unter
Aufsicht 3 Stunden bewilligt sind; — b) eine mündliche aus der allgemeinen
pharmaceutischen Chemie, wofür dem Candidaten 10 Minuten Ueberlegungs-
zeit und weitere 10 Minuten zur Beantwortung der Frage zugestanden wer-
den; — c) eine praktische, bestehend in der Anfertigung eines chemisch-
pharmaceutischen Präparates, in der Dauer von acht Tagen; — d) Erkennung
von Drogen. Handelt es sich um Ertheilung mehrerer Concessionen, so er-
folgt dieselbe in der Reihenfolge der Qualificationen.
Die Frist bis zur Eröffnung einer neu concessionirten Apotheke ist auf
neun Monate bemessen, nach welcher Zeit dieselbe für den Concessionär er-
lischt, wenn die Yerzöger-ung nicht durch ganz besondere, triftige Gründe
gerechtfertigt ist.
Der Concessionär muss seine Apotheke selbst eröffnen und durch zehn
Jahre persönlich leiten; erst nach dieser Frist kann er sie verkaufen, ver-
pachten, oder verwalten lassen, Ausnahmen hievon können in besonderen
Fällen von der obersten Sanitätsbehörde bewilligt werden. Der Concessionär,
der seine Apotheke verkauft, kann zu einem neuen Concurse nicht zugelassen
werden, dagegen kann der Inhaber einer Concession bei einem neuen Wett-
70 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
bewerbe mitconcurriren und falls er reussirt, sich eine bessere Station erwer-
ben. In diesem Falle verzichtet er selbstverständlichauf sein erstes Recht,
welches einem anderen Wettbewerber verliehen wird.
Hausapotheken können von Aerzten und Thierärzten in Orten, wo
keine Apotheke und die nächste mindestens 5 Kilometer weit entfernt ist,
geführt werden und ist für dieselben die gesetzliche Arzneitaxe bindend.
Revision. Die Controle über das Apothekenwesen wird vom Mini-
sterium des Innern durch den Obersten Sanitätsrath, und dessen untergeord-
nete Behörden geführt. Ausser der Pharmaceutischen Commission, welche in
Bukarest ihren Sitz hat und dem Obersten Sanitätsrathe berathend aber nicht
bestimmend zur Seite steht, fungiren in jedem Districte und in den grösseren
Städten Sanitätsrathe (Conseils d'hygiene), bestehend aus dem Präfecten, den
angestellten Aerzten des Districtes und dessen Spitälern, einem Apotheker,
dem Bezirksthierarzt, einem Architekten, und einem Ingenieur. — Die acht
grössten Städte des Landes: Bukarest, Jassy, Craiova, Ploiesci, Braila, Galatz
Focsani und Botosani haben für sich je einen Conseil d'hygiene, dieselben
bestehen aus dem Bürgermeister, einem Communalrath, allen angestelten
Communal- und Spitalsärzten, dem Stadtthierarzt, einem Apotheker, einem
Architekten und einem Ingenieur. Die Thätigkeit dieses Conseil d'hygiene
beschränkt sich auf die Controle des Sanitätswesens der betreffenden Stadt,
während die Districtssanitätsräthe die Aufsicht über das Sanitätswesen des
ganzen Districtes haben. Diese Conseils d'hygiene sind die directen vor-
gesetzten Behörden des Localsanitätswesens, mithin auch der Apotheker.
Sie beaufsichtigen den richtigen Gang der Apotheke, überwachen das Einhalten
der pharmaceutischen Gesetze, der Taxe, müssen über alle Veränderungen
im Besitze, der Leitung, des Localwechsels, über den Wechsel des Personals
ete. im Laufenden erhalten und deren Genehmigung eingeholt werden.
Sie halten regelmässig, zweimal des Jahres Apothekenrevision und haben über
Alles dem Obersten Sanitätsrathe Bericht zu erstatten und dessen Bestätigung
einzuholen. Ausserdem können und werden Apothekenrevisionen zeitweilig
gehalten von Delegirten des Obersten Sanitätsrathes (Sanitätsinspectoren),
von der Pharmaceutischen Commission etc. Alle Revisionen sind unentgeltlich.
Die Revisionen erstrecken sich wie überall auf den Zustand der Apo-
theke, die Beschaffenheit der Arzneiwaaren, den Giftverkehr, die Documente
des Apothekenverwalters etc.
Bezüglich des Personals wird die Controle sehr strenge gehandhabt.
Es können nur Rumänen oder naturalisirte Fremde Leiter einer Apotheke
sein. Fremde Magister können wohl conditioniren, doch müssen sie ihr Diplom
durch eine Admissions-Prüfung bestätigen, welche mit einer Taxe von
Frcs. 300 verbunden ist. Diese, sowie der Umstand, dass die Prüfung in
rumänischer Sprache abgelegt werden muss, die Erlandung der Naturalisation
mehrere Jahre erfordert, bilden starke Hemnisse für fremde Pharmaceuten.
Assistenten können nur mit dem Zeugnisse der Bukarester pharmaceutischen
Hochschule lungiren (§ 132). Eleven müssen womöglich Rumänen sein. Fremde
können nur in solchen Apotheken Aufnahme finden, wo schon ein oder
mehrere rumänische Eleven aufgenommen sind.
An Apotheken hat Rumänien gegenwärtig 172 definitive und 15 Filialen.
Serbien. Das Apothekenwesen in Serbien ist nach österreichischem
Muster eingerichtet. Die Apotheken bilden concessionirte Gewerbe, die sämmtlich
verkäuflich sind. Die Ausbildung erfolgt ähnlich wie in Oesterreich. Zum
Eintritt in die Pharmacie sind wie in Oesterreich 6 Gymnasialclassen er-
forderlich. Nach 3j ähriger Lehrzeit wird (gewöhnlich bei einem öster-
reichischen Apothergremium, nachdem in Serbien keine Universität existirt
und die serbischen Pharmaceuten daher angewiesen sind die österreichischen
Universitäten zu besuchen) die Tirocinalprüfung abgelegt. Der Besuch der
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 71
Universität erfolgt in Wien oder Graz. Nur die Diplome dieser beiden öster-
reichischen und der Pariser Pharmacieschule berechtigen zur Ausübung der
Pharmacie in Serbien. Statt der gegenwärtig in Oesterreich eingeführten
5jährigen Conditionszeit ist in Serbien noch die 2jährige Conditionszeit, die
auch nach erlangtem Diplom abgelegt werden kann, vorgeschrieben. Die ser-
bische Pharmakopoe datirt aus dem Jahre 18S1 und lehnt sich stark aa die
6. Ausgabe der öste]Teichischen Pharmakopoe an. Die Arzneitaxe ist ebenfalls
nach österreichischem Muster bearbeitet und ganz veraltet. Die serbischen
Apotheker bilden einen Verein, der gewöhnlich einmal im Jahre zu einer
Generalversammlung zusammentritt und die Interessen des Standes vertritt.
Die Errichtung neuer Apotheken kommt in Serbien verhältnismässig
selten vor, da die meisten Orte, wo überhaupt eine Apotheke bestehen könnte,
damit versehen sind.
Die Apotheken erleiden durch die Detaildrogisten ziemlichen Schaden.
Letztere erfreuen sich der grössten Freiheit, während der Apothekenbetrieb
auch hier in vieler Beziehung beschränkt ist. Im Jahre 1891 beschloss die
Skuptschina die Abänderung einiger Bestimmungen des § 24 des Sanitäts-
gesetzes, betreffend die Errichtung, Führung und Erblichkeit der
Apotheken. Die wichtigsten Neuerungen sind:
Eine neue Apotheke kann von hiezu qnalificirten Personen errichtet werden in
Orten, wo noch keine Apotheke besteht, wenn sie auch nur 2000 oder unter Umständen
auch weniger Einwohner zählen. Besteht eine öffentliche Apotheke bereits im Orte, so
kann eine zweite errichtet werden, wenn die Einwohnerzahl 6000 erreicht, eine dritte
kommt auf weitere 4000, jede weitere auf je 5000 Einwohner. (Diese Normalzahlen be-
deuten eine wichtige Neuerung. Früher durfte in Orten unter 4000 Einwohnern keine
Apotheke errichtet werden. Bestand eine Apotheke bereits im Orte, so war für jede Neu-
errichtung eine Einwohnerzahl von je 5000 Seelen erforderlich, so dass in Orten von
15.000 Seelen nur 3 Apotheken bewilligt werden konnten.) Bei Verleihung im öffentlichen
Concurswege sind in erster Linie die Söhne des Landes, in zweiter Linie ausländische
Serben zu berücksichtigen. In Ermangelung solcher Bewerber können auch Ausländer die
Concession erhalten. Die Concession ist übertragbar und verkäuflich, jedoch nur mit Zu-
stimmung des Ministers des Innern. Nach dem Ableben eines Apothekenbesitzers wird ein
Administrator eingesetzt, der serbischer Unterthan sein muss. Hinterlässt ein Apotheken-
besitzer keine Erben, dann muss die Apotheke binnen sechs Monaten an jenen verkauft
werden, welcher die Einwilhgung des Ministers zur käuflichen Uebernahme erhalten hat.
Hinterlässt der Apotheker eine Witwe, dann darf die Apotheke noch drei Jahre weiter-
geführt werden, hinterbleibeh minderjährige Kinder, dann darf die Führung der Apotheke
einem Administrator durch längstens fünf Jahre unter dem alten Namen ertheilt werden.
Bleiben aber grossjährige männliche oder versorgte weibliche Kinder zurück, oder tritt
dieser Fall innerhalb drei Jahren ein, dann muss die Apotheke in längstens sechs Monaten
an einen vom Minister des Innern bevollmächtigten Käufer abgegeben werden. Eine Aus-
nahme tritt nur dann ein, wenn ein Sohn des verstorbenen Besitzers sich der Pharmacie
gewidmet hat; dieser ist dann nach Erlangung des Diploms und der Qualification berechtigt,
die väterliche Apotheke im eigenen Namen weiterzuführen.
Revision. Die Apotheken Visitationen finden gewöhnlich in ziemlich
langen Zwischenräumen statt, etwa einmal in 4 — 5 Jahren; dieselben werden
von einem Staatschemiker in Gegenwart des Kreisarztes und Kreishaupt-
mannes vorgenommen und dauert so eine Visitation S — 10 Tage. Während
dieser Zeit wird Alles durchgestöbert und ausser qualitativen, werden bei
wichtigeren chemischen Präparaten auch quantitative Analysen vorgenommen.
Die Kosten der Visitation trägt der betreffende Apotheker, was ihm ver-
hältnismässig sehr hoch zu stehen kommt.
Bulgarien. Die Pharmacie bildet ein concessionirtes Gewebe. Die Be-
stimmungen über das Apothekenwesen sind im Sanitätsgesetz vom Jahre 1889,
Capitel XXV, enthalten. Die wichtigsten derselben sind:
Art. 155. Niemand kann ohne Bewilligung des Obersten Sanitätsrathes und der Be-
stätigung des Ministeriums für innere Angelegenheiten eine Apotheke eröffnen.
Art. 156. Die Bewilligung zur Errichtung und Führung einer Apotheke wird nur
solchen Personen ertheilt, welche ein Diplom als Magister oder Doctor der Pharmacie be-
sitzen und die Erlaubnis der freien Praxis für Bulgarien erlangt, ferner das 23. Lebens-
^2 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
jähr überschritten haben und eines morah"schen, sittlichen Lebenswandels sich befleissen.
Niemand kann mehr als eine Apotheke besitzen.
(Jeder, der die pharm. Praxis ausüben will muss sich nach Art. 153
des Sanitätsgesetzes Capitel XXIV beim Obersten Sanitätsrathe einem Collo-
quium unterziehen und dafür die Taxe (100 fl. ö. W.) zahlen. Mit den er-
haltenen Documenten muss er sich dann bei der betreffenden Sanitätsbehörde
ausweisen und anmelden.)
Art. 157. In grösseren Städten wird auf 8000 Einwohner eine Apotheke bewilligt.
In kleineren Städten bis 4000 Einwohner ist letztere Zahl genügend.
Art. 158. In Städten und Ortschaften, wo sich keine Apotheke befindet und noch
Niemand um die Errichtung einer solchen nachgesucht hat, ist es dem Apotheker einer
nächstgelegenen Stadt erlaubt, eine Filiale zu eröffnen.
a) Diese Filiale kann auch von einem Apotheker-Assistenten geleitet werden, verant-
wortlich aber bleibt der Apothekenbesitzer.
b) Wo kein Arzt ansässig ist, wird auch keine Apotheke bewilligt.
c) Wo keine Apotheke oder Filiale sich befindet, ist es dem Arzte erlaubt, zuru Tax-
preise Medicamente abzugeben.
Art. 159. Bei Bewerbung um die Errichtung einer neuen Apotheke ist bei mehreren
Competenten derjenige zu berücksichtigen, welcher bulgarischer Unterthan ist, oder eine
höhere pharmaceutische Bildung oder längere Praxis nachweist; Ausländer müssen die
Erklärung abgeben, dass sie sich den Landesgesetzen in Apothekenangelegenheiten unter-
werfen und dürfen in solchen unter keiner Bedingung den Schutz ihrer Consulate anrufen.
Art. 160. Wer die Erlaubnis zur Errichtung einer neuen Apotheke erhält und diese
nach 10 Monaten nicht dem Verkehr übergibt, verliert das Recht und muss um eine neue
Erlaubnis nachsuchen.
Art. 161. Für die Uebertragung einer Apotheke von einer Stadt in die andere, muss
um die Erlaubnis, wie zur Errichtung einer neuen Apotheke nachgesucht werden.
Art. 162. Von einer Apotheke bis zur anderen muss eine Entfernung von mindestens
250 m nach allen Richtungen der Strassen vorhanden sein.
Art. 163. Jeder Apothekenbesitzer oder seine Erben können, wenn sie bulgarische
ünterthanen, ihre Apotheken einem andern Apotheker verkaufen oder durch einen befähig-
ten Magister leiten lassen.
Apothekenbesitzer, die keine Apotheker sind, aber vor dem Erscheinen dieses Ge-
setzes Apotheken besassen, so wie ihre Familien haben dieselben Rechte, wenn sie bul-
garische ünterthanen sind.
Art. 164 Für die innere Einrichtung und Qualität der Medicamente ist die Staats-
pharmakopoe obligat. (Bis zur Herausgabe einer bulgarischen Pharmakopoe ist die jeweilige
neueste russische Pharmakopoe obligat.)
Art. 165. Bei Abgabe von Medicamenten halten sich die Apotheker an eine eigene
Taxe, welche vom Obersten Sanitätsrathe ausgearbeitet und allerhöchsten Orts sanctio-
nirt wird.
Der Oberste Sanitätsrath arbeitet alle drei Jahre eine neue Taxe nach Maassgabe des
Steigens oder Fallen s der Medicamentenpreise aus und dienen als Maassstab die Preis-
courante der angesehensten europäischen Drogenhäuser.
Die Taxe für Thierarzneien ist um 25% billiger,
lieber die Apotheken-Eevisionen sagt das bulgarische Apotheken-
gesetz vom Jahre 1890. Capitel VIII:
Art. 36 — 42. Der Oberste Sanitätsrath inspicirt alle Apotheker des Fürstenthums
durch den Vorstand der Abtheilung für Apothekerangelegenheiten jährlich einmal. Die
Zeit der Inspection wird vom Sanitäts-Director bestimmt. — Ausser vorstehend erwähnter
Revision finden noch periodische und ausserordentliche Revisionen statt: 1. wenn eine neue
Apotheke eröffnet wird, 2. wenn eine Apotheke den Standort wechselt, 3. wenn ein Besitz-
wechsel stattfindet. Diese Revisionen werden vom Bezirks-, Gemeinde- oder Stadtarzte
vorgenommen. — Bei den Revisionen überzeugen sich die Revisoren, ob die bestehenden
Vorschriften genau beobachtet werden. — Ueber jede Revision wird ein Protokoll auf-
genommen, in welches alles Bemerkte verzeichnet wird, — Bei den Revisionen prüft der
Revisor einzelne einfache wie auch zusammengesetzte Arzneimittel. Das Resultat wird dem
Protokolle einverleibt. — Das Protokoll wird in zwei Exemplaren verfasst und vom Revisor
und Apotheker gefertigt; ein Exemplar bleibt in der revidirten Apotheke, das zweite wird
der Obersten Sanitätsdirection eingesendet. Bei der stattfindenden Revision sind die Apothe-
ker verbunden, das Protokoll der vorhergegangenen Revision vorzuzeigen.
Ueber die Befähigung zur Leitung einer Apotheke sagt das
Capitel XXIV des Sanitätsgesetzes vom Jahre 1889:
Art. 151. Die Ausübung der Praxis wird Medicinern, Pharmaceuten, Veterinären,
"Hebammen, Zahnärzten, welche den erforderlichen Befähigungsnachweis beibringen, ge-
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVEEKEHR. 73
stattet, sobald sie beim Obersten Sanitätsrath ein Colloquium mit Erfolg abgelegt haben.
Die Taxe für dieses Colloquium beträgt 100 fl., nur im Falle Candidat reprobirt wird,
erhält er die halbe Taxe zurück.
Art. 152. Die Praxis als Mediciner schliesst die Praxis als Apotheker aus.
Griechenland. Die Ausübung der Pharmacie ist an die Erlangung
eines Diploms und an eine Bewilligung der Sanitätsbehörde gebunden d. h.
der Apotheker muss vom Sanitätsrathe die Bewilligung zum Prakticiren
erlangt haben. Der Apothekenbetrieb ist nicht ganz frei, sondern limitirt
und zwar kommen im Allgemeinen circa 3 — 4000 Einwohner auf eine Apotheke.
Während es in den Städten viele Apotheken gibt, fehlen dieselben am
Lande, wo — auch nur in den grösseren Orten — Aerzte Hausapotheken
halten.
Alle Apotheken in Griechenland stehen unter der Leitung wissen-
schaftlich gebildeter Apotheker, mit Ausnahme einiger Apotheken in Thes-
salien und auf den Jonischen Inseln, wo das Fortbestehen solcher Apotheken
durch ein Specialgesetz gestattet wurde, seit diese Länder griechische Pro-
vinzen geworden sind, aber auch bei dieser Ausnahme wird von diesen privi-
legirten Apothekern eine praktische Prüfung vor dem Sanitätsrathe gefordert.
Nach dem Tode des Leiters einer Apotheke wird dieselbe nur an wissen-
schaftlich gebildete Apotheker, welche das Recht zu Prakticiren haben, über-
tragen — so weit das Recht der üebertragung vorhanden ist.
Die Errichtung von Apotheken ist in Orten gestattet, wo die Be-
völkerung nicht weniger als 1000 Personen beträgt. In Orten, wo die Be-
völkerung zwischen 3000 und 6000 Personen schwankt, dürfen zwei Apotheken
neben einander existiren. Wenn die Bevölkerungszahl einer Oertlichkeit
6 — 30 Tausend Einwohner beträgt, so kommt eine Apotheke auf je 3000 Ein-
w^ohner, wenn die Bevölkerung höher ist als 30.000 Einwohner, so kommt
auf je 4000 Einwohner eine Apotheke. — Melden sich mehrere Bewerber mit
gleichem Prüfungscalcül zur Errichtung einer Apotheke, so bekommt derjenige
den Vorzug, welcher die Erlaubnis zum Prakticiren früher bekommen hatte.
Revision. Eine gesetzlich vorgeschriebene Controle der Apotheken
besteht nicht. Da keine Pharmakopoe vorhanden ist (es erschien 1837 eine
Pharmakopoe, seither nicht mehr) fehlt auch die Grundlage für eine ordent-
liche Revision der Apotheken. Eine neue Arzneitaxe erschien 1894.
Tüi'kei. In der Türkei war die Ausübung der Pharmacie (i. e. europäisch
geführter Apotheken) früher an eine besondere Concession gebunden und die Zahl
der Apotheken limitirt (in Constantinopel gab es damals kaum 50 Apotheken,
während deren jetzt an 300 auf weniger als 1 Million Einwohner bestehen).
Diese Bestimmungen wurden aber aufgehoben, worauf sich die Zahl der Apo-
theken stark vermehrte und die Qualität derselben erheblich abnahm. Die
entstandenen Unzukömmlichkeiten veranlassten die Regierung endlich mit
Gesetz vom 29. November 1862 die Pharmacie gründlich zu regeln und ist
dieses ganz gute aber leider nicht streng durchgeführte Gesetz heute noch in
Kraft. Nach Artikel 1 dieses „Reglement" soll Niemand eine Apotheke er-
öffnen, besitzen oder leiten, Medicamente darstellen und verkaufen, der nicht
an der kaiserlichen medicinischen Schule in Constantinopel den Grad eines
Magisters der Pharmacie erlangt oder — falls er diesen Grad schon an einer
europäischen Universität erlangte — von der genannten Schule anerkannt
w^urde.
Seit einem Jahrzehnt soll diese Bestimmung auch auf die Provinzen An-
wendung finden, es gibt aber noch immer genug Leute, die sich derselben zu
entziehen wissen. Die Diplomtaxe beträgt 500 Piaster (5 türkische Pfund),
die Prüfungstaxe 2 türkische Pfund (200 Piaster); doch kommt das Diplom
die Provinzapotheker oft auf das Zehnfache zu stehen und ziehen sie es daher
vor, sich gar keines zu holen.
74 APOTHEKEXWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
Zur Erlangung des Magistergrades der Pharmacie wird keine allgemeine
Vorbildung varlangt. Der Eleve muss beim Eintritte in die Praxis, welche
6 Jahre dauert, an der Ecole de medecine eingeschrieben Averden und nach
dreijähriger Praxis eine kleine Prüfung machen, die aus dem Lesen türkischer
Zeitungen, etwas Arithmetik und Französisch besteht. Während des zweiten
Theiles der Praxis hat er drei Jahre lang den pharmaceutischen Curs an der
medicinischen Schule zu hören, der aber fast nur in theoretischem Unter-
richte besteht, und erhält nach Ablauf dieser Zeit und Ablegung einer Schluss-
prüfung das Diplom zur Ausübung der Pharmacie im ganzen türkischen
Reiche.
Wenn ein im Auslande approbirter Apotheker in Constantinopel die
Pharmacie ausüben will, so hat derselbe an die Direction der medicinischen
Civil-Angelegenheiten ein diesbezügliches Gesuch unter Beilage seiner Docu-
mente zu richten und um Zulassung zu dem vorgeschriebenen Colloquium
anzusuchen. Die Direction übermittelt das Gesuch an den Medicinalrath,
welcher das Gutachten der pharmaceutischen Delegirten des Medicinalrathes
anhört, worauf in der Sache mit Stimmenmehrheit entschieden wird. Dem
Gesuchsteller wird der Tag bestimmt, an welchem das Colloquium abge-
halten wird, wofür er fünf türkische Pfund als Taxe zu entrichten hat. Das
Colloquium kann in französischer Sprache abgelegt werden und dürfte einem
europäisch ausgebildeten Apotheker kaum irgend welche Schwierigkeiten be-
reiten. Sobald dasselbe bestanden ist, erhält der Candidat einen Erlaubnis-
schein, welcher ihn berechtigt, im ganzen türkischen Reiche die Pharmacie
auszuüben.
Will nun der approbirte Apotheker eine neue Apotheke errichten oder
eine bereits bestehende übernehmen, so hat er dies der Direction des Medi-
cinalrathes anzuzeigen. Der Medicinalrath hört die pharmaceutischen Dele-
girten an, welche bei Neuerrichtungen den Local-Augenschein vornehmen;
wenn nichts dagegen vorliegt, erhält der Gesuchsteller alsbald von der Di-
rection die Bewilligung. Bei der Neuerrichtung einer Apotheke muss dem
Gesuche an die Direction auch eine Abschrift des Mieth-Contractes für die
Apotheke vorgelegt werden, v;elche zurückbehalten wird. Beim Verkaufe einer
Apotheke muss ebenfalls der Contract an die Direction eingeschickt werden.
Verreist ein Apotheken-Besitzer auf längere Zeit (2 bis 4 Wochen und länger),
so muss er dies ebenfalls der Direction anzeigen und zugleich einen appro-
birten Stellvertreter namhaft machen, der während seiner Abwesenheit die
Leitung der Apotheke übernimmt. Für jeden Contract oder jede Bewilligung
in Bezug auf die Ausübung der Pharmacie ist eine Taxe von 25 Piastern zu
entrichten.
Revision. Das Reglement bestimmt, dass jährlich zweimal, und zwar
alle 6 Monate eine Inspection sämmtlicher Apotheken vorzunehmen ist. Für
jede dieser Visitationen hat der Apotheker V2 türk. Pfund zu zahlen. Die
Commission besteht aus drei von der Direction entsandten Commissären und
einem Municipal- oder Polizei-Beamten. Ausser diesen regelmässigen Inspec-
tionen können auch ausserordentliche stattfinden, dieselben sind unentgeltlich
und kommen vermuthlich deshalb so gut wie gar nicht vor.
Das Reglement enthält auch die Bestimmung, dass kein Eleve, welcher
die Approbation erhalten hat, eine Apotheke errichten oder übernehmen darf,
welche nicht mindestens 1001 „Pick" von jener oder jenen Apotheken entfernt
ist, in welchen er beschäftigt war, ausser im Einverständnisse mit dem oder
den interessirten Apothekern. Diese Bestimmung hört nach drei Jahren auf;
bindend zu sein. Dasselbe gilt von Eleven, welche aus einer Apotheke aus-
treten: sie dürfen ohne Zustimmung ihres bisherigen Chefs nicht in eine
Nachbar-Apotheke eintreten, welche weniger als 1001 Pick entfernt ist.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 75
Seit einigen Jahren besteht die Bestimmung, dass jedes, ärztliche und
pharm aceutische Diplom nach dem Tode des Inhabers an die Ecole imperiale
zurückzustellen ist. Diese Maassregel war nothwendig, da mit solchen alten
Diplomen grosser Unfug und ein förmlicher Handel getrieben wurde. — Eine
Arzneitaxe gibt es in der Türkei nicht. Die maaslose Concurrenz bedingt
ausserordentlich billige Preise, die dem Apotheker sehr wenig Nutzen lassen,
was namentlich bei der ungeheuren Anzahl von Specialitäten in fühlbarer
Weise hervortritt. In manchen Theilen der Türkei, besonders in Palästina,
erschwert auch die unentgeltliche Abgabe von Arzneien in den zahlreichen
Klöstern die Existenz der öffentlichen Apotheken. Da überdies in der ganzen
Türkei die Cupfurschererei sehr verbreitet ist, sind die Verhältnisse der
Pharmacie in diesem Lande nichts weniger als günstig.
Vereinigte Staaten. In den Vereinigten Staaten in Nordamerika ist die
Ausübung des Apothekergewerbes vollkommen frei. Auch hinsichtlich der
Qualilication derjenigen Personen, die dieses Gewerbe bezw. diesen Handel
mit Arzneiwaaren und Drogen (sowie zahlreichen anderen Artikeln) betreiben,
bestehen noch nicht überall bestimmte Anforderungen.
Im Laufe der neueren Zeit sind zwar (nach Mittheilungen von Dr.
Hofimann in New-York), meistens auf Betreiben der pharmaceuti sehen Vereine,
in der Mehrzahl der Unionstaaten Bestimmungen zur Picgulirung der Phar-
macie und des Gifthandels getroffen worden. Dieselben bestehen aber wesent-
lich nur in dem Nachweis einer gewissen Qualification derer, welche einen
„drug-store" kaufen oder einen aufmachen, sowie der Gehilfen. Würden diese
Gesetze consequent ausgeführt und wären sie von Bestand, so würden die-
selben einigermaassen Abhilfe schaffen. Die Handhabung derselben liegt aber
in jedem Staate in der Hand und Willkür einer etwa alle vier Jahre von dem
Gouverneur neu zu wählenden Commission von vier Apothekern und wird im
Allgemeinen nicht besonders ernst genommen. Diese Gesetze verlangen ein
gewisses Maass theoretischer Kenntnisse, gleichviel wie und wo sie erworben,
die meisten nehmen bisher dafür die Diplome der von Privaten oder Vereinen
unterhaltenen pharmaceutischen, aber auch der ärztlichen Fachschulen als
Beweis an. Die letztere Anomalie hat aber so weitgehende Eingriffe und den
Eintritt von halb- oder' noch weniger geschulten Aerzten in die Pharmacie
herbeigeführt, dass die pharmaceutischen Vereine seit einigen Jahren eine
Abänderung der Pharmaciegesetze insoferne anstreben und in manchen Staaten
auch erreicht haben, dass Diplome ärztlicher, wie auch pharmaceutischer Fach-
schulen nicht mehr gelten sollen, sondern dass die Pharmacie- Commissionen
sich durch Prüfung von der genügenden Qualification der Candidaten über-
zeugen sollen. Man hofft dadurch den Eintritt und die Concurrenz incom-
petenter Mediciner in die Pharmacie, sowie auch die Zunahme schlechter
Pharmacieschulen, zu vermeiden. Aber auch hier hängt der Erfolg oder
Misserfolg nicht nur von den Gesetzen, sondern von deren richtiger und
wirklicher Vollstreckung und daher wesentlich von dem Caliber der „Phar-
macie-Commission" („Boards of Pharmacy") ab. Das vorhin Gesagte gilt daher
auch für die Prüfungen der Pharmacie-Commissionen. Die Anforderungen bei
den Prüfungen der Fachschulen, wie der Pharmacie-Commissionen sind sehr
ungleich, meistens aber nothwendigerweise recht geringe. Je nach deren
Qualification ist daher im Allgemeinen auch die der von ihnen Licenzirten.
Wer aber die Licenz als „Apotheker-Drogist" erhalten hat, kann in dem
betreffenden Staate, meistens auch in anderen, zu jeder Zeit, ohne jede weitere
Formalität und ohne Rücksicht auf die Zahl der schon vorhandenen „Drug-
stores" eine oder mehrere solcher neu etabliren. In dieser Hinsicht, sowie
für die Art des Betriebes dieser Geschäfte besteht nirgends eine Controle,
ausser der erforderlichen jährlichen Zahlung für die Licenz zum Schnaps- und
Cigarrenhandel, welche in nur zu vielen „Drug-stores" das Hauptgeschäft aus-
machen.
76 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
Arzneimittel verkehr. Die Apotheke war von jeher die mehr oder weniger
ausschliessliche Stätte für den Verkauf von Arzneiwaaren und für die Be-
reitung von Arzneien. Aber schon sehr frühe begegnen wir Bestrebungen
von Handeltreibenden aller Art, welche dahin zielen den Apothekern einen
Theil ihrer Rechte zu entziehen und Apothekerwaaren zu führen. Schon
Kaiser Friedrich IL Apothekengesetzgebung begrenzte die Rechte der
Apotheker. Im Anfang des 17. Jahrhunderts wird schon von den „Ma-
terialisten und Trochisten" erzählt, die in die Rechte der Apotheker ein-
griffen. Die richtige Abgrenzung der Verkaufsrechte der Kaufleute und der
Apotheker bildete von jeher eine wichtige Aufgabe der Sanitätspolizei, welche
von dieser selten mit Glück gelöst wurde. Diese Abgrenzung kann nur in
dem Sinne erfolgen, dass das Interesse der Apotheker dabei in erster Linie
berücksichtigt wird, denn bei den vielen und ziemlich schweren Verpflichtungen,
die der Staat denselben auferlegt, ist es nur ein Gebot der Gerechtigkeit,
den Apotheker in seinen Einnahmen zu schützen. Ausserdemkannsich der in die
Gebote der Pharmakopoe, der Arzneitaxe und verschiedener gesetzlicher Be-
stimmungen eingezwängte Apotheker nicht so frei bewegen wie der Kaufmann,
daher der Staat, der ihm diese Beschränkungen auferlegt, ihn auch durch
erhöhten Schutz entschädigen muss. Von den meisten Staatsverwaltungen
ist deshalb auch das Princip anerkannt worden, dass die ausschliesslich zu Heil-
zwecken dienenden Arzneistoffe, ferner alle zubereiteten Arzneien nur durch
die Apotheken verkauft werden dürfen, während solche Stoffe, welche auch
zu technischen Zwecken dienen, dem freien Verkehre überlassen sind.
In der letzten Zeit haben die sogenannten Detaildroguerien in einer
Weise zugenommen, die eine wirkliche Gefahr für die Apotheken bildet.
Anlass dazu bot der geringe Schutz, der den Apotheken gewährt wurde.
Diese Kleindrogisten, deren Läden man nicht mit Unrecht „Winkelapotheken"
nennt, trachten fortwährend die Befugnisse der Apotheker zu schmälern und
den ganzen Arzneimittelverkehr an sich zu reissen. Leider gibt es auch
Aerzte, welche diesen Unfug unterstützen, indem sie ihre Patienten für den
Bezug einfacher Artikel häufig an den Drogisten verweisen, ohne dabei zu
bedenken, dass der Drogist keinerlei Gewähr weder für die Reinheit noch
für die richtige Qualität eines Medicamentes liefert. Die anscheinend billigeren
Preise des Drogisten werden reichlich dadurch aufgewogen, dass seine Waare
an Güte und Reinheit sich mit der des Apothekers nicht messen kann. Wenn
irgendwo, so gilt aber gerade mit Bezug auf Arzneien der Satz, dass „das
beste gerade gut genug ist". Ein bedeutender Nachtheil bei der Zunahme
der Kleindrogisten ist auch der Umstand, dass durch dieselben Vergiftungen
durch Verwechslungen der Abgabe starkwirkender Stoffe ziemlich häufig
herbeigeführt werden, ebenso durch andere Kaufleute, die unberechtigter
Weise Arzneistoffe verkaufen, während derartige Vergiftungen durch Schuld
des Apothekers äusserst selten sind. Dies allein weist schon auf die sanitäts-
polizeiliche Nothwendigkeit hin, den Handel mit Arzneiwaaren und Giften in
erster Linie den Apotheken zu reserviren, es sollten daher nur für einzelne
Artikel Ausnahm. en zugelassen werden.
Der Arzneimittelverkehr d. i. der Handel mit Arzneiwaaren und Gift-
stoffen ist in den verschiedenen Staaten sehr verschieden geregelt, doch be-
gegnen wir selbst in jenen Ländern, in welchen der Apothekenbetrieb mehr
oder weniger vollständig freigegeben ist, dem Bestreben, den Handel mit
Arzneiwaaren gesetzlichen Beschränkungen zu unterwerfen, zum mindesten
aber den Gifthandel nur unter ganz bestimmten strengen Vorschriften zu
genehmigen. Vom sanitätspolizeilichen Standpunkte aus, muss in jedem ge-
ordneten Culturstaate die überaus wichtige Angelegenheit des Arzneimittel-
verkehrs durch strenge Bestimmungen geregelt werden. Dabei unterscheidet
man einen Arzneimittel- beziehungsweise Giftverkehr in den Apotheken und
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR. 77
einen solchen ausserhalb der Apotheken. Die Apotheken gelten im Principe
überall als die eigentlichen Stätten des Arzneimittelverkehrs, der ausser durch
allgemeine, in der Kegel auch noch durch besondere Vorschriften in denselben
geregelt wird.
In DeutscMand wird der Arzneimittelverkehr theils durch reichsgesetz-
liche Bestimmungen, theils durch Vorschriften der einzelnen Bundesstaaten
geregelt. In neuester Zeit sind vom Bundesrath eigene Vorschriften für die
Abgabe stark wirkender Arzmeimittel erlassen worden, welche vom 1. Oktober
1896 in Kraft treten.
Nach diesen dürfen eine ganze Reihe von (in einem besonderen Verzeichnisse ange-
führter) Arzneimittel nur auf schriftliche, mit Datum und Unterschrift versehene An-
weisung (Recept) eines Arztes, Zahnarztes oder Thierarztes abgegeben werden. Die wieder-
holte Abgabe von Arzneien zum inneren Gebrauch, welche Drogen und Präparate der
bezeichneten Art enthalten, ist nur gestattet, insoweit die Wiederholung in der ursprüng-
lichen Anweisung für zulässig erklärt wird oder wenn die Einzelgabe aus der Anweisung
ersichtlich ist und die Gewichtsmenge derselben die in dem beigegebenen Verzeichnisse
für das betreffende Mittel angegebene Menge nicht übersteigt. Die wiederholte Abgabe
von Chloralhydrat, Chloralformamid, Morphin, Cocain oder deren Salze, Aethylenpräparaten,
Amylenhydrat, Paraldehyd, Sulfonal, Trional oder Urethan darf nur auf jedesmal erneute
schriftliche, mit Datum und Unterschrift versehene Anweisung des Arztes erfolgen. Die
wiederholte Abgabe von Morphin oder dessen Salzen ist jedoch auch ohne erneute An-
weisung gestattet, wenn diese Mittel blos als Zusatz zu anderen Mitteln verschrieben smd
und deren Gesammtgehalt 0,03 g nicht übersteigt. Die flüssigen Arzneien zum inneren
Gebrauche dürfen nur in runden Gläsern mit Zetteln von weisser Grundfarbe, die flüssigen
Arzneien zum äusseren Gebrauche nur in ßeckigen Gläsern, an welchen 3 neben einander
liegende Flächen glatt und die übrigen mit Längsrippen versehen sind, mit Zetteln von
rother Grundfarbe abgegeben werden. Die Standgefässe, welche keine stark wirkende
Stoffe enthalten, sind mit schwarzer Schrift auf weissem Grunde, jene für die in der Tabelle
B des deutschen Arzneibuches angeführten Mittel mit weisser Schrift auf schwarzem
Grunde und jene für Mittel der Tabelle C mit rother Schrift auf weissem Grunde zu be-
zeichnen. Arzneien, welche zu Augenwässern, Einathmungen, Einspritzungen unter die
Haut, Klystieren oder Suppositorien dienen werden den Arzneien zum inneren Gebrauche
im Sinne dieser Vorschriften gleichgestellt.
Die in Deutschland sehr in den Vordergrund getretene Drogisten-
frage regelt ein kürzlich in dritter Lesung im deutschen Reichstage mit 116
gegen 115 Stimmen angenommener Antrag, durch welchen der Handel mit
Drogen und chemischen Präparaten in den § 35 der Gewerbe-Ordnung ein-
gefügt wird. Der betrefi^nde Absatz lautet: „Der Handel mit Drogen und
chemischen Präparaten, welche zu Heilzwecken dienen, ist zu untersagen,
wenn die Handhabung des Gewerbebetriebes Leben und Gesundheit von
Menschen gefährdet." — Die Concurrenz des Detaildrogisten ist dem deutschen
Apotheker seit etwa 20 Jahren entstanden. Im Jahre 1875 wurde durch eine
Verordnung eine grössere Anzahl von Arzneimitteln, deren Verkauf bis dahin den
Apotheken vorbehalten war, dem freien Verkehr überlassen, und dadurch der
Stand der Detaildrogisten geschaffen. Durch Verordnung vom 27. Januar 1890
und eine ergänzende Verordnung vom 25. November 1895 wurden den Dro-
gisten weitere Befugnisse hinsichtlich des Handels mit Arzneimitteln einge-
räumt. Nicht nur in den Kreisen der Apotheker, denen durch die Detail-
drogenhandlungen ein empfindlicherer Schaden erwuchs, sondern auch bei er-
fahrenen Medicinalbeamten wurde die neue Concurrenz der Apotheker als eine
Einrichtung angesehen, die für das Gemeinwohl nicht als segensreich auf-
gefasst werden konnte. Dass manche Drogen und Präparate dem Publicum
etwas billiger zugänglicher wurden, ist ja nicht zu bestreiten, aber ebenso
wenig ist in Abrede zu stellen, dass die Güte der freigegebenen Mittel und
die Sicherheit der Abgabe, die in der Apotheke durch die strengen
Anforderungen, welche der Staat an die Ausbildung des Apothekers, an seine
Waaren und an seine Betriebsvorrichtungen stellt, gewährleistet waren, in den
Drogenhandlungen mindestens fraglich sind. Der Drogist wurde nicht ver-
pflichtet, Pharmakopoewaaren zu führen, es wurde von ihm keinerlei Vor-
bildung verlangt, er wurde nicht verpflichtet, bestimmte Betriebsvorrichtungen
78 APOTHEKENWESEN UND AEZNEIMITTELVERKEHR.
ZU schaffen. Es ist klar, dass der Drogist dem Apotheker gegenüber im
Vortheil war und ist. Und von diesem Vortheil hat man fleissig Gebrauch
gemacht. Denn die Zahl der Detaildrogisten, oder doch der Geschäfte, in
denen auch Medicinaldrogen verkauft werden, dürfte fast doppelt so gross
sein, als die Zahl der vorhandenen Apotheken. Durch die Einfügung des
Drogenhandels in den § 35 der Gewerbe-Ordnung ist nun den Regierungen
auch die Möglichkeit gegeben worden, den Geschäftsbetrieb unter Umständen
zu untersagen.
Zur Revision der Drogenhandlungen bestehen seit Kurzem eigene Vor-
schriften, denen zufolge dieselbe in der Regel alljährlich einmal unvermuthet
durch die Ortspolizei unter Beiziehung eines approbirten Apothekers und
soweit thunlich des zuständigen Physikus stattzufinden hat.
Oesterreich. In Oesterreich bestehen verschiedene neue Verordnungen,
welche den Arzneimittelverkehr in den Apotheken sowohl als auch ausserhalb
derselben regeln. Die v\ichtigsten derselben sind: Die Verord. d. Min. d.
Inn. V. 14. März 1884, die Erläuterung dazu vom 1. Aug. 1884 und die
Verord. v. 17. Dec. 1894, mit welcher Bestimmungen über den Handverkauf
in Apotheken, sowie über die Herstellung und den Vertrieb der als pharma-
ceutische Specialitäten sich da,rstellenden arzneilichen Erzeugnisse getroffen
werden.
Zur Abgrenzung der Verkaufsrechte zwischen Apothekern und Kaufleuten
bestehen folgende Bestimmungen: Die Minist. Verordnung vom 17. Septbr.
1883 u. die Verord. vom 17. Juni 1886 nebst ergänzenden Bestimmungen zu
der letzteren vom 8. December 1885.
Durch die in der Arzneitaxe pro 1895 und seither enthaltene Classification
der officinellen Arzneikörper in der Beziehung ob dieselben nur in Apotheken
oder auch in Material waarenhandlungen und anderen Geschäften' verkauft werden
dürfen, erfahren die Bestimmungen der Ministerialverordnungen vom 17. Sept.
1883 RGBl. Nr. 152 und vom 17. Juni 1886, RGB. Nr. 97 eine wesentliche
Erläuterung, wodurch den politischen Behörden eine sichere Handhabe bei
Ueberwachung des Arzneimittelverkehres ausserhalb der Apotheken gegeben
ist und welche daher denselben künftighin zur Richtschnur zu dienen hat.
Von den in der Arzneitaxe aufgeführten 625 Arzneiartikeln sind 243
Arzneizubereitungen und pharm, oder pharm.-chemische Präparate, ferner 157
chemische Präparate und Drogen, zusammen 400 Artikel den Apothekern im
Kleinverschleisse vorbehalten, von den übrigen 225 Arzneiartikeln dürfen 45
nur in den zum Verschleisse von Arzneiartikeln concessionirten Drogenhand-
lungen oder in Handelsgeschäften, welche hiezu die besondere Bewilligung
erworben haben, im Kleinverschleisse abgegeben, 2 nur auf Grund von Gift-
concessionen, die übrigen 178 Arzneiartikel in allen Material waarenhandlungen,
davon jedoch 25 als gesundheitsgefährliche Artikel nur unter den durch die
Giftverschleissverordnung vom 21. April 1876, RGBl. Nr. 60, vorgezeichneten
Vorsichten hintangegeben werden.
Die Eintheilung geschah in 6 Rubriken, und zwar:
1. Riabrik:ZiiArzneizwecken benützte, den Apo thekern — unbeschadet
des Grosshandlungsverkehres zwischen Fabrikanten, Grrosshan dlungen
und Apothekern — zum Verkaufe vorbehaltene off icinelleArzneizuberei-
tungen, pharmaceutische und pharmaceutisch-chemische Präparate:
Acetum aromaticum, Scillae. Acidum carbolic. liquef.*), hydrochloricum dilutum*),
nitricum dilutum*), sulfuricum dilutum*). Alumen ustam. Aluminium aceticum solutum.
Ammonium aceticum solutum. Antidotum Arsenici albi. Aqua Amygdal. amar. conc,
Amygdal. amar. dilut., aromatica spirituosa, Calcis, carbolisata, carminativa, Chamomillae,
Chlori, Cinnamomi simples, Cinnamomi spirituosa, Foeniculi, Goulardi, Melissae, Menthae
piper., plumbica, Rosae*), Rubi Idaei, Salviae. Argentum nitric. fusum, nitric. cum Kalio
nitric. Asungia Porci benzoata. Bismuthum subnitricum. Calcium oxysulfurat. solut., phos-
phoricum. Ceratum Cetacei, fuscum. Chininum ferro-citricum, tannicum. CoUodium elasticum.
*) Bezieht sich nur aut das nach Vorschrift der Pharmacopoe hergestellte Präparat.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 79
Collyrium adstringens luteum. Decoct. Sarsaparill. compos. fort., Sarsaparill, compos.
mitius. Elaeosacchara. Electuarium aromaticum, lenitivum. Emplastr. adhaesivum, Angli-
canum, Cantliaridum, Cantharidum perpetuum, Cerussae, Conii, Diachylon. composit,
Diachylon. simplex, Hydrargyri, Hydrargyri extensum, Meliloti, Minii, oxycroceum, saponatum,
saponatum extensum. Emulsiones. Extract. Aconiti rad., Aloes, Belladonnae fol., Calami
aromat , Calumbae, Cannabis. Indic, Centaurii minoris. Chinae, Colocynthidis, Conii herbae,
Cubebae, Filicis maris. Gentianae, Graminis, Granati, Hydrastidis fluidum, Hyoscyami fol.,
Liquiritiae. Malatis Ferri, Opii, Quassiae, Quebracho fluidum, Ratanhiae, Rhamni Pursh.
fluid., Rhei, Scillae, Seealis cornuti, Strychni, Taraxaci, Trifolii fibrini. Ferrum carbon.
sacchar.. sesquichlor. crystall , sesquichlor. solutum. Gelatina Liquirit. pellucida. Globuli
martiales. Hydrarg. bichlor. ammoniat, bijodatum rubr., chlorat. mite praecip. par., jodatum
flavum, oxydat. flavum. Hydromel Infantum. Infusum Sennae cum Manna. Kalium aceticum
solut., carbonic. solut., sulfuratum, sulfuratum pro balneo. Linimentum ammoniatum, sa-
ponato-camphor. Liquor acidus Halleri, Ammoniae anisat., Magnesium citricum, citricum
effervescens, oxydatum. Massa Pilul. Ruffi. Mel depuratum*), rosatum. Mixtura gummosa,
oleosa-balsamica. Mucilago Cydoniae, Gummi Acaciae, Oleum, camphoratum, Hyoscyami fol.
coct. Oxymel Scillae, simplex. Pasta gummosa, Liquiritiae flava. Pastilli e Natrio hydrocarb.
Pilulae laxantes. Plumbum aceticum basic. sol. Potio Magnes. citric. effervesc. Pulpa Cassia
Fistulae, Prunorum, Tamarind. depur. Pulv. aerophorus, aerophorus Seidlitzensis, dentifric.
albus, dentifric. niger, gummosus, Ipecacuanh. opiatus, Liquirit. compos. Resina Jalapae.
Roob Juniperi, Sambuci. Rotulae Menthae piper. *j Sapo medicinalis pulv. Serum Lactis. *j
Solutio arsenicalis Fowleri. Species Althaeae, amaricantes, aromaticae, aromaticae pro
cataplas., emollient., emollient. pro cataplas., laxantes St. Germain, Lignorum, pectorales.
Spiritus Aetheris, Anisi*), aromaticus, camplioratus, Carvi*), Ferri sesquichlor. aeth., Juni-
peri*), Lavandulae, Menthae piper., Rosmarini, saponatus, Saponis Kaiini, Sinapis. Stibium
sulfurat. aurant. Succus Liquirit. depur. pulv. Sulfur depur, praecipit. Syrupus Althaeae,
amygdalinus, Aurantii cortic, Capilli Veneris, Cinnamomi, Citri, Ferri jodati, Ipecacuanhae,
Menthae, Mororum, Papaveris, Rhei, Ribium *), Rubi Idaei*), Senegae, Sennae cum Manna.
Tinctura Absynthii compos., Aconiti radicis, amara, Arnicae, Aurantii corticis, Belladonnae
fol., Benzoes, Calami aromat., Cantharidum, Cascarillae, Castorei, Catechu, Chamomillae,
Chinae compos., Cinnamomi, Colchici seminis, Digitalis, Gallarum, Guajaci, Ipecacuanhae,
Jodi, Lobeliae, Malatis Ferri, Myrrhae, Opii crocata, Opii simplex, Ratanhiae, Rhei aquosa,
Rhei Yinosa Darelli, Spilanthis compos., Strophanthi, Strychni, Valerianae, Vanillae.
Trochisci Ipecacuanhae, Santonini. Unguentum aromaticum, Cerussae, Diachylon, emolliens,
Glycerini, Hydrargyri. Juniperi, Plumbi acetici, rosatum, Sabadillae, simplex, sulfuratum,
Zinci oxydatum. Vinum Chinae, Colchici seminis, Stibii Kalio-tartar. Zincum oxydatum*).
2, Rubrik: Zu Arzneizwecken benützte, den Apothekern — unbe-
schadet des Grosshandlungs Verkehres zwischen Fabrikanten, Gross-
handlungen und Apothekern — zum Verkaufe vorbehaltene chemische
Präparate und Drogen;
Acidum benzoicum, phosphoricum, salicylicum, Aether aceticus. Aloe pulv. Ammo-
niacum pulv. Ammonium bromatum. Amylium nitrosum. Antifebrinum, Antipyrinum. Apo-
morphinum hydrochl. Aqua Aurantii tior., Laurocerasi. Araroba depurata. Atropinum sul-
furic. Bulbus Scillae sicc. pulv. Cantharides pulv. Castoreum pulv. Caules Dulcamar. sciss.
Chininum bisulfuric, hydrochloric, sulfuricum. Chloralum hydratum. Chloroformium. Coca-
inum hydrochlor. Coffeinum. Cortex Cascarillae rud. tus., Cascarillae pulv., Chinae rud. tus ,
Chinae pulv., Condurango rud. tus., Frangulae sciss., Granati rud. tus., Granati pulv,,
Quebracho rud. tus., Rhamni Pursh. rud. tus. Euphorbium pulv. Ferrum citricum ammon.,
hydro-oxydat. dialys. liquid., lacticum et Natr. pyrophosphoric, reductum. Flores Arnicae
sciss., Chamomillae Roman., Chamomillae vulgaris rud. tus., Chamomillae vulgaris pulv.
Cinae, Cinae pulv., Koso sciss., Koso pulv. Folia Belladonnae sciss., Belladonnae pulv.,
Coca sciss., Coca pulv. Digitalis sciss., Digitalis pulv., Hyoscyami sciss., Hyoscyami rud.
tus., Menthae piper. pulv., Salviae pulv., Sennae Alexandr. sciss., Sennae Alexandr. pulv.,
Sennae de Tinnevelly sciss. Sennae de Tinnevelly pulv., Sennae de Tinnevelly sine resina,
Stramonii sciss. Taraxaci sciss., Trifol. fibrini pulv., Uvae ursi. Fructus Anisi stellati rud.
tus., Anisi stellati pulv., Anisi vulgaris pulv., Carvi pulv., Colocynthid. pulv., CiTbebae pulv.,
Foeniculi pulv., Papaveris rud. tus. Galbanum pulv. Glandulae Lupuli, Guarana pulv. Herba
Absynthii pulv., Cannab. Indic. sciss., Chenopodii sciss., Conii rud. tus., Conii pulv., Galeop-
sidis sciss., Herniariae sciss., Lobeliae sciss., Meliloti pulv., Sabinae sciss., Sabinae pulv.,
Spilanthis sciss. Hirudo. Hydrargyrum chlorat. mite subl. par., tannicum oxydulat. Jodo-
formium cryst. et pulv. Kalium bromatum pulv., jodatum, jodatum pulv. Kamala. Lactu-
carium. Lignum Quassiae pulv., Lithium carbonicum. Morphinum hydrochloric. ß-Naphtolum.
Natrium bromatum, jodatum, phosphoricum, phosphoricum siccum. pulv., salicylicum,
Oleum Crotonis, Myristicae express., Santali, Sinapis aether., Valerianae. Opium pulv. Pep-
sinum. Physostigminum salicylic. Pilocarpinum hydrochloric. Radix Althaeae pulv., Ange-
licae pulv., Bardanae sciss., Belladonnae pulv., Calami aromat. pulv., Calumbae sciss. Calum-
bae pulv., Filicis maris pulv., Gentianae pulv., Hydrastidis rud. tus., Ipecacuanhae rud.
tus., Ipecacuanhae pulv., Jalapae pulv., Liquiritiae mund. pulv., Pyrethri sciss., Ratanhiae
sciss., Ratanhiae pulv., Rhei rud. tus., Rhei pulv., Salep rud. tus., Salep pulv., Sarsaparillae
80 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
sciss., Sassafras sciss., Senegae sciss., Valerianae pulv., Zedoariae pulv., Santonimim. Seeale
cornntum rud. tus., S. cornutum pulv., Semen Sabadillae pulv., Strychni pulY., Stibium Kalio-
tartar. pulv., Strychnimim nitric. Styrax liquidus. Thymolum. Veratrinum.
3. Rubrik: Zu Arzneizwecken benützte, mit Concession zum Medici-
nal w aar enhand el (oder mit besonderer Bewilligung) auch ausserhalb
der Apotheken verkäufliche chemische Präparate und Drogen.
Asa foetida pulv., Flores Chamomillae pulv., Malvae, Rhoeados sciss., Rosae sciss.,
Sambuci, Tüiae sciss., Verbasci. Folia Althaeae sciss., Aurantii sciss., Melissae sciss. Menthae
crispae sciss., Menthae piperit. sciss., Rosmarini sciss., Trifolii fibrini sciss. Fmctus Cassiae
Fistulae sciss., Tamarindi; Herba Absynthii sciss., Capilli Veneris sciss., Centaurii minoris
sciss., Meliloti sciss., MUlefolii scis., Origani sciss., Serpylli sciss., Violae tricolor. sciss.,
Liehen islandicus sciss., Lignum Quassiae. Lycopodium. Manna cannelata, communis, electa.
Mentholum. Oleum Jecoris Aselli, Ol. Latiri. Radix Althaeae sciss., Angelicae sciss., Arnicae
sciss., Calami aromat. sciss., Gentianae sciss., Graminis sciss., Liquiritae sciss., Ononidis
sciss., Rhei, Rhei rud. tus., Taraxaci sciss., Valerianae sciss.
4. Rubrik: Auch zu technisch-ökonomisch-diätetischen Zwecken
benutzte, mit Concession zum Gifthan del auch ausserhalb derApotheken
verkäufliche chemische Präparate und Drogen:
Acidum arsenicosum pulv., Hydrarg. bichlorat. corrosiv. pulv.
5. Rubrik: Auch zu technisch-ökonomisch-diätetischen Zwecken
benützte, unter den Beschränkungen der Verordnung über den Gift-
verkehr auch ausserhalb derApotheken verkäufliche ch emische Präpa-
rate und Drogen:
Acidum acetie. concentr., carbolicum, chromieum, hydroehloric. concentr., nitro-nitro-
sum, nitricum concentr., sulfuric. concentr. Aether. Ammonia. Argentum nitricum crystall.
Cuprum sulfuricum. Hydrargyrum. Jodum, Kalium chloric, chloric. pulv., hydro-oxydatum.
Kreosotum. Plumbum aceticum., aceticum. sicc. pulv., carbonic. pulv., hyperoxydat. rubr.
pulv., oxydatum pulv. Zincum chloratum, sulfuricum, sulfuricum pulv.
6. Rubrik: Auch zu techniseh-ök onomisch-diätet i sehen Zwecken
benützte, unbeschränkt auch ausserhalb der Apotheken verkäufliche
chemische Präparate und Drogen:
Acetum. Acidum aceticum dilutum, boricum, boricum pulv.,'citrieum, citricum pulv.,
lacticum, pyrogallicum, tannieum, tartaricum, tartaricum pulv. Alumen pulv., Aluminium
sulfuric. Ammonium carbonic, chloratum. Amygdalae amarae, dulces, dulces decortic.
Amylum Maranthae pulv., Tritici pulv. Aqua destillata. Axungia Porci. Balsamum Copaivae,
Peruvianum, Tolutanum. Benzoe pulv. Bolus alba pulv. Calcium carbonic. nativ. pulv.,
carbonic. praecipit., carbonic. purum, hypoehlorosum, oxydatum pulv., sulfuriciTm ustum.
Camphora. Carbo Ligni depur. Carrageen sciss. Caryophylli pulv. Catechu pulv. Cera alba,
flava. Cetaceum. Collodium. Cortex Cinnamomi rud. tus., Cinnamomi pulv., Fruct. Aurantii
sciss., Fruct. Citri sciss., Quercus sciss., Quercus pulv., Salicis sciss. Crocus, pulv. Elemi.
Ferrum pulveratum, sulfuricum, sulfuricum siccum pulv. Flores Lavandulae. Folia Salviae,
Theae. Fructus Anisi vulgaris, Cardamomi rud. tus., Carvi, Coriandri, Foeniculi, Juniperi
rud. tus., Lauri. Vanillae. Fungus igniarius. Gallae rud. tus. Gelatina animalis. Glycerinum.
Gummi Acaciae, Acaciae pulv. Ichthyocolla. Kalium carbonicum crudum, earbonicum purum,
hydro-tartar. pulv., hypermanganic, natrio-tartaric, natrio-tartaric. pulv., nitricum, nitricum
pulv. Lanolinum. Lignum Guajaci sciss., Haematoxyli sciss., Juniperi sciss., Santali rubr.
sciss. Macis. Magnes. carbon. pulv., sulfuric, sulfuric. sicc. pulv. Maltum. Mastiche pulv.
Myrrha pulv. Naphtalinum. Natrium boracicum pulv., carbonicum, carbonicum sicc pulv.,
hydrocarbon. pulv., silicicum, sulfuric. cryst., sulfuric. sicc. pulv. Oleum Amygdalarum,
Anisi, Aurantii corticis, Aurantii florum, Bergamottae, Cacao, Cadinum, Carvi, Caryophyllo-
rum, Cinnamomi, Citri, Foeniculi, Juniperi, Lavandulae, Lini, Maeidis, Menthae piperit.,
Olivae, Pini Pumilionis, Rieini, Rosae, Rosmarini, Terebinthinae, Terebinthinae rectific.
Olibanum pulv. Paleae haemost. Pix liquida. Placenta sem. Lini. Radix Iridis pulv., Zin-
giberis pulv. Resina Guajaci. Saccharum pulv., Lactis pulv. Sapo kalinus, venetus pulv.
Semen Cydoniae, Lini, Lini pulv., Myristieae pulv., Quercus tostum pulverat., Sinapis pulv.
Spiritus Vini concentr., Vini dilutus, Vini Cognac. Stibium sulfurat. nigr. pulv. Syrupus
Simplex. Tal cum pulv. Terebinthina veneta. Vaselinum. Vinum Malagense.
Die Revision der Drogen- und Materialwaarenhandlungen
ebenso der Gifthandlungen wird von den Amtsärzten vorgenommen und
bestehen dafür in den verschiedenen Provinzen Vorschriften. Diese Revision
erstreckt sich im Allgemeinen auf Folgendes:
Directiven für die Revision der Materialwaarenhandlungen etc. : 1. Ob der Verkauf von
pharm. Präparaten, ferner von Drogen und chemischen Präparaten, welche ausschliesslich
nur zu Heilzwecken Verwendung finden, nur im Grossen i^nach § 5 der Min.-Vdg. vom
17. Sep. 1883, RGBl. Nr. 152) und nicht auch unberechtigter Weise im Detailhandel statt-
findet. — 2. Ob der Verschleiss von Giften ohne eine diesbezügliche Concession stattfindet;
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 81
— 3. Ob ein Handel mit chirurgischen Verbandstoffen in dem betreffenden Geschäfte be-
steht, lind welche Wahrnehmungen bezüglich der Provenienz dieser Artikel und bezüglich
der Aufbewahrung derselben gemacht wurden. — 4. Ob Gifte von den hiezu berechtigten
Kfiufleuten auch an Aerzte mit oder ohne Berechtigung zur Haltung von Hausapotheken
abgegeben werden. — 5. Ob von Materialwaarenhändlern die im § 3 der Min.-Vdg. vom
17. Juni 188G, RGBl. Nr. 97 nur zu Heilzwecken verwendeten Artikel, deren Verkauf auch
ausserhalb der Apotheken unter Umständen gestattet ist, feilgehalten werden, und ob die
im § 5 der citirten Verordnung erwähnte Ermächtigung der politischen Behörde hiefür er-
wirkt worden ist. — 6. Ob und welche zubereiteten Arzneien mit Einschluss der soge-
nannten Specialitäten, deren Verkauf den Drogisten, Materialisten u. s. w. auch im Grossen
nicht gestattet ist, feilgehalten werden. — 7. Ob Geheimmittel verkauft werden."
Zur Verhütung von Arzneiverwechslungen hat das Ministerium
des Innern unterm 2. October 1895, Z. 29882 folgenden Erlass heraus-
gegeben:
Das k. k. Ministerium des Innern hat aus Anlass der tödtlichen Vergiftung zweier
Personen, wahrscheinlich in Folge einer Verwechslung von Brechnussextract anstatt Gra-
natrinden extract, seitens der Bezugsquelle angeordnet, diesen Vorfall den Apothekern und
Hausapotheken führenden Aerzten und Wundärzten unter Hinweis auf die eventuellen
strafrechtlichen Folgen von Arzneiverwechslungen mit der eindringlichen Erinnerung zur
Kenntnis zu bringen, dass die Apotheker nach den bestehenden Verordnungen für die Iden-
tität tind Qualität der in ihren Apotheken vorräthig gehaltenen Drogen und pharmaceu-
tischen Präparate verantwortlich sind. Insbesondere werden die Apotheker aufmerksam
gemacht, dass sie sich in dieser Beziehung nicht auf die Fabriken oder die Drogenhand-
lungen verlassen dürfen, aus welchen sie chemische oder pharmaceutische Präparate be-
ziehen, und dass sie sich von der Identität und Beschaffenheit derselben jedesmal durch
gründliche Prüfung zu überzeugen haben. Um allfälligen Verwechslungen bei Arzneihefe-
rungen möglichst vorzubeugen, ist darauf zu dringen, dass sowohl in chemischen und
pharmaceutischen Fabriken als in Drogenhandlungen, öffentlichen und Hausapotheken die
Bezeichnung (Signatur) der zur Aufbewahrung stark wirkender Mittel bestimmten Stand-
und Abgabsgefässe in dauerhafter Schrift, eventuell eingebrannt, auf der Gefässwand selbst
angebracht sei, und dass diese Gefässe ausserdem durch eine besondere Form kenntlich
gemacht seien. Der Gebrauch von Papieretiquetten für derartige stark wirkende Mittel
enthaltende Gefässe ist unstatthaft und streng zu untersagen." — Hierzu bemerkte die Re-
daction des „Oesterreichischen Sanitätswesens* wörtlich: „Papieretiquetten sind Aufschriften
auf Papier, welches lediglich durch ein Klebemittel auf dem Gefässe befestigt wird. Wird
die Schrift am Papiere durch entsprechende Imprägnirungs- oder üeberzugsmittel un-
trennbar und unverlöschlich auf der Gefässwand fixirt, so handelt es sich nicht mehr um
blosse Papieretiquetten." Nach dieser Auffassung sind also Papiersignaturen, wenn sie auf
den Gefässen, z. B. mit Collodium überzogen und lackirt werden, zulässig.
Den Giftverkehr 'ausserhalb der Apotheken regelt die Min.-Verord.
vom 21. April 1876 (RGBl. Nr. 60), deren wichtigste Bestimmungen folgende
sind:
Rücksichtlich des Verkehrs mit Giften, gifthaltigen Droguen und gesundheitsgefähr-
lichen chemischen Präparaten werden nachstehende Bestimmungen erlassen:
§ 1. Als Gifte werden erklärt: 1. Das Arsen und alle arsenhaltigen Verbindungen;
2. die chlor- und die sauerstoffhaltigen Verbindungen des Antimon; 3. die Oxyde und Salze
(einschliesslich der Chlor-, Brom- und Jodverbindungen) des Quecksilbers; 4 der gewöhn-
liche Phosphor; 5. das Brom. 6. Die Blausäure und die blausäurehältigen Präparate,
sowie alle Cyanmetalle nur jene ausgenommen, welche Eisen als Bestandtheile enthalten.
7. Die aus giftigen Pflanzen und Thieren entnommenen oder einzig auf dem Wege der
Kunst dargestellten heftig wirkenden Präparate wie die Alkaloide, das Curare, das Cantha-
ridin u. s. w.
§. 3. Gift darf nur an die zum Absätze von Giften berechtigten Gewerbsleute, an
wissenschaftliche Institute und öffentliche Lehranstalten und an solche Personen, die sich
mit der amtlichen noch giltigen Bewilligung zum Giftbezuge ausweisen, abgegeben werden.
§ 4. Die Bewilligung zum Bezüge von Gift ertheilt diejenige politische Bezirksbehörde,
in deren Amtsbezirke der Bewerber wohnt.
§. 9. Die zum Giftverkaufe berechtigten Gewerbsleute haben ein eigenes Vor-
merkbuch zu führen, in welchem die Person an welche, der Zeitpunkt, wenn ein Gift ver-
abfolgt wurde, dann die Benennung und Menge desselben, in Fällen, in welchen Gift nur
gegen amtliche Bewilligung (Bezugsschein oder Bezugslicenz) bezogen wird, unter Anfüh-
rung des Datums und der bewilligenden Behörde ersichtlich zu machen ist.
§ 10. Die Gewerbsleute, welche mit Gift verkehren, haben, sowie Jedermann, der
im Besitze von Gift ist, dafür zu sorgen, dass dabei jede Gefahr für Gesundheit und Leben
Anderer hintangehalten, und dass die Gifte insbesondere von allen Genuss- und. Heilmitteln
ferngehalten werden.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. Q
82 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
§ 11. Bei Gewerben, welche mit Gift Handel treiben, hat derjenige, welcher dei
Handlung vorsteht, für die gehörige Verwahrung und Absonderung der Giftwaaren Ton
den übrigen sowie für die entsprechende Bezeichnung und Verschliessung der Gift ent-
haltenden Gefässe Sorge zu tragen.
Beim Detailverkaufe von Gift, sowie bei jenen Gewerben, welche Gebrauch von Gift
machen, sind die Behälter und Standgefässe, in welchen Gifte vorräthig gehalten werden,
mit der in Augen fallenden Bezeichnung „Gift", oder mit der üblichen Todtenkopf-
bezeichnung zu versehen, und abgesondert unter Verschluss zu verwahren. Bei Gewerben
der letzterwähnten Art ist der Gewerbsinhaber oder Betriebsleiter schuldig, die Giftvorräthe
unter seiner eigenen Verwahrung zu halten.
§ 16. Die in der jeweiligen österreichischen Pharmakopoe mit einem Kreuze (f) be-
zeichneten, im § 1 dieser Verordnung nicht angeführten Artikel dürfen von den betreffenden
Gewerbetreibenden nur an Personen, die zum Handel mit denselben oder zur Führung
einer Apotheke berechtigt sind, an gewerbsmässige Erzeuger von Chemikalien oder an
wissenschaftliche Institute und öffenthche Lehranstalten verkauft werden.
In Ungarn hat der Minister des Innern unter Z. 111,005/1894 neue
Vorschriften über den Verkehr mit Arzneiwaaren und Giften erlassen, durch
welche die bisherigen Bestimmungen, welche vor etwa 20 Jahren erlassen
wurden, ausser Kraft gesetzt werden. Die Vorschriften sind vom I.Februar 1895
an in Wirksamkeit getreten. Durch dieselben werden alle diese Mittel in 5
Tabellen eingetheilt. Die 1. Tabelle erhält diejenigen Mittel, welche aus-
schliesslich zu Heilzwecken dienen und nur in Apotheken abgegeben
werden dürfen; Tabelle 2 enthält diejenigen Arzneiwaaren, die ausser den
Apotheken nur von Drogisten, von letzteren aber nicht unter den vorgeschriebenen
Mengen abgegeben dürfen; Tabelle 3 diejenigen Stoffe, die auch durch Kauf-
leute verkauft werden dürfen; Tabelle 4 diejenigen stärker wirkenden Stoffe,
die auch von Kaufleuten, aber nicht unter den vorgeschriebenen Gewichts-
mengen abgegeben werden dürfen; Tabelle 5 die eigentlichen Gifte, welche
von Drogisten und Kaufleuten nur auf Grund behördlicher Bewilligung ab-
gegeben werden dürfen.
Apothekeiistatistik. Allgemeine Verhältnisse.
Die Zahl der Apotheken ist in den einzelnen Ländern ganz erheblich
verschieden. Naturgemäss ist sie in den Ländern, welche das Concessions-
system haben kleiner, als in den Ländern, wo der Apothekenbetrieb frei ist.
In Deutschland ist die Zahl und Verbreitung der Apotheken nach
einer Zusammenstellung aus dem Jahre 1892 folgende: (s. 1. Tabelle Seite 83).
Nach der Berufzählung vom 14. Juni 1895 gab es in Preussen bei
31,490.315 Gesammtbevölkerung 3093 selbständige Apotheker und 5851
Apothekergehilfen und sonstige Arbeiter in Apotheken.
In Bayern gab es 1895 654 öffentliche Apotheken (darunter 257 Real-
apotheken), 18 Dispensiranstalten und 217 ärztliche Handapotheken. An
Hilfspersonale waren in den Apotheken vorhanden: 299 approbirte, 158 nicht
approbirte Gehilfen und 243 Lehrlinge, zusammen 700. — In Württemberg
gab es 1887: 265 Apotheken, wovon 197 Real-, 48 Personal-, 48 Hof- und
standesherrliche und 16 Filial- Apotheken. Die Zahl der in ganz Deutschland
approbirten Pharmaceuten betrug 1892 610 und zeigt noch immer eine
steigende Tendenz.
0 esterreich. Die Statistik der Apotheken und des pharmaceutischen
Personales im Jahre 1893 ergibt folgende Daten: Die Zahl der öffentlichen
Apotheken hat sich im Jahre 1893 um 29 vermehrt, nämlich von 1333 am
Schlüsse des Jahres 1892 auf 1362. In diesen Apotheken waren 1251 diplo-
mirte und 275 nicht diplomirte, zusammen 1526 Assistenten gegen 1534 im
Vorjahre in Verwendung. Die Zahl der Assistenten ist daher um 8, jene der
nicht diplomirten um 38 gesunken, die der diplomirten hat sich um 30 ver-
mehrt. Die Zahl der Lehrlinge, welche sich am Ende des Jahres 1892 auf
275 belief, ist 297 oder um 22 gestiegen. — Hausapotheken zählte man 1741,
um 48 mehr als am Ende 1892. Von den Hausapotheken wurden 868 von
Aerzten, 821 von Wundärzten gehalten, 52 befanden sich in Klöstern oder
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
83
Staat
Preussen
Bayern
Sachsen
Württemberg
Baden
Hessen
Mecklenburg-Schwerin
Sachsen-Weimar . , .
Mecklenburg-Strelitz .
Oldenburg
Braunschweig . . . .
S. -Meiningen
S.-Altenburg . . . .
S.-Koburg-Gotha . . .
Anhalt
Schw.-Sondershausen .
Schw.-Rudolstadt . .
Waldeck
Reuss ä. L
Reuss j. L
Schaumb.-Lippe . . .
Lippe
Lübeck
Bremen
Hamburg
Els.-Lothringen . . .
Helgoland
Zahl der Apotheken am
April
I ]i
2363
605
332
255
188
107
65
40
14
47
42
28
15
26
34
15
16
10
4
9
4
16
7
13
56
210
2532
627
262
265
193
108
68
41
14
47
43
29
16
26
32
14
15
11
4
12
5
16
8
15
56
22]
1. Oct.
1892
2758
645
288
272
202
109
68
43
14
49
51
28
16
28
33
13
16
10
4
13
6
17
11
18
58
228
1
gegen
1887
-f226
-f 18
+ 26
+ V
+ 9
+ 1
+ 2
4-
+ 2
+ 1
1
1
1
+
+1
+1
+1
+3
+3
,+^
+ 7
4999
4-318
Spitälern. — Die öffentlichen Apotheken vertheilten sich auf 994, die von
Aerzten und Wundärzten geführten Hausapotheken auf 1553 Gemeinden.
Eine von den statistischen Central-Commission zusammengestellte Tabelle,
welche auf den Zahlen von 1891 fusst, weist folgende Daten auf:
Apotheker, Vorstände,
Assistenten
03
OB
Hausapotheken
■werden gehalten
von
Gesammt-
zahl der
Apothen
Bevölkerungs-
zahlen
03
'S
03
bß
'S
ö
03
a
o
a
o
03
d
.2
'S
03
03
03
03
M
03
'S -*:; 03
03
03
bß
a
o
CO
y
g
N!
s
'a
s
03
a
a
m
N
03
o
u
o
O
ö
03
!h
O
O
C
a
a
CS
m
N
Oeffentlic
und Hausapc
zusamm
m
.ja
<
&i:cÖ
T— 1 03
H
a
03
bß
o
Q
«<
N.-Österreich . .
44
144
188
232
94
326
47
2
88
208
298
486
2,661.799
5.476
O.-Osterreich. .
27
33
59
38
15
53
6
3
31
143
177
236
785.831
3.300
Salzburg . . .
5
6
11
14
3
17
4
5
8
45
58
69
173.510
2.514
Steiermark . . .
25
34
59
85
25
210
7
3
86
125
214
273
1,282.708
4.698
Kärnten ....
7
10
17
18
7
25
9
3
24
27
54
71
361.008
5.084
Krain.
5
14
19
10
1
14
7
9
9
16
27
46
498.958 in«ifil
Triest mit Geb.
12
13
25
26
22
48
12
25
157.466
6.298
Görz u. Gradisca
7
16
23
10
6
16
6
1
2
1
4
27
229.308
8.159
Istrien ....
15
18
33
7
5
12
5
—
4
2
6
39
317.610
8.143
Tirol . .
37
62
99
54
12
66
15
4
68
48
120
219
812.696
3.710
Vorarlberg
2
5
7
6
2
8
—
—
22
9
31
38
116.073
3.054
Böhmen .
124
216
340
234
96
330
128
3
251125
379
719
5,843.094
8.126
Mähren .
24
94
118
83
25
108
47
4
77 1.S7
218
336
2,276.870
6.776
Schlesien
8
29
37
27
10
37
14
5
11
18
34
71
605.650
8.530
Galizien .
92
156
248
195
38
233
86
9
12
3
24
272
6,607.815
24.293
Bukowina
3
19
22
13
6
19
13
—
5
1
6
28
646.591
23.092
Dalmatien
—
42
42
8
7
15
9
4
25
2
31
73
527.426
7.225
436
911
1347
1060
377
1437|
415|
48
723
910
1681
3028
23,895.413]
7.891
84
APOTHEKENWESEN UND AEZNEIMITTELVERKEHR.
Bei dieser ZusammeBstelluLg sind zur Berechnung des Verhältnisses der
Bevölkerung zu den Apotheken die Hausapotheken und die öffentlichen
Apotheken zusammen gerechnet worden. Eine Zusammenstellung in der Bro-
schüre -Die Regelung des österreichischen Apothekenwesens" (her. v. allg. österr.
Apotheker-Assistenten- Verein) aus dem Jahre 1894 weist folgende Daten auf:
Kronland
Heutiges
Verhältniss
d. Apotheken
zur
Einwohnerz.
Vermehrung
der
Einwohner
seit 1879
Ver-
mehrung
der Apo-
theken
seit 1879
Somit entfall
auf jede neue
Apotheke von
der Vermehr,
der Bevölker.
Galizien
Bukowina ....
Krain
Steiermark . . .
Kärnten
Mähren
Böhmen
Vorarlberg ....
Schlesien ....
Salzburg ....
Niederösterreicb .
Oberösterreich . .
Dalmatien ....
Görz und Gradisca
Istrien
Tirol
Triest
26.300
24.800
2.3,700
21.000
21.200
19200
16.700
16.600
15.900
15.800
11.700
13.300
12.500
10,000
9.100
8.100
6.500
1,164.100
S2
133.500
9
32.600
1
145.300
3
23.300
1
246.200
11
702,900
37
2
92,700
4
20.800
1
271.300
19
49.400
1
10
16.300
1
63.500
5
-72.400
2
53,000
4
36.300
14.800
32.600
48.400
23.300
22.400
18.900
23.100
20.800
14.200
49.400
16.300
12.700
13.200
Kronland
Heutiges
Verhältniss
von Apothe-
ken zu
Einwohnern
Vermehrung
der
Einwohner
seit 1879
Ver-
mehrung
der Apo-
theken
seit 1879
Somit entfall,
auf jede neue
Apotheke von
der Vermehr,
der Bevölker,
Ungarn . . ,
Siebenbürgen
Croatien . . .
11.800 : 1
14.400 : 1
19.600 : 1
1,720.000
131.600
- 36.000
790
73
21
2.200
1.800
1.700
Ungarn. Nach dem Jahresbericht über die Sanitätsverhältnisse im Jahre
1895 betrug die Zahl der diplomirten Apotheker im Berichtsjahre 2132 gegen-
über 2092 im Vorjahre, so dass sie um 40 zugenommen hat. — Die Gesammt-
zahl der Apotheken betrug im Berichtsjahre 1755, hat somit gegenüber dem
Vorjahre um 64 zugenommen. Es gab Apotheken:
Real- Personalrechtliche
1894 410 908
1895 409 ' 942
Zu- bezw. Abnahme
Filialen
35
38 ...
+3"""
— 1
Haus-
33
38
+5
+34
Handapotheken
305
328 •
+23
Die Zahl der Realapotheken hat sich demnach um 1 vermindert, da eine
bisher als Reale geltende Apotheke als Personalrecht erklärt wurde. Die Zahl
der Personalapotheken stieg um 34, die der Filialen um 3, der Hausapotheken
um 5, der Handapotheken um 23. Gesammtzunahme 64 Apotheken. Von
diesen Apotheken entfielen auf die Comitate: 178 öffentliche, 351 Haus- und
Handapotheken, zusammen 1529 (um 55 mehr als im Vorjahre); auf die
Städte entfielen 211 öffentliche, 15 Haus- und Handapotheken, zusammen 226
(um 9 mehr als im Vorjahre). Von den öffentlichen Apotheken entfielen : :
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 85
1893 auf 11.522 Einw. u. 216-6 □ hm 1 Apotheke
1894 „ 11.207 „ „ 206-78 „ 1 „
1895 „ 10.916 „ „ 201-42 „ 1
Schweiz, Die Schweiz zählte am Ende des Jahres 1892 501 Apotheken,
welche Zahl im Laufe des Jahres um 2 stieg. Auf je 10.000 Einwohner ent-
fallen in der ganzen Schweiz 1-7 Apotheken. Canton Genf, in welchem auch
fremdländische Diplome gelten, weist auf 10.000 Einwohner, 4-5 Apotheken,
Tessin 3-9, Schaffhausen 3-2, Waadt 3-1, Neuenburg 2-9, Basel (Stadt) 26,
Aargau 1-8, Wallis 1-7, Freiburg TS, Zürich 1-4, Uri 1-2, Bern, Luzern,
Thurgau, St. Gallen an 1, alle übrigen Cantone unter 1. Basel (Land) weist
die wenigsten (0*3) Apotheken auf.
Schweden. Im Jahre 1894 gab es 295 Arzneiversorgungsanstalten u.
zw. 237 Stammapotheken, 9 Filialen und 49 Medikamenten-Depots.
Die Hauptstadt, mit 250.000 Einw., hat auf je 13.000 Einw. eine Apo-
theke. Von den übrigen Städten gibt es einige, die mit einer Einwohnerzahl
von circa 5 — 7000 Einw. zwei Apotheken besitzen, andere dagegen mit
10 — 15.000 nur eine. Ebenso sind auf dem Lande die Apotheken sehr
ungleichmässig vertheilt, in einigen Kegierungsbezirken, deren es 24 gibt,
kommt eine Apotheke auf rund 3— öOO/m^ und 22—27.000 Einw. (Städte
und Stadtapotheken mitgerechnet), in einer Provinz sogar auf 2487 km^ und
40.000 Einw. nur eine, in einer anderen der mittleren Provinzen eine Apo-
theke auf 450 Am^ und 10.000 Einw. In den nördlichen Bezirken (Norbotten
und Westerbotten), wo es nur einen bis zwei Menschen per Quadratkilometer
gibt, hat jede Apotheke einen Rayon von 9000, resp. 5000 km^ mit 9000,
resp. 11.000 Menschen. (Mit „Apotheke" ist hier stets jede Art von Arznei-
Versorgungsanstalt, ohne Piücksicht auf die Namen derselben, gemeint.) Als
Mittel ergibt sich für ganz Schweden ein Arznei-Versorgungsamt für etwa
17.000 Einw., oder eine selbständige (Stamm-) Apotheke für 21.000 Einw.
Zur Umwandlung der bestehenden Apotheken in reine Personal conces-
sionen und Ablösung der darin investirten Werthe, ist in Schweden eine
Selbstablösung der Apotheken im Zuge, die auf folgenden Principien
beruht und bis zum Jahre 1920 durchgeführt sein wird: Von den verkäuf-
lichen Apotheken Schwedens, deren Zahl im Ganzen 119 betrug, betheiligten
sich im Jahre 1873 an der Ablösung 84 mit einem Betrage von 5,851.000
Kronen, nach einer ungefähren Berechnung des Umsatzes auf 2^/2 Millionen
Kronen jährlich. Die Gesammtherabsetzungen an den verlangten Ablösungs-
summen stellen sich nach einer Durchnittsrechnung für alle eingelösten Privi-
legien auf ungefähr 7 pCt. Für die Einlösung der Privilegien wurde 1874
eine Obligationsanleihe zu einem Zinsfuss von 5V2 pCt. gemacht, wodurch
die Jahresabgaben zum Fonds für Zinsen und Amortisation sich auf 6^2 pCt
stellen, welche iedoch später etwas herabgesetzt werden können. Diese An-
leihe wurde 1890 zum Parikurs auf 4 pCt convertirt, und es beträgt die Ein-
zahlung der Theilnehmer zum Fonds gegenwärtig 5-1 pCt. An neuen Apo-
theken, welche sich an. der Ablösung betheiligten, wurden seit der Gründung
des Fonds 16 eingerichtet; an reinen, nicht einmal an die Witwe übertrag-
baren Personalconcessionen 110, ausser ungefähr 60 Arzneivorrathsanstalten
und Filialapotheken. Auf Ansuchen der 25 Apotheken, welche bei der Fonds-
gründung nicht beigetreten waren, hat der König im Jahre 1892 gestattet,
dass für diese ein selbständiger Amortisationsfonds gebildet wurde unter
der Bedingung, dass die bisher auf die Privilegien des älteren Fonds ge-
leisteten Annuitäten oder ungefähr 16 pCt von der früheren Schätzung der
Ablösungssummen abgerechnet werden, sowie dass der neue Fonds Apotheken-
privilegien zum festgestellten Werthe von mindestens 750*000 Kronen um-
fasst, dieser neue Fonds ist bereits mit 8 eingelösten Privilegien zu einem
86 APOTHEKENWESEN UND ARNZEIMIT TEL VERKEHR.
Gesammtbetrage von 792-000 Kronen in Wirksamkeit getreten. Das erforder-
liche Capital wurde durch 4pCtige Obligationen beschafft. Die verkäuflichen
Apotheken, welche mit Ablauf des Jahres 1893 sich nicht zum Eintritt in
den neuen Fonds gemeldet haben, müssen ihre Privilegien natürlich selbst
amortisiren.
Da die Eeform des Apothekenwesens nach schwedischem Muster auch
in anderen Ländern gegenwärtig viel erörtert wird und einige Aussicht hat
durchgesetzt zu werden, so dürfte folgende Schilderung der Apothekenverhält-
nisse Schwedens (der Apotheker-Ztg. in Berlin) von Interesse sein:
Zur Ausübung des Apothekerberufes bedarf es in Schweden eines königlichen Privi-
legiums. Ursprünglich waren alle diese Privilegien reale, d. h. sie konnten von dem In-
haber verkauft, testirt oder wegen Schuld verschrieben werden ganz so, wie jeder andere
Besitz. Wenn, also ein Apotheker sein Privilegium einem Pharmaceuten überliess, so
brauchte der neue Besitzer nur die Kaufsurkunde vorzuzeigen und seine Competenz zur
Leitung einer Apotheke nachzuweisen oder, mit anderen Worten, den Nachweis zu liefern,
dass er das Apothekeresamen abgelegt hatte, um von der kgl. Regierung das Privilegium
auf sich überlassen zu erhalten. Ungefähr in der Mitte dieses Jahrhunderts begann man
indessen dem Grundsatze zu folgen, für den, welcher die Erlaubnis erhielt, auf einem von
der Regierung ausersehenen Platze eine neue Apotheke anzulegen, nur ein persönliches
Privilegium auszufertigen. Von der Zeit an gab es also zweierlei Apotheken : realprivilegirte
(die alten) und persönlich privilegirte (äie neuen). Neue Apotheken wurden jedoch nur
selten eingerichtet, obwohl die Anzahl der Pharmaceuten im Verhältnis zu der der Apo-
theken unaufhörlich wuchs. Es konnten daher nur wenige Pharmaceuten zu selbstän-
diger Ausübung ihres Berufes kommen, wenn sie sich bei der Regierung unter Angabe
ihrer Meriten um die Concession zu einer neuen Apotheke oder um eine vakante persön-
lich privilegirte Apotheke bewarben. Am gewöhnlichsten war es, dass ein Pharmaceut,
welcher selbständig zu werden wünschte, eine schon bestehende Apotheke mit Realprivi-
legium kaufte. Diese Privilegien aber hatten im Laufe der Zeit hohen Werth erreicht,
und die allermeisten Pharmaceuten waren unbemittelt und konnten die nöthigen Summen
oder Sicherheiten nicht anschaffen; es waren also nicht die Verdienste im Berufe, welche
hier entscheidend waren. Es erhoben sich daher immer mehr Klagen — auch ausserhalb
des Kreises der angestellten Pharmaceuten — über die Schwierigkeit für unbemittelte Phar-
maceuten, in Besitz von Apotheken zu kommen. Die Frage, wie sich eine Verbesserung
in dieser Beziehung erzielen lasse, wurde sowohl innerhalb der Regierung wie des Reichs-
tages Gegenstand der Berathungen und es wurden mancherlei Vorschläge gemacht, dar-
unter auch der, dass der Staat ganz einfach durch ein Gesetz die älteren Apotheken ohne
jegliche Entschädigung ihrer Realprivilegien berauben solle, was von den Besonneneren
jedoch als rechtswidrig und des Staates unwürdig bezeichnet wurde. Indessen erkannte
die „Apothekersocietät", die Hindernisse und Schwierigkeiten für eine ruhige Fortentwicke-
lung der Pharmacie, welche durch die freie Veräusserlichkeit der Apothekerprivilegien ent-
standen war, und beschloss, den Handel mit Apothekenprivilegien selbst abzuschaffen und
durch eine Obligationsanleihe ihre eingekauften Privilegien unter gewissen Garantien von
Seiten des Staates, aber ohne Kosten für denselben zu amortisiren. Und darauf erfolgte
die Bildung des Amortisationsfonds für Apothekenprivilegien, wodurch die allermeisten
Realprivilegien auf einmal zu persönlichen umgewandelt wurden, alle aber unbedingt im
Jahre 1920. Es war für keinen Apotheker Zwang, sein Privilegium zu amortisiren oder
als Theilhaber dem Fonds beizutreten, indessen waren es nur wenige, blos 25 Inhaber von
Apotheken, welche dies nicht thaten. 13 von diesen verlangten und erhielten vor einigen
Jahren die Genehmigung der Regierung, einen neuen Amortisationsfonds auf im Ganzen
derselben Grundlage, wie der alte war, zu bilden, so dass jetzt nur noch 12 Apotheken
Realprivilegien haben und bis zum Jahre 1920 verkäuflich sind. Augenblicklich existiren
in Schweden — ausser 72 Annexapothehen (Filialapotheken, Medicamentsvorräthen und
Brunnenapotheken) — 244 privilegirte Apotheken, davon 232 mit persönlichen und 12 mit
noch für eine Zeit verkäuflichen Privilegien. Von den 232 persönlich privilegirten Apo-
theken sind 126 ursprünglich realprivilegirte, aber vom Amortisationsfond eingekaufte und
dadurch zu persönlich privilegirten umgewandelte, welche zu Annuitäten an den Amorti-
sationsfonds verpflichtet sind; die übrigen 106 sind ursprünglich persönHch privilegirte,
also nicht annuitätenpflichtige. Von diesen müssen indessen 38 jährliche Abgaben an den
Unterstützungsfond der Leibrenten- und Pensionscasse des Apotheker- Vereins entrichten,
während die übrigen bis auf Weiteres auf Grund ihres geringen Umsatzes davon befreit
sind. Die Bildung des Amortisationsfonds (1873 kgl. Vdg. 3. Sept. 1873), wodurch die
meisten Privilegien, und gerade die der grösseren, einträglicheren Apotheken, von realen
(veräusserlichen) in persönliche (unveräusserliche) verwandelt wurden, geschah ohne eigent-
liche Schwierigkeiten, und die Befürchtungen, welche von den Gegnern der Refornibestre-
bung ausgesprochen wurden, besonders dass die künftigen neuen Inhaber voraussichtlich
weniger Interesse für locale Anordnungen und Verbesserungen in den Apotheken wie für
deren Pflege im allgemeinen haben würden, haben sich als vollständig grundlos erwiesen.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 87
Das Interesse für die Leitung der Apotheken ist im Gegentheil ein regeres geworden, und
das ist auch ganz natürlich, weil ein gut unterhaltenes Lager und Inventarium von einem
möglichen Nachfolger zum vollen Betrage gekauft werden soll, und weil eine sorgfältige,
verdienstvolle Leitung einer kleineren Apotheke leicht eine Beförderung zu einer einträg-
licheren zur Folge haben kann. Gerade diese Hoffnung war es, welche dazu beitrug, dass
die Bildung des Amortisationsfonds möglich wurde. Allerdings waren es die Apotheken-
inhaber selbst, welche durch allmälige Amortisation die Lösesumme, welche sie bei Ueber-
lassung ihrer Privilegien an den Amortisationsfond erhalten hatten, zurückzahlen sollten,
doch wurde das geringe Opfer der verhältnismässig niedrigen halbjährlichen Abgabe für
die Amortisation des Capitals von dem ihnen während der Amortisationszeit zugesicherten
Schutze gegen jegliche grössere Veränderung der bestehenden Verhältnisse reichlich auf-
gewogen. Apothekenconcessionen als Handelswaare mit stets steigenden Preisen sind auf
diese Weise vom Markte verschwunden. Der Apotheker verbleibt dagegen für immer in
seinem Berufe und erhält durch diesen sein Auskommen, weiches freilich zuweilen nur
ein sehr bescheidenes, dafür aber für das ganze Leben sicheres ist. Bei Abgang eines
Apothekers, d. h. in der Regel bei seinem Tode, soll der von der kgl. Regierung nach
gehöriger Bewerbung und auf Grund nachgewiesener grösserer Meriten vor den Mitbewer-
bern ernannte Nachfolger das Lager und Inventar der Apotheke nach dem Werthe, welchen
sie in den Localen der Apotheke haben, bar einlösen und die restirenden Verpflichtungen
gegen den Amortisationsfond übernehmen. Sollte der abgegangene Apotheker kein Ver-
mögen haben sparen können, so ist er doch während der Zeit, dass er Inhaber der Apo-
theke gewesen ist, gezwungen gewesen, mit oder wider Willen durch Quartalszahlungen
an die Leibrenten- und Pensionscasse des Apothekercorps (kgl. Vdg. 11. Febr. 1887) seiner
hinterbliebenen Frau oder Kindern eine wenn auch bescheidene Pension zu sichern. Auch
diese Pensionseinrichtung ist eine glückliche Frucht der neuen Verhältnisse, welche die
Amortisation der Realprivilegien getragen hat.
Norwegen. Am Schlüsse des Jahres 1895 bestanden in Norwegen
113 selbständige Apotheken, davon 33 mit verkäuflicher, 80 mit persönlicher
Concession, ausserdem 7 Filialapotheken.
Die Selbstablösungsfrage nach schwedischem Muster steht auch in Nor-
wegen auf der Tagesordnung und die Inhaber der Realprivilegien sind zu-
sammengetreten, um diese Sache zu überlegen.
Eine Commission von Aerzten und Apothekern ist auch mit der Frage
beschäftigt, ob Staats- oder Communal- Apotheken vor der bestehenden Ordnung
vorzuziehen wären. Es liegen nämlich von Aerzten eingereichte Vorschläge
vor, alle Apotheken in Staatsapotheken umzuwandeln.
Dänemark. Die Zahl der Apotheken betrug 1892 169, davon 88 Real-
apotheken (darunter 1 Filiale) und 81 Personalapotheken (darunter 1 Hilfs-
apotheke).
Russland. Die Zahl sämmtlicher Pharmaceuten im Reiche (Finnland
ausgeschlossen) am 1. Nov. 1891 war: 6478, darunter Civil-Pharmaceuten
6260 (96-7 pCt), Militärpharmaceuten 209 (3*1 pCt), Marinepharmaceuten 9
(0-1 pCt). — Von den Civil-Pharmaceuten waren 5069 (78-3 pCt) in freien
Apotheken beschäftigt, 96 (l'S pCtj in städtischen, Hospital-, Regierungs- und
Communalapotheken, 118 (1*8) pCt), in den Apotheken der Semstwo, 311
(4*8 pCt) in Apothekermagazinen, 568 (8*7 pCt) waren zeitweilig nicht beim
Fache, 36 (0*6 pCt) hatten sich einem anderen Berufszweige gewidmet, 46
Pharmaceuten waren Assesoren bei den Medicinal-Verwaltungen, 4 waren
Chemiker-Experten beim Zoll, 7 waren an chemischen, Parfümerie- und Seifen-
fabriken thätig, 3 an chemisch-sanitären Stationen. Besitzer von Apotheken
waren 1817, Arrendatoren 274, Verwalter 812, Conditionirende 2166, in
Summa: 5069. Die Zahl der im Besitze von Pharmaceuten befindlichen Apo-
theken einschliesslich der Filialapotheken betrug 1935 oder 67*1 pCt aller
Apotheken. Die Zahl sämmtlicher Apotheken beträgt 2884, es befinden sich
somit 949 Apotheken in Händen von Nichtpharmaceuten. Von diesen ge-
hören Krankenhäusern der Regierung 10, städtischen Communalverwaltungen
7, städtischen Communen und der Semstwo 106, Gesellschaften der Aerzte 3,
Fabriken 5, jüdischen Gemeinden 3, Privatheilanstalten 1, Consum vereinen 2
und Wohlthätigkeitsanstalten 8, somit als Regierungs- undCommunalinstitutionen
88 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHE.
145 Apotheken. In Händen von Privatpersonen, die einen pliarmaceutischen
Grad nicht besitzen, befinden sich somit 804 Apotheken eingeschlossen jene, die
Frauen von praktischen Apothekern sowie Erben verstorbener Pharmaceuten
gehören. — Von den ausschliesslich in Apothekermagazinen (= unseren Dro-
guerien) beschäftigten 311 Pharmaceuten waren 218 Besitzer und 93
Conditionirende. Ausserdem besassen 93 Apothekenbesitzer und Arrendatoren
Apothekermagazine, in welchen 20 Conditionirende theilweise beschäftigt
w^urden. Besitzer von Apothekermagazinen waren somit 311 Pharmaceuten,
in Summa also 424 Pharmaceuten. Im Jahre 1888 wurden 695 Apotheker-
magazine gezählt, es waren somit etwa 40 pCt (316) aller Apothekermagazine
im Besitze von Pharmaceuten. Mineralwasseranstalten, die im Besitze von Phar-
maceuten waren, sind 20 angegeben; diese Zahl ist aber ofienbar nicht richtig, sie
wird mit den bei den Apotheken bestehenden Anstalten 100 überschreiten. —
Vergleicht man die Zahl sämmtlicher 6478 Pharmaceuten Kusslands (richtiger:
Personen, die eine pharmaceutische Ausbildung genossen haben) mit der Zahl
der Einwohner 116.000.000, so kommt auf je 17906 Einwohner 1 Pharma-
ceut oder für das gesammte Reich auf 100000 Einwohner 6"2 Pharmaceuten.
Im europäischen Russland entfällt 1 Apotheke auf je 35000 Einwohner. Das
Verhältnis von Arzt zu Pharmaceut ist 1 Pharmaceut auf 1-9 Aerzte. Das
Verhältnis von annähernd 1 Pharmaceut: 2 Aerzten begegnen wir nicht nur
in den Gouvernementsstädten, sondern auch auf dem Lande. In den Gou-
vernementsstädten des Reiches finden sich 2834 Pharmaceuten und 6054 Aerzte,
in den Kreisstädten 1724 Pharmaceuten und 3368 Aerzte, in den Kreisen
1916 Pharmaceuten und 3060 Aerzte. Vom pharmaceutischen Nachwuchs
entfielen auf 100 diplomirte Pharmaceuten 37-7 Lehrlinge. Auf je 1 Apo-
theke entfallen 1*8 Personen incl. pharmaceutische Besitzer. lieber den Arznei-
mittelverbrauch liegen für das Jahr 1888 amtliche Ermittelungen vor. Den
stärksten Arzneimittelverbrauch weisen die Ostseeprovinzen und die Weichsel-
gouvernements auf: 22 Cop. pro Kopf. In den Gouvernements mit Land-
schaftsinstitutionen beträgt er pro Kopf 16 Cop., in denen ohne Landschafts-
institutionen 10 Cop., im Kaukasus 9 Cop., im Gebiete des Don'schen Heeres
7 Cop., in Sibirien 5 Cop., in den mittelasiatischen Gebieten 2 Cop.
Belgien. Die Zahl der Apotheken betrug zu Anfang des Jahres 1895
1828. Die Zahl der Studirenden der Pharmacie hat indess nach Erhöhung
der Ansprüche bezw. Verlängerung der Studienzeit neuerdings erheblich nach-
gelassen. Ueber das Drogistenunwesen klagen die belgischen Apotheker sehr.
Die meisten Drogisten in grösseren Städten prakticiren wie die Apotheker,
firmiren sogar als solche, wenn sie einen approbirten Apotheker als Stroh-
mann finden. Auf dem Lande soll die Concurrenz der Drogisten besonders
fühlbar sein. Die belgischen Apotheker streben die Einführung einer offi-
ciellen Arzneitaxe an, nach welcher die Arzneiwaaren zu engros-Preisen mit
geringem Zuschlag für Wägeverluste abgegeben werden sollen und nur für die
Anfertigung der Recepte ein Honorartarif festgesetzt wird. Die Beseitigung
der Gewerbefreiheit wird in Belgien schon lange angestrebt. In einem dahin
zielenden Entwurf wird Folgendes vorgeschlagen: Belgien wird in 1750 phar-
maceutische Bezirke eingetheilt (so dass auf je 3500—4000 Einwohner eine
Apotheke käme; also ungefähr das jetzige Verhältnis). Die Errichtung einer
neuen Apotheke darf nur gestattet werden, wenn die Bevölkerung eines Bezirks
über 3500 + 1750 + 1 (oder 4000 + 2000 + 1) steigt. Eine Apotheke darf
nicht errichtet werden, wo sich nicht im Umkreis von 2 km ein Arzt befindet.
Jeder etablirte Apotheker darf seine Stelle verlassen, um eine andere zu über-
nehmen, w^enn sein Gesuch die Priorität hat. Die Stelle gehört dem ersten
Besitzergreifenden; die Besitzergreifung erfolgt durch eine Erklärung, die
mittels eingeschriebenen Briefes der „Commission medicale" des Bezirkes über-
reicht wird. Kommen zwei Erklärungen an einem Tage an, so hat derjenige
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 89
mit älterer Approbation das Vorrecht; bei gleichem Approbationsalter und
wenn beide noch nicht etablirt waren, entscheidet das Lebensalter; war einer
etablirt, hat er den Vorzug u. s. w. Wenn eine neue Apotheke eröffnet ist,
verlieren die Aerzte auf 4 km in der Runde das Recht des Selbstdispensirens
(das sie bekanntlich in Belgien haben und fleissig ausüben), der Apotheker
muss jedoch ihnen ihre Vorräthe abkaufen und jedem Arzte, wenn es meh-
rere sind, eine Entschädigung von 1000 Francs, wenn es nur einer ist, von
2000 Francs zahlen. Wird die Apotheke durch Todesfall oder Rücktritt frei,
dann hat der Nachfolger für die Kundschaft 5000 Francs zu zahlen. Die
Witwe, und die Kinder haben das Recht, während eines Jahres die Apotheke
verwalten zu lassen.
In Italien gab es 1890 10024 Apotheken bei 30,947.316 Einwohner,
es entfiel somit 1 Apotheke auf 3087 Seelen. Die Zahl der diplomirten Apo-
theker betrug 10554, die der undiplomirten Assistenten 1773. Im Jahre 1892
gab es 10941 Apotheken, wovon 2375 in Hauptstädten und 8566 in den
übrigen Gemeinden. Die Zahl der Assistenten betrug 1392.
In Rumänien gab es 1893 181 Apotheken (darunter 11 Filialen),
ferner 71 Droguerien. In den Apotheken waren 433 diplomirte Assistenten
beschäftigt.
In Holland gab es 1890 599 Apotheken. Die Zahl derselben ist in
fortwährender Abnahme begriffen (1888 gab es noch 611 Apotheken). Assi-
stenten gab es: geprüfte 21, ungeprüfte (Gehilfen 2. Classe) 494 (darunter
248 w^eibliche), ferner 63 Praktikanten (darunter 19 weibliche). Die Apo-
theken sind nicht gleichmässig vertheilt, so dass sich einmal eine Apotheke
auf 3000 Seelen, dann wieder eine auf 7000 vorfindet. Diese Ungleich-
mässigkeit wird hauptsächlich durch die grossen Städte bedingt. Dazu kommen
noch die Apotheken der selbst dispensirenden Aerzte. In Gemeinden, wo es
keine Apotheken gibt, hat jeder Arzt das Recht eine Apotheke zu eröffnen.
Die Arzneimittel dürfen aber nicht abgegeben werden in Gemeinden, wo Apo-
theker wohnen. Die Zahl derartig dispensirender Aerzte kommt derjenigen
der Apotheker ziemlich gleich. Das Hilfspersonal besteht aus männlichen
oder weiblichen Gehilfen, welche fast niemals das Apothekerexamen bestanden
haben. Es gibt nämlich ein Gehilfenexamen, welchem sich jeder unterwerfen
kann, der das 18. Lebensjahr zurückgelegt hat. Bei dieser Prüfung werden
gefordert: Beweise für genügende Ausbildung auf den niederen Schulen; Grund-
begriffe der Chemie und Physik; Anfänge der lateinischen Sprache, so weit
sie zum Lesen und Verstehen der Recepte erforderlich sind; pharmaceutische
Waareukunde und theoretische und praktische Receptur. Verschiedene Phar-
macieschulen beschäftigten sich mit der Ausbildung zur Gehilfenprüfung,
während die Lehrlinge zu gleicher Zeit in einer Apotheke beschäftigt werden.
Da aber die Zahl der Gehilfen sich in den letzten Jahren so stark vermehrt
hat, dass das Gehalt eine fast nie gekannte Herunterdrückung erfahren hat,
sind verschiedene dieser Schulen aufgehoben worden oder haben sie ihre An-
forderungen so erhöht, dass die Anzahl der Lehrlinge erheblich geringer ge-
worden ist. Das weibliche Hilfspersonal hat sich in den Apotheken ein-
gebürgert. Dessenungeachtet ist das ihnen gewährte Gehalt kleiner als
das der männlichen Gehilfen.
Frankreich. Die französische Republik zählt gegenwärtig 8442 Apo-
theken, was auf die 38 Millionen Einwohner vertheilt, ungefähr 4552 Seelen
auf eine Apotheke ergibt. Nimmt man Paris für sich, so sind die Verhält-
nisse ganz anders. Die Einwohnerzahl von Paris 2,450.000 ergibt, da Paris
über 1200 Apotheken hat, 2000 Einwohner auf eine Apotheke.
Um diese grosse Concurrenz zu vermeiden, wurde durch ein im vorigen
Jahre eingebrachtes Gesetz beschlossen, die Anzahl der Apotheker durch die
90 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELYERKEHR.
Abschaffung der Apotheker 2. Classe zu beschränken, jedoch erst nach Ver-
lauf von 17 Jahren, so dass man nach dem Jahre 1911 nicht mehr „phar-
macien de seconde classe" werden kann. Da bis dahin noch verschiedene
Apotheker 2. Classe ausgebildet werden können und überdies das Gesetz noch
manchmal abgeändert werden kann, bevor es in Kraft tritt, hat diese Be-
stimmung vorläufig noch eine ziemlich illusorische Bedeutung. Dass die vielen
Apotheken in Frankreich bestehen können, liegt z. Th. daran, dass es dort
fast gar keine Drogisten gibt. Es gibt allerdings eine besondere Art Dro-
gisten welche „herboristes" heissen und welche bei einer pharmaceutischen
Lehranstalt eine Prüfung bestehen dürfen. Je nach ihren Kenntnissen werden
sie dort „herboristes de premiere classe" oder „herboristes de seconde classe".
Die Anzahl der Herboristen ist indess eine sehr geringe und sie spielen in
der Concurrenz keine sonderliche Rolle, besonders da sie nur mit Kräutern
und in der Regel mit Bandagen, Schwämmen, Parfümerien u. s. w. handeln.
In England trifft man gleiche Verhältnisse wie in Frankreich; die
Anzahl der Apotheken ist aber, namentlich in London, verhältnismässig be-
deutend grösser und die Concurrenz infolge dessen noch mehr zugespitzt. Im
Ganzen gab es in England 1891 14660 registrirte Apotheker. Die Zahl der-
selben ist seit 10 Jahren nicht gestiegen. Auch hier gibt es zwei Classen
von Apothekern: „pharmaceutical chemists" und „chemists und druggists";
aber die eine Classe hat keine Rechte vor der anderen voraus. Der einzige
Unterschied, der sichtbar zwischen den beiden Classen besteht, ist der, dass
der „Pharmaceutical cheraist" höhere Preise für seine Waaren nimmt. Neben-
dem ist die Befreiung von allen Jurydiensten, welche die „Pharmaceutical
chemist" geniessen, in England nicht so ganz bedeutungslos, als es einem
Fremden zunächst erscheint. Das Apothekergewerbe ist in England frei im
weitesten Sinne des Wortes; das einzige, was den geprüften Pharmaceuten
vorbehalten bleibt, ist der Handel mit giftigen Stoffen. Natürlich hat ein
ungeprüfter Mann nicht das Recht, sich „chemist" zu nennen, aber er darf
frei mit allen möglichen Arzneien handeln, ja auch Recepte anfertigen,
wenn diese nur nicht eines der in einem besonderen Verzeichnisse aufgeführten
Gifte enthält, und es gibt viele unexaminirte Leute, welche Geschäfte als
„druggist" betreiben. Diese Geschäfte unterscheiden sich sehr wenig von
den eigentlichen Apotheken. Auch die Aerzte dispensiren sehr häufig selbst
Arzneien. Seit 1868 besteht ein obligatorisches Examen für Apotheker. Es
gibt aber noch einige alte Apotheker in London, welche nie ein Examen
gemacht haben, und doch mit voller Berechtigung das Gewerbe betreiben,
da sie es vor 1868 begonnen haben. Diese Prüfung hat indessen in den
letzten Jahren sehr an Bedeutung verloren, da es nicht gelungen ist,
den Grundsatz zu behaupten, dass jeder Pharmaceut, der eine Apotheke be-
treibt, gleichzeitig Eigenthümer derselben sein muss. Es kann daher jeder
Apothekenbesitzer werden, ohne ein Examen bestanden zu haben, wenn er
sich nur einen examinirten Pharmaceuten hält. Actiengesellschaften und
Compagnien sind auch in der pharmaceutischen Welt Englands sehr häufig.
Das geht sogar soweit, dass die bekannten „Stores", Geschäfte, welche mit
allem möglichen — Kleidern, Esswaaren, Luxusgegenstäuden, Weinen, Cigarren
u. s. w. — handeln, besondere Abtheilungen für den Arzneihandel haben.
Wie aus der bisherigen Darstellung zu ersehen ist, begegnen wir fast
überall in den letzten Jahren dem Bestreben, den Apothekenbetrieb neu zu
regeln und der Pharmacie neue Grundlagen zu schaffen. Insbesondere finden
wir, dass fast überall eine erhöhte wissenschaftliche Ausbildung angestrebt
wird, welche auch in der That erforderlich ist, falls das Apothekenwesen sich
behaupten und den geänderten Verhältnissen anpassen soll. Der Arzt hat
APOTHEKENWESEN UND AEZNEIMITTELVERKEHR. 91
ein bedeutendes Interesse daran, derartige Bestrebungen mit Sympathie zu
begleiten und nach Möglichkeit zu fördern. Die immer mehr in hygienischer
Richtung sich vertiefende Therapie stellt heute an den Arzt ganz andere Anfor-
derungen, als früher. Es liegt in der Natur der Sache, dass der Apotheker
davon nicht unberührt bleiben kann. Er muss mit dem Mikroskop in der
Hand den Arzt durch Vornahme bakteriologischer und mikrochemischer Unter-
suchungen, durch Harnanalysen etc. unterstützen. So wird der wissenschaft-
lich gebildete Apotheker auch weiterhin ein gewissenhafter Helfer und Be-
rather des Arztes sein, der im Dienste des öffentlichen Gesundheitswesens dem
Gemeinwohle erspriessliche Dienste leisten kann. Wir sehen, dass die Auf-
gaben der wissenschaftlichen Pharmacie heute schon andere sind, als sie es
noch vor einigen Jahrzehnten waren und dass sie in Hinkunft immer grösser
und bedeutender sein werden. Denn neben den mikroskopisch-chemischen
Untersuchungen im Dienste der Therapie, fällt auch die Untersuchung und
Controle der Lebensmittel in ihr Gebiet, abgesehen davon, dass auch die
Prüfung und Werthbestimmung der Arzneimittel ein immer höhere Anfor-
derungen stellendes Feld der pharmaceutischen Thätigkeit darstellt. Die
Zukunft der Pharmacie kann nur in dieser Richtung liegen, das haben die
einsichtsvollen Männer des Faches schon längst eingesehen und bemühen
sich auch in dieser Richtung Reformen anzubahnen. Damit die Pharmacie
ihren künftigen Aufgaben gerecht werden könne, ist es jedoch erforderlich
nicht nur ihre wissenschaftliche Grundlage durch entsprechend höhere Aus-
bildung, sondern auch ihre materielle Basis einer den modernen Verhältnissen
entsprechenden Umgestaltung zu unterziehen. Die Sonderstellung, die heute
noch das Apothekenwesen in vielen Staaten einnimmt, muss aufhören. Ent-
weder die Apotheke sinkt zur einfachen Arzneimittelhandlung herab, wozu sie
jetzt schon auf dem besten Wege ist, nachdem die Darstellung der meisten
Präparate, selbst rein pharmaceutischer, immer mehr den Grossbetrieb in
Fabriken anheimfällt, oder sie wird eine auf wissenschaftlicher Grundlage ein-
gerichtete Sanitätsanstalt, die dem Staate und der Bevölkerung wichtige
Dienste zu leisten vermag.
Unserer Meinung na.ch ist die erste Grundbedingung der Neuregelung
des Apothekenwesens das Festhalten an dem Standpunkte, dass die Apotheke
eine dem Wohle der Bevölkerung dienende Sanitätsanstalt sei, nicht aber ein
Speculationsobject. Zweite Grundbedingung ist, dass dem Apotheker als
öffentlichen Sanitätsbeamten, der namentlich auf dem Lande sehr viel
zum Wohle der Bevölkerung leisten kann, eine gesicherte Existenz geboten
w^erde. Dritte Grundbedingung ist die Erweiterung und Vertiefung der phar-
maceutischen Ausbildung durch Einführung der Matura als Vorbildung und
entsprechende Erweiterung des pharmaceutischen Hochschulstudiums.
Sind diese Grundbedingungen erfüllt, dann kann die Neuregelung des
Apothekenbetriebes in verschiedener Weise erfolgen. Wie die Verhält-
nisse liegen kommen in Betracht: 1. Die Verstaatlichung des gesammten
Apotheken- und Sanitätswesens, welche auch unter den Aerzten viele Anhän-
ger zählt. Gegen diese Lösung wäre im Allgemeinen nicht viel einzuwenden,
sie erscheint aber vorderhand aus mancherlei Gründen unausführbar, abge-
sehen davon, dass die Gefahr besteht, es könne die ganze Action lediglich
zu einem neuen Staatsmonopol führen. 2. Die N iede r lassu ngs frei hei t
in bedingter Form, für welche in neuester Zeit auch die pharmaceutischen
Kreise theilweise eingenommen sind (besonders in Deutschland). Eine an
bestimmte gesetzliche Erfordernisse geknüpfte Niederlassungsfreiheit hat Man-
ches für sich. Grundbedingung derselben wäre die Erhöhung der Anfor-
derungen hinsichtlich der pharmaceutischen Ausbildung, also Einführung des
Maturums als Vorbildung sowie Erweiterung und Vertiefung des Hochschul-
92 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL VERKEHR.
Studiums. Eine 2. Hauptbedingung wäre die Feststellung einer Bevölkerungs-
ziffer, welche für die Errichtung von Apotheken in den Städten und auf dem
Lande maassgebend sein soll, in der Weise, dass die betreffende Behörde die
Errichtung weiterer Apotheken, wenn dieselbe mit dem Erfordernis nicht im
Einklang steht, verbieten kann. Eine solche Beschränkung wäre unbedingt
nothwendig, um einer zügellosen Concurrenz vorzubeugen. Endlich müssten
nach wie vor die Arzneipreise durch amtliche Arzneitaxe festgesetzt werden
und der Apothekenbetrieb auch weiterhin der staatlichen Controle unterliegen.
3. Die Einführung der reinen unveräusserlichen Personalconcession.
Diese hätte in der Weise zu erfolgen, dass innerhalb eines bestimmten Zeit-
raumes von beispielsweise 30 Jahren alle bestehenden verkäuflichen Eeal-
apotheken und übertragbaren Personalapotheken in unveräusserliche und
unübertragbare reine Personalconcessionen umgewandelt werden, bezw. dem
Staate anheimfallen. Die in den Apotheken angehäuften Werthe sind während
dieses Zeitraumes unter staatlicher Mithilfe nach schwedischen Muster abzu-
lösen. Alle von dem Zeitpunkte der Einführung dieser Bestimmungen neu
errichteten Apotheken werden selbstverständlich von vornherein als unver-
äusserliche Personalconcessionen vergeben. Jede Concession, sei es eine neu
geschaffene, sei es eine durch Tod oder Verzichtleistung erledigte, wird im
Wege des öffentlichen Concurses an den geeignetsten Bewerber verliehen,
wobei die genauesten Bedingungen bezüglich der Verleihung vorzuschreiben
sind und einerseits die Dienstjahre, andererseits besondere Fähigkeiten und
Verdienste auf wissenschaftlichen, fachliterarischen und anderen Gebieten
(z. B. des öffentlichen Gesundheitswesens) zu berücksichtigen wären. Die
Concession wird ad personam verliehen und der Bewerber mittelst amtlichen
Decretes zum öffentlichen (Bezirks-, Kreis-, Stadtapotheker) ernannt. Sein
Wirkungskreis ist der eines öffentlichen Sanitätsbeamten, seine Stellung nach
Art der Notariate eine halbamtliche. Die Möglichkeit des progressiven Vor-
rückens muss gewahrt sein. Die Schaffung eines obligatorischen Pensions-
fonds für Witwen und Waisen ist selbstverständlich eine Grundbedingung.
Eine Hauptbedingung dieser Reform ist auch die ausgiebige Vermehrung der
Apotheken, selbstverständlich in der Art, dass die bestehenden dadurch nicht
gefährdet werden.
Hausapotheken, Nothapparate und Arzneikästen. Seit dem Bestände
einer Apothekengesetzgebung (also seit Kaiser Friedrich IL diesbezüglicher Gesetz-
gebung) ist das Selbstdispensiren der Aerzte überall sehr eingeschränkt wor-
den und das mit vollstem Rechte, da dasselbe nur Missstände der' verschie-
densten Art zeitigte. In manchen Fällen kann jedoch von demselben auch
heute noch nicht abgegangen werden. So wird in vielen Staaten das Selbst-
dispensirrecht den Aerzten eingeräumt an Orten, wo keine öffentliche selbst-
ständige Apotheke oder Filialapotheke besteht u. zw. zu dem Zwecke um der
Bevölkerung den Bezug von Arzneimitteln zu erleichtern, keinesfalls aber um
etwa dem betreff". Arzte damit eine Mehreinnahme zu gewähren, wie dies
merkwürdigerweise von Seite der Aerzte mitunter noch angenommen wird.
Es wird also den Aerzten in solchen Fällen gestattet Arznei-Dispensir-
stellen oder Haus apotheken (Handapotheken) zu halten und aus den-
selben Arzneien zu diespensiren. Für diese ärztlichen Hausapotheken gelten
in den meisten Staaten im Allgemeinen dieselben Bestimmungen, wie für die
öffentlichen Apotheken, auch für dieselben sind die betreffende Pharmakopoe
und Arzneitaxe, sowie die sonstigen auf den Apothekenbetrieb bezüglichen
Vorschriften maassgebend, ebenso sind sie einer ähnlichen Revision unter-
worfen. Mit der Errichtung einer öffentlichen Apotheke, an einem Orte, wo
bis dahin eine Hausapotheke bestand, erlischt selbe.
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 93
Ueber die Hausapotheken und Nothapparate bestehen in Oesterreich
folgende Bestimmungen:
Instruction für Aerzte und Wundärzte, welche in den k. k. Erbstaaten die
Praxis ausüben wollen und keine Kreisärzte sind.
(Hofkd. 3. Nov. 1808).
§ 13. Befindet sich in dem Aufenthaltsorte eines Arztes oder sehr nahe an selbem
eine Apotheke, so ist es dem Arzte nicht erlaubt selbst Arzneien auszugeben. Ist aber
weder an dem Orte selbst, noch im Umkreise einer Stunde eine Apotheke befindlich, so
ist es dem Arzte erlaubt eine Hausapotheke zu halten und aus selber die Arzneien nach
der Pharmakopoe an Kranke abzugeben.
§ 14. Befindet sich in dem Aufenthaltsorte des Wundarztes oder sehr nahe an selbem
eine Apotheke, so ist es ihm nicht erlaubt, selbst Arzneien auszugeben. Ist aber im Um-
kreise von einer Stunde keine Apotheke vorhanden, so kann der Wundarzt eine Haus-
apotheke halten und aus selber die Arzneien nach der Pharmakopoe an Kranke abgeben.
§ 15. Die aus diesen Apotheken hinausgegebenen Arzneien sind nie über die be-
stehende Apothekertaxe zu taxiren.
§ 16. Einfache, ihm wohlbekannte, in seiner Gegend wachsende Arzneimittel, als
Blumen, Kräuter, Wurzeln, Samen, ist dem Wundarzte erlaubt, sich selbst zu sammeln.
§ 17. Es ist ihm aber, wenn er auch die Eigenschaft besitzt, eine Hausapotheke zu
führen, verboten, zubereitete und zusammengesetzte Arzneien (präparata et composita),
welche zum innerlichen Gebrauche gehören, selbst zu verfertigen, sondern er muss selbe
von einen ordentlichen Apotheker kaufen und sich jederzeit darüber mit einem von diesem
gefertigten Verzeichnisse, worin der Name und das Gewicht der Arzneien und die Zeit des
Kaufes bestimmt sein muss, ausweisen können.
Verordnung des Ministeriums des Innern vom 26. Dec. ' 1882 betreffend
die Hausapotheken und Nothapparate der Aerzte und Wundärzte
(RGB. Nr. 182.)
A. In Betreff der Hausapotheken.
1. Die Berechtigung zur Haltung einer Hausapotheke bemisst sich nach den bis-
herigen hierauf bezüglichen gesetzlichen Vorschriften.
2. Jeder Arzt oder Wundarzt, der für sich die Berechtigung zur Haltung einer Haus-
apotheke beansprucht, hat hierzu die Ermächtigung bei der politischen Bezirksbehörde zu
erwirken.
3. Die Hausapotheke hat die Bestimmung, dem auf dem Lande die Praxis ausüben-
den Arzte oder Wundarzte die Verabreichung von Medicamenten an die sich seiner Behand-
lung anvertrauenden Kranken ohne grossen Verzug zu ermöglichen. Der Besitz einer
Hausapotheke berechtigt jedoch den Arzt nicht zum Verschleisse von Arzneien oder Arznei-
stoffen überhaupt, auch nicht zur Verabfolgung von Medicamenten aus derselben an Kranke,
die im Standorte einer öffenthchen Apotheke von dem eine Hausapotheke haltenden Arzte
behandelt werden.
4- Die Auswahl der Arzneimittel und die Menge derselben, welche in der Haus-
apotheke vorräthig gehalten werden, bleibt dem betreffenden Arzte oder Wundarzte über-
lassen, der übrigens für die Erhaltung der qualitätmässigen Beschaffenheit jedes in der
Hausapotheke vorhandenen Arzneistoffes verantwortlich ist.
Die Arzneimittel des Nothapparates 6 B, Punkt 1. und 2. müssen jedoch in jeder
Hausapotheke vorräthig sein.
5. Die Verabfolgung eines Medicamentes aus dem Arzneimittelvorrathe einer Haus-
apotheke darf nicht verweigert werden, wenn dieselbe von einem auswärtigen, zur ärzt-
lichen Hilfeleistung herbeigerufenen Arzt verordnet, als dringend nothwendig bezeichnet
wird und die Beschaffung des Medicamentes aus einer Apotheke nicht rechtzeitig zu be-
wirken wäre.
6. In jeder Hausapotheke müssen die zur correcten Dispensirung von Arzneien erfor-
derlichen Behelfe : Waagen, Gewichte, Maasse und sonstige Geräthe im vorschriftsmässigen
Zustande vorhanden, die Arzneivorräthe in einer, jeden Missbrauch, jede Vermengung oder
Verwechslung ausschliessenden Weise verwahrt sein.
7. Rücksichthch des Bezuges der Arzneistoffe und Präparate für die Hausapotheken
bleiben die bestehenden Vorschriften in Wirksamkeit.
Nebst dem Bezugsbuche hat der zur Haltung einer Hausapotheke berechtigte Arzt
oder Wundarzt auch ein Vormerkbuch zu führen, in welches unter Namhaftmachung der
Kranken die an sie verabfolgten Arzneien in Receptform einzutragen sind.
Den ausgefolgten Arzneien ist stets auch das betreffende Recept beizugeben und der
Taxpreis in gleicher Weise, wie es für die Apotheker vorgeschrieben ist, beizusetzen.
8. Die Dispensirung der Arzneien aus der Hausapotheke darf nur durch den Arzt
oder Wundarzt oder einem von ihm hiefür bestellten Pharmaceuten besorgt werden. Für
die richtige Gebarung ist der Hausapothekenbesitzer verantwortlich.
94 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR.
B. In Betreff der Nothapparate,
1. Damit bei plötzlich eingetretenen, lebensgefährdenden Zufällen und Erkrankungen
der herbeigerufene Arzt zugleich auch die allerdringlichsten und unentbehrlichen, als be-
währt befundenen, gewöhnhch nur in Apotheken vorhandenen Mittel für die erste Hilfe-
leistung zur sofortigen Verabreichung verfügbar habe, hat ein Nothapparat zu dienen, in
welchem nachstehende Arzneimittel in der vorgeschriebenen Menge und Dosirung vorhan-
den sein müssen.
rt) Acidum tannicum, Doses Nr. 10 ä 1-00 Gramm (qua stypticum et antidotum). —
h) Chloroformium 100-00 Gramm. — c) Cuprum sulfuricum in pulvere, doses Nr. 10 ä l'OO
Gramm (qua emeticum et antidotum). — d) Ferrum sesquichloratum solutum 100-00 Gramm.
— e) Radix Ipecacuanhae in pulvere, doses Nr. 10 ä 1-00 Gramm (qua emeticum). —
/) Morphium hydrochloricum (zur subcutanen Injection): Morphii hydrochlorici 0-10 Gramm;
Aquae destillatae 5-00 Gramm. — g) Tinctura opii simplex 20-00 Gramm.
2. Den politischen Landesbehörden bleibt es vorbehalten, nebst den vorstehenden
Mitteln noch ein oder das andere zur Aufnahme in den Nothapparat zu bestimmen, wenn
hiefür unter Berücksichtigung maassgebender Verhältnisse sich ein Bedürfnis herausstellt.
3. Zur Haltung der in den Nothapparat aufgenommenen Arzneien ist jeder Arzt
verpflichtet, der in einem Orte wohnt, in welchem sich keine öffentliche Apotheke befindet.
4. In dem Standorte einer öffentlichen Apotheke domicilirenden Aerzte sind von der
politischen Bezirksbehörde zur Haltung eines Nothapparates zu ermächtigen, w^enn sie in
Ausübung ihres Berufes ausserhalb ihres Wohnortes befindliche Kranke besuchen und die
localen Communicationsverhältnisse derart sind, dass die Herbeischaffung der zur ersten
Hilfeleistung erforderlichen Arzneimittel nicht rasch genug aus der Apotheke bewirkt
werden kann.
5. Die Arzneimittel des Nothapparates sind in der zur Verabreichung bereits vor-
bereiteten Form aus einer der dem Arzte nächst gelegenen öffentlichen Apotheken zu be-
ziehen. Der Arzt ist für die gute Instandhaltung, der Apotheker für die richtige Dosirung
und Qualität der Arzneimittel des Nothapparates verantwortlich.
6. Die Gefässe und Kapseln, in welchen die Arzneimittel des Nothapparates ver-
wahrt werden, müssen mit genauen Signaturen, mit der Firma der Apotheke, aus welcher
die Arzneimittel verabfolgt wurden und mit dem Datum der Expedition versehen sein.
7. Die Aerzte sind verpflichtet, für die Complethaltung der Arzneimittel im Noth-
apparate zii sorgen und ein eigenes Vormerkbuch über den Bezug und die Verabfolgung
der Arzneimittel des Nothapparates zu führen.
Die Hausapotheken sowohl, als die Nothapparate der Aerzte und Wundärzte unter-
stehen der staatlichen Beaufsichtigung und haben die Bezirksärzte zeitweilig sich von dem
entsprechenden Zustande derselben, sowie über das vorschriftsmässige Gebaren mit den-
selben zu überzeugen.
Für die Visitation der in Krankenanstalten bestehenden Dispensir-
anstalten (Spitalsapotheken), ebenso für die ärztlichen Hausapotheken ist laut
Min. Erlass vom 4. Januar 1895, Z. 32,832 ex 1894 keine Visitationstaxe
zu entrichten.
Arzneikasten der Seehandelsschiffe: Mittelst Erlass des flan-
delsministeriums vom 15. Dec. 1875 RGB. Nr. 152 wurde auch den See-
handelsschiffen aufgetragen einen Arzneikasten mitzuführen. Die noch jetzt in
Kraft befindlichen Paragraphe dieser Verordnung lauten:
§ 1. Die im Artikel II, § 18 des polit. Marine-Edictes vom 25. April
1774 enthaltene Verpflichtung des Schiffers, einen Medicinalkasten an Bord
zu führen, wird auf die Seehandelsschiffe der weiteren Fahrt und jene der
grossen Küstenfahrt beschränkt. Die Anschaffung des Arzneikastens obliegt
dem Ptheder. Für das Vorhandensein desselben an Bord, für dessen Ver-
wahrung und die entsprechende Obsorge ist der Schiffer verantwortlich; ist
am Schiffe ein Arzt bestellt, so haftet dieser hiefür in erster Reihe.
§ 2. Die an Bord der Seehandelsschiffe obiger Kategorien zu führenden
Arzneikästen sind grosse, mittlere und kleine. Schiffe, welche bis zu 10 Per-
sonen an Bord haben, müssen mit einen Kasten der kleinen, jene mit 11 bis
20 Personen mit einen solchen mittlerer und jene mit mehr als 20 Personen
mit dem der grossen Gattung versehen sein.
§ 3. Jeder Kasten hat die in einer Anlage verzeichneten Arzneien und
sonstigen Gegenstände in vollkommen guter Qualität, sowie im vorgeschrie-
benen Ausmaasse zu enthalten.
Später wurden mittels Verord. d. Handelsminist, vom 10. October 1894,
RGBl. 195 einige ergänzende Bestimmungen erlassen.
.APOTHEKENWESEN UND AUZNEIMITTELVERKEHR. 95
Die Ordensapotheken, d. h. die von geistlichen Orden (Klöstern)
gehaltenen Apotheken sind flaus- bezw. Spitalsapotheken. Es ist denselben
untersagt Arzneien öffentlich zu verkaufen. An jenen Orten, wo den Barm-
herzigen Brüdern „aus besonderem Grunde" gestattet ist, Arzneien öffentlich
zu verkaufen, müssen dieselben ihre Apotheken durch einen geprüften Apo-
theker (Provisor) führen.
Nach dem Hofkd. 25. Mai 1770 ist es nur den Barmherzigen Brüdern und
Elisabethinerinnen, nach einem n. ö. Reg.-Decr. 3. Mai 1832, Z. 22638 den
Barmherzigen Schwestern, nach einem n. ö. Reg.-Decr. 13. Nov. 1834, Z. 61357
den Elisabethinerinnen (wiederholt), Salesianerinnen und Ursulinerinnen gestattet
yjfür die in ihren Häusern befindlichen Kranken Apotheken zu halten, ebenso
erlaubt, ihre gehörig ausgestatteten Apotheken durch einen approbirten Pro-
visor versehen zu lassen." Nach dem Hofkd. 14. Febr. 1822, Z. 3695 ist die
Aufdingung und Freisprechung der Apothekergehilfen und Lehrlinge, wie sie
in anderen Apotheken üblich bei den Barmherzigen Brüdern nicht zulässig,
dagegen aber müssen die Individuen allen jenen Prüfungen unterzogen wer-
den, welche die bestimmten Gesetze für die Apothekergehilfen und Lehrlinge
vorschreiben.
Homöopathie. Die grundliegenden Bestimmungen für die Ausübung
der Homöopathie in Oesterreich bietet das Hofkdecr. vom 9. Dec. 1846,
Z. 41201 (Pol. Ges. Samml. Bd. 74, Nr. 130), welches auf Grund der Allh.
Entschl. vom 6. Febr. 1837 erschien und das bis dahin bestandene Verbot
der Ausübung der homöopathischen Heilmethode in Oesterreich vom 21. Oct.
1819 aufhob:
Hofkanzleidecret von 9. December 1846 an sämmtliche Länderstellen.
Die gegen unbefugte Ausübung der Arznei- und Wundarzneikunde, dann Cur-
pfuschereien überhaupt bestehenden Vorschriften haben auch bei Voranstellung der homöo-
pathischen Heilmethode ihre Anwendung zu finden. Die für diese Heilmethode erforder-
lichen Stammtincturen und Präparate dürfen nur aus den Apotheken verschrieben werden ;
diese Arzneien können aber sodann von den der homöopathischen Heilmethode ergebenen
Aerzten und Wundärzten verdünnt und verrieben und ihren Patienten, jedoch unentgeltlich,
verabreicht werden, doch muss bei den letzteren immer ein Arzneizettel, auf welchem die
verabreichte Arznei genau mit dem Grade ihrer Verdünnung und Verreibung angegeben
und diese Angabe mit der Namensunterschrift des Arztes oder Wundarztes bestätigt ist,
hinterlegt werden.
Da seinerzeit Zweifel darüber entstanden, ob die im § 354 "") des all-
gemeinen Strafgesetzes vom 27. Mai 1852 enthaltenen Bestimmungen über
den unberechtigten Verkauf innerer oder äusserlicher Heilmittel auch auf
zubereitete homöopathische Arzneien anwendbar seien, wurde von dem Justizmi-
nisterium im Einverständnisse mit dem Ministerium des Innern eine Erläuterung
mittelst Erlass des k. k. Justizministeriums vom 9. August 1857, RGBl.
Nr. 151, T\irksam für alle Kronländer, gegeben, welche folgenden Wortlaut hat:
„Auch der Verkauf zubereiteter homöopathischer Heilmittel ist ausser den öffentlichen
Apotheken und Hausapotheken den beglaubigten Heil- und Wundärzten auf dem Lande
ohne von der Behörde hierzu ertheilte besondere Bewilligung unter den im § 354 des
Strafges. enthaltenen Bestimmungen verboten, die den Aerzten und Wundärzten, welche
sich der homöopathischen Heilmethode bedienen, eingeräumte beschränkte Befugnis der
unentgeltlichen Selbstdispen sation nach dem Hofkdecret 9. Dec. 1876 erleidet durch die
gegenwärtige Verordnung keine Veränderung".
*) Str. G. § 354. Ausser den Berechtigten, wie auch den Hausapotheken der be-
glaubigten Heil- und Wundärzte auf dem Lande ist der Verkauf von innerlichen und
äusserlJchen Heilmitteln, in Beziehung auf deren Verabfolgung besondere beschränkende
Anordnungen bestehen, ohne von der Behörde darüber ertheilte besondere Bewilligung
verboten. Diese üebertretung ist mit Arrest von einem bis zu drei Monaten, ist der Verkauf
durch mehrere Monate fortgesetzt worden, mit Verschärfung des Arrestes, und zeigen sich
in der Untersuchung von dem Verkaufe solcher Arzneien schädliche Folgen, mit strengem
Arreste von einem bis zu sechs Monaten zu bestrafen.
96 APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTEL7ERKEHR.
In einem speciellen Falle wurde mittelst Min. Entscheid, vom 26. April
1881, Z. 3622, entschieden:
„Durch das mit der Allh. Entschl. vom 5. Dec. 1846 (Hofk.-D. vom 9. Dec. 1846,
Z. 41201) den homöopathischen Aerzten gemachte Zugeständnis, die aus den Apotheken
verschriebenen Stammtincturen und Präparate selbst verdünnen, verreiben und ihren
Patienten, jedoch unentgeltHch verabreichen zu dürfen, sind die weiteren auf das Medicinal-
wesen Bezug nehmenden Verordnungen rücksichtlich der Dispensirung von Medicamenten
seitens der Aerzte überhaupt, durchaus nicht berührt worden.
Demnach sind die homöopathischen Aerzte, gleichwie die allopathischen verpflichtet,
die für ihre Hausapotheken und Nothapparate benöthigten Arzneien aus den öffentlichen
Apotheken des Inlandes zu beziehen, da nur diese unter staatlicher Aufsicht und Controle
stehen ;
weiters ist durch die obbezogene Allh. Ent. den homöopathischen Aerzten nicht ge-
stattet, in den Apotheken hergestellte Verdünnungen und Verreibungen der homöopathischen
Medicamente selbst zu dispensiren, sie sind vielmehr, wenn sie von dem ihnen gemachten
Zugeständnisse der Selbstdarstellung dieser Verdünnungen und Verreibungen keinen
Gebrauch machen, verpflichtet, gerade so wie die allopathischen Aerzte, die homöopathischen
Medicamente aus öffentlichen inländischen Apotheken zu verordnen.
Weiters ist maassgebend folgende Verordnung des Ministeriums des
Innern aus dem Jahre 1887:
Verordnung des Ministerium des Innern von 27. Mai 1887, betreffend die
Verabreichung von homöopathischen Arzneiverdünnungen an Kranke
durch der homöopathischen Heilmethode ergebene Aerzte und Wundärzte.
(RGBl. Nr. 67.)
Mit der allerhöchsten Entschliessung vom 5. December 1845 (Politische Gesetzes-
sammlung, Band LXXIV, Nr. 130) wurde „den der homöopathischen Heilmethode ergebenen
Aerzten und Wundärzten" gestattet, die nach dieser Heilmethode erforderlichen und aus
den Apotheken zu verschreibenden Stammtincturen und Präparate verdünnt und verrieben
ihren Patienten unentgeltHch zu verabreichen.
Um den Missbräuchen zu begegnen, welche in Folge einer irrthümlichen Inter-
pretation der angeführten und gesetzlichen Bestimmung insbesondere dadurch sich ergeben,
dass Aerzte und Wundärzte, auch wenn sie zur Arzneidispensation nicht berechtigt sind,
unter dem Vorwande der Anwendung der homöopathischen Heilmethode Arzneien irgend
welcher Art an Kranke verabreichen, wird auf Grund eines Gutachtens, des obersten
Sanitätsrathes hiermit erklärt, dass die aus der eingangs citirten allerhöchsten Ent-
schliessung fliessende Berechtigung zur Selbstdispensation homöopathischer Arzneiver-
dünnungen nur jenen Aerzten und Wundärzten zukommt, welche der homöopathischen
Heilmethode „ergeben" sind, d. h. welche sich bei Behandlung ihrer Kranken ausschliesslich
der homöopathischen Heilmethode bedienen und sich hinsichtlich der Arzneidispensation
genau an die ursprünglichen strengen Grundsätze der potenzirten homöopathischen Ver-
dünnung halten.
Die nach dem vorstehenden Grundsatze zur Selbstdispensation homöopathischer Arznei-
verdünnungen berechtigten Aerzte und Wundärzte sind bei den politischen Behörden mittelst
besonderer Verzeichnisse in Evidenz zu führen. Sie sind verpflichtet, die für ihre homöo-
pathischen Hausapotheken erforderlichen Stammtincturen und Präparate ausschliesslich nur
aus inländischen Apotheken zu beziehen und bei der Verabreichung ihrer homöopathischen
Arzneiverdünnungen an Kranke einen mit ihrer Namensunterschrift bestätigten Arzneizettel,
auf welchem die verabreichte Arznei genau mit den Grade ihrer Verdünnung oder Yer-
reibung angegeben zu sein hat, zu hinterlegen.
Ihre homöopathischen Hausapotheken unterliegen der amtsärztlichen Revision nach
den hinsichtlich der Revision der Hausapotheken der Aerzte und Wundärzte überhaupt
giltigen Bestimmungen.
Weiters eine Minist. Verfügung, welche als Erlass der k. k. Statthalterei
in Böhmen vom 12. October 1895, Z. 154.615, allen unterstehenden poli-
tischen Behörden, betreffend die bei dem Bezüge und bei Abgabe homöo-
pathischer Arzneien zu beobachtenden Vorschriften, wie folgt kundgemacht
wurde:
„Das h. k. k. Ministerium des Innern hat anlässlich der Beschwerden zweier
homöopathischer Aerzte, betreffend die Berechtigung derselben zur Führung sowohl allo-
pathischer als auch homöopathischer Arzneien in ihren Hausapotheken, Folgendes bekannt
gegeben.
Nach den bestehenden gesetzlichen Bestimmungen, insbesondere der Hofk.-D, vom
3. Nov. 1808 und vom 24 April 1827 sind die an einer inländischen Facultät promoyirten
Aerzte mit Vorwissen der politischen Behörde und nach erfolgter Legitirairung bei der-
APOTHEKENWESEN UND ARZNEIMITTELVERKEHR. 97
selben durch Vorlage des Diplomes berechtigt, die ärztliche Praxis auszuüben, ohne dass
in diesen Vorschriften das Recht der Praxis-Ausübung an die Bedingung des therapeutischen
Vorgehens nach einer bestimmten, nicht durch ein ausdrückliches Verbot ausgeschlossenen
Heil-Methode geknüpft wird.
Hingegen ist in Gemässheit der Bestimmungen der Allerh. Entschl. vom 5. Dec. 1846
(P. G.-S. Band LXXIV. Nr. 130), beziehungsweise der Verordnung vom 27. Mai 1887
RGBl. Nr. 67, nur den ausschliesslich der homöopathischen Heilmethode ergebenen Aerzten
die Berechtigung zur Selbstdispensation homöopathische Arznei-Verdünnungen — insoferne
dieselben nicht ohnehin das Selbstdispensationsrecht in Folge der Berechtigung zur Haltung
einer Hausapotheke besitzen — , daher auch an solchen Orten zugestanden, an denen
öffentliche Apotheken bestehen, oder an denen sie zur Haltung von Hausapotheken nicht
berechtigt wären.
Jene Aerzte, welche ohnehin zur Haltung einer Hausapotheke und sonach zur
Dispensation von im Heilmitcelverkehre zulässigen Arzneimitteln unter Beobachtung der
Bestimmungen der Vdg. des Min. Inn. vom 26. Dec. 1882. RGBl. Nr. 182, über Haus-
apotheken, berechtigt sind, sind nicht gehindert, Arzneien nach homöopathischer Methode
aus ihren Hausapotheken zu dispensiren, für welche denselben die Auswahl der Arznei-
mittel nach Punkt 4 der bezogenen Ministerial-Verordnung freisteht.
Es haben daher die zur Haltung von Hausapotheken berechtigten Aerzte, sohin auch
die Recurrenten, nach den bestehenden Vorschriften die zur Einrichtung und Ergänzung
ihrer Hausapotheken erforderlichen chemischen und pharmaceutischen Präparate, sowie
sonstige arzneiliche Zubereitungen, soweit sie aus einer der nächstgelegenen Apotheken
erhältlich sind, aus diesen zu beziehen, sie haben nebst dem Fassungsbuche auch ein Vor-
merkbuch zu führen, in welches unter Namhaftmachung der Kranken die an sie verab-
folgten Arzneien in Receptform einzutragen sind. Den ausgefolgten Arzneien ist stets
auch das betreffende Recept beizugeben und ist der Taxpreis bei allopathischer Ver-
schreibungsweise nach demselben Taxansatze, wie es für Apotheker vorgeschrieben ist, bei-
zusetzen, bei homöopathischer Dispensationsweise ist jedoch — in Gemässheit der aus-
drücklichen Bestimmungen des Hofk.-D. vom 9. Dec. 1846 nichts zu berechnen.
Der politischen Behörde obliegt, die Einhaltung der sanitätspolizeilichen Vorschriften
über Hausapotheken und Arznei-Dispensation genau und wirksam zu überwachen.«
Endlich der Min.-Erl. vom 30. September 1895, Z. 21909:
Was die Vorräthighaltung von Salben, Pflastern, Arznei- Collodium in den Haus-
apotheken solcher homöopathischer Aerzte anbelangt, welche nicht kraft der Entfernung
ihres Wohnsitzes vom Standorte der nächsten öffentlichen Apotheke die behördliche Be-
willigung zur uneingesckränkten Führung einer Hausapotheke überhaupt erwirkt haben,
ist dieselbe in Gemässheit der Bestimmungen des Hofk.-D. vom 9. Dec. 1846 unstatthaft,
weil diese Arznei-Bereitungen als Stammpräparate, die zur homöopathischen Verdünnung
dienen, nicht angesehen werden können.
Vielmehr hat der homöopathische Arzt bei Ausübung der ärztlichen Praxis in Fällen,
in welchen die homöopathische Dispensation durch Verabreichung homöopathischer Ver-
dünnungen nicht stattfindet, die erforderlichen Arzneien aus der Apotheke zu verschreiben.
Falls zur homöopathischen Verordnung bestimmte pharmaceutische Präparate oder
Stammtincturen von diesem homöopathischen Arzte direct aus dem Auslande bezogen
werden, ist dieser Bezug gleichfalls unstatthaft, weil Aerzte als Privatpersonen überhaupt
nicht berechtigt sind, ohne besondere Statthalterei-Bewilligung Arzneien aus dem Auslande
zu beziehen, und weil diese Präparate ausnahmslos nur aus inländischen Apotheken ver-
schrieben oder durch diese besorgt werden dürfen, wie das gedachte Hofkd. ausdrücklich
festsetzt und mit dem Min.-Erl. vom 27. Mai 1887, Z. 3690, kundgemacht mit dem Statth.-
Erlasse vom 12. Juni 1887, Z. 46.660, näher ausgeführt wurde.
Was die Vorräthighaltung von Vaselin, Carbollösungen, Verbandstoffen anbelangt,
können diese als äusserliche Hilfsmittel der Therapie nicht Bestandtheile einer homöo-
pathischen Hausapotheke sein, jedoch insofern sie den Parteien vom Arzte nicht geschäfts-
mässig geliefert werden, als ärztliche Bedürfnisse bei Ausübung der ärztlichen, namentlich
chirurgischen Thätigkeit, gleich den Gegenständen des Nothapparates, vorräthig gehalten
^^^*^^^" A. Brestowski.
Atteste (Aerztliche Zeugnisse). Die Aerzte kommen sehr häufig in
den Fall Atteste, d. h. Zeugnisse auszustellen über irgend ein Verhältnis, zu
dessen richtiger Beurtheiluug medicinische Kenntnisse nothwendig sind. Solche
Zeugnisse können nur von patentirten Medicinalpersonen ausgestellt werden,
unter welchen die häufigsten Aerzte sind. Unter Umständen können aber auch
Apotheker und Hebammen zu einem Atteste in Anspruch genommen werden,
insoweit die Kenntnisse derselben laut ihrer durch ein Patent bewiesenen Staats-
prüfuDg hiezu ausreichen.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 7
98 ATTESTE.
Diese ärztlichen Zeugnisse reihen sich den grösseren gerichtsärztlichen
Berichten an, welche einerseits aus üntersuchungsberichten z. B. den Ob-
ductionsprotokollen, andererseits aus Gutachten bestehen, welche zusammen
einen vollständigen gerichtlich-medicinischen Bericht ausmachen. Dieselben
Regeln, welche bei der Abfassung dieser Berichte Geltung haben, sind auch
auf diese kürzeren sogenannten ärztlichen Zeugnisse zu beziehen, deren
Inhalt jenen grösseren Berichten ähnlich ist.
Die Aufforderungen zur Abgabe solcher Zeugnisse gehen indessen nicht
immer von einem Richter aus, sondern auch von Privaten oder von Versicherungs-
gesellschaften, was jedoch für die Art der Abfassung dieser Atteste keine
weitere Bedeutung hat, nur muss selbstverständlich zu Anfang des Zeug-
nisses immer angegeben werden, von wem die Aufforderung oder das Ansuchen
zur Ausstellung des Attestes ausgegangen ist.
Ferner ist in demselben auch anzugeben, zu welchem Zwecke das Zeug-
nis ausgestellt werden sollte und durch welche Art der Untersuchung diesem
Zwecke entsprochen wurde, mit weiterer Angabe und Begründung der Schluss-
folgerungen, w^elche sich aus dem Resultate der gemachten Untersuchung
ergeben.
Die Gegenstände der Untersuchung, welche hier in Betracht kommen,
sind in der Regel lebende Personen, bei welchen Verletzungsverhältnisse,
Arbeitsfähigkeit, Haftfähigkeit, Fähigkeit zum Antritt und Erdulden einer
verhängten Strafe, Fähigkeit zu Transporten u. s. w. in Frage stehen.
Zu den Attesten, welche in das Gebiet der gerichtlichen Medicin ge-
hören, sind eigentlich nur diejenigen zu zählen, welche in gerichtlich-medi-
cinischen Fällen meistens von dem zuständigen Richter und nur ausnahmsweise
auch von Privaten verlangt werden, während die von Versicherungsgesell-
schaften, seien es Lebens- oder Unfallsversicherungen, verlangten, einen anderen
Standpunkt haben, aber gleichwohl gewissen allgemeinen Bestimmungen in
Bezug auf ärztliche Atteste unterworfen sind.
Bei allen diesen Zeugnisausstellungen, mögen sie von dieser oder jener
Seite her verlangt werden, sind gewisse Grundsätze zu beachten und dahin
gehören:
1. Dass das Zeugnis auf thatsächliche Erhebungen, durch eigene
Untersuchung gewonnen, sich stützt und nicht etwa blos auf Angaben der
betreffenden Persönlichkeit, denen verschiedene Motive, auch Simulation zu
Grunde liegen können. Die Schlüsse des Zeugnisses müssen thatsächlich be-
gründet sein.
2. Dass diesen Schlussfolgerungen keine anderen Motive zu Grunde
liegen dürfen, als diejenigen, welche auf den Thatbestand der gemachten
Untersuchung sich stützen. Es dürfen keine persönlichen Rücksichten dem
Untersuchten gegenüber bei den Schlüssen Einfluss haben.
Unrichtige Angaben, sei es bezüglich der Untersuchung oder der
Schlussfolgerungen, sind strafbar.
Deutsches Strafgesetzbuch § 278. Aerzte und andere approbirte Medicinal-
personen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines Menschen zum
Gebrauche bei einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft wider besseres Wissen
ausstellen, werden mit Gefängnis von einem Monate bis zu zwei Jahren bestraft.
§ 277. Wer unter der ihm nicht zustehenden Bezeichnung als Arzt oder als eine
andere approbirte Medicinalperson oder unberechtigt unter den Namen solcher Personen
ein Zeugnis über seinen oder eines Anderen Gesundheitszustand ausstellt, oder ein derartiges
echtes Zeugnis verfälscht und davon zur Täuschung von Behörden oder Versicherungs-
gesellschaften Gebrauch macht, wird mit Gefängnis bis zu einem Jahre bestraft.
Oesterreichischer Strafgesetz-Entwurf. § 301. Aerzte und andere approbirte
Medicinalpersonen, welche ein unrichtiges Zeugnis über den Gesundheitszustand eines
Menschen zum Gebrauche bei einer Behörde oder Versicherungsunternehmen wider besseres
Wissen ausstellen, werden mit Gefängnis von einem Monat bis zu zwei Jahren oder an Geld
von 100 bis 500 fl. bestraft.
ATTESTE. 99
Mit Grund motivirt Casper ^) die fatale Nothwendigkeit derartiger
Straftestimmungen mit der falschen Humanität vieler Medicinalpersonen und
fügt mehrere belehrende P'älle von unrichtig abgegebenen ärztlichen Attesten
bei, worüber ich mich an einem anderen Orte auch noch aussprechen werde.
Namentlich geben Körperverletzungen den Aerzten öfters Anlass zur
Abgabe ärztlicher Zeugnisse, die von den Verletzten resp. Misshandelten ver-
langt werden, da die sogenannten leichten Körperverletzungen nur auf Antrag
gerichtlich verfolgt werden.
Deutsches Strafgesetzbuch § 272. Die Verfolgung leichter vorsätzlicher
sowie aller durch Fahrlässigkeit verursachten Körperverletzungen tritt nur auf Antrag
ein, insofern u. s. w.
Um aber einen solchen Antrag stellen zu können, muss der Betreffende
zuerst ein ärztliches Zeugnis beibringen, welches das Vorhandensein körper-
licher Verletzungen constatirt. In diesen Attesten sind dann die verschiedenen
Verletzungszustände anzugeben, welche der Betreffende zu der und der Zeit
durch Misshandlung erhalten haben soll und welche als leichte zu betrachten
sind. Handelt es sich dagegen um schwerere Verletzungen, so greift der Richter,
sobald er Kenntnis davon erhält, initiativ ein.
Werden von Privaten ärztliche Zeugnisse über andere abnorme körper-
liche Zustände zu diesem oder jenem Zwecke verlangt, die Behörden vor-
gelegt werden sollen, so sind dieselben immer einer sachverständigen Kritik
ausgesetzt und daher stets mit grösster Sorgfalt und Sachkenntnis auszu-
stellen, w^enn sie anerkannt werden sollen. Wo möglich vermeidet man aber
die Abgabe solcher von Privaten verlangten Atteste, welche Behörden zuge-
stellt werden sollen und erwartet von diesen selbst die Aufforderung.
Damit nun aber solche Zeugnisse, mögen sie nun kurze oder längere
Gutachten sein, eine grössere Zuverlässigkeit erhalten, sind für die preussi-
schen Medicinalbeamten in einer Circularverfügung des Ministeriums der
Medicinalangelegenheiten vom 20. Jan. 1853 und am 3. Febr. 1853 vom
Justizministerium zur Kenntnis gebracht, folgende Bestimmungen für die Ab-
fassung amtlicher Atteste und Gutachten gemacht worden.
1. Die bestimmte Angabe der Veranlassung zur Ausstellung des Attestes, des Zweckes
zu welchem dasselbe gebraucht, und der Behörde, welcher es vorgelegt werden soll;
2. Die etwaigen Angaben des Kranken oder der Angehörigen über seinen Zustand;
3. Bestimmt gesondert von den Angaben zu 2 die eigenen thatsächlichen Wahr-
nehmungen der Beamten über den Zustand des Kranken;
4. Die aufgefundenen wirklichen Krankheitserscheinungen;
5. Das thatsächliche und wissenschaftlich motivirte Urtheil über die Krankheit, über
die Zulässigkeit eines Transportes oder einer Haft, oder über die sonst gestellten Fragen;
6. Die diensteidliche Versicherung, dass die Mittheilungen des Kranken oder seiner
Angehörigen (ad. 2) richtig in das Attest aufgenommen sind, dass die eigenen Wahrneh-
mungen des Ausstellers (ad. 3 und 4) überall der Wahrheit gemäss sind und dass das Gut-
achten auf Grund der eigenen Wahrnehmungen des Ausstellers nach dessen bestem Wissen
abgegeben ist.
Sind Zeugnisse nach Anforderungen eines Gerichtsbeamten auszustellen,
so werden gewöhnlich gewisse Fragen gestellt, z. B. sehr häufig über Statt-
haftigkeit der Vollstreckung einer Freiheitsstrafe, und hat der ärztliche Be-
richt eigentlich nicht mehr den Charakter eines ärztlichen Zeugnisses, sondern
eines gerichtlich-medicinischen Gutachtens, das sich auf eine vorausgegangene
einlässliche Untersuchung des Falles zu stützen hat und hier nicht näher zu
erörtern ist.
Was die ärztlichen Zeugnisse für Versicherungsanstalten betrifft, so
werden solche mitunter gegen Honorar über frühere Gesundheits- und Krank-
heitszustände des zu Versichernden von Aerzten, welche denselben in früheren
Zeiten behandelt haben, verlangt, was ohne Vorwissen und Einwilligung der
Handb. der gerichtl. Medicin. B. 1. 1881. S. 41.
7*
100 AüGENSCHEINBEFÜND.
Betreffenden unstatthaft ist und gegen die gesetzlich vorgeschriebene Wahrung
des ärztlichen Geheimnisses verstösst. Wir lassen uns daher immer, wenn
ein solches Attest gewünscht wird, das in manchen Fällen dem zu Versichern-
den dienen kann, zuerst das schriftliche Einverständnis von diesem zustellen.
Der hieher zu beziehende Gesetzesartikel lautet:
Deutsches Strafgesetz § 300 Rechtsanwälte, Advokaten, Notare, Vertheidiger
in Strafsachen, Aerzte, Wundärzte, Hebammen, Apotheker, sowie die Gehilfen
dieser Personen, werden, wenn sie unbefugt Privatgeheimnisse offenbaren, die ihnen kraft
ihres Amtes, Standes oder Gewerbes anvertraut sind, mit Geldstrafe bis zu Eintausendfünf-
hundert Mark, oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.
Die Verfolgung tritt nur auf Antrag ein. C. EMMERT.
Augenscheinbefund. Ein Augenschein wird stets nur in wichtigeren
Fällen angeordnet, „wenn dies zur Aufklärung eines für die Untersuchung
erheblichen Umstandes nothwendig erscheint" (§116 österr. Str.-Pr.-O.) und
wird in vielen Fällen nur vom Richter vorgenommen. Sind in concreten
Fällen specielle Kenntnisse auf irgend einem dem Richter fernstehenden Ge-
biete erforderlich, so werden unter vorgeschriebenen Modalitäten Sachverstän-
dige beigezogen (§ 118), deren Wahl dem Richter überlassen bleibt (§ 119).
In allen Fällen, in denen ärztliche Kenntnisse erforderlich sind, werden sonach
Aerzte als Sachverständige verwendet.
Die Qualification des Arztes als gerichtlicher Sachverständiger ist keines-
wegs durch seine medicinische Ausbildung im Allgemeinen gegeben; es bedarf
vielmehr einer gediegenen praktischen Erfahrung des Arztes auf gerichtlich-
medicinischem Gebiete, wenn er den an ihn als gerichtlichen Sachverständigen
ergehenden Anforderungen entsprechen soll. Leider gehen die Gerichtshöfe
bei der Wahl der Sachverständigen nicht immer hinlänglich rigoros vor, wo-
durch dann in Folge unzureichender Leistungen seitens der letzteren einer-
seits die Achtung des Richters vor dem ärztlichen speciell gerichtsärztlichen
Stande herabgesetzt wird, andererseits aber indirect auch das Ansehen eines
Gerichtshofes in den Augen der Allgemeinheit an Höhe einbüssen kann.
Dem tüchtigen Gerichtsarzte ist bei der Augenscheinaufnahme das wei-
teste Feld für seine Thätigkeit eingeräumt, welche dem Rechte die Wege
ebnet. Diese Thätigkeit ist ausserordentlich vielseitig und verschieden je nach
den einzelnen Fällen, in denen die Hilfe des Gerichtsarztes in Anspruch ge-
nommen wird.
Allerdings fällt dem Untersuchungsrichter in allen Fällen, also auch bei
gerichtsärztlichen Untersuchungen, die Leitung des Augenscheines und die
specielle Fragestellung zu (§123); diese Leitung ist aber dort, wo der Richter
das Bewusstsein hat, über tüchtige und verlässliche Sachverständige zu ver-
fügen, wohl nur eine Formalität, denn ein einsichtsvoller und kluger Richter
wird eben auf Gebieten, welche ausserhalb seines Berufes stehen, nicht über,
sondern neben den Sachverständigen thätig sein und auf diese Weise
durch die gemeinsame Thätigkeit und das Einverständnis mit den Sach-
verständigen den Zwecken der Justiz wesentlichen Nutzen bringen. Dies
ist auch aus dem Grunde von besonderer Wichtigkeit, weil dem Richter als
medicinischem Laien natürlich die Hauptsachen, auf welche es im speciellen
Falle ankommt und deren Wesen grossen Schwankungen unterliegt, nicht in
der Weise einleuchten können, als dem geschulten Gerichtsarzte, welcher die
Situation in einschlägigen Fällen leichter und rascher übersehen und daher
auch eher erkennen wird, worauf er sein besonderes Augenmerk zu richten
und in welcher Weise er den Gang seiner Untersuchung einzuleiten hat.
Es wird auf die individuellen Eigenschaften des Arztes ankommen, ob
er sich bei dem Gerichte, bei welchem er in Verwendung steht, beziehungs-
weise bei dem Untersuchungsrichter das nöthige Ansehen und Vertrauen zu
verschaffen im Stande sein wird oder nicht. Es kommt ausser auf seine
Kenntnisse wesentlich auch auf seine persönlichen Eigenschaften an.
AUGENSCHEINBEFÜND. 101
Die Aufgaben, welche den ärztlichen Sachverständigen bei der Aufnahme
eines gerichtlichen Augenscheines zufallen, sind folgende :
1. Die Vornahme der Untersuchung, von deren Genauigkeit und
Vollständigkeit das Resultat und daher auch die Richtschnur für den weiteren
Gang der Behandlung eines Falles abhängt. Bei dem stetigen Fortschritte
der medicinischen Wissenschaften und ihrer einzelnen Zweige ist es ganz
natürlich, dass ein ärztlicher Sachverständiger gegenwärtig nicht mehr in
allen Fällen in gleicher Weise erspriesslich wirken kann. Keiner muthe sich
zu viel zu! Denn es wird für die Rechtspflege besser sein, wenn der Sach-
verständige von vorneherein zugibt, dass ihm für specielle Untersuchungen
die Eignung und die Kenntnisse mangeln. Leider finden wir meistens das
Gegentheil. Sachverständige, welche überhaupt mangelhafte Kenntnisse be-
sitzen, nehmen Untersuchungen vor, welche weit über ihr Wissen hinaus-
gehen und beeinflussen dadurch die Justizpflege in der nachtheiligsten Weise.
Gesteht aber ein Sachverständiger seine Unfähigkeit zur einwandfreien Vor-
nahme bestimmter gerichtsärztlicher Untersuchungen ein, so verdient sein
Eingeständnis gewiss ungetheilte Anerkennung und es wird Niemand daran
zweifeln, dass ein Sachverständiger, welcher vielleicht auf irgend welchem
Specialgebiet nicht in dem für forensische Zwecke erforderlichen Maasse aus-
gebildet ist, trotzdem in anderen Fällen als Gerichtsarzt sehr erspriesslich
wirken kann. Dabei ist vollkommen abgesehen von Untersuchungen von Blut-
spuren, Haaren u. dergl., die fortwährender Uebung und vollkommener Be-
herrschung der Untersuchungsmethoden bedürfen und ihrer Tragweite wegen
eigentlich am besten nur in hiefür eingerichteten Universitätsinstituten von
Fachmännern vorgenommen werden sollten.
Bei dem Localaugenscheine an dem Orte, wo irgend eine verbrecherische
That, z. B. ein Mord oder ein Todtschlag verübt wurde, kommt nicht so sehr
das medicinische Wissen als vielmehr die Ruhe und der Scharfblick des Arztes
in Betracht, da es doch dabei in erster Linie darauf ankommt, sich für etwaige
weitere Untersuchungen und für das abzugebende Gutachten das nöthige
Material zu sammeln, wobei durch die Erhebungen zu ermitteln ist, ob und
inwieferne am Thatorte irgend welche Aenderungen vor dem Eintreffen der
Gerichtscommission vorgenommen wurden. Es wäre nothwendig, dass, was
allerdings leider seitens der Gerichtshöfe oft nicht hinlänglich beachtet wird,
auch behufs Aufnahme des Localaugenscheins am Thatorte nach Möglichkeit
stets geschulte Gerichtsärzte, am besten jene, denen etwaige weitere Unter-
suchungen in demselben Falle übertragen werden, beigezogen würden.
Von grösster Wichtigkeit ist es auch, dass gerichtsärztliche Untersuchun-
gen überhaupt möglichst bald, nachdem sich deren Nothwendigkeit heraus-
gestellt hat, vorgenommen w^erden; ganz besonders gilt dies jedoch z. B. für
die Untersuchung Verletzter, für die Untersuchung auf vorangegangene
Geburt, bei geschlechtlichen Attentaten, bei Leichenuntersuchungen, da eine
Verzögerung solcher Untersuchungen die Brauchbarkeit des Untersuchungs-
resultates in nachtheiligster Weise beeinflussen kann. Da nun zuweilen bei
Richtern, allerdings in wenigen Fällen, hinsichtlich der Einleitung und An-
ordnung gerichtsärztlicher Untersuchungen eine unbegreifliche Lauheit besteht,
sollte der Gerichtsarzt gegebenenfalls durch persönliche Intervention beim Gerichte
auf eine Beschleunigung in dieser Richtung hinwirken.
Eine grosse und schwerwiegende Aufgabe erwächst dem Gerichtsarzte
aus der ihm zufallenden Vornahme gerichtlicher Obductionen. Jeder einzelne
wird nach jener Methode vorgehen können, welche ihm von früher her aus
seinen Studien geläufig ist. Nach welcher typischen Sectionsmethode unter-
sucht wird, ist füglich nebensächlich, wenn nur correct, genau und nach
einem bestimmten Systeme obducirt wird. Dies reicht jedoch für gerichts-
ärztliche Bedürfnisse nicht immer aus, da sich nur zu oft Verhältnisse erge-
102 AUGENSCHEINBEFÜND.
ben, welche eine Abweichung von der regulären Obductionsmethode erheischen.
Es wird dann von der Erfahrung und Gewandtheit des Einzelnen abhängen,
wie er sich in derartigen Fällen mit speciellen Befunden an der Leiche zurecht
findet, um sich ein brauchbares Sectionsbild zu verschaffen. Dieser Mangel
in der Sectionstechnik und dem dieselbe begleitenden Verständnisse für der-
artige Untersuchungen ist nicht selten die Ursache, dass der Zusammenhang
von Befunden, die eine geschlossene Kette bilden, nicht nachgewiesen er-
scheint.
Vielfach wird zwischen gerichtlicher Leichenbeschau und Leichenöffnung
kein Unterschied gemacht, so im § 38 unserer Todtenbeschauordnung vom
Jahre 1855, wo es heisst, dass sich die gerichtliche Beschau nur dann auf
die äussere Besichtigung beschränken dürfe, wenn der hohe Grad der Fäulnis
kein erhebliches weiteres Ergebnis aus der inneren Untersuchung gewärtigen
lässt, und bei solchen Fällen kein Verdacht einer Vergiftung mit mineralischen
Stoffen oder einer Knochenverletzung vorhanden ist.
Die Fäulnis einer Leiche sollte niemals als Hindernis für die Vornahme
einer Obduction gelten. Denn abgesehen davon, dass die Fäulniserscheinun-
gen der inneren Organe keineswegs immer gleichen Schritt mit den äusseren
Fäulniserscheinungen halten, können wir auch noch an faulen Leichen ein für
forensische Zwecke oft ausreichendes Resultat erzielen. Findet sich daher
nur ein Verdacht, dass möglicherweise fremdes Verschulden vorliegt, so sollte
das Gericht in allen Fällen die Obduction (Leichenöffnung) vornehmen lassen.
Dass in der blossen äusseren Leichenbesichtigung ein Mangel erblickt
werden muss, geht schon daraus hervor, dass bei uns nach § 127 der Str.-Pr.-O.
jedesmal die Section der Leiche verlangt wird.
Trotzdem verlangt das Gericht zuweilen, selbst wenn es sich nicht um
faule Leichen handelt, offenbar aus Erspar ungsrücksichten, blos die äussere
Besichtigung der Leichen. So sollten wir einmal gelegentlich des Einsturzes
eines Neubaues, wobei mehrere Arbeiter umgekommen waren, nachdem einige
Leichen obducirt worden waren, auf Grund der äusseren Besichtigung allein
uns auch über die Todesursache anderer verunglückter Arbeiter aussprechen,
thaten dies jedoch nicht, weil es uns nicht opportun erschien, ohne Aufnahme
des äusseren und inneren objectiven Befundes an der Leiche ein diesbe-
zügliches Gutachten abzugeben.
Erachtet es das Gericht bei Massenunglücksfällen für ausreichend, die
Todesursache bei einzelnen Individuen durch die Obduction klarstellen zu
lassen, dann bedarf es auch nicht der äusseren Besichtigung der Leichen
anderer Individuen durch ärztliche Sachverständige; will es aber in jedem
einzelnen Falle Aufschluss über die Todesursache und andere etwa aus der
Obduction sich ergebende Momente erlangen, dann muss auch die Leichen-
obduction vorgenommen werden. Der Gerichtsarzt lasse sich hier niemals
verleiten, Schlüsse zu ziehen, falls er dieselben nicht durch objective Wahr-
nehmung begründen kann.
Ebensowenig soll der Gerichtsarzt auf Grund einer blos partiellen Leichen-
obduction ein Gutachten abgeben.
Die Art und Weise, wie gerichtliche Obductionen vorgenommen werden
sollen, ist durch die österreichische Vorschrift für die Voniahrae der gericht-
lichen Todtenbeschau vom Jahre 1855 normirt.
2. Die Abfassung des Protokolls. Es wäre weniger daran gelegen,
wenn etwa das Protokoll nicht in allen Fällen gerade hinsichtlich der Form
genau den beispielsweise für gerichtliche Obductionen in der Todtenbeschau-
ordnung vom Jahr 1855 enthaltenen Bestimmungen entspräche. Leider finden
sich aber in den von ärztlichen Sachverständigen abgefassten beziehungsweise
dictirten Protokollen häufig so schwerwiegende sachliche Mängel, dass es ganz
unmöglich ist, sich aus dem Wortlaute des Protokolls den objectiven Befund
zu construiren.
AUGENSCHEINBEFUND. 103
Wie oft rächt sich dies in Fällen, in denen von anderen Sachverstän-
digen oder von einer medicinischen Facultät ein Obergutachten abverlangt
wird. Die JustizpÜege leidet darunter sehr, da in solchen Fällen auch die
höhere Instanz auf Grund der Akten oft nur ein ganz unbestimmtes Gut-
achten abgeben kann, welches den Tendenzen und Zwecken der liechtsptiege
nicht im Mindesten entspricht.
Die Fehler, welche bei der Abfassung von Protokollen seitens der ärzt-
lichen Sachverständigen sehr häufig begangen werden, sind Incorrectheit und
UnVollständigkeit. Der Grund für beide liegt einerseits in mangelnden Kennt-
nissen, andererseits in einer unverzeihlichen Leichtfertigkeit; nicht minder
zeigt sich aber selbst bei ausreichenden Kenntnissen eine auffallende Unbe-
holfenheit insoferne, als Befunde, welche vom Beobachter richtig wahrgenom-
men werden, in höchst mangelhafter und undeutlicher Form im Protokolle
wiedergegeben sind.
Die Hauptbedingung für ein brauchbares Protokoll ist die Ausführ-
lichkeit, welche bei richtiger Beobachtung der Sachverständigen einzig und
allein eine etwaige erfolgreiche nachträgliche Ueberprüfung des Gutachtens
ermöglicht. Erfahrene Gerichtsärzte werden in jedem einzelnen Falle bald
erkennen, auf welche Momente sie zu forensischen Zwecken bei Untersuchungen
hauptsächlich Rücksicht zu nehmen haben und daher auch den entsprechenden
Theil des Protokolles mit der nöthigen Ausführlichkeit und Gründlichkeit
bearbeiten.
Auch die Hervorhebung gegen die Erwartung negativer Befunde ist von
Bedeutung, da man dadurch die Ueberzeugung gewinnt, dass von den Sach-
verständigen alle Momente in erwünschter Weise berücksichtigt worden sind.
Einen bedeutenden praktischen ¥/erth haben oft einfache Skizzen oder
Photographien, welch letztere gegenwärtig leicht zu beschaffen sind und den
Protokollen beigelegt werden können.
Auch das Auftewahren von Präparaten, wie man sich sie namentlich
bei Obductionen leicht verschaffen kann, ist oft äusserst zweckmässig und hat
deren Demonstration bei Hauptverhandlungen bereits oft gute Dienste geleistet.
Eine Revision der abgefassten Protokolle durch den Sachverständigen ist
unter allen Umständen notliwendig und sind etwaige Correcturen und Zusätze
entsprechend den im § 16 der österreichischen Todtenbeschauordnung ange-
führten Modalitäten anzubringen.
3. Die Abgabe des Gutachtens ist in jedem Falle für die Zwecke
des Gerichtes das wichtigste Moment. Das Gutachten baut sich auf Grund
der Untersuchung im Zusammenhalt mit den näheren Umständen des Falles
auf und wird daher bei logischer Schlussfolgerung der Qualität der Unter-
suchung conform ausfallen. Es zeigt sich, dass in der Regel Sachverständige,
welche schlecht beobachten und schlechte Protokolle abfassen, auch schlechte
Gutachten abgeben, insbesondere auch solche, welche man keineswegs auf
Grund des im Protokolle wiedergegebenen Befundes vertreten kann. In der-
artigen Fällen wird auch eine höhere Instanz wegen der mangelhaften Be-
fundaufnahme und Protokollirung oft nur ein ganz unbestimmtes, den foren-
sischen Zwecken kaum dienendes Gutachten abgeben können, wenn eine Wieder-
holung des Augenscheins wegen Mangels an Material nicht möglich ist oder
wegen der durch die erste Untersuchung geänderten Verhältnisse kein Resultat
ergibt. Allerdings schreibt der § 122 der österr. Str.-Pr.-O. vor, dass, wenn
von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung
eines von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten steht, ein Theil
des letzteren, so ferne dies thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung
behalten werden soll. In vielen Fällen ist dies aber eben nicht möglich. Es
kann und zwar auch sehr tüchtigen Gerichtsärzten passiren, dass sie, trotz-
dem der Befund sehr genau und correct aufgenommen und protokollirt
104 BÄDER.
^Yurde, irrthümlich falsche Schlussfolgerungeu ziehen. Diese letzteren sind
jedoch verbesserungsfähig, sei es durch andere Sachverständige, sei es durch
eine medicinische Facultät. Es sind dies Fälle, in denen oft die etwaigen
Trugschlüsse dem Richter auffallen und daher auch die entsprechende, ge-
setzlich zugestandene Revision und Controlle nicht verabsäumt wird, Fälle
demnach, welche der Justizpflege sehr zu Statten kommen. Besser ein falsches
Gutachten als eine ungenaue und flüchtige Aufnahme und Protokollirung des
Befundes, da ersteres bei richtiger Befundaufnahme unschwer corrigirt
werden kann.
UnVollständigkeit des Gutachtens findet man häufig insoferne, als in dem
Gutachten nicht alle schon gesetzlich für die einzelnen Fälle vorgeschriebenen
Fragen von vornherein Berücksichtigung finden, weshalb der Richter oft selbst
noch nachträglich die Beantwortung specieller Fragen fordern muss.
Das Gutachten kann nach dem österreichischen Gesetze entweder sofort
mit dem Protokolle oder nachträglich abgegeben werden. Dass nur für abge-
sonderte Gutachten eine specielle Honorirung derselben erfolgt, ist eine der
wesentlichsten Mängel des in Oesterreich für gerichtsärztliche Verrichtungen
geltenden Gebührentarifs.
Die bis zu dem Momente der Untersuchung gepflogenen Erhebungen
sollen den Gerichtsärzten, sobald diese deren Kenntnis fordern, stets bekannt
gegeben werden, da durch die Erhebungen dem Untersuchenden eine Richt-
schnur für sein Vorgehen gegeben werden kann.
Die Befürchtung, dass beispielsweise durch Einsichtnahme in die Akten
das Urtheil der Gerichtsärzte irgend wie von vornherein beeinflusst
werden könnte, ist für den Fall, als letztere ihr Amt gut versehen, unbe-
gründet. DITTEICH.
Bädßr. Unter Bad verstehen wir das Eintauchen und mehr oder we-
niger langes Verweilen des Körpers oder einzelner Theile desselben in einem
flüssigen, festen (Sandbad) oder gasförmigen Medium.
Zunächst war es der Naturtrieb, welcher die Menschen schon in ältester
Zeit zu dem Gebrauch der Bäder führte; sehr bald erkannte man aber auch den
hohen hygienischen Werth derselben und die alten Egypter und Indier haben
besonders auch die Heilkraft der Seebäder gekannt und sie curgemäss an-
gewandt, wie denn die Bäder überhaupt zu den hervorragendsten Mitteln
ihrer Hygiene gehört hatten; sie wurden als eine heilige Sache betrachtet, und
es waren auch die Incubationen in den Tempeln mit dem Gebrauch von
Bädern verbunden.
Das Gleiche geschah, zugleich mit methodischen Abreibungen, behufs
Kräftigung des Körpers und Erhaltung der Gesundheit in den Kampfschulen
der alten Griechen, bei welchen öffentliche Badeanstalten errichtet wurden.
Bald wurden aber die Bäder überhaupt als Heilmittel auch ausserhalb der
Kampfschulen von den Aerzten benutzt, ebenso auch Heilquellen (vonKenchreae,
Lernae, Koronae). Im alten Rom war es besonders Asclepiades aus
Prussa in Bithyn (90 v. Chr.), welcher der Cultur der Bäder einen grossen
Aufschwung gab und die Einrichtung öffentlicher Badeanstalten beförderte;
noch mehr geschah dies durch Antonius Musa, nachdem er den Kaiser
Augustus durch kalte Bäder von einer lebensgefährlichen Krankheit gerettet
hatte.
Unsere Vorfahren badeten nach Caesae und Tacitus nur in kalten
Flüssen und die Anwohner des Rheins tauchten selbst die neugeborenen
Kinder in den Fluss. Die warmen Bäder aber und dergleichen Badeanstalten
kamen vornehmlich erst durch Karl den Grossen in Aufschwung und bür-
gerten sich seitdem immer mehr ein. Wunderbar muss es jedoch erscheinen,
dass die Seebäder zu einer dauernden allgemeineren Verwendung erst in den
BÄDER. 105
letzten Jahrhunderten gelangt sind. Obgleich bereits im hohen Alterthum,
wie erwähnt, zur Heilung von Krankheiten benutzt und dann vor Allem von
HippocRATES, dann von Celsus, Dioscokides u. A. empfohlen, wurde ihr
Gebrauch doch erst in den ersten Jahrhunderten n. Chr. allgemeiner, aber
auch da nur vorübergehend.
Erst im 18. Jahrhundert wurde ihnen wieder — und zwar von Eng-
land aus (K. Rüssel, Buchan, Weight u. A.) — ein erneutes, und dauerndes
Interesse zugewendet und es nahm jetzt die Zahl der Seebadeorte in stei-
gendem Maasse zu. In Deutschland war es zu jener Zeit der Göttinger G. C.
Lichtenberg w^elcher, nachdem er in den 70er Jahren des v. J. die eng-
lischen Seebäder besucht und deren hohe Bedeutung erkannt, die erste An-
regung zur Errichtung von dergleichen Curorten gegeben hatte.
Süsswasserbäder.
Wir haben hier hauptsächlich über den Werth, welchen die Bäder als
hygienische Mittel besitzen, über ihre Bedeutung für das Volkswohl, ihre
physiologische Wirkung und rationelle Anwendung zu sprechen, desgleichen
über die See- bez. Soolbäder.
Vorerst ist es oft nur die Pflege der Haut durch Reinigung von den sie
bedeckenden, die Poren theilweise verstopfenden und die Hautathmung hin-
dernden Excreten, oder auch die Entfernung von aussen auf sie gebrachter
schädlicher Stoöe, was wir durch das Bad bezwecken: ein Zweck welcher durch
das warme Bad, zumal wenn es mit Abseifung verbunden ist, am vollkommen-
sten erreicht wird. Schon hierdurch wird die Thätigkeit der Haut in gün-
stigster Weise befördert und werden oft die Ursachen zur Entstehung von
Krankheiten durch von aussen auf die Haut wirkende Schädlichkeiten be-
seitigt. Denn die Haut ist ein so wichtiges Ausscheidungsorgan für aller-
hand schädliche Stoffe, die zurückgehalten als Toxine wirken, dass schon ein
gesunder Körper, wenn diese Ausscheidungen in Folge von Unreinlichkeit
oder sonstiger ungünstiger Verhältnisse stocken, arge Störungen erleiden kann.
Von grösster Wichtigkeit ist aber auch der hygienische Gebrauch der
Bäder wiegen der wohlthätigen Allgemeinwirkung, welche sie auf den Körper
ausüben — Wirkungen, "welche zumeist um so stärker hervortreten, je grösser
der thermische Reiz, d. h. der Unterschied zwischen der Temperatur des
Bademediums und derjenigen der Körperhaut ist, und welche sich je nach
der Stärke dieses Reizes auf die verschiedenartigste Weise kundgeben, z. B.
durch das Gefühl der Beruhigung und wohlthätigen Ermüdung oder auch An-
regung, aber auch in entgegengesetzter Weise durch Ueberreizung und Er-
schöpfung. Diese Wirkungen geschehen, wenn wir vorläufig von dem rein
physikalischen Einfluss der Erwärmung und Abkühlung absehen, nur auf reflec-
torischem Wege durch die Centralnervenorgane, sie offenbaren sich be-
sonders in einer der Stärke des Hautreizes entsprechenden Veränderung des
Herz- und gesammten Gefässtonus und können so stark sein, dass sie unter
Umständen allein, oder fast allein den beabsichtigten Erfolg bedingen. Da
das Gesagte nicht nur für die Süsswasser-, sondern auch für die See- und
Soolbäder, ja vielleicht für alle Mineralbäder gilt, so werden wir bei Bespre-
chung der Seebäder auf diesen Gegenstand näher zurückkommen.
Bleiben wir jetzt bei den Süsswasserbädern stehen, so sehen wir als
nächste Wirkung eine Beförderung der Hautthätigkeit, des Turgors der Haut
durch erhöhtes Zuströmen von Blut, sei es, wie bei den wärmeren Bädern,
noch während des Bades, sei es, wie bei den kalten, unmittelbar nach dem
nicht zu lange genommenen Bad im Reactionsstadium; die weiteren Wirkungen
sind jedoch, nach der Temperirung des Bades, so verschiedenartig, dass wir
genöthigt sind, sie hiernach einigermaassen zu unterscheiden und gesondert
zu besprechen; und wir halten es für das zweckmässigste, die Bäder ein-
zutheilen in solche, welche oberhalb und solche welche unterhalb derjenigen
106 BÄDEE.
Temperatur liegen, bei welcher das Bad den Stoffwechsel ganz oder wenig-
stens annähernd unberührt lässt. Als diese Temperatur wird gewöhnlicli die
von 34 — 35*'C angesehen, die jedoch eben nur ein mittleres Maass feststellt.
Bäder unterhalb dieser Grenze bis etwa 30^0 würden wir als laue Bäder
unter 30° C als kalte bezeichnen, dagegen solche über 35° bis höchstens
3772 — 38° als warme, noch wärmere als heisse.
a) Kalte Bäder (unter 30° C):
Das plötzliche Eintauchen des ganzen Körpers in kaltes Wasser ruft
zunächst ausser einer allgemeinen Contraction der Hautmuskeln, der so-
genannten Gänsehaut, den bekannten Badeschreck (Shock) hervor, der sich,
weil der Kältereiz gleichzeitig auf das Athmungscentrum reflectirt wird, be-
sonders in einem momentanen Versagen des Athems und einer Art dyspnoi-
schen Zustandes äussert. Diese von der gesammten Körperoberfläche reflec-
tirte Nervenerregung ist umso stärker, je kälter das Wasser ist und kann so
stark sein, das eine allgemeine Nervenlähmung, sogenannter Nervenschlag,
oder, durch Reflex auf die Hirngefässe, Apoplexie durch Bluterguss erfolgt;
es ist daher stets gerathen, besonders aber bei stärkeren Kältegraden, den
Körper durch Benetzung einzelner empfindlichen Stellen, besonders des Ge-
sichtes, vor dem Eintauchen etwas abzuschrecken.
Das kalte Bad vermag die Körperwärme nach anfänglicher Erhöhung
(Liebermeister) bei längerer Dauer um V2~2° herabzusetzen; sogleich beim
Eintritt in das Bad erblasst die Haut in Folge von Contraction der Haut-
muskeln, verliert ihren Turgor und es entsteht Frösteln; Puls- und
Athemfrequenz werden zunächst vermehrt, bald aber verlangsamt; nach
kürzerer oder längerer Zeit kehrt in Folge vermehrten Zuströmens von Blut
der Turgor der Haut zurück, man bekommt das Gefühl relativer Erwärmung
und wohlthätiger Erregung.
Diese Reaction, welche sich in einer allgemeinen activen Röthung
der Haut kundgibt, tritt umso rascher und vollkommener ein, je kälter das
Bad genommen wurde, und die sie begleitenden Gefühle des Wohlbehagens
dauern umso länger an, je mehr der Blutlauf durch körperliche Bewegung,
Schwimmen etc. befördert wird. Diese Wirkungen treten aber am meisten
unmittelbar nach dem Bad hervor, vorausgesetzt, dass dasselbe rechtzeitig ab-
gebrochen wurde.
Auch die Wärmebildung wird durch das kalte Bad in bedeutungsvoller
Weise beeinflusst: während der Körper an der Peripherie grosse Verluste an
Wärme erleidet, findet im Inneren eine reflectorische Steigerung des Ver-
brennungsprocesses (Liebermeister) und der Kohlensäureausscheidung statt
und zwar — natürlich bis zu einer gewissen Grenze — umso mehr, je
grösser der Kältereiz war. Diese Erhöhung des Verbrennungsprocesses, in
Folge deren die Temperatur öfters um 1 — 2° steigt, findet nach Röhrig's
Versuchen an curarisirten Thieren hauptsächlich innerhalb der Muskeln statt,
und Röhrig's Ergebnissen entsprechend, müssen wir die nach zu langem
Baden eintretenden Schüttelfröste oder vielmehr -Krämpfe als eine drastische
Selbsthilfe der Natur ansehen, die grossen Wärmeverluste baldigst zu er-
setzen, wie dies die Badenden oft schon instinctiv durch starke Körper-
bewegung thun.
Besagter compensirender Wärme-, beziehungsweise Stoffwechselsteigerung
haben wir es allein zu verdanken, dass wir in einem kalten Bad längere
Zeit schadlos verweilen können, da sich die Temperatur trotz der grossen
Wärmeverluste bei einem gesunden Menschen und massiger Dauer des
Bades um nicht mehr als 1— iVg^ abkühlt. Die Dauer dieser inneren
Wärmesteigerung wird verschieden angegeben und ist sicherlich auch ver-
schieden nach den jedesmaligen Verhältnissen und der Individualität; nach
den Gesetzen der Reflexreizwirkung kann diese Steigerung erst dann ein
BÄDER. 107
Ende haben, wenn die thermischen und sonstigen Verhältnisse, wie sie vor
dem Bade bestanden hatten, wieder eingetreten sind. Jedenfalls dauert die
bei längerem Verweilen schon im Bad gewonnene Abkühlung auch längere
Zeit nach demselben fort und mit ihr eine wohlthätige Erfrischung.
Das methodische kalte Baden, in richtiger Weise gebraucht, ist ein
mächtiges hygienisches Mittel zur Beförderung und Erhaltung der Gesundheit
und wirkt durch Anregung des Stoffwechsels (es findet in ihnen besonders
eine vermehrte Zersetzung der N. -freien Stoffe statt, allgemein kräftigend, ins-
besondere ist es Menschen zu empfehlen, welchen es an der nöthigen körper-
lichen Bewegung und Anstrengung fehlt und die dabei ein üppiges Leben
führen. Solche Bäder wirken zugleich abhärtend, indem sie durch Beförderung
der Hautthätigkeit die ReÜexreizbarkeit abstumpfen und diese so häufige
Ursache der Erkältungskrankheiten beseitigen, dem Menschen durch Besserung
des Nährbodens eine grössere Widerstandskraft gegen Krankheiten überhaupt
geben, wie sich dies besonders auffällig bei Choleraepidemien gezeigt hat,
während welcher die Kaltbader in ganz auffälliger Weise von der Krankheit
verschont geblieben sind. Dennoch gibt es genug Menschen welche kalte
Bäder, wir meinen hier nur solche bis herab zu etwa IS'' C, nicht vertragen
oder nicht zu vertragen glauben, weil sie, statt gestärkt zu werden, eher in
einen Zustand von Erschöpfung gerathen; es sind dies in der Regel solche
Naturen, denen die Kraft fehlt, die durch den erhöhten Stoffwechsel herbei-
geführten Verluste rechtzeitig zu ersetzen. Hierher gehören besonders schwäch-
liche Kinder, Greise und anämische, beziehungsweise chlorotische oder sonst
herabgekommene Personen, für welche wärmere, höchstens massig kalte
Bäder vorth eilhafter sind.
Aber auch dieser Art von Leuten würden kältere Bäder oft noch sehr
nützlich sein, wenn sie sie nur in zweckmässiger Weise gebrauchen wollten;
dies geschieht jedoch sehr häufig nicht, besonders nicht von den Frauen.
Nachdem der Badeschreck überwunden ist, wird im Uebermass fort gebadet,
oft bis zum Eintritt des zweiten Frostes, statt zur Zeit der allein stärkenden
Reaction das Bad sofort zu verlassen, und die Folgen sind dann natürlich
Missbehagen, Uebermüdung, ja Erschöpfungszustände. Solche Personen haben
aen Aufenthalt im kalten Bad nicht nach Minuten, sondern, besonders
chlorotische und anämische, nach Secunden zu bemessen, und dies umso mehr,
je kälter das Bad ist. und sie haben das Bad nicht der Abkühlung wegen zu
nehmen, sondern nur behufs Erzielung eines möglichst kräftigen Hautreizes
und einer hierdurch bewirkten reflectorischen Erhöhung und Verbesserung
des Stoffwechsels. "Die Erfüllung socher Bedingungen vorausgesetzt, hat das
methodische kalte Baden auch für besagte Naturen oft sehr wohlthätige, unter
Umständen heilende Wirkung, die von vielen Seiten noch gar nicht genug
gewürdigt wird. Solchen Leuten ist aber dringend zu rathen, sofort nach dem
Auskleiden, bei noch warmer Haut ins Bad zu gehen, damit ein möglichst
kräftiger thermischer Reiz bewirkt werde, auch sollten sie nie ganz nüchtern
baden und am besten ein warmes leichtes Getränk vorher zu sich nehmen.
Die Dauer des Bades ist überhaupt zu bemessen nach der Individualität,
nach der Kälte des Wassers und nach den besonderen Zwecken, welche man damit
verbindet. Robusten Personen; die den erhöhten Stoffverbrauch, der umso
grösser ist, je kälter und länger gebadet wird, rasch ersetzen können, ver-
tragen das Baden auch länger, als schwächliche Naturen, ja sie müssen es
länger brauchen, wenn sie den Genuss einer längeren Abkühlung haben
wollen; excessive Abkühlung aber durch zu langes Baden, welches sich durch
ein collabirtes Ansehen, den bekannten zweiten Frost, Blässe des Gesichtes
und fleckige livide Färbung der Haut ankündigt, hebt für jeden Menschen
den Nutzen des kalten Bades auf.
Sehr kalte Bäder, bis herab zu 10° C und gar noch tiefer, sind, wenn
nicht besondere Anzeichen dafür vorliegen (Entfettungscur), nur mit Vorsicht
108 BÄDER.
methodisch zu gebrauchen und dürfen nur von kurzer Dauer sein. Wohl
fördern sie mächtig den Verbrennungsprocess, führen aber auch leicht zu
Ueberreizung und deren Folgen.
Wellen- und Sturzbäder: sie wirken, dank des hinzukommenden
starken mechanischen Reizes und des raschen Wechsels des den Körper um-
spülenden Wassers kräftiger erregend auf die Hautnerven und auf den Stoff-
wechsel, als das gewöhnliche Bad, wirken zugleich auf die äussere Muskulatur
und beschleunigen den Blutlauf, in Folge dessen erscheinen sie wärmer als
c. p. ein gewöhnliches Bad, obgleich die Wärmeentziehung in ihnen wegen
des raschen Wasserwechsels um etwa ein Drittel grösser ist. Die Nach-
wirkung besteht in einer dauernderen Abkühlung und Erfrischung, der jedoch
schliesslich leicht eine grössere Ermüdung folgt. Die Sturzbäder werden fast
nur therapeutisch verwendet.
Fallbäder (Regenbad, Brause, Douche) reihen wir hier an, weil
sie gleichfalls Bäder mit bewegtem Wasser darstellen. Es sind dies Vor-
richtungen mittelst deren das Wasser den Körper nur in Tropfen oder ein-
zelnen Strahlen trifft; auch bei ihnen kommt der mechanische Reiz zur Mit-
wirkung und tritt umso mehr hervor und wirkt umso stärker erregend, je
grösser die Fallhöhe oder die (Druck-) Kraft überhaupt ist, mit welcher das
Wasser den Körper trifft. Ihrer Wirkung nach nähern sich diese Bäder im
letzteren Fall dem Sturzbad, zumal wenn das Wasser die Haut in stärkeren
Strahlen trifft. Dergleichen stärkere Fallbäder (eigentliche Douchen) befördern
wegen der starken Reibung, die sie ausüben, in hohem Grad die Hautthätigkeit
und wirken stark reflectorisch auf die inneren Organe beziehungsweise den Stoff-
wechsel und sind — umso rascher abgebrochen, je kälter sie sind — besonders
für anämische, beziehungsweise chlorotische Personen (hier kalt und von kürzester
Dauer) oft von noch grösserem Vortheil als das Vollbad; am kräftigsten
wirkt wegen Verstärkung und öfterer Erneuerung des thermischen Reizes die
abwechselnd kalte und warme (schottische) Douche. Die Douchen gehören
zu den kräftigsten Mitteln der Hydrotherapie (vgl. hier die einzelnen Arten).
W^ir möchten hier noch daran erinnern, dass das Douchen des Kopfes,
zumal bei extremen Temperaturen des Wassers, mindestens für die meisten
Menschen nicht rathsam ist wegen der damit verbundenen starken Reizung
der Kopfnerven und des Sensoriums (wenden wir doch gerade zu solchem
Zweck die Sturzbäder auch auf den Kopf therapeutisch als Belebungsmittel an!);
instinctiv bedienen sich daher viele Badende zur Abschwächung des Reizes
wenigstens einer Taffentkappe.
h) Laue (kühle) Bäder (zwischen etwa 34 — 30° C). Diese Bäder üben,
bei der geringen Erregung der Hautnerven welche in ihnen stattfindet, gleich
von Anfang an eine eher beruhigende Wirkung aus, denn bei solch' geringem
Hautreiz fallen auch alle stärkeren Reflexwirkungen auf die inneren Organe,
durch welche sich die kalten Bäder auszeichnen, hinweg. Die lauen Bäder
eignen sich daher vorzüglich für solche Menschen, welche wegen zu geringer
Reactionskraft die durch kalte herbeigeführten Wärmeverluste nicht rasch
genug würden ersetzen können und die dennoch einer Abkühlung und zu-
gleich Erfrischung bedürfen. Da erstere nur ganz allmälig eintritt, der Ver-
brennungsprocess aber auch bei den hier fraglichen Wärmegraden noch ge-
steigert und rechtzeitiger Wärmeersatz in hinreichender Weise geliefert wird,
so kann man weit länger in solchen Bädern ohne Schaden aushalten, als in
kalten, zumal bei massiger Bewegung. Die beruhigende und zugleich stär-
kende Wirkung, welche laue Bäder auf Personen ged. Qualification, wie
auch bei vorhandenen Erschöpfungszuständen oder nervöser Erregung aus-
üben, macht sich besonders während der heissen Jahreszeit geltend. Auch in
diesen Bädern findet noch eine Herabsetzung der Pulsfrequenz und, bei län-
gerer Dauer, der Temperatur statt.
BÄDER. 109
c) Indifferente Bäder (etwa 36^ C), d. h. Bäder, in welchen der
Stoffwechsel annähernd im Gleichgewicht bleibt. Die Temperatur dieser Bäder
liegt immer noch unterhalb der normalen Körperwärme und muss darunter
liegen, wenn nicht eine Ueberwärmung stattfinden soll; diese aber würde
bereits in blutwarmem Wasser eintreten, weil in demselben die normalen durch
die Hautverdampfung bewirkten Wärmeverluste wegfallen; es würde dann eben
eine Wärmestauung stattfinden.
In so temperirten Bädern, von 35^ C, in welchen keinerlei erhöhte Kraft-
leistungen des Körpers gefordert werden, kann man ohne Schaden Stundenlang
mit Behagen verweilen, wie die sonst vielfach gebrauchten prolongirten Bäder
Hebras bewiesen haben, sie sind ein wahres Erholungs- und Beruhigungs-
mittel besonders für ältere und für herabgekommene Leute; in ihnen kommt
das Blut durch massiges Zuströmen zu der für gewöhnlich kälteren Haut zu
einer gleichmässigeren Vertheilung und es werden hiedurch die inneren
Organe, besonders das Gehirn, in wohlthätiger Weise entspannt. Eine noch
grössere Entspannung wird aber wahrscheinlich durch eine allmälig erfolgende
Imbibition der Haut, insbesondere durch eine Quellung der Nervenendapparate
bewirkt, durch welch letztere eine Herabsetzung der Empfindung eintritt.
Das Wasser des Harns wird in solchen Bädern vermehrt, weil die nor-
male Verdunstung durch die Haut hinwegfällt.
d) Warme Bäder über 35^ C. bis 3772 — 38 steigern bereits die Eigen-
wärme theils durch erhöhte Wärmezufuhr, theils durch Behinderung der Haut-
verdampfung (während im Innern die Wärmeerzeugung selbst und dementspre-
chend die Kohlensäurebildung und der 0- Verbrauch nach Röheig sogar unter
die Norm herabgesetzt werden) und beschleunigen den Puls (der bei Kernig
in einem Bad bei einer Zunahme der Temperatur von 37*1 auf 38-1 von 80
auf 96 stieg, aber nach kalter Brause rasch auf 76 bis 72 sank. Da bei
diesen Bädern mangels eines stärkeren äusseren Reizes auch jede stärkere
Reflexwirkung auf die inneren Organe hinwegfällt, und das Blut, dank der
starken, das Bad oft mehrere Stunden überdauernden Erweiterung der Haut-
gefässe, in reichlichem Maasse nach der Peripherie strömt, so wirken sie stark
derivatorisch und deshalb auch noch beruhigend; sie erweichen zugleich die
Haut und wirken wegen ihrer bedeutenden Förderung des Blutlaufes und der
Hautthätigkeit auch stark resorbirend; die Harnstoffausscheidung wird in ihnen
gesteigert, zu lange fortgesetzter Gebrauch solcher Bäder setzt aber die Wider-
standsfähigkeit des Körpers herab und verweichlicht.
e) Heisse Bäder: Das Heisswasserbad (38 — 42 ja 45°) kommt in un-
serem Klima selten zu hygienischem Gebrauch und es sollte auch nie, wenig-
stens nicht in seinen extremsten Graden ohne ärztliche Erlaubnis angew^en-
det werden wegen der unter Umständen damit verbundenen Gefahren. Es
wirkt in seinen höheren Graden als kräftigstes Reizmittel und Analepticum,
bei schon kürzester Dauer, durch mächtige reflectorische Erregung des Gefäss-
und Nervensystems; der Puls wird stark erregt, voll und frequent, es tritt
Hirnhyperämie, Schwindel und Bangigkeit ein, und die Körperwärme kann
auf 40*^ und noch höher steigen. Solche Bäder werden, natürlich abgesehen
von ihrer medicinischen Verwendung, nur ausnahmsweise bei anscheinendem
Beginn einer Erkältungskrankheit als Vorbereitungsmittel zu einer Schwitzkur
gebraucht, gewohnheitsmässig dagegen und in ausgedehntester Weise nach
Balz von den Japanesen; sie wirken auf diese durchaus nicht schwächend oder
verzärtelnd, und eine Erkältung danach ist deshalb ausgeschlossen, weil die
durch die starke Hitze hervorgebrachte, das Bad längere Zeit überdauernde
Lähmung der Hautgefässe eine Contraction durch Kältereiz gar nicht aufkom-
men lässt, daher die Japaner nach solchem Bad häufig nackt, selbst im Win-
ter,' ohne Schaden zu nehmen, herumlaufen.
110 BÄDER.
Uebrigens ist auch bei dem heissen Bad im Moment des Eintrittes,
gerade so wie im lialten, Erblassen der Haut (Gänsehaut) und Verlangsamung
des Pulses (als sehr rasch vorübergehende Erscheinung) zu beobachten.
An diese heissen Bäder reihen wir an: das Dampfbad, das irisch-römische
Bad und das Sandbad.
Dampfbad (russisches): Fest geschlossener Baderaum mit terassen-
förmig angebrachten Bänken, auf welchen die Badenden liegen und in deren
Gegend der, gewöhnlich Dampfkesseln entnommene, Dampf (von 40—45, selten
bis 55" C.) natürlich umso heisser ist, je höher die Bänke sich befinden; der
Aufenthalt in einem solchen Bad beträgt gewöhnlich 20 — 25 Minuten. Das
Damplhad macht anfangs Beklommenheit und oft Schwindel, die aber umso
rascher schwinden, je rascher die Haut in Hyperämie kommt und hiedurch
die inneren Organe vom Blut entlastet werden. Die Badenden werden zur
Erzielung eines kräftigen Keflexes zeitweise mit Birkenreisern geschlagen und
haben sich in einem massig temperirten Nebenraum öfters kalt zu douchen,
oder ein kaltes Bad zu nehmen, oder sich kalt übergiessen zu lassen; dergl.
geschieht, nachdem es wiederholt vorgenommen, jedenfalls zuletzt, um eine
sonst zurückbleibende Wärmestauung zu beseitigen. Unter Umständen wird
auch ein Nachschwitzen vorgenommen.
Der Puls wird im Dampfbad bald frequent, bis 110 und noch mehr,
wobei unter Erhöhung der Dicrotität die Stärke herabgesetzt wird, sofort aber
wieder steigt nach kalten Begiessungen. Die Eigenwärme steigt rasch, binnen
10 — 12 Minuten oft über 39 ^ das Körpergewicht fällt oft um mehrere Pfund
und das Blut wird nach Tarchanow durch das Schwitzen wirklich verdickt
(doch kehrte die Normalität nach Trinken von 1 — 2 Glas Wasser bald zurück;
der Harn wird specifisch schwerer und bleibt es auch nach dem Bad noch
längere Zeit. Die Tast- und hautelektrische Empfindlichkeit wird nach Kostürin
verfeinert in Folge des grösseren Blutgehaltes der Haut und der Entfernung
von Oberhautschichten, dagegen sinkt die Muskelkraft entsprechend der Höhe
der Temperatur.
Das Dampfbad wirkt mächtig anregend auf den Stoffwechsel und ver-
mehrt die N.-Ausscheidung durch den Harn, ist aber für Leute, die nichts
zuzusetzen haben, für häutigeren Gebrauch nicht geeignet; als Volksmittel wird
es zumeist benutzt bei Erkältungskrankheiten und chronischem Rheumatismus;
es ist ein mächtiges therapeutisches Mittel, wo es gilt, die Hautthätigkeit zu
befördern und Exsudate zur Aufsaugung zu bringen oder Ausscheidungen zu
befördern, so besonders noch bei chronischen Hautkrankheiten, Gicht, rheuma-
tischen Zuständen, alten Lähmungen. In solchen Fällen sind aber die Kasten-
bäder (auch für heisse Luft) das Richtigste, in welchen man auch eine
grössere Hitze, bis 55*^ C, noch leidlich erträgt. Ein natürliches Dampf-
bad (von 29 — 35° C) stellt die durch Wundercuren bekannte Grotte von Mon-
summano in Oberitalien dar.
Zu vermeiden sind die Dampfbäder bei Herzkrankheiten, Atheromatose,
Neigung zu Hirncongestionen und bei Erschöpfungszuständen, desgl. bei Rücken-
markskrankheiten.
Irisch-römisches Bad, Luftschwitzbad, in welchem trockene heisse
Luft zur Einwirkung auf den Körper kommt. Der völlig Entkleidete tritt
zunächst aus einem erwärmten Vorraum in das auf 33 bis 40*^ C, meist durch
Heisswasser(röhren)leitung geheizten Tepidarium und nach längerem Auf-
enthalt daselbst, (10 — 15 Min.), während dessen zumeist schon Schweiss-
bildung erfolgt, mit Sandalen versehen in das Sudatorium, das eigentliche
auf 45 bis etwa 55*^ C temperirte Schwitzzimmer und wird während des (etwa
'^U Stunden dauernden) Luftbades wiederholt zur Beförderung der Hautthätig-
keit geknetet und mit Tüchern abgerieben, das Bad endlich durch eine laue
Douche beendet. Hieran schliesst sich öfters noch ein Calidarium mit
BÄDER. 111
einer Hitze von 65—90*^ C, welches jedoch selten benutzt wird. Diese hohen
Hitzegrade kann man nur ertragen, sogar besser als in dem niederer tempe-
rirten Dampfbad, weil in der umgebenden trockenen Luft die Verdunstung
eine bei weitem stärkere, daher auch die Abkühlung eine entsprechend grössere
ist. Das heisse Luftbad wirkt trotz der stärkeren Hitzegrade aus eben ge-
sagten Gründen auf Puls und Körperwärme massiger ein, als das Dampfbad.
Ersteres wird in ähnlicher Weise benützt wie das Dampfbad, ganz besonders
aber bei dyscratischen Zuständen, wo es gilt die Ausscheidungen möglichst zu
befördern; solches geschieht aber im heissen Luftbad am meisten. Aber auch
hier sind die Kastenbäder vorzuziehen.
Theilbäder: Fuss- Hand- Sitzbäder etc. werden nur therapeutisch be-
nutzt und haben schon in d. A. Hydrotherapie*) Erwähnung gefunden.
Sandbäder (mit je nach der Individualität verschiedener, allmälig auf-
steigender Wärme von 46 — 50"^ C) werden bei uns ebenfalls fast nur thera-
peutisch — gegen Gicht, Rheumatismen, Scrophulose — benutzt und wurden
dies schon im Alterthum, besonders von den arabischen und griechischen
Aerzten, bei ähnlichen Krankheiten. Die Erwärmung des Bades geschieht am
besten künstlich, der Badende kommt in eine Holzwanne, in welcher er, auf
heissem Sand sitzend, mit solchem noch mehr oder weniger hoch, oft bis an
die Schultern bedeckt wird. Die Haut wird bald geröthet und bald danach
bricht ein Schweiss aus, den man jedoch, weil er rasch aufgesogen wird, nicht
unangenehm empfindet; der Wasserverlust beträgt in solchem Bade V2 bis
1 /t-y, ja noch mehr. Das Sandbad wirkt ähnlich wie ein irisch-römisches;
auch in ihm wird die Eigenwärme um mehr als 1*^ erhöht und der Puls be-
schleunigt ; die Badenden verweilen darin gewöhnlich 30 — 45 Minuten. Sand-
badeanstalten gibt es u. a. in Barmbeck bei Hamburg, Berka a. d. Hm,
Köstritz in Thüring und Neuhausen bei München. In den südlichen Ländern
werden die Sandbäder, und zwar an den Seebadeorten, weit häufiger ge-
braucht als bei uns; man scharrt hier die Menschen am Strand nackt in den
heissen Sand oder lässt sie sich selbst hineinw^ühlen; zuletzt nehmen sie ein
Bad oder begiessen sich mit Seewasser.
Seebäder, Seeaufenthalt, Wirkung der Mineralbäder im
Allgemeinen.
Die Seebäder sind wegen ihres hohen Gehaltes an Salzen als Mineral-
bäder und zwar wegen des hier fast allein in Betracht kommenden Kochsalzes
als Soolbäder zu betrachten, deren Wirkung jedoch durch die gleichzeitig ein-
wirkende starke mechanische Gewalt mächtig verstärkt wirkt (1 Lit. Nord-
seewasser enthält allein an Kochsalz gegen 2b g und nur etwas über 1^1 2 9
andere Salze, hauptsächlich Chlormagnesium und schwefelsaure Magnesia). Das
Ostseewasser mit seinen nur wenig über 1*7 7o betragenden festen Stoffen
stellt freilich ein nur schwaches Soolbad dar.
Für den Gebrauch des Seebades ist nicht nur das Wasser, sondern auch
das Klima in Rücksicht zu ziehen und ist dieses oft allein schon auf viele
Menschen heilwirkend.
Die Temperatur der Seeluft, besonders auf den Inseln, ist in den
Sommermonaten wegen der beständigen Wasserverdunstung niedriger und
dabei gleichmässiger als auf dem Lande, die Luft ist dabei feucht, sauer-
stoffreicher, stets bewegt und wenigstens bei Wellenschlag salzhaltig; sie ent-
zieht daher dem Körper weit mehr Wärme als die Landluft, und es zeigte
sich insbesondere nach Beneke auf Höhen von 3 — 6000 Fuss, bei derselben
Temperatur und Stärke der Luftströmung, der Wärmeverlust weit geringer
als am Meeresstrande.
Vermöge dieser Eigenschaften regt die Seeluft schon an sich den Körper
zur Erhöhung der Wärmeerzeugung, d. i. des Stoffwechsels an (die Seeluft
*) Band Interne Medicin.
112 BÄDEE.
zehrt, sagt richtig das Sprüchwort), was sich bald in Steigerung des Appetites
und Vermehrung des Körpergewichtes kundgibt; sie wirkt besonders günstig
auf im Zustand der Reizung befindliche Athmungsorgane. Aus besagten
Gründen bringt der Seeaufenthalt oft schon allein vielen schwächlichen, anä-
mischen und herabgekommenen Menschen, bei Chlorose, chronischen Bron-
chiten, Asthma und nach Erschöpfungskrankheiten, besonders auch Tuber-
culosen in den ersten Stadien Heilung oder Besserung, wenn sie noch einiger-
massen Pteactionskraft besitzen; für noch mehr Heruntergekommene aber,
wo letzteres nicht mehr der Fall ist, ist das Seeklima nicht geeignet, ja
schädlich. Es gilt dies besonders für Tuberculöse, bei welchen sich bereits
colliquative Schweisse eingestellt haben, und wohl mit Recht sieht A.
Winkler den Grund, wesshalb dieBENEKE'schen Seeheilstätten (Norderney) zur
Zeit den erwarteten Erfolg nicht entsprochen haben, darin, dass man zuweit
vorgeschrittene Fälle von Tuberculöse dorthingeschickt habe. Für dergl. Fälle
passt weit besser ein Höhenklima.
Das Meerwasser ist je nach der Meeresgegend in seinem Gehalt ver-
schieden, und es nimmt letzterer mit der Entfernung von der Küste etwas
zu; er beträgt in der Ostsee (Westseite) etwa 1-77, in der Nordsee bei Helgo-
land 3*05, im atlantischen und stillen Ocean 3'47, im mittelländischen Meer
bei Marseille 3"69 proc. Die Temperatur schwankt in der Ostsee im Juli und
August zwischen 12 — ^16° R, in der Nordsee zwischen 12 — 14'5, im atlan-
tischen Ocean zwischen 14*5 — 20, im mittelländischen Meer zwischen 15 — 22° R.
Zumeist wird zur Zeit der höchsten Fluth gebadet, in Madeira das ganze Jahr
hindurch; man soll warm gekleidet sein und mit warmer Haut, aber natürlich
erst nach längerer Ruhe und nicht ganz nüchtern ins Bad gehen. Nach dem
Bad soll man sich rasch abtrocknen, wieder warm ankleiden und massige Be-
wegung machen; in manchen Badeorten ist es Sitte, sogleich, beim Heraus-
gehen die Füsse einige Secunden in heisses Wasser zu tauchen, um einem Blut-
andrang nach dem Kopf zuvorzukommen. Der einmal indicirte Gebrauch des
Seebades sollte mindestens 1 Monat, besser 2 Monate fortgesetzt werden,
Kinder und Schwächliche sollen das erste Mal nur nach Secunden, dann nicht
länger als 2 Minuten baden; in der Regel badet man 5 — 6 Minuten; während
der Menses ist auszusetzen.
Das Seebad hat zunächst die Wirkung des Süsswasserbades und zwar
des bewegten, nur ungleich stärker wegen der mächtigen auf den Körper ein-
wirkenden mechanischen Gewalt und des, wie schon erwähnt, chemischen
Reizes; auch hier tritt anfangs das Gefühl der Beklommenheit mit Beschleu-
nigung des Pulses und Athmens ein; die Athmung bleibt indess, wohl haupt-
sächlich in Folge des Arbeitens gegen die mechanische Erschütterung, weit
länger frequent als im Süsswasserbad und wird erst nach längerer Einwirkung
der Kälte verlangsamt; die Verlangsamung des anfangs verstärkten Pulses
dagegen tritt unter Abnahme der Energie bald ein und hält bei kälterem und
längerem Baden auch nachher oft noch stundenlang an, während die Athmung
wieder rasch normal wird. Die Reaction erfolgt im Seebad, dank der starken
Hautreizung äusserst rasch und das Blut strömt mit Macht in die Hautgefässe,
daher auch das Wasser wärmer erscheint, als das eines gleich kalten Süss-
wasserbades; erst nach langem Bestand erlischt diese durch das fortwährende
Wellenpeitschen stets von Neuem angefachte Reaction und tritt der zweite
Frost ein. In Folge des im Seebad viel länger andauernden Wohlbefindens
aber verliert der Badende, da er die grossen Wärmeverluste, die er erleidet,
weit weniger fühlt, auch das Zeitgefühl für eine richtige Dauer, und wird er
gar vom zweiten Frost überrascht, so folgt eine lang anhaltende Erschöpfung.
Der Körper, durch den gewaltigen Hautreiz und Wärmeverlust zu einer weit
mehr als im Süsswasserbad erhöhten Wärmeerzeugung angetrieben, hat sich
dann eben überarbeitet; es ist daher geboten, lediglich nach der Zeit, nicht
nach dem Wohlbefinden zu baden.
BÄDER. 113
Aber auch noch andere schwere Störungen kann ein zu lange fort-
gesetztes Bad, besonders bei kälterer Temperatur, dadurch machen, dass in
solchem Fall das Blut leicht im Uebermaass nach den Innern Organen gedrängt
und hierdurch Stauung, selbst Entzündung und Blutungen veranlasst werden.
Die oft heftigen Kopfschmerzen, von welchen viele Badende ergriffen werden,
werden nach A. Wincklkr lediglich durch das die Kopfnerven überreizende
Untertauchen oder durch Benetzen des behaarten Kopfes mit Seewasser bewirkt,
welches man deshalb, zumal es gänzlich zwecklos sei und dabei auch den
Haarwuchs schwer benachtheiligen (die Haare zum Ausfallen bringen) könne,
gänzlich unterlassen solle.
Im Vorstehenden haben wir die Gesammtwirkung geschildert, welche
das Seebad durch seinen thermischen, mechanischen und chemischen Reiz auf
den Menschen ausübt, wenn er in offenem Meer badet; dass es sich hierbei
nicht blos um die Wirkung stark bewegten Wassers handelt und daher das
Seebad nicht durch ein Süsswasserbad ersetzt werden kann, zeigt sich aufs
deutlichste, wenn man den Wellenschlag ausschaltet und ersteres als Wannen-
bad nehmen lässt, wozu man oft genöthigt wird. In solchem Fall ist nämlich
die physiologische und therapeutische Wirkung des Seebades derjenigen eines
gleichstarken Soolbades völlig entsprechend, und die Frage mit welcher wir
uns zu beschäftigen haben ist nur die: wie kommt diese Wirkung zu Stande,
etwa durch Aufsaugung von Seewasser bezw. Soole durch die Haut, wie man
bis vor Kurzem in Ermangelung besserer Erklärungsweise gemeinhin annahm?
Nach zuverlässigsten Beobachtern auf diesem Gebiete lässt sich diese An-
schauung wenigstens für die Soolbäder — ja wahrscheinlich für die meisten,
wenn nicht alle Mineralbäder, sie müssten denn dunstförmig oder in zer-
stäubter Form auf die Haut wirken, — nicht mehr aufrecht erhalten, denn es
hat sich fast übereinstimmend gezeigt, dass die betreffenden Salze bei gesun-
der Haut entweder gar nicht, oder, wenn überhaupt, in so kleinen Mengen
aufgesogen werden, dass sie für vorliegende Frage völlig ausser Betracht
liegen, ja selbst die mehrfach behauptete Aufnahme von gewöhnlichem Wasser
ist höchstwahrscheinlich nur eine Imbibition der Haut. Beneke fand es
daher schon im Jahre 1859, nachdem auch er zu fast negativen Ergebnissen
bei dergleichen Versuchen gekommen war, ganz unabweisbar, den Soolbädern
eine rein dynamische Wirkung, wie man sich damals auszudrücken pflegte,
zuzuschreiben, und nachdem Verfasser dieses Artikels in den Jahren 1863/67
an Fröschen, Fledermäusen und Menschen nachgewiesen hatte, dass Hautreize
aller Art, resp. thermische Reize, wie Eingangs erwähnt, den Tonus des
Herzens und sämmtlicher Gefässe in deutlich sichtbarer Weise lediglich auf
dem Wege des Reflexes verändern und auch die Eigenwärme, d. i. den
Stoffwechsel nachweisbar beeinflussen, so erhalten jene dynamischen Wirkungen
Benekes eine physiologische Begründung und Erklärung, und es ist wohl
unzweifelhaft, dass genannte Reflexwirkungen es sind, welche die therapeu-
tischen Wirkungen des Soolbades, ja vielleicht aller Bäder mit den erwähn-
ten Ausnahmen, bedingen. Zunächst sind es allerdings nur quantitativ, d. h.
je nach der Stärke des vorhandenen Hautreizes verschiedene Veränderungen,
welche man — und zwar an den Gefässen — wahrnimmt 'O (vgl. Hydrotheraphie) ;
sie sind aber wenigstens für Soolbäder vollständig genügend, um in Fällen,
*) Auf diese quantitativ verschiedenen Reizwirkungen aJlein den therapeutischen
Erfolg der Mineralbäder zurückführen und damit eine identische Wirkung aller Hautreize
annehmen, heisst allerdings den einzelnen Bädern, Eisenbädern etc. eine specifische Wirkung
so gut wie absprechen und ihren Werth nicht nach der Beschaffenheit der in ihnen
enthaltenen Stoffe, sondern nach der Stärke des Reizes bemessen, den diese Stoffe
auf die Haut ausüben. Die Richtigkeit solcher Anschauung lassen wir indess, abgesehen
vielleicht von den Soolbädern, als zar Zeit noch nicht bewiesen umso mehr dahingestellt, als
die Möglichkeit durchaus nicht ausgeschlossen erscheint, dass, ausser den erwähnten (zunächst
allein sichtbaren) quantitativ verschiedenen, auch qualitativ verschiedene Wirkungen der
Bibl. med. Wissenscliaften. Hygiene u. Ger. Med. 8
114 BÄDER.
WO man diese überhaupt anwendet, eine Zurückführung des krankhaft ver-
änderten Stoffwechsels zum normalen resp. eine entsprechende Erhöhung des
Stoffwechsels und dadurch eine Regeneration des Nährbodens, eine Genesung
zu erklären, mag die vorliegende Krankheit eine Ursache haben, welche sie
wolle, urd mit Recht betrachtete es Beneke als die Hauptkunst des Arztes,
dem Soolbad eine den individuellen Verhältnissen entsprechende Stärke zu
geben.
Die Soolbäder ändern den Stoffwechsel in eingreifender Weise und von
besonderer Bedeutung ist hierbei, dass, wie bereits Beneke und C. Wimmer,
dann Keller u. A. landen, die für die Aneignung so wichtige Phosphorsäure
— und zwar fast ausschliesslich die an Kalk gebundene — weit stärker im Körper
zurückgehalten wird, als schon im Süsswasserbad; es wird aber auch eine grössere
reflectorische Steigerung der Harnstoffausscheidung unter gleichzeitiger Ver-
minderung der Harnsäure, also ein vermehrter Umsatz der Albuminate, und
dementsprechend, nach Röhrig-Zuntz, eine stärkere Kohlensäureausscheidung
und grösserer Sauerstoffverbrauch durch das Soolbad bewirkt, als durch das
Süsswasserbad (weniger festgestellt ist eine vermehrte Ausscheidung von
Chloriden durch das Soolbad, ja nach Jacob (Virch. Arch. XCHI) wirken die
Soolbäder und Moorbäder überhaupt nicht anders als gewöhnliche Wasserbäder).
Auch im Soolbad, beziehungsweise lauwarmen Seebad wird der Puls
nach kurzer Beschleunigung sehr rasch verlangsamt, wie dies auch bei
anderen Hautreizen von entsprechender Stärke der Fall ist, und es erscheint
das Wasser um 2—3'* wärmer als ein gleich temperirtes Süsswasserbad; die
Reaction, die Röthung der Haut ist stärker und anhaltender. Nach dem
Gesagten stellt also ein Nordseebad mit seinem Salzgehalt von über o^o, in
der Wanne genommen, lediglich ein Soolbad dar und ist nach den für letzteres
Reflesreize. welche nur von bestimmten in dem Badewasser aufgelösten Substanzen ausgeübt
werden, hier in Betracht kommen. Denn die allgemeinen Erregungsmittel (Elektricität,
thermische, mechanische oder chemische Reize), welche in den sensiblen so gut wie in den
motorischen Nerven (in letzteren höchstwahrscheinlich nur durch beigemengte sensibele
Fasern) das Gemeingefühl des Schmerzes erzeugen, üben bei einer gewissen Stärke auf
diese sensibeln Nerven oder vielmehr auf deren uns freilich nur theilweise bekannten, hier
hauptsächlich in Betracht kommenden Endorgane noch einen besonderen, ihnen eigen-
thümlichen Reiz aus: das Veratrin macht z. B. das bekannte Spinnewebsgefühl, ja schon
einzelne Säuren — Schwefelsäure, Salpetersäure, Essigsäure — wirken oft in einer sie von
einander unterscheidenden Weise auf die unverletzte Haut ein, und wie Basch für die
kohlensäurehaltigen und Beneke und Santlus für die Soolbäder nachgewiesen, zeigt
sich in diesen Bädern das Tastgefühl selbst da noch erhöht, wo ein subjectiver Reizeindruck
zum Gehirn nicht mehr fortgepflanzt wird. Wir brauchen also die specifischen Wirkungen,
welche gewisse Stoffe auf die Haut ausüben, gar nicht zu empfinden, trotzdem sie nach-
weislich vorhanden sind, und es könnte daher auch eine specifische Rückwirkung solcher
selbst in geringer Menge im Badewasser gelöster Stoffe auf die der Ernährung vorstehenden
Nerven nach den Gesetzen der summirten Reizwirkung immerhin noch möglich sein, weil
eben das ganze Hautorgan vom Beiz getroffen wird. Will man an einer specifischen
Wirkung der Mineralbäder, für welche ja die Erfahrung von Jahrhunderten ins Feld
geführt wird, überhaupt fest halten, so kann dies kaum anders geschehen, als in der
Annahme, dass die fragHchen Mineralstoffe, je nach ihrer Beschaffenheit, abgesehen von
den besprochenen quantitativ verschiedenen, auch qualitativ verschiedene Reflexwirkungen
auszuüben vermögen, welche letztere hauptsächlich durch die Ganglien (bezw. trophisclien
Nerven?) vermittelt werden. Denn über die Ptesorptionstheorie ist bezüglich der Erklärung
der Badewirkung der Stab so gut wie gebrochen und auch eine specifische Wirkung durch
Elektricität, welcher wir buchstäblich auf jedem Schritt und Tritt mehr als in irgend einem
Bad begegnen, kann als ausgeschlossen betrachtet werden. Es würden also, um einen
Vergleich zu brauchen, die Mineralbäder oder einzelne derselben durch verschiedenartige
Erregung der Hautnerven auf die Ernährungsorgane in ähnlicher Weise wirken wie die
Geruchstoffe durch verschiedenartige Erregung der Nasenschleimhaut auf das Gehirn.
Auch die Ergebnisse der Metalltherapie (nach Burqc und Charcot), so wenig sie auch
bis jetzt einen praktischen Werth gehabt haben, würde man zur Erklärung der specifischen
Wirkung der Mineralbäder heranziehen können. Darnach würden Metalle, welche, auf die
Haut gebracht, differente Empfindungen hervorrufen, auch innerlich — in Auflösung ge-
nommen — jenen Empfindungen entsprechende Wirkungen auszuüben vermögen.
BÄDER. 115
giltigen Indicationen zu gebrauchen, doch hat es vor dem gewöhnlichen
Soolbad den Vortheil voraus, dass es in seiner Heilwirkung durch das See-
klima mächtig unterstützt wird. Daher sind denn auch in fast allen Seebade-
orten die zum curgemässen Gebrauch von Wannenbädern nöthigen Ein-
richtungen mit eventueller Verstärkung des Salzgehaltes zu finden.
Dieses Plus von Hautreiz durch den Salzgehalt des Seewassers ist dem
im offenen Meer durch den Wellenschlag erzeugten Reiz hinzuzufügen, so
dass hier thermischer, chemischer und mechanischer Reiz zusammenwirken,
die dem Seebad den Charakter des kräftigsten Mineralbades geben.
Auf relativ gesunde Menschen wirken die Seebäder daher weit mehr
abhärtend, tonisirend, Geist und Körper erfrischend, als Süssw^asserbäder,
indem sie durch den vermehrten Verbrennungsprocess den ganzen Körper zu
erhöhter Thätigkeit anspornen und den Appetit und die Assimilirung fördern,
(was sich bald durch Steigerung des Körpergewichts kund gibt), insbesondere
auch die Thätigkeit und Ernährung der Haut steigern und, bei vernünftigem
Gebrauch, eine etwa vorhandene übergrosse Reizbarkeit abstumpfen und
dadurch die Neigung zu Erkältungen vermindern; sie sind daher vorzüglich
geeignet für alle schwächeren, aber noch im Bereich der Gesundheit befindlichen
Personen, besonders für dergleichen Kinder mit scrophulöser oder rhachitischer
Anlage, wenn nicht im offenen Meer, so doch zunächst im massig erwärmten
Wannenbad, ferner für Personen mit schwacher Verdauung, für neurasthenische
und hypochondrische Naturen, bei nervöser Abspannung und Schwäche. Doch
wir haben es hier nicht mit den eigentlichen Heilindicationen zu thun und
wollen nur erwähnen, dass die Seebäder, wie eben angedeutet, ein Haupt-
mittel gegen Scrophulose und Rhachitis und gegen auf mangelhafter Inner-
vation beruhende Dyspepsien, chronische Diarrhoen und habituelle Ver-
stopfung sind.
Zu vermeiden sind die Seebäder bei Krankheiten des Herzens und der
Gefässe (Atheromatose), bei Nierenkrankheit, Gicht, Epilepsie und Neigung zu
Ohnmacht und Schwindel, bei Rückenmarkskrankheit, bei Hirncongestionen
und Neigung zu Blutungen, bei starker Fettsucht, bei Ohren- und Augen-
leiden, besonders inneren Hyperämien (für schwache Augen ist schon der
blendende Strand meist sehr belästigend), endlich bei Schwangerschaft und im
Greisenalter.
Künstliche, der natürlichen Stärke entsprechende Seebäder kann man
sich leicht darstellen durch Auflösen von Seesalz in Wasser im Verhältnis
von 3—4:100.
Wir führen von den bekannten Seebädern hier an:
Ostsee:
Cranz (Ost-Preussen), Marienlyst bei Kopenhagen; Kolberg (zugleich mit
natürlichen Soolbädern), Dievenow, Misdroy, Heringsdorf, Ahlbeck, Swinemünde
(Pommern); Sassnitz, Lohme, Putbus (Rügen); Warnemünde, Doberan (Mecklen-
burg), Düsternbrook (Holstein).
Nordsee:
Sylt, Amrum, Wyk, Büsum, Helgoland (Schleswig-Holstein), Norderney,
Borkum (ostfriesische Inseln); ScheveningeU; Vliessingen (Holland) Blanken-
berghe, Ostende (Belgien).
Atlantischer Ocean: Madeira.
Mittelländisches und adriatisches Meer : Marseille, Cannes, Nizza,
Spezia u. A. o. Naumann.
116 BAKTERIEN.
Bakterien. Die Kenntnis der Bakterien lallt bereits in das siebzehnte
Jahrhundert. Der holländische Naturforscher Leuwenhöck veröffentlichte im
Jahre 1680 eine Arbeit, in welcher er mehrere Bakterienarten beschrieb,
und schon damals die Vermuthung aussprach, dass diese Mikroorganismen
eine wichtige Rolle bei der Fäulnis spielen dürften. Die physikalischen Hilfs-
mittel, mit welchen er seine Entdeckungen gemacht hatte, kleine einlache
Sammellinsen, waren so primitiv, dass die damit erzielte Leistung höchst
staunenswerth ist, wenn auch eine Erweiterung seiner Befunde mit denselben
unthunlich war. Erst mit der Construction und Einführung der zusammen-
gesetzten Mikroskope beginnt die eigentliche bakteriologische Forschung, welche
von Otto Friedrich MtJLLER (1774) begründet, von Lamaeck, Ehrenbeeg u. A.
weiter entwickelt und schliesslich durch Pasteuk und Koch auf die Höhe
einer exacten Wissenschaft gestellt wurde, auf welcher sie zunächst eine Um-
wälzung in der Forschung über die Krankheitsursachen, zuletzt aber auch in
der modernen Therapie, diese auf einen ganz und gar naturalistischen Stand-
punkt stellend, hervorrief.
Die Bakterien werden zu den niedrigsten Organismen des Pflanzenreiches
gezählt, obzwar auch noch heute eine Einigung über den Bau und die Zu-
sammensetzung der Bakterienzelle nicht erzielt wurde. Im Allgemeinen neigt
sich die Mehrzahl der Forscher der Meinung hin, dass die Bakterienzelle von
einem Kern und einer protoplasmatischen Hülle desselben gebildet wird, wenn
auch die letztere von A. Fischer für ein durch Plasmolyse bewirktes Kunst-
product erklärt wird. Ebenso getheilt sind die Ansichten über den Ursprung
der Bewegungsorgane der Bakterien, der Geissein. Während Bütschli die
Ansicht verficht, dass diese mit einer die Protoplasmaschichte begrenzenden
Hülle, Membran, in Zusammenhang stehen, spricht neuestens Löwit die Ver-
muthung aus, dass die Geissein nur als Fortsätze der den Kern umgebenden
Protoplasma-(Rinden-)schichte anzusehen sind. Ebensowenig entschieden, wie
die hier erwähnten Streitfragen ist die engere Stellung der Bakterien im
Pflanzenreiche. W^ährend sie einerseits (Van Tieghem u. A.) unter die Algen
als eine den Oscillarien und Nostocaceen verwandte, chlorophylllose Reihe
von Pflanzenorganismen eingereiht werden, sieht man sich andererseits (Nä-
GELi, DU Bary etc.) durch den (allerdings nicht ganz durchgreifenden) Chloro-
phyllmangel bewogen, sie den Pilzen zuzuzählen. Es empfiehlt sich daher,
so lange durch weitere genaue Untersuchungen alle diese Zweifel nicht be-
hoben werden, die Bakterien als eine eigene Gruppe niedrig entwickelter
Pflanzenorganismen zu betrachten, welche Stellung ihnen auch schon mit Rück-
sicht auf ihr eigenartiges Wirken in der lebenden und leblosen Natur gebührt.
Der eben besprochene nicht gerade einfachste Bau der Bakterien lässt aber
vermuthen, dass dieselben nicht auf der niedrigsten Stufe der Entwickelung
stehen, dass sie nicht als der Uebergang von der leblosen zur lebenden Natur
anzusehen sind und dass demnach die zur Erklärung der Entstehung der
ersten Lebewesen auf unserem Erdtheile nothgedrungen heranzuziehende Hypo-
these der Generatio aequivoca nicht auf die Bakterien zu beziehen ist.
Die bis jetzt übliche allgemeine Eintheilung der Bakterien ist
jene nach ihren Formen, in welchen sie entweder ausschliesslich, oder vor-
wiegend auftreten. Dieses Princip erweist sich aber heute, nachdem es in
den letzten Jahren gelungen ist, einen tieferen Einblick in die vegetativen
Vorgänge der Bakterienzellen zu thun, als unzulänglich und es sind daher
bereits mehrere Versuche gemacht worden, das manchmal hinfällige Formen-
princip ganz zu verlassen und es durch ein anderes zu ersetzen. So versuchte
A. Fischer eine Eintheilung der Bakterien nach der Form, Zahl und Locali-
BAKTERIEN. 117
sation der Geissein, ein Versuch, welcher bei dem Umstände, als bei sehr
vielen Bakterien der Nachweis dieser Bewegungsorgane noch nicht erbracht
ist, als ein verfrühter l)ezeichnet werden muss, ganz abgesehen von dessen
allzugrosser Einseitigkeit. Für die rationellste, weil dem botanischen Stand-
liunkte am nächsten, muss daher die vom Hueppe vertretene Ansicht erklärt
werden, welcher in seiner neuestens getroffenen Eintheilung der Bakterien
nicht nur die Formen derselben, sondern auch die Anordnung der Zellen und
Zellverbände sowie die Art der Vermehrung berücksichtigt. Diese drei Mo-
mente mögen nun noch vor der Mittheilung des HuEPPE'schen Bakterien-
systems hier besprochen worden.
Man unterscheidet drei Hauptformen der Bakterienzellen:
a) kugelige und ellipsoide Zellen: Coccen.
h) in einer Richtung deutlich gestreckte Zellen: Stäbchen (Kurz- oder
Langstäbchen), Bacillen;
c) schraubig gedrehte Einzelstäbchen, oft in unvollkommen entwickelten,
commaartigen Formen auftretend.
Die Bakterienzellen können nun theils einzeln vegetiren, theils kommt
es dadurch, dass die durch Theilung entstehenden Tochterzellen sich nicht
von einander loslösen, zur Bildung von Verbänden, welche je nach dem
Umstände, ob die Theilung nur in einer Pachtung, in zwei Richtungen oder
in der Fläche und schliesslich im Räume oder in drei Richtungen stattfindet,
verschiedene Formen annehmen.
Bei Theilung in einer Richtung entstehen Ketten, Scheinfäden,
welch' letztere gerade, gebogen oder schraubenförmig gew^unden sein können.
Die Zusammensetzung der Ketten aus einzelnen Gliedern ist immer, diejenige
der Fäden mehr oder minder deutlich ausgeprägt.
Geschieht die Theilung in zwei in einer Ebene zu einander
senkrecht stehenden Richtungen, kommt es zur Bildung von Tetraden,
(Meristaform).
Bei Theilung dem Räume nach bilden sich schliesslich waaren-
ballenähnli che Con-glomerate (Sarcinaform).
Die Gruppirung der Bakterienzellen kann endlich in einer Art statt-
finden, welche keine Gesetzmässigkeit erkennen lässt, und es kommt in diesem
Falle zur Bildung von Haufen verschiedener Gestalt, von Zoogloeen in
Form von Häuten. Flocken, verzweigten Bildungen u. a.
Die Vermehrung der Bakterien geschieht entweder durch Theilung
oder Sporenbildung.
Bei der Theilung zerfällt ein Individuum in zwei Tochterzellen,
welche sich entweder von einander trennen, oder aber in Zusammenhang
bleiben und sodann zur Bildung von Zellverbänden Anlass geben.
Die Fructifi cation oder Sporenbildung besteht darin, dass in
der Mutterzelle eine oder mehrere neue Zellen entstehen, welche von der
ersteren morphologisch verschieden, in der Regel gegen äussere Schädlich-
keiten widerstandsfähiger (Dauersporen) sind und aus denen die Artzellen
erst durch Keimung sich entwickeln. Die Bildung der Sporen kann nun in
verschiedener Weise stattfinden.
Einmal in der Art, dass das Zellprotoplasma sich contrahirt und rasch
mit einer derben Membran (Sporenmembran) umgibt. Diese Art der Sporen
nennt man endogene Sporen oder Endosporen und unterscheidet sie je
nach ihrer Lage als mittel- oder endständige Sporen.
Die zweite Art von Fructification ist die Bildung von Glieder- oder
Arthrosporen, welche bei fadenförmigen Bakterien in der Weise zustande
kommt, dass einzelne Glieder des fadenförmigen Verbandes die Eigenschaften
der Sporen annehmen.
118 BAKTERIEN.
Auch die Bildung von Chlamydosporen, wo die Sporen zumeist eine grössere Dicke
besitzen als die vegetativen Zellen und durch, entleerte, verdünnte Myceltheile mit einander
verbunden sind, wodurch die Fäden ein rosenkranzartiges Aussehen bekommen, dürfte in
der Bakterienwelt und zwar beim Tuberkelbacillus vorkommen; allerdings ist durch diesen
Umstand die Stellung dieses Mikroorganismus als Bakterie erschüttert und dessen Einreihung
zu den Fadenpilzen nothwendig gemacht worden. Ja, es fragt sich, ob es mit der Zeit
nicht gelingen wird analoge Verhältnisse auch bei anderen Bakterienarten zu constatiren,
und ob sich vielleicht nicht einmal herausstellt, dass die Spaltpilze keine selbständige
Gruppe von Organismen sind, sondern nur , Entwicklungsstadien darstellen in der Lebens-
geschichte mehr complexer Formen." (A. Coppen Jones).
Der Versuch, die Form der Bakterien allein als Grundlage der Ein-
theilung derselben in Gattungen aufzugeben, erscheint daher durchaus gerecht-
fertigt und es möge demnach hier das natürliche System Hueppe's Platz finden:
I. Coecaceen, bilden im vegetativen Stadium Coccenformen:
1. Gattung: Micrococcus, charakterisirt durch unregelmässige Anordnung
der Zellen und Zell verbände; Endosporen bis jetzt unbekannt.
2. Gattung: Sarcina, bildet Tetraden und waarenballenähnliche Packete
der Zellen; Endosporen sicher beobachtet.
3. Gattung: Streptococcus, bildet Ketten; Arthrosporen sicher beobachtet,
Endosporen beobachtet;
IL Bakteriaceen bilden im vegetativen Stadium Stäbchenformen,
welche sich zu Ketten oder Scheinfäden anordnen:
1. Gattung: Arthrobakterium s. Bakterium s. str., bildet keine Endo-
sporen respective bildet Arthrosporen;
2. Gattung: Bacillus, bildet Endosporen;
Untergattungen: a) Bacillus s. str. hat gerade Stäbchen,
h) Clostridium hat Spindelstäbchen.
c) Plectridium hat Trommelschlägelstäbchen.
III. Spirobakteriaceen, bilden im vegetativen Stadium kurze
Schraubenstäbchen (Commaform, S-form), welche zu schraubigen Scheinfäden
auswachsen können:
1. Gattung: Sjnrochaeta, ohne Endosporen respective mit Arthrosporen;
2. Gattung: Vibrio, mit Endosporen; die Schraube ändert ihre Form
bei der Sporenbildung;
3. Gattung: Spirillum, mit Endosporen; die Schraube ändert die Form nicht.
IV. Leptotricheen bilden im vegetativen Stadium Stäbchen, welche
sich zu Fäden vereinigen:
1. Gattung: Leptothrix, unterscheidet sich von den Scheinfäden der
arthrosporen Bakteriaceen dadurch, dass die Fäden einen Gegensatz von
Basis und Spitze zeigen;
2. Gattung: Beggiatoa\ die Fäden ohne Scheide; die Zellen enthalten
Schwefelkörner.
3. Gattung: Phragmidiothrix; die Fäden sind in niedrige Cylinder Scheiben
gegliedert, welche in Halbscheiben, Quadranten und schliesslich in Kugeln
zerfallen;
4. Gattung: Crenothrix; die Fäden zeigen Scheiden, meist mit Eisen-
ablagerungen;
V. Cladotricheen; die vegetativen Zellen gehören der Stäbchenform
an; die Stäbchen bilden Scheiden mit Verzweigung.
Gattung: Cladothrix.
Eine wesentlich grössere Bedeutung als die botanische Stellung und
Eintheilung der Bakterien besitzen für den Arzt jene Wirkungen, welche diese
kleinen Lebewesen bei der Berührung mit der organischen und zum gerin-
geren Theile auch anorganischen Materie auslösen.
BAKTERIEN. 119
In dieser Beziehung theilt man die Bakterien in Saprophyten, das
lieisst solche, welche auf leblosem organischen und anorganischen Material
fortkommen, und in Parasiten, welche sich auf Kosten des lebenden mensch-
lichen und thierischen Organismus erhalten. Aber selbst hier ist die Tren-
nung bei den meisten Arten keine strenge insoferne, als wir nur wenige
Mikroorganismen kennen, welche ausschliesslich auf diesen letzteren Mate-
rialien vorgefunden und deshalb als strenge, obligate Parasiten be-
zeichnet werden, der grössere Theil hingegen sich gelegentlich auch sapro-
phytisch erhalten kann; so stellen die auf künstlichen Nährböden gewonnenen
Reinculturen der pathogener. Bakterien ein saprophytisches Stadium derselben
dar. Dasselbe Verhcältnis kommt vice versa bei den Saprophyten vor, welche
man demnach in strenge, obligate Saprophyten und gelegen tliche,
facultative Parasiten eintheilen kann.
Von den parasitisch auftretenden Bakterien sind für uns die krankheits-
erregenden, pathogenen Arten von der grössten Bedeutung.
Es ist hier nicht der Ort, um auf die sich neuestens wieder bemerkbar
machende Strömung, die specifische Wirkung der Bakterien und deren ur-
sächliches Verhältnis zu den verschiedenen Krankheiten in Frage zu stellen,
näher einzugehen. Es mag nur darauf hingewiesen werden, dass die Bakte-
riologie so viel Licht in manche vorher dunkle Processe gebracht und so viel
eminente praktische Erfolge aufzuw^eisen hat, dass dieser Umstand allein ihr
und den von ihr vertheidigten Lehren volle Berechtigung verleiht. Allerdings
muss zugegeben werden, dass die letzteren im Laufe der Zeit und mit der
fortschreitenden besseren Erkenntnis der Dinge manche Aenderung, manche
Correctur erfuhren.
Die Begeisterung, welche namentlich durch die epochemachenden Unter-
suchungen Robert Koch's entfesselt wurde, führte zu der Anschauung, dass
es zur Entstehung eines Krankheitsprocesses nur des specifischen Bakteriums
bedarf.
Heute wissen wir, dass hiezu auch noch eine Menge zum grössten Theil
in ihrem Wesen unbekannter Nebenmomente nothwendig ist, welche man in
den Begriffen der individuellen, der zeitlichen und örtlichen Disposition zu-
sammenfasst. Ja es fehlt nicht an Versuchen, die selbst aus dem Lager der
KocH'schen Schule ausgehen, (Hüeppe) die specifische Erregung von Krank-
heiten durch Bakterien als fraglich hinzustellen und die Entstehung bestimmter
Krankheitsformen auf eine bestimmte Reaction der Körperzellen auf den
bakteriellen Reiz zurückzuführen. Es fällt aber nicht gerade schwer, dieser
Ansicht eine mindestens ebenso plausible entgegenzustellen. Wir wissen auf
Grund experimenteller Thatsachen sehr gut, dass die Energie der Bakterien
leicht durch äussere Einflüsse geändert werden kann. Zu diesen Einflüssen
sind die Bedingungen, unter welchen die Krankheitserreger ihr saprophytisches
Dasein führen und der mehr oder minder energische Widerstand der thie-
rischen Zellen zu zählen. Wir wissen, dass man mit vollvirulenten Bakterien
bei hiezu empfänglichen Thieren typische Krankheitsbilder erzeugen kann,
während sich die Wirkung spontan oder künstlich (z. B. durch Erwärmung)
abgeschwächter Culturen bei denselben empfänglichen Thierspecies auf die
Bildung localer Krankheitserscheinungen (Abscesse, Phlegmonen, Oedeme)
beschränkt. Die Erzeugung verschiedener Krankheitsprocesse muss demnach
nicht als ein Beweis gegen die specifische Wirkung der Bakterien, sondern
als die Aeusserung verschiedener Energiegrade der specifischen Bakterien
aufgefasst werden, welche auch von der Reactionsfähigkeit der thierischen
Zellen abhängig ist. Um das kurz an einem Beispiele zu erläutern, hat man
sich die Sache so vorzustellen, dass unter günstigen Verhältnissen d. h. bei
voller Virulenz der Bakterienart und voller Disposition der befallenen thie-
rischen Körper, die Tuberkelbacillen stets Tuberculose, Typhusbacillen den
120 BAKTEREIEN.
Typhus u. s. w. erzeugen werden, während es bei entgegentretenden Hinder-
nissen nur zur Erzeugung von Abortivformen der Krankheiten, zu localen
Erscheinungen u. s. w. kommen wird.
Diese jedenfalls viel ungezwungenere Anschauung wird umso plausibler,
wenn man das verschiedenartige Wesen der Wirkung der Bakterien berück-
sichtigt. Wir wissen, dass die letzteren nicht nur dadurch krankheitserregend
auf den lebenden thierischen Organismus einwirken, dass sie in denselben
eindringen und sich hier auf Kosten der Zellen des Wirthes vermehren,
wuchern und ihnen wichtige Nahrungsstoffe entziehen, sondern auch dass sie
theils in sich, theils aus den Eiweisstoffen der Wirthszellen giftige Stoffe ab-
spalten und diese dem Wirthsorganismus einverleiben.
Wir haben es also mit zweierlei Wirkung, einmal mit einem echten
Parasitismus, mit Wucherung auf Kosten des Wirthes, das andere mal mit
Giftbildung zu thun, welche doppelte Wirkung man im ersten Falle als In-
fection, im zweiten als Intoxication zu bezeichnen pflegt. In wie vielfältiger
Weise können sich nun diese Wirkungen bei einem und demselben Bakterium,
in einem und demselben Individuum combiniren ! Die Diptheriebacillen siedeln
sich an den Tonsillen an und erzeugen hier zunächst einen localen Entzün-
dungsherd. Sie entwickeln sich hier und produciren aus den getödteten
Körperzellen eine giftige Substanz, welche in geringerem Maasse resorbirt, die
bekannten allgemeinen Erscheinungen, wie Fieber, erzeugt. Bei heftigerer
Production und ausgibiger Resorption des Giftes kann auch das Nerven-
system in Mitleidenschaft gezogen werden und es kommt dann zu Lähmungen,
die auch experimentell als Wirkung des diphtheritischen Toxins, Giftes, er-
wiesen wurden. Die Tuberkelbacillen können eine locale Affection, Knochen-
caries, Fungus erzeugen; nach einem operativen Eingrife sieht man nicht
selten allgemeine Miliartuberculose entstehen, was auf nichts anderem beruht,
als dass die Tuberkelbacillen durch die durch den operativen Eingriff ge
öffneten Eintrittspforten (Capillaren, Lymphgefässe) in die Blutbahn gelangen
und von da aus den ganzen Organismus überschwemmen.
Für die specifische Wirkung der betreffenden Bakterien spricht ferner
der klinisch wohl charakterisirte Verlauf der bakteriellen Erkrankungen und
sind die einzelnen Krankheitsprocesse noch lange zuvor auf Grund genauer
physikalischer Untersuchungsmethoden auseinander gehalten worden, noch
bevor wir durch die Bakteriologie darüber belehrt wurden, dass diesen von
einander klinisch unterscheidbaren Krankheitsformen auch specifische Krank-
heitserreger zu Grunde liegen.
Es empfiehlt sich daher unbedingt, wenigstens insolange an der Speci-
ficität der Bakterien festzuhalten, als keine triftigeren Beweise, als die bisher
aufgebrachten, mehr hypothetischen, dagegen ins Treffen geführt werden können.
Die Specificität der Bakterien muss überdies als Grundlage der Schutz-
impfungen und der modernen Serumtherapie angesehen werden. Um nun
diese entsprechend beleuchten zu können, muss noch einmal auf die Fähigkeit
der Bakterien, gewisse chemische Substanzen von verschiedener Wirkung zu
bilden, näher eingegangen werden.
Brieger verdanken wir eine genaue Kenntnis dessen, dass in faulenden
organischen Substanzen Stoffe gebildet werden, welche ausserordentlich giftig
sind, anfänglich für organische Basen, Ptomaine, gehalten wurden, welche
aber sich später als Eiweiss- oder diesem wenigstens nahe Substanzen erwiesen,
deren chemische Zusammensetzung noch nicht genau bekannt ist. Mit
Ptücksicht auf ihre Giftigkeit wurden sie Toxine benannt und diese sind es,
welche für die schweren im Verlaufe der Infectionskrankheiten auftretenden
Erscheinungen verantwortlich zu machen sind. Diese Toxine sind in dem
Nährsubstrate enthalten, was aus dem Umstände ersichtlich ist, das man die
specifischen Krankheitserscheinungen nicht nur durch Einverleibung vollgiftiger
BAKTERIEN. 121
Culturen, sondern auch der flüssigen durch eine Thonkerze filtrirten Nähr-
substrate, welche keine zelligen Elemente enthalten, erzeugen kann. Solche
specifische Gifte sind bereits bei den Typhus-, Tetanus- und Choleraerregern
nachgewiesen worden. Impft man Thiere mit kleinen nicht tödtlichen Gaben
solcher Gifte beginnend und allmälig ansteigend, so gelingt es dieselben gegen
die Infection mit selbst hohen Dosen giftiger Culturen immun, giftfest zu
machen. Wir kennen aber noch eine und zwar die eigentliche Art der Im-
munisirung, welche nicht auf Giftfestigung, sondern darauf beruht, dass dem
thierischen Körper Stoße einverleibt werden, welche ihn gegen die betrefienden
Bakterien in der Weise schützen, dass die letzteren sich in ihm nicht ent-
Avickeln können, zerstört werden und daher auch nicht ihre specitischen Gifte
bilden können. Solche Schutzstoffe, Alexine, sind in dem Protoplasma
'der Bakterienzellen enthalten, was daraus hervorgeht, dass man mit entgif-
teten, das heisst, solchen Bakterienculturen, in welchen die Toxine durch Er-
hitzung auf 55° — 65*^ C unwirksam gemacht wurden, Impfschutz erzielen kann.
Diese Schutzstoffe vertragen höhere Temperaturen als die Toxine, bis 100" C,
filtriren schwerer durch Thonfllter und scheinen einen höheren Phosphor-
gehalt zu besitzen.
Zu dieser zweiten Art von Immunisirung tritt noch eine weitere und
zwar die mittelst des Blutserums gegen eine Infectionskrankheit immun ge-
machten Thiere, welche Art der Immunisirung zum Ausgangspunkte der in
der neuesten Zeit autgekommenen Serumtherapie geworden ist.
Versetzt man eine bestimmte Quantität Serum eines Thieres, welches
gegen eine bestimmte bakterielle Erkrankung künstlich, theils durch Impfung
mit steigenden Mengen virulenter Culturen, oder Toxine oder endlich mit
ungiftigen oder wenig giftigen Culturen immun gemacht wurde, mit einer
empirisch zu ermittelnden Menge von giftigen Culturen und injicirt dieses
Gemisch den zum Experimente geeigneten Thieren, so findet man, dass die gleich-
zeitig mit dem Immunserum einverleibten Bakterien in der kürzesten Zeit zu
Grunde gehen und aus dem thierischen Organismus spurlos verschwinden. Je
werthiger ein Serum ist, desto geringere Mengen genügen um die Bakterien-
wirkung zu paralysiren. ■
Der Immunisirungswerth eines Serums kann auf verschiedene Weise,
allerdings nur annähernd gemessen werden. Als Grundlage dieser Berechnung
dient jene minimale Dosis Gift, welche noch geeignet ist, ein Thier von be-
stimmtem Körpergewichte zu tödten. Behring und Ehrlich nennen ein
Normalserum jenes Serum, von dem O"! c;»^ genügt, um die Wirkung des
Zehnfachen der tödtlichen Minimaldosis aufzuheben. Ein Kubikcentimeter
dieses Normalserums heisst „Immunisirungseinheit."
ßoux, TizzONi und Andere berechnen den Immunisirungswerth nach dem
Körpergewichte des Thieres, welches durch gleichzeitige Injection einer be-
stimmten Quantität Serum gegen die Wirkung der minimalen tödtlichen Gift-
dosis geschützt erscheint. Es möge dies an einem Beispiele erläutert werden.
Ein Meerschweinchen von 500 g Körpergewicht, welches durch eine bestimmte
minimale Dosis Gift getödtet wird, bleibt unversehrt bei gleichzeitiger In-
jection von O'l cm'^ Serum. Ein Kubikcentimeter des Serums schützt demnach
5000 g Meerschweinchen und es wird der Immunisirungswerth des Serums
mit dem Verhältnisse 1 : 5000 ausgedrückt.
Die Wirkungsweise des Immunserums ist unbedingt eine biochemische,
das heisst, sie ist nur so zu deuten, dass die die thierischen Zellen consti-
tuirenden Stoffe eine derartige Umwandlung erfahren, dass der Körper auf-
hört, ein geeigneter Boden für die Vermehrung der Bakterien und die damit
verbundene Giftbildung derselben zu sein. Ob diese Wirkung in Bildung von
Schutzstoffen, welche das Gift zerstören, oder in Erhöhung der Widerstands-
fähigkeit der Körperzellen besteht, ist noch eine offene Frage.
122 BAKTERIEN. ^
Zu den weiteren wichtigen biologischen Eigenschaften der Bakterien
gehört ihr Verhalten gegenüber äusseren Einflüssen. Von diesen kommen
praktisch in Betracht die Temperatur, das Licht, die Elektricität und che-
mische, theils flüssige, theils gasförmige Agentien.
Das Leben der Bakterien spielt sich nur innerhalb gewisser Temperatur-
grenzen ab.
Als oberste Grenze, bei welcher sich die Bakterien noch vermehren
können, ist für die meisten Arten 45*^ C anzusehen mit Ausnahme jener
wenigen von Globig aus der Erde gezüchteten Arten, welche nur bei 64^
bis 64" C wachsen; doch ist diese Eigenschaft kaum als etwas anderes als
eine allmälig gewonnene Anpassung der Bakterien an die Insolation des
Bodens zu deuten.
Die unterste Temperaturgrenze steht bei circa -|- 5° C, bei welcher die
vegetativen Vorgänge der Bakterien aufhören, ohne dass jedoch dieselben ab-
sterben müssen; sie werden nur kältestarr und verbleiben in diesem Zu-
stande selbst bei weiterem Sinken der Temperatur. In der durch diese
Grenzen abgesteckten Temperaturzone hat jedes Bakterium sein Temperatur-
optimum, bei welchem es am besten gedeiht und welches für die krankheits-
erregenden Arten zum grössten Theile bei Körpertemperatur (37° C) liegt.
Excessive, darüber hinausreichende Temperaturen über -|- 100° C, ob nun
durch trockene Luft oder Wasserdampf auf die Bakterien applicirt, tödten
dieselben in kürzerer oder längerer Zeit, — letzterer jedoch wesentlich
schneller, als die heisse Luft
Das Sonnenlicht übt eine verhältnismässig rasche, tödtende Wirkung
auf die Bakterien aus, während das diffuse Tageslicht diese Wirkung ver-
missen lässt.
Auch bei Austrocknung gehen die meisten Bakterien mehr oder
minder rasch zu Grunde. Schliesslich besitzen wir in den vielen Desinfections-
mitteln Substanzen, welche sich als mehr oder weniger rasch wirkende Gifte
für die Bakterien erwiesen haben. Bei allen diesen schädlichen auf die
Bakterien einwirkenden Einflüssen erweisen sich die Sporen als wesentlich
widerstandsfähiger, als die vegetativen Formen, was auch bei der Einwirkung
gasförmiger Substanzen (Chlor, Brom, schweflige Säure, Chloroformdämpfe)
beobachtet wird.
Die Elektricität erweist sich nur in Form des Constanten Stromes von
Wirkung, während der Inductionsstrom eine solche vermissen lässt.
Zum Schlüsse dieses Abschnittes sei noch der Phosphorescenz und der
Anaerobiose sowie der Pigmentbildung Erwähnung gethan.
Die Phosphorescenz mancher Bakterien ist so stark, dass man sie
nach Fischer's Vorgang in der Weise mit Hilfe des von diesen Mikro-
organismen erzeugten Lichtes photographiren kann, dass man die colonien-
haltigen Gelatineplatten auf lichtempfindliche Platten oder Papier auflegt.
Die Eigenschaft der Phosphorescenz, welche auch zur Diff'erenzialdiagnose
zwischen Cholera- und anderen, harmlosen Wasservibrionen herangezogen
wurde, sich aber bald als ein sehr inconstantes und unverlässliches Merkmal
erwies, geht insbesondere den Laboratoriumculturen bald verloren.
Die Anaerobiose, d. h. Wachsthum bei Sauerstotf-Abschluss ist keine
typische Eigenschaft einzelner Bakterienarten, wofür sie früher gehalten wurde.
So galten früher die Tetanus-, Rauschbrandbacillen für obligate Anaeroben,
während die neuesten Untersuchungen ergeben haben, dass es ganz gut
gelingt, diese Arten aerob, d. h. bei Luftzutritt zu züchten. Ebenso kann
man vice versa vermeintliche reine Aeroben wie Cholera, Influenzabacillen u. A.
bei Luftabschluss züchten und ist in der Piegel in der Lage zu beobachten,
dass sowohl die Lebensdauer als auch Giftigkeit so gezüchteter Culturen eine
wesentlich grössere ist als bei aerober Züchtung. Wenn wir daher noch
BAKTERIEN. 123
immer an der Eintlieilung der Bakterien in obligat aerobe, obligat anaerobe,
facultativ anaerobe, faeultativ aerobe festhalten, geschieht es nur aus praktischen
Gründen insoferne, als die Züchtung einzelner Arten am leichtesten bei
bestimmter (aerober oder anaerober) Anordnung gelingt.
Nicht uner^Yähnt möge noch bleiben die Pigmentbildung der Bak-
terien, wenn auch dieselbe vorläufig keine hervorragende Bedeutung für die
Medicin besitzt.
Die Bakterienpigmente weisen die verschiedensten Farben auf und sind
auch von ganz verschiedener chemischer Constitution. Während die eine
Gruppe aus Spaltungsproducten der Eiweisstofie, Farbptomainen, besteht, sind
andere den Anilinfarbstotfen verwandt; eine dritte Gruppe gehört den Fett-
farbstoft'en oder Lipochromen an. Die Fähigkeit den Farbstoff zu produciren
ist nicht immer, wie man früher fälschlich angenommen hat, an die Gegen-
wart von Sauerstoff' gebunden. In den meisten Fällen dürfte es sich um die
Bildung eines farblosen Chromogens handeln, welches durch Hinzutritt einer
Säure in ein Pigment in dem Maasse umgewandelt wird, in welchem diese
beiden Bestandtheile erzeugt werden, wozu das Vorhandensein von Sauerstoff
nicht immer unbedingt nothwendig ist.
Auch die Pigmentbildung ist keine absolut constante Eigenschaft der
Bakterien und ist ebenso wie andere biologische Eigenschaften dieser Lebe-
wesen Schwankungen sowohl in Bezug auf das Vorhandensein, als auch den
Grad der Intensität unterworfen.
Die medicinisch wichtigsten Bakterien sind jene, welche eine
krankheitserregende Wirkung auf Menschen und Thiere äussern, beziehungs-
weise vermuthen lassen.
Zu den Bakterien, bei welchen der Nachweis für den ursächlichen Zu-
sammenhang mit den bezüglichen Infectionskrankheiten sicher erbracht wurde,
gehören :
Bacillus anthracis (Milzbrand),
„ Ödematis maligni,
„ des Rauschbrandes,
,, tetani,
„ diphtheriae,
,, typhi abdominalis,
„ mallt'i, (Kotz),
„ (?) tuberculosis,
., der Bubonen-Pest,
„ ti/ph. mmium, (Mäusetyphus),
„ influenzae,
., Friedländer (manche Formen von Pneumonie),
„ des Rhinoscleroms,
„ pyoceaneus,
,, des Schweinerothlaufs und der Mäusesepticaemie,
„ der Kaninchen- Septicaemie (Hühner-Cholera, Wild- und Rinder-
Seuche, der deutschen Schweineseuche),
„ der Schiveinepest,
„ der Fettchenseuche,
Bacterium coli commune,
Pneumococcus Fränkel,
Gonococcus,
Stapht/lococcus pyogenes,
Streptococcus pyogenes s. Erysipelatis,
Spirochaeta cholerae asiaticae,
„ Obermeieri (Recurrens),
Actinomycespilz.
124 BAKTERIEN.
Eine specifische Bedeutung dürften besitzen die folgenden Microorga-
nismen :
Bacillus leprae,
„ syphüidis,
Diplococcus intracellularis W eichselhaum (epidemische Genickstarre).
Spirochaeta Finkler-Prior (bei manchen Fällen von Cholera nostras).
Bacillus Proteus (Proteus vulgaris Hausa) (bei dysenterieähnlichen Ente-
ritiden).
Unter diesen Bakterien zeichnen sich einzelne durch ihre vorwiegend
toxische Wirkung aus. Es sind dies: der Tetanus-, Diphtheriebacillus, Spiro-
chaeta Chol, asiat. und der Proteus.
Einige von den pathogenen Microorganismen finden sich auch unter
normalen Verhältnissen in einzelnen, mit der Aussenwelt communicirenden
Organen, wohin sie theils mit der aspirirten Luft, theils mit den Nahrungs-
mitteln gelangen (die oberen Luftwege, der Verdauungstract), ohne irgend
welche pathogenen Erscheinungen hervorzurufen, sei es, dass sie sich in
einem ungiftigen Zustande befinden, oder dass der Organismus zur Zeit gegen
ihre Wirkung immun beziehungsweise dass die zur Entstehung der Krank-
heit nöthige Disposition nicht vorhanden ist.
Tritt jedoch einmal eine Steigerung der Virulenz dieser „Wohnparasiten"
(Hueppe) oder aber die nothwendige Disposition ein, dann können diese
Mikroorganismen an verschiedenen Stellen in andere Organe eindringen und
daselbst krankhafte Processe erzeugen. In diesem Falle spricht man von einer
Autoinfection, im Gegensatze zur Autointoxication, welche dann eintritt, wenn
der Organismus durch Absorption der hauptsächlich im Darmcanale gebilde-
ten bacteriellen Gifte einen Schaden nimmt.
Zu diesen „Wohnparasiten" gehören insbesondere: der Pneumococcus
(Speichel), die Staphylo- und Streptococcen (cariöse Zähne), das Bacterium
€oli commune und der Proteus (Darmcanal).
Ausser diesen relativ wenigen Bakterienarten, von denen pathogene
Eigenschaften bekannt geworden sind, gibt es eine grosse und sozusagen
täglich sich mehrende Anzahl harmloser, unschädlicher Arten, welche theils
die Oberfläche des menschlichen und thierischen Körpers, theils dessen Um-
gebung, die Luft, Erde, Wasser bewohnen und daselbst bestimmte chemische
Processe wie Fäulnis, Gährungen u. A. bewirken können. Von besonderer
Wichtigkeit sind die Fäulniserreger, welche durch Bildung äusserst giftiger
Stoffe aus den vorhandenen Eiweisverbindungen, wie Collidin, Cadaverin,
Methyl-Guanidin, Cholin, Neurin, Muscarin etc., zu schweren ja oft lebens-
gefährlichen und tödtlichen Vergiftungen Veranlassung geben können.
Doch auch die harmlosen Arten hatten seinerzeit ein grosses Interesse
für sich in Anspruch genommen insoferne als man ihr reichliches oder spär-
liches Vorhandensein im Wasser der hygienischen Beurtheilung desselben zu
Grunde legte.
Heute wissen wir jedoch, dass auch die Zahl der Bakterienkeime im
Wasser kein absolutes Hilfsmittel zur Beurtheilung desselben ist, da auch
spärliche pathogene Keime ein Wasser zu einem ungesunden stempeln, wäh-
rend selbst ausserordentlich zahlreiche harmlose Artindividuen, denen schon
das Wasser allein als Nahrungsstoff genügt, (Wasserbakterien), die Genies-
barkeit des letzteren nicht beeinträchtigen. Wohl ist aber die Keimzahl ge-
eignet, uns über den jeweiligen Zustand eines und desselben Wassers Auf-
schluss zu geben, wenn es in verschiedenen Zeiträumen untersucht wird.
Und so muss denn wohl, Alles in Allem, zugegeben werden, dass die
Lehren der Bakteriologie im Laufe von wenigen Jahren wesentliche Abände-
rungen erfahren haben. Manches noch zu entdecken, unklar, vag und in
die richtige Bahn zu lenken ist; aber es bleibt ein unbestrittenes Verdienst
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSüCHUNGSMETHODEN. 125
dieser noch jungen Doctrin, dass sie der naturwissenschaftlichen und speciell
luedicinischen Forschung neue Gebiete erschlossen, neue Gesichtspunkte ge-
schaffen hat, was von einem unschätzbaren Werthe für die weitere Entwicke-
lung sowohl der Pathologie und Therapie als auch der Hygiene und mithin
anderen epochalen Fortschritten gleichwerthig ist. ludwig kamen.
Bakteriologische Untersuchungsmethoden. Um die Bakterien dem
Auge sichtbar zu machen, genügt in der Regel nicht die einfache mikro-
skopische Besichtigung, weil die meisten Bakterien sich in Folge ihrer Klein-
heit und ihres von dem der Einschlussflüssigkeit wenig verschiedenen Licht-
brechungsvermögens der Beobachtung auch durch die stärksten Immersions-
systeme entziehen. Man muss daher die Bakterien durch die Färbung
dem Auge sichtbar zu machen suchen. Aber in jenen Fällen, wo
Bakteriengemenge vorliegen, reicht auch die Färbung allein nicht aus, sondern
es müssen durch eine Reihe von vorbereitenden Operationen die einzelnen
Bakterien von einander getrennt und rein gezüchtet werden, um mit diesen
Reinzuchten, den sogenannten Reinculturen, die näheren Untersuchungen
anstellen zu können.
Färbung der Bakterien: Obzwar sowohl dem thierischen als pflanz-
lichen todten Plasma die Fähigkeit zukommt, Farbstoffe, namentlich Anilin-
farbstoffe zu binden, ist diese Eigenschaft doch bei dem thierischen und
pflanzlichen Plasma, aber auch zwischen einzelnen Bakterienplasmen recht
verschieden ausgebildet und gestattet in manchen Fällen schon aus dem Färbe-
vermögen allein auf die Natur des vorliegenden Organismus Schlüsse zu ziehen.
Man verwendet in der bakteriologischen Technik nahezu ausschliesslich Anilin-
farben, denn diese w^erden von dem Pflanzenplasma hartnäckiger festgehalten
als von dem thierischen. Ob diese Bindung des Farbstoffes ein chemischer
oder ein physikalicher Process ist, darüber sind die Ansichten der Fachkreise
noch auseinandergehend; die neueren Forschungen scheinen für die erstere
Ansicht zu sprechen.
Zur Färbung der Bakterien werden, je nachdem man einen bestimmten
Zweck verfolgt, sauere und basische Anilinfarbstoffe verwendet. Zu den
ersteren gehören Eosin, Tropäolin, Fluorescein, Safranin etc., zu den basischen
Farbstoffen zählen: Fuchsin, Gentianaviolett, Methylenblau, Methylviolett,
Bismarkbraun, Vesuvin etc.
Mit diesen, gewöhnlich in wässerigen Lösungen verwendeten Farbstoffen,
färben sich die Bakterien nicht gleich gut, und es ist immer Sache des
Untersuchenden, sow^ohl die beste Farblösung für ein bestimmtes Bakterium
empirisch auszuproben, als auch seinen Zweck eventuell durch Combination
mehrerer Farbstoffe zu erreichen zu suchen. Ein Ueberschuss an Farbstoff
wird den Bakterien durch Behandeln mit Wasser, Alkohol oder schwachen
Säuren entzogen. In dieser Hinsicht verhalten sich die Bakterien recht ver-
schieden; während einzelne die einmal aufgenommenen Farbstoffe an die er-
wähnten Lösungsmittel nur sehr schwer abgeben, werden andere rasch,
manchmal momentan entfärbt. Die Aufnahmsfähigkeit der Bakterien für
Farbstoffe wird w^esentlich erhöht, wenn den Farbstoffen gewisse beizend
wirkende Stoffe, als Kali oder Natronlauge, Phenol, Anilinöl etc. zugesetzt
werden. Ebenso wirkt erwärmte Farbstofflösung intensiver als kalte. Ver-
dünnte Farbstofflösungen sind concentrirten beim Färben in allen Fällen
vorzuziehen, wenngleich die zu färbenden Objecte mit der verdünnteren Farb-
lösung länger in Berührung belassen werden müssen. Aus den concentrirten
Farblösungen setzt sich leicht auf das Präparat ein feinkörniger Niederschlag
ab, der schon zu manchen unliebsamen Verwechslungen Anlass geboten hat.
Dasselbe gilt auch beim Entfärben. Schwache Entfärbungsmittel aber längere
Zeit einwirken gelassen, geben schönere Bilder als starke.
126
BÄKTEEIOLOGISCHE UNTERSÜCHUNGSMETHODEN.
Unter den Entfärbungsmitteln nimmt eine besondere Stelle die Gram' sehe
Flüssigkeit, eine Jodkaliumlösung ein. Durch dieselbe werden die mit
Gentianaviolett (auch manchen anderen violetten Anilinfarben) gefärbten thieri-
schen Elemente entfärbt; von den gefärbten Bakterien geben eine ganze Reihe
ihren Farbstoff ab, andere nicht, ein Umstand der die GßAM'sche Flüssigkeit
für differentialdiagnostische Zwecke sehr werthvoll macht. — Durch die ver-
schiedene Aufnahms- und Abgabefähigkeit der Bakterien gegenüber Farbstoffen
lassen sich auf denselben Präparat verschieden gefärbte Bakterien zur Anschau-
ung bringen (sogenannte Contrastfärbung), sowie auch die Eigenschaft
der Sporen, nach vorherigem Beizen Farbstoffe nur sehr schwer an Lösungs-
mittel abzugeben, eine gute Differenzirung von Sporen und Bakterien zulässt.
Geissein werden nach vorherigem Beizen mit Tannin oder Eisentannat gefärbt^
Tecliuik der Färbung: Die Färbeflüssigkeiten werden in concentrirten
alkoholischen Lösungen aufbewahrt (Fig. 1) und unmittelbar vor dem Gebrauch mit
reinem, keimfreien, destillirten Wasser entsprechend verdünnt. Zur Herstellung
und Aufbewahrung des keimfreien Wassers dient der abgebildete kleine Apparat,
dessen Einrichtung aus der Zeichnung unmittelbar hervorgeht (Fig. 2). Nach
einstündigem .Kochen des destillirten Wassers bei geschlossenem Quetschhahn
Pig. 1. Block zur Aufbewahrung der Färbe-
Ilüssigkeiten.
Apparat zur Entnahme von sterilem
keimfreiem Wasser.
wird der Watteverschluss aufgesetzt. Nach dem Erkalten des Wassers, in
welchem nun alle vorhandenen Keime abgetödtet sind, können durch Pressen
des Ballons und Oeffnen des Quetschhahnes beliebige Mengen Wassers abge-
spritzt w^erden.
Die verdünnten Farbstotflösungen werden vor der Verwendung durch
glattes dichtes Filtrirpapier filtrirt. Die Deckgläschen liegen vor dem Gebrauch
in einer Mischung von starkem Alkohol und Aetzammoniak und werden mit
einem weichen oft gewaschenen (appreturfreien) Leinenlappen gereinigt.
Fettig dürfen Deckgläschen und Objectträger absolut nicht sein. In den
meisten Fällen erweist es sich als nothwendig auf dem Deckgläschen die
Probe, in welcher die Bakterien gefärbt werden sollen mit Wasser zu ver-
dünnen. Es wird ein Tröpfchen Wasser auf das von einer CoßNEx'schen
Pincette gehaltene Deckgläschen gebracht, darin die mit einem vorher aus-
geglühten Platindraht oder einer Platinöse entnommene Probe innig verrührt
und über die ganze Fläche des Deckgläschens gleichmässig verstrichen. Am
Gläschen haftende Bröckchen werden, wenn sie sich nicht verrühren lassen,
entfernt. Eine andere, aber nur für gewisse Zwecke brauchbare Methode ist,
auf das bestrichene Deckgläschen ein anderes reines zu legen, und die beiden
Deckgläschen unter schwachem Druck seitlich von einander alDzuziehen. Die
dünne Schichte auf dem Deckgläschen trocknet rasch ein und nach dem
völligen Trocknen wird das Deckgläschen mit der bestrichenen Seite nach
oben mehrmals durch die Flamme eines Bunsenbrenners oder einer Spiritus-
lampe gezogen. — Dadurch werden die Bakterien getödtet und haften an dem
Deckgläschen fest an. Dieser Operation muss besondere Aufmerksamkeit
geschenkt werden, denn bei zu schwachem Erhitzen (Schmoren) der Präparate
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSÜCHUNGSMETHODEN. 127
werden die Bakterien nicht genügend an dem Deckglase festgeklebt und lösen
sich bei der weiteren Behandlung al). Bei zu starkem Erhitzen verändern
sich die Membranen und das Plasma zum Nachtheile der folgenden Färbung.
Diesen üebelständen kann durch Benützung des IvASPARKK'schen Apparates (Fig. 3)
abgeholfen werden. Dieser Apparat gestattet eine schonende Trocknung der
bestrichenen Deckgläschen und ersetzt das „Schmoren"
durch die Ueberleitung eines heissen Luftstromes auf /SfelOi!,
das Präparat. ^filliBfe,
Das auf irgend eine Art fixirte Präparat wird mit """^ÄJI^K
der wässerigen Aniliulösung in Berührung gebracht, ^M v}wS^a
entweder indem auf das von einer CoENEx'schen Pincette ^^jr^'^^^
gehaltene Deckgläschen ein grosser Tropfen Farblösung ^fe^^iSliÄ
liltrirt wird, oder so dass das Deckgläschen mit der be- if'~^^'^ \|^^
strichenen Seite nach unten auf der Farblösung schwimmt. | t""=-:^^ 1 W**'^
Die Einwirkung der Farblösung dauert verschieden lang, | ;. I \ \\
1 — 3 Min.; gleichzeitiges Erwärmen kürzt die Dauer I 1=-^ | J
der Einwirkung ab. Aus der Farblösung kommt das ^^^^^^i^
Präparat direct in destillirtes Wasser und wird darin ^^ri
so lange unter Erneuern des Wassers ausgeschwenkt, i
als noch Farbstoff abgegeben wird. Bleibt das Wasch- j
wasser klar, kann das Präparat durch einen massig i
warmen Luftstrom oder durch Abtupfen zwischen glattem, . „ J
dichtem Filtrirpapier vom Wasser befreit und unter dem fi?« ''Tro^toen''^der^FäAe-
Mikroskope beobachtet werden*). Präparate.
Sind Bakterien mit Kapseln zu färben, gelingt dies (nach Johne) am
besten, wenn das aufgetrocknete Präparat auf einer in einem Glasschälchen
befindlichen Farbflüssigkeit schwimmen gelassen wird. Die Farblösung wird
vorsichtig bis zur beginnenden Dampfentwicklung erwärmt, das Präparat aus
dem Färbebad entnommen und sehr gut abgespült; hierauf wird das Präparat
einige Secunden in 2%iger Essigsäure geschwenkt und rasch wieder mit
destillirtem Wasser ausgewaschen.
Geissein sollen nur "an Bakterien aus jungen (circa 48 Stunden alten),
gut gewachsenen Agarculturen gefärbt werden. Die Bakterien müssen in den
Ausstrichpräparate recht isolirt liegen, was dadurch erreicht wird, dass nur
eine Spur der Bakteriencultur mit einer Nadelspitze entnommen und in dem
Wassertropfen sehr gut verrührt und verstrichen wird. Die gut angetrockneten
Bakterien kommen vor der Behandlung mit Farblösung in eine Beizflüssigkeit
(siehe Anhang), werden darin, wie oben, bis zur beginnenden Dampfent-
wickelung erwärmt, mit Wasser gut ausgewaschen und schliesslich noch mit
Alkohol die Reste der Beize entfernt. Das trockene Deckgläschen kommt dann
(nach Löffler) in Anilinwasserfarbstofflösung, welche sich durch vorsichti-
gen Zusatz von Natronlauge in Schwebefällung befindet und wird bis zur
Dampfbildung erwärmt, oder (nach Bunge) in Carbolfuchsin oder Carbol-
gentianaviolett unter schwachem Erwärmen. Nach 1 Minute langem Verweilen
in der Farblösung wird gut ausgewaschen und getrocknet.
Zur Differenzirung (Diff erenzfärbung) vieler Bakterien eignet sich
vorzüglich die GnAM'sche Methode. Um nach Gram zu färben, werden die
Deckglaspräparate in EHRLicn'scher Lösung (siehe Anhang) längere Zeit
(3 — 5 Minuten) gefärbt, kommen nach gutem Abspülen mit Wasser auf circa
1 Minute in Jodjodkaliumlösung, dann direct in absoluten Alkohol, bis die
Farbe auf dem Präparat nicht mehr erkennbar ist.
Die Färbung der Dauerformen (Sporen) verlangt eine von der gewöhn-
lichen Bakterienfärbung etwas abweichende Arbeitsweise. Gewöhnlich sollen
") Offene Blende. Oelimmersion.
128 BAKTERIOLOGISCHE UNTERSüCHUNGSMETHODEN.
nicht allein die Sporen gefärbt werden, sondern auch die vegetativen Formen
aus denen sie entstanden sind.
Hiezu wendet man die Contrastf ärbung an, bei welcher Sporen und
Bakterien, jedes in einer anderen Farbe gefärbt werden. Eine allgemein
geeignete Methode rührt von Hauser her:
„Der Ausstrich des zu färbenden Materiales wird energischer erhitzt und
mit Carbolfuchsin (ZiEHL'sche Lösung) längere Zeit (circa 2 Minuten) bis zum
Aufwallen, unter Ergänzung des verdampfenden Wassers, erwärmt. Das Deck-
glas wird dann in saurem Alkohol so lange umgeschwenkt bis das Präparat
nahezu farblos erscheint. Nach dem Verdunsten des Alkohols wird das Prä-
parat noch einige Secunden in einer wässerigen Lösung von Methylenblau
nachgefärbt." Das mikroskopische Bild zeigt dann die Sporen roth, die
Bakterien blau.
Eine ähnliche Behandlung verlangen auch die Tuberkelbacillen, welche
ebenfalls den Farbstoff schwer aufnehmen, aber auch sehr schwer wieder ab-
geben. Hier kann Entfärbung und Nachfärbung auf einmal vorgenommen
werden.
Die wie bei der Sporenfärbung behandelten, nur weniger stark erhitzten
Präparate werden nach der Färbung mit ZiEHL'schem Carbolfuchsin in Wasser
gut ausgewaschen und kommen dann, je nach der Dicke der zu färbenden
Schichte, auf 1 — 2 Minuten in die GABBEx'sche Lösung*). Nach dem Aus-
waschen mit Wasser erscheinen die Tuberkelbacillen (und nur höchstselten
eine oder die andere Bakterienart) roth, die anderen Bakterien sowie etwa
vorhandene thierische Elemente blau.
Die auf irgend eine Art gefärbten Präparate werden nach dem Trocknen
zur mikroskopischen Untersuchung in Canadabalsam conservirt. Bios Geissei-
präparate geben in Wasser liegend schönere Bilder. Der Ueberschuss des
angewendeten Canadabalsams und das bei homogenen Lnmersionen verwendete
Cedernöl kann durch Xylol leicht gelöst und entfernt werden.
Das Färben erfordert Geduld und sauberes Arbeiten, stets frisch und
klar filtrirte Farb-Lösungen und junge, wo möglich Agarculturen.
Die Färbung der Bakterien in Schnittpräparaten ist schwieriger und
wird im Wesentlichen, je nach Art der Bakterien nur mit wässerigen Anilin-
farben oder nach Gram vorgenommen.
Im ersteren Falle kommen die Schnitte (bei Alkohol- oder Celloidin-
gehärteten Objecten) aus dem Alkohol in Wasser, und nach dem Auswaschen
des Alkohols auf 1 — 2 Minuten in die wässerige Farblösung. Der über-
schüssige Farbstoff wird durch ca. l^JQ^-ige Essigsäure entfernt und die Schnitte
zuerst in 80%-igen, dann in absolutem Alkohol gut ausgewaschen. Aus
dem Alkohol gelangen sie nach gutem Abtupfen in Nelkenöl, bis sie durch-
scheinend sind, und nach dem Abtupfen des überschüssigen Nelkenöles in
einem Tropfen Canadabalsam auf dem Objectträger.
Nach Gram gelangen die Schnitte aus dem Alkohol in Anilinwasser-
gentianaviolett, von da nach dem Ablaufenlassen des überschüssigen Farb-
stoffes auf 2 Minuten in die Jodkaliumlösung. Nachher wird V2 Minute in
Alkohol ausgewaschen und auf ca. 10 Secunden in starken Alkohol mit Zusatz
von 1% Salzsäure eingelegt. Die Schnitte werden hierauf sofort in reinem
absoluten Alkohol gründlich ausgewaschen und weiter wie vorhin behandelt.
Liegen Paraffinschnitte vor, so werden diese auf einem mit Nelkenöl-
Collodium (aä p.) bestrichenen Deckgläschen oder Objectträger aufgeklebt, die
Hauptmenge des Paraffins durch vorsichtiges Erwärmen und Abtropfenlassen
entfernt, dann die Reste des Paraffins durch Einlegen in Xylol beseitigt. Die
*) In 100 (/ einer 5% Carbolsäurelösung und 10 g Alkohol werden l — 2g Methylen-
blau gelöst.
TAFEL L
Entnommen dem Atlas und Grnndriss der Bacteriologie etc. von Prof. Dr. K, B. LehmanÜ
und Dr. R. Neumann. München. J. F. Lehmann.
1. Micrococcus pyogenes & aureus. Rosenbach. Agarstrichcultur 5 Tage bei 22° C.
2. Micrococcus tetragenus. Koch. Gaffky. Agarstichcultur 6 Tage bei 37° C.
3. Streptococcus pyogenes. Rosenbach. Gelatine Stichcultur 6 Tage bei 22° C. (Kräftig
gewachsen.)
4. Sarcina pulmonum. Virchovv. Hauser. Agarsti'ichcultur 20 Tage bei 22° C.
5. Bacterium coli commune. Escherich. Agarstrichcultur 4 Tage bei 22° C.
6. Bacterium typhi. Ebereh., Gaffky. Agarstrichcultur 4 Tage bei 22° C.
7. Bacterium mallei. Löfflfr. Kartoffelcultur 2 Tage bei 37° C.
8. Bacterium prodigiosum. Ehrenberg. Gelatine Stichcultar 1 Tag bei 22° C.
9. Bacterium fiuorescenz. Flügge. Gelatine Stichcultur 8 Tage bei 22° C.
10. Bacterium pneumoniae. Friedländer. Gelatine Stichcultur 10 Tage bei 22° C. ,
11. Corynebacterium diphtheriae (syn. Bac. diphth.) Löffler. Glycerinagar Stichcultur 2
Tage bei 22» C.
12. Bacillus sabtilis. F. Cohn. Gelatine Stichealtar 8 Tage bei 22° C.
13. Bacillus anthracis. F. Cohn & R. Koch. Gelatinstichcultur 3 Tage bei 22° C.
14:. Bacillas oedematis maligai. Koch. Zackeragerstichcultur 8 Tage bei 37° C
15. Bacillus tetani. Nicolaier. Zuckeragarstichcultar 3 Tage bei 37° C.
16. Vibrio cholerae. Koch. Büchner. Gelatine Stichcultur 7 Tage bei 22° C.
17. Vibrio danubicus. Heider. Gelatine Stichcultur 3 Tage bei 22° C.
18. Vibrio proteus (Vibrio Finkler) Büchner. Gelatine Sti chcultur 4 Tage bei 22" C. ,!
19. Mycobacterium tuberculosis (syn.. Bac. tuberc.) Koch. Glyeerinagarstrichcultur 40 Tag!
bei 37« C.
20. Oospora bovis (syn. Actinomyces) Harz. Agarstrichcultur 6 Tage bei 37° C.
C^*<fftTfsi^;tii.^:i?4
^
«^
05
00
m
«o
fo
^
,;ry»*>«».,ri?«<<;*>/,'*^^
^«Ä)^'*
Oi
TS
o
CQ
92
a>
ü
'5b
•o
CQ
Ol
TS
J3
TAFEL IL
A. Ausstrichpräparat von Streptococcen-Eiter. Färbung mit Methylviolett.
B. Ausstrichpräparat von Tripper-Eiter. Färbung mit Fuchsin.
C. Ausstrichpräparat von tuberculosem Sputum. Bacterienfärbung mit Carbolfuchsin. Gegen-
färbung mit Methylenblau.
D. Ausstrichpräparat von Influenza Sputum. Bacterienfärbung mit Carbolfuchsin. Gegen-
färbung mit Bismarkbraun.
E. Ausstrichpräparat einer Cholerareincultur. Färbung mit Fuchsin.
F. Ausstrichpräparat einer Typhuscultur. Färbung mit Methylenblau.
•O. Gewebssaftausstrich von Milzbrand. Färbung mit Methylenblau.
-H. Ausstrich einer Diphtheriemembran nach Injection von Diphtherieserum. Färbung mit
Methylenblau,
J. Ausstrichpräparat einer Tetanuscultur. Färbung mit Carbolfuchsin.
K. Recurrenzspirillen im Blut. Färbung mit Fuchsin.
i::- ^'^•«fc«^;^..
^?-
hm.
c.^
*l.
tl^^
'^^ ii!l
^
^
CD
k
^ (^ '^m
w
't --/
"N
/ \ VC
Ol
o
CO
ÖD
Ö
ö
-d
u
CQ
p
ÖD
O
-4-3
ts;
CO
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN.
129
Schnitte kommen dann in Alkohol von steigender Concentration und werden
schliesslich wie vorhin erwähnt gefärbt.
Sind blos die Bakterien in thierischen Geweben zu färben, ohne dem
thierischen Gewebe eine Contrastfarbe anzufärben, so werden die Schnitte nach
der Färbung direct in eine verdünnte Lösung von kohlensaurem Kali über-
tragen, durch welche dem thierischen Gewebe der Farbstoff entzogen wird.
Reincultur und blassen cultiir. Hat die Untersuchung des Färbeprä-
parates die Anwesenheit von Bakterien ergeben, müssen für die Artcharak-
terisirung Reinculturen angelegt und mit diesen, wo angängig Infectionsver-
suche angestellt werden. Die Reinzucht der Bakterien kann auf flüssigen und.
festen Substraten, den Nährböden, durchgeführt werden; manchmal lassen sich
beide Arbeitsmethoden vereinigen.
Gegenwärtig werden die Bakterien nur in wenigen bestimmten Fällen in
flüssigen Nährboden isolirt, ganz allgemein geschieht die Trennung der ein-
zelnen im Probeobject vorhandenen Bakterien nach dem von R. Koch erdachten,
seither vielfach modificirten Plattenverfahren.
Das Princip des Plattenverfahrens liegt darin, dass eine geringe Menge
des bakterienhaltigen Materiales mit einer grossen Menge (2-5— lOCc) eines
verflüssigten, über 20'' C wieder erstarrenden, Nährbodens innig gemischt wird,
und das Gemisch durch Aufgiessen auf
eine kalte Glasplatte in einer dünnen
Schichte plötzlich zum Erstarren gebracht
wird. Die Keime, welche durch das Mischen
und Schütteln von einander getrennt
worden sind, bleiben auch in der erstarrten
Nährbodenschichte räumlich getrennt und
wachsen zu isolirten Massenculturen (den
Colonien) aus.
Die Zusammensetzung der Nährböden
ist von grossem Einfluss auf die darin
wachsenden Colonien und es lassen sich
Identitätsproben fraglicher Bakterien nur
durch Züchten auf absolut gleichen Nähr-
böden durchführen. Schon geringfügige
Abweichungen in der Zusammensetzung
der Nährböden können die morphologischen
und biologischen Eigenthümlichkeiten der
Bakterien total verändern und den Anlass
zu ganz unrichtigen Folgerungen bieten.
Die flüssigen Nährböden gestatten
die leichte Herstellung von Massenculturen
und der von ihnen erzeugten Stoifwechsel-
producte (Toxine etc.), ferner die Beobach-
tung einer eventuellen Häutchenbildung,
ermöglichen in vielen Fällen die Zählung
der Anzahl der Bakterienkeime, verändern
aber oft die Form und Eigenschaften der
in ihnen wachsenden Bakterien.
Die flüssigen Nährböden können durch
Zusatz gelatinirender Substanzen in feste ^ig. 3 b. Brutkasten mit Eeicherfschem Thermo-
Nährböden umgewandelt werden. Als reguator.
gelatinirende Substanzen dienen in erster Linie Gelatine und Agar-Agar.
Im Anhange finden sich einige Recepte, nach welchen flüssige und feste Nähr-
böden bereitet werden (s. S. 140).
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 9
130
BAKTERIOLOGISCHE ÜNTERSüCHÜNGSMETHODEN.
Die Gelatine-Nährböden verflüssigen bei ca. 25° C und sind daher zur
Zucht von Bakterien, die nur bei Bruttemperatur (37 — 38" C) wachsen, nicht
geeignet. Sie sind aber vollkommen durchsichtig, lassen sich leicht filtriren,
differenziren die Formen mancher Massenculturen sehr gut und gestatten eine
leichte Unterscheidung der fest wachsenden von den verflüssigenden (pepto-
nisirenden) Colonien.
Die Agarnährböden, welche von keinem bekannten Mikroorganismus ver-
flüssigt werden, und auch bei Bruttemperatur fest bleiben, sind zur Zucht aller
Bakterien geeignet. Gewisse Bakterien verlangen aber specifische Zusätze,
ohne welche sie auch bei Bruttemperatur nicht gedeihen. Carragheen, Kar^
toffeln, Rübenscheiben, Oblaten sind vorzuziehen bei Herstellung von Dauer-
culturen und der Beobachtung der Sporenbildung. Milch, Reis, Most, Harn, Blut,
Pulpe etc. können gleichfalls gelegentlich zur Anlage von Culturen dienen.
Das KocH'sche Plattenverfahren wird wie folgt ausgeführt: Eine
Platinöse des zu untersuchenden ISIateriales wird in 5 — 10 ccm verflüssigten
Nährbodens (bei 30 — 40" C) unter
aseptischen Cautelen innig ver-
mischt, dann von dieser Mischung
3 Oesen successive in 3 oder 4
Nährböden gleicher Zusammen-
setzung fractionirt vertheilt, so
dass auf die 3. und 4. Eprouvette
nur noch eine relativ geringe
Menge Keime treffen.
Während des Impfens stehen
die Eprouvetten in einem auf ca.
36° C erwärmten Wasserbad. Ist
die letzte Verdünnung gemacht,
wird der Inhalt der Eprouvetten
nach vorherigem gutem üm-
schütteln und Abbrennen (Flam-
biren) des Baum wollpfropf ens und
Eprouvettenhalses auf eine sterile
Glasplatte ausgegossen und der
erstarrende Nährboden mit der
Eprouvettenmündung in eine
möglichst quadratische Form ge-
bracht. Die sich auf den Platten
bei Lichtabschluss entwickelnden,
je einem Keim entsprechenden Reinculturen (Colonien) werden dann weiter
untersucht.
Von dem alten Originalverfahren ist an den meisten Arbeitsstätten ab-
gegangen worden, weil es mannigfache Uebelstände mit sich bringt. Die
ständige Prüfung der heranwachsenden Colonien unter dem Mikroskope ist
erschwert, wegen des Auffallens von Luft-
keimen während der Beobachtung, ferner
rutschen namentlich die Agarplatten leicht
von ihrer Unterlage ab, und auf Gelatinplatten
verderben etwa vorhandene verflüssigende
Colonien leicht die ganze Platte. Auch das
Giessen der Platten erfordert nach dem Ori-
ginalverfahren eine ziemliche Uebung und
eine geschickte Hand. Müncke in Berlin stellt
Glasplatten mit aufgebranntem Emailring her, welche wenigstens das
Abrutschen der Agarschichte verhindern. Beliebt sind die sogenannten
Fig. 4. Koch'scher Plattengiessapparat.
Fig. 5. Petrischale.
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSÜCHUNGSMETHODEN.
131
Petrischalen (Fig. 5), 2 kleine, niedere, flache, entweder übergreifende oder
aufeinandergeschliö'ene Glasschalen (ähnlich den bekannten Krystallisirschäl-
chen), in deren eine der inticirte Nährboden gegossen wird, während die andere
als Schutz gegen Wasserverdunstung und einfallende Luftkeime dient. Unter
das Mikroskop kommt die Culturschale mit dem Boden nach oben, so dass auch
eine Verunreinigung der Platten während der mikroskopischen Beobachtung
vermieden ist. Die Petrischalen machen ein genaues Nivelliren, wie es bei
dem alten Plattenverfahren nothwendig war, überflüssig, und gestatten ein
ungemein rasches und sicheres Arbeiten. Bedingung ist nur, dass die Petri-
schalen dünn und der Boden vollständig eben ist. Ein Nachtheil derselben
ist, dass die meist charakteristischen oberflächlich wachsenden Colonien der
mikroskopischen Beobachtung wenig zugänglich sind.
Die WiCHMANN'schen Culturschalen sind Petrischalen von grossem
(17 — 18 cm) Durchmesser.
Vielfach werden auch EsMARcn'sche Bollplatten angelegt, zu welchem
Zwecke der in einer breiten dünnen Eprouvette verflüssigte und inficirte Nähr-
boden durch rasches Drehen der schief gelegten Eprouvette in kaltem Wasser
auf der Innenwand in dünner Schicht erstarrt. Ihr Vortheil liegt darin, dass
wegen des dicht schliessenden Baumwollpfropfens eine Verunreinigung durch
Luftkeime ganz ausgeschlossen ist, und die dünne Wandung der Eprouvetten
einer mikroskopischen Untersuchung der heranwachsenden Colonien sehr för-
derlich ist. Uebelstände sind die schwierige Herstellung der Rollplatten, das
sehr schwierige Abimpfen der entwickelten Colonien, die Unmöglichkeit das
Ablaufen des verflüssigten Nährbodens beim Vorhandensein von peptonisiren-
den Keimen zu verhindern. Anwendung finden die Rollculturen meist nur bei
Gelatinenährböden.
Sehr keimreiches Untersuchungsmaterial wird vor dem Plattengiessen
noch mit gewissen sterilen Flüssigkeiten u. zw. Wasser, Bouillon, Serum, etc.
auf ein bestimmtes Volumen gebracht und erst von dieser Mischung Platten
gegossen.
Manche Bakterien verlangen zu ihrem Wachsthum die Abwesenheit von
Sauerstoff resp. atmosphärischer Luft (Anaerobien). Solche Bakterien werden
bei dem Plattenverfahren nach dem Giessen in den BoTKiN'schen Apparat
(Fig. 6) gebracht. Dieser Apparat besteht aus einer* grösseren Glasglocke, die durch
eine Glasschale mit einer gasab-
sperrenden Flüssigkeit abgedichtet
ist. In der Glasglocke befindet
sich ein Ständer aus Eisenblech
zur Aufnahme der gegossenen
Platten oder Petrischalen und 2
in den Innenraum reichende Glas-
röhren vermitteln den Zutritt und
Abfluss des gewünschten indiffe-
renten Gases. Gewöhnlich wird
als solches Wasserstoff gewählt. Pig. e. Botkin's Apparat zum züchten von Anaerobien.
1 — 2 Tage nach dem Plattengiessen haben die meisten Colonien schon
eine so ansehnliche Grösse erreicht, dass an die Abimpfung geschritten wer-
den kann. Kommen auf der Platte festwachsende und verflüssigende Colonien
vor, so werden die letzteren nach dem Abimpfen mit einem Tropfen Kalium
permanganatum abgetödtet.
Das Abimpfen geschieht mit oder ohne Zuhilf ename einer schwach
(10— 20 mal) vergrössernden Loupe durch seichtes Einsenken eines dünnen
sterilisirten Platindrahtes in die Mitte der Colonie. Die abzuimpfenden Colo-
nien müssen ganz isolirt liegen und unter dem Mikroskope eine gleichförmige
Beschaffenheit zeigen,
9*
132 BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN.
Die abgeimpften Platten werden noch einige Zeit unter Abtödtung der
üppig wachsenden Colonien aufbewahrt, weil manche Bakterien längere Zeit
benöthigen, bis sie ein deutliches Wachsthum aufweisen.
Manchmal erscheint es wünschenswerth sich von der Art des Eindrin-
gens der Colonien in die Gelatinenährböden oder von der Form der tiefer
gelegenen Colonien näher zu unterrichten. In diesem Falle übergiesst man
die Platte mit einer 1 — Pl^/o-igen Lösung von Kaliumbichromat oder legt
sie in eine solche Lösung ein. Nach 3—4 Tagen sind die Gelatinplatten
gehärtet und die Bakterien abgestorben; die Gelatinschichte wird von der
Unterlage abgehoben, mehrere Tage mit anfangs 50*^/o dann 70— SO^/o Alkohol
gut nachgehärtet und es können dann die einzelnen mit dem Korkbohrer aus-
gestochenen Colonien wie Schnitte behandelt werden.
Mit dem in die Colonie getauchten Platindraht werden verschiedene Cul-
turen angelegt:
Stichculturen in Gelatine- und Agareprouvetten indem die Eprouvette
mit der Mündung nach unten gehalten und nach dem Abbrennen (Flambiren)
des Baumwollpfropfens ein rascher centraler Stich in den Nährboden ausge-
führt wird. Vortheilhaft ist es ausserdem in ein anderes Röhrchen auch 2 — 3
wandständige Stiche anzubringen.
Strichculturen, bei welchen über die schräg erstarrte Fläche des
Nährbodens ein sanfter Strich geführt wird.
Kartoffelculturen. Bei diesen wird der Inhalt der abgeimpften Pla-
tinöse über die Kartoffeloberfläche stark verrieben.
Bouillonculturen, welche durch einfaches Einsenken der inficirten
Platinöse in Nährbouillon zu Stande kommen, und endlich die Impfung in
Gährungskölbchen: Diese haben entweder die Form der in der
medicinischen Praxis gebräuchlichen Zuckergährungskölbchen oder bestehen
einfach aus einem umgebogenen an einem Ende zugeschmolzenen Glasrohr.
In den in dem Gährungskölbchen befindlichen flüssigen Nährboden wird eine
Spur der abgeimpften Cultur eingebracht und durch den Quecksilberverschluss
und einen dichten Baumwollenpfropf das nachträgliche Einfallen von Luft-
keimen verhindert.
Abgeimpfte Culturen von Anaerobien werden in besonderen Gefässen
geimpft. Entweder wählt man die BoTKiN'sche Glocke,
in welche diesmal statt der Petrischalen die Eprouvetten
eingestellt werden, oder man impft in eigene Gläschen,
die ähnlich eingerichtet sind wie Spritzflaschen und
sowohl das Studium der aeroben als auch der anaeroben
Bakterien gestatten. Billig und sehr praktisch sind die
Anaerobenzuchtgläschen von Kasparek.*)
In vielen Fällen können Anaerobien auch dadurch
zum Entwickeln gebracht werden, dass ein Impfstich in
hochgefüllte, eventuell mit Zucker oder reducirenden
Substanzen versetzte Nährböden eingebracht wird.
Die Form und Beweglichkeit der abgeimpften
Fig. 7. Kasparek's Apparat zur Bakterien wird durch die Beobachtung derselben im
A^KuSi^m^vtr^n^^^'^ch hängenden Tropfen constatirt. Zu diesem Zwecke eignet
dem Impfen wird das ParaffiQ gj(>ij (jgj. p g ScHULTZE'sche Objectträgcr, lu dcsscu
in A verfluosigt und schliesst '-'^^■" ""^ . , , . m f iT t i t-. ii
bei c die in B befindliche Cultur Rmnc bei Anaerobieu em Tropfen alkalischer Pyrogallus-
luitdicht ab. ssiure eingeführt wird, welcher eine rasche Resorption
des in der Kammer eingeschlossenen Luftsauerstoffes bewirkt.
*; Verfertigt von Rohrbeck's Nachf. Wien. I. Kärntnerstrasse.
BAKTERIOLOGISCHE ÜNTERSUCHÜNGSMETHODEN. 133
Die Untersuchung der auf die angegebene Weise überimpften Bakterien
erstreckt sich auf ff. Punkte:
a) Trübung oder Klarlassen der Bouillon. Bildung eines Häutchens oder
eines Bodensatzes. Auftreten eines besonderen Geruches, Säurebildung, Beweg-
lichkeit, Ausscheidung besonderer Stoffe, als Indol, salpetrige Säure, Enzyme etc.
Von Wichtigkeit ist die Häutchen- und Sedimentbildung. Die Säure
wird durch Titration mit ^lo Normal-Natronlauge (enthaltend 4-1 ^ Natrium-
hydrat im L.) unter Benützung von Phenolphtalein als Indicator bestimmt.
Dunkle Nährböden werden durch Tüpfelung auf empfindlichem Lakmuspapier
auf ihre Säure geprüft. Ist dem betreffenden Mikroorganismus die von ihm
producirte Säure schädlich, erhalten die Nährböden einen Zusatz von kohlen-
saurem Kalk. Die Alkalibildung wird umgekehrt durch Titration mit Vio
Normal-Schwefelsäure (enthaltend 4 g Schwefelsäureanhydrid im L.) bestimmt.
Die Beweglichkeit ist im hängenden Tropfen zu beobachten. Wenn die zu
prüfenden Bakterien Brutwärme verlangen, muss die Untersuchung mit Hilfe
des heizbaren Objecttisches oder in der Weise vorgenommen werden, dass
das ganze Mikroskop in einen passenden Brutkasten gestellt wird*). Auf Indol
dürfen nur ältere Culturen aus zuckerfreiem Nährboden geprüft werden: „Man
versetzt die Cultur (in der Eprouvette) mit dem halben Volumen 807o-iger
Schwefelsäure und erwärmt auf 80° C, wird die Mischung sogleich rosaroth,
so war bei der Keaction auch ein Nitrit zugegen (Choleraroth, Nitro-
soindolreaction.) Tritt keine rothe Färbung ein, so wird ein Krystall
Kaliumnitrit zugegeben. Bei Gegenwart von Indol entsteht eine rothe Fär-
bung von Flüssigkeit".
h) Verflüssigung der Gelatine-Nährböden oder Festwachsen der Colonien,
Farbstoffbildung. Auftreten von Gasen. Form der Colonien in Platten-,
Stich- und Strichculturen.
Die Baumwollepfropfen müssen fest eingedreht sein, denn die Gela-
tine trocknet leicht aus und ist sehr zum Schimmeln geneigt. Manchmal
empfiehlt sich direct ein Zusatz von Lakmus bei der Bereitung des Gelatine-
nährbodens um die Säure- oder Alkalibildung beim Wachsthum der Bak-
terien ohne Weiteres beobachten zu können.
c) Verhalten gegen Agarnährboden. Gasbildung, Form der Colonien in
Platten-, Stich- und Strichculturen.
Die Gasbildung beobachtet man am besten in Traubenzucker- Agar. Auch
andere Zucker (Kohrzucker, Milchzucker) können zu speciellen Zwecken dienen.
d) Wachsthum auf Kartoffeln. Die Kartoffeln müssen wegen des stören-
den Auftretens des Kartoffelbacillus sehr energisch gewaschen und sterilisirt
werden. Das Uebergiessen der Schnittfläche mit Sodalösung und die dadurch
erfolgende Alkalinisirung der sauer reagirenden Kartoffel ist in vielen Fällen
von grossem diagnostischen Werth.
e) Temperaturoptimum. Sporenbildung- Die Sporenbildung wird gewöhn-
lich durch Züchtung auf Kartoffeln hervorgerufen.
/) Verhalten gegen sterile Milch. Fällung oder Peptonisirung des
Casei'ns.
g) Wachsthum und Gasbildung in reducirenden Nährböden.
Ii) Thierversuche.
Für diagnostische Zwecke ist der Thierversuch in den meisten Fällen
unentbehrlich. Die Infection eines empfänglichen Thieres mit einem Krank-
heitserreger und das Hervorrufen bestimmter pathologischer Processe am
Thiere soll, wo es möglich ist, immer durchgeführt werden.
Gewöhnlich dienen Kaninchen, Meerschweinchen, Hatten, Mäuse, Tauben
und Hühner, in selteneren Fällen Katzen, Hunde, Frösche und Affen als Ver-
*) Solche Brutkästen verfertigen: Rohrbeck-Berlin, Reichert- Wien etc.
134 BAKTERIOLOGISCHE ÜNTERSUCHUNGSMETHODEN.
suchsthiere. Dass die inficirten Tiere isolirt gehalten und bei Arbeiten mit
denselben die peinlichste Vorsicht obwalten muss, braucht wohl nicht beson-
ders hervorgehoben zu werden.
Die Uebertragung der Bakterien, oder des zu untersuchenden Materiales
auf das Thier kann auf verschiedene Weise vorgenommen werden:
1. Durch percutane oder subcutane Infection. Im ersteren Falle wird
das Infectionsmaterial in die Haut (ev. Schleimhaut) gut eingerieben, im
letzteren Fall mit einer flachen Scheere eine Hauttasche geschnitten, in die
Oeffnung mit der Platinöse das Untersuchungsmaterial eingeführt und die
Wunde, je nach der Grösse derselben durch Ueberkleben mit Collodium, oder
Zubrennen oder eine Naht geschlossen. Grössere Mengen von Untersuchungs-
material können den Thieren durch Injectionsspritzen unter die Haut gebracht
werden; manchmal wird die Cultur oder das bakterienhaltige Material in die
Hornhaut eingeführt,
2. Infection durch Inhalation: Es wird entweder das mit indifferenten
sterilen Substanzen wie Kohle, Lycopodiumstaub etc. fein verriebene Unter-
suchungsmaterial (z. B. Sputum) dem Thiere mittelst eines Handgebläses einge-
blasen oder in Aufschwemmung mittels eines Zerstäubers beigebracht. Soll
der die Infection hindernde Einfluss der Nasen und Mundschleimhaut aus-
geschaltet werden, kann direct eine Einspritzung in die Luftröhre vorgenom-
men werden.
3. Einspritzung in die Brust und Bauchhöhle. In letzterem Falle wird
dem Thiere die Spritze links von der Mittellinie eingestochen. Die Spritzen-
nadel muss sich leicht nach allen Richtungen bewegen lassen und beim Auf-
zug des Spritzenkolbens dürfen keine Fäcalmassen in die Spritze aufsteigen.
4. Einspritzung in die Blutbahn. Es wird eine Vene (beim Kaninchen
die Ohrvene) zum Anschwellen gebracht, mit der Spritzennadel der Vene ent-
lang eingestochen und in der Richtung des Blutlaufes injicirt.
5. Infection durch Magen und Darm. Am einfachsten bei Bakterien,
welche das Austrocknen vertragen nach der sogenannten Cakesmethode. Sonst
durch die Einführung des flüssigen oder aufgeschwemmten Untersuchungs-
materiales mittels der Magensonde, oder in den Darm durch vorsichtiges Frei-
legen derselben. Die sauere Reaction des Magensaftes kann durch eine der
Infection vorhergehende Ausspülung des Magens mit alkalischen Flüssigkeiten
(Soda) aufgehoben werden. In manchen Fällen müssen auch Injectionen in
die Harnblase oder die vordere Augenkammer vorgenommen werden. Nach
vollzogener Infection wird das Versuchsthier genau beobachtet und mehrmals
des Tages die Körpertemperatur geprüft. Bei der Section werden die Aus-
striche von Peritoneum, Milz, Leber und Blut nach dem praktischen Vorschlag
Heims in Form eines P, M, L und B auf die Deckgläschen gezogen.
Specielle bakteriologische Untersuchungen.
Luft: Zur Probenahme wird eine bestimmte Menge Luft mittels eines
Aspirators durch Bouillon oder verflüssigte Nährböden gesogen, und mit
den so inficirten Nährböden Platten gegossen.
Wasser: O'l — Iccm Wasser, je nach dem Keimgehalt desselben, werden
mit verflüssigten Nährböden gemischt und die Platten mit dieser Mischung
gegossen. Die Aussaaten sollen womöglich an Ort und Stelle vorgenommen
werden; wenn dies nicht möglich ist, wird das Wasser in sterilen Gefässen
aufgefangen und in Eis verpackt an die Arbeitsstätte abgesendet*). Die directe
mikroskopische Untersuchung der Wasserbakterien gibt in der Regel kein
*) Es existiren aucli eigene Apparate, mit welclien Jedermann die Wasserproben
steril entnehmen kann; so z. B. an der k. k. landw. ehem. Versuchsstation in Wien und
der Versuchsstation für Brauerei in Wien.
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN. 135
Resultat, blos die Züchtung auf den verschiedenen Nährböden. In-
jection verdächtigen Wassers bei Versuchsthieren ist besonders da von Werth,
wo Infectionsheerde (Milzbrand, Schweineseuche, Cholera etc.) vorhanden sind,
und deren Verbreitung durch das Wasser wahrscheinlich ist.
Boden: Die Probeentnahme erfolgt mittels eines eigenen Bohrers (nach
C. Fränkel) oder indem mit sterilen Instrumenten ein Loch ausgegraben
wird, und aus dem Loche mit einem sterilen Eisenlöftel von bekanntem
Fassungsraum, Proben mit den verschiedenen Nährböden gemischt werden.
Besser schüttelt man die Bodenproben kräftig mit Bouillon und legt hievon
Platten an. Thierversuche mit Boden sind nothwendig bei Milzbrand, Tetanus etc.
Milch: Hier handelt es sich hauptsächlich um die Auffindung von Eiter-
erregern und Tuberkelbacillen. Ln ersteren Falle wird einfach eine dünne
Schicht Milch aufgetrocknet, das Fett mit Aether entfernt und mit alkalischem
Methylenblau gefärbt. Sind Staphylococcen oder Streptococcen vorhanden;
ist eine gemessene Menge Milch (0'5 ccm) mit den Nährboden zu mischen und
auf Platten zu giessen. Sehr rasch entwickeln sich die Fäden von Oidium
lactis, diese müssen mit Kaliumpermanganat abgetödtet werden. Zur Auffindung
von Tuberkelbacillen eignet sich sehr die Methode von Ilkewitsch:
,,20 ccm entrahmte Milch werden mit verdünnter Citronensäure zum Gerin-
nen gebracht. Abfiltrirung der Molken "
„Auflösung des Caseinrückstandes in mit phosphorsaurem Natron ver-
setztem W^asser."
„Zugabe von 6 cc7n wasserhaltigem Aether, dann 10 — 15 Min. schütteln."
„Einfüllung in einen Scheidetrichter behufs Ablagerung des Fettes an
der Oberfläche."
„Ablassung der untenstehenden Flüssigkeit."
„Versetzen mit verdünnter Essigsäure bis die ersten Anzeichen der Ge-
rinnung sichtbar werden. 10 — 15 Min. centrifugiren (ev. absitzen lassen). Den
Niederschlag prüft man nach einer der Methoden zur Färbung von Tuberkel-
bacillen. "
Sind in der Milch Tuberkelbacillen gefunden worden, werden behufs
der Constatirung ihrer Virulenz Meerschweine intraperitoneal injicirt.
Blut: Die Probeentnahme erfolgt an einer vorher mit Sublimat, Alkohol
und Aether (eventuell nach dem Rasiren der Haare) gut sterilisirten Stelle eines
flachliegenden Blutgefässes. Der erste nach dem Einstich entnommene Tropfen
wird abgeschleudert oder mit sterilem Fliesspapier abgesogen, von der Ober-
fläche der nachfolgenden Tropfen werden mit einer Platinöse die Proben ent-
nommen, und feine Ausstriche auf schiefgelegtem Blutagar und auf Deckgläs-
chen vorgenommen, und eine Probe mit physiologischer Kochsalzlösung (0"57o)
gemischt im hängenden Tropfen untersucht. Das mitunter beim Färben stö-
rende Blutplasma kann durch Abspülen des trockenen Präparates mit 3 böiger
Essigsäure oder Behandlung mit Pepsin vom Hämoglobin befreit werden.
Sputum: Das Sputum ward am häufigsten auf Tuberkelbacillen und In-
fluenzabacillen, gelegentlich auch auf Eitererreger, Kapselcoccen und Acti-
nomyces untersucht.
Der Untersuchung auf Tuberkelbacillen, deren Eigenschaften in Bezug
auf die Färbung schon früher erwähnt worden sind, müssen in vielen Fällen
vorbereitende Operationen vorhergehen, weil viele Sputa nur wenige Tuberkel-
bacillen neben einer Unzahl anderer Microorganismen enthalten.
Es wird das Sputum mit verdünnter Natron- oder Kalilauge gekocht,
oder in der Kälte mit Borax oder Carbolsäurelösung geschüttelt; hiedurch
homogenisirt und verflüssigt sich der grösste Theil des Sputums unter Ab-
scheidung eines Bodensatzes. (Beschleunigung des Absetzens durch Centri-
fugiren.)
136 BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHÜNGSMETHODEN.
Vom Sediment werden Ausstriche angelegt. Bei zur Untersuchung vor-
liegenden grösseren Massen Sputum genügt es dasselbe im Dampftopf zu
sterilisiren und das Sediment zu untersuchen.
Die Ausstriche müssen sehr dünn angefertigt werden.
Von den zahlreichen anderen Methoden der Sputumfärbung seien nur
ff. 2 angegeben:
Methode Kaufmann (schnelle Methode). Die gefärbten Präparate werden
in siedendem Wasser durch mehrmaliges Eintauchen entfärbt. Es darf sich
auf dem Präparate nur eben noch ein färbiger Schimmer zeigen). Die Bacillen
erscheinen lärbig auf grauem Grunde.
Methode Czaplewsky: Nach der Färbung mit erwärmter Carbolfuchsin-
lösung und dem Abtropfen des Farbstoffes wird das Präparat ohne Wasser-
spülung in Fluorescein-Methylenblau 6 — 10 mal eingetaucht und dann in conc.
alkohol. Methylenblaulösung 10— 20 mal umgeschwenkt. Nach dem Abspülen
mit Wasser erscheinen die Tuberkelbacillen roth auf blauem Grunde.
Wenn von den im Sputum befindlichen, der Lunge entstammenden Ballen
Schnitte gemacht werden sollen, werden diese Ballen in steigend concentrirtem
Alkohol gehärtet und dann behufs Anlegung von Schnitten in Paraffin oder
Celloidin eingebettet.
Die Reinzüchtung der Tuberkelbacillen aus dem Sputum ist in der
Regel durch die charakteristische Färbungsreaction überflüssig. Soll dennoch
eine Reinzucht durchgeführt werden, ist ein Meerschweinchen mit dem Sputum
intraperitoneal zu injiciren und die dem Thiere frisch entnommenen Tuberkel-
knötchen zu zerdrücken und auf schiefgelegtem Glycerinagar auszustreichen.
Züchtung bei 38« C.
Wenn die anderen, den Tuberkelbacillus öfter begleitenden Microorga-
nismen, namentlich Staphylococcen, Streptococcen, Tetragonus etc. rein ge-
züchtet werden sollen, ist nach dem gewöhnlichen Plattenverfahren vorzu-
gehen.
Influenzabacillen gedeihen blos auf mit Blut oder Haematogen bestri-
chenem Agar; durch Ausstriche auf so präparirtem und gewöhnlichem Agar
lassen sich die Influenzabacillen leicht erkennen. Zu diesem Zwecke wird das
Sputum mit sterilem Wasser fein verrieben und die Mischung mittels einer
sterilen Federfahne oder eines Sprayapparates auf die Platten gebracht.
Actinomyces ist im Auswurf leicht zu erkennen. Für die Reinzucht
müssen Thierversuche und nachheriges Jmpfen auf schiefgelegtes Agar oder
Kartoffeln durchgeführt werden.
Stühle : In denselben sind ungeheuere Mengen von Bakterien enthalten.
Von wesentlicherem Interesse sind blos Cholera, Typhus und Milzbrand-
bacillen.
Die vorläufige Trennung der Kothbestandtheile erfolgt durch die Centri-
fuge, wonach sich in dem specifisch leichtesten oberen Theil des Inhaltes
des Proberöhrchens die Hauptmasse der Bakterien befindet. Auf Gelatine-
platten entwickeln sich die Typhusbacillen ziemlich charakteristisch und die
gewachsenen Colonien können dann weiter auf ihre besonderen Eigenschaften
geprüft werden. (Unterschied von Typhusbacillen und Typhus ähnlichen
Bakterien siehe Tabelle Seite 140, 141.)
Bei Cholerastühlen werden die charakteristischen Schleimflöckchen heraus-
gefischt und davon Culturen in Peptongelatine und Peptonwasser angelegt;
es sammeln sich die Choleravibrionen an der Oberfläche an und können durch
fortgesetzte Impfung in Peptonwasser rein gezüchtet werden.
Zur Züchtung der Milzbrandbacillen dient am besten der Thierversuch.
(Impfung von Mäusen an der Schwanz wurzel.)
Seh weiss: Eine Stelle der Stirne wird mit Sublimat, Alkohol und Aether
gut sterilisirt, nachdem der zu Untersuchende ein schweisstreibendes Mittel
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN.
137
eingenommen hat. Von dem vorquellenden Schweiss werden mit der Platin-
öse Proben entnommen und Platten angelegt.
Abgeschwächte Ciiltiireii und Sera für Schutzimpfungen.
Die abgeschwächten Culturen werden nach dem Plattenverfahren auf
ihre Keinheit geprüft, durch Thierversuche auf den Grad ihrer Abschwächung.
Die Sera dürfen keine Bacterien enthalten, was nach den Färbemethoden
allein schon nachgewiesen werden kann.
Bereitung der Nälirböden, Sterilisation der Instrumente etc.
Die bei den bakteriologischen Arbeiten in Anwendung kommenden Nähr-
böden und Apparate müssen keimfrei (mindestens frei von Entwicklungs-
fähigen Microorganismen sein), und dieser Zweck kann auf mehrerlei Art er-
reicht werden,
a) durch trockene Hitze,
h) durch Wasserdampf mit und ohne Spannung,
c) durch chemische Agentien.
Im ersteren Falle werden alle jene Geräthschaften, deren Natur dies
zulässt, in der Gas- oder Spiritusflamme ausgeglüht: so z. B. Glasstäbe, Platin-
draht etc., oder mehrmals durch die Flamme gezogen, so z. B. Baumwoll-
pfropfen, Deckgläschen, Instrumente etc. Schonender wird die Sterilisation
durch trockene Hitze in einem eigenen sogenannten Trockenkasten vorgenom-
men,' d. i. in einem doppelwandigen eisernen oder kupfernen Kasten, dessen
Wärmevorrichtung eine Temperatur von wenigstens 160" C im Kastenraume
ermöglicht. Bei dieser Temperatur sind nach 3—4 Stunden auch die wider-
standsfähigsten Keime abgetödtet. In diesen Kasten kommen die mit einem
dicht passenden Baumwollenpfropf versehenen Eprouvetten, die Petrischalen,
Instrumente etc. Weil Kautschuk bei dieser Temperatur schmilzt und sich
zersetzt, dürfen Kautschukgegenstände nicht in den Trockenkasten kommen.
Eine höhere Temperatur als 160'' schadet auch den Baumwollpfropfen. Diese
bräunen sich, destilliren trocken, verunreinigen die Gefässe und werden brüchig;
endlich verkohlt.
Die Sterilisation durch feuchte Hitze erfolgt in, nach dem Principe des
Wasserbades von Pt. Koch construirten Kasten, mit der Abänderung, dass die
von einer Wärmevorrichtung entwickelten Wasser-
dämpfe in einem geschlossenen Raum, dem Mantel,
circuliren und in den Kasten eingelegte Gegenstände
umspülen resp. durchdringen können.
In diesen Dampftöpfen werden namentlich die
nicht sehr empfindlichen Nährböden (Fleischwasser,
Gelatine, Agar etc.) sterilisirt u. zw. in der Weise,
dass an 3 aufeinanderfolgenden Tagen der Dampfstrom
je ^4 — Va^ einwirken gelassen wird. Die widerstands-
fähigen Sporen haben in den Zwischenzeiten aus-
gekeimt und die vegetativen Formen werden durch
den Dampf vernichtet. Empfindlichere Nährböden,
wie Blutserum, Milch etc. werden nach Tyndall
discontinuirlich bei ca. 60*^0 sterilisirt.
Wo es angängig ist werden mit Vortheil
Autoclaven verwendet. Während in den Kocn'schen
Dampftöpfen (Fig. 8) der Dampf eine Temperatur von
höchstens 105" C erreicht, gestatten die Autoclaven (Fig. 9) eine Dampftem-
peratur von ITO*' C, entsprechend ca. 6 at. Es muss aber bei den Auto-
claven darauf geachtet werden, dass der Dampf luftfrei und gesättigt ist. In
den Autoclaven sind auch die mit den widerstandsfähigsten Keimen inficirten
Fig. 8. Koch'scher Dampftopf.
138
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSUCHUNGSMETHODEN.
Gegenstände in 1/2^ sicher sterilisirt. In den Autoclaven werden die wenig em-
pfindlichen nnd keimreichen Nährböden wie Kartoffeln, Reisbrei, Brodbrei,
Oblaten, sowie Instrumente etc. sterilisirt.
Auf chemischem Wege können nur solche Apparate sterilisirt werden,
denen die verwendeten Desinficien nicht
schaden. So z. B. Kautschukgegen-
stände, Glaswaaren etc. in Sublimat,
oder 5%igem Formalin. Gewöhnlich
wirken die Desinfectionsmittel erwärmt
oder dampfförmig besser als kalt-
flüssig. Die Desinficientia müssen aber
nachher sehr gut mit sterilem Wasser
ausgewaschen werden, weil sich sonst
ihre desinficirende Wirkung noch nach-
träglich in unerwünschter Weise be-
merkbar machen würde.
Bereitung der wichtigsten Nährböden.*)
a) Eiweissfreie Nährböden
(nach C. Fränkel und Vogel.)
Kochsalz 5 g, Neutrales käufliches Na-
triumphosphat 2 ff, Milchsaures Ammoniak
6 ff, Asparagin 4 ff, werden in 1000 l Wasser
gelöst. Man kann 10% GelatÜie oder 1% Agar
zusetzen. Auch Zucker.
&) Flüssige Nährböden.
Fleischwasserhouillon nach Löffler : ^/g kff
feingehacktes fettfreies Fleisch wird mit 1 l
dest. Wasser entweder 24t'^ an einem kalten
Ort stehen gelassen und dann durch ein
Tuch abgepresst oder ^/^ ^ im Wasserbade oder
KoCH'schen Dampftopf gekocht und filtrirt;
hierauf fügt man IQ g trockenes Pepton und
5 ff Kochsalz zu, kocht auf und setzt dann
von einer gesättigten Natriumcarbonatlösung so
lange vorsichtig zu, bis rothes Lakmuspapier eine
leichte Blaufärbung zeigt, wenngleich das blaue sich
noch etwas röthet. Dann wird 1— 2ii gekocht, bis sich
die unlöslichen Eiweisstoffe von der vollkommen
klaren Flüssigkeit abgeschieden haben. Nach dem
Erkalten wird durch ein angefeuchtetes Faltenfilter
filtrirt und so eine wasserhelle, kaum getärbte, schwach
alkalische Bouillon erhalten, die sich beim nach-
herigen Steril) siren nicht mehr trüben darf; eventuell
nochmaliges Filtriren.
Milcli: Frische Milch wird in die betreffenden,
mit Wattepfropf versehenen Gefässe oder Doppel-
schälchen eingefüllt und dann entweder bei 120" C
in gespanntem Dampf 10— 15 Min, oder in strömendem
Dampfe bei 100" C an 3 aufeinanderfolgenden Tagen
le 20—30 Min. sterilisirt.
c) Feste Nährböden:
W/oiffe Fleischtvasserpeptonffelatine nach Koch
und Löffler. Zu 1 1 Fleischbrühe (wie vorher be-
reitet) werden 100 ff Gelatine zugesetzt, umgeschüttelt
und vorsichtig am Wasserbade bis zum Schmelzen
der Gelatine erwärmt. Hierauf Neutralisation wie
bei der Bouillon, Kochen im Dampftopf durch ^g^ ^^^^
heisses Filtriren durch ein Faltenfilter (im Heisswasser-
trichter [Fig,10] oder im Dampftopf). Die so ge-
Heisswassertrichter.
*) Im Wesentlichen nach Eisenberg, „Diagnostik."
BAKTERIOLOGISCHE UNTERSüCHDNGSMETHODEN.
139
wonnene Gelatine muss schwach alkalisch reagiren,*) wasserhell und klar bleiben. Falls
eine etwaige Trübung nicht von falscher Reaction oder zu kurzem Kochen herrührt wird
mit Eiweiss oder Blutserum geklärt.
Wilrzegelatine : Bierwürze wird mit 10"/o Gelatine versetzt, verflüssigt und das Ganze
einige Zeit im Dampftopfe gekocht. Hierauf filtriren ohne zu sterilisiren.
Milchserumgelatine nach Raskine: 11 unabgerahmte Milch wird auf 60 — 70" C er-
wärmt und dann 70 — 100 </ Gelatine zugefügt. Nach dem Auflösen der letzteren wird einige
Minuten gekocht, wobei das Casein ausfällt, welches durch Coliren entfernt wird. Die
trübe Flüssigkeit wird etwa 20 Min. bei Bruttemperatur ge-
halten, um das Fett an der Oberfläche sich sammeln zu
lassen, dann lässt man sie erkalten und entfernt die Rahm-
schicht.
2°ln-iges Ileiscliivasserpeptonagar nach Koch. Zu einem
l Fleischbrühe werden 10 g Pepton und 5 g Kochsalz in einem
Kolben zugesetzt, im Dampftopf eine Stunde gekocht, dann
filtrirt und das Filtrat mit 20 g kleingeschnittenem Agar, das
durch 24h mit Wasser aufgequellt und von letzterem durch
ein Tuch abgepresst wurde, versetzt, hierauf neutralisirt, wozu
man nur einige Tropfen conc. Natriumcarbonatlösung braucht.
Hierauf muss die Flüssigkeit entweder über freiem Feuer im
Sandbade, wobei öfters umgeschüttelt wird und das verdam-
pfende Wasser nachgegossen werden muss, oder im Dampf-
apparate stundenlang gekocht werden, bis eine vollständige
Absetzung der zusammengeballten Eiweisskörper von der klaren
Lösung stattfindet, was schneller durch Eiweisszusatz am
Schlüsse erreicht wird; dann gelingt das Filtriren sogar ohne
Heisswassertrichter, während bei ungenügenderem Absetzen
dag Filtriren aiich im Dampfapparate sehr schlecht und langsam
vor sich geht. Dann sterilisiren. Das fertige Agar ist im
flüssigen Zustande klar und wasserhell, im festen erscheint
es etwas opak.
Glycerin - Agar (Gelose-Glycerine) nach Nocakd und
RouXi Zu dem fertigen Agar werden 6— 8°/o Glycerin zugefügt.
Blutserum nach Löffler: Zu Fleischinfus werden 1%
Pepton, 17o Traubenzucker und 0-57o Kochsalz hinzugefügt,
mit Natriumcarbonat neutralisirt, auf dem Wasserbade bis
zur völligen Ausfällung der Albuminate gekocht und filtrirt.
Diese Bouillon wird im Dampfapparate sterilisirt und nach
dem Abkühlen mit flüssigem Blutserum im Verhältnis von
1 : 3 vermischt, hierauf wird event. discontinuirlich sterilisirt
und bis zum Erstarren (bei 68" C) erwärmt.
Fig. 11. Apparat zum Abmessen -ßZw^serMm^eZa^me : Stei'iHsirtes Blutserum (durch discont.
und Einfüllen der Nährböden. Erwärmen auf 58" C durch 5— 6 Tage je ^2 ^) wird mit der
gleichen Menge einer doppelt so conc. fertigen Gelatinelösung
als man die fertige Blutserum-Gelatine haben will unter Erwärmung auf 37" C versetzt.
Nach dem Mischen kann man einige Tage nach einander 1 — 2^ auf 52" C. erwärmen.
Festes Alkalialhuminat. Hühnereier werden 14 Tage mit ihrer Schale in 5 — 10"/o
Lösung von Kalihydrat gelegt, wodurch das Eiweiss gelatineartig fest wird und einen Stich
ins Gelbliche erhält, dabei aber durchsichtig bleibt. Dasselbe wird dann in feine Lamellen
zerschnitten und nach Art der Kartoffelscheiben behandelt. Sterilisation im Dampftopf.
Reducirende Nährböden (für Anaerobien) nach Kitasato-Weyl : Durch Zusatz von
0'3 — 0'5"/o ameisensaurem Natrium zum fertigen Agar und folgender Sterilisation.
Ungeschälte Kartoffelhälften nach Kock: Die noch mit der Schale versehenen Kar-
toffeln werden durch Bürsten gründlich vom groben Schmutz befreit, dann in l°/oo Subli-
matlösung abgewaschen und '^/gh — 1^ in l"/oo Sublimatlösung liegen gelassen, hierauf mit
Wasser gründlich abgespült und im Dampfapparat ^4 — lii gekocht (im Autoclaven bei ca.
130" = %^). Die mit sterilisirten Händen und frisch ausgeglühtem Messer in 2 Hälften ge-
theilten Kartoffeln werden dann in feuchten Kammern auiljewahrt. Feuchte Kammern sind
übereinandergreifende flache Glasglocken, die am Boden und Deckel mit 17oo sublimat-
getränktem Papier angefeuchtet sind.
Geschälte Kartoffelcylinder nach Balton. Aus geschälten Kartoffeln werden mit
einem Apfelstecher oder Korkbohrer, dessen Durchmesser etwas kleiner sein muss als der
des Proberöhrchens, cylindrische Stücke ausgeschnitten und zur Ermöglichung einer grossen
*) Nach dem praktischen Vorschlag K. B. Lehmann's wäre es angezeigter neutrale
Nährböden zu verwenden resp. den Säure- und Alkalitätsgrad von solchen Nährböden aus-
gehend zu verleihen. Die neutralen Nährböden werden unter Verwendung von Phenol-
phthalein als Indicator mittels Zusatzes von Natronlauge hergestellt (statt Soda).
140
BAKTERIOLOGISCHE ÜNTERSUCHUNGSMETHODEN.
Uebersiclit über die biologischen Eigenschaften
Abkürzungen : In allen verticalen Columnen bedeutet -j- Vorhandensein, — Fehlen der in
In Columne 6 bedeutet A dass die
In Columne 8 bedeutet A dass bald Coagu-
In Columne 15 bedeutet 1 schwaches,
Name
o
o
o
Bouillon-
cultur
W
Micrococcus pyogenes & aur. Rosenbach
Micrococcus gonorrhoeae Neisser . .
Streptococcus pyog. Rosenbach. . .
Micrococc. tetragenus Koch, Gaffky
Sarcina pulmonum, Virchow, Hauser
Bacter. pneumon Friedländer . . .
Bact. coli commune, Escherigh .
Bact. typhi, Eberth, Gaffky . . .
Bact. mallei, Löffler
Bact. prodigiosum, Ehrenberg . .
Bact. fluorescenc, Flügge . . . .
Bact. vulgare. _ 1 jj^^^^^^^ ^ ^
syn. Proteus vulgaris J
Bac. subtilis, F. Cohn
Bac. anthracis, F. Cohn u, R. Koch .
Bac. tetani, Nicolaier
Bac. oedem. maligni, R. Koch .
Vibrio cholerae, Koch, Büchner
Vibrio danubicus, Heider . . . .
Vibrio Proteus , B„„™p„
syn. Vibrio Finkler ^ ^"'^hner .
Mycobact. tuberc.
syn. Bac. tuberculosis
Oospora farcinica,
syn. Farcine de boeuf
Oospora bovis, 1 „
syn. Actinomyces J ^^^^
07— 1-0
0-8
0-6-0-8
0-4-1-0
0-8— 1-6
LO-6-
BO-5-
-3 2j
-0-8
L 0-8-3-21
B 04— 0-6
L 1-0 -3-4
B 0-6-0-8
L 0-8 -2-8
|B 0-4— 0-5
iL 0-3— 1-6
B 0-2—0 3
+
L 1-6-
|B 0-4-
-3-0
-0-6
iL 0-8— 6-4
B 2—3
Ll-2-
BO-8-
Cornyebact. diphther. 1 x ••
syn. Bac. diphtheriae J ^»^fler . .
l R. Koch .
Noccard .
-2-6
-16
-3-2
-1-2
Ll-2
B 10
L 1-2-3-6
B 05
L 1-6 -40
B 0-6 -0-8
L 2
B 0-4 -0-6
mehrere,
selten eine
viele
viele
eine, sei
teuer zwei!
viele
viele
viele
viele
eine, sel-
ten zwei
LIO-
BO-3-
Ll-0-
BO-3-
-3-2
-0-5
-3 2
-6'0
L 1-6— 50
B 0-8- 1-0
L 16—3 6
B 0.8-1-0
VerzTv'. Fäden
B 0-5-0.8
Verzw, Fäden
B 0.4—0.6'
+
A
+
stark
+
+
+
+
+
+
+
+
+ +
+
massig
massig
schwach
massig
stark
massig
massig
kräftig
kräftig
massig
massig
massig
massig
massig
s schwach
*) Nach Atlas und Grundriss der Bacteriologie. Von Prof, Dr. K. B. Lehmann und
BAKTERIOLOGISCHE ÜNTERSUCHÜNGSMETHODEN.
141
einiger der wichtigsten Bakterien- Arten.*)
der Ueb er Schrift bezeichneten Eigenschaften. Ein leeres Feld bedeutet fehlende Beobachtung-
Verflüssigung sehr langsam eintritt,
lation der Milch eintritt, bald ausbleibt.
2 gutes, 3 sehr kräftiges Wachsthum.
Milch-
cultur
Cd
o <tj ö
c3
.1 tUO
fe
? 3 a = I t-JO 1
^■« ü Ä O "D
Wachsthums-Inten-
sität auf verschied.
Xährböd, wenn zu
1 L neutralen Nähr
bod. gefügt sind y. Cc|
Normalflüssigkeiten
6b5
03 ö
^
o
O
C/2
f/;
o
ei
Ä
hA
O
o
c^
_i
Ö
PI
m
d
riij
!=
\*^
•rt
;-c
OT
i<
1^
o
o
o
alkalisch
-\- sauer
A schw. alk.
sauer
sauer
sauer
amphoter
+
amphoter,
spät, alkal
-j- seh. sauer
-|- seh. alkal.
-j- seh. alkal.
amphoter
amphoter
+
+
+
A amphoter
A seh. alkal.
4- seh. alkal
Dr. R. Neumann.
orangegelb
rehbraun
dunkel-
'carminroth
gelbgr.,flu-
orescirend
grüngelb
stark
massig
schwach
stark
s. stark
Spur
s. stark
Spur
Spur
äuss.
stark
äuss.
stark
kräftig
kräftig
massig
Spur
s. schwach
schwach
stark
schwach
s. schwach
s. stark
schwach
schwach
ohne Nitrit
kräftig
ohne Nitrit
kräftig
schwach
schwach
Spur
3-7
2-2
38
0-3
30
40
— 0-1
1-3
3-7
1-7
3-3
2-5
2 3
keine
Säure
3-3
2-3
2-5
2-5
5-1
0-1
+
+
+
gestört
gestört
gestört
gut
gut
gering
gut
nicht
nicht
nicht
nicht
142 . BELEUCHTUNG.
Oberfläche diese Cylinder schief abgeschnitten, resp. durch einen schrägen Längsschnitt in
2 gleiche Segmente zerlegt, die Material für 2 Reagenzgläser bieten. Sterilisation in den
Reagenzgläsern an 3 aufeinanderfolgenden Tagen im Dampfapparat.
Oblaten nach Schild : Oblaten werden mit einer Nährlösung gut befeuchtet, in einer
Glasdose sterilisirt und bieten dann ein gutes Nährmaterial, besonders für chromogene
Bakterien, die sich von der blendend weissen Unterlage gut abheben.
Färbeflüssigkeiten : *)
a) Farbstofflösungen:
1. Wässer ig-alhoholische Fuchsin- und Metliylenblaulösung. Man bereitet sich eine
conc. Stammlösung indem man in Flaschen die gepulverten Farbstoffe (Fuchsin, Mehylen-
blau) mit absolutem Alkohol übergiesst, unter Umschütteln einige Stunden stehen lässt und
filtrirt. Von dieser gesättigten Lösung wird 1 Theil mit 4 Theilen destill. Wassers gemischt
und eventuell vor dem Gebrauche filtrirt. Um gute Präparate zu erhalten färbt man lieber
längere Zeit mit schwächeren, als kurze Zeit mit starken Farblösungen.
2. ZieliVsclie Lösung (Carholfuchsin) :
Fuchsin 10 ß'
Acid. carbolic. liq. ^'Og
Alkohol 10-0^
Aq. dest. 90 0^
3. Anilinfuchsin : 4'0 Anilinöl werden mit 100 g Aq. dest. mehrere Minuten gut um-
geschüttelt, hierauf wird filtrirt, bis alles Wasser klar abgelaufen ist. In diesem Anilin-
wasser werden 4:0 g Fuchsin gelöst und das Ganze nochmals filtrirt.
4. Ehrlich'' sehe Lösung (Anilin-Gentianaviolett) : Zu 10"0 ccm Anilinwasser werden
11-0 ccm einer alkohol. conc. Gentianaviolettlösung zugesetzt. Diese Lösung ist nicht lange
haltbar.
5. Löfflers Methylenblau: Zu 100 ccm W^asser, welches 1 ccm l^/^-ige Kalilauge enthält,
setzt man 30 ccm conc. alkohol. Methylenblaulösung. Die Färbekraft wird durch den Alkali-
zusatz erhöht.
6. Bismarckbraun. Herstellung wie Nr. 1 (färbt Gewebe gut, Bakterien schlecht.)
7. Alauncarmin. In 100 ccm einer 5% Alaunlösung gibt man 2 g Carmin, kocht eine
Stunde lang und filtrirt.
h) Differenzirungsmittel:
1. Destill. Wasser
2. Absoluter Alkohol
3. Jodjodkaliumlösung nach Gram:
Jod. pur. l'O
Kai. jodat. 2-0
Aq. destill. 300-0
4. Schwefelsäure 250/0
5. Essigsäure S^/q
6. Saurer Alkohol:
Alkohol. (90o/„ 100 ccw
Aq. destill. 200 ccm
Reine Salzsäure 20 ccm
c) Beizen zur Geisseifärbung.
1. Löffler'schc Beize:
10 ccm alkohol. Fuchsinlösung.
50 ccm kalt gesätig. Ferrosulfatlösung.
100 ccm 20''/o-ige Tanninlösung.
d) Aufhellungs- und Einschlussmittel.
1. Xylol.
2. Canadabalsam.
3. Damarlack. K. KOENAUTH.
Beleuchtung. Der Einfluss des Lichtes auf den menschlichen Orga-
nismus ist ein sehr vielfacher; neben der physiologischen Einwirkung ist auch
seine hygienische von grosser Bedeutung für das Wohlbefinden des Menschen.
In erster Linie kommt hier die Beeinträchtigung unseres Sehorganes durch
*) Nach Prof. H. B. Lehmann „Atlas und Grundriss der Bakteriologie.''
BELEUCHTUNG. 143
Mangel an Licht in Betracht, der nicht nur in den Wohnräumen, sondern
auch in Schulen, Fabriken u. dgl. häufig noch immer zu tinden ist.
Man unterscheidet zwischen Tageslicht oder „natürlicher Beleuchtung"
und der „künstlichen Beleuchtung".
Die Helligkeit eines Raumes, bezw. die Intensität der Belichtung
eines Platzes wird gewöhnlich photometrisch bestimmt, durch Vergleich mit
der Intensität einer Normalkerze, deren Leuchtkraft man als Einheit annimmt.
Diese Lichteinheit (NK) ist in den verschiedenen Ländern nicht gleich. In
Deutschland wird als Lichteinheit die sogenannte Ve'reinskerze (VK) den
Lichtmessungen zu Grunde gelegt. Hierunter ist eine Paraffinkerze (Paraffin
vom Schmelzpunkt 55*^ C) von 20 mw Durchmesserund 50 ww Flammenhöhe,
die stündlich 7 g Paraffin verbrennt, zu verstehen. Die Helligkeit wird in
Meterkerzen (MK) ausgedrückt, d. h. diejenige Helligkeit, welche durch
eine Normalkerze auf einer/1 m entfernten weissen Fläche hervorgerufen wird. —
Ausser der Normalkerze wird bei den neuerdings in Aufnahme gekommeneu
Beleuchtungsarten, die ein intensives Licht liefern, wie das Gasglühlicht, das
elektrische Licht, die Hefnerkerze (HK), das ist das Licht einer Amylacetat-
lampe von 8 mm Lichtweite und 40 mm Flammenhöhe, benutzt. 1 HK =
1.162 YK. — In England misst man mit einer Wallrathkerze von 45 mm
Flammenhöhe (= I'IOT N\\) und in Frankreich mittelst der Carcel-Oellampe
von 45 mm Flammenhöhe {= 0'133 VK).
Das zum Messen der Lichtintensität gebräuchliche Instrument ist das
Photometer, von denen in neuerer Zeit das WEBER'sche Photometer
sehr bevorzugt wird. Das letztere ist so construirt, dass in dem einen Rohr
desselben die Normalkerze angebracht ist, deren Höhe nach einer neben einem
Spiegel angebrachten Skala eingestellt wird. Das Licht dieser Normalkerze
erleuchtet eine Milchglasplatte, die durch eine Schraube gegen die Flamme
hin verschoben werden kann, oder umgekehrt von dieser sich entfernen
lässt; der auf der der Flamme abgewandten Seite erzeugte Helligkeitsgrad
wird zum Vergleich benützt. Die Entfernung der Normalkerze von der Milch-
glasscheibe kann an einer aussen angebrachten Calibrirung abgelesen werden.
So lange die Helligkeit der Flamme die gleiche bleibt, verändert sich die
Entfernung zwischen dieser und der Platte nicht; bei 100cm beträgt die
Helligkeit 1 MK; Je intensiver eine Beleuchtung ist, desto grösser muss die
Entfernung von der Platte werden, um den gleichen Helligkeitsgrad zu er-
halten, wie ihn die Normalkerze bewirkt. Die Helligkeit ergibt sich nach der
Formel I = —^^ C, worin I die gesuchte Intensität, X die Entfernung, bei
der die Helligkeitseinheit besteht (also 100 cm), r die thatsächlich abge-
lesene Entfernung der Lichtquelle und C eine Constante bedeutet, die für
jedes WEBER'sche Instrument besonders zu bestimmen ist.
Mit dieser beliebig abstufbaren, aber stets zahlenmässig ausdrückbaren
Helligkeit vergleicht man die auf ihre Helligkeit zu untersuchende Lichtquelle
oder den Grad der Belichtung einer Fläche, z. B. eines Schreibpultes. Für
den letzteren Fall legt man ein weisses Blatt Papier auf die Fläche des Tisches
und richtet das untere Rohr des Photometers. In diesem erscheint das Gesichts-
feld durch eine Scheidewand getheilt und man sieht auf der einen Seite die
von der Normalkerze beleuchtete Milchglashälfte, auf der anderen den von der
zu untersuchenden Fläche erzeugten Beleuchtungsgrad der Milchglasplatte.
Man schiebt letztere dann so lange hin und her bis beide Theile gleiche
Helligkeit besitzen. Aus den Ablesungen berechnet man dann die Intensität
der Beleuchtung nach NK.
Mit Hilfe derartiger Bestimmungen ist nun ermittelt worden, dass das
Lesen einer Probetafel von Menschen mit normalem Auge bei 5 MK in
48 — 73 Secunden mit vielen Fehlern, bei 10 MK in 30—60 Secunden mit
144 BELEUCHTUNG.
einzelnen Felilern, bei 20 MK in 22—26 Secunden und bei 50 MK in
17 — 25 Secunden ohne Fehler möglich war. Daraus hat man gefolgert, dass
zum deutlichen Erkennen gewöhnlicher Schrift, zum Lesen, Schreiben Hand-
arbeiten und dgl. mindestens 10 MK erforderlich sind.
Eine solche Helligkeit wird aber nur an solchen Arbeitsplätzen erreicht,
die entweder directe Belichtung vom Himmelsgewölbe oder wenigstens reflec-
tirtes Licht von den gegenüberliegenden Häusern erhalten. Die Helligkeit
ist hierbei abhängig von der Grösse des betreffenden Stückes des Himmels-
gewölbes, der vom Arbeitsplatz aus sichtbar ist, und vom Sinus des Einfalls-
winkels der von diesem Stück kommenden Strahlen. Diese beiden die Hellig-
keit eines Platzes beeinflussenden Componenten werden mittels des „Raum-
winkelmessers" von Weber bestimmt, der aus einer quadrirten Scheibe
und einer vor dieser verschiebbaren Linse besteht. Der Apparat wird auf
dem auf seine Helligkeit zu messenden Platze so aufgestellt, dass die Linse
in richtiger Brennweite von der Papierscheibe sich befindet und auf letztere
die den Platz beleuchtende Himmelsfläche im verkleinerten Bilde projicirt.
Die Zahl der von dem Bilde bedeckten Quadrate der Papierscheibe gibt die
Zahl für den Raumwinkel des betreffenden Platzes an, bezw. die Grösse der
Himmelsfläche, von der dieser sein Licht bezieht. Der Einfallswinkel der
Strahlen lässt sich durch Neigung der Papierscheibe, bis das Bild des Himmels-
gewölbes gleichmässig sich um ihren Mittelpunkt vertheilt, feststellen.
Durch Versuche ist festgestellt worden, dass obige für die normale Be-
lichtung eines Platzes nothwendigen 10 MK. mindestens 50 Quadraten des
Raumwinkelmessers entsprechen. Dieses Maass ist daher zu fordern, um auch
an trüben Tagen das zum Lesen, Schreiben etc. nothwendige Licht zu haben.
Die natürliche Beleuchtung unserer Aufenthaltsräume ist abhängig:
1. Von der Grösse der Fensterfläche, die in bewohnten Räumen wenigstens
Vi 2 der Bodenfläche des Zimmers, in Schulen, Zeichensälen und dgl. nicht
unter Vs der Bodenfläche betragen soll. — 2. Von der Grösse des Oeffnungs-
winkels oder freien Himmelsstückes, welches den Raum beleuchtet und dem
Einfallswinkel der Lichtstrahlen (s. oben Raumwinkel). Je steiler der Winkel,
um 'so heller wird der Raum. Da dafür gerade der obere Theil der Fenster
sehr wichtig ist, so soll man diese bis möglichst dicht an die Decke erwei-
tern. Fehlerhafter Beleuchtung eines Raumes lässt sich daher sehr häufig
durch sog. „Tageslichtreflectoren" abhelfen. — 3. Von der Entfernung
der belichteten Fläche vom Fenster. Aus diesem Grunde soll die Zimmertiefe
bei einseitiger Belichtung höchstens Vl2mdl so gross sein, als die Entfernung
des oberen Fensterrandes vom Fussboden beträgt.
Von Belang sind ferner noch die Beschaffenheit des Glases der Fenster
(Färbung, Dicke und Güte), und der Anstrich der Wände, Decken, Thüren,
Oefen. Räume, wo viel Licht gebraucht wird, sollen nur helle Umfassungs-
flächen besitzen, womöglich mit gelblichen oder gelblichrothen Tönen, Wie
wichtig dieser letztere Punkt ist, geht daraus hervor, dass gelbe Tapeten von
dem auf sie fallenden Lichte 40 7o reflectiren, blaue nur 25^0, dunkelbraune
13^05 schwarzbraune 4^0? schwarzes Tuch l"27o und helles Tannenholz
40—50%.
Wir sind nicht in der Lage, zu jeder Zeit über natürliches Licht ver-
fügen zu können, sondern ein grosser Theil des Tages erfordert eine künst-
liche Beleuchtung. Wie an die natürliche Beleuchtung, haben wir auch
an die künstliche hygienische Forderungen zu stellen, unter denen die
genügende Helligkeit den ersten Platz einnimmt. Diese ist wie bei der natür-
lichen Beleuchtung auf mindestens 10 M K zu normiren, sie soll keine Inten-
sitätsschwankungen zeigen und der Farbe des Lichtes bei der natürlichen
Beleuchtung möglichst nahe kommen. Eine Abweichung von letzterer muss
unbedingt durch farbige Cylinder corrigirt werden. Weiter ist zu verlangen,
BELEUCHTUNG. 145
dass keine Belästigung durch strahlende Wärme stattfinde und die Wärrae-
production die Temperatur des Raumes nicht zu sehr steigere. Schliesslich
dürfen die Leuchtmaterialien keine gesundheitsschädigenden Verunreinigungen
an die Luft des Wohnraumes abgeben, nicht explosions- oder feuergefähr-
lich sein.
Was im Speciellen die einzelnen Forderungen anbetrifft, so ist über
die erste derselben, die Helligkeit, bereits Einiges bei der natürlichen Be-
leuchtung gesagt worden. Die Helligkeit eines Raumes wird nicht nur ab-
hängig sein von der Art der Beleuchtung und ihrer Lichtstärke, sondern
auch von der Vertheilung der leuchtenden Körper. Wenn ein Raum die nor-
male Helligkeit von 10 MK besitzen soll, so werden, vorausgesetzt, dass seine
Umfassungsflächen hell gehalten sind, für je 30 — 40 m^ Inhalt 16 NK Licht-
intensität mindestens erforderlich sein. Handelt es sich um die Beleuchtung
einzelner Arbeitsplätze, so soll jeder derselben seine besondere Lichtquelle und
zwar vorne links angebracht, erhalten. Schulräume, Zeichensäle werden durch
an die Decke befestigte Beleuchtungsgegenstände, die zweckmässig vertheilt
sind, erhellt. Wegen der strahlenden Wärme soll man offene Flammen
möglichst vermeiden und, wo dies nicht thunlich ist, von den Köpfen der
Menschen wenigstens 1 m weit, Argandbrenner, die keine Glasunterschalen
besitzen, 1-50 w, mit solchen wenigstens 0.75 m entfernt anbringen.
Offene Flammen besitzen zudem den Nachtheil, dass sie stark flackern.
Sehr empfehlenswerth sind Vorrichtungen zur indirecten Beleuchtung durch
hohes Anbringen der Beleuchtungsgegenstände und unter den Flammen be-
findliche Reflectoren, da diese eine gleichmässige Vertheilung des Lichtes ge-
statten, keine lästigen Schatten, kein Blenden beim Hereinsehen und keine
strahlende Wärme verursachen.
Ueber die Leuchtkraft der einzelnen Beleuchtungsmaterialien gibt die
weiter unten von F. Fischer und Esmaech zusammengestellte Tabelle eine
Uebersicht.
Hinsichtlich der Beeinflussung des Lichtes durch Gläser und Schirme
ist zu bemerken, dass nach einer Zusammenstellung von Esmarch's der Licht-
verlust bei senkrecht durchfallendem Licht beträgt bei:
Einfachem Fensterglas 4^0, Spiegelglas 8 mm dick 6—10%, doppeltem
und Glockenglas 9-137o, mattgeschliffenem Glas 30— 607o, Milchglas 30
bis 7b%.
Durch Reflection von Scheinwerfern können verloren gehen:
2— 5*^/0 bei polirtem W^eissmetall, 7— 157o bei weiss emaillirtem Blech,
3 — 77o bei belegtem Spiegelglas, 10 — 177o bei weisslackirtem Blech.
Umgekehrt lässt sich durch passende Form des Schirmes in bestimmter
Richtung hin eine Lichtverstärkung herbeiführen, die nach Esmarch ver-
glichen mit der Flamme ohne Schirm betragen kann:
Durch einen lakirten Blechschirm ca. das 9 fache
„ polirten „ „ „ 64 „
„ „ Milchglasschirm „ „ 30 „
„ „ Papierschirm mit Glimmer ca. das 23 fache
„ „ Halbkugelscheinwerfer ca. das 260 fache.
Im Tageslicht finden sich 50% blaue, 18% gelbe und 32% rothe Strahlen; fast
alle künstlichen Lichtquellen enthalten dagegen mehr gelbe und rothe und wenig
violette Strahlen; letztere sind aber im elektrischen Bogenlicht in grosser
Menge vorhanden. Unser Auge ist bei gewissen Helligkeitsgraden für den
gelben Theil des Spectrums weitaus am empfindlichsten. Das Vorwiegen der
gelben Strahlen in unseren Lichtquellen lässt sich durch blaue Glascylinder
abschwächen. Dem Gaslicht kann man durch „Carburiren," d. h. Im-
prägniren mit kohlenstoffreichen flüchtigen Substanzen, wie Benzin, Ligroin,
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. j[0
146
BELEUCHTUNG.
eine weisse Farbe geben. Auf Carburation beruhen auch die Albocarbon-
b renn er, in denen das Leuchtgas mit Naphtal indämpf en gemischt zur Ver-
brennung gelangt. Ein sehr weisses Licht liefern ferner die Regenerativ-
brenner, das Gasglühlicht, Spiritusglühlicht und das elektrische Licht.
lieber die Eigenschaften der einzelnen Lichtspender gibt zunächst nach-
folgende, von F. Fischer und Kubner zusammengestellte Tabelle Auskunft:
Lamp en
Berechnet auf 100 E
.erzenstunden
B für
. auf
jstand
,1
" N fl
-■5 S
o
M
o
'S«
o
o
6
11
P
.So 'S)
II i
§ 1^ s?
1
Pf.
Pf.
K
K
w
w
Cal.
1 Stearin
Kerzen \
l Paraffin
1
1
1-3
12
920^
770,
130
120
118
1-22
104
0-99
8100
7980
1080
0-45
8-7
8-2
„ , 1 Flaclibrenner
Erdöl
j Piundbrenner
4
0-6
600,,
13-2
0 95
0 80
6240
—
—
10 8
25
1-9
330,
73
0 53
044
3432
1080
—
10 6
Spirit usglühlicht
36
3-3
270cm^
(220 g)
(8-6)
91
0 38
0-25
1247
—
—
(12)
\ Schnittbrenner
12
2-9
1-6 7n'
2b-6
091
1-71
8480
820
035
62
Leuchtgas Argandbrenner
) Glühlicht
25
48
1-2 „
19 2
0-68
1-28
6360 700
—
61
46
22
0 25 „
4-5
012
0-21
1060
140
0 75
10
Elektrisches Glühlicht
15
4-1
—
27 3
0
0
400
250
7-14
22
Bei
100 VK Helligkeit erzeug
e n
Wasser
in kg
CO^kg
Cal.
Petroleum :
Wasser
kg
CO2
kg
,Gal.
Elektrisches Bogenlicht
0
Spur
57
gross. Rundbre
aner
025
0-62
2073
Elektrisches Glühlicht
0
0
200
Flachbrenner
0 76
1-88
6220
Gas, Siemensbrenner
03
0 39
1843
Oellampe
0-85
2-00
6800
„ Glühlicht
0 64
0-70
3700
Paraffinkerze
0-91
223
7615
„ Argandbrenner
0-69
0 88
4213
Stearinkerze
0-94
2 44
7881
„ Zweilochbrenner
2-14
2-2
8
1215
)0
Te
ilgkerz
e
0 94
2 68
8111
Die Wärmestrahlung beträgt nach anderer Berechnung auf 1 cm^ in
37"5 cm Abstand von der Lampe in 1 Minute in Mikrocalorien (1 mg Wasser)
bei der elektrischen Glühlampe 2-38, beim Arg£,ndbrenner 8'0, Petroleum-
lampe 13-22 und AuEß'schem Glühlicht 1-83, und die ungefähren Kosten für
16 NK . Lichtstärke pro Brennstunde sind durchschnittlich: bei elektrischem
Glühlicht 3 Pfg., Gasglühlicht 0-7 Pf., Spiritusglühlicht, 2-5 Pf., Argand-
brenner 2-5 Pfg. und Petroleumlampe 2 Pfg.
Die Lichtintensität der Kerzen wird zu 0"7 — 3 VK. gerechnet, das Licht
flackert, producirt viel Wärme und ist theuer.
Oellampe n, die eine Helligkeit von 3—4 VK. liefern, geben eine
starke Wärmeentwickelung; das Gleiche gilt für Petroleum, das aber billiger
ist wie die beiden vorhergehenden.
Das Petroleum, Erdöl oder Mineralöl, findet sich in der Natur (in
Nordamerika, am kaspischen Meer u. a, 0. m.) vor, und muss, da das Roh-
BELEUCHTUNG. 147
material sehr leicht flüchtige Bestandtheile enthält, daher feuergefährlich und
mit Luft gemischt explosionsfähig ist, für Brennzwecke gereinigt werden. Es
geschieht dies durch fractiouirte Destillation des Ilohöles, wobei die bei
150 bis ca 300" C (spec. Gewicht 0-8) siedenden Antheile als „Brennöl" be-
nützt werden. Dasselbe wird von Verunreinigungen durch Schütteln mit conc.
Schwefelsäure und Soda oder Natronlauge und schliesslich mit Wasser befreit.
Die leichter siedenden Antheile des Rohöles kommen als Naphta, Benzin,
Ligroin, Petroläter und unter anderen Bezeichnungen für verschiedene Zwecke
in den Handel.
Das Petroleum ist ein Gemenge von Kohlenwasserstoffen, die brennbar
sind; da häufig Petroleum in den Handel gebracht wurde, welches die niedrig-
siedenden Antheile des Ptohöles enthielt und deshalb explosiv war, so hat
man behördlicherseits die Beschaffenheit des Brennpetroleums in vielen Staaten
durch gewisse Vorschriften zu fixiren gesucht. So schreibt das deutsche
Pieichsgesetz vom 14. Mai 1879 vor, dass Petroleum, welches bei 21" C und
760 mm Barometerdruck entflammbare Dämpfe entwickelt, die Aufschrift
„Feuergefährlich" erhalten muss. Die Prüfung geschieht in einem besonders
vorgeschriebenen und von der kais. Normalaichungscoramission geprüften
Apparate, der eine Modification des in England gebräuchlichen „AßEL'schen
Petroleumprüfers" vorstellt.
Bei kleineren Petroleumlampen schwankt die Lichtstärke zwischen
7 — 10 VK., bei grösseren zwischen 10 — 60 und noch mehr VK.
Das Leuchtgas (Steinkohlengas) wird durch trockene Destillation
der Steinkohlen (auch aus anderen fossilen Kohlenarten) in besonderen
Fabriken hergestellt. Das rohe Gas wird daselbst von seinen Verunreinigungen
wie Wasserdämpfen, Schwefelverbindungen, Ammoniaksalzen, Kohlensäure,
Theer gereinigt und stellt dann ein farbloses Gas von charakteristischem
Geruch vor, das in seiner Zusammensetzung sehr schwankt. Es enthält
Schwere Kohlenwasserstoffe 3 — 6*57o
Sumpfgas (Methan) und leichte Kohlenwasserstoffe 38 — 60 „
Kohlenoxyd 4 — 9 „
Stickstoff 2-5— 4 „
Kohlensäure * 0'4 — 3-5 „
Wasserstoff 44 — 48 „
Schwefelwasserstoff mitunter in Spuren.
Hygienisch ist besonders der Gehalt an dem stark giftigen Kohlenoxyd
wichtig, der häufig zu Vergiftungen geführt hat, theils durch directes Aus-
strömen des Gases aus den Leitungen innerhalb des Wohnraumes, theils auch
dadurch, dass Strassenleitungen undicht wurden und das Gas durch den Erd-
boden hindurch namentlich wenn dieser gefroren war, in die Wohnräume
drang. Pettenkofer hat mehrere derartige Unglücksfälle beschrieben.
Während das im ersten Falle ausströmende Gas sich durch seinen Geruch
bemerkbar macht, verliert das Gas beim Passiren des Bodens meist seinen Geruch
und wird dadurch gefährlicher, weil die Bewohner nicht auf die Gefahr auf-
merksam werden.
Bei der Verbrennung des Leuchtgases wird das Kohlenoxyd in Kohlen-
säure umgewandelt. Die Verbrennungsproducte der schwefelhaltigen Beimen-
gungen des Leuchtgases, bestehend aus schwefeliger Säure, schädigen die im
Zimmer befindlichen Pflanzen und Gegenstände.
Die leichten Kohlenwasserstoffe sind mit Luft gemengt explosiv. Die
Explosion erfogt, wenn auf 1 Vol. Leuchtgas 6 — 10 Vol. Luft kommen. Die
Stärke der Luftverunreinigung durch die Verbrennungsproducte des Gases
geht aus obigen Tabellen hervor.
Bei der Gasbeleuchtung kommt es vor allen Dingen auf die richtige
Zufuhr der Luft an. Bei zu viel Luft leuchtet in Folge der vollkommenen
10*
X48 BELEUCHTUNG.
Verbrennung die Flamme nicht (Bunsenbrenner), bei zu wenig Luft ist die
Verbrennung eine zu unvollkommene und die Leuchtkraft, da dieselbe
abhängig ist von dem Grade der Weissgluth, in der sich die
in der Flamme ausgeschiedenen oder absichtlich in dieselbe
hineingebrachten festen Körper befinden, deshalb eine sehr geringe.
Die Leuchtkraft hängt in zweiter Linie auch von der Güte des Gases
ab; besonders sind es das Benzol, Aethylen, Acetylen, Propylen und Butylen,
welche die Leuchtkraft des Gases bedingen. Desshalb muss das in Gas-
anstalten dargestellte Leuchtgas photometrisch untersucht werden und zwar
geschieht dies gewöhnlich unter Verwendung eines von Elster in Berlin con-
struirten Argandbrenner, in dem 1 m^ Gas durchschnittlich 100 VK. Licht
(1 VK. = 10 Liter Gas) geben soll. Auch der Druck des Gases ist für die
Helligkeit der Flamme von Belang.
Um bei wenig Gasverbrauch eine möglichste Helligkeit zu erzielen, hat
man den Brennern verschiedene Construction gegeben. Die primitivste Ein-
richtung bilden der Einlochbrenner, Zweiloch- und Schnittbrenner,
die eine freie flackernde Flamme von geringer Leuchtkraft liefern. Letztere
entspricht bei 30 — 250 l stündlichem Gasverbrauch einer Helligkeit von
8 — 15 VK. Vollkommener sind die Eundbrenner, Argandbrenner, die
eine cylindrische Form mit feinem Schlitz oder einer Reihe kleiner Oeffnungen
besitzen, und bei denen der Luftzutritt durch einen Cylinder von innen und
von aussen zu beiden Seiten des Flammenkegels regulirt wird. Ihr Gas-
verbrauch beträgt 120—240^ per Stunde, die Helligkeit 15—20 VK.
Da, wie oben erwähnt wurde, die Leuchtkraft abhängig von der Weiss-
gluth der in der Flamme ausgeschiedenen festen Partikelchen (bei unseren
Leuchtmaterialien werden diese von Kohlenstoff oder Russ gebildet) und das
Weissglühen wiederum durch die Temperatur der Flamme bedingt ist, so lag
es nahe, vorgewärmte Luft dem vorgewärmten Leuchtgase zuzuführen und
auf diese Weise die Verbrennungstemperatur und damit das Leuchten zu
steigern. Zugleich muss bei den nach diesem Princip eingerichteten Lampen
eine Gasersparnis eintreten. Derartige Gaslampen sind die Butzke-, Wenham-
lampe und vor allen Dingen der diesen als Vorbild gewesene SiEMENs'sche
invertirte Brenner (Regenerativbrenner). Das Gas tritt bei diesen
Brennern an dem unteren Rande eines Porcellancylinders aus einem Brenner-
kranze aus und brennt von aussen nach innen um den Kranz herum, worauf
die heissen Verbrennungsgase durch einen central über dem Brenner befind-
lichen Abzug entweichen. Die zutretende Luft wird durch besondere Canäle,
die von den heissen Verbrennungsgasen erwärmt sind und ihre Wärme an
diesen Luftstrom abgeben, der Flamme zugeleitet. Vielfach hat man diese
Lampen zugleich zum Ventiliren von Räumen benutzt. Wegen der inten-
siven Lichtstärke lassen sie sich unmittelbar unter der Decke eines Raumes
anbringen. Die Leuchtkraft der invertirten Brenner schwankt je nach ihrer Con-
struction und Grösse bedeutend. Der SiEMENs'sche z. B. gibt bei 320 — 1240 l
Gasverbrauch pro Stunde Lichtstrahlen (unter 45° gemessen) von 70 — 360 NK.,
die Meteorlampe bei 230-1050/ Gasverbrauch pro Stunde 60—335 NK.,
die BuTZKE'sche mit 455 — 1250 Z Gasconsum ca. 160—452 NK.
Ein bedeutender Fortschritt in der Beleuchtungstechnik ist durch die
Erfindung des Gasglühlichtes gemacht worden. Dasselbe beruht auf dem
Princip in nicht leuchtende Flammen von hoher Temperatur (Bunsenflammen)
feste, nicht flüchtige Körper, die beim Weissglühen ein intensives Licht aus-
strömeU; wie die Oxyde des Thoriums, Cers, Didyms, Zirkons, einzuführen.
Ein Vorläufer dieses Gasglühlichtes war das DRUMONo'sche Kalklicht, bei
welchem ein Kalkcylinder in der Wasserstoffflamme in intensive Weissgluth ver-
setzt wurde. Ritter Auer von Welsbach gebührt das Verdienst, diesen Ge-
danken in praktisch verwerthbare Form gebracht zu haben. Die sogenannten
BELEUCHTUNG. 149
Glülikörper bestehen aus einem feinmaschigen Asbestgewebe, das mit sehr
geringen Mengen der genannten Oxyde, namentlich demjenigen des Thoriums,
imprägnirt und mittels eines Metallstiltes über einer liunsentlamme befestigt
ist. Vorzüge des Gasglühlichtes sind einmal die enorme Gaserspasnis (28 —
50%) gegenüber anderen Brennern, geringere Verunreinigung der Luft durch
Verbrennungsproducte, Erhöhung der Leuchtkraft fast mehr als um das doppelte
beim Argandbrenner, gleichmässige Lichtvertheilung. Ein Nachtheil ist noch
der hohe Preis der Brenner und die öftere Erneuerung derselben (nach ca.
800 Brennstunden.) Die Helligkeit des Gasglühlichtes schwankt zwischen
30—60 VK. bei einem stündlichen Gasverbrauch.
Mehr untergeordnete Bedeutung hat das aus Petroleumrückständen oder
Abfallfetten bereitete Fettgas; es eignet sich wegen seiner Leuchtkraft und
geringeren Wärmeproduction für kleinere Betriebe (Eisenbahnbeleuchtung,
Krankenhäuser etc.). Das Russen seiner Flammen ist aber jedenfalls noch
ein grosser Nachtheil.
Wassergas, durch Ueberleiten von Wasserdämpfen über glühende
Kohlen bereitet, besteht im Wesentlichen aus einer Mischung von Wasserstofi
mit Kohlenoxyd (bis öO^o) und brennt deshalb mit nicht leuchtender Flamme.
Um es für die Beleuchtung zu verwenden, muss es carburirt (s. oben), oder
durch einen Glühkörper zum Leuchten gebracht werden. Die grosse Giftig-
keit des Gases hat bisher seine Einführung in die Beleuchtungspraxis ver-
hindert.
In neuerer Zeit hat man nach dem Princip des Gasglühlichtes auch
Spiritus- und Petroleumlampen mit Glühkörpern versehen (Spiritusglüh-
licht und Petroleumglühlicht). Diese scheinen sich zu bewähren und
besitzen manche Vorzüge. Der Spiritusverbrauch ist ein geringer (stündlich
70—80^), die Lichtstärke bis 70 HL.
Das- aus Calciumcarbid hergestellte Acetylenlicht hat trotz seiner
Helligkeit (34 bis 52 HK.) noch wenig oder gar keine praktische Verwendung
gefunden.
Von hoher hygienischer Bedeutung ist das elektrische Licht. Auf die
Einrichtungen der Anlagen für Erzeugung elektrischer Ströme hier einzugehen,
muss sich Referent versagen und bezüglich derselben auf die elektrotech-
nischen Handbücher verweisen. Hier möge nur erwähnt werden, dass elek-
trische Wechselströme bei Berührung in der Stärke von 100 Volt (Spannung) eine
merkbare, von 200 Volt eine unangenehme, 500 Volt eine schmerzhafte Em-
pfindung hervorrufen und 1000 Volt lebensgefährlich werden können. Gleich-
ströme sind weit ungefährlicher, weil sie niemals so hohe Spannung besitzen.
Man unterscheidet zwischen Glüh- und Bo genlicht. Das erstere ist in
Farbe und Zusammensetzung dem gewöhnlichen Gaslicht sehr ähnlich, strahlt
im Vergleich zu anderen Beleuchtungsmaterialien sehr wenig Wärme
aus, bietet nur geringe Gefahren, keine Luftverschlechterung, nur der
in der luftleergemachten Birne befindliche Platinfaden oder der mittels
galvanoplastischen Verfahrens verkupferte Kohlefaden liefert beim Glühen
einen so hohen Glanz (Flächenhelligkeit), dass eine Blendung durch
grösseren Abstand der Lampen vom Auge oder Benutzung von lichtzerstreuen-
den Glassorten angebracht werden muss. Die Glühlampen besitzen gewöhnlich
eine Leuchtkraft von 16—32 NK., jedoch werden auch solche von 8—500 NK.
angefertigt. Ihre Brenndauer beträgt 800—1000 Stunden. — Das Bogenlicht,
hervorgebracht durch den Lichtbogen zwischen zwei mit den Polen der Ma-
schine verbundenen Kohlenstäben, ist sehr grell; es muss deshalb stark ab-
geblendet werden und eignet sich vornehmlich zur Beleuchtung sehr grosser
Räume und freier Plätze. Die Helligkeit der meistgebräuchlichen Lampen
schwankt sehr, je nach ihrer Construction (zwischen 250—3000 NK.), doch
kann man die absolute Intensität bis auf 20000 Kerzen und darüber treiben.
150 BLINDEN-ANSTALTEN.
Das Bogenlicht erreicht aber nur in seltenen Fällen bei ausgezeichneten
Regulatoren die ruhige Gleichmässigkeit des elektrischen Glühlichtes.
Nach L. Webee steht — wenn wir die Vorzüge der einzelnen Beleuch-
tungsarten vergleichen — hinsichtlich der Lichtfarbe in erster Linie das
Bogenlicht, es folgen der Reihe nach das Gasglühlicht, Albocarbongas, die
Regenerativ- oder invertirten Brenner, elektrische Glühlampen, grosse Petro-
leumbrenner, Gaslicht, gewöhnliche Petroleumlampe und zuletzt Oellampen
und Kerzen. Was die Helligkeit anbetriflt, so lässt sich aus obigen Tabellen
das Nöthige entnehmen. Das Zucken ist am geringsten bei elektrischen
Glühlampen, Petroleum-, Oellampen, Auerlicht und Siemensbrenner, dann
kommen Argandbrenner, Gar keine Luftverschlechterung durch Verbrennungs-
gase geben nur die elektrischen Glühlampen und ihnen folgen die Siemens-
schen Regenerativbrenner; sehr gering ist sie auch bei Auerlicht. Geringe
Wärmestrahlung ist vorhanden bei den Glühlampen, Gasglühlicht und Bogen-
licht, am gefahrlosesten im Betriebe sind Oellampen, Kerzen und elektrische
Glühlampen. Eine unbedingte Empfehlung einer Beleuchtungsart als beste
unter allen und für alle Verhältnisse passend ist nicht möglich. Als hygie-
nisch beste ist aber unzweifelhaft die elektrische Beleuchtung anzusehen und
zwar für kleinere Räume Glühlicht, für grössere zweckmässig abgeblendetes
Bogenlicht. Für Privaträume, Arbeitsplätze, kurz Räume ohne Ventilations-
einrichtungen, werden nächst dem elektrischen Licht das Gasglühlicht und die
besseren Petroleumlampen in Betracht kommen. b. peoskauer.
Blinden-Änsta!ten. Nur wenige Blindenanstalten verfolgen den Zweck,
ihren Pfleglingen durch augenärztliche Hilfe, das verlorene, geschwächte oder
gefährdete Sehvermögen wieder zu geben. In Oesterreich- Ungarn bestehen
nur an dem Prager Privat-Blinden-Erziehungs-Institute Einrichtungen für
Augenoperationszwecke, und alljährlich werden daselbst durch einen hervor-
ragenden ärztlichen Fachmann Augenoperationen an einer namhaften Zahl
von blinden Kindern vorgenommen, wodurch sich diese Anstalt zu einer Art
Augenklinik qualificirt. In der Regel haben die Blinden-Anstalten, deren
es in sämmtlichen Culturstaaten des Erdballs gegen 200 gibt, die Aufgabe,
unheilbar Erblindeten eine entsprechende Bildung und Fürsorge angedeihen
zu lassen. Bildungsfähige Blindgeborene oder frühzeitig d. h. zu einer Zeit
Erblindete, wo das Erinnerungsvermögen etwa empfangene Seheindrücke nicht
zu reproduciren vermag und daher einen Unterschied zwischen diesen und
den Blindgeborenen nicht bemerken lässt, werden Blindenbildungs-
anstalten zugewiesen.
Blinde Kinder vorschulpflichtigen Alters, also bis zum 7. Lebensjahre,
erhalten in Asylen für blinde Kinder, wie in Wien, Hernais, oder soge-
nannten Vo r s c h ul e n für blinde Kinder, wie Moritzburg bei Dresden, Bennekom
bei Amsterdam u. a. eine dem fehlenden Sinnesorgan angepasste Kinder-
gartenerziehung und werden so für die Aufnahme in die Blinden-Erziehungs-
Anstalten entsprechend vorbereitet.
Bei der vielfach verfehlten, von missverstandener Liebe oder von
drückender Armuth ungünstig beeinflussten Erziehung der im zarten Jugeud-
alter stehenden blinden Kinder ist es eine Hauptaufgabe der Blindenvorschule
zunächst dem leiblichen Elende der Zöglinge abzuhelfen, ihrer Unbeholfenheit
und Unsicherheit im Gebrauche der Leibesglieder entgegenzusteuern, sie von
üblen Angewöhnungen zu befreien und durch entsprechende Uebung der übrig-
gebliebenen Sinne, insbesondere des Gehörs und des Tastsinnes so weit zu
entwickeln, dass sie für den späteren Anstaltsunterricht befähigt werden.
Uebungen im An- und Auskleiden, Waschen und Kämmen, im Knoten- und
Schleifenbinden, entsprechende Auswahl FRöBEL'scher Kindergartenbeschäfti-
gungen und Spiele, Formen in Wachs und Thon, leichte Turnübungen be-
BLINDEN-ANSTALTEN. 151
sonders das Hand- und Fingerturnen müssen in der Blinden-Vorschule mit
dem auf die übriggebliebenen Sinne basirenden Anschauungsunterricht
zweckmässig abwechseln, den Thätigkeitstrieb der blinden Kinder wecken
und beleben, so den Elementarunterricht anbahnen und die Grundlage für
die spätere Anstaltserziehung schafien.
Die eigentlichen Blinden -Erziehungs-Institute, welche Zöglinge
schulpüichtigen Alters, also vom 6. bis 14. Lebensjahre aufnehmen und in der
Regel bis zum 20. Lebensjahre behalten, haben die Aufgabe, ihre Zöglinge
körperlich, geistig und moralisch zu bilden und dieselben durch Anleitung zu
einem geeigneten Lebenserwerb zu nützlichen und möglichst selbständigen
Gliedern der menschlichen Gesellschaft zu machen. Der Unterricht gliedert
sich in einen literarischen, musikalischen und industriellen.
Die allgemeine Bildung, welche sich in den meisten Blinden-Erzie-
hungs-Anstalten im Rahmen der Volks- und Bürgerschule bewegt, bezweckt die
Entwicklung aller körperlichen und geistigen Anlagen der blinden Schüler,
um sie hiedurch zu sittlich-religiösen, für alles Gute und Edle empfänglichen
und nützlichen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft zu machen. Ohne
diese allgemeine Bildung würden sie, wie die Erfahrung lehrt, in Stumpfsinn
und Müssiggang verfallen und zu lebenslänglicher Passivität verurtbeilt sein.
Die Blinden-Erziehungsanstalt muss daher bestrebt sein, alle Gebiete des
Wissens und Könnens, wie sie durch die allgemeine Volksschule vermittelt
werden, zu pflegen; denn die Bildung ist es, welche dem Blinden eine neue
innere Welt der Vorstellungen, Gedanken und Gefühle erschliesst und ihm
Ersatz bieten soll für die ihm verschlossene Aussenwelt. Die Summe der auf
den verschiedenen Gebieten erworbenen Kenntnisse belehrt ihn über das
höchste Wesen und die Welt, sie senkt trostreiche Hoffnungen in sein um-
nachtetes Herz und lässt ihn des Lebens Finsternis leichter ertragen; sie
zeigt ihm, wie alles Irdische unvollkommen ist und das wahre Glück nicht
im äusseren Glänze, im Besitz und Genuss, sondern in der inneren Seelen-
zufriedenheit besteht, die auch jeder Blinde erreichen kann, wenn er seine
Wünsche und Bedürfnisse mit seinen äusseren Verhältnissen in Einklang zu
bringen versteht. Auch die Achtung seiner selbst und das beglückende Be-
wusstsein, dass auch der Blinde nach Maassgabe seiner Anlagen und Kräfte
seinen Wirkungskreis in der menschlichen Gesellschaft auszufüllen vermöge,
ist eine kostbare Frucht dieser allgemeinen Schulbildung. Aus diesem durch
die gewonnene Bildung geweckten Selbstgefühl, wächst auch der Lebensmuth
des Blinden, sowie seine Arbeitslust, welche ihm zum Born der edelsten
Freuden wird.
Der literatische Unterricht in den Blindenschulen bewegt sich wie
bemerkt, zumeist innerhalb des Lehrziels einer allgemeinen Volks- und Bürger-
schule und umfasst folgende Gegenstände: Religion, biblische Geschichte und
Kirchengeschichte, Muttersprache, Sinnes- und Verstandesübungen, Lesen und
Schreiben erhabener Schrift, BRAiLLE'sche Punktschrift, Kurzschrift, Kopf- und
Zifferrechnen, Geometrie, Naturgeschichte, Technologie, Naturlehre, Geographie,
Geschichte, Zeichnen und Formen (Modelliren). Wenn auch das Lehrziel der
Blindenschule mit jenem der allgemeinen Volks- und Bürgerschule im Wesent-
lichen zusammenfällt, so ist doch naheliegend, dass die Blindenunter-
richtsmethode den Eigenthümlichkeiten der liclltberaubten Schüler Rech-
nung tragen, besondere Wege einschlagen muss und specielle Lehrbehelfe
nicht entbehren kann. Eine Hauptaufgabe der Blindenpädagogik wird es sein,
die dem Blinden übrig gebliebenen Sinne, insbesondere Gehör und Gefühl
derart auszubilden und zu schärfen, dass dieselben vielfach den fehlenden Sinn
zu ersetzen und so den Abgang des edelsten Sinnesorganes weniger fühlbar zu
machen vermögen. Die Gehörs Übungen, welche schon im zartesten Kindes-
alter angebahnt werden sollen durch ein am Kinderkorbe befestigtes Glöckchen,
152 BLINDEN-ANSTALTEN.
üach welchem der blinde Säugling seine zarten Händchen streckt und
dessen Klange er gern lauscht, zärtliche Kose- und Schlummerlieder der Mutter,
später allerlei tönnendes Spielzeug, wecken die Gehörsthätigkeit des blinden
Kindes; auf einer höheren Stufe wird die Natur als vorzüglichste Lehr-
meisterin für Gehör der blinden Kinder auftreten. Kein Geräusch, kein
Laut, keine Schallempfindung ist zu geringfügig, dass sie nicht in den Dienst
der Blinden-Pädagogik gezogen werden sollte. Die Thierstimmen in ihren
überreichen Variationen, die vom Gehör wahrnehmbaren Schalleindrücke be-
wegter Luft, des fliessenden Wassers, des plätschernden Kegens, des Donners, des
prasselnden Feuers u. dgl., müssen dem blinden Kinde zum Bewusstsein gebracht
werden. Selbstverständlich dürfen auch die Schalleindrücke, welche aus der
Thätigkeit der Menschen, Thiere, Pflanzen oder Mineralien hervorgehen, nicht
unbeachtet bleiben. Die verschiedenen Gehörseindrücke beim Fallen, Zer-
schneiden, Zersägen, Zerreissen oder Zerknittern, beim Biegen oder Brechen
verschiedener Körper, beim Rollen, Aufwerfen derselben müssen dem blinden
Kinde bekannt gemacht werden.
Auf diese Weise wird der Gehörsinn für die auf der Oberstufe vorzu-
nehmenden Uebungen im Erkennen der verschiedensten Münzen nach ihrem
Klange, in der Beurtheilung der Tonhöhe und Tonstärke, in der Annäherung oder
Entfernung der Schalleindrücke bei einem rollenden Wagen oder einem Eisen-
bahnzug, in der Beurtheilung des Raumes nach dem Schalle des gesprochenen
Wortes, ob derselbe gewölbt, hoch oder niedrig, gross oder klein sei, in der Beur-
theilung der Richtung des fliessenden Wassers u. a. geschärft Schlüsse auf das Alter
und Geschlecht, die Grösse und Stärke der sprechenden Person nach dem Klange
der gesprochenen Worte und ähnliche Uebungen, wie sie sich aus dem
menschlichen Verkehrsleben von selbst ergeben, müssen in den Dienst der
Blindenpädagogik herangezogen werden und befähigen den Blinden bei fort-
gesetzter und systematischer Uebung zu solchen Gehörsleistungen, welche so
oft unsere Bewunderung erregen, wie etwa die sichere Bestimmung eines jeden
am Ciavier angeschlagenen Tones, die Beurtheilung der Entfernung des Schalles
aus dem allmäligen Stärker- beziehungsweise Schwächerwerden desselben oder
Wahrnehmungen so zarter Gehörseindrücke, welche ein normales Gehörorgan
eines Vollsinnigen nicht mehr zu verfolgen vermag. Niemand ist daher
schwerer zu täuschen als ein gebildeter Blinder.
Das Gefühl des Blinden, sowohl sein allgemeines d. h. über den
ganzen Organismus verbreitetes Gefühlsvermögen, auch Vitalsinn genannt, wie
auch der hauptsächlich in den Fingerspitzen, Lippen und Zunge vorhandene
Tastsinn, spielen im Sinnesleben des Blinden eine führende Rolle. Durch das
allgemeine Gefühl, den sogenannten sechsten Sinn, unterscheidet der Blinde
den Druck der Luft, den Wärmegrad verschiedener Gegenstände, die Schwere
derselben und andere Umstände, durch deren richtige Erkenntnis und Aus-
nützung er einen hohen Grad von Sicherheit und Selbständigkeit erlangt.
Der vornehmlich an die Hand gebundene Tastsinn ist am meisten ge-
eignet, den Blinden mit dem äusseren Wesen der Dinge, ihrer Grösse, Form
und sonstiger Beschaffenheit vertraut zu machen. Mit Recht nennt der Blin-
denvater Klein die Finger die zehn Augen des Blinden, denn der Blinde ist
gezwungen, die meisten Vorstellungen durch diesen Sinn oder mindestens
durch die Verbindung desselben mit einem oder mehreren anderen Sinnen zu
gewinnen. Daher wird auch mit Recht der Uebung dieses Sinnes in den
Blindenschulen eine besondere Pflege und Uebung zugewendet. Wenn auch
die Erwerbung richtiger Vorstellungen auf dem synthetischen Wege des Tastens
eine langsame und mühselige ist, so lohnt sie doch durch ihre Dauerhaftigkeit
und Gründlichkeit. Was der Blinde einmal mit seinen Tastorganen ange-
schaut, das ist sein geistiges Eigenthum geworden. Wie oft sehen Voll-
BLINDEN-ANSTALTEN. 153
sinnige alltägliche Dinge, ohne sie je angeschaut, d. h. in ihren Theilen er-
kannt zu haben; davor ist der tastende Blinde bewahrt.
Auch der Geruchs- und der Geschmackssinn verdienen bei der
Blindenerziehung vollste Beachtung. Oft sind es diese Sinne, welche den Blinden
in die Lage setzen, einen Gegenstand auch dann noch zu erkennen, wenn man
dies nicht begreifen kann. Hier möge ein drastischer Fall aus meiner
Praxis ein Plätzchen finden. Als ich eines Abends still in das Aufenthalts-
zimmer unserer weiblichen Zöglinge trat und von einem den sich fröhlich
tummelnden blinden Mädchen nicht leicht zugänglichen Platze das übermüthige
Treiben derselben ruhig beobachtete, bemerkte dies ein etwa 3 m entfernt
stehendes total blindes 17-jähriges Mädchen und ermahnte ihre Schicksals-
genossinnen zur Kühe, indem sie rief: „Kinder, seid ruhig! der Herr Director
ist da." Die Ermahnung wurde ungläubig in Abrede gestellt, worauf dasselbe
Mädchen ihre warnenden Worte eindringlich wiederholte hinzufügend: „Ich
weiss es ganz gewiss!" Ich sprach dann die fröhliche Schar an und befragte,
verblüfft über die soeben gemachte Beobachtung, das betreffende Mädchen, woran
sie mich erkannt hätte, da ich doch ganz still und unbemerkt in's Zimmer
gekommen w^ar. „Nach dem Gerüche" lautete die Antwort, u. zw. angeblich an
dem Geruch der Seife, welche ich zu benützen pflege. Da dies eine geruch-
lose Reismehlseife ist, ich auch an diesem Tage nicht geraucht, weder Bart
noch Haare pomadisirt hatte, die Beobachtung zur Winterszeit geschah, wo
auch der Schweissgeruch kaum in Betracht kommt, ist die Geruchsschärfe
dieses blinden Mädchens gewiss eine ausserordentliche zu nennen.
Da das Leben reichlich Gelegenheit bietet, Geruchs- und Geschmacks-
w^ahrnehmungen zu machen, so wird ihrer Pflege in der Blinden-Pädagogik volle
Aufmerksamkeit zu theil, obgleich denselben als Erkenntnissinn durch die
Empfänglichkeit der beiden Organe eine Grenze gezogen erscheint, indem
unvermittelt auf einander folgende starke Geruchs- oder Geschmackseindrücke
durch die Reizwirkung die betreffenden Organe für die folgenden Eindrücke
weniger empfänglich machen.
Als wichtigstes Lehrmittel für die in Blindenschulen betriebenen Sinnes-
und damit verbundenen Verstandesübungen wird das sogenannte „Allerlei"
benützt, eine Sammlung- der verschiedensten Natur- und Kunstgegenstände,
welche durch einen oder auch mehrere dem Blinden übriggebliebene Sinne
erkannt werden können. Durch das „Allerlei" wird das blinde Kind sozu-
sagen erst in die Welt eingeführt, sein Gesichtskreis erweitert, seine Theil-
nahme für die es umgebenden Dinge geweckt, seine Sinne geschärft, seine
Urtheilskraft geweckt und seine geistige Selbstthätigkeit angebahnt. „Es ist,"
wie treffend der grosse Blinden-Pädagog Dr. Georgi sagt, „das Gehenlernen
des Geistes." (Ausführliches hierüber in Entlicher's: „Das blinde Kind im
Kreise seiner Familie und in der Schule des Wohnortes". Wien. Pichler's
Witwe & Sohn).
Blindendruck Schrift. Da der Blinde nur tastbare Buchstaben und
Zeichen zu lesen vermag, war man seit der am Ende des achtzehnten Jahr-
hundertes von Paris durch den Menschenfreund Valentin Haüy angeregten
Blindenbildungsfrage bemüht, den Blinden das Lesen und Schreiben zugänglich
zu machen.
Neben den römischen Relief-Uncialen, welche beim Elementarunterrichte der
Blinden Verwendung finden und in ausgezeichneter Ausführung von der Wiener
k. k. Staatsdruckerei hergestellt werden, ist es in neuester Zeit die von dem ge-
nialen französischen Blindenlehrer Louis Braille erfundene und systematisch
durchgeführte, nach dem Erfinder benannte Punktschrift, welche sich einen
Ehrenplatz in den Blindenbildungsanstalten errungen hat. Die BRAiLLE'sche
Punktschrift, deren Buchstaben aus einem bis höchstens 6 Punkten u. zw. nach
dem Princip, dass die am häufigsten vorkommenden Laute, durch die wenig-
154 BLINDEN-ANSTALTEN.
sten Punkte bezeichnet werden sollen, bestehen, wurde auch als Notenschrift
ausgestaltet und durch die Blindenlehrer Krohn und Mohr auch als Kurz-
schrift in die Blindenwelt eingeführt.
Die so angebahnte Blindenliteratur hat in neuester Zeit einen
ungeahnten Aufschwung genommen, und der im Jahre 1895 erschiene Katalog
des Museums für Blindenunterricht in Steglitz bei Berlin weist 173 Nummern
verschiedenster Hochdruckschriften auf, darunter 24 verschiedene Reliefschrift-
systeme und Druckproben. Auch die in demselben Katalog angeführten
Schriften über Blindenbildung erreichten die stattliche Zahl von 237, die
meisten hievon in deutscher, französischer, englischer und italienischer Sprache.
Die Blindenschrift, d. i. die von Blinden geschriebene Schulschrift
ist nach den Beschlüssen des Dresdner Blindenlehrer-Congresses 1876 theils
eine für die Correspondenz mit Sehenden bestimmte sogenannte HEBOLo'sche
Flachschrift, nach weiland dem Director Hebold der Blindenanstalt in Barby
benannt, theils eine für den eigenen Gebrauch bestimmte BRAiLLE'sche Punkt-
schrift, denen sich ergänzend die nach dem genialen Wiener Blindenvater
Johann Wilhelm Klein benannte Stachelschrift anschliesst. Vielfach werden
auch von bemittelten intelligenten Blinden Schreibmaschinen verschiedener
Systeme verwendet, deren manche sowohl für die gewöhnliche von jedem
des Lesens Kundigen zu lesende Correspondenzschrift, wie auch für die vom
Blinden leicht tastbare Punktschrift eingerichtet sind, aber einer Vervoll-
kommnung fähig sind. Sehr zweckmässig sind auch die für den Gebrauch
der Blinden eingerichteten Taschenschreibapparate oder Notizapparate, wie sie
von den Blindenanstalten in Purkersdorf bei Wien, Steglitz bei Berlin, lllzach
im Elsass, Dresden etc. bezogen werden können.
Auch für das schriftliche Rechnen der Blinden bestehen manche recht
gut verwendbare Hilfsmittel, so die russische Rechenmaschine, die nach dem
berühmten blinden Mathematiker Nicolaus Sounderson, Professor an der
Universität in Cambridge, benannte und von dem Blinden, Christian Riesen,
bequemer eingerichtete Sounderson' sehe Rechentafel, die LACHMANN'sche
Blindentafel und der von Director Entlicher eingerichtete Rechenapparat,
welcher auch für algebraische Aufgaben benützt werden kann.
Die für den Gebrauch der Blinden eingerichteten Globen, Pläne und Land-
karten sind alle in Relief ausgeführt und setzen den Blinden in die Lage, den
geographischen Unterricht mit Erfolg zu betreiben. Die vom Verein zur För-
derung der Blindenbildung in Steglitz bei Berlin herausgegebenen Reliefkarten,
welche zu einem sehr billigen Preise käuflich sind (10 Pfennige), haben zur
Verallgemeinerung des geographischen Unterrichtes wesentlich beigetragen.
Auch für alle übrigen Unterrichtsdisciplinen bestehen sinnreich erdachte
und zweckmässig eingerichtete Lehrbehelfe, welche auch auf den allgemeinen
Volksunterricht nicht ohne Einfluss geblieben sind, so dass die „allgemeine
Pädagogik" auf vielen Gebieten von ihrer Tochter, der „Blinden-Pädagogik"
überflügelt worden ist.
Der Musik-Unterricht für Blinde, welcher durch den Gesang an-
gebahnt wird und sich auf alle gebräuchlichen Musik-Instrumente erstreckt,
hat neben der praktischen Anleitung und Uebung eine gründliche theoretische
Unterweisung und Einführung in die Gesetze des Tonbaues der Tondichtungen
zu vermitteln. Das für den Dienst des Musikunterrichtes ausgestaltete
BRAiLLE'sche Punktnotensystem, wird als ein werthvolles Hilfsmittel geschätzt,
welches eine in diesem System ausgeführte ansehnliche Musik-Literatur für
Blinde ermöglicht hat.
Neben ihrer ästhetischen Bedeutung als bewährteste Veredlungsquelle
des menschlichen Gemüthes wird in den Blindenschulen die Musik auch als Mittel
des künftigen Lebenserwerbes betrachtet und daher wird auch in den Blinden-
anstalten die Ausbildung tüchtiger Organisten, Musiklehrer und praktischer
BLINDEN-ANSTALTEN. 155
Berufsmusiker angestrebt. Hiezu besonders geeignete Blinde lernen auch das
Ciavierstimmen und die Behebung kleinerer Mängel der Ciaviermechanik.
Die Erfahrung hat die vorzügliche Eignung der Blinden für diesen Ervverbs-
zweig vielfach dargethan und die Verwendung blinder Ciavierstimmer bricht
sich allgemeine Bahn.
Der technische Unterricht der Blinden ist der mühsamste
Theil der Blindcnbildung, da in keiner Beziehung der Verlust des edlen
Augenlichtes schwerer und schmerzlicher ist, als in Bezug auf die beschränkte
Actionsfreiheit und die hiedurch bedingte Hilfsbedürftigkeit. Während der
Vollsinnige durch Absehen oft mit einem Blick die Verbindung und den Zweck
der einzelnen Handgrilfe, durch welche ein mechanisches Object zu Stande
kommt, beobachten kann, bleibt dem Blinden jedes, auch das allereinlachste
Geschäft fremd und für ihn unausführbar, wenn ihm die einzelnen Handgriffe
nicht theoretisch erläutert, ihre Aufeinanderfolge nicht genau bestimmt wird
und er durch zweckmässige Hilfsmittel und lange Uebung endlich dahin ge-
bracht wird, den abgängigen Gesichtssinn durch ein gesteigertes und verfei-
nertes Tastgefühl zu ersetzen.
Ohne eine ausreichende technische Bildung erscheint die Schulbildung
der Blinden für sich allein nichtig und hinfällig, ja mitunter sogar in Frage
gestellt; denn Avas soll der Lehrer mit der schwachen, sozusagen muskellosen
Hand eines blinden Schülers beginnen, die zu den allereinfachsten Verrichtun-
gen zu schwach ist. Vor allem thut eine ausgiebige Kräftigung und Uebung
der schwachen Muskeln noth. Einfache, jedoch gut zubereitete kräftige Nah-
rung, strenge Ordnung, Pteinlichkeit, viel Bewegung im Freien, gesunde Luft
kommen dem Erzieher zu Hilfe. Das An- und Auskleiden, das Binden, das
Auf- und Zuknöpfen, das Knüpfen von Knoten, die sichere Führung von Löffel,
Messer und Gabel, das Selbstwaschen und Kämmen, das Flechten von Zöpfen
u. dgl. machen dem blinden Kinde mehr Mühe, als man ahnt. Mit Geduld
und Ausdauer wird es aber über alle Schwierigkeiten glücklich hinüberkommen
und einen solchen Grad von manueller Geschicklichkeit erlangen, dass es auch
verschiedene kleinere Gegenstände in Wachs, Thon oder Kitt nachbilden,
ebenso Versuche im Schneiden, Bohren, Sägen, Hämmern u. dgl. unter An-
leitung des Erziehers m-it Erfolg anstellen kann. Auf diese Weise gewinnt
die Hand des blinden Kindes nach und nach jene Kraft und Gewandtheit,
welche zum Erlernen eines den späteren Lebenservverb sichernden Handwerks
unerlässlich sind.
Obgleich es kaum ein Gebiet der menschlichen Thätigkeit gibt, auf
welchem sich einzelne Blinde nicht mit Erfolg versucht hätten, so gibt es doch
im Allgemeinen nur einige wenige Erwerbszweige, welche dem Blinden voll-
kommen zugänglich sind und auf deren Gebiete er der grossen Concurrenz
mit Erfolg entgegen treten kann. Hieher gehören die Erzeugung von Bürsten
aller Art, das Korb- und Sesselflechten, das Flechten von Stroh- und Hanfmatten,
die Erzeugung von Strohhülsen, die Seilerei, die Erzeugung von Matratzen,
Teppichen, Netzen, die Schuhmacherei und die Böttcherei. Es ist interessant,
blinde Kinder lesen und schreiben zu sehen, ebenso interessant, Musikvor-
träge eines Blinden-Orchesters anzuhören, ungleich interessanter und erheben-
der ist aber der Anblick blinder Knaben und Mädchen, welche mit naivster
Freudigkeit der manuellen Arbeit obliegen. „Arbeit ist die Würze des Lebens,"
sagt ein Sprichwort; für den Blinden ist aber Arbeit ein Balsam, welcher am
besten die schwere Wunde zu heilen vermag, die ihm ein trauriges Geschick
geschlagen hat. Ein ehemaliger Zögling der n. ö. Landes-Blindenanstalt, wel-
cher in seinem 15. Lebensjahre in Folge von Gehirnerschütterung erblindete
und w^ährend der Erholungsstunden in der Werkstätte weilte und sich mit
Handarbeit beschäftigte, gab um den Grund befragt zur Antwort: „Bei der
Arbeit vergesse ich auf meinen Zustand und fühle mich am glücklichsten."
156 BLINDEN-ANSTALTEN.
In diesen wenigen Worten liegt sozusagen das ganze Princip der Blinden
bildungsanstalten, und nur diejenigen Anstalten werden zum wahren Wohle
ihrer Zöglinge führen, wo Schulunterricht, Musik und Handarbeit ineinander
greifen und wo auch selbst die nöthigen Erholungsstunden durch entsprechende
Bewegung im Freien und nützliche Spiele ausgefüllt werden, so dass der
Dämon Langweile aus der Anstalt ganz verbannt ist. Möchte doch der all-
gemein erziehliche und speciell der heilpädagogische Werth der Arbeit all-
gemein erkannt und gewürdigt werden und in der Hausordnung der ver-
schiedensten Bildungs- und Heilanstalten zur verdienten Geltung kommen!
Das B 1 in den-T Urnen, theils Freiturnen, theils Gerätheturnen, umfasst
nahezu alle Uebungen, die in den Schulen der Sehenden gebräuchlich sind.
Besonderer Pflege erfreut sich das Fingerturnen behufs Kräftigung der Finger-
muskeln, Uebungen mit Hanteln behufs Kräftigung der Hand- und Arm-
muskeln, Stabübungen, bei Mädchen Reigenübungen und Tänze und specielle
Uebungen der Heilgymnastik; jede Turnstunde wird mit Tiefathmungen ein-
geleitet und beschlossen. Diese Luugengymnastik, unterstützt durch verschie-
dene Bewegungsspiele, Douchen, Wannen- und Fussbäder, ermüdende Spazier-
gänge u. dgl. lohnt in sanitärer und technischer Beziehung reichlich die
Mühe und Zeit, welche mit derselben verbunden ist.
Ausser den Bildungsanstalten für jugendliche Blinde gibt es noch solche
für Spätererblindete; hieher gehören die Arbeitswerkstätten und Be-
schäftigungsanstalten für erwachsene Blinde. In diesen, wie auch
in den sogenannten Blindenheimen finden Spätererblindste Gelegenheit,
sich nebst der Kenntnis des Reliefdrucks und der Blindenschrift noch ein
Handwerk anzueignen, um so in nützlicher und beglückender Thätigkeit die
Last der finsteren Lebenstage leichter zu vergessen. Erwerbsunfähige Blinde
finden in Blindenversorgungsanstalten oder Asylen Aufnahme.
Mit den Blindenbildungsanstalten steht die Fürsorge für die in den-
selben ausgebildeten Zöglinge nach ihrer Entlassung aus der Anstalt in innigem
Zusammenhange. Es braucht kaum bewiesen zu werden, dass eine Blinden-
Bildungsanstalt ihre Aufgabe nicht erfüllt, wenn sie sich begnügt, ihren
Zöglingen ein gewisses Quantum von Kenntnissen und Fertigkeiten beizu-
bringen, sie gut zu verpflegen und nach vollendeter Bildungszeit ohne wei-
tere Fürsorge ihrem eigenen Schicksal anheimzustellen. Die Fürsorge für
die Entlassenen erweist sich als ein unabweisbares Bedürfnis. Da die Er-
fahrungen der Blindenanstalten deutlich lehren, dass eine auf lebenslängliche
Versorgung hinzielende Unterstützung weder von den Bünden gewünscht wird,
noch ihnen zu wahrem und dauerndem Glücke gereicht, so halten die meisten
Blindenanstalten an dem Principe fest, dass der ausgebildete Blinde dem öffent-
lichen Leben zurückzugeben sei, und dass es daher Aufgabe der Erziehungs-
anstalt sein muss, den Blinden möglichst selbständig und erwerbsfähig zu
machen, dass er aber auch nach seiner Entlassung moralisch und, wenn
nöthig, auch materiell von der Anstalt unterstützt werden muss, damit er
im Kampfe des Lebens nicht Schifibruch leide. Zu diesem Zwecke bestehen
bei den meisten Blindenbildungsanstalten Unterstützungsfonds, aus denen die
austretenden Zöglinge Werkzeuge und Material und anderweitige Ausstattung
erhalten, um das in der Anstalt erlernte Gewerbe in der Heimat fortzusetzen
und aus welchen sie im Falle besonderer Bedürftigkeit und Würdigkeit ma-
terielle Unterstützungen erhalten. Die meisten Blindenanstalten vermitteln
auch den Verschleiss der von den entlassenen Zöglingen angefertigten Waare,
wenn der Blinde nicht selbst genügenden Absatz für dieselben findet. Da
manche aus den Anstalten entlassene Zöglinge, welche keine Angehörigen
besitzen, mit zu grossen Existenzschwierigkeiten zu kämpfen haben, denen
sich besonders bei Mädchen, noch moralische Gefahren zugesellen, ist man
bemüht, durch die Gründung von Blindenheimen für aus den Bildungs-
BLINDEN-ANSTALTEN. 157
anstalten entlassene Zöglinge Abhilfe zu schaffen. Solche Blindenheime
stehen in Verbindung mit den Blindenbildungsanstalten in Steglitz, Düren,
Kiel, München, Kopenhagen, Lausanne, Glasgow, Boston, New- York, Linz,
Brunn, Graz u. a. Für die aus der n.-ö. Landes-Blindenanstalt in Purkersdorf
entlassenen Zöglinge wurde die Errichtung eines Blindenheimes in Melk ange-
regt, für welchen Zweck auch schon ein namhafter Fond gesammelt wurde.
Die mit der allgemeinen Statistik stetig fortschreitende Blinden -Statistik
zeigt in den Verhältnissen zwischen der Zahl der Blinden und jener der
Sehenden eine grosse Mannigfaltigkeit, welche sich zwischen den Verhältnissen
1:307 (Finnland) und 1:2499 (Vereinigte Staaten Nordamerikas) bewegt und
auf den ersten Blick Staunen erregt, aber in den örtlichen, klimatischen und
Lebenszuständen der Bewohner ihre Erklärung findet.
Nach Zeune nimmt die Blindheit von den Wendekreisen nach den
Polen hin ab: 1:100 in Egypten, 1 : 800 im mittleren Europa, 1:1000 in Nor-
wegen. Die dunklen Menschenstämme, also die Neger und die kupferbraunen
Südamerikaner sollen nach Alex. v. Humboldt weniger der Blindheit unter-
worfen sein als die hellen.
In Oesterreich diesseits der Leitha ist das Verhältnis 1:1785 (Nied-Oest.
1:1879, Dalmatien 1:1027), in Ungarn 1:855, in Preussen 1:1111, in Sach-
sen 1:1635, in Baiern 1:1923, in Dänemark 1:1644, in Frankreich 1:1191,
in England 1:1037, in Schweden 1:1418. Die Gesammtzahl der blinden
Erdbewohner wird auf lYsMillionen geschätzt.
Von 190 in die n.-ö. Landesblindenschule in Purkersdorf aufgenommenen Zöglingen
waren :*)
blind geboren: 39 = 20.52''/o **)
erblindet infolge von:***)
Blennorrhoea neonat.. . . 41 = 21-55''/o
Trachom 2 = 1-05%
Masern 9 = 4-78%
Scharlach: 11 = 5-78«/o
Pocken: 27 -= l4-21«/o
Vierzigern: 8 = 4-2l''/o
Sehnerv-Atrophie . . . 14 = 7-367o
Progr. Myopie: .... 2 = l'Ob^jo
Verletzungen: . . . . 10 = 5-62''/o
Fraisen: 10 = 5-26''/o
Wasserkopf: 6 = 3-15%
Gehirnhautentzündung:. . 4 = 2-10%
Meningitis: 1 = 0-52%
Gelbsucht: 1 = 0-527o
Scrophulose: . . . . 1 = 0-52°/o
Scorbut: ..... 1 = 0-52o/o
Hornhaiitentzüüdung : . . 1 = 0'52°/q
Unbek. Ursachen: . . . 2 = l-057o
Die älteste Blindenanstalt vrorde im Jahre 1260 von Ludwig dem Heiligen in Paris
gestiftet und Hopital des Quinze-Vingts benannt. In dieser bis auf den heutigen Tag
segensreich wirkenden Anstalt fanden 300 auf dem ersten Kreuzzuge Ludwigs in Egypten
erblindete Krieger Aufnahme. Das Hopital hat noch fort einen Stand von 300 erwachsenen
Blinden aller Classen und gewährt auch an ausserhalb der Anstalt wohnende Blinde lebens-
längliche Leibrenten. Die zweite, auch im 13. Jahrhundert gegründete Blindenanstalt in
Chartres gelangte zu keiner günstigen Entwicklung. Beide Institute hatten nur die Ver-
pflegung ihrer Insassen zum Zwecke.
Während die antike Welt, die den vom Blitze getroffenen Baum, den vom
Wahnsinn umfangenen Menschen als heilig hielt, auch den Blinden, dem sie Propheten-
gabe zuschrieb, verehrte, das Mittelalter denselben ernährte, blieb der Neuzeit
vorbehalten, den Blinden zu belehren. Eine durch allgemeine Bildung und musi-
kalische Kenntnisse, besonders als Organistin viel bewunderte blinde Wienerin, Fräulein
Therese von Paradies, erregte auf ihrer Kunstreise überall grosses Aufsehen. In
Paris lernte sie der edle Menschenfreund Valentin Haüy, ein Bruder des berühmten
Mineralogen kennen, und erstaunt über ihre tiefe Bildung und die sinnigen Hilfsmittel,
deren sie sich bediente, ward er 1784 Gründer des ersten Blinden-Erziehungs-Institutes in
Paris. Durch den Anblick harlekinartig gekleideter, vor einem Cafe possenreissendeu Blin-
den ward V. Haüy derart erschüttert, dass er den festen Vorsatz fasste, die armen Blinden
durch geeigneten Unterricht zum Bewusstsein ihrer Menschenwürde zu bringen und ihnen
ein besseres Los zu bereiten. Der erste Versuch mit einem blinden Knaben gelang, die
von Frl. v. Paradies empfohlenen Hilfsmittel bewährten sich, die damals in Paris ins Leben
getretene philantropische Gesellschaft sorgte für die nöthigen materiellen Mittel, so dass
*) (Vergleiche ,, Erblindung" Statistik von Osborne.)
**) davon 3 aus Ehen unter nahen Blutsverwandten hervorgegangen, mithin 7-69''/o ;
***) hievon nur 4, angeblich mit Erfolg geimpft, mithin 85-197o nicht geimpft.
158 BLINDEN- ANSTALTEN.
Haüy bald 11 andere blinde Kinder aufnebmen konnte und die erste Anstalt entstand, in
welcher die Zöglinge nicht nur in angemessenen Handarbeiten, sondern auch in der Mnsik,
im Lesen, Schreiben, Rechnen und anderen Wissenschaften unterrichtet wurden. Zum Lesen
gebrauchte Valentin Haüy erhabene Metallbuchstaben, welche auch zum Drucken auf
Papier benutzt werden konnten; zum Schreiben einen Eahmen mit Drähten zur Trennung
der Zeilen, welcher auf das zu beschreibende Papier gelegt wurde. Die ftir den geographi-
schen Unterricht bestimmten Landkarten waren nach den Angaben des Frl. v. Paradies
verschieden gestickt, so dass Gebirge, Flüsse, Städte und Landesgrenzen leicht von ein-
ander unterschieden werden konnten. Im Jahre 1791 wurde die Anstalt zu einer könig-
lichen erhoben und mit der Taubstummenanstalt in das Cölestinerkloster verlegt. "Vier
Jahre später wurden diese Anstalten wieder getrennt. Bonaparte vereinigte Haüys Anstalt
mit dem Hopital des Quinze-Vingts; der schädliche Einfluss der erwachsenen Blinden auf
die Moral der jungen Zöglinge veranlasste Haüy, sich von der Leitung der Anstalt zurück-
zuziehen und eine Privatanstalt zu gründen. Einer Einladung des Kaisers Alexander I.
Folge leistend, begab sich Haüy im Jahre 1806 über Berlin, wo über seine Anregung und
königliche Unterstützung eine Blindenanstalt ins Leben gerufen und dem um die Verbesse-
rung der Blindenunterrichtsmittel hoch verdienten Zeüne zur Leitung übergeben wurde,
nach. St. Petersburg, wo im Jahre 1807 ein öffentliches Blinden-Institut errichtet wurde.
Im Jahre 1802 machte es sich der als Philantrop hochverehrte Wiener Magistrats-
Secretär Franz von Paula Gaheis zur Aufgabe, ein Institut für blinde Kinder zu gründen
und gab einen Entwurf zu einem solchen Institute heraus. Während er einzelne Blinde
durch milde Beiträge unterstützte, die er von allen Seiten der Monarchie zu sammeln
bemüht war, verfolgte er immer die Ausführung dieses Planes. Er setzte sich mit dem
Grafen von Wallis, der ein solches Institut in Paris gesehen hatte, und dem berühmten
Oculisten Dr. Schmidt ins Einvernehmen und überreichte seine Vorschläge an die höheren
Behörden; fand aber überall so viele Hindernisse, dass er sich mit dem Bewusstsein zu-
frieden stellen musste, den ersten Samen dieser Wohlthat in seinem Vaterlande ausgestreut
zu haben. Dadurch, dass er seinen Wunsch dem damaligen Armendirector Jon. Wilh. Klein
bekannt machte, diesem den in Brück a. d. Leitha aufgefundenen blinden Knaben Jacob
Braun zur Ausbildung überliess, die eingegangenen Beiträge an Klein abführte, sah Magi-
strats-Secretär Gaheis seine Bemühungen gekrönt und seine Hoffnung, dass dieser Keim
zum astreichen Baume emporwachsen werde, ist nicht enttäuscht worden.
JoH. Wilh. Klein, am 11. April 1765 in Allerheim in Baiern geboren, seit 1799 städt.
Armen-Bezirksdirector in Wien, eine durch und durch edle Natur, war nicht nur ein über-
aus gefühlvoller Mensch, dessen Augen sich beim Anblicke eines blinden Kindes mit Thränen
füllten, sondern auch ein origineller und wissenschaftlich tief gebildeter Pädagog, welcher
seinen blinden Schüler Jacob Braun nach einer selbst ausgedachten Lehrweise in den
gewöhnlichen Schulgegenständen und einigen leichten Handarbeiten mit bestem Erfolg
unterrichtete; bald auch mit mehreren anderen blinden Kindern im Auftrage des Kaisers
Franz I, vor einer Prüfungs-Commission eine öffentliche Prüfung hielt, deren Resultat die
im Jahre 1808 erfolgte Gründung einer Privatanstalt für blinde Kinder inWien war, welche durch
die Gnade des gütigen Kaisers Franz I. im Jahre 1816 zur Staatsanstalt erhoben wurde und
in der Person ihres Gründers auch ihren ersten Director erhielt. Klein hat sich durch Ver-
besserung der Blinden-Unterrichtsmethode, sowie durch seine typhlopädagogischen Schriften,
unter denen sein unübertroffenes Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden hervorragt, blei-
benden Ruhm erworben. Sein grösstes Verdienst war aber, dass er sein Augenmerk auf
die Fürsorge der Blinden von der Wiege bis zum Grabe richtete und so der Bahnbrecher
der jetzt allgemeinen Fürsorge für die Blinden geworden ist. Diesem edlen Streben ver-
dankt auch die Wiener Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt für er-
wachsene Blinde ihre Entstehung im Jahre 1834 Die Commune Wien, welche dem
Österreich. Blindenvater ein Ehrengrab auf dem Centralfriedhofe widmete, in weichem der
im Jahre 1848 Verewigte am 12. Juni 1896 im Beisein von Vertretern aller niederösterr.
Blindenanstalten feierlich beigesetzt wurde, hat eine alte Ehrenschuld an den grossen österr.
Philantropen abgetragen.
In Prag trat im Jahre 1807 durch den Gubernialrath Ritter von Platzer
eine Privat-Blinden-Erziehungsanstalt in's Leben, mit welcher auch eine Augen-
heilanstalt in Verbindung steht. Die im Jahre 1834 in Prag gegründete
Versorgungs- und Beschäftigungsanstalt für erwachsene Blinde ist eine Schöpfung
des um das Blindenwesen hoch verdienten Prof. Dr. Alois Klar und wurde
durch den Enkel desselben, k. k. Bezirkshauptmann Ritter PtUDOLF M. Klar,
welcher die Anstalt gegenwärtig leitet, zu einer Musteranstalt erhoben. Die
von der böhmischen Sparcasse in Prag gegründete Blindenanstalt Francisco-
Josephinum ist ein Asyl für erwerbsunfähige Blinde.
In Wien Hohe-Warte besteht noch seit dem Jahre 1872 eine aus der
Initiative des menschenfreundlichen Dichters Dr. Ludwig August Frankl,
Ritters von Hochwart hervorgegangene Blindenanstalt für Israeliten, welche
BLINDEN-ANSTALTEN. 159
von Director S. Heller geleitet wird. In Hcrnals, Hauptstrasse 63, besteht
seit 1885 ein von dem Vereine von Kinder- und Jugendfreunden ertialtenes
Asyl l'ür blinde Kinder vorschulptlichtigen Alters, dann in Neu-
lerchenfeld Iloferplatz seit 1884 eine mit der öffentlichen Communal- Volksschule
in Verbindung stehende Blindenabtheilung und in Purkersdorf bei Wien
die nied.-üsterr. Landes-Blindensclmle. Die letztgenannte Anstalt, bisher die
einzige Landes-Anstalt für blinde Kinder, wurde im Jahre 1873 vom nied.-
österr. Landtage über Anregung des damaligen Landes-Ausschuss-Referenten
Prof. Dr. Edüakd Süess in Öber-Döbling begründet und für 30 Zöglinge
eingericlitet. Schon im Jahre 1879 wurde dieselbe nach Purkersdorf verlegt
und auf 50 Zöglinge erweitert, im Jahre 1893 unter dem Landes-Ausschuss-
Referenten Prof. Dr. LusTKANDL durch einen entsprechenden Zubau für 120
Zöglinge eingerichtet. Mit der Einrichtung und Leitung der Anstalt' wurde der
gewesene Hauptlehrer des Wiener k. k. Blinden-Erziehungs-Instituts Friedrich
Entlicher betraut.
Die Errichtung eines Blindenheimes in Melk und eines Asyls für Später-
erblindete, welche jedoch noch bildungsfähig sind, ist im Zuge.
Das mährisch-schles. Blinden-Institut in Brunn, aus wohlthätigen,
Stiftungen im Jahre 1846 hervorgegangen und unter den Curatoren Graf
MiTTROwsKY und Alois Edler v. Janeczek zu einer Musteranstalt für 120
Zöglinge eingerichtet, steht unter der Leitung des Directors Franz Pawlik.
Das im Jahre 1824 durch den Pfarrer 0. Joseph Engelmann mit Hilfe
der Privatwohlthätigkeit in's Leben gerufene und von Director Helletsgruber
erweiterte Blinden-Institut in Linz, so auch die von einem Vereine im Jahre
1881 errichtete und erhaltene, von Director Zeyringer geleitete Odilien-Blinden-
Anstalt in Graz stehen mit Beschäftigungsanstalten für erwachsene Blinde in
Verbindung.
Das galizische Blinden-Institut in Lemberg ist aus einer Stiftung des
Gutsbesitzers Skrzynski und einer Widmung des Grafen Miezcynski hervor-
gegangen und wurde im Jahre 1851 eröffnet.
Das königliche Blinden-Institut in Budapest verdankt seine Entstehung
im Jahre 1827 dem ungar. Reichspalatinus Erzh. Joseph. Im Jahre 1873
wurde dasselbe gesetzlich zur Landesanstalt erhoben und steht unter der
Leitung des ungar. Unterrichtsministeriums. Die Errichtung von Blinden-
Erziehungsan stalten in Klagenfurt, Laibach, Innsbruck und Agram ist im Zuge.
In Deutschland bestehen 32 Blindenanstalten, und zwar: Barby an der
Elbe, Provinzial-Blindenanstalt, gegründet 1858; Berlin, städtische Blinden-
schule, verbunden mit einer Fortbildungsschule für Blinde, gegründet 1878,
das einzige Externat für Blinde in Deutschland; Berlin, Wilhelmstrasse 4,
Vereinsanstalt für erwachsene Blinde; B r aun sc h w e ig, Staatsanstalt, gegründet
1884; Breslau, schlesische Blinden- Unterrichtsanstalt, Privatanstalt, gegründet
1818; Brom b er g, Privat-Blindenanstalt, gegründet 1853 in W^ollstein, im Jahre
1872 nach Bromberg verlegt; Dresden, königliche Landes-Blinden-Anstalt,
gegründet im Jahre 1809 durch Flemming, mit dieser Hauptanstalt stehen
unter der Oberleitung des Directors Hofrathes Büttner im Zusammenhange:
die Vorschule und die Hilfsanstalt für im späteren Alter blind gew^ordene
Männer in Moritzburg und das Asyl für erwerbsunfähig gewordene Blinde in
Königswartha ; Düren, rheinische Privatblindenanstalt, gegründet 1845 mit
einer Blindenwerkstätte in Köln; Frankfurt a/M., Privat- Blinden- Anstalt,
gegründet 1837 von der polytechnischen Gesellschaft; Freiburg (Baden),
Asyl für Blinde, gegründet 1846; Friedberg in Hessen, grossherzog. Blinden-
anstalt, gegründet 1850; Gmünd in Würtemberg, gegründet 1832; Hamburg,
gegründet 1830; Hannover, Prov -Blinden-Anstalt, gegründet 1843; Hei-
ligenbronn, Privatanstalt für Taubstumme und Blinde, gegründet 1860,
daselbst auch eine Versorgungsanstalt für ältere Blinde; Illzach bei Mühl-
160 BLINDEN-ANSTALTEN.
hausen, gegründet 1857; Ilvesheim, Grossherzogthum Baden, gegründet
1828; Kiel, Prov.-Blinden-Anstalt, gegründet 1862, in Verbindung mit der-
selben stehen ein Blindenheim für Mädchen in Kiel, ein Blindenheim für
Männer in Apenrode und ein Blindenheim für Familien in Eiderstede;
Königsberg, eine Privat-Provinzial- Blinden- Anstalt, gegründet 1846;
Königsthal, Pro vinzial-Blinden- Anstalt für Westpreussen, gegründet 1879;
Leipzig, BiENER'sche Blindenanstalt, gegründet 1865; München, königliches
Central-Blinden- Institut, gegründet 1826; Neukloster in Meklenburg,
grossherzogliche Blinden- Anstalt, gegründet 1864; Neu-Torney bei Stettin,
Provinzial-Blinden-Anstalt, gegründet 1850; Nürnberg, Privat-Blinden-
Anstalt, gestiftet 1854; P aderborn, von ViNCKE'sche Provinzial-Blinden-Anstalt,
gegründet 1847; Soest, v. ViNCKE'sche Privat-Blinden-Anstalt, gegründet
1847; Steglitz bei Berlin, königliche Blinden- Anstalt, 1806 von Professor Dr.
Zeune gestiftet, 1877 von Berlin nach Steglitz verlegt, mit einer Vorschule
und einem Blindenheim; Stuttgart. Nicolauspflege für blinde Kinder, ge-
stiftet 1856; Weimar, grossherzogliche Blindenanstalt, gegründet 1858;
Wiesbaden, Blindenschule mit Arbeitsanstalt, gegründet 1861; Würzburg,
Kreis-Blinden-Anstalt für Unterfranken und Aschaffenburg, gegründet 1853.
Die Schweiz zählt 3 Blindenanstalten : Bern, Privatstiftung, gegründet
1836; Lausanne, Privatanstalt, gegründet 1843, in Verbindung stehen eine
Werkstätte für männliche erwachsene Blinde und eine Heilanstalt für Augen-
kranke; Zürich, Privat-Blindenanstalt, in Verbindung mit der Taubstummen-
anstalt.
Dänemark besitzt seit 1811 eine ausgezeichnete königliche Blindenanstalt
in Kopenhagen, ein Asyl für blinde Kinder ebenda, errichtet 1861 von der
Gesellschaft „Kette", und eine Beschäftigungs- und Versorgungsanatalt in
Kopenhagen, Privatanstalt, errichtet 1825.
Schweden und Norwegen besitzen Blindenanstalten in Stock-
holm, eine Staatsanstalt seit 1808 und eine Beschäftigungsanstalt für blinde
Männer seit 1870, 2 in Christiania, Drontheim, Kristinehausen,
Upsala, Handarbeitsschule für weibliche Blinde, und Vexiö, königliche
Blindenanstalt, gegründet 1884.
In Russland hat die Blindenbildung in den letzten Jahren, besonders
durch die Thätigkeit des Marien-Vereins für Blinde bewunderungswürdige
Fortschritte gemacht. In St. Petersburg bestehen: ein Erziehungs-Institut
für Knaben, gegründet 1807 von Valentin Haüy, ein Erziehungs-Institut für
Mädchen, 1 Asyl für erwachsene Mädchen, die Dr. BLESSiG'sche Arbeitsanstalt,
eine Unterrichtsanstalt und eine Beschäftigunganstalt für erwachsene Blinde,
beide vom Marien-Verein gegründet. Ferner sind Blindenanstalten in Kiew,
Kamenetz, Podolsk, Reval, Kasan, Kostroma, Riga, 2 in Moskau,
Warschau, Helsingfors, Kuopio, Charkow, Woronesch, Odessa
und Ufa.
Holland zählt 7 Blindenanstalten: Amsterdam mit einer Vorschule
in Bennekom, eine Beschäftigungsanstalt für hilfsbedürftige Blinde in Amster-
dam, Heeringrault, Grawe, S'Gravenhage, Middelburg, Utrecht
und Pt Ott er dam.
Belgien hat Blindenanstalten in B r ü s s e 1, Brügge, Ghlin Mons, ge-
gründet 1876 durch den blinden Director Simonon in Namur.
England besitzt 40 Anstalten für Blinde, darunter 11 in London,
5 in Liverpool, je 3 in Glasgow und Dublin, je 2 in Aberdun,
Bath, Beifort, Bristol, Cork, Leeds, Manchester, Newcastle-
on-Tyne, Sheffield, Swansea und York.
Frankreich zählt 23 Blindenanstalten, darunter 6 in Paris, je 2 in
Bordeaux und Lille, je eine in Allengon, Arras, Clermont-
BLINDEN-ANSTALTEN. 161
Ferrand, Laon, Larnay, Lyon, Marseille, Montpellier, Nancy,
St. Mudardus, Loissous, Saintes, Toulouse und Marseille.
Italien zählt Blinden -Institute in Mailand, Schule, Asyl und Werk-
stätte, Turin, Genua, Padua, Florenz, Rom 2 und Neapel 3. Kleine
Blindenschulen befinden sich noch in: Bologna, Reggio d'Emilia, Palermo,
Como, Pavia, Assisi.
Spanien hat 12 Anstalten: 2 zu Madrid, 2 zu Barcelona, je eine
in Burgos, Cordova, Santiago, Solmanea, Sevilla, Tarragona, Alicante, Saragossa.
Portugal hat eine Blindenanstalt in Lissabon.
Griechenland: eine zu Corfu.
Türkei: eine in Constantinopel und mehrere Blindenschulen in
Syrien.
Egypten: eine Blindenanstalt in Kairo.
Nord-Amerika: besitzt 31, Central-Amerika und Südamerika
je 1 Blinden-Anstalt.
Australien zählt 5 Blinden-Institute.
Merkwürdig ist die auserordentliche wissenschaftliche und technische Ausbildang, die
manche Blinde erlangt haben, besonders durch ihre Sinnesschärfe, vorzügliches Gedächtnis
und manuelle Geschicklichkeit. Wir wollen aus der grossen Zahl hier nur einige heraus-
heben :
DiDiMUS von Alesandrien, welcher im 5. Lebensjahre erblindete, erwarb sich so grosse
Kenntnisse, dass er als Lehrer der Theologie den hl. Hieronymus und mehrere berühmte
Männer seiner Zeit zu seinen Schülern zählte.
Nicolaus Sounderson, im ersten Lebensjahre infolge von Blattern erblindet, wurde im
Jahre 1711 wirklicher öffentlicher Professor der Mathematik an der Universität zu Cam-
bridge; er war auch Mitglied der Akademie der Wissenschaften in London.
Gottlieb Conrad Pfeffel, im 15. Lebensjahre erblindet, ist bekannt als hervorragender
deutscher Dichter.
Maria Theresia v. Paradies, geboren in Wien 1759 als Tochter eines Regierungs-
rathes, im .3. Lebensjahre erblindet, war eine viel gefeierte Musikkünstlerin, deren Be-
rührung mit dem menschenfreundlichen V. Haüy zu einem bedeutungsvollen Wendepunkt
in der Geschichte der Blindenbildung wiirde.
N. Weissenbürg, als Sohn eines churfürstlichen Kammerdieners in Mannheim 1760
geboren, ist einer der merkwürdigsten Blinden, weil er, obgleich seit seinem 7. Lebensjahre
an Blattern erblindet, eine so hervorragende wissenschaftliche Bildung erreichte und so
zweckmässige Hilfsmittel erfand, dass Valentin Haüy in seiner Schrift über den Unterricht
der Blinden neben Maria Theresia v. Paradies den Namen Weissenburg mit besonderer
Verehrung nennt.
Johann Käferle, 1760 in Waiblingen im Würtemberg'schen als Sohn eines Müllers
geboren, verlor mit 14 Tagen das eine Auge und als 4-jähriger Knabe durch einen Bolzen-
schuss das zweite, zeigte ein besonderes Talent für Musik und Mechanik. Schon als Kind
war er Meister auf der Violine und Zither. Im 10. Lebensjahre erregte die Drehbank seines
Vaters das Interesse des kleinen Knaben, bald war ein Kegelspiel, später eine Mostpresse
die Frucht dieses Interesses, später ein grosser, doppelbläsiger von Wasser getriebener
Blasebalg für die Schmiede des Ortes, der in der ganzen Gegend bewundert wurde. Im
31. Jahre machte der blinde Käferle eine vollständige Dreh- und Hobelbank sammt allen
dazu gehörigen Werkzeugen, verfertigte Möbel aller Art, Mühlräder, Fallen für Ptatten,
Marder und Vögel. Zum Abdrehen der grossen Bäume für die Mühlräder erfand er eine
grosse Maschine, die von Wasser getrieben, mit einem Fusstritt sehr leicht zum Stehen
gebracht werden konnte und die das Erstaunen aller Fachmänner, die sie sahen, erregte.
Nun waren dem jungen blinden Käferle keine Unternehmungen mehr zu gross oder zu
schwierig. Er errichtete eine künstliche Wasserleitung zur Bewässerung eines entfernten
Gartens seines Vaters, indem er in dem benachbarten Neckarflusse ein Pump- und Druck-
werk eigener Erfindung anbrachte. In späteren Jahren machte er auch Uhren, wozu er,
um die Räder recht genau zu erhalten, eine sehr sinnreiche Theilungsmaschine erfand.
Nach einer missglückten Augenoperation, welche ihm den letzten Lichtschein raubte, ver-
legte sich Käferle auf die Anfertigung musikalischer Instrumente. Den Anfang machte er
mit Violinen und Zithern, später verlegte er sich ausschliesslich auf Klaviere, übersiedelte
nach Ludwigsburg, erhielt dort das Bürgerrecht, und starb auch daselbst hochbetagt als
wohlhabender Mann.
Ludwig von Baczko, im 21. Lebensjahre erblindet, war Professor an der Artillerie-
Akademie in Königsberg.
Bibl. med. WissenschafteD. Hygiene u. Ger. Med. 11
162 BLUTSPÜREN.
Jacob Knie, im 10. Jahre durcli Blattern erblindet, besuchte 3 Jahre die Universität
in Breslau, trieb Mathematik, Geschichte und Geographie, bereiste ohne Führer ganz
Mitteleuropa, gründete einen Verein zur Errichtung einer Blindenenstalt in Breslau und
wurde deren Vorsteher.
Josef Kleinhanns, ein im 5. Lebensjahre erblindeter Tiroler, verfertigte kunstvolle
Crucifixe und Heiligenbilder, welche nicht nur richtige Verhältnisse zeigen, sondern auch
in den Gesichtern Schmerz und Leidenschaft ausdrücken und dem Museum in Innsbruck
zur Zierde gereichen.
Daniel Heyder, Blindenlehrer am Blinden-Institute in Linz, war ein berühmter
Mnemotechniker, Zakries ein renomirter Kapellmeister, der in Wien lebende J. Labor,
königl. hannov. Kammer- Virtuos, ist einer der grössten Organisten der Gegenwart; bewun-
derungswürdig in ihren Leistungen ist die taubblinde und geruchlose Laura Bridgman.
Durch die periodisch jedes 3. Jahr stattfindenden Blind enl eh rer-
Congresse, deren erster im Jahre 1873 in Wien abgehalten wurde, erstand
der Blindenfürsorge eine neue Aera des Fortschrittes und die typhlopädagogischen
Errungenschaften der früher allein arbeitenden Blindenanstalten sind nun zum
Gemeingute geworden und verbreiten reichen Segen zum Wohle der leidenden
Menschheit. In dem Vereine zur Förderung der Blindenbildung
in Deutschland und Oesterreich, dessen Vorstand in Steglitz bei Berlin
seinen Sitz hat, besitzen die Congresse ein Executivorgan, welches in ausge-
zeichneter Weise die Intentionen der Congresse zur praktischen Geltung bringt.
Wenn auch durch die prophylaktischen Anregungen der Blindenlehrer-
Congresse die Verheerungen der Blennorrhoea neonatorum mit sichtlichem
Erfolg entgegen getreten wird und durch den Impfzwang die pockennarbigen
Gesichter in den Blindenanstalten immer seltener werden, auch die prophi-
laktischen Erfolge der Antiseptik und Aseptik die Erblindungsfälle vielfach
reduciren, scheint leider nach den von Fachmännern neuestens gemachten
Wahrnehmungen unsere nervöse Zeit mit ihren auch das Sehvermögen schädi-
genden Erscheinungen dafür sorgen zu wollen, dass die Blindenanstalten auch
fernerhin ein Bedürfnis der Völker bleiben werden.
Vergl. Entlicher, „Das blinde Kind," Wien 1872; Scherer, ,,Die Zukunft der Blinden;"
Berhn 1863. J. W. Klein, „Lehrbuch zum Unterrichte der Blinden." Wien 1819; Pablasek,
„Fürsorge für die Blinden von der Wiege bis zum Grabe" Wien 1867; Merle, „Das Blinden-
Idioten- und Taubstummen-Bildungswesen.'' Bericht über den Blindenlehrer-Congress,
Wien 1873, Dresden 1876, BerUn 1879, Frankfurt a/M. 1882, Amsterdam 1885, Köln 1888,
Kiel 1891, München 1895. Wulff, Katalog des Museums für Blindenunterricht in
Steglitz 1895. p. ENTLICHER.
Blutspuren (forensisch). Blutspuren kommt in der forensischen Praxis
in vielen Fällen eine hohe Bedeutung zu, so dass der Gerichtsarzt häufig
genug in die Lage kommt, Blutspuren seine besondere Aufmerksamkeit zu-
wenden zu müssen. Von Fall zu Fall sind die Detailfragen, auf welche es
ganz besonders ankommt, verschieden und darnach wird auch der Gang der
Untersuchung der Blutspuren je nach den zu beantwortenden Fragen ver-
schieden sein.
Zunächst kann schon eine sorgfältige Beachtung von Blut beim Local-
augenschein an dem Orte, wo eine Blutthat verübt wurde, wichtige Auf-
schlüsse geben. In solchen Fällen wird zunächst zu berücksichtigen sein, ob
an der Situation am Thatorte Veränderungen vorgenommen wurden und welcher
Art dieselben sind. Die Vertheilungdes Blutes in der Umgebung einer Leiche,
die Menge desselben ist zu beurtheilen; dabei sind nicht nur die nächste Umgebung
sondern auch die weitere Peripherie, zuweilen von der Leiche entferntere
Orte zu untersuchen und es wird, wenn auch in etwas grösserer Entfernung
sich Blut vorfindet, der Nachweis eines eventuellen räumlichen Zusammen-
hanges der einzelnen Blutspuren zu erbringen sein. Je nach der Intensität
der Blutung nach aussen können beispielsweise beim Transporte einer Leiche
von einem Orte zum anderen die Blutspuren am Boden mit verschiedener
Deutlichkeit ausgeprägt sein und sich bald als mehr weniger continuirlich
zusammenhängende blutige Streifen, bald als von Strecke zu Strecke auftre-
BLUTSPÜREN. 163
tendc Blutflecke oder Bluttropfen zu erkennen geben. In solchen Fällen wird
besonders bei grösseren Mengen und frischen Blutes die Erkennung von Blut
als solchem oft schon mit freiem Auge gelingen.
Auf diese Weise wird es unter Umständen möglich sein, aus den Blut-
spuren, insbesondere aus der Vertheilung derselben zu bestimmen, ob und
welche Manipulationen etwa mit einer Leiche vorgenommen worden sind.
Dabei ist allerdings nicht zu vergessen, dass ein Mensch irgendwo eine schwere,
vielleicht lebensgefährliche Verletzung bekommen, sich dann selbst von diesem
Orte noch eine mehr weniger grosse Strecke weit fortschleppen und an einem
anderen Orte zusammenstürzen oder liegen bleiben kann; denn es kann vor-
kommen, dass sich unter solchen Verhältnissen ebenfalls Blutspuren von dem
Orte, wo die Verletzung zugefügt wurde, bis zu der Stelle an welcher die
Leiche gefunden wird, verfolgen lassen.
Auch die Menge des in unmittelbarer Nachbarschaft einer Leiche, an
welcher sich äussere Wunden vorfinden, befindlichen Blutes beziehungsweise
die Grösse von Blutlachen kann in dieser Richtung Aufklärung bringen, in-
dem im Allgemeinen bei grösserer Zahl von äusseren Wunden, bei grösserer
Ausdehnung und Tiefe der letzteren auch die Blutung nach Aussen im Ver-
hältnisse grösser sein wird. Findet sich daher in der nächsten Nähe einer
Leiche mit vielen oder ausgebreiteten äusseren Verletzungen sehr wenig oder
kein Blut, so wird dadurch unter Umständen der Verdacht rege werden, dass
das betreffende Individuum nicht an jener Stelle gestorben beziehungsweise
seinen Wunden erlegen ist, an welcher es als Leiche gefunden wurde. Die
Obduction kann dann einen derartigen Verdacht je nach dem Grade der
etwaigen inneren Blutung und je nach dem Grade der Blutfülle oder Blutleere
der inneren Organe entweder stützen oder abschwächen.
Von besonderer Wichtigkeit sind unter Umständen Abdrücke blutiger
Füsse am Fussboden, Spuren, welche gelegentlich zur Eruirung des Thäters
beitragen können und deren man sich daher für nachträgliche vergleichsweise
Untersuchungen vergewissern muss. Dies geschieht auf die Weise, dass man
entw^eder, wo es thunlich erscheint, die Blutspuren selbst aufbewahrt, oder
aber dieselben copirt oder durch „Netzzeichnen" die Form und Grösse der
betreffenden Blutspuren, -nicht minder aber auch deren Lage genau proto-
kollarisch aufnimmt und eventuell durch Skizzen und Zeichnungen ergänzt.
Auch Abdrücke blutiger Hände, wie sie sich zuweilen an Wänden, Thüren,
Geräthschaften u. dergl. finden, sind zuweilen von hoher forensicher Bedeutung
und in gleicher Weise zu behandeln wie Abdrücke blutiger Füsse. Natürlich
ist in allen solchen Fällen zu erwägen, ob derartige Abdrücke, namentlich blu-
tiger Füsse, nicht etwa von später zu einer Leiche hinzugekommenen Personen
herrühren können.
Die Form von Blutspritzern kann zuweilen Aufschluss darüber
geben, aus welcher Richtung das Blut gekommen ist. Dieselben haben, falls
sie eine Ebene in schiefer Richtung treffen, oft die Gestalt von mehr oder
weniger in die Länge gezogenen Tropfen, deren dickeres abgerundetes Ende
derjenigen Stelle entspricht, wo der Bluttropfen zuerzt die Wand berührte,
die Spitze der Richtung, in welcher der Bluttropfen fortgeschleudert wurde.
Diese Gestalt von Bluttropfen kann jedoch zuweilen dadurch verwischt werden,
dass das Blut, so lange es flüssig ist, längs einer schiefen oder verticalen
W^and herablauft.
Auch Blutspuren an der Leiche haben oft eine hohe Bedeutung.
Dies gilt insbesondere von Blutspuren, welche von äusseren Wunden herrühren,
sowie von Abdrücken blutiger Hände, welche zuweilen für die Entscheidung
der Frage, ob Selbstmord oder Tödtung durch fremde Hand vorliegt, von
Wichtigkeit sind. Auch hier kommt einerseits die Menge, andererseits die
Vertheilung des Blutes an der Leiche und an der Bekleidung derselben in
11*
164 BLÜTSPUREN.
Betracht. In wichtigen Fällen, in denen nicht etwa schon die Erhebungen den
Selbstmord ausser Frage stellen, ist eine genaue protokollarische Aufnahme
der an einer Leiche vorfindlichen Blutspuren nothwendig. Sehr lehrreich ist
in dieser Richtung ein von Taylor beobachteter Fall, in welchem am Rücken
der linken Hand eines Individuums mit einer tödtlichen Halsschnittwunde
der Abdruck einer blutigen linken Hand constatirt wurde, welcher natürlich
von einem anderen Individuum herrühren musste.
Nicht selten finden sich auch wirkliche oder vermeintliche Blutspuren
an einem einer That verdächtigen Individuum, an seiner Beklei-
dung, an Werkzeugen und dergl. Die Natur derartiger blutverdächtiger Flecke
tritt nicht immer sofort klar zu Tage; denn einerseits sind die Flecke oft
sehr unbedeutend, zuweilen überhaupt mit freiem Auge kaum zu erkennen,
andererseits ändert sich aber mit der Zeit ihr Aussehen in solcher Weise,
dass ohne specielle Untersuchungen Blutflecke als solche häufig gar nicht ge-
deutet werden können. Handelt es sich sonach insbesondere um unbedeutende
und in Folge chemischer Processe veränderte Blutflecken, so genügt zur rich-
tigen Diagnose die makroskopische Untersuchung für sich allein keineswegs;
es müssen vielmehr in solchen Fällen besondere Untersuchungsmethoden an-
gewendet werden, um zu entscheiden, ob blutverdächtige Flecke thatsächlich
von Blut herrühren, oder nicht.
Diese Methoden bestehen einerseits in dem mikroskopischen Nach-
weise von rothen Blutkörperchen, andererseits in dem spektrosko-
pischen und chemischen Nachweise irgend eines Blutfarb-
stoffes.
Der mikroskopische Nachweis von rothen Blutkörperchen
wird zunächst nur dann gelingen können, wenn der Blutfarbstoff nicht in
Lösung übergegangen, d. h. insbesondere nicht etwa mit Wasser in Berührung
gekommen ist. Zuweilen kommt aber gerade auch Wasser zur Untersuchung,
in welchem ein Thäter sein blutiges Mordwerkzeug, seine blutigen Hände,
Wäsche- oder Kleidungsstücke u. dergl. gewaschen hat. In solchen Fällen
wird es natürlich von vornherein aussichtslos sein, etwa nach rothen Blut-
körperchen zu suchen.
Anders verhält sich die Sache allerdings dann, wenn es sich um blos
eingetrocknete Blutspuren ohne irgend welche besondere äussere Einflüsse
handelt; in solchen Blutspuren wird der Nachweis von rothen Blutkörperchen im
Allgemeinen um so leichter gelingen, je frischer die Spuren sind. Man wird also
zunächst eine Spur des blutverdächtigen Fleckes auf einen Objectträger bringen
und nach Zusatz eines Tropfens einer Flüssigkeit, in welcher sich der Blut-
farbstoff nicht löst, am besten physiologischer Kochsalzlösung, unter dem
Mikroskope untersuchen. Wasser dürfte nur dann verwendet werden, wenn
der Blutfarbstoff sich bereits in ein in Wasser unlösliches Derivat — Haematin
— verwandelt hat, also bei sehr alten Blutspuren.
In eingetrockneten älteren Blutspuren sieht man zunächst häufig wie
netzförmig gezeichnete röthliche, bräunliche oder gelbliche Schollen, von
welchen sich unter günstigen Verhältnissen und bei hinlänglich lange währen-
dem Contact mit einem geeigneten flüssigen Medium, namentlich an der
Peripherie einzelne Blutkörperchen ablösen. Hiezu ist aber, falls es sich um
alte Blutspuren handelt, eine oft stunden- bis tagelange Maceration eines
Theils des Blutfleckes, beispielsweise mit 30 7o-iger Kalilauge oder mit der von
V. Hofmann modificirten PACiNi'schen Flüssigkeit (300 Theile Wasser, 100
Theile Glycerin, 2 Theile Kochsalz, 1 Theil Sublimat) nothwendig. Selbst
dann gelingt es aber häufig nicht, rothe Blutkörperchen, namentlich, wenn
sie sehr stark geschrumpft waren, als solche zu erkennen.
Es ist natürlich etwas ganz anderes, ob man etwa eine Spur, von der
man weiss, dass sie von Blut herrührt, zu Demonstrationszwecken in der
BLÜTSPÜREN. 165
erwähnten Richtung untersucht, oder ob man blutverdächtige Flecken, die
sich an rostigen Metallinstrumenten, an hölzernen Gegenständen, wie Stöcken,
Knütteln u. dergl. finden, zu untersuchen hat. In letzteren Fällen kann man
leicht Theile von Rosttiecken, von Bast mit auf den Objectträger bekommen,
somit Objecte, deren einzelne ßestandtheile zuweilen Aehnlichkeit mit Blut-
körperchen haben und demnach den Nachweis der letzteren wesentlich er-
schweren oder zu folgenschweren Irrthüraern Anlass geben können. Dasselbe
gilt von Fetttröpfchen und manchen Pilzsporen.
Aus diesem Grunde darf man sich, falls es sich um den etwaigen Nach-
weis von Blut in blutverdächtigen Flecken handelt, niemals auf die mikro-
skopische Untersuchung allein beschränken.
Der Nachweis von Blutfarbstoff in blut verdächtigen Flecken kann
zunächst durch spektroskopische Untersuchung gelingen. Die Art
und Weise, wie man zu diesem Zwecke Blutspuren behandeln muss, sowie der
spektrale Befund richtet sich nach dem Grade der Löslichkeit und nach dem
Alter derselben, kann aber auch durch anderweitige äussere Einflüsse, welche
auf die Blutspur einwirken, bestimmt werden.
Zunächst kann der Fall eintreten, dass man blutiges Wasser zu unter-
suchen hat. In diesem Falle bringt man einfach einen Theil der Flüssigkeit
in ein Glasgefäss (Eprouvette, plan-paralleles Gläschen u. dergl.) und unter-
sucht die Flüssigkeit direct ohne jeglichen weiteren Zusatz mit dem Spektro-
skope. Bei allzustarker Verdunkelung des Gesichtsfeldes wird man die Flüssig-
keit allmälig so weit verdünnen, bis man ein Spectrum erhält, welches etwa
demjenigen eines in Wasser löslichen Blutfarbstoffes (Oxyhämoglobin, Methä-
moglobin) entspricht.
Ist das für die spectrale Untersuchung disponible Material sehr gering,
so muss die Untersuchung mittelst des Mikrospektroskopes vorgenommen
werden.
Der Umstand, dass eine Flüssigkeit von Wasser sich makroskopisch
nicht unterscheidet, schliesst noch keineswegs aus, dass dieselbe Blutfarbstoff
in Lösung enthält; denn es kann ja der Concentrationsgrad der Blutfarbstoff-
lösung so gering sein, dass die letztere sich als solche nicht durch eine besonders
auffällige Farbennuance verräth. In einem solchen Fall muss man entweder
die Dicke der Flüssigkeitsschichte vor dem Spektralapparate erhöhen oder aber,
falls man auch auf diese Weise zu keinem positiven Resultate gelangt, durch
allmäliges Verdampfenlassen der Flüssigkeit in der Wärme die Erreichung
eines höheren Concentrationsgrades der etwaigen BlutfarbstofQösung anstreben.
Es sei jedoch bemerkt, dass man selbst bei sehr stark verdünnten Lösungen
von Blutfarbstoff, speciell von Oxyhämoglobin, die Absorptionsstreifen des-
:Selben noch deutlich wahrnehmen kann.
Handelt es sich um reines Blut oder um eingetrocknete Blutflecken, so
muss man die spektroskopisch zu untersuchenden Spuren zunächst auflösen.
Die Lösung erfolgt, falls die Blutspuren nicht gar zu alt sind, die Blutflecke
noch einen röthlichen oder bräunlichen Farbenton aufweisen, in Wasser. Doch
•erfolgt die Lösung in Wasser nur so lange, als die Blutspuren noch Oxy-
hämoglobin oder Methämoglobin enthalten. Trübe Lösungen können durch
Zusatz einer Spur Ammoniak geklärt werden.
Es empfiehlt sich nach Einstellung der Scala, bevor man die Unter-
suchung von Blutfarbstoff'lösungen mittelst des Spektroskopes vornimmt, für
jedes Instrument und vor jedesmaligem Gebrauche die D-Linie (Natronlinie)
zu bestimmen.
Das Spectrum des Oxyhämoglobins ist charakterisirt durch zwei
Absorptionsstreifen zwischen den Linien D und E. Der erste, unmittelbar
bei D beginnende, gegen das violette Ende des Spectrums sich erstreckende
Streifen ist scharf begrenzt; der zweite Absorptionsstreifen ist breiter, heller,
166 BLUTSPUREN,
weniger scharf begrenzt und reicht bis an die Linie E heran. Je nach der
Concentration der Blutfarbstofflösungen weist die Ausdehnung der Absorp-
tionsstreifen anscheinend Schwankungen auf.'"')
Setzt man zu einer Oxyhämoglobinlösung eine reducirende Substanz
(Schwefelammonium) hinzu, so tritt statt des Oxyhämoglobinspectrums nach
kurzer Zeit das Spectrum des reducirten Hämoglobins auf; dasselbe
zeigt ein breites, helleres Absorptionsband, welches einerseits gegen das vio-
lette Ende hin bis nahe an E heranreicht, andererseits sich in continuo über
D hinaus erstreckt.
Schüttelt man eine Lösung von reducirtem Hämoglobin hinlänglich mit
Luft, so entwickelt sich wiederum Oxyhämoglobin.
Je nach den äusseren Einflüssen kann sich Oxyhämoglobin nach ver-
schieden langer Zeit spontan zunächst in Methämoglobin umwandeln, einen
Blutfarbstoff, welcher sich dem geübten Untersucher oft bereits makroskopisch
durch den röthlichbraunen oder braunen Farbenton zu erkennen gibt. Der
für Methämoglobin charakteristische Absorptionsstreifen liegt im
rothen Felde des Spectrums und ist deutlich nur bei einer ziemlich concent-
rirten Lösung des Blutfarbstoffes zu sehen, bei welcher die Oxyhämoglobinbänder
in der Regel noch nicht getrennt sind, vielmehr an ihrer Stelle sich eine mehr
oder weniger breite Verdunkelung vorfindet. Bei weiterer Verdünnung treten
die Oxyhämoglobinstreifen, falls, wie es oft der Fall ist, eine Blutspur neben
Methämoglobin noch Oxyhämoglobin enthält, immer deutlicher hervor, während
der Methämoglobinstreifen im Roth allmälig verschwindet. Auch nach Zusatz,
reducirender Substanzen verschwindet der Methämoglobinstreifen.
Geht der in einer blutverdächtigen Spur enthaltene Farbstoff in Wasser
nicht in Lösung über, so muss man auf die etwaige Anwesenheit von Hä-
matin Rücksicht nehmen, welches ein weiteres Umwandlungsproduct des
Oxyhämoglobins bildet und in Wasser unlöslich ist; dagegen löst es sich in
anderen Flüssigkeiten, so u. a. insbesondere in concentrirter Cyankalium-
lösung (v. Hofmann), mit welcher man die betreffende Blutspur macerirt. Die
dadurch erhaltene Hämatinlösung gibt ein dem reducirten Hämoglobin ähn-
liches Spectrum. Nach Zusatz von Schwefelaramonium treten rasch zwei Streifen
auf, welche Aehnlichkeit mit den Streifen des Oxyhämoglobins haben, jedoch
weiter gegen das violette Ende, des Spectrums hin gelegen sind.
Insbesondere durch abnorm hohe Hitzegrade (z. B. durch heisses Bügeln)
kann auch eine frische Blutspur in Wasser unlöslich werden. Bei lange an-
dauernder Einwirkung sehr hoher Hitzegrade bis zur Verkohlung von Blut-
spuren erhält sich nach Kratter und Hammerl die Löslichkeit in concen-
trirter Schwefelsäure. Hiernach lässt sich aus verkohltem Blute, welches sonst
keine Reaction mehr gibt, nach Lösung der betreffenden Blutspuren in con-
centrirter Schwefelsäure noch das Spectrum des Hämatoporphyrins dar-
stellen. Dasselbe ist ähnlich dem Spectrum des Oxyhämoglobins, nur dass
die beiden Absorptionsstreifen gegenüber den Oxyhämoglobinstreifen weiter
gegen das rothe Feld des Spectrums hin gelagert sind. Verdünnt man nun
das in concentrirter Schwefelsäure gelöste Hämatoporphyrin mit der 10 bi&
20fachen Menge Wasser, so fällt es in Form von rothbraunen Flocken aus,,
welche gewaschen und mit Alkalien gelöst das Spectrum des alkalischen
Hämatoporphyrins geben, welches aus vier abwechselnd schmalen und
breiten Absorptionsstreifen besteht.
Die Darstellung der TEiCHMANN'schen Blutkrystalle (Krystalle
des Hämins oder des salzsauren Hämatins) wird in der Weise vorgenommen,
dass man ein kleines Partikelchen der zu untersuchenden Spur unter Zusatz
einer Spur Kochsalz in kochendem Eisessig löst und die Lösung eindampft;,
je langsamer letzteres geschieht, um so deutlicher und grösser fallen die
*) Vergl. Abbildung im Bd. Medicin. Chemie S. 418.
BLUTSPÜREN. 167
Krystalle aus. Gelingt die Darstellung der Krystalle nicht gleich beim ersten
Male, so muss die Procedur eventuell ein zweites und drittes Mal wiederholt
werden. Bei mikroskopischer Untersuchung sieht man dann rhombische
oder elliptische dunkelbraune Krystalle, welche oft im Gesichtsfelde ungleich-
massig vertheilt, stellenweise sehr spärlich, stellenweise in grosser Zahl vor-
handen sind."") Dieselben sind in Kalilauge und in englischer Schwefelsäure
leicht löslich.
Hat man die Darstellung auf einem Glasschälchen vorgenommen, so kann
man dieses entweder direct unter das Mikroskop bringen oder aber einen
Theil des trockenen Rückstandes abkratzen und, da die Krystalle in Wasser
unlöslich sind, mit einem Tropfen Wasser auf einen Objectträger bringen,
hierauf mit einem Deckgläschen bedecken und nunmehr mikroskopisch un-
tersuchen.
Durch Beimengung von Fett, Anwesenheit von Rost kann die Dar-
stellung der TEiCHMANN'schen Krystalle ungünstig beeinflusst werden.
Ist es nun durch die angeführten Untersuchungsmethoden, von denen
insbesondere der Nachweis von Blutkörperchen zuweilen nicht positiv ausfällt,
gelungen, zu beweisen, dass dieser oder jener blutverdächtige Fleck thatsächlich
Blut enthält, so w^erfen sich oft noch andere Detailfragen auf, deren Beant-
wortung für viele specielle Fälle von der grössten forensischen Bedeutung
sein kann.
Zunächst kommt die Frage in Betracht, ob eine Blutspur vom
Menschen oder von einem Thiere herrührt?
In dieser Beziehung ist zu bemerken, dass, wenn überhaupt noch erhal-
tene Blutkörperchen vorhanden sind, die Unterscheidung der Säugethierblut-
körperchen von Blutkörperchen anderer Thiere durch die morphologischen
Eigenschaften relativ leicht möglich ist. Während die Blutkörperchen von
Mensch und Säugethier kreisrunde, kernlose Scheiben darstellen, sind die
Blutkörperchen der anderen Thierclassen, wie Vögel, Amphibien, Fische, oval
und kernhaltig.
Ueberaus schwierig ist die Entscheidung der Frage, ob bestimmte in
Blutspuren constatirte Blutkörperchen von einem Menschen oder Säugethier
herrühren. Selbst wenn die diesbezüglichen in mikroskopischen Messungen
bestehenden Untersuchungen mit grösster Sorgfalt .und Peinlichkeit vorge-
nommen werden, und es sich um frische Blutspuren handelt, können nur
approximative Schlussfolgerungen aus derartigen Messungen gezogen werden.
Der Grund dessen liegt darin, dass einerseits schon die Grösse der Blut-
körperchen bei einem und demselben Individuum innerhalb gewisser Grenzen
schwankt, andererseits auch die Grössenunterschiede zwischen menschlichen
und verschiedenartigen Säugethierblutkörperchen nur sehr minimal sind.
Die durchschnittliche Grösse der rothen Blutkörperchen vom Menschen beträgt
0-007 mm (Ü-Ü074— U-0U80), vom Hunde 0-0070 mm (0-0060 -0-0074), vom Schweine
0-0062 nim, vom Rinde 00058 mm, vom Pferde 0-0057 mm, von der Katze 0-0056 mm, vom
Schaf 00045 mm.
Es wird daher eine sehr grosse Zahl von Blutkörperchen gemessen und
aus den Massen das arithmetische Mittel gezogen werden müssen.
Noch vorsichtiger wird man sich in der genannten Richtung aus-
sprechen müssen, wenn es sich um Blutkörperchenmessungen in alten, ein-
getrockneten Blutspuren handelt, da unter solchen Verhältnissen die rothen
Blutkörperchen stark, jedoch nicht gleichmässig schrumpfen und man sich
daher, falls dieselben in entsprechenden flüssigen Medien aufgeweicht auf-
quellen, über die ursprüngliche Grösse der Blutkörperchen noch weniger ein
richtiges Urtheil bilden kann als wenn es sich um frischere Blutflecke handelt.
*) Vergl, Abbildung im Bd. Medicin. Chemie S. 419.
168 BODEN.
Das Alter von Blutspuren, welchem zuweilen ebenfalls eine hohe
forensische Bedeutung zukommt, kann, wenn überhaupt, meistens selbst
innerhalb weiterer Grenzen nur approximativ bestimmt werden. Zur Be-
urtheilung des etwaigen Alters von Blutspuren hat man einerseits die Farbe
andererseits den Grad der Löslichkeit in Betracht zu ziehen. Frische Blut-
spuren sind deutlich roth, werden jedoch schon durch blosses Eintrocknen
braun, später graubraun und grau. Diese Farbenänderung steht mit der
Umwandlung des Oxyhämoglobins in Methaemoglobin und Hämatin in Zusammen-
hang. Die Schnelligkeit, mit welcher diese Umwandlung des Oxyhämoglobins
vor sich geht, variirt je nach äusseren Einflüssen und wird durch den
Zutritt von Luft und Licht, insbesondere durch directes Sonnenlicht gefördert.
Blutspuren, welche den letztgenannten Einflüssen nicht ausgesetzt sind, können
die braune Farbe monate-, selbst jahrelang behalten.
Dieselben Momente vermindern allmälig die Löslichkeit der Blutspuren
in Wasser.
Sowohl die Farbenveränderung wie auch die Verminderung der Löslich-
keit von Blutspuren schreitet von der Oberfläche nach der Tiefe zu fort und
erfolgt, namentlich, wenn die Blutspuren dicker sind, langsam.
Die correcte Vornahme von Blutuntersuchungen zu forensischen Zwecken
erfordert grosse Uebung und Vertrautheit mit den einschlägigen Untersuchungs-
methoden, sollte daher immer nur durch gewiegte Fachmänner erfolgen.
DITTEICH.
Boden (Bodeiiliygiene). Der Einfluss des Bodens auf das Wohl-
befinden und die Gesundheit der Menschen äussert sich auf die mannig-
faltigste Weise. Wir bemerken, dass unser Boden die Wände unserer Häuser
feucht, unsere Wohnungen selbst dumpf und unbequem macht; in unreinem
Boden ist das Wasser unserer Brunnen ungeniessbar, süss; bei hohem Grund-
wasser steht Wasser in den Kellern u. s. w. Insbesondere erfahren wir jedoch,
dass gewisse Krankheiten an manchen Orten und zu gewissen Zeiten in
auffallender Weise vorherrschen, während dieselben an anderen Orten viel
milder oder gar nicht auftreten, oder aber zu gewissen Zeiten verschwinden.
Aeltere Autoren, wie Hippokeates, Galen, dann J. P. Feank, Lancisi,
Sydenham u. A. kannten wohl und lehrten auch recht eindringlich, dass der
Boden einen wesentlichen Einfluss auf die Gesundheit der auf denselben
Wohnenden ausübt, insbesondere aber auch auf das Auftreten und Vorherr-
schen gewisser epi- und endemischer Krankheiten von Einfluss ist. Eindringlicher
wurde jedoch die Frage erst seit dem Auftreten der Cholera untersucht.
Eckstein, Steinheim, Heilbeonn, Boubee, Fouecault legten bei der Ver-
breitung der Cholera das Gewicht auf die geologische Beschaffenheit des
Bodens, während Pettenkofee, seit 1855, die Aufmerksamkeit vielmehr auf
das Verhalten des Bodens gegenüber der Luft, Feuchtigkeit und des Schmutzes
an gewissen Orten, und auf die Schwankungen dieser Factoren im Boden
zu gewissen Zeiten hinlenkte, und damit die ersten Grundlagen einer
exacten epidemiologischen Forschung legte. Sodann wurde, mit Hilfe der
KocH'schen Methoden, die Existenz, ja das üppige Wachsthum verschiedener,
selbst pathogener, Bacterien auf und in dem Boden nachgewiesen, und hie-
mit der Weg zur Erforschung der Rolle des Bodens bei dem Entstehen und
der Verbreitung gewisser epi- und endemischer Krankheiten geöffnet.*)
*) Eingehendere Behandlung der Bodenhygiene, nebst Literatur-Angaben siehe bei:
FoDOR, Hygienische Untersuchungen über Luft, Boden und Wasser; Vieweg und S., Braun-
schweig, 1881 — 1882, IL B. — Vergl. ferner: Soyka, Der Boden, im Ziemssen-Pettek-
KOFER'schen Handbuch d. Hygiene und d. Gewerbekrankheiten; Fodor, Hygiene des Bo-
dens, in Weyl's Handb. d. Hygiene; Fischer, Jena, 1893.
BODEN. 169
Die Structur des Bodens. Nicht nur die Böden einzelner Städte,
sondern sogar die einzelner Häuser, ditferiren oft ganz entschieden von ein-
ander, sowohl in Bezug auf ihre geologische resp. petrographische Formation,
wie auch insbesondere bezüglich ihrer physikalischen Structur, womit
das Verhalten der Bodenschichten gegenüber dem Eindringen von Luft,
Wasser und Schmutz wie auch gegenüber biologischer, bacteriologischer Pro-
cesse eng zusammenhängt.
Nur selten, und nur an eng begrenzten Stellen, findet sich ganz com-
pacter, für Luft, Wasser und Schmutz undurchdringlicher Untergrund vor,
so z. B. Granit-, Porphyr-, Trachyt-, Basaltboden, Gneiss- und Schieferböden,
Böden aus gewissen Kalk-, Dolomitgesteinen. Bei weitem häufiger besteht der
Untergrund aus klastischen Schichtgesteinen, und zwar sowohl aus verkitteten
(hauptsächlich Grauwacke, Sandsteine u. A.), wie insbesondere aus nicht ver-
kitteten Trümmergesteinen (Schotter, Gerolle, Sand, Thon, Mergel, Löss) mit
mehr weniger vermengten organischen Stoffen (Dammerde, Humus, Schutt-
boden), welche dem Eindringen von Luft, Wasser und Schmutzstolfen wenig
Hindernisse in den Weg legen. Es ist jedoch nicht zu übersehen, dass auch
manche nicht verkittete Trümmergesteine, wenn befeuchtet, sich ziemlich
impermeabel verhalten (Thon, Mergel), während Böden von Massengesteinen
stellenweise recht permeable Partien aufweisen, indem die Gesteine oft zer-
klüftet, und die Klufträume mit Gerolle, Schutt u. s. w. aufgefüllt sind.
Die Grundluft. Ln nicht compacten Boden bilden sich Hohlräume
neben und um die einzelnen Partikelchen des den Boden bildenden Gesteins,
welche mit Luft, die Grundluft, ausgefüllt sind. Die Summe jener Hohl-
räume ist das Porenvolum, welches z. B. im trockenen Kies-, Sandboden
35 — 40 Vol. °/o des Bodens, im Thon, Mergel, Lehm-, Torfböden sogar 45 — 80
und mehr Vol. 7o erreichen kann. Die Grundluft kann durch Wasser aus
den Hohlräumen theilweise oder auch gänzlich weggedrängt werden, wo dann
der Boden arm an Grundluft, resp. luftlos erscheint.
Die Grundluft ist in den Boden eingedrungene atmosphärische Luft, und
bleibt auch gewöhnlich in reger Beziehung mit dieser letzteren. Sie strömt
zu gewissen Zeiten in die atmosphärische Luft heraus; sie tauscht, mittelst
Diffusion, ihre Gase mit -jenen der atmosphärischen Luft aus. Die Lebhaftig-
keit dieser Processe hängt weniger von der Summe, als vielmehr von der
Weite der Bodenhohlräume, von der Luftdurchlässigkeit (= Permea-
bilität) des Bodens ab. Die erfahrungsgemässe Permeabilität eines Kiesbodens
zu 100 gesetzt, finden wir die Permeabilität im grobkörnigen Sandboden gleich
61, im feinkörnigen Sandboden 38, im lehmigen Boden 1, im Thonboden 0*5,
u. s. w. Feuchtigkeit vermindert die Permeabilität des Bodens beträchtlich,
ja sie hebt dieselbe — in feinkörnigen Böden — vollständig auf.
Die in den Boden eingedrungene Luft gibt ihren Sauerstoff zu den oxy-
direnden Processen im Boden ab, und nimmt im Tausche dafür, annähernd
zu gleichem Volumen, durch Oxydation im Boden gebildete Kohlensäure auf.
Li sehr verunreinigten, in lebhafter Zersetzung befindlichen Böden, ferner in
den tieferen Schichten, wo der Austausch mit der atmosphärischen Luft er-
schwert ist, mag der Sauerstoff in der Grundluft zum grössten Theil, ja sogar
vollständig verschwunden, und durch annähernd gleiches Volumen Kohlen-
säure ersetzt sein.
Die im Boden frei strömende Grundluft tritt an gewissen Orten, zu ge-
wissen Zeiten, unter der Einwirkung physikalischer Kräfte (Temperatur-
difierenz der atmosphärischen und der Bodenluft, Winde, u. s. w.), auf die
Bodenoberfläche, w^o sie dann den Kohlensäuregehalt der darüber liegenden
Luftschichten zu erhöhen vermag. Ein solches Emporströmen der Grundluft
wird hauptsächlich über verunreinigtem, porösem Boden, im Herbst, am Abend
und des Nachts beobachtet. — Die kalte, und in Folge dessen schwere atmo-
170 BODEN.
sphärische Luft, treibt im Herbste und im Winter die wärmere Grundluft
auch den Gebäuden zu, wo sie in die Kellerräume, in die Parterre- Wohnun-
gen einströmt. Mit an Sauerstoff armer Grundluft gefüllte Kellerräume,
Brunnen, Gruben, können asphyktisch wirken. In Budapest stiegen fünf
Arbeiter, einer nach dem andern, in einen früher geschlossen gewesenen
Brunnenschacht und fanden daselbst ihren Erstickungstod. Der Brunnen war
mit, von dem umgebenden unreinen Boden stammender Grundluft gefüllt.
Bodenfeuchtigkeit und Grundwasser. Nach allgemeiner Schä-
tzung pflegt von dem auf den Boden fallenden Regenwasser ein Dritttheil
oberflächlich abzufliessen; ein zweites Drittel verdunstet; das letzte Drittel des
Wassers endlich dringt in den Boden ein, und trägt zu dessen Befeuch-
tung, wie auch zur Bildung des Grundwassers bei. Von erhöht liegen-
den, abhängigen Orten, mit compactem, naktem Boden, fliesst mehr Wasser
ab, während flache, insbesondere muldenförmige, poröse, bewachsene Boden-
flächen mehr Wasser ansammeln und in den Boden eindringen lassen. Jene
besitzen gewöhnlich einen trockenen, diese aber einen feuchten Untergrund.
Die Feuchtigkeit des Bodens wird aber auch durch gewisse physikalische
Eigenschaften der verschiedenen Bodenarten beherrscht, — so von der Durch-
lässigkeit des Bodens für Wasser (Quarzsandboden verhält sich zu
Lehm-, resp. zu Thonboden wie 5760 zu 1674, resp. zu 0-7), — von der
wasserbindenden Kraft des Bodens (100 Raumtheile Quarzsand binden
50 Raumtheile Wasser, Lehm 68, Torfboden 90 und mehr Raumtheile),
von der Capillarität desselben u. s. w. Kies-, Sandböden sind in Folge
dessen im Allgemeinen trocken, während lehmige, humöse, torfige Böden
gewöhnlich feucht und zu Wasseransammlungen, zur Pfützenbildung u. Ae.
geeignet sind.
Das in den Boden einsickernde Regenwasser wird auf seinem Wege durch
minder durchlässige Schichten aufgehalten und sammelt sich an. Dasselbe
verdrängt die Luft aus den Porenräumen und füllt die letzteren aus. Die&
die Bildung des Grundwassers.
Das Wasser erfüllt die Porenräume bald bis nahe zur Oberfläche des
Bodens (weniger als 5 m von der Oberfläche entfernt heisst es oberflächliches
Grundwasser), bald nur bis in von der Oberfläche entfernteren Schichten
(20 und mehr m von der Oberfläche entfernt, ist es tiefes Grundwasser).
Uebersteigt das angesammelte Grundwasser, an einzelnen Stellen, selbst die
Bodenoberfläche, so ist dies frei zu Tage liegendes Grundwasser.
An manchen Stellen findet sich überhaupt kein Grundwasser vor, weil
die undurchlässige Schicht eine Neige bildet, oder zerklüftet ist, und das
zusickernde Wasser tiefer liegenden Stellen zuführt. Wenn dieses Wasser
hier zu Tage tritt, so ist dies eine Quelle. Durchlässige und minder durch-
lässige Schichten lagern sich oft abwechselnd und mehrfach über einander.
Dann trifft man Grundwasser in mehreren Lagen, und in verschiedener Menge.
Zwischen zwei oder mehr muldenartig übereinander gelagerten undurchlässi-
gen Schichten angesammeltes Wasser steigt, wenn die obere undurchlässige
Schichte durchgebohrt wird, in die Höhe empor. Dies ist die Bildungsweise
der meisten Artesischen Quellen.
Regnerisches und trockenes Wetter beherrschen die Grundwasser-
Schwankungen. Bei jenem, also gewöhnlich im Frühjahr, nähert sich das
Grundwasser der Bodenoberfläche, bei diesem, im Herbst entfernt es sich da-
von. Der Unterschied zwischen dem höchsten und niedrigsten Wasserstande
(= Amplitude der Grundwasser-Schwankung) beträgt höchstens (in
Mitteleuropa) 0-5— TOm. Derselbe kann jedoch an manchen (in der Thalsohle,
muldenförmig liegenden) Orten viel bedeutender sein, weil da dem Grund-
wasser von der Umgebung zusammeugesickertes W^asser, Drainagewasser,^
zugeführt wird. Regnerische, resp. trockene Jahre scy den nähern, bezw.
entfernen den Grundwasserspiegel noch erheblicher von der Bodenoberfläche.
30DEN. 171
Selten bildet das Grundwasser einen ruhig liegenden, unterirdischen
Teich (so eventuell über einer muldenförmigen, undurchlässigen Untergrund-
schichte),— vielmehr fliesst, strömt dasselbe in irgend einer Richtung, der
Neige der undurchlässigen Schicht folgend, ab. Meistens sind es Flussbette,
Thalsohlen u. Ae., denen das Grundwasser zuströmt. Eventuell sickert jedoch
das Wasser eines Flusses (insbesondere bei Hochwasser) dem Boden seiner
Umgebung zu, und liefert, wenigstens zeitweise, dessen Grundwasser.
Regen und Trockenheit, sowie die Grundwasserschwankungen beeinflussen
den Feuchtigkeitszustand der verschiedenen Bodenschichten. Das Zu-
sammenwirken dieser wie auch anderer Factoren (so z. B. der physikalischen
Eigenschaften des Bodens) machen den Gang der Bodenfeuchtigkeit an
verschiedenen Orten, und zu verschiedenen Zeiten, sowie auch in den ver-
schiedenen Bodenschichten, äusserst unregelmässig und schwer erkenntlich.
Bodenverunreinigung. Die ausgiebigste Quelle der Bodenverunrei-
nigung liefern die menschliche Haushaltung und die Excremente der Menschen
und der Hausthiere. Ein einziger Einwohner führt durch diese mehr Fäul-
nissstoffe dem Boden seiner Umgebung zu, als 300 — 600 Einwohner mit den
Leichen ihrer Verstorbenen. Dies erklärt wohl die relative Reinheit der
Brunnenwässer in den Friedhöfen, gegenüber den Brunnen im Inneren der
Städte.
Die auf die Bodenoberfläche gelangenden Schmutzstoffe — insoferne die-
selben nicht wieder entfernt werden — zerstäuben, sickern in den Boden,
werden in denselben hineingedrängt, hinein getreten, und verunreinigen auf
diese Weise die Luft und den Boden.
Flüssige Schmutzstoffe werden vor Allem filtrirt, wobei infolge der
Bin de kraft des Bodens auch gelöste Stoffe (organische und anorganische,
von den letzteren insbesondere Ammoniak, viel weniger chlor- und salpeter-
saure Salze) an der Stelle der Bodenverunreinigung zurückgehalten werden.
Bei allzu reichlicher Zufuhr jener Stoffe erschöpft sich die Bindekraft des
Bodens, und nun sickern auch die organischen Stoffe, sowie Ammoniak etc.
den tieferen Bodenschichten, eventuell dem Grundwasser zu.
Gewöhnlich ist der Boden an seiner Oberfläche, sowie unterhalb von
Jauchegruben, Canälen u. dgl. am meisten verunreinigt.
Der in den Boden eingedrungene Schmutz wird, unter Mitwirkung von
Mikroorganismen und der Grundluft, zersetzt, namentlich werden kleinere
Mengen Schmutzstoffe bei genügender Bodenlüftung oxydirt (Bildung von
Salpetersäure), hingegen neigt eine grössere Menge von Schmutz bei unge-
nügender Lüftung (in den tieferen Bodenschichten, im Städteboden, in dichtem
Boden) zur Fäulnis (Bildung von Ammoniak, Schwefelwasserstoff, salpetriger
Säure). Organische Stoffe, Ammoniak, salpetrige Säure im Brunnenwasser
weisen demnach auf einen durch und durch mit Schmutzstoffen infiltrirten,
faulenden Boden hin.
Oxydirender Boden reinigt sich selbst — wenn er von erneuerten Schmutz-
infiltrationen bewahrt bleibt — ziemlich schnell, faulender Boden hingegen
viel langsamer. Aus porösem, oxydirendem Boden verschwinden selbst die
organischen Stoffe ganzer menschlicher Leichen nach 3—4 Jahren.
Die Zersetzungsstoffe im Boden werden auch von der Bodenfeuchtigkeit
beherrscht. Im trockenen Boden (mit weniger als 2 Vol.°/o Wasser) ist die
Zersetzung eine ziemlich begrenzte, sie hebt sich mit zunehmender Befeuch-
tung (Regen, Grundwasser-Erhöhung) sehr schnell, sprungweise.
Die Temperatur des Bodens. Auch die Temperatur des Bodens
wirkt auf die Zersetzungsvorgänge in demselben w^esentlich ein.
Der Erwärmungsgrad der Erdrinde ist zunächst abhängig von der Inten-
sität und der Quantität der Sonnen-Bestrahlung, welche ihrerseits von
der Sonnenhöhe und der Tageslänge abhängt. — An der Oberfläche des
172 BODEN.
Bodens beobachtet man einen ähnlichen Wechsel der Temperatur, wie in
der über derselben lagernden Luftschichte, — mit dem Unterschiede jedoch,
dass der Boden bedeutend höhere Maximaltemperaturen aufweist (in Mittel-
europa 60° C und mehr, — in x4.equatorialgegenden 70° C und auch mehr),
und nach Sonnenuntergang sich schnell und ausgiebiger abkühlt, als die
Atmosphäre. In den tieferenBodenschichten dringt die Sonnen wärme
nur äusserst langsam vor, auch kühlen sich diese nur allmälig ab. Die
Tagesvariation der Bodenerwärmung ist in 0*5 m Tiefe kaum mehr
bemerkbar. Auch ist diese oberflächliche (bis 0*5 m reichende) Bodenschichte
Abends und in der Nacht wärmer, als Morgens und tagsüber. Der Tempe-
raturwechsel der Jahreszeiten dringt 15, höchstens 30 m tief vor.
Die Maximaltemperatur in 2 m Tiefe wird (in Budapest) im September, in
4 m Tiefe aber Ende October beobachtet, während die Minima im März, resp.
Ende April sind. Die beobachteten Maximal-, resp. Minimaltemperaturen sind
in 2 m Tiefe: 15-740 und 4-32° C, — im 4 m Tiefe: 14-28° und 9-49« (Luft:
20-82° C im Juli und 2-30° im December).
In 15 — 30 771 Bodentiefe ist die Temperatur constant, und entspricht
annähernd der mittleren Jahres-Lufttemperatur der Beobachtungssorte. Noch
tiefer nimmt die Bodentemperatur allmälig, und zwar auf circa je 30 — 35 m
mit 10 C zu.
Mit Hilfe dieser Daten sind wir imstande, die jeweilige Temperatur des
Bodens in den verschiedenen Schichten, zu verschiedenen Jahreszeiten an-
nähernd anzugeben; ebenso ermöglichen uns jene Daten die zu erhoffende
Kühle der Keller, der Brunnenwässer approximativ zu schätzen, wie auch die
Tiefe zu bestimmen, von welcher aus Quellen das Wasser hervordringt.
Der hohen Temperatur der oberflächlichen Bodenschichten und dem
starken Wechsel dieser Temperatur in den verschiedenen Jahreszeiten ent-
sprechend, finden wir daselbst die lebhaftesten Zersetzungsprocesse, sowie auch
die grösste Verschiedenartigkeit, während die tieferen Schichten, etwa unter-
halb 2 — 4 m, mit ihrer constanten und massigen Wärme sehr wenig zu biolo-
gischen Vorgängen disponiren.
Bakterien im Boden. Der Boden beherbergt und ernährt eine Un-
zahl von Bakterien der verschiedensten Arten. Die meisten wirken wohl bei
der Umwandlung organischer Stoffe in unorganische, bei der Oxydation
und der Fäulnis des Bodenschmutzes mit. Es wurden aber auch pathogene
Bakterien im Boden nachgewiesen, ferner geht aus diesbezüglichen Ver-
suchen hervor, dass die Bakterien gewisser specifischer Krank-
heiten auf und in Bodenproben fortvegetiren, ja selbst sich vermehren
können. Die meisten Bakterien finden sich an der Oberfläche und in den
oberflächlichen Schichten des Bodens, in 0-5— 1*0 w Tiefe vor, (mehrere
Hunderttausende, ja Millionen in 1 cm^ Bodenprobe). Ihre Zahl, sowie die
Verschiedenheit der Arten, vermindert sich äusserst schnell mit der Tiefe, so
dass unterhalb 2 m, die nicht aufgewühlten, von Abortgruben, Canälen her
nicht inficirten Bodenschichten, gewöhnlich steril erscheinen.
Milzbrand -Bacillen vermehren sich sehr lebhaft in und auf warmem,
feuchtem Boden, und bilden schnell Sporen. In tieferen Schichten, wo die
Temperatur unter 15° C bleibt, vermehren sie sich nicht mehr, auch bilden
sie keine Sporen mehr. Die Sporen können im Boden ihre Virulenz —
obgleich etwas abgeschwächt — jahrelang beibehalten.
Die Bacillen des malignen Oedems verhalten sich im Boden ähnlich,
wie die Milzbrandbacillen.
Der Bacillus Typhi abd. gedeiht in und auf Bodenproben. Bis zu
0-6 m Tiefe in den Boden hinunter geschwemmt, wurden Typhusbacillen, selbst
nach 5Y2 Monaten und in Gemeinschaft mit anderen Bakterien, lebend vor-
gefunden. In noch tieferen Schichten und bei Temperaturen unterhalb 9 — 10° C,
BODEN. 173
scheinen die Typliusbakterien nicht mehr gedeihen zu können, obzwar ihr
längeres Fortvegetiren daselbst nicht ausgeschlossen erscheint.
Der Cholera- Bacillus reproducirt sich und verbreitet sich schnell
in M^armen, feuchten Bodenproben. In tieferen Bodenschichten scheint der-
selbe kaum reproductionsfähig zu sein, ja sogar schnell zu Grunde zu gehen.
Austrocknen des Bodens, sowie Besonnung (Insolation) desselben, zerstören die
Cholerabacillen.
Die Tetanus-Bacillen kommen im unreinen Schutt- und Städteboden
häufig vor. In begrabenen Tetanus-Leichen wurden Tetanusmikroben (Sporen)
selbst nach Jahren, und im vollvirulentem Zustande nachgewiesen.
Die Bakterien septischer Infectionen scheinen im verunreinigten
Boden überall zu vegetiren. In tieferen, reinen Bodenschichten, fehlen die-
selben.
Malaria-Organismen konnten bisher im Boden nicht isolirt werden,
ebenso wenig die Organismen einiger anderer, augenscheinlich infectiöser
Krankheiten (der Ruhr, der Sommer-Diarrhöe etc.).
Auch höhere, Krankheit erregende Parasiten erwählen oft den Boden als
Aufenthalts- resp. Vegetationsmedium, so z. B. das Anchylostomum
duodenale.
Es ist wohl anzunehmen, dass in unreinem, faulendem Boden sich
Ptomaine, Toxine bilden, die ihren Weg selbst in das Grundwasser, resp.
Brunnenwasser finden mögen. Der positive Nachweis dieser Stoffe im Boden
hat bis jetzt noch nicht stattgefunden.
Die auf und in dem Boden lebenden Bakterien, Parasiten u. Ae. können
auf verschiedene Weise in den menschlichen Körper gelangen. Am häufigsten
werden sie w^ohl durch Winde von der Bodenoberfläche aufgewirbelt,
gelangen so in die Atmosphäre, in unsere Wohnungen, in die Brunnen,
in das Trinkwasser, in die Speisen und finden so den Zutritt in unseren
Körper, eventuell nachdem dieselben — im Trinkwasser, in den Speisen —
eine vielfache Vermehrung erreicht haben; auch Communication, Kleider,
Schuhsohlen verschleppen zahllose Boden-Organismen in unsere Wohnungen.
Dann können jene Organismen durch den Boden geschwemmt, durch-
gewuchert ins Grundwasser und sodann in das Brunnenwasser ge-
langen. In Anbetracht dessen, dass Bakterien nur äusserst langsam im Boden
weitergeschwemmt werden, so dass — wie oben angegeben — schon in 2 m
Tiefe der Boden gewöhnlich sehr arm an Bakterien ist, ja oft steril vorge-
funden wird, scheint sich diese Art von Wasserinfection eigentlich recht selten
(bei hochliegendem Grundwasser, äusserst porösem Boden, und wo die Ver-
unreinigungsquelle des Bodens ganz nahe zu dem Brunnen liegt) zu ereignen.
Viel häufiger mag Bodenschmutz von oben her, durch Regen, in die Brunnen
hineingewaschen, oder durch unterirdische Gänge von Ratten u. Ae. ins Wasser
geleitet werden.
Wo unreine Bodenschichten (Abortgruben etc.) den Gebäuden anliegen,
können Schmutzstoffe und Bakterien auch durch die Wände hindui'ch sickern,
und im Inneren der Gebäude zum Vorschein treten, wo dieselben allmälig ein-
trocknen, zerstäuben, und so die Wohnung inficiren.
Bakterien und ähnliche Organismen mögen endlich durch die Bodenluft
vom Boden emporgehoben und so den Menschen zugeführt werden (siehe:
Malaria).
Einwirkung der Bodenverhältnisse auf die Gesundheit.
Die allerwichtigste Einwirkung der Bodenverhältnisse auf die Gesundheit
äussert sich in dem Einfluss auf gewisse en- und epidemische Krankheiten.
Diese Krankheiten weisen nämlich, sowohl in ihrer örtlichen Verbreitung,
wie auch bezüglich ihres zeitlichen Vorherrschens, eine mehr minder her-
vortretende Abhängigkeit von gewissen örtlichen und zeitlichen Ver-
174 BODEN.
hältnissen des Bodens auf, namentlich von solchen Verhältnissen, welche —
wie die Nieveauverhältnisse, die Feuchtigkeit des Untergrundes, das Ver-
halten des Grundwassers, die Permeabilität, Temperatur, Verunreinigung des
Bodens u. Ae. — auf die Zersetzungsprocesse, sowie auf die biologischen Ver-
hältnisse der Mikroorganismen im Boden Einiiuss zu nehmen geeignet er-
scheinen.
Der Einfluss des Bodens auf en- und epidemische Krankheiten mag
theils ein directer sein, indem unter günstigen örtlichen und zeitlichen
Bodenverhältnissen die specifischen, pathologischen Mikroorganismen in oder
auf dem Boden gezüchtet werden {= ektogene Infectionsstofie, Miasma, im
Gegensatz zu den im Körper gezüchteten Infectionsstoffen, das Contagium),
oder wenigstens längere Zeit hindurch in oder auf dem Boden lebend er-
halten, conservirt werden, — theils mag jene Einwirkung eine indirecte
sein, indem der Boden an gewissen Orten und zu gewissen Zeiten Stoffe er-
zeugt, welche dem menschlichen Körper (durch den Luftstaub, durch Getränke,
Speisen etc.) einverleibt, diesen zu schwächen, seine Resistenz gegen specifi-
sche Krankheitsstoffe, Infectionsorganismen zu vermindern geeignet sind,
so z. B. Fäulnisorganismen, Zersetzungsstoffe, welche Diarrhoe hervorrufen.
Am evidentesten erscheint der Einfluss des Bodens auf das Malaria-
Fieber. Die Krankheit ist endemisch an Orte gebunden, welche ihrerseits
durch niedrige Lage, feuchten Untergrund, durch stagnirendes Grundwasser,
mit pflanzlichen Ueberresten beladenen Boden etc. charakterisirt sind, — auch
wird dieselbe zeitlich von den warmen Jahreszeiten beherrscht, sowie von
gewissen zeitlichen Schwankungen der Bodenfeuchtigkeit (Durchfeuchtung nach
anhaltender Trockenheit, beginnendeAustrocknung überschwemmter Flächen etc.).
Endlich kann der Endemie durch Boden-Amelioration ein Ziel gesetzt werden,
welche jene örtlich und zeitlich disponirenden Eigenschaften des Bodens ver-
ändern oder gar aufheben, so z. B. durch Bodenanschüttung, Colmatage, durch
Wasserableitung des Bodens u. s. w.
Der Malaria- Kranke inficirt weder Menschen, mit denen er in Berührung
steht (ausser vielleicht bei directer Ueberimpfung von Kranken in Gesunde),
noch den Boden, auf welchen derselbe sich niederlässt. Der Infectionsstoff
der Malaria ist folglich ein rein ektogener Virus, ein Miasma.
Das Malaria-Miasma, der Malaria- Organismus konnte bisher ausserhalb
des menschlichen Körpers, im Boden, im Wasser nicht nachgewiesen werden.
Allem Anscheine nach lebt dieser Organismus nahe an der Oberfläche des
Bodens, weil an Malaria-Orten insbesondere das Aufgraben, Aufwühlen der
Bodenoberfläche zu heftigen Krankheits-Ausbrüchen führt. Von dem sich
trocknenden Boden scheint der Malariaorganismus mit Hilfe der ausströmenden
Bodenluft sich zu erheben, weil die Malariainfection hauptsächlich in der
Abendluft und in der Nachtluft sich auf die Oberfläche des Bodens emporzu-
heben pflegt.
Das Gelbe Fieber ist ebenfalls offenbar eine durch die Bodenverhält-
nisse maassgebend beeinflusste Krankheit. Das örtlich disponirte (endemische)
Gebiet ist eng und scharf begrenzt (Golf von Mexico); der Einfluss zeitlicher
Verhältnisse wird durch das Abhängen der Epidemien von der heissen Jahres-
zeit klar demonstrirt. Das Aufwühlen des Bodens an endemischen Orten, zu
kritischen Zeiten, steigert die Gefahr der Infection.
Der Krankheits-Organismus ist derzeit weder im Körper noch im Boden
näher bekannt. Derselbe scheint sowohl durch den Kranken, wie auch durch
leblose Gegenstände verschleppbar zu sein. Seine Reproduction findet jedoch
nur an örtlich und zeitlich disponirten Orten statt. Das Miasma .des gelben
Fiebers ist verschlepp bar. Es ist fraglich, ob der Krankheitskeim auch
im Körper, in zur Infection geeignetem Zustande fertig entwickelt werden
kann, — ob die Krankheit ausser dem ektogenen Infectionsstoff (Miasma)
auch einen entogenen (Contagium) besitzt.
BODEN. 175
Nach Pettenkofeu ist auch die Cholera eine verschleppbare, mias-
matische Krankheit, zu deren epidemischer Verbreitung gewisse Zustände und
eine Mitwirkung des Bodens als un erlässliche Bedingungen gehören.
Neuere Untersuchungen lassen jedoch kaum einen Zweifel darüber, dass die
Cholera auch ohne jegliche Mitwirkung des Bodens Erkrankungen, ja Epidemien
verursachen kann. Der Cholerakeim (der Kocn'sche Bacillus) wird auch im
Darme, in einem zur Virulenz geeigneten Zustand reproducirt (Contagium der
Cholera), und kann derselbe — durch Trinkwasser, Speisen etc. in den
Körper gelangt — Infection, ja (z. B. bei Contamination von Leitungswasser)
ausgebreitete Epidemien hervorrufen.
Nichtsdestow^eniger weisen sowohl das örtliche, als noch mehr das
zeitliche Verhalten der meisten Choleraepidemien auf eine thatsächliche
Mitwirkung der Bodenverhältnisse hin.
Vor Allem ist die örtliche Beschränkung, das endemische Vorherr-
schen hervorzuheben. Und wieder sind es — wie bei dem Gelb-Fieber —
tropische Klimata, feuchte Küsten- und Flussgebiete, wo die Cholera ihre
eigentliche Heimat hat: Ost-Indien. Ferner kann constatirt werden, dass auch
ausserhalb Indiens einzelne Länder, Gegenden, Städte und Stadttheile von der
Cholera überhaupt mehr angegriffen werden, als andere, — und zwar sind es
eben gewisse Bodenverhältnisse, wie tiefe, feuchte Lage, Unreinlichkeit in und
auf dem Boden, welche mit jener grösseren Verbreitung coincidiren.
Noch evidenter erscheint die Beeinflussung der Cholera durch zeitliche
Verhältnisse, namentlich durch die Jahreszeiten. Nach Pettenkofer ent-
fallen von 188-924 Choleratodesfällen in Preussen, Sachsen und Bayern in
den Epidemiejahren von 1836 bis 1874, 143-269 auf die drei Monate August
bis October, während die übrigen neun Monate blos 45-665, namentlich die
drei Monate März, Mai, Juni blos 892 Todesfälle aufweisen. Diese Erfahrung,
welche auch in anderen Ländern bestätigt wird, kann durch eine regere Ver-
mehrung der Cholerakeime im Inneren des menschlichen Körpers, sowie etwa
deren lebhaftere Verbreitung in August — October mittelst Communication u. Ae.,
nicht erklärt w^erden, vielmehr deutet dieselbe klar an, dass die epidemische
Ausbreitung der Cholera von Stoffen abhängt, deren Pteproduction der Ein-
wirkung anhaltender äusserer Wärme resp. Kälte untergeordnet ist, w^elche —
an geeigneten Orten, zu geeigneten Zeiten — ausserhalb des menschlichen
Körpers entwickelt w^erden.
Und wenn wir nun gezwungen sind die Einwirkung ektogener Stoffe bei
der epidemischen Verbreitung der Cholera zu acceptiren, so ist das Natür-
lichste, wenn wir annehmen, dass die Cholerakeime selbst an den disponirten
Orten und zur geeigneten Zeit auf feuchtem, mit organischen Stoffen durch-
setztem Boden sich entwickeln, umsomehr als wir wissen, dass die Kocn'schen
Bacillen auf feuchter Erde, bei geeigneter Temperatur sich schnell vermehren
und auf der Oberfläche ausbreiten. Es kann wohl kaum in Frage gestellt
werden, dass die Cholerakeime ausser auf dem Boden, auch im Wasser, und
auf der Oberfläche oder im Innern anderer Gegenstände (in Speisen, auf der
Wäsche u. s. w.) sich entwickeln und vermehren können.
Allem Anscheine nach besitzt sonach die Cholera, ausser dem im Innern
der Kranken (im Darme u. s. w.) sich bildenden entogenen Infections-
stoöe (Choleracontagium), auch einen ektogenen (Choleramiasma), welcher
sich an dazu disponirten Orten, zu geeigneten Zeiten, ausserhalb des mensch-
lichen Körpers reproducirt, und bei den meisten, und eben bei den ausge-
breitetsten Epidemien, die entscheidende Rolle spielt.
Es darf jedoch nicht unerw^ähnt bleiben, dass eine örtliche und zeitliche
Einwirkung auf die Cholera auch in der Weise sich gestalten kann, dass an
jenen disponirten Orten und zu geeigneten Zeiten nicht die Cholerakeime
selbst auf dem Boden, im Wasser etc. reproducht werden, sondern eventuell
176 BODEN.
anderweitige Stoffe und Keime (z. B. Zersetzungsstoffe, Fäulnisorganismen
u. Ae.), welche in den Körper gelangt, denselben den Cholerakeimen gegenüber
schwächen, zur schweren Erkrankung disponiren.
Wie dem auch sei, so viel ist klar, dass niedriger, feuchter, verunrei-
nigter Boden (ebenso auch verunreinigtes Wasser, unreine Wohnungen etc.)
der epidemischen Ausbreitung der Cholera, insbesondere den Herbstepidemien,
wesentlich Vorschub leistet, und dementsprechend kann uns jene erfreuliche
Erfahrung, dass mit dem Vorschreiten der öffentlichen Reinlichkeit
Choleraepidemien in allen Welttheilen immer seltener werden, nur als na-
türlich erscheinen.
Beziehungen des Bodens zum Abdominaltyphus. Vielfache
Erfahrungen weisen darauf hin, dass auch der Abdominaltyphus von ört-
lichen, namentlich von Boden-Verhältnissen beeinflusst wird, dass der-
selbe sich zähe an gewisse eng umschriebene Orte, Stadttheile, zuweilen an
einzelne Gebäudecomplexe hält, und zwar hauptsächlich an solche von tiefer
Lage, von feuchtem, mit animalischen Excrementen verunreinigtem Unter-
grund.
Buhl und Pettenkofer me auch deren Schüler bemühten sich auch
zeitliche Dispositions-Momente nachzuweisen. Die Behauptung, dass auch
der Typhus eine Herbstkrankheit sei — wie die Cholera, Malaria — konnte
jedoch nicht aufrecht erhalten werden, da auf mehrere Winter-, ja Frühjahrs-
epidemien hingewiesen wurde. Unbestritten, aber auch derzeit unerklärlich,
verbleiben jedoch die Beobachtungen in München, Berlin, Frankfurt a./M.
u. a. a. 0., welche für diese Städte als Erfahrungsgesetz feststellen, dass „der
Rhythmus des Abdominaltyphus im Allgemeinen der umgekehrte Rhythmus der
Tjrund Wasserschwankungen ist" (Soyka). Die Tragweite dieser Beobachtungen
wird durch jene anderen, nach welchen an einzelnen Orten der Rhytmus der
Grundwasserschwankungen und der epidemischen Ausbrüche des Typhus sich
parallel verhielten (z. B. in Budapest), kaum entkräftet, ja sogar noch unter-
stützt. Die beiden Beobachtungen ergänzen einander, und demonstriren, dass
zwischen den Grundwasserschwankungen und Typhusepidemien thatsächlich ein
zeitlicher Zusammenhang besteht, woraus wohl auch auf einen causalen
Zusammenhang geschlossen werden kann.
Pettenkofer selbst vermied eine nähere Erklärung dieses Zusammen-
hanges; seine Schüler hingegen suchten denselben klar zu stellen, und nahmen
an, dass die Grundwasserschwankungen auf die Zersetzungsprocesse des Bodens
und in gleicher Weise auch auf die biologischen Processe der Typhusbacillen
einen Einfluss ausüben, eine Annahme, welche näher nicht klargelegt werden
konnte, und umso mangelhafter ist, als dieselbe mit den Winter-, insbesondere
aber mit den Frühjahrsepidemien in gewissem Grade im Widerspruche steht.
Nach alldem kann die Auffassung, als stünde der Typhus unter aus-
schliesslicher oder auch blos maassgebender Einwirkung der Bodenverhältnisse,
nicht als bewiesen angenommen werden, umsoweniger da es kaum mehr be-
zweifelt werden kann, dass mit den Excrementen Typhöser (mit T y p h u s-C ont a-
gium) verunreinigtes Trinkwasser heftige Infection, selbst epidemische Aus-
brüche (bei Verunreinigung von Wasserleitungen) verursachen kann (Epidemie
von Fünfkirchen in Ungarn, 1890 — 1891.) Auf diese und ähnliche Art mögen
mehrere Thypusepidemien entstanden sein.
Nichtsdestoweniger kann nicht von der Hand gewiesen werden, dass eine
andere Gruppe von Epidemien, namentlich die schleichend ansteigenden,
längere Zeit hindurch anhaltenden, dann allmälig zurückgehenden, jedoch zu
gewissen Zeiten wieder zurückkehrenden, von unter örtlich und zeitlich ge-
eigneten Verhältnissen ausserhalb des menschlichen Körpers entstehenden
Infectionsstoffen (Typhus-Miasma) hervorgerufen werden. Darauf weisen
auch die biologischen Eigenschaften des Typhus-Bacillus hin. (S. oben.)
BODEN. 177
Es darf jedoch abermals nicht unerwähnt bleiben, dass die örtlichen
Verhältnisse, welche dem Typhus günstig erscheinen (wie tiefe Lage, feuchter,
verunreinigter Boden und Untergrund) möglicherweise auch derart auf die
Ausbreitung der Krankheit Einfluss nehmen, dass unter ihrer Mitwirkung
etwa Stoffe (Fäulnisstoffe, Fäulnisorganismen) gebildet werden, welche den
Organismus des Menschen den Typhusbacillen gegenüber schwächen.
Die Erfahrung, dass in neuerer Zeit so wie die Cholera, auch der
Typhus in seiner epidemischen Ausdehnung auffallend nachgelassen hat, mag
ihre Erklärung nicht nur in der verbesserten Wasserversorgung, sondern
auch — vielleicht in erhöhtem Maasse — in den Fortschritten der öffentlichen
Reinlichkeit linden, welche dem ektogenen Entstehen der Typhuskeime, oder
wenigstens der zum Typhus disponirenden Infectionsstoffe erfolgreich ent-
gegenwirkt.
Die Sommerdiarrhoe (Enteric, Cholera infantum) weist auch nahe
Beziehungen mit feuchtem, verunreinigtem Boden, und mit der warmen Jahres-
zeit auf. Weniger ist dies bezüglich der Diphtherie nachzuweisen, ob-
gleich manche Anzeichen dafür sprechen, dass dieselbe durch feuchten, ver-
unreinigten Boden, sowie feuchte, schmutzige Wohnungen begünstigt wird.
Zuweilen deutet die Diphtherie ein auffallend zähes Anhaften an gewisse
Wohnungen an. Es ist nicht auszuschliessen, dass in solchen Fällen der Diphtherie-
bacillus ein Züchtungsterrain auf jenem nassen Boden, resp. in den feuchten
Wohnungen gefunden, obzwar derDiphtheriebacillus, ausserhalb des menschlichen
Körpers, viel schwieriger zu züchten ist, als z. B. der Cholera-, oder Typhus-
bacillus. Andererseits ist es jedoch auch möglich, dass der Diphtheriekeim an
jenen feuchten Flächen blos conservirt, nicht aber neu entwickelt wird.
Noch schwieriger sind die Beziehungen des Bodens zur Tuberculose,
zum Kropf und Cretinismus, zu der Ruhr und noch anderen Krankheiten
klar zu stellen, welche insgesammt einen mehr-minder augenfälligen Paralellis-
mus mit gewissen örtlichen und zeitlichen Verhältnissen des Bodens aufweisen.
Andere Wirkungen der Bodenverhältnisse auf die Gesund-
heit. Erhöhte Lage erleichtert eine zweckentsprechende Canalisation, be-
günstigt die öffentliche Reinlichkeit; hält die Wohngebäude trocken, warm,
angenehm, unterstützt die freiere Bewegung der Luft, dieselbe befördert mit
einem Wort im allgemeinen die Gesundheit. Eine niedrige Lage hin-
gegen, eine muldenförmige Bodenformation ist meistens ungesund, weil sich
hier Grundwasser und Unreinlichkeiten leicht ansammeln, weil das Trink-
wasser in der Regel schlecht ist, die Luft stagnirt, die Canalisation Schwie-
rigkeiten begegnet, u. s. w.
Auch die Structur des Bodens ist beachtenswerth. Undurchlässiger
Boden sammelt Wasser, Pfützen an; stark wasserbindender Boden gibt feuchten
Untergrund, feuchte, kühle, dumpfe Keller und Parterrewohnungen; ein Boden
mit energischer Capillarität ist ebenfalls meistens feucht, u. s. w., während
ein poröser Boden einen trockenen und leicht trocknenden Baugrund bietet.
Besonders nachtheilig wirkt oberflächliches, stark schwankendes Grund-
wasser, weil dasselbe den Untergrund und die Wände der Gebäude feucht
erhält, Holztheile schimmelig macht, Keller und andere unterirdische Locali-
täten und Einrichtungen überfluthet. Hochstehendes und stark schwankendes,
ebenso stagnirendes Grundwasser liefert ungesundes Trinkwasser, weil da die
oberflächlichen, meistens verunreinigten Bodenschichten ausgelaugt werden,
dem ähnlich ist es mit den unter Abortgruben, Canälen lagernden Boden-
partien. Hochstehendes Grundwasser gibt ausserdem im Sommer warmes, sich
leicht zersetzendes Brunnenwasser ab.
Ein verunreinigter Boden ist ungesund, weil derselbe durch Zer-
stäubung seiner Oberfläche, durch das in die Tiefe sickern seiner Zersetzungs-
stoffe und Organismen, durch Imprägniren der Fundamente der Gebäude,
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. J2
178 BODEN.
die Luft, das Trinkwasser, das Innere der Wohnungen mit Fäulnis- und
Krankheitsstoffen und Organismen inficirt.
Die Temperatur des Bodens regulirt die Temperatur des Trinkwassers
und hält es angenehm kühl oder erwärmt dasselbe (bei ungenügend tief ge-
legten Wasserleitungsröhren, bei oberflächlich liegenden Brunnen) den Sommer
hindurch unleidlich. Auch die Temperatur und Brauchbarkeit der Keller
hängt vornehmlich von der Bodentemperatur ab.
Assanirung des Bodens. Die wichtigste Aufgabe der Bodenassanirung
ist der Schutz gegen Feuchtigkeit und Schmutz.
Wohnungen, Spitäler, Kasernen u. s. w. sollten womöglich auf erhöhtem
Terrain, auf porösem, in Bezug auf Reinlichkeit und Grundwasserverhältnisse
genau controllirtem Boden gebaut werden. Flache, ja muldenförmige Gründe
sollten vor dem Bau erhöht, aufgeschüttet werden. Stehende Wässer sind
durch Gräben und Canäle abzuleiten, die zurückbleibenden Bodensenkungen
aufzufüllen.
Besonders wichtig erscheint das Ankämpfen gegen oberflächliches Grund-
wasser. Canalisation mag schon auf den Stand des Grundwassers günstig
einwirken, noch erfolgreicher wirkt hier die Drainage. Oberflächliches, stag-
nirendes Grundwasser ist oft durch Schwindbrunnen zu entfernen. Die ober-
flächliche, impermeable, wassersammelnde Bodenschichte wird mit brunnen-
artigen Gruben durchgebohrt und die Grube mit Steintrümmern verschüttet.
Das oberflächliche Wasser sickert hier zu den tieferen Bodenschichten hinab.
Bei zur Feuchtigkeit neigenden Bodenverhältnissen ist auf wasser-
dichte Bauart der Häuser Gewicht zu legen, und eine solche Bauführung von
Seite der Behörde anzustreben.
Regenwasser soll, mittelst angemessener Pflasterung prompt abgeführt
werden.
In Bezug auf die Unreinigkeit des Bodens ist das wichtigste der in den
Aborten, Höfen, auf den Strassen sich ansammelnde Schmutz, namentlich Fäcal-,
Dungstoffe, Gewerbeabfälle u. Ae. Diese müssen nicht nur sorgfältigst ab-
geführt werden, nicht nur sollten die Höfe, die Strassen gefegt, gegen Staub-
bildung zweckmässig gepflastert und begossen werden: die Bodenoberfläche
sollte vielmehr auch gründlich aufgewaschen werden. Alle jene Gruben,
Canäle, Behälter, welche in und um unsere Wohnungen faulende Stoffe auf-
zunehmen bestimmt sind, sollten impermeabel, wasser- und schmutzdicht
construirt sein.
Bei Fundirung der Gebäude sind verunreinigte, insbesondere faulende
Bodenschichten abzutragen und mit reiner, poröser Aufschüttung zu ersetzen.
Durch energische Handhabung der öffentlichen Reinlichkeit ist jede
weitere Verunreinigung des Bodens wohl hintanzuhalten, ja es ist sogar zu
erwarten, dass der früher im Boden sich angesammelte Schmutz allmälig ver-
schwindet und so eine wirkliche Asepsie des Städtebodens erreicht
wird, welche eine Grundbedingung der Gesundheit und der Wohnlichkeit der
bewohnten Orte bildet.
Hygienische Untersuchung des Bodens. Nach dem oben Dar-
gestellten erscheint es wohl als selbstverständlich, dass die Hygiene derzeit
weniger auf die Systeme und Classiflcationen der Geologie, auf die geologischen
Formationen, als auf die physikalischen und chemischen Eigen-
schaften des Bodens Gewicht legt, namentlich auf das Verhalten des-
selben gegenüber der Feuchtigkeit, der Luft, der Temperatur, der den Boden
verunreinigenden Schmutz Stoffe, wozu neuestens die wichtige Frage über das
Verhalten der Bakterien in und auf dem Boden sich anschliesst.
Untersuchung der physikalischen Eigenschaften des
Bodens. Die Feststellung der Niveau Verhältnisse des Bodens erfolgt
nach den Regeln der Vermessungskunde. Die Feststellung der den Unter-
BODEN. 179
grund bildenden Bodenschichten fällt in das Fachgebiet der Geologen.
Einen orientirenden Einblick in die hygienisch wichtigsten oberflächlichen
Bodenschichten gewinnt man oft bei Fundamentaushebungen, sowie bei Cana-
lisation, Legung von Wasserleitungs-, Gasröhren und ähnlichen Arbeiten.
Die oberflächlichen Bodenschichten können aber auch mittelst Boden-
bohrungen aufgedeckt werden. Hiezu dienen Tellerbohrer, mit 2 — 4 und
mehr Meter langen Stangen, und Tellerartigen, schraubenförmig angesetzten
Bohrern, von 10 — 15 und mehr cm Durchmesser. Es ist wichtig wenigstens
jene Bodenschichten aufzudecken, in welche die Fundamente der Gebäude etc.
eingelagert werden, — ferner jene Schichten, welche das Grundwasser ent-
halten.
Der Bohrer holt von den verschiedenen Schichten Bodenproben empor,
welche nun untersucht werden können auf:
Korngrösse (mittelst Blechsieben, mit Löchern von 3 — 1 und weniger
inm Weite, ferner mittelst Schlamm-, Sedimentir- und Spülapparaten, oder
aber, gewöhnlich, mittelst einfacher Inspection), auf Luftgeh alt, resp.
Porenvolumen, ferner auf Porengrösse, auf Permeabilität des Bodens
für Luft etc.
Zur Untersuchung der Grundluft werden eiserne oder bleierne Röhren
in den Boden, bis zu verschiedenen Tiefen eingesenkt, und durch dieselbe,
mittelst Aspiration, die Grundluft angesogen und — zur Bestimmung des
Kohlensäuregehaltes — durch titrirtes Baryt-, Kalk- oder Strontianwasser
geleitet.
Die Feuchtigkeitsverhältnisse des Bodens werden oft schon durch
die äussere Gestaltung der Bodenoberfläche, ferner durch die Pflanzenvegeta-
tion, soA\'ie etwa durch vorhandene Wasseransammlungen, Sümpfe, Teiche,
Flüsse etc. angedeutet. Die vom Bohrer hervorgehobenen Bodenproben lassen
eine annähernd exacte Bestimmung des physikalischen Verhaltens des Bodens
gegen Feuchtigkeit zu; namentlich können daran festgestellt werden:
Die actuelle Feuchtigkeit des Bodens (eine gewogene Menge der
Probe wird scharf getrocknet und der Gewichtsverlust bestimmt), die Durch-
lässigkeit des Bodens für Wasser, die Wassercapacität, die wasser-
bindende Kraft, resp. capillare Bindekraft und die capillare
Leitung des Bodens etc.
Der Stand und die Schwankungen des Grundwassers werden
gewöhnlich an Brunnen beobachtet, welche bis in das Grundwasser hinein
geführt wurden.
Die Entfernung des Grundwassers von der Bodenoberfläche kann man
mit beliebigem Messapparat abmessen. Zu fortlaufenden Grundwasserbeobach-
tungen eignen sich stabile Messbänder, welche unten, im Wasser, eine
Schwimmkugel führen, an der Bodenfläche aber, im geschlossenen Häuschen,
über eine Ptolle geführt werden und mit Gegengewicht versehen sind, dessen
Bewegungen — in umgekehrter Pachtung — die Erhebungen und Senkungen
des Grundwassers verzeichnen.
Die Richtung der Strömung des Grundwassers kann — wenigstens
annähernd — von der äusserlichen Configuration des Terrains gefolgert werden;
genauer wird dieselbe mittelst Nivellirung des Grundwasserspiegels an mehreren
Brunnen oder Bohrlöchern bestimmt.
Zur Messung der Bodentemperatur dienen langschenklige Thermo-
meter, deren Kugel bis zur gewünschten Tiefe im Boden hinabreicht, während
die Skala sich oberhalb der Bodenoberfläche, in einem geschlossenen Häus-
chen, befindet. Es können aber auch kurze, unempfindlich gemachte Thermo-
meter angewendet werden, welche in Zinkröhren, die bis zur gewünschten
Tiefe versenkt sind, mittels einer Leitschnur hinabgelassen, und nach An-
12*
180 BODEN.
nähme der unten herrschenden Temperatur schnell emporgehoben und ab-
gelesen werden.
Chemische Untersuchung des Bodens. Hiezu können die bei
der Fundamentausgrabung hervorgeholten oder aber mittelst des Löffelbohrers
emporgehobenen Bodenproben verwendet werden.
Die mineralisch"en Bestandtheile des Bodens werden nach den
Regeln der analytischen Chemie bestimmt.
Die organische Verunreinigung des Bodens erkennt man oft
schon durch blosse Besichtigung (z. B. Kehricht, gewerbliche Abfallpro-
ducte etc.). Dunkle Farbe des Bodens weist gewöhnlich auf organische
Verunreinigung hin. Der Geruch des Bodens verräth z. B. modernde Pflan-
zenüberreste, oder faulende Sickerstoffe aus den Canälen u. Ae.
Das Rösten einer trockenen Bodenprobe in der Eprouvette verräth durch
Geruch selbst geringfügigere Verunreinigung des Bodens.
Zur Erkennung animalischer Schmutzstoffe bestimmt man den
Nitrogengehalt der Bodenprobe (nach Kjeldahl). Fäulnis dieser Stoffe
im Boden wird durch dessen Ammoniakgehalt verrathen. Eine Probe (etwa
50 g) wird im Kochkolben mit verdünnter, ammonfreier Natroncarbonatlösung
überschüttet und gekocht; über die Oeffnung des Kölbchens legt man ange-
feuchtetes Curcuma-Papier: reiner, nicht faulender Boden verursacht höchstens
eine ganz schwache Bräunung des Reagenz-Papiers, welche beim Trocknen
des Papiers rasch verschwindet, — unreine und faulende Böden verursachen
eine eben solche, jedoch viel intensivere Bräunung des Curcuma-Papiers. Ge-
nauere Analysen werden nach den allgemeinen Regeln der analytischen Chemie
ausgeführt.
Oxydirte animalische Schmutzstoffe werden durch den Salpetersäure-
gehalt (resp. Salpetrigsäuregehalt) des Bodens angedeutet. (Eine gewogene
Bodenprobe wird mit destillirtem Wasser extrahirt und im aliquoten Theile
des Wassers die Salpeter- resp. Salpetrigsäure bestimmt.)
Pflanzliche Ueberreste im Boden werden mittelst organischer
Kohlenstoffanalyse ermittelt.
Bakteriologische Untersuchung des Bodens. Dieselbe wird
im Allgemeinen nach den Regeln dieser Disciplin ausgeführt (vergl. „Bakte-
riologische Untersuchungen''). Insbesondere ist die Probeentnahme rasch und
die Verimpfung vorsichtig auszuführen.
Die Probe kann mittelst des Löffelbohrers oder mittelst des Fränkel'-
schen Bohrers von der Tiefe geholt w^erden. Letzterer besitzt an dem unteren
Ende einen etwa 12 cm langen und 2 cm tiefen Ausschnitt, welcher zur Auf-
nahme der Bodenprobe dient und mittelst einer Hülse verschlossen ist. Bei
der Einbohrung des sterilisirten Bohrers in die Erde (Linksbohrung) bleibt
die Hülse und der Ausschnitt verschlossen. Zur gewünschten Tiefe angelangt
wird zuerst rechts gebohrt, wobei sich die Hülse öffnet und der Ausschnitt
mit Bodenprobe sich füllt, dann wird abermals links gebohrt — die Hülse
verschliesst den Ausschnitt und der Bohrer sammt Bodenprobe wird empor-
gehoben.
Zur Aussaat der Bodenprobe gibt es zahlreiche Methoden, welche alle
eine möglichst genaue Abmessung (nach Raum oder Gewicht) kleinster Pröb-
chen, und deren feinste Vertheilung in den Nährstoffen bezwecken. Fhänkel
u. A. führen die Bodenprobe direct in Nährgelatine; Beumer u. A. verth eilen
das Pröbchen in sterilisirtem Wasser, schütteln gut durch und nehmen vom
Wasser aliquote Theile zur Anlegung von Plattenculturen.
J. V. FODOE.
CUR-ANSTALTEN. 181
Cur-Anstalten (Sanatorien) sind Heilstätten, in denen neben den auch
in den Krankenhäusern angewendeten Heihnitteln und Metlioden diejenigen Heil-
factoreu, wie der Genuss Irischer, besonders gesunder und reiner See-, Wald-
oder Gebirgsluft neben den verschiedenen balneologischen oder sonstigen
physikalischen Heilmitteln besonders gepflegt werden, die erfahrungsgemäss
einen besonders stärkenden Einfluss auf den Organismus haben. Zur Be-
handlung in den Cur-Anstalten oder Sanatorien geeignet sind daher weniger
die acuten als die subacuten und chronischen Störungen der Gesundheit. Im
weitesten Sinne sollten zwar auch die Krankenhäuser diese Aufgaben zu er-
füllen im Stande sein, aber schon das erste und wächtigste Heilmittel aller
Cur-Anstalten, die reine frische Luft, fehlt in den meisten Krankenhäuser, die
im Dunstkreis grosser Städte und Industriebezirke ihren Sitz haben müssen.
Daher liegen die Cur-Anstalten weit ab von diesen, wenn möglich am Walde,
im Gebirge oder an der See. Es liegt auf der Hand, dass die Anforderungen,
die man in hygienischer und gesundheitstechnischer Beziehung an die Cur-
Anstalten stellen muss, verschieden sein werden nach den Aufgaben, die diese
Anstalten sich stellen. Dieselben ergeben sich am besten, wenn man die Cur-
Anstalten in einzelne Categorien sondert, mit besonderer Berücksichtigung
dessen, w^as sie für dss Volkswohl im Allgemeinen, vorzugsweise aber für die
unbemittelten Classen, von deren Gesundheit in erster Linie das Wohl des
Staates abhängt, leisten sollen. An eine Anzahl kleinerer Cur-Anstalten für
besondere Specialzwecke, wie Morphium-, Alkohol-, Cocain-Entziehung, an
solche für Magenkranke, Nervenleidende und Keconvalescenten, wie sie so
zahlreich in allen Ländern der Welt für ein vermögendes Privatpublicum
existiren, sind kaum andere Anforderungen zu stellen, als an ein comfortabeles
bürgerliches Wohnhaus oder ein gutes Hotel. Diesen Anforderungen in Bezug
auf Wasserversorgung, eine zweckentsprechende, den localen Verhältnissen
angemessene Entfernung der Fäkalien, Heizung und Ventilation zu genügen,
fordert das eigene Interesse des Besitzers.
Anders werden die hygienischen Forderungen, wenn die Anstalten einen
grösseren Umfang erreichen, wenn sie zur Aufnahme von Kranken eingerichtet,
werden, die unter Umständen eine Gefahr für ihre Umgebung bieten könnten.
Man kann die Cur-Anstalten, soweit sie für das allgemeine Volkswohl
in Betracht kommen, in vier Categorien eintheilen.
Erstens: die für Keconvalescenten — Reconvalescentenhäuser.
Zweitens: die Cur-Anstalten für scrophulöse und tuberculöse Kinder, die
Seehospize und die Heilstätten für Kinder in den Soolbädern.
Drittens: die Heilanstalten für Lungenkranke, und
Viertens: die Volksheilstätten für Nervenkranke, Unfallkranke und für
solche chronische Leiden, die nicht in die 3 ersten Categorien fallen.
Wenn auch in mancher Beziehung die Aufgaben aller dieser Anstalten
sich decken, haben doch schon theoretische Erwägungen und praktische Gründe
frühzeitig zur Trennung geführt. Dass dieselben aber für das allgemeine
Volkswohl nothwendig und für die Kräftigung und Erhaltung unserer Gene-
ration von grösster Bedeutung sind, wird am besten durch die Bewegung zu
Gunsten dieser Heilanstalten, die zur Zeit alle civilisirten Länder durchzieht,
bewiesen, während andererseits die Invaliditäts- und Altersversicherungs-
Anstalten sich der Errichtung eigener Heilstätten, in denen sich die Genesung
und Kräftigung der versicherten Mitglieder sicherer und schneller als in den
Krankenhäusern erreichen lässt, nicht mehr entziehen können.
Was zunächst die Reconvalescentenheime, also Curanstalten anlangt,
die die Aufgabe haben, ihre Insassen nach überstandenen schweren acuten Erkran-
kungen und Verletzungen noch weiter für die Anstrengungen des Erwerbslebens
zu kräftigen und stärken, so sind derartige Anstalten in England auf Grund
einer reichen und grossherzigen Privatwohlthätigkeit schon lange und zwar
182 CÜR-ANSTALTEN.
mit vielen tausenden von Betten in Betrieb, während die romanischen und übrigen
germanischen Staaten erst in neuerer Zeit anfangen diesbez. einiges zu leisten.
Die Anforderungen, die man in hygienischer Beziehung an die Reconvales-
centenheime stellen muss, wären in erster Linie ruhige, gänzlich staubfreie
Lage, ausgedehnte Gärten- oder Park-Anlagen mit sonnigen und schattigen,
ruhigen Sitz- und Liege-Plätzen, während die Gebaulichkeiten zerstreut und
möglichst luftig sein müssten. Unentbehrlich sind grössere confortable Tage-
räume, in denen die Genesenden sich bei schlechter Witterung tagüber auf-
halten können. Man hat mit einigem Recht betont, dass Reconvalescenten-
heime nicht allzuweit von grossen Städten resp. den Krankenhäusern, zu deren
Ergänzung und Entlastung sie dienen sollen, entfernt liegen dürfen, damit die
Ueberführung der Kranken leicht zu bewerkstelligen und eine Controle von
Seiten der Krankenhausärzte leicht ausführbar ist. Diese Forderung nach
einem innigen Connex mit den Krankenhäusern und dem Verlangen nach
einer möglichst gesunden und ruhigen Lage mit einander zu vereinigen, wird
in einzelnen Fällen schwer, in anderen leichter zu erreichen sein, wobei noch
auf die Abneigung Genesender sich weit von ihren Angehörigen zu entfernen
Rücksicht genommen werden muss. Dass es wünschenswerth ist, die Recon-
valescentenheime nach Art der grossen städtischen Krankenhäuser mit einer
modernen Wasserleitung, Canalasition und Heizung zu versorgen, liegt auf
der Hand, doch werden in dieser Beziehung häufig die verfügbaren Mittel
den Ausschlag geben müssen, was sich erreichen lässt, wenigstens solange
Staat und Commune die Verpflichtung zur Errichtung von Reconvalescenten-
anstalten nicht anerkennen. Je grösser der Umfang der einzelnen Anstalten
ist, desto strenger wird man in dieser Beziehung sein, während man bei
kleinern Anstalten auf manches verzichten kann und muss.
Unbedingt aber sind Isolirräume für ansteckende Erkrankungen erfor-
derlich, sowohl bei Recidiven überstandener als beim Auftreten neuer Infections-
krankheiten, ferner Desinfectionsapparate und je nach der Grösse der Anstalten
mehr oder weniger ausgedehnte Bade-Einrichtungen. Ob ein eigener Anstalts-
arzt nothwendig sein wird oder die Ueberwachung der Kranken im Neben-
amt von einem Krankenhaus- oder Privat-Arzt ausgeübt wird, wird von der
Grösse der einzelnen Anstalten abhängen.
Aelter als die Reconvalescentenheime sind, wenigstens auf dem Cotinent
die Heilstätten für Kinder in den Sool- und Seebädern (Seehospize).
Nachdem auch hierin England und Frankreich mit gutem Beispiel vorangegangen
waren, entstand zunächst an der Nordsee auf Beneke's Anregung das grosse
Seehospiz in Norderney, dem bald andere an der Nord- und Ostsee folgten. Etwas
später fand die Gründung ähnlicher Anstalten am mittelländischen Meere statt,
während die Kinderheilanstalten in den verschiedensten Soolbädern sich aus
localen kleinern Anfängen allmählich immer weiter entwickelt haben. Die
grosse hygienische Bedeutung aller dieser Kinderheilstätten liegt darin, dass
es bei Kindern leichter als bei Erwachsenen durch Anwendung der hygienisch
diätetischen Heilfactoren gelingt, sowohl vorhandene Erkrankungen zu heilen,
als auch die Anlage zu Scrophulose und Tuberculose zu tilgen. Licht, Luft,
gute Ernährung und ein vorsichtiger Gebrauch der Bäder sind die Heilmittel,
die besonders in den Seehospizen in so ausgezeichneter Weise zur Verfügung
stehen und damit sind auch die hygienischen Anforderungen an derartige
Heilstätten gegeben. Nicht zu grosse Baulichkeiten, weite Bauplätze, Schutz
vor zu heftigen Winden, dagegen ein guter Strand und die Möglichkeit, die
salzreiche Ozonluft des Meeres einzuathmen, das sind die Anforderungen, die
man an ein Seehospiz stellen muss. Besondere Aufmerksamkeit erfordert die
Wasserversorgung an denjenigen Küsten, die wie die Nord- und Ostsee ein
flaches Gestade und ein flaches Hinterland haben, während die Entwässerung
und Fortschaffung der Fäkalien ebensowenig wie bei den heutigen Fortschritten
CUR-ANSTALTEN. 183
der Technik die Desinfection und die Isolirung bei ansteckenden Erkrankungen
irgend welche Schwierigkeiten bietet. Grössere Seehospize werden, be-
sonders wenn, wie in den französischen und englischen und auch in Norderney,
diesem ersten und grössten deutschen Sanatorium an der See, eine Wintercur
ins Auge gefasst wird, einer Centralheizung kaum entbehren können. Für
diese und Lüftungsanlagen werden dieselben Einrichtungen wie in den Kran-
kenhäusern genügen.
Von derselben Bedeutung wie die Seehospize und Soolbäder für die
Jugend sind die Heilanstalten für Lungenkranke für das höhere
Alter, besonders wenn dieselben im ausgedehnten Maasse den untern Yolks-
classen und Mitgliedern der Krankencassen leicht zugänglich gemacht werden.
In allen Staaten Europas ist jetzt eine lebhafte, schon von bedeutendem
Erfolg gekrönte diesbezügliche Agitation im Gange.
Die Heilstätten für Lungenkranke müssen aber Sanatorien im eigentlichen
Sinne des Wortes bleiben und es hiesse den Werth derselben in Frage stellen,
wenn man aus denselben, ähnlich wie in England Schwindsuchtshospitäler machte,
in denen neben heilbaren auch unheilbare Lungenkranke Aufnahme finden
können. Letztere müssen absolut ausgeschlossen werden. Die Frage, unter
welchen klimatischen Verhältnissen sich die besten Eesultate bei der
Behandlung chronischer Lungenschwindsucht erzielen lassen, ist eine Zeit lang
viel umstritten gewesen. Vor allem nahm man an, es gäbe eine schwindsuchts-
freie Zone, in denen Phthisis pulmonum überhaupt nicht vorkomme und in
derselben seien auch die Aussichten auf eine Heilung besonders günstig.
Beide Annahmen haben sich nicht als richtig erwiesen und, wenn es sich
auch nicht leugnen lässt, dass in höher gelegenen Orten, insbesondere in
den windgeschützten Hochthälern der Alpen die Resultate der Phthisistherapie
besser sind als an anderen Orten, so sind in dieser Beziehung doch noch
eine Menge anderer Factoren neben dem verminderten Luftdruck zu berück-
sichtigen. Sicherlich sind die Resultate in Falkenstein 300 Meter und
Hohenhonnef 200 Meter über dem Meere nicht schlechter als die in Görbersdorf,
welches 600 Meter in angeblich immuner Zone liegt. In den deutschen
Mittelgebirgen, Harz, Thüringer Wald und dem Erzgebirge wird man unter
Berücksichtigung der klimatischen Verhältnisse nicht so hoch hinaufgehen
können als im Schwarzwald oder gar in den Alpen. Jedenfalls aber muss
bei der Errichtung solcher Anstalten in erster Linie auf eine windgeschützte
sonnige Lage gesehen werden, in denen eine ausgiebige Anwendung der
Freilichtcur, des Liegens und Sitzens im Freien möglich ist. Eine gut ein-
gerichtete Heilanstalt für Lungenkranke muss mit der besten Einrichtung
für Heizung und Ventilation versehen sein, welche auch in der Nacht das
Schlafen bei offenem Fenster ermöglicht. Die einzelnen Krankensäle sollen
nicht zu gross sein, damit die Kranken einander nicht stören, die Zwischen-
decken und Wände so stark, dass die einzelnen Räume möglichst schalldicht
von einander getrennt sind. Zur Verhinderung von Ablagerung grösserer
Mengen von Tuberkelbacillen hat man neben der Aufstellung von Speigefässen
mit Sublimatlösung Anstrich der Wände mit Oelfarbe und Belegen des Fuss-
bodens mit Linoleum auf einer Gyps- oder Cement-Unterlage empfohlen. Un-
nöthige Teppiche sind zu vermeiden. Corridore und Treppen sollen hoch
und geräumig, im Winter heizbar sein. Desinfectionsapparate sind ein uner-
lässliches aber leicht zu erfüllendes Postulat. Die Beseitigung der Fäkalien
wird bei isolirt gelegenen Anstalten und den mit denselben verbundenen
kleineren oder grösseren landwirthschaftlichen Betrieben keine Schwierig-
keiten bieten. Heilanstalten für Lungenkranke erfordern bei dem notorischen
Leichtsinn und der Neigung zu Excessen, die bei den meisten Phthisikern
vorhanden ist, eine energische und umsichtige ärztliche Leitung, die sich
neben der Ernährung und ärztlichen Behandlung mit Bädern, Abreibungen
184 DESINFECTION.
und den nothwendigen Medicamenten, auf die ganze Lebenshaltung der
Kranken erstrecken muss. Ob der Einfluss der Seeluft in den verschiedenen
Klimaten ein gleich günstiger wie der der Gebirgsluft ist, müssen genauere
Beobachtungen erst lehren. Da aber neben einer guten Ernährung der
reichliche Genuss freier Luft die Hauptsache ist, ist dieses wahrscheinlich.
Immer aber werden die localen Verhältnisse bei Auswahl geeigneter Plätze
eine grosse Rolle spielen und Norddeutschland beispielsweise auf die See-
küsten und Mittelgebirge angewiesen sein, während man in Süddeutschland,
Bayern, der Schweiz und Oesterreich leicht geeignete Orte im Hochgebirge
wird finden können.
In den letzten Jahrzehnten ist in Folge der Krankenkassengesetzgebung,
der Invaliditäts- und Altersversicherung die Errichtung besonderer Heil-
stätten für Unfallverletzte, Nervenkranke und andererweit chro-
nisch Leidende eine immer dringendere geworden, da die genannten Kassen ein
ganz besonders leicht ziffermässig zu berechnendes Interesse daran haben, die
Kranken schnell zu heilen und den Eintritt der Invalidität möglichst lange
hintan zu halten. Zum Theil haben derartige Curanstalten dieselben Aufgaben
wie die Eeconvalescentenheime, jedoch wird durch die grosse Anzahl ver-
schiedenartiger Erkrankungen die Aufgabe derselben eine verwickeitere. Es
wird neben einer reichlichen Ernährung, guter Luft, der Gelegenheit zu stär-
kenden Spaziergängen auch darauf gesehen werden müssen, dass es möglich
ist, die Kranken zu beschäftigen. Es wird nicht immer leicht sein, diese For-
derung zu erfüllen und oft wird es nothwendig sein neben einer Beschäf-
tigung in landwirthschaftlicher oder Gartenarbeit zu den Uebungen an heilgym-
nastischen Apparaten zu greifen um die Kranken zu beschäftigen. Die
hygienischen Einrichtungen werden nach denselben Principien' wie bei den
Lungenheilanstalten zu erledigen sein, wenn auch die Sorge um die Besei-
tigung der Spuke und sonstigen infectiösen Secrete geringer sein wird.
In allen Volksheilstätten, Reconvalescentenheimen, Lungenheilanstalten
u. s. w. ist eine Trennung der Geschlechter durchzuführen und wenn mög-
lich solche nur für männliche und nur für weibliche Kranke zu errichten,
wie das auch bei den bis jetzt errichteten Curanstalten für Unbemittelte ge-
schehen ist. PELIZAEUS.
Desinfection. Allgemeines. Eine der wichtigsten Maassnahmen zur
Bekämpfung der Inf ectionskrankheiten ist die Desinfection, d.h. die Ver-
nichtung der von denKranken producirten und auf die Gegen-
stände ihrer Umgebung übertragenen Infectionsstoffe, welche
nach den Forschungen der Neuzeit ihre Ansteckungsfähigkeit bestimmten
Mikroorganismen, den theils schon bekannten, theils noch unbekannten Er-
regern der verschiedenen Krankheiten verdanken. Diese Infectionskeime zu
vernichten, oder vielmehr richtiger gesagt, die mit Krankheitserregern infi-
cirten Gegenstände von diesen zu befreien, zu desinficiren, das ist eine
der vornehmsten Aufgaben der praktischen Hygiene.
Seitdem man als die Erreger einer grossen Zahl der verschiedensten
und gerade der gefährlichsten und verheerendsten Krankheiten, wie Milz-
brand, Tuberculose, Diphtherie, Typhus, Cholera, Tetanus,
Pyämie, Rotz, Rothlauf u. s. w. bestimmte niedere, zu den Spaltpilzen
gehörende Mikroorganismen erkannt hat, ist die Möglichkeit gegeben, durch
Bekämpfung und möglichst ausgedehnte Vernichtung dieser Spaltpilze mit
mehr oder weniger Erfolg der Ausbreitung der betreffenden Krankheiten ent-
gegenzuarbeiten.
Nach HtJppE kann man vier Stufen von ungünstiger Beeinflussung von
Mikroorganismen unterscheiden, nämlich:
1. Das Wachsthum der Bakterien wird nicht gestört, aber die patho-
genen Eigenschaften derselben werden abgeschwächt = Abschwächung.
DESINFECTION. 185
2. Die Vermehrung- der Organismen wird verhindert, ohne dass sie selbst
vernichtet werden = Asepsis.
3. Die vegetativen Formen der Mikroorganismen werden vernichtet, es
bleiben jedoch die Dauerformen (Sporen) am Leben = Antisepsis.
4. Sowohl die vegetativen als auch die Dauerformen werden vernichtet =
Desinfection oder Sterilisation.
Es hat also die Desinfection mit der Heilung der Krankheiten direct
nichts zu thun, sondern sie hat nur die Aufgabe, die vorhandene Krankheit
auf eine möglichst geringe Zahl von Individuen zu beschränken, und zwar
dadurch, dass — me schon erwähnt — die infectiösen Absonderungen der
Kranken desinficirt werden. Es ist nun nicht nöthig, dass durch die Desin-
fection die mit Krankheitserregern durchsetzen Ausleerungen, wie Faeces und
Sputa, die ja enorme Mengen harmloser Saprophyten enthalten, vollständig
keimfrei gemacht werden; sondern es genügt, wenn zum Zweck der Unschäd-
lichmachung dieser Auswurfstoffe, dieselben nur ihrer pathogenen Bewohner
beraubt werden. Es ist dieser Umstand insofern von grosser Wichtigkeit, als
für den letzteren Desinfectionsmodus in den meisten Fällen eine viel geringere
Desinfectionskraft des Desinfectionsmittels, und auch eine viel kürzere Ein-
wirkungsdauer desselben nöthig ist, als zur vollständigen Vernichtung sämmt-
licher Keime, auch der harmlosen, ständigen Insassen normaler, nicht infec-
tiöser Ausleerungen. Jedoch müssen wir von einer Desinfection, wenn sie gut
sein, d. h. vollständigen Schutz gegen die Weiterverbreitung der Infections-
keime gew^ährleisten soll, verlangen, dass durch sie die vollständige Vernich-
tung, d. h. vollkommene Aufhebung der Entwicklungsfähigkeit, nicht nur der
Krankheitserreger selbst, d. h. der vegetativen Formen, sondern auch der
viel resistenteren Dauerformen, der Sporen in möglichst kurzer Zeit der-
art erzielt werde, dass sie nach der Einwirkung des Desinfectionsmittels, selbst
unter den günstigsten Lebensbedingungen sich nicht weiter zu entwickeln
vermögen. Eine nicht zu unterschätzende Unterstützung der praktischen
Desinfection liegt einmal in der Verhütung der Ansammlung von
Krankheitserregern in kleinerem Räume und sodann in der Ver-
nichtung alles dessen, was dazu dienen kann den pathogenen
Keimen geeignete Lebensbedingungen zu schaffen.
Die Uebertragung der Infectionskrankheiten geschieht in den meisten
Fällen dadurch, dass die Infectionserreger in die Luft gelangen und mit der
Luft in den Körper neuer Individuen, wo sie sich, falls sie geeignete Lebens-
bedingungen vorlinden, mit grösster Geschwindigkeit vermehren. In je grösserer
Zahl nun die Mikroorganismen in einer bestimmten Luftmenge enthalten
sind, um so grösser ist die Wahrscheinlichkeit einer Uebertragung auf die
Individuen, welche sich in dem mit dieser Luft erfüllten Räume aufhalten.
Dieser Uebertragung arbeitet man am wirksamsten entgegen durch möglichst
kräftige Ventilation, d. h. durch möglichst umfangreiche Zuführung frischer
reiner Luft und Abführung der inficirten Luft. Mit jedem Raumtheil Luft,
das wir z. B. aus dem Zimmer eines Tuberculosen oder Diphtheriekranken
u. s. w. herausschaffen, entfernen wir ungeahnte Mengen von Krankheitserre-
gern, die nicht nur der Umgebung des Kranken gefährlich werden können,
sondern auch dem Kranken selbst schaden durch Wiedereinverleibung in den
schon geschwächten Organismus und so mindestens zur Verzögerung der Ge-
nesung beitragen.
Diese Unterstützung der Desinfection ist aber nicht nur für Kranken-
zimmer anwendbar, sondern auch für Räume, in welchen, wie z. B, in Schulen,
eine grosse Zahl von Menschen zusammenkommt, die hier bei dem über
mehrere Stunden sich hinziehenden Aufenthalt in verhältnismässig kleinem
Räume mit stagnirender Atmosphäre nur zu leicht durch Infectionserreger
186 DESINFECTION.
inficirt werden können, welche unter Umständen ein einzelnes Individuum an
seinem Körper oder an den Kleidern mit sich führt.
Was nun die zweite Art der Unterstützung der eigentlichen Desinfection
betrifft, nämlich die Vernichtung alles dessen, was geeignet ist den Krank-
heitserregern günstige Existenzbedingungen zu schaffen, so ist darüber kurz
Folgendes zu sagen:
Die Vermehrung der pathogenen Keime ausserhalb des menschlichen
resp. thierischen Körpers erfolgt nur bei Gegenwart leicht zersetzbarer orga-
nischer Substanz, genügender Feuchtigkeit und Wärme. Wenn wir diesen
Umstand berücksichtigen und auf gründliche Austrocknung neuer Wohnungen
halten, das Bewohnen feuchter Kellerwohnungen verbieten und schliesslich in
keinem Theile der Wohnung das Ansammeln von leicht zersetzbarer orga-
nischer Substanz dulden, so arbeiten wir der eigentlichen Desinfection ganz
bedeutend in die Hände.
Man kann wohl behaupten, dass im allgemeinen die Gesundheit einer
Wohnung direct proportional der in ihr herrschenden Reinlichkeit ist.
Was nun die eigentliche Vernichtung der Krankheitserreger betrifft, so
bedienen wir uns dabei verschiedener ganz bestimmter
Desinfectionsmethoden. Wir unterscheiden:
I. Eine Desinfection durch Einwirkung rein physikalischer Ein-
flüsse, und
IL eine solche durch Einwirkung chemischer Agentien.
I. Unter den Desinfectionsmethoden erster Art nimmt bei weitem die
wichtigste Stellung ein
a) die Anwendung hoher Temperaturen, und zwar können wir
die Hitze in verschiedener Form anwenden.
1. Kochen der Gegenstände in Wasser; natürlich nur für be-
stimmte Objecto (besonders Wäsche) verwerthbar. Man hat gefunden, dass
^2 stündiges Kochen in Wasser alle Krankheitskeime vernichtet, und zwar
werden — um einige specielle Beispiele anzuführen:
Tuberkelbacillen in 20 Min.
Typhusbacillen in 10 Min.
Cholera- und Diphtheriebacillen durch einmaliges Aufkochen
getödtet.
2. Verwendung gesättigten Wasserdampfes, und zwar ent-
weder als strömenden ungespannten Wasserdampf von lOO*' C, welcher
hinreicht, um in 15 — 30 Min. Infectionskeime zu vernichten, oder als ge-
spannten Wasserdampf von 110 — 125'' C, welcher diesen Zweck in 5
bis 15 Min. erreicht. Die Anwendung des Wasserdampfes, besonders des ge-
spannten, ist nur mit Hilfe besonderer Apparate zu ermöglichen.
Die hohe Desinfectionskraft des Wasserdampfes ist dadurch zu erklären,
dass durch die Feuchtigkeit desselben einmal die Mikroorganismen feucht
erhalten werden, wodurch die Eiweissstoffe leichter coagulabel, die Mikroor-
ganismen also leichter vernichtbar werden, und sodann dass durch dieselbe
die Wärmeleitung durch grössere Objecto hindurch wesentlich erhöht wird.
Durch das Strömen des Dampfes wird ferner die specifisch schwe-
rere Luft aus den Porenräumen der Objecte verdrängt, wodurch das Ein-
dringen der feuchten Wärme in dieselben wesentlich begünstigt wird.
3. Trockene Hitze. Sie beginnt erst bei einer Temperatur von 150*^
an aufwärts wirksam zu werden, dringt sehr langsam in dickere Objecte ein,
schädigt die meisten Gegenstände und ist daher überhaupt nur im Nothfall
zu gebrauchen. Angewandt können ausser besonderen, speciell hierfür her-
gestellten Apparaten auch Brat- und Backöfen werden.
DESINFECTION. 187
4. Verbrennen. Dies ist streng genommen eigentlich keine Desinfec-
tion, da die Desinfectionsobjecte auch zugleich mit den Infectionskeimen
vernichtet werden, wogegen eine ideale Desinfection das Desinfectionsobject
in keiner Weise schädigen soll.
Das Verbrennen ist daher auch nur bei werthlosen Gegenständen an-
wendbar. Allenfalls könnte diese Desinfectionsmethode in Kriegszeiten, oder
überhaupt im Militärleben bei der radicalen Sicherheit derselben eventuell in
Frage kommen, zumal ihr in Anbetracht der geringen Habe des Soldaten
nach der pecuniären Richtung hin kein wesentliches Hindernis entgegentreten
dürfte.
Die zweite Art der Desinfection durch physikalische Einflüsse ist
h) die mechanische Entfernung der Infectionskeime aus
den Desinfectionsobjecten (eventuell mit nachfolgender Vernichtung der In-
fectionserreger). Diese Art der Desinfection ist mit wenigen Ausnahmen sehr
unvollkommen. In Betracht kämen dabei:
1. Festes Abwischen der inficirten Gegenstände. Dies entfernt aber
nur — und auch da nicht einmal sicher — von glatten Flächen z. B. polirten
Möbeln trockene Krankheitskeime.
2. Abscheuern resp. Abbürsten der Gegenstände mit Wasser.
Diese Desinfectionsmethode leistet namentlich bei Zuhilfenahme von Seife,
welcher nach neuen Untersuchungen eine erhebliche Desinfectionskraft zukommt,
schon erheblich mehr, als die vorige, zumal bei häufiger Anwendung und
reichlichem Wasserverbrauch.
3. Abreibenmit frischemBrot, speciell ebener Wandflächen, mögen
sie nun mit einem Anstrich oder mit Tapeten versehen sein. Es ist durch
v. EsMAECH der Beweis erbracht, dass durch eine gründliche Anwendung
dieser Methode eine vollkommene Entfernung aller an der Fläche haftender
Krankheitserreger bewirkt werden kann, die dann an den herabfallenden
Brodkrumen haftend, mit diesen gesammelt und durch Verbrennen vernichtet
werden können.
Eine dritte noch zu erwähnende Art physikalischer Desinfection ist
c) Die Desinfection durch Besonnung, welche namentlich aut
dem Lande für Kleider und Betten von Infectionskranken noch vielfach ange-
wendet wird, eventuell in Verbindung mit mechanischer Reinigung durch
Klopfen, aber vollkommen werthlos ist (v. Esmarch).
n. Die Desinfection mit Hilfe chemischer Agentien erfreut
sich einer grösseren Mannigfaltigkeit, bedingt durch die ausserordentlich zahl-
reichen chemischen Desinfectionsmittel, für welche Beheing folgende Ein-
theilung empfohlen hat:
1. Metallsalze.
2. Säuren und Alkalien.
3. Verbindungen aus der aromatischen Reihe der orga-
nischen Chemie.
4. Flüssige, im Wasser lösliche oder schwerlösliche Des-
inficientien.
5. Mittel, die im festen Zustande wirken.
6. Mittel, die gasförmig wirksam sind.
7. Stoffwechselproducte von Mikroorganismen.
8. Bacterientödtende Körper des menschlichen oder thie-
rischen Organismus.
Die Desinfection bedient sich der chemischen Desinfectionsmittel in ver-
schiedener Form, als gasförmige, flüssige und trockene pulver-
förmige, wobei indessen die flüssigen Desinfectionsmittel bei weitem die
wichtigste Rolle spielen, die gasförmigen und trockenen aber von unter-
geordneterer Bedeutung sind, wegen ihrer unsicheren Wirkung.
188 DESINFECTION.
Desiiifectioiismittel. Die gebräuchlichsten, resp. die am meisten ange-
wandten Desinfectionsmittel — abgesehen von den uns hier nicht interessi-
renden Desinfectionsmitteln für die Chirurgie oder für den internen Gebrauch
— sind folgende zur Desinfection von Wäsche, Kleidern, Wohnräumen und
infectiösen Excreten benutzten:
a) Gasförmige Desinfectionsmittel.
1. Schweflige Säure, durch Verbrennen von Schwefel erzeugt, besonders
früher und leider vielfach auch jetzt noch zur Desinfection von Kleidern,
Möbeln, Wohnräumen benutzt, ist sehr unwirksam und beschädigt oft die
Desinfectionsobjecte.
2. Chlorgas, durch Vermischen reiner Salzsäure mit Chlorkalk erzeugt,
ist ebenso unwirksam wie die schweflige Säure, und wird auch jetzt nicht
mehr so häufig wie früher zur Desinfection von Wohnräumen und Kleidern
benutzt.
3. Ammoniakdämpfe, zur Desinfection von Wohnräumen empfohlen, sind
noch nicht genügend auf ihre diesbezügliche Wirksamkeit hin geprüft.
4. Formaldehyd, neuerdings vielfach zur Desinfection von Kleidern und
Wohnräumen empfohlen, ist in seiner Wirkung als Gas auch noch nicht als
ganz sicher anzusehen. Neuerdings werden gespannte Formalindämpfe zur
Desinfection von Wohnräumen empfohlen (Trillat), ob mit Recht, kann erst
nach zahlreicheren eingehenderen Untersuchungen entschieden werden.
b) Flüssige, oder in flüssiger Form angewandte Desinfec-
tionsmittel.
1. Sublimat (HgClg). Es ist dies wohl bisher das beste, oder wenigstens
am energischesten wirkende Desinficiens, da es in Vergleich mit anderen in
stärkster Verdünnung und in kürzester Frist die Krankheitserreger vernichtet.
Gegen eine ausgedehnte Verwendung in den Händen des Publicums spricht
aber seine hohe Giftigkeit. Mit eiweisshaltigen Flüssigkeiten z. B. Fäkalien
zusammengebracht, bildet es Quecksilberalbuminate und verliert dadurch seine
desinficirenden Eigenschaften; ebenso verlieren längere Zeit aufbewahrte wässe-
rige Lösungen ihre Wirksamkeit, weil sich aus ihnen ein Oxychlorid ab-
scheidet.
Beides, nämlich die Bildung von Quecksilberalbuminaten, sowie die Zer-
setzung in wässriger Lösung lässt sich jedoch vermeiden, sobald man Sublimat
in Verbindung mit Kochsalz verwendet, eine Verbindung, die im Grossen in
Form von Sublimatpastillen in den Handel gebracht wird.
Auch der Zusatz von Salzsäure macht die Sublimatlösungen für die
Grossdesinfection (z. B. für eiweissreiche thierische Abfallstoffe etc.) geeigneter.
2. Carbolsäure CöHgOH, ein wirksames Desinficiens, dessen Geruch nur
unangenehm ist, und dessen hoher Preis einer ausgedehnteren Verwendung,
zumal in der Grossdesinfection entgegentritt.
Die rohe Carbolsäure ist zwar billig, dafür aber in Wasser nicht
löslich. Lösungen der rohen Carbolsäure können hergestellt werden durch
Zusatz von Schwefelsäure (Fränkel) oder Seifenlösung (Nocht).
Rohe Carbolsäure und rohe Schwefelsäure, unter Abkühlen
zusammengerührt, geben eine Mischung, von welcher man mit Wasser
2 — 37o-ige Lösungen machen kann, die man zur Desinfection von Fäkalien,
Gruben, Rinnsteinen etc. verwenden kann und die etwa denselben Desinfec-
tionswerth besitzt wie gleichprocentige reine Carbollösung.
Carbolseifenlösung, welche einen ähnlichen Desinfectionswerth besitzt, wird folgen-
dermaassen hergestellt. Es werden 3 Theile sogenannter grüner oder schwarzer Schmier-
seife in 100 Theilen warmen Wassers gelöst, worauf für je 20 Theile der noch warmen
Seifenlösung 1 Theil rohe Carbolsäure zugesetzt wird. Die dabei entstandende Emulsion
ist lange haltbar und gut verwendbar zur Desinfection inficirter Wäsche, zum Reinigen von
Fussböden, Wänden, Ledersachen u. s. w.
DESINFECTION. 189
3. Lysol, eine Theeröl-Seifenlösung ebenso wie
4. Creolin. Ersteres von ähnlicher Wirkung wie Carbolsäure und auch
zur Desinfection von Excreten Kranker empfohlen ; letzteres'gut desodorisirend,
aber ungleich in Zusammensetzung und Wirkung, besonders in eiweisshal-
tigen Flüssigkeiten.
5. Solutol, eins der neuerdings mehr in Gebrauch gekommenen Kresole
für die Grossdesinfection, ist von ähnlicher Wirkung wie Lysol.
6. Saprol, eine vorzüglich desodorisirend und durch Abgabe ausgelaugter
Kresole auch desinficirend wirkende ölige Substanz, die zur Desinfection von
Abortgruben, Jauchegruben etc. dient, wo sie auf dem Inhalt als ölige Schicht
schwimmt.
7. Sotlalüsmig, in 27o-iger Lösung besonders für Wäsche anzuwenden,
aber nur bei längerer Einwirkung desinficirend.
8. Schniierseifenlösung, ca. lO^oig desinficirt, auf 70 — 80^ erwärmt, recht
schnell, ist also ein sehr vorth eilhaftes Desinfectionsmittel für Wäsche; kalte
Lösungen müssen, um desinficirende Eigenschaften zu entfalten, mindestens
24 Stunden hindurch auf die Desinfectionsobjecte einwirken.
9. Rohe Salzsäm-e und Rohe Schwefelsäure werden mitunter für thie-
rische Abfallstoffe als Desinfectionsmittel gebraucht; wegen ihrer stark ätzen-
den, Metall, Holz, Cement etc. angreifenden Wirkung sind sie aber in dem
Gebrauch stark eingeschränkt.
Als flüssige, aber mitunter auch als trockene pulverförmige Desinfections-
mittel werden ferner noch folgende Substanzen angewandt:
10. Aetzkalk als Kalkmilch oder auch — aber nur selten — als Kalk-
pulver.
Kalkmilch wird in folgender Weise hergestellt: Etwa 100 Volumtheile gebrannten
Kalkes werden mit 60 Theilen Wasser gelöscht, wobei CaO in Ca(0H)2 verwandelt wird.
Der Aetzkalk zerfällt dabei nnter beträchtlicher Wärmeentwicklung zu lockerem Pulver
von Kalkhydrat. Von diesem Pulver wird 1 Volum mit 4 Volum Wasser verrührt, wo-
durch man eine 20''/o-ige Kalkmilch erhält, welche als vorzügliches Desinficiens für
Latrineninhalt anzusehen ist.
11. Chlorkalk, ein sehr wirksames Desinfectionsmittel, welches sowohl
als Pulver, als Chlorkalkbrei und als Chlorkalklösung zur Desinfection
von Fäkalien, leeren Abörtgruben, Rinnsteinen u. s. w. benutzt wird (Nissen).
Chlor kalkbrei besteht aus 1 Theil Chlorkalk und 5 Theilen Wasser.
Chlorkalklösung aus 2 Theilen Chlorkalk und 100 Theilen Wasser, von wel-
cher Mischung die klare Lösung vom Bodensatz abgegossen und benutzt wird.
e) Trockene pulverförmige Desinfectionsmittel:
1. Eisen- und Kupfersulfat sind gut desodorisirende, aber unsicherer
desinficirende Mittel, als die Kalkpräparate und dabei bedeutend theurer.
Ihre Verwendung ist daher auch keine besonders umfangreiche.
2. Carbolkalk, Mischung aus frisch gelöschtem Kalk und roher Carbol-
säure, ist vielfach in Gebrauch, aber sehr unzweckmässig, da er ungleich in
Zusammensetzung und Wirkung ist (Dräer).
3. Torfmull wirkt gut Feuchtigkeit aufsaugend, ist aber von sehr un-
sicherer Desinfectionswirkung (Fränkel, Klipstein, Gärtner u. A.). Ebenso
4. Phosphattorf, d. h. Torfmull mit lO^o Phosphorsäure versetzt, der
aber in einigen Stunden wenigstens Cholera und Typhusbacillen abtödtet.
5. Erde wirkt ähnlich wie Torfmull und bei Zusatz von 4 — S^o frisch
bereitetem Kalkpulver auch desinficirend auf infectiöse Stuhlgänge. (Sinnhuber.)
Prüfimg der DesiiifectioiismitteL Um den Grad der Desinfectionskraft
der verschiedenen Desinfectionsmittel, seien es nun physikalisch oder chemisch
wirkende, festzustellen, werden bestimmte Methoden angewandt.
Entweder man bringt die Krankheitserreger (meistens an Seidenfäden,
dünnen Glasplättchen oder Glasschlingen angetrocknet), deren Widerstands-
190 DESINFECTION.
kraft gegen ein bestimmtes Desinfectionsmittel man prüfen will, für längere
oder kürzere Zeit in das betreffende Desinfectionsmittel — sei es nun ein
physikalisch wirkendes, wie der strömende Dampf, oder ein chemisches — hinein,
um es darauf in einen dem betreffenden Krankheitserreger gut zusagenden
Js^ährboden zu übertragen, woselbst das Auswachsen der benutzten Keime
oder das Ausbleiben desselben beobachtet wird; oder man setzt zu voll ent-
wickelten Culturen verschiedener pathogener Keime gewisse Mengen der
chemischen Desinfectionsmittel hinzu, um nach verschiedenen Zeiten Proben
von diesen der Einwirkung des Desinfectionsmittels ausgesetzten Culturen zu
entnehmen und in neue Nährböden zu übertragen, woselbst nur das eventuell
auftretende oder ausbleibende weitere Wachsthum der benutzten Keime con-
trolirt wird ; oder schliesslich man versetzt die anzuwendenden Nährböden vor
der Impfung mit den zu prüfenden Desinficientien in bestimmtem Procentsatz
und wartet ab, ob die übertragenen Keime in diesen Nährböden zur Entwick-
lung kommen oder in derselben gehindert werden, aber lebensfähig bleiben,
oder ob gar die übertragenen Keime eingehen.
Es besteht nun ein grosser Unterschied zwischen den vegetativen Formen
der verschiedenen Mikroorganismen, d. h. den ausgewachsenen Bacterien und
den Dauerformen derselben, den Sporen.
Die letzteren sind bedeutend widerstandsfähiger als die ersteren, es ist
daher bei allen Prüfungsversuchen neuer Desinfectionsmittel auf diesen Um-
stand Rücksicht zn nehmen, und zweckmässig der Desinfectionsversuch speciell
mit den widerstandsfähigen Sporen vorzunehmen, da man ja in praxi nur dann
von einer sicheren Desinfection sprechen kann, wenn dieselbe so ausgeführt
wurde, dass eben auch die Dauerformen der Krankheitserreger sicher ver-
nichtet werden.
Man verwendet daher im Allgemeinen als Testobjecte für derartige Des-
infectionsversuche stets Milzbrandsporen, da diese die widerstandsfähigste
Form unter den verschiedenen pathogenen Keimen darstellen. Aber selbst
bei Anwendung der Milzbrandsporen ist bei Verwendung der erhaltenen Resul-
tate mit einem neuen Desinfectionsmittel zum Vergleich mit Ergebnissen älterer
Versuche mit anderen Desinfectionsmitteln stets daran zu denken, dass auch
die Milzbrandsporen verschiedener Culturen verschiedene Widerstandskraft
gegen schädigende Einflüsse haben (v. Esmaech); man sollte also bei jedem
Desinfectionsversuch angeben, wie lange Zeit die benutzten Milzbrandsporen
sich in strömendem gesättigtem Wasserdampf oder in 5% Carbolsäure lebens-
und entwicklungsfähig gehalten haben.
Zur Ausführung der Desinfection bedienen wir uns besonderer
Desinfectionsapparate. Wir unterscheiden:
1. Apparate, welche mit strömendem Dampfe von 100^ C
arbeiten. Diese sind verhältnismässig billig, leicht zu bedienen, unterliegen
keiner Beschränkung in der Aufstellung und genügen vollständig, namentlich
für einzelne Krankenanstalten, wo es sich nicht darum handelt, den Apparat
beständig in Betrieb zu halten, wie bei öffentlichen Desinfectionsanstalten
grosser Städte. Für letztere sind empfehlenswerther
2. Apparate, welche mit gespanntem Dampf arbeiten. Diese
Apparate desinficiren schneller, sind aber auch theurer, sie sind complicirter
in der Bedienung und können unter Umständen nicht überall aufgestellt
werden.
Die Desinfectionszeit für Apparate der ersten Art beträgt im Allgemeinen
bei ziemlich fester Packung der Desinfectionsobjecte eine Stunde; für Apparate
der zweiten Art etwa die Hälfte dieser Zeit.
(Apparate einer älteren Construction, die neuerdings nicht mehr an-
gefertigt werden, weil sie ganz unsicher in ihrer Wirkung sind und viel
mangelhafter arbeiten, als die ad 1 genannten Apparate, nämlich Apparate,
DESINFECTION. 191
welche mit überhitztem Dampf arbeiten, wollen wir als jetzt vollständig ver-
lassen hier übergehen.)
Was nun die Construction der Desinfectionsapparate im Allgemeinen
betrifft, so ist darüber Folgendes zu sagen:
Als Material dient im Allgemeinen Eisenblech von mindestens 3 7nm
Dicke. Sämmtliche Eisentheile im Innern der Apparate sind durch Verzinken
vor Kost zu schützen und ausserdem mit Leinwand sorgfältig zu umwickeln.
Die Form der Apparate kann verschieden gewählt werden; für kleinere
Apparate eine runde, für grössere eine ovale oder kastenförmige. Die
Thüren sind bei allen grösseren, namentlich bei den stationären Apparaten
an den beiden Stirnseiten anzubringen; bei kleineren, und besonders bei
transportablen Apparaten, bei denen nur eine Thüre vorhanden ist, ist streng
darauf zu achten, dass die desinficirten Gegenstände beim Herausnehmen aus
dem Apparate nicht wieder inficirt werden. Es sind daher bei derartigen
Apparaten die zu desinficirenden Gegenstände vor der Einführung in den
Apparat in Leinentücher einzuhüllen. Der Dampf eintritt ist zweckmässig
an der Decke des Apparates anzubringen, der Damp faustritt an der
tiefsten Stelle des Apparates, woselbst auch eine Vorrichtung zum Anbringen
eines Controlthermometers nicht zu vergessen ist. Als Schutz gegen das
Betropfen der Desinfectionsobjecte mit Condenswasser sind folgende Vor-
kehrungen zu treffen: Entweder man bringt in dem Apparat Heizkörper mit
grosser Metalloberfläche, sog. Kippenrohre an, durchweiche die Luft vor-
gewärmt eine Condensation des einströmenden Wasserdampfes also vermieden
wird, oder man versucht denselben Effect — die Vorwärmung dadurch zu
erzielen, dass man das den Dampf entwickelnde Wassergefäss mantelartig
um den Desinfectionsraum legt.
Recht zweckmässig ist es auch, wenn der Apparat so eingerichtet ist,
dass nach erfolgter Desinfection durch strömenden gesättigten Wasserdampf
eine Nachtrocknung durch Zufuhr trockener warmer Luft erreicht werden
kann, wenngleich diese Nachtrocknung nicht absolut nothwendig ist, da die
meisten Objecte, sobald sie nicht in allzu dicken Schichten und allzu fest
verpackt in den Desinfectionsraum gebracht werden, bei ihrer Herausnahme
aus dem Apparat sogleich trocknen, wenn sie sofort auseinandergenommen
werden.
Der Dampfentwickler soll so construirt sein, dass in nicht zu langer
Zeit eine genügende Menge Dampf entwickelt werden kann, um den Apparat
vollkommen zu füllen. Auch soll soviel Wasser vorhanden sein, dass
wenigstens eine Stunde lang ohne Unterbrechung Dampf entwickelt werden
kann.
Was die Grösse der Desinfectionsapparate betrifft, so sind für
die öffentlichen Desinfectionsanstalten grösserer Städte Apparate von 4—5 m^
Inhalt empfehlenswerth, eventuell sogar mehrere derartige.
Für Mittelstädte, grosse Krankenhäuser, Quarantänestationen etc. dürfte
ein Apparat von circa 3 m^ Inhalt genügen; für kleine Städte, ländliche
Kreise, kleine Krankenhäuser wäre ein gleicher Apparat von 2 w^ Inhalt zu
empfehlen, wenn derselbe in einer Desinfectionsanstalt aufgestellt werden
kann; sind die Mittel dazu nicht vorhanden, so ist ein kleinerer Apparat von
circa 1 m^ Inhalt vorzuziehen, (v. Esmarch.)
Für ausgedehnte ländliche Kreise sind übrigens transportable, fahrbare
Apparate empfehlenswerth, wenn die Wege für derartige Apparate passirbar sind.
Einige der bekanntesten Desinfectionsapparate sind die von Schimmel & Co.
in Chemnitz, Budenbeeg & Co. in Dortmund, Lautenschläger in Berlin
u. s. w.
Improvisiren eines Desinfectionsapparates. An Orten, in welchen bei
plötzlich ausbrechenden Infectionski^ankheiten ein Desinfectionsapparat für
192 DESINFECTION.
strömenden Dampf nicht vorhanden ist, kann man einen solchen recht gut
arbeitenden leicht und rasch improvisiren, indem man über einen möglichst
grossen Waschkessel eine Tonne stülpt, welcher beide Böden ausgeschlagen
sind. Oben wird an die Tonne ein gut schliessender Deckel derart befestigt,
dass er nicht durch den strömenden Dampf gehoben werden kann. Im
Deckel befinden sich zwei Löcher, eines central, als Dampfabzugsöffnung und
ein zweites daneben zur Aufnahme eines Thermometers. An der Innenseite
des Deckels befinden sich Haken zum Anhängen von Kleidungsstücken und
Fächer für Wäsche etc. Eventuell kann man auch Wäschepackete und sogar
Betten und Matratzen auf einem in der Tonne angebrachten hölzernen Rost
zur Desinfection auflegen.
Hat man einen Dampfentwickler (Locomotive, Locomobile) zur Ver-
fügung, so kann man von diesem den Dampf mittelst eines Gasrohres durch
ein in der Nähe des Bodens der Tonne angebrachtes Loch in dieselbe hinein-
leiten. Derartige improvisirte Desinfectionsapparate sind ein sehr guter Noth-
behelf, es ist nur darauf zu achten, dass die Dampferzeugung noch eine
Stunde hindurch stattfinden muss, nachdem der Thermometer 100° C anzeigte.
Controlinstrumente für Dampfdesinfectionsapparate. Zum Zwecke der
Prüfung eines Desinfectionsapparates auf seine Leistungsfähigkeit bedienen
wir uns bestimmter Instrumente. Es handelt sich bei dieser Prüfung darum
1. die Dauer des Anheizens festzustellen, d. h. die Zeit, welche ver-
streicht zwischen dem Anzünden des Feuers und der Entwicklung strömenden
Wasserdampfes von 100° C. 2. Festzustellen, ob eine genügende Dampf-
menge entwickelt wird, welche den Apparat vollkommen anfüllen kann und
zwar mindestens für die Dauer einer Desinfection. 3. Ob, und in welcher
Zeit der Dampf in das Innere von Desinfectionsobjecten eindringt. — Es
muss also nach vollkommener Füllung des Apparates mit Dampf, die von
oben nach unten fortschreitet, ein am Auslassrohr für den Dampf angebrachtes
Thermometer dauernd 100" C zeigen. Ferner wird die vollständige Füllung
des Apparates mit Dampf dadurch bewiesen, dass an verschiedenen Stellen
im Innern des Apparates angebrachte Maximalthermometer nach Beendigung
der Desinfection alle 100° C anzeigen müssen.
Das Eindringen des Dampfes in die Desinfectionsobjecte kann auch durch
eingelegte Maximalthermometer nachgewiesen werden. Viel sicherer und
zweckmässiger jedoch ist für diese Prüfung die Verwendung sogenannter
Pyrometer, d. h. Wärmemesser, bei welchen durch das Schmelzen einer
bei 100° C schmelzbaren Legirung ein Contact zwischen den beiden Polen
eines elektrischen Stromes mit Läutewerk hergestellt wird, so dass die Glocke
ertönt. Noch einfacher sind die gewöhnlichen Contactthermometer, bei
denen bei 100° C der aufsteigende Quecksilberfaden den Contact und damit
das Glockensignal vermittelt. Der Dampffeuchtigkeitsmesser von
Dunker, welcher gleichzeitig die Temperatur von 100° C und die Sättigung
des strömenden Dampfes anzeigen soll, ist ein ganz unsicheres Instrument
(Deäer).
Sehr zweckmässig, aber nicht unbedingt nöthig ist eine Prüfung der
Wirksamkeit des Desinfectionsapparates durch Bacterientestobjecte.
Als solche werden am besten — wie schon früher erwähnt — Milz-
brandsporen von bestimmter Widerstandsfähigkeit verwendet.
Desinfectionsaiistalten sind besondere, mit Desinfectionsapparaten und
allem für die Desinfection im Grossen nöthigen Inventar ausgerüstete Gebäude
von ganz bestimmter Anlage.
Eine selbstständige Desinfectionsanstalt soll der Hauptsache nach 2 Räume
enthalten, einen für inficirte Gegenstände, den Beladungsraum und einen
für desinficirte Gegenstände, den Entladungsraum. Beide Räume sind
durch eine feste Wand getrennt, welche vom Desinfectionsapparat durch-
DESINFECTION. 193
brochen wird, so dass die eine Thüre des Apparates vom Beladungsraum, die
andere vom Entladungsraum aus geöffnet werden kann. Diese Anordnung
ist zu treffen, um eine Reinfection der desinficirten Gegenstände zu verhüten.
Ausserdem ist noch ein Raum für die chemische Desinfection, eine
Badezelle für den Desinfector und ein Raum für den Transportwagen der
Anstalt einzurichten.
Die beiden Haupträume sind möglichst geräumig, mit Ventilations-
vorrichtung, abwaschbaren Wänden und undurchlässigem Fussboden (Cement,
Asphalt) herzustellen.
Hat der Dampferzeuger keinen besonderen Raum für sich allein, so ist
er in der Abtheilung für inficirte Gegenstände unterzubringen.
Das Inventar einer Desinfectionsanstalt ist im Grossen und Ganzen
folgendes :
1. Abwaschbare Holzregale in beiden Haupträumen zum Aufstapeln der Objecte.
2. Chemikalienschrank im Raum für die chemische Desinfection.
3. Verschiedene Wäschekörbe — bei grossen Apparaten eiserne Wägen — zum Ein-
bringen der Desinfectiousobjecte in den Apparat.
4. Transportwagen für die aus den Wohnungen abzuholenden inficirten Gegenstände.
Eventuell au Stelle desselben verschieden grosse, mit Blech ausgeschlagene Kasten. Für
grössere Anstalten ein zweiter Wagen für den Rücktransport der desinficirten Gegenstände.
5. Anzüge für die Desinfectoren (Mütze, Rock, Hose, Schuhe, Mundschwamm.)
6. Eine Anzahl leinener Beutel für die Verpackung von Wäsche, Kleidern etc. auf
dem Transport von der Wohnung nach der Anstalt.
7. Eine Reihe besonderer, als Ausrüstung der Desinfectoren zur Wohnungsdesinfection
gebrauchter Gegenstände (citirt nach v. Esmarch: Hygienisches Taschenbuch):
1 Koffer aus verbleitem Eisenblech zum Verpacken der übrigen Sachen.
1 Haarbesen, zum Abfegen der Decke und des Fussbodens.
1 Handfeger, zum Entfernen des Staubes unter und hinter den Möbeln, Oefen etc.
1 Schrubber, zur Reinigung und Desinfection des Fussbodens.
1 Handbürste, zur Desinfection der nicht polirten Möbeltheile und Thüren.
1 Fensterbürste, zur Desinfection der Fensterrahmen und der schwer zugänglichen
Winkel iind Ecken.
2 Möbelbürsten, spitz und rund.
1 Spritzpinsel, zum Abspritzen der Wände mit desinficirenden Flüssigkeiten, sehr
wichtiges Instrument.
1 kleiner Pinsel, zum Reinigen von Metallgegenständen, Bilderrahmen u. dergl.
1 Kamm von verbleitem Eisenblech, zur Reinigung der Bürsten.
1 Brodmesser mit langer Klinge in Tasche.
1 Holzbrett zum Zerschneiden des Brodes.
1 Brett aus verbleitem Eisenblech, Untersatz für die Carbolflaschen.
2 Flaschen aus verbleitem Eisenblech zu 2 oder 1 kg Carbolsäure.
1 Seifenbüchse aus verbleitem Eisenblech für 1-5 kg Seife.
1 Litermaas aus verbleitem Eisenblech zur Herstellung der verdünnten Carbolsäure.
1 Maassgefäss aus verbleitem Eisenblech für 100 gr.
1 Maassgefäss aus verbleitem Eisenblech für 40 gr.
1 Dtz. Staubtücher.
1 Dtz. Scheuertücher, für Fussboden und nicht polirte Möbel.
1 zweitheilige eiserne Leiter, leicht 2U desinficiren und transportiren.
1 paar Gummischuhe für die Leiter, zum Schonen des Fussbodens.
1 kurzes Eisenrohr, zum Verlängern des Handfegers.
1 langes Eisenrohr, zum Verlängern des Haarbesens und Schrubbers.
4 Eimer aus verbleitem Eisenblech in einander passend.
1 Dtz. Scheuertücher zum Bedecken der Schränke und Möbel während der Zimmer-
desinfection.
2 Tragegurte zum Aufheben und Rücken schwerer Möbel.
3 Lederlappen zum Fensterputzen.
Verschiedenes Handwerkszeug, wie Zange, Hammer, Spachtel zum Reinigen der Fuss-
bodenritzen, Schraubenzieher, Schrauben, Nagelbürste, Handtücher.
Das ist die specielle Ausrüstung der Desinfectoren, d. h. der zur Aus-
führung von Desinfectionen speciell ausgebildeten und angestellten Leute.
Für ständig betriebene Desinfectionsanstalten sind deren mindestens 4 nöthig.
Für Zeiten heftiger Epidemieen sind mehr Mannschaften auszubilden, die sich
aus den Feuerwehrleuten, Strassenreinigern, Nachtwächtern, Polizeimann-
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. J^3
194 DESINFECTION.
Schäften recrutiren. Die Desinfectoren arbeiten nach genau festgestellten
Dienstinstructionen, die in den einzelnen Anstalten in kleinen Punkten von
einander abweichen, im Ganzen aber folgenden Gang haben:
Wenn dem Poljzei-Districts-Commissar der Ablauf einer Infectionskrank-
heit gemeldet wird, ordnet er zunächst Schluss der Fenster und Thüren des
betreffenden Zimmers an und requirirt 2 — 4 Mann der Desinfectionscolonne,
die sich so bald als möglich mit dem Transportwagen und den nöthigen,
vorher aufgezählten Utensilien nach der inficirten Wohnung begeben.
Vor dem Betreten der Wohnung werden die Desinfectionsflüssigkeiten
bereitet (Sublimat-Kochsalzlös. 1 : 2000 und Carbolsäure 5 : 100) und legen
dann die Arbeiter ihren Arbeitsanzug an. Nun erst betreten sie das Zimmer
und nehmen die Desinfection in folgender Keihenfolge vor:
1. Anfeuchtung des Fussbodens mittelst eines mit einem Scheuertuch
umwickelten und wiederholt in Sublimatlösung getauchten Schrubbers.
2. Einhüllen der Kleider, Wäsche, Betten, Teppiche, Vorhänge, Polster
etc. zunächst in trockene Säcke und darauf in mit Sublimatlösung befeuch-
tete Säcke. Diese sorgfältig verschnürten Säcke werden aus dem Zimmer
herausgestellt und später auf den Transportwagen geschafft. Ebenso werden
Strohsäcke und andere werthlose Gegenstände behandelt, soweit sie nicht
direct im Ofen des Krankenzimmers verbrannt werden können, üeber alle
forttransportirten Gegenstände wird eine genau Liste angefertigt, welche dem
Eigenthümer ausgehändigt wird.
3. Möbel, Fenster, Thüren, Oefen werden mittelst Schwämmen und
Bürsten mit Sublimatlösung gründlich abgerieben; ein Gleiches geschieht mit
Ledersachen und Pelzwerk. Polirte Möbel werden nur mit einem trockenen
Tuch scharf abgerieben und dies nachher in Sublimatlösung desinficirt.
4. Mit Tapeten bekleidete Wände werden mit Brod abgerieben, die auf
den feuchten Fussboden herabfallenden Brodkrumen werden zusammengefegt
und verbrannt, oder mit Carbolsäurelösung übergössen.
Mit Oelfarbe gestrichene Wände werden mit 57o-iger Carbolsäure ab-
gewaschen.
Mit Kalk gestrichene Wände werden mit Kalkmilch getüncht.
5. Nochmalige Befeuchtung des Fussbodens mit Sublimat.
6. Die Desinfectoren legen ihre Arbeitskleidung ab und binden sie in
einen dazu bestimmten Sack. Sodann waschen sie sich Gesicht, Bart und
Hände mit Sublimatlösung und verlassen das Zimmer.
7. Eine etwa erforderliche Desinfection des Aborts wird mit Kalkmilch
ausgeführt. Bei Wasserciosets wird Sitz und Trichter mit Ö^o-igei" Carbol-
säure abgebürstet.
8. Die von den Desinfectoren nach der Desinfectionsanstalt transpor-
tirten Gegenstände werden dort desinficirt und dann zurücktransportirt, oder
von den Eigenthümern abgeholt. Mit dieser Beschreibung der Thätigkeit der
Desinfecteure ist zugleich die Beschreibung eines Theiles des folgenden Ab-
schnittes gegeben, nämlich der
Anwendung der Desinfection für specielle Zwecke.
Desinfection des ganzen Körpers infectionsverdächtiger
Personen (Kranke, Aerzte, Wärter, Desinfecteure, verdächtige Reisende)
durch warme Seifenbäder mit möglichst energischer mechanischer Reinigung
durch Bürsten. Nach dem Bad Anlegen reiner Wäsche und Kleider.
Desinfection der Hände durch Waschen und Bürsten mit Carbol-,
Lysol-, Sublimat-, Chlorkalklösungen, die zweckmässig erwärmt sind.
Desinfection des Badewassers infectiös Kranker (Typhus, Cho-
lera, Ruhr) durch 72-stündiges Einleiten heissen Wasserdampfes bis zur Er-
DESINFECTION, 195
wärmung des Badewassers auf 80 — 90 '^ C; oder Zusatz von Sublimat, Carbol-
seiienlösung oder Kalkmilch.
Desin fection der Absonderungen von Infectionskranken.
Urin und Fäces werden am besten zusammen direct in den Steckbecken
mit Kalkmilch versetzt und zwar mit soviel, dass man eine deutlich alka-
lische ßeaction des Gemisches enthält, welche man dann eine Stunde stehen
lässt (Pfühl), hat man nicht so viel Zeit, so giesse man den Inhalt nach
15 Min. fort und spüle das Steckbecken mit Kalkmilch nochmals aus.
An Stelle der Kalkmilch ist auch Chlorkalk verwendbar.
Ausv/urf von Tuberculosen, ausserdem aber auch von an Lungenent-
zündung, Diphtherie, Influenza, Scharlach, Keuchhusten erkrankten Personen
wird in besonderen Speigläsern aufgefangen und dort entweder mit Des-
infectionsmitteln (37o Carbolsäure, Carbolseifenlösung, Lysollösung, Kalkmilch)
Übergossen und ihrer Einwirkung für eine Stunde überlassen; oder mit den
Speigläsern in einem besonderen Apparat (zweckmässig ist der von Kirchnek
für Krankenhäuser construirte) durch strömenden Wasserdampf desinfiairt.
Als Spucknäpfe für bettlägerige Kranke empfehlen sich am besten leichte,
mit einem Henkel versehene Gefässe aus Glas- oder emaillirtem Eisenblech,
Spucknäpfe zum Aufstellen in Zimmern, Corridoren u. s. w. sind am besten
aus dickem Glas oder emaillirtem Eisen, schalenförmig und mit einem ab-
nehmbaren, nicht zu flachen Einsatz -Trichter versehen, dessen Oeffnung min-
destens 6— 8 cm im Durchmesser haben muss.
Als Füllung kann einfaches Wasser genommen werden, w^elches dann
mit dem Auswurf in die Aborte entleert wird, worauf allerdings eine che-
mische Desinfection des Spucknapfes zu erfolgen hat.
Für Spucknäpfe, deren Inhalt leicht verschüttet werden kann, ist zweck-
mässig eine Füllung durch Holzwolleinlagen, die mit dem Auswurf verbrannt
werden.
Die Desinfection der Wäsche von Infectionskranken ge-
schieht am besten durch Einlegen in S^/o Carbollösung oder Carbolseifen-
lösung für eine Stunde oder in warme Schmierseifenlösung für 24 Stunden.
Dampfdesinfection ist hier nicht so empfehlenswerth, da etwa vorhandene
Flecke dabei leicht fest einbrennen.
Desinfection von Kleidern, Matratzen, Teppichen, Vor-
hängen, Möbeln durch gesättigten strömenden Wasserdampf. Dauer der
Desinfection mindestens 15 — 20 Min. — Pelzwaaren, Ledersachen, metallene
Gegenstände, geleimte und fournirte Möbel, überhaupt polirte Möbel, Gummi-
waaren, Bilder etc. leiden durch Dampfdesinfection, sind daher zu desinficiren
durch Abreiben resp. Bürsten mit Carbollösung.
Desinfection von
Büchern, Briefen, Zeitschriften eventuell durch Formalin, am
besten aber zu verbrennen, ebenso wie Speisen, Verbandstücke, alte
Spielsachen etc.
Ess- und Trinkgeräth ist in kochendem Sodawasser zu reinigen.
Desinfection der Wohnräume (Beschreibung unter dem Abschnitt
„Desinfectoren"^.
Desinfection von Abortgruben und Tonnen durch Kalkmilch,
der Sitzbretter und Thürgriffe der Aborte durch Carbolseifenlösung.
Rinnsteine werden am besten durch Kalkmilch oder Chlorkalk des-
inficirt.
Desinfection öffentlicher Fuhrwerke: Die Polster wenn an-
gängig im strömenden Dampf, oder durch Bürsten mit Carbolsäurelösung.
Die Wagen im übrigen, d. h. Wände innen und aussen etc. durch Waschen
mit heisser Seifenlösung.
13*
196 DESINFECTION.
Viehwagen, ebenso Viehställe werden am besten durch Waschen
mit Carbolseifenlösung desinficirt.
Lumpendesinfection durch Dampf. Die so sehr gebräuchliche
Schwefelung ist nutzlos.
Infectiöse Leichen sind in Carbol- oder Sublimattücher einzuhüllen.
Desinfection von Schiffen ist sehr schwer in idealer Weise aus-
zuführen. Es kommt der Hauptsache nach darauf an, das Bilgewasser
noch auf hoher See auszupumpen und den Bilgeraum im Hafen mit Kalk-
milch anzufüllen, welche 12—24 Stunden darin bleibt. Die Wohnräume des
Schiffes mit ihren Utensilien sind ebenso zu desinficiren wie Wohnräume auf
dem Lande.
Desinfection von Brunnen.
a) Röhrenbrunnen, wenn nöthig durch Carbolschwefelsäure oder
durch eingeleiteten Dampf.
h) Kesselbrunnen durch Einleiten von Wasserdampf in das Wasser,
bis dieses auf 90° C gebracht ist, und Bestreichen der Brunnenwände mit dem
Dampfstrahl. (Neisser.)
c) W a s s er 1 e i tun gen: Anfüllen des Leitungsnetzes für mehrere Stunden
mit einer 2°/oo Lösung einer 60 grädigen Schwefelsäure (Stutzer).
Eine gesetzliche Ordnung des Desinfectionswesens ist einheitlich für
alle Länder noch nicht vorhanden, und es sind alle dahin gerichteten Bestre-
bungen bisher vergeblich gewesen. Somit bleibt als einziger Ausweg vor-
läufig nur die locale Ordnung des Desinfectionswesens übrig,
welche sich nach den Ansprüchen richtet, wie sie an die betreffenden Ge-
meinde- oder Stadtverwaltungen erhoben werden können. Bei dieser Ein-
richtung wird es wohl vorläufig bleiben, bis wir in den ganzen Ländern
überall sachkundiges Personal und überall genügende öffentliche Desinfections-
anstalten haben und bis alle Desinfectionen für jedermann — gleichviel ob
arm oder reich — vollkommen kostenlos ausgeführt werden. — Ein ähnlicher
Vorgang wie die Desinfection ist die
Sterilisation, doch sind die Endziele beider im Allgemeinen verschieden,
denn Sterilisation bezeichnet das vollkommene Freimachen eines
Gegenstandes von allen in ihm vorhandenen oder ihm irgend
wie anhaftenden Keimen; im Gegensatz zu der Desinfection, die ja
in vielen Fällen dasselbe Endziel hat, sich aber meistens damit begnügt, die
zu desinficirenden Gegenstände von den Infectionserregern zu befreien, die
nicht pathogenen Keime dabei vollkommen unberücksichtigt lassend. Wenn
wir uns an einem Beispiel den Unterschied zwischen beiden Vorgängen klar
machen wollen, so ist z. B. die Ausleerung eines Cholerakranken desinficirt,
wenn die in ihr vorhandenen Choleravibrionen vernichtet sind, was bei der
Empfindlichkeit derselben verhältnismässig leicht ist; sie ist aber erst dann
als sterilisirt zu betrachten, wenn sämmtliche in der Ausleerung vor-
handenen Keime vernichtet sind, was natürlich bedeutend energischere Ein-
wirkung von Desinfectionsmitteln erfordert, da in derartigen Ausleerungen
neben den leicht zu vernichtenden Choleravibrionen noch eine grosse Menge
anderer, auch in jedem normalen Stuhlabgang vorkommender Bacterien vor-
handen ist, welche eine bedeutend grössere Widerstandskraft gegenüber den
Desinfectionsmitteln besitzen.
Wir bedienen uns daher der Sterilisation auch nur in ganz beson-
deren Fällen. Eine Hauptrolle spielt die Sterilisation in der Wissenschaft,
die sich damit beschäftigt die Eigenschaften, Lebensbedingungen u. s. w. der
uns umgebenden Mikroorganismen zu erkennen und zu beschreiben, in der
Bacteriologie. Es wäre ein Arbeiten auf diesem Gebiete undenkbar ohne
die Sterilisation. Alle Instrumente, alle Nährböden, deren wir uns bei bac-
DESINFECTION. 197
teriologischen Arbeiten bedienen, müssen absolut steril, d. h, keimfrei sein,
wenn wir zu sicheren Resultaten gelangen wollen.
Es kommt dabei nur ein physikalisch bacterienvernichtendes Mittel in
Betracht, das ist die Hitze in ihren verschiedenen Anwendungen als offene
Flamme, trockene heisse Luft, strömender Wasserdampf oder
kochendes Wasser; weil chemisch wirkende Mittel die zu benutzenden
Gegenstände und Nährböden unbrauchbar für Culturzwecke machen würden.
Metallische Instrumente werden am zweckmässigsten durch Aus-
glühen in der Flamme sterilisirt. Glasgegenstände, wie Schalen,
Kolben, ßeagensgläser u. s. w. werden nach gründlicher mechanischen Rei-
nigung und Trocknung mit Deckel oder Wattepfropf verschlossen durch
trockene Hitze sterilisirt. Zu dem Zwecke werden die genannten Gegen-
stände in sog. Trockenschränken einer Hitze von 150 — 160'' C für etwa
72 Stunde ausgesetzt, welche hinreicht um alle Keime, selbst die resistenten
Dauerformen zu vernichten.
Die Trockenschränke sind doppelwandige, vorn mit einer Thüre
versehene Kästen aus Eisenblech, welche von unten vermittels eines starken
Gasbrenners erhitzt werden. Im Dach ist ein Thermometer angebracht, an
welchem man die Innentemperatur ablesen kann. Diese steigt schon etwa
10 Minuten nach dem Anheizen auf 150 — 160° und hält sich dann auf
dieser Höhe.
Eine solche Einwirkung trockener Hitze vertragen nun wohl Glas- und
Metallgegenstände, nicht aber die Nährlösungen für Bacterien, deren
Sterilisation gerade von so ausserordentlicher Bedeutung ist. Flüssigkeiten,
oder Substanzen, welche sich bei der Erhitzung verflüssigen, dürfen wir für
längere Zeit einer so hohen Temperatur nicht aussetzen, da sie durch die-
selbe erheblich angegriffen, ja sogar vollständig zerstört werden können.
Wir bedienen uns daher zur Sterilisation von Flüssigkeiten und über-
haupt von Nährböden für Bacterien der Erhitzung auf 100^ C durch
strömenden Dampf, indem wir uns dabei den Umstand zu Nutze machen,
dass die Hitze in Flüssigkeiten sehr viel kräftiger und rascher ihre ver-
nichtende Wirkung geltend zu machen weiss, als im trockenen Zustande, also
bei Anwendung heisser Luft, da z. B. Sporen, die einer trockenen Hitze von
150^* C 1/2 Stunde lang zu trotzen vermögen, in siedendem Wasser oder in
gesättigtem Wasserdampf von 100° C ihre Entwicklungsfähigkeit in wenigen
Minuten verlieren.
Wir wenden nun zwecks Sterilisirung im strömenden Wasserdampf
besondere Apparate, sog. Dampfkochtöpfe an, als deren ältestes und auch
jetzt noch gebräuchlichstes Modell der Kocn'sche Dampfkochtopf anzusehen
ist. Es ist dies ein etwa ^/^ m hoher, 30 cm im Durchmesser haltender Cy-
linder aus Weissblech oder Kupferblech, welcher aussen zum Schutz gegen
Wärmeverluste mit einem dichten Mantel von Filz oder Asbest umkleidet ist.
Oben trägt derselbe einen gleichfalls mit Filz bedeckten Deckel, den sog.
Helm, welcher den Cy linder nicht luftdicht abschliessen darf und in seiner
Mitte eine Oeffnung zur Aufnahme eines Thermometers hat. Im Innern des
Apparates befindet sich an der Grenze des unteren Drittels ein Rost; der
Raum zwischen diesem und dem Boden wird zum grössten Theil mit Wasser
angefüllt, dessen Stand an einem seitlichen Rohre jederzeit abgelesen werden
kann und das durch eine unter dem Boden befindliche Gasflamme zum Sieden
gebracht wird. Der Rost theilt also den Cylinder in einen unteren Wasser-
und oberen Dampfraum (Abbildung s. S. 137).
Bringen wir nun ein Gefäss mit einer zu sterilisirenden Flüssigkeit auf
den Rost des Dampfkochtopfes und heizen denselben an, so können wir über-
zeugt sein, dass in der Regel ein halb- bis einstündiger Aufenthalt der Flüs-
sigkeit in dem Kochtopf, von dem Augenblick der vollen Dampfentwicklung
an gerechnet, genügt, um dieselbe sicher zu sterilisiren.
198 DESINFECTION.
Substanzen, welche durch längeres ununterbrochenes Kochen verändert
werden, wie z. B. die Nährgelatine, welche dabei ihre Erstarrungsfähigkeit
verliert, können durch wiederholtes kurzes Kochen (an 3 auf einander
folgenden Tagen für je 10 Minuten) ebenfalls sterilisirt werden.
Bei gewissen Substanzen können wir aber auch die Sterilisirung durch
strömenden Wasserdampf von 100^ nicht anwenden; z. B. bei stark ei-
weisshaltigen Flüssigkeiten, bei denen durch Erhitzung auf 100*^ das
Albumen zur Gerinnung gebracht, die Lösungen also wesentlich in ihren
Eigenschaften und ihrer Zusammensetzung verändert werden. Für diese Fälle
bedienen wir uns eines Verfahrens, welches von Tyndall eingeführt und
„discontinuirliche" oder „fractionirte Sterilisation" genannt
wurde.
Wir wissen, dass die meisten Bacterien in ihren vegetativen Formen
eine Temperatur von 60*^ C nicht lange vertragen, während die Dauerformen
hierdurch in keiner Weise beeinflusst werden. Erwärmen wir also eine Nähr-
flüssigkeit längere Zeit auf 60°, so bleiben nur die Sporen am Leben. Lassen
wir nun mit der Einwirkung der hohen Temperatur für einige Zeit nach, so
beginnen die Sporen auszukeimen, sich in die weniger widerstandsfähigen ve-
getativen Formen umzuwandeln. Eine wiederholte Erhitzung auf 60° tödtet
die neuen Bacillen, eine weitere Abkühlung bringt mehr Sporen zur Aus-
keimung s. u. w. Wiederholt man dies mehrere Tage hindurch, so kann man
auch durch diese Methode eine Flüssigkeit sterilisiren.
Die Erfahrung hat nun gezeigt, dass es sich empfiehlt, die Lösungen
etwa eine Woche hindurch täglich 4 — 5 Stunden auf 56 — 58° C zu
erwärmen.
Des kochenden Wassers, als Sterilisationsmittels bedient man sich
in Fällen, in denen strömender Wasserdampf nicht zur Verfügung steht, und
zwar kann man mit Hilfe desselben in Form eines Wasserbades sowohl me-
tallene Gegenstände, als auch Glassachen und schliesslich auch Nährflüssig-
keiten sterilisiren.
Ein weiteres wichtiges Gebiet für die Sterilisation gibt die Chirurgie,
auch hier kommt es darauf an, dass Instrumente und Hände des Ope-
rateurs, Spülflüssigkeiten und Verbandstoffe steril, d. h. voll-
kommen keimfrei sind.
Die Instrumente werden am besten sterilisirt, indem sie entweder
Vg Stunde in Wasser mit etwas Sodazusatz gekocht werden, oder indem sie
mit Wasser und Seife gründlich gebürstet und darauf für einige Minuten in
eine desinficirende Flüssigkeit (Carbolsäure oder Lysollösung u. s. w.)
gelegt werden.
Schwierig ist die gründliche Sterilisation der Hände, und fast jeder
Operateur bedient sich dabei einer besonderen Methode. Ein bestimmtes
Schema hierfür aufzustellen ist zwecklos, da eine jede Methode gut sein kann,
sofern sie sorgfältig und gründlich angewandt wird. Wenn wir eine einfache,
wenig complicirte Methode nennen wollen, so ist das Folgende: Die Hände
werden mit Seife und warmem Wasser mehrere Minuten hindurch gründ-
lich gebürstet und darauf in gleicher Weise mit einer 57o Carbollösung oder
besser noch l^/oo Sublimatlösung behandelt.
Als Spülflüssigkeiten für Wunden, soweit dieselben heut noch angewandt
werden, dienen schwache Lösungen chemischer Desinfectionsmittel, die mit
gekochtem Wasser hergestellt sein sollen, oder zweckmässiger: steriles, d. h.
längere Zeit (ca. 1 Stunde) in einem Dampfkochtopf gekochtes Wasser.
Als Sterilisationsmittel für Verbandstoffe — soweit dieselben nicht mit
chemischen Desinfectionsmitteln imprägnirt sind — dient auch der strömende
Dampf, der in Dampfkochtöpfen erzeugt wird.
EISENBAHN-HYGIENE. 199
Auch gewisse Medicamente, nämlich Injectionsflüssigkeiten
müssen sterilisirt werden, soweit sie nicht Lösungen von an sich desinficirend
wirkenden chemischen Stoffen sind. Es geschieht die Sterilisirung entweder
auch durch Kochen der Lösungen oder durch Zusatz geringer Mengen eines
chemischen Desinfectionsmittels, meistens des Phenols oder des Sublimats.
A. DRÄER.
Eisenbahn-Hygiene. Die hygienischen Maassnahmen in Bezug auf
die Eisenbahnstrecke, die Stationsanlagen, sowie das daselbst beschäftigte und
wohnhafte Personale, sammt dessen Hausstand, sind die gleichen wie in den
angrenzenden Gebieten. Sie unterstehen den für die Allgemeinheit angeord-
neten Vorschriften. Nur insoferne die Eisenbahn als Transportanstalt in
Action tritt, sind besondere Maassregeln nothwendig, um den durch die Be-
förderung von Menschen und Thieren und Thierproducten gegebenen Gefahren
der Einschleppung und Weiterverbreitung von Epidemien und Seuchen wirk-
sam zu begegnen. Eine Contumacirung des reisenden Publicums hat sich bei
der Lebhaftigkeit des Verkehres, und der aus dessen, wenn auch nur zeit-
weiligen Unterbrechung folgenden Nachtheile, sowie auch bezüglich der, der
intendirten Wirkung geradezu entgegengesetzten Einflussnahme auf die Salu-
brität der Contumacirten und deren Umgebung, als nicht erspriesslich erwiesen;
und ist nunmehr, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht mehr in Uebung.
Desgleichen sind Viehtransporte auch zu Zeiten von Thierseuchen, schon aus
Approvisionirungs-Ptücksichten. nicht gänzlich einzustellen.
Um so genauer und strenger müssen daher behördliche Maassnahmen
platzgreifen, um eine Verschleppung einer Epidemie oder Seuche möglichst
zu hindern und die Tilgung einer bestehenden zu erleichtern. Um diesem
Zwecke zu entsprechen, sind vor Allem die, eine Seuche oder Epidemie unter-
haltenden und nährenden Zuflüsse nach Möglichkeit zu unterbinden.
I. Seuchen.
Der Transport von Thieren und Thierproducten aus verseuchten
Gegenden, ist theils gänzlich verboten, theils an Bedingungen gebunden,
welche geeignet sind, die Wege einer Seuche zu unterbrechen und deren
Ausläufer genau zu verfolgen. Es sind im Wege der Gesetzgebung Anord-
nungen getroffen, durch welche bei jeder einzelnen der ansteckenden Thier-
krankheiten, die zur Verfrachtung zugelassenen Thiere, Theile des Thieres
und Thierproducte, wie die Art und Weise der Zubereitung der Sendung, sowie
auch die Eisenbahn-Ein- und Auslade-Stationen vorgeschrieben werden, so
dass nach Möglichkeit eine Gewähr für die Sicherung des Gesundheitszustandes
des Viehstandes und Bewahrung der Gesundheit des den Transport beglei-
tenden Personales, als auch des consumirenden Publicums gegeben ist. Für
die wirksame Desinficirung der Transportmittel, der Stationen, der zum Ver-
laden benützten Rampen und Treppen, der Verpackungsmittel, sowie des be-
dienenden Personales sind behördliche Anordnungen getroffen.
Die Bahnverwaltungen werden von dem amtlich constatirten Ausbruche
einer Seuche, dem Seuchenbezirke und dessen Umfang unverzüglich verstän-
digt, auf dass sie in die Lage kommen, den getroffenen Anordnungen zu ent-
sprechen. Dem Bahnverkehre werden selbstverständlich nur solche Beschrän-
kungen auferlegt, welche in den Bestimmungen und dem Geiste der bezüg-
lichen Gesetze begründet sind.
In Oesterreich ist in Bezug auf die ansteckenden Thierkrankheiten, zu deren Abwehr
und Tilgung das Gesetz vom 29. Februar 1880 (Nr. 35 E. Gr. B.) in Wirksamkeit. Mit den
Nacbbarreichen sind specielle Uebereinkommen bezüglich der Zulässigkeit von Thiertrans-
porten getroffen.
200 EISENBAHN-HYGIENE.
Das obbenannte österreichisclie Gesetz betrifft den Schutz des inländiscben Vieh-
standes gegen Viehsenchen überhaupt und insbesonders die Abwehr und Tilgung der:
a) Maul- und Klauenseuche der Einder, Schafe, Ziegen und Schweine,
b) des Milzbrandes (Anthrax) der landwirthschaftlichen Hausthiere,
c) der Lungenseuche der Rinder,
d) der Rotz- (Wurm-) Krankheit der Pferde, Esel und "Maulthiere,
e) der Pocken- oder Blatternseuche der Schweine,
f) der' Beschäl- (Chancre) Seuche der Zuchtpferde und des Bläschenausschlages an
den Geschlechtstheilen der Pferde und Rinder,
g) der Räude (Krätze) der Pferde und Schafe,
h) der Wuthkrankheit der Hunde und übrigen Hausthiere.
Auch hat das Gesetz und dessen Durchführungsvorschriften Anwendung auf den
Rauschbrand der Rinder, Rothlauf der Schweine und die Schweinepest.
Ein besonderes Gesetz (vom 29. Februar 1880, R. G. B. Nr. 37) behandelt die Ab-
wehr und Tilgung der Rinderpest.
Die Einfuhr aus dem Auslande betreffend, werden Hausthiere,
welche den verzeichneten Krankheiten unterliegen, nur gegen Vorweisung
von Viehpässen zum Transporte zugelassen; in den Viehpässen muss der
unverdächtige Zustand beim Abgange der Thiere von dem ständigen Aufent-
haltsorte bestätigt sein. Die Viehpässe enthalten die Angabe der Stückzahl
der Thiere, die nähere Bezeichnung derselben, und etwaige besondere Merk-
male der Viehstücke; dann die Bestätigung, dass die Thiere beim Abgange
gesund waren, und dass sie aus einem Standorte kommen, in welchem und
dessen Umgebung zur Zeit des Abganges der Thiere, eine auf diese Thier-
gattung übertragbare Krankheit nicht herrscht. Sind die Thiere durch vor-
schriftsmässige Viehpässe nicht gedeckt, so ist der Transport von der Zoll-
behörde zurückzuweisen.
Ist in einem Nachbarlande eine ansteckende Thierkrankheit in einem
für den inländischen Viehstand bedrohlichem Umfange ausgebrochen und
ihre Verschleppung in das diesseitige Gebiet zu besorgen, so kann von der
politischen Landesbehörde die Einfuhr lebender oder todter Thiere, durch
welche die Verschleppung der Ansteckungsstoffe möglich ist, aus dem ver-
seuchten Gebiete:
1. entweder entlang der Grenze des ganzen Verwaltungsgebietes oder
für bestimmte Grenzstrecken verboten, oder
2. nur über bestimmte Eintrittsorte und unter Beschränkungen ge-
stattet werden, welche die Gefahr einer Einschleppung ausschliessen.
Die Verkehrsbeschränkungen können nach Erfordernis auch auf die
Einfuhr von rohem Fleisch und sonstigen thierischen Rohstoffen, Dünger,
Rauhfutter, Streumaterialien und von allen Gegenständen, welche Träger des
Ansteckungsstoffes sein können, ausgedehnt werden.
Nach Massgabe der Umstände kann die Absperrung der Grenze nöthigen-
falls mit militärischen Kräften verfügt werden.
Die diesbezüglichen Verkehrsbeschränkungen werden den betreffenden
Eisenbahnverwaltungen zur Kenntnis gebracht.
An den bestimmten Eintrittsorten ist für die Dauer des Bedarfs ein
Thierarzt aufgestellt.
Gewinnt die Seuche im Nachbarlande innerhalb einer Entfernung von 20 Kilometern
von der Grenze entfernt eine bedrohliche Ausdehnung, so kann von der politischen
Landesbehörde, für die betheiligten diesseitigen Grenzbezirke eine Revision des vorhandenen
Viehstandes und die Evidenzhaltung des Gesundheitszustandes, sowie Zuwachses und Ab-
ganges der durch die Seuche gefährdeten Thiergattungen angeordnet werden (Viehcataster).
Beim inländischen Verkehre sind Viehpässe beizubringen:
a) für Wiederkäuer, Pferde, Schweine, welche auf Thierschauen gebracht werden.
b) für Rindvieh jeden Alters, welches auf Viehmärkte oder Auctionen gebracht,
oder für Rindvieh (ausgenommen zum Schlachten gebrachte Kälber unter 6 Monaten),
welches aus Anlass des Wechsels des Standortes in einer anderen, über 10 Kilometer ent-
* ernten Art abgetrieben wird,
EISENBAHN-HYGIENE. 201
c) für Herden von Wiederkäuern und Schweinen, welche über grössere Länder-
strecken getrieben werden,
d) für Wiederkäuer und Schweine, welche mittelst Eisenbahn und Schiffen befördert
werden.
Die Viehpässe haben eine Giltigkeit von 16 Tagen (können dann verlängert werden).
Auf Viehmärkten ist das Vieh aus Ländern, welche nicht zum Geltungs-
gebiete des allgemeinen Thierseuchengesetzes gehören, unbedingt auf einer
ganz abgesonderten Marktabtheilung aufzustellen.
Beim Herrschen von Rinderpest ist die Abhaltung von Vieh- und
anderen Märkten im Seuchenbezirke verboten. Diese dürfen nur in grösseren
Städten, zu Approvisionirungszwecken, mit besonderer behördlicher Bewilligung
unter der Bedingung abgehalten werden, dass alle auf den Markt gebrachten
Wiederkäuer diesen nur verlassen können, um unmittelbar zur Schlachtbank
desselben Ortes geführt zu werden.
Bezüglich der Beförderung von Wiederkäuern auf Eisen-
bahnen und Schiffen ist folgendes vorgeschrieben:
1. Die Transporte sind beim Ein- und Ausladen an den hiezu bestimmten Stationen
von Thierärzten oder sonstigen Sachverständigen zu untersuchen.
2. Die Ausladung der Thiere darf — Nothfälle ausgenommen — nur am Be-
stimmungsorte erfolgen.
3. Schlachtvieh darf nicht gemeinschaftlich mit Zucht- oder Nutzvieh zur Versendung
gebracht und auch nicht in demselben Eisenbahnwagen oder auf demselben Schiffe ver-
laden werden.
4. Aus einem fremden Lande eingeführtes Schlachtvieh darf nicht mit einheimischen
Wiederkäuern in demselben Zuge oder auf demselben Schiffe verladen werden. (Die Lin-
und Ausladestationen für Transporte von Wiederkäuern und Schweinen werden amtlich
bestimmt. Die zur Untersuchung der Thiere berufenen Organe werden von der politischen
Landesbehörde bestellt.) Die Aufnahme einzelner mit ordnungsmässigen Viehpässen ge-
deckter Thiere, behufs deren Beförderung, und die Ausladung solcher Thiere ist an be-
stimmte Stationen nicht gebunden.
Die Weiterbeförderung der Viehtransporte von den Ein- und Ausladestationen darf
nur erfolgen, wenn rücksichtlich der Viehpässe und rücksichtlich des Gesundheitszustandes
der Thiere kein Anstand obwaltet. Trifft das Letztere zu, so ist der Viehpass von dem
bestellten Sachverständigen behufs des Weitertransportes mit der Bemerkung „unbedenkHch
befunden" unter Beifügung der Beschauprotocolls-Nummer, des Datums und der Unter-
schrift des Sachverständigen zu versehen.
Das Beschauprotocoll ist nach der hiefür erlassenen Instruction zu führen. Es ist
durch geeignete Vorkehrungen dafür zu sorgen, dass auf den Ein- und Abladeplätzen
während der Vornahme der Sachverständigen-Beschau, sowie bei etwa nöthigen Umladungen
und auf den Haltestellen das Zusammenkommen des Transportviehes und dessen Ver-
mischung mit anderen Thieren derselben Gattung hintangehalten bleibt. Kommt unter
den mit der Eisenbahn beförderten Wiederkäuern ein Erkrankungs- oder Todesfall vor,
der nicht zweifellos auf eine äussere Einwirkung zurückzuführen ist, so ist diejenige
Eisenbahnstation, von welcher die Intervention einer politischen Bezirksbehörde im
kürzesten Wege zu erreichen ist, behufs Inanspruchnahme dieser Intervention telegraphiscb
zu benachrichtigen.
Die politische Bezirksbehörde hat sogleich wegen der sachverständigen Untersuchung
das Nöthige einzuleiten und hängt von dem Befunde ab, ob die Weiterbeförderung des
Transportes an den Bestimmungsort gänzlich oder theil weise aufzuhalten und was überhaupt
aus veterinärpolizeilichen Rücksichten vorzukehren ist. Im Falle der zulässig befundenen
gänzlichen oder theilweisen Weiterbeförderung des Transportes ist die Behörde des Be-
stimmungsortes von dem Vorkommnisse und dem Befunde, behufs Einleitung der ent-
sprechenden veterinärpolizeilichen Vorkehrungen telegraphisch zu verständigen.
Die weitergehenden Vorsichtsmassregeln mit Rücksicht auf Rinderpest sind in dem
betreffenden Gesetze und der Vollzugsvorschrift zu demselben enthalten.
Für den Handel und Marktverkehr bestimmte Sendungen von Fleisch
oder geschlachteten Hausthieren werden zur Beförderung mittelst
Eisenbahn nur dann zugelassen, wenn sie mit Certificat über die am Schlacht-
orte ordnungsmässig vorgenommene Beschau gedeckt sind. (Für Provenienzen
aus Seuchenbezirken stellt das Certificat die Seuchen-Commission aus.)
Diese Bestimmung hat keine Anwendung auf geräuchertes oder gepöckeltes
Fleisch, auf Würste und überhaupt auf Fleisch, welches auf irgend eine durch-
greifende Weise zubereitet ist, und sich nicht mehr in rohem Zustande befindet
202 EISENBAHN-HYGIENE.
FleischsenduDgen, welche an private Personen versendet werden, sind
von der Beibringung eines Certiticates befreit. Zum Eisenbahntransporte darf
nicht zugelassen werden:
a) das Fleisch von schlecht genährten Thieren,
h) von nothgeschlachteten Thieren,
c) von nicht ganz reifen Kälbern,
d) von finnigen Schweinen,
e) aufgeblasenes Fleisch und derlei Lungen,
/) überhaupt jedes Fleisch, welches der Beschauer für ungeniessbar er-
klärt.
Beim Ausladen findet neuerlich eine Beschau statt.
Bei einer Seuchengefahr finden folgende Schntzmaassregeln statt:
Einstellung des Weitertriebes,
Stallsperre,
Weidesperre, ferner Orts- und Flursperre; auch Gegenstände, welche geeignet sind,
die Krankheit zu verschleppen, wie: Haare, Häute, Klauen, Futter, Dünger etc. dürfen
nicht transportirt werden. Gefallene Thiere müssen auf thermischem oder chemischem
Wege unschädlich gemacht oder verscharrt werden. Transportmittel sind zu desinficiren.
Wenn Cadaver behufs der Beseitigung weiter verführt werden müssen,
sind sie vorher mit Kalkbrei oder Carbolsäurelösung zu übergiessen, und
während des Transportes bedeckt zu erhalten.
Die bei den einzelnen im Thierseuchengesetze benannten Krankheiten
festgesetzten Verbote für Transportirung von Thieren, Thier-
theilen, thierischen Rohproducten, sowie die bezüglich der Behand-
lung der Sendungen erflossenen behördlichen Anordnungen sind im Folgenden
auszugsweise wiedergegeben:
Bei Maul- und Klauenseuche darf Schlachtvieh unter gewissen Cauteln aus
verseuchten Gegenden eingeführt werden; nicht aber Melkkühe als Nutzvieh, Milch von
kranken Thieren in ungekochtem Zustande, Dünger, Rauhfutter. Häute erst nach erfolgter
Desinficirung.
Bei Milzbrand dürfen Thiere, welche als krank oder verdächtig erklärt werden,
zum Zwecke des Fleischgenusses und der Verwerthung nicht geschlachtet werden. Der
Verkauf einzelner Theile des Thieres, der Milch oder sonstiger Producte der Thiere ist ver-
boten. Das Cadaver darf nicht abgeledert werden. Wegen leichter Uebertragbarkeit auf
den Menschen, sind Personen mit Verletzungen an den Händen oder anderen bloss getra-
genen Körpertheilen, zur Wartung oder Schlachtung der Thiere nicht zu verwenden.
Cadaver gefallener oder getödteter Thiere, wobei die Haut kreuzweise eingeschnitten wird,
sind mit Aetzkalk oder Asche zu bestreuen, dann zu verscharren. Strengste Desinfection.
Bei Lungenseuche des Rindviehes ist der Abtrieb von gesunden Thieren zu ge-
statten. Fleisch von gesund befundenen frei zu verwerthen (ausgenommen die Lungen);
kranke Thiere zum Genüsse nicht geeignet.
Häu-te dürfen in desinficirtem Zustande transportirt werden. Eauhfutter und Streu-
materiale nicht.
Bei grösserer Ausdehnung der Seuche: Verbot der Eindviehmärkte. Während des
Transportes ist das kranke Vieh vom Gesunden abzusondern, üeber das Fleisch ist ein
Certificat über den Umstand, dass das Thier beim Schlachten gesund befanden wurde,
beizugeben.
Transport auf Eisenbahnen bis zu einem Orte, an welchem die Thiere geschlachtet
werden sollen, kann gegen amtliche Bewilligung gestattet werden.
Genesene Thiere dürfen erst nach 6 Monaten frei transportirt werden.
Bei Rotzkrankheit sind kranke Thiere sofort zu tödten. Verdächtige abzusondern.
Cadaver mit Haut und Haar unschädlich zu vertilgen (wie bei Milzbrand); leichte Ueber-
tragbarkeit auf Menschen. Wartepersonale muss sich die Hände mit Carbolsäurelösung
desinficiren; auch die Kleider sind zu desinficiren.
Bei Pocken der Schafe kann der Dünger auf Feldern verwendet werden. Rauh-
futter und Streumateriale darf nicht ausgeführt werden. Schafwolle nur nach stattgehabter
Desinfection, in Säcken verpackt. Bei ausgesprochener Ortssperre (wegen grosser Ausbrei-
tung der Seuche) ist die Axis-, Ein- und Durchfuhr im Seuchenorte verboten. Cadaver sind
zu vertilgen. Abgenommene Häute zu desinficiren, und erst in vollkommen trockenem
Zustande transportabel.
Bei Beschälseuche dürfen kranke Pferde ohne behördliche Zustimmung den Stand-
ort nicht verlassen. Häute nach Desinfection und Trocknung verfrachtbar.
EISENBAHN-HYGIENE. 203
Bei Räude der Pferde und Schafe sind die Gesunden von den Kranken abzuson-
dern. Fleiscli Ton geschlafhteten Tliieren, nach behördlicher Genehmigung verwendbar.
Häute sind unmittelbar in Gerbereien abzugeben oder wenn zum Transporte bestimmt,
vorher zu desinficiren und zu trocknen. Räudekrunkc Schafe dürfen aus dem Seuchenorte
nur über behördliche Genehmigung unter Einhaltung der entsprechenden Vorsichten und
nur zum Zwecke der Schlachtung verfrachtet werden. Wolle nur in festen Säcken ver-
packt zu transportiren. Personen und Kleider zu desinficiren. Das Gleiche gilt von räude-
kranken Ziegen.
Bei Wuthkrankheit der Hausthiere sind Verdächtige oder von solchen Verwun-
dete abzusondern. Kranke zu tödten und zu beschauen. Cadaver dürfen nicht abgehäutet
werden. (Mit Haut und Haar zu vertilgen — wie bei Milzbrand.) Desinfection auf das Ge-
naueste; hölzerne Gegenstände und Stroh zu verbrennen; eiserne Geräthe auszuglühen.
Die gleichen Vorsichtsmassregeln bei Rauschbrand der Rinder, Ftothlauf der
Schweine und Schweinepest.
Unwahre Angaben bei Ausstellung der Viehpässe und Ursprungsbescheinigungen sind
mit Geld oder Arrest zu bestrafen. Bei Umgehung des Einfuhrverbotes kann die Straf-
behörde Thiere und thierische Rohproducte für verfallen erklären.
Bei Rinderpest dürfen aus verseuchten Gegenden nicht eingeführt werden: Rinder
und andere Wiederkäuer im lebenden oder todten Zustande; alle von diesen abstammenden
thierischen Theile, Abfälle, Rohstoffe in frischem oder getrocknetem Zustande (mit Ausnahme
von Molkenproducten, Milch, ausgeschmolzenem Talg, dann Schafwolle, welche gewaschen
oder calcinirt wurde und in Säcken oder Ballen verpackt ist. Das Verpackungsmaterial,
Heu und Stroh ist zu verbrennen); Rauhfutter, Stroh und anderes Streumaterial, Dünger,
gebrauchte Stallgeräthe und Anspanngeschirre, sowie für den Handel bestimmte getragene
Kleider, Schuhwerk, Hadern etc.
Die politischen Landesbehörden haben von dem Ausbruche einer Seuche
an der Grenze den Eisenbahnverwaltungen die nöthigen Mittheilungen zu
machen, insbesonders in Bezug auf die Verkehrsbeschränkungen. Aus nicht
verseuchten Gegenden verseuchter Länder ist der Verkehr gestattet bei Bei-
bringung amtsthierärztlicher Gesundheits-Atteste, mit Bestätigung des Um-
standes, dass der Transport durch seuchenfreie Gegenden stattfand, sowie der
Zeitdauer des Aufenthaltes in seuchenfreien Orten.
Die Einbruchsstationen für den Transport werden behördlich bestimmt.
Beim Verkehre zwischen Oesterreich und Ungarn können nachweislich fabriksmässig
oder chemisch gewaschene Wollsendungen frei und keiner veterinär-polizeilichen Procedur
unterliegend eingeführt werden, und sind keine Ursprungs- und Gesundheitscertificate bei-
zubringen.
Grenzsperre. Tritt die Rinderpest in Orten, die nicht über 40 Kilo-
meter von der Grenze entfernt sind, oder überhaupt in bedrohlicher Weise
auf, so ist von der politischen Landesbehörde des angrenzenden hierseitigen
Verwaltungsgebietes die Ein- und Durchfuhr von im § 1 bezeichneten Thieren
und Gegenständen über die Grenze überhaupt zu verbieten und die Absper-
rung derselben (Grenzsperre), nach Erfordernis auch mittelst eines militärischen
Cordons zu verfügen. Die Grenzsperre wird kundgemacht und sind die
Eintrittsorte für den zulässigen Verkehr zu bestimmen. Doch kann die Landes-
behörde auch im Falle der Grenzsperre den Transport aus nicht verseuchten
Gegenden des verseuchten Gebietes zulassen:
a) für Schlachtvieh nach solchen Orten, wo öffentliche Schlachthäuser
sind,
h) für vollkommen trockene Häute, Knochen, Hörner, Hornspitzen und
Klauen, gesalzene und getrocknete Rinderdärme, Saitlinge, ungeschmolzenen
Talg in Fässern und Wannen, Kuhhaare, Schweinsborsten, Schafwolle und
Ziegenhaare, insoferne letztere Gegenstände in Säcken oder Ballen verpackt sind.
Diese Transporte dürfen nur auf Eisenbahnen und Schiffen und unter
Beobachtung besonderer Beschränkungen und Vorsichten stattfinden.
Rücksichtlich der unter a) bezeichneten Transporte muss das Schlacht-
haus in unmittelbarer Verbindung mit dem Schienenwege oder dem Landungs-
platze der Schiffe stehen.
Der für die Einbruchsstation bestellte Thierarzt hat die Localbehörde
des Bestimmungsortes von dem Abgange eines Schlachtviehtransportes tele-
204 EISENBAHN-HYGIENE.
graphisch zu verständigen. Die Ortsbehörde des Bestimmungsortes hat da-
rüber zu wachen, dass von der Ankunft der Thiere bis zu deren Schlachtung
und bei letzterer Alles vermieden werde, wodurch die etwa vorhandene Krank-
heit verschleppt werden könnte. Die Schlachtung muss unter thierärztlicher
Aufsicht stattfinden.
Personen, die beim Transporte, dem Auf- und Abladen beschäftigt waren,
haben sich der Desinfection zu unterziehen.
Der nach dem Gesetze erforderliche Zustand der Rohstoffe ist von dem
bestellten Thierarzte an dem Eintrittsorte zu controliren. Besteht dieser Zu-
stand, wenn auch nur bei einzelnen Stücken, nicht, so ist die ganze Fracht
zurückzuweisen.
Beim nothwendigen Umladen und Wegbringen von den Ausladeplätzen
dürfen Bindviehbespannungen nicht benützt werden.
Nach verfügter Grenzsperre haben sich Personen, von denen bekannt
oder anzunehmen ist, dass sie in verseuchten Orten gewesen sind, oder mit
den im § 1 unter a) b) c) d) genannten Thieren oder Gegenständen in Berüh-
rung waren, vor ihrer Zulassung in das Geltungsgebiet des Gesetzes, einer
Desinfection zu unterziehen. Der Desinfection sind auch die Effecten solcher
Personen und die von denselben benutzten Fuhrwerke (wenn sie auf Land-
wegen übertreten) zu unterziehen.
Zum Zwecke der Desinfection dieser Personen, ihrer Effecten und der Fuhrwerke
ist in jedem der kundgemachten Eintrittsorte ein entsprechendes Desinfectionslocale zu be-
schaffen. Für dieses Locale, welches mit den nöthigen Desinfectionsmitteln und Geräthen
zu versehen sein wird, ist ein besonderer Wärter zu bestellen, welcher über die Art der
Anwendung des Desinfectionsmaterials zu belehren ist.
Es hat eine gründliche Reinigung und Desinfection der Kleider, hauptsächlich aber
des Schuhwerkes stattzufinden; desgleichen ist der Körper gründlich zu reinigen.
Beim Herannahen der Seuche, auf weniger als 20 Kilometer Entfernung
von der Grenze, haben in den Ortschaften der bedrohten Grenzbezirke die
Vorschriften wie für einen Seuchenbezirk in Anwendung zu kommen. (Vieh-
kataster.)
Strenge Maassregeln sind auch gegenüber ständig oder häufig verseuchten
Ländern (im Verordnungswege werden als solche dermalen Russland und
Rumänien bezeichnet) in Uebung, indem die Ein- und Durchfuhr von Rindern
aus diesen Ländern wegen der in besonderer Weise drohenden Einschleppungs-
gefahr gänzlich verboten ist. Schafe und Ziegen können mit behördlicher
Erlaubnis ein- und durchgeführt werden, solange die Seuche nicht innerhalb
80 Kilometer Entfernung von der diesseitigen Grenze herrscht. Thierische
Theile in frischem Zustande sind von der Ein- und Durchfuhr ausgeschlossen.
Hingegen kann gestattet werden der Transport von Häuten, Hörnern, Kno-
chen etc. in vollkommen getrocknetem Zustande, ungeschmolzener Talg in
Fässern und Wannen, Haare in Säcken oder Ballen verpackt, wobei dann
Desinfection an der Grenze vorgeschrieben werden kann. Dieser Transport
darf ausschlieslich nur per Eisenbahn oder auf dem Wasserwege erfolgen. Gewa-
schene oder calcinirte Wolle, Molkereiproducte und ausgeschmolzener Talg
unterliegen rücksichtlich ihrer Ein- und Durchfuhr keiner Beschränkung.
Gegenüber diesen Ländern besteht beständig eine verschärfte Grenzüberwachung
zur Verhinderung des Schmuggels mit Rindvieh. In dem an diese Länder grenzenden
diesseitigen Gebiete ist innerhalb einer Strecke von 30 Kilometern ein Kataster des Rind-
viehstandes anzulegen. Innerhalb dieses Grenzgebietes dürfen die Eisenbahnverwaltungen
Wiederkäuer zur Weiterbeförderung nur auf bestimmten Bahnstationen und auf Grund
vorschriftsmässig ausgestellter Viehpässe übernehmen.
Bei Ausbruch der Rinderpest in einer Ortschaft des Geltungsgebietes
des Gesetzes haben die strengsten Massregeln zur Verhinderung der Weiter-
verbreitung und zur Tilgung der Seuche Platz zu greifen. Es wird eine
Seuchen-Commission bestellt, welche die nöthig erscheinenden Anordnungen
trifft und deren exacte Durchführung überwacht. Die Seuchen-Commission
EISENBAHN-HYGIENE. 205
ist ermächtigt, in Ermangelung eines verendeten Thieres, zum Zwecke der
Feststellung der Rinderpest, ein krankes, der Pest verdächtiges Thier behufs
Vornahme der Section tödten zu lassen. Nach amtlicher Feststellung der
Krankheitsart als Rinderpest, sind alle pestkranken oder mit diesen in Be-
rührung gestandenen Rinder unverzüglich zu tödten. Cadaver unschädlich
zu vertilgen. Strengste Desinfection von Räumlichkeiten, Geräthschaften,
Personen. Der Seuchenort ist für Jedermann kenntlich zu machen. Im Falle
der Seuchenort der Stationsort einer Eisenbahn wäre, ist das Betreten dieses
letzteren durch die Ortsbewohner auf die Fälle der unbedingten Nothwendig-
keit zu beschränken, und ist — ausgenommen das zur Verproviantirung des
Ortes unter Einhaltung der behördlichen Vorschriften eingebrachte Schlacht-
vieh — das Auf- und Abladen von Wiederkäuern für die Seuchendauer un-
bedingt verboten. Wenn Rinderpest auf einem Eisenbahntransporte constatirt
wird, so sind alle Thiere, die kranken sowohl als die gesuuden, so schleunig
als möglich der Tödtung zuzuführen.
Das Fleisch von Rindern, welche wegen Seuchenverdacht getödtet wurden,
nach der Schlachtung aber vom Thierarzte als frei auch von den geringsten
Merkmalen dieser Krankheit, und zum Genüsse zulässig befunden wurde, darf
unter angemessener Vorsicht im Seuchenorte selbst verbraucht, oder in grössere
Verbrauchsorte behufs Verwerthung verführt werden. Die Häute solcher
Thiere sind unverzüglich durch Einlegen in Kalklauge zu desinficiren und
dann in Gerbereien abzugeben.
Alle anderen Theile des Thieres sind unschädlich zu beseitigen. Das
Fleisch muss, bevor es zur Verwerthung oder Versendung zugelassen wird,
vollkommen erkaltet sein. Zur Versendung ist die Zustimmung der Local-
behörde erforderlich.
Auf weitere Entfernung als 30 Kilometer vom Schlachtorte zum Ver-
kaufsorte darf zur Transportirung nur Eisenbahn oder Schifi benutzt werden.
Die zum Fleischtransporte benutzten Einsenbahnwaggons müssen, wenn
sie nicht für den Fleischtransport besonders eingerichtet sind, unter Plomben-
verschluss gesetzt werden. Polizeiliche Begleitung der Fleischsendung bis
an den Bestimmmungsort.
Die Seuchen-Commission verständigt die Local-Behörde des Bestimmungs-
ortes von dem Transporte. Letztere hat für Desinficirung von Fuhrwerk und
Verpakungsmittel zu sorgen.
Die Einfuhr von Rindern, Schafen und Ziegen in den Seuche-Ort zur
Verproviantirung unter genauer Beobachtung der Vorschriften statthaft.
Bei Ausbruch einer Seuche ist hievon an solche Gemeinden, nach welchen
eine Verschleppung des Ansteckungsstoffes möglicherweise stattgefunden haben
konnte und, insoferne der verseuchte Ort nicht über 75 Kilometer von der
Reichsgrenze entfernt liegt, auch an die zuständige Behörde des benachbarten
Staatsgebietes, Mittheilung zu machen.
Kommt die Rinderpest in grösseren Städten oder ausgedehnten Ortschaften nur an
einzelnen Punkten zum Ausbruche, so kann die Seuchen-Commission nach Massgabe der
örtlichen Verhältnisse die Aufnahme des Viehstandes, sowie die Absperrungs- und Siche-
rungsmassregeln auf einzelne Theile der Stadt oder der betreffenden Ortschaft oder auf
den Seuchenhof oder selbst auf den verseuchten Stall beschränken. Jedoch nur in Ort-
schaften, wo eine eigentliche Viehzucht nicht betrieben wird und der Bestand an Rindern
hauptsächlich aus Nutzvieh besteht.
Bestehen in einem Lande nur in einer Gegend wenige vereinzelte
Seuchenorte, so unterliegt der Verkehr der nicht in Seuchenbezirke fallenden
Theile der Länder untereinander, und mit den anderen Ländern keiner weite-
ren Beschränkung.
Bei Pest der Schafe und Ziegen kommen dieselben Maassregeln, wie bei Rinder-
pest, sinngemäss in Anwendung.
Bei Rauschbrand der Rinder dürfen die Thiere zum Zwecke des Fleischgenusses
nicht geschlachtet werden. Cadaver der gefallenen Thiere dürfen abgehäutet werden.
206 EISENBAHN-HYGIENE.
Häute mit Aetzkalk zu desinficiren. Die Nutzverwerthung und der Verkauf anderer Theile
und Produkte der rausclibrandkranken Thiere ist verboten.
Bei Rothlauf der Schweine darf das Fleisch von Schweinen, welche im ersten
Beginne der Krankheit geschlachtet wurden, wenn es bei der Beschau als zum Genüsse
zulässig befunden wurde, ausschliesslich im Seuchenorte verwendet werden. Es muss so-
gleich nach der Schlachtung der Siedehitze ausgesetzt und der Pöckelung unterzogen
werden.
Bei Schweinepest sind die kranken Thiere von den Gesunden abzusondern. Sperre
für Ein- und Ausfuhr. Kranke Thiere dürfen nicht geschlachtet werden. Cadaver mit
Kalklauge beschüttet zu vergraben. Nur wo ein behördlich genehmigter thermo-che-
mischer Apparat zur Verarbeitung von Aesern im Betrieb ist, dürfen an der Pest verendete
Thiere, ohne Entfernung irgend eines Theiles, mittelst dieses Apparates zur Gewinnung
von Fett für technische Zwecke, von Knochen und Fleischmehl verwendet werden.
Bezüglich des gegenseitigen Verhaltens bei Viehseuchen hat Oesterreich
mit den Nachbarreichen specielle Ueb er einkomm en getrofien. So mit dem
Deutschen Reiche, das Uebereinkommen vom 6. December 1891 (Das österr.
Sanitätswesen 1892 Nr. 8). Die mit anderen Nachbarstaaten getroffenen
Uebereinkommen können im Anhange der „MANz'schen Gesetzessammlung
Band XX" eingesehen werden.
Die Vorschriften bezüglich der Desinfection bei Viehtransporten auf
Eisenbahnen und Schiffen (Gesetz v. 19. Juli 1879 Nr. 108 R. G. B. lauten:
Vorschriften bezüglich der Desinfection hei Viehtransporten auf Eisenhahnen und Schiffen.
§ 1. Die Eisenbahnverwaltungen sind verpflichtet, jeden Eisenbahnwagen, in welchem
Wiederkäuer, Schweine, Pferde, Esel und Maulthiere befördert worden sind, einem Des-
infectionsverfahren zu unterziehen, das nach jedesmaligem Gebrauche sofort anzuwenden
und geeignet ist, die dem Wagen etwa anhaftenden Ansteckungsstoffe unwirksam zu machen.
Vor bewirkter Desinfection dürfen solche Wagen zu keinerlei Verfrachtung benützt werden.
Ebenso sind nach jedesmaligem Gebrauche die bei der Beförderung der Thiere zum
Füttern, Tränken, Befestigen oder zu sonstigen Zwecken benützten Geräthschaften zu des-
inficiren.
Beim Herrschen ansteckender Thierkrankheiten sind die Eisenbahnverwaltungen
von der politischen Landesbehörde zu verpflichten, auch die Desinfection der beim Ein-
und Ausladen von Thieren betretenen Treppen, sowie auch der Rampen, Ein- und Aus-
lade- und Viehauftriebsplätze der Eisenbahnen nach jedesmaliger Benützung vorzunehmen.
Durchführungsvorschrift (D. V.) vom 7. August 1879 Nr. 109 R. G. B.
Die Desinfection muss längstens innerhalb 48 Stunden nach der Entladung been-
digt sein. — Bei üeberführung der zu desinficiren den Wagen in eine Desinfectionsstation ist der
Vorstand der letzteren von dem Eintreffen derselben rechtzeitig zu verständigen.
Die Beförderung solcher Wagen in die Desinfectionsstation darf nicht mit Eisenbahn-
zügen, mit denen ausschliesslich Vieh transportirt wird, stattfinden. Bei Beförderung solcher
Wagen mit anderen Zügen sind dieselben am Ende des Zuges und nicht unmittelbar an
mit Vieh beladene Wagen anzureihen.
Die zur Desinfection bestimmten Wagen sind sorgfältig geschlossen zu halten und
in der Abladestation bis zur Abführung in die Desinfectionsstation, in letzterer aber bis
zur Vornahme der Desinfection derart abseits aufzustellen, dass eine Verschleppung des
Ansteckungsstoffes nicht erfolgen kann.
§ 2. Der Dünger und die Streumaterialien, die auf den Wagen, Treppen, Standorten
sich vorfinden, sind zu sammeln und sogleich zu desinficiren, wenn nicht in Anwendung
der Thierseuchengesetze deren Vernichtung stattzufinden hat.
Zur Fortschaffung des desinficirten oder des zur Vertilgung bestimmten Düngers und
Streumaterials dürfen Rinderbespannungen nicht verwendet werden.
D. V. Der bei der Reinigung der Wagen, Treppen, Rampen, Stand- und Verladeplätze,
Triebwege u. s. w. gesammelte Dünger, Kehricht und die Streamaterialien aus den Wagen
sind an besonderen, entsprechend isolirten Stellen zu sammeln und mit Kalkmilch oder
mit verdünnter Schwefelsäure (1 Theil Schwefelsäure auf 20 Theile Wasser) zu übergiessen.
Bei Transporten von Wiederkäuern, welche aus seuchenfreien Gegenden durch mit
Rinderpest verseuchte Länder kommen, sowie in Fällen, in welchen unter den ausgeladenen
Thieren Erscheinungen beobachtet werden, die einzelne derselben als mit Rinderpest, Rotz
oder Milzbrand behaftet oder dieser Krankheit verdächtig erkennen lassen, ist der Dünger,
Kehricht und das Streumateriale an geeigneten Stellen durch Verbrennen oder Vergraben
zu vernichten.
Die politische Behörde hat darüber zu wachen, dass bei Auswahl der gedachten
Stellen in sanitärer Beziehung kein Anstand obwalte.
§ 3. Die Verpflichtung zur Vornahme der Desinfection der Eisenbahnwagen und
sonstiger Geräthe und Gegenstände obliegt derjenigen Eisenbahnverwaltung, in deren
Bereich das Ausladen der Wagen stattfindet.
EISENBAHN-HYGIENE. 207
Erfolgt letztere im Auslande, so ist nach E,ückkelir der Wagen jene Eisenbahnver-
waltung zur Desinfectiori verpflichtet, deren Bahn im Geltungsbezirke dieses Gesetzes zuerst
berührt wird, ausgenommen der Fall, dass bereits im Auslande die vorschriftsmässige Des-
infection vorgenommen wurde und hierüber vertrauenswürdige Nachweise vorliegen.
Die Desinfection, beziehungsweise Vertilgung des Düngers und der Streumaterialien
ist ven jener Eisenbahnverwaltung zu bewirken, in deren Bereiche sie vorkommen.
§ 4. Zur Vornahme der Desinfection der benutzten Eisenbahnwagen werden von dem
Handelsministerium nach Vernehmen der Bahnverwaltungen Stationen bestimmt, nach
welchen die Wagen von jenen Ausladungsorten, wo die Desinfection nicht durchgeführt
werden kann, ohne Verzug zu bringen und dem vorgeschriebenen Verfahren zu unter-
ziehen sind.
D. V. Die Eisenbahnstationen, welche zu Desinfectionsanstalten bestimmt werden,
müssen mit all' den Einrichtungen in genügendem Masse versehen sein, welche die Durch-
führung der Desinfection in einer allen Anforderungen entsprechenden Weise ermöglichen,
und es sind auch diese Einrichtungen fortwährend in verwendungsfähigem Zustande zu
erhalten.
Die Bahnverwaltungen sind verpflichtet, die Einrichtungen solcher Desinfections-
anstalten der politischen Bezirks-Behörde bekannt zu geben. Letztere hat sich von der
Zweckmässigkeit derselben mit Rücksicht auf die in dieser Verordnung zu § 16 des Ge-
setzes gegebenen Vorschriften zu überzeugen.
§ 5. Die Eisenbahnverwaltungen sind berechtigt, für die mit der Ausführung der
Desinfection, beziehungsweise Vertilgung verbundenen Kosten eine Gebühr zu erheben,
deren Höhe von dem Handelsministerium nach Vernehmen der Eisenbahnverwaltungen von
Zeit zu Zeit bestimmt und bekannt gemacht wird.
§ 6. Die Eisenbahnverwaltungen sind verpflichtet, den Versendern der im § 1 ge-
nannten Thiere zu gestatten, die bereits von der Eisenbahnverwaltung desinficirten Wagen
auf eigene Kosten einer nochmaligen vorschriftsmässigen Desinfection zu unterziehen.
Eine solche Desinfection muss jedoch innerhallD der von der Eisenbahnverwaltung
bestimmten Zeit ausgeführt werden.
Die Kosten, welche aus dem hiedurch verursachten längeren Aufenthalte der Wagen
erwachsen, fallen dem Versender zur Last.
§ 7. Die Bestimmungen der §§ 1, 2 dieses Gesetzes haben auch für Transporte
mittels Schiffen rücksichtlich jener Eäume, welche zur Unterkunft der Thiere benützt oder
von denselben betreten werden, analoge Anwendung zu finden. Die Desinfection der Schiffe
und der im § 1 angeführten Geräthschaften hat sogleich nach Löschung der Fracht zu
geschehen.
Eine im Auslande vorgenommene Desinfection kann nur dann die für's Inland vor-
geschriebene ersetzen, wenn glaubwürdige Nachweisungen vorhegen, dass dieselbe vor-
schriftsmässig bewirkt wurde.
Die Verpflichtung zur Vornahme der Desinfection obliegt dem Schiffsführer,' be-
ziehungsweise der Transportunternehmung.
D. V. Fahrzeuge der Binnenschiffahrt, welche zum Transport der im § 1 des Ge-
setzes bezeichneten Thierarten eigens bestimmt sind, müssen an einer, vom Verkehr ab-
seits gelegenen Stelle der Reinigung und Desinfection unterzogen werden.
Rücksichtlich der Seeschiffe haben die Organe der Hafen- und Seesanitätsverwaltung
zu sorgen, dass im Verkehre mit den zu reinigenden und zu desinficirenden Schiffen, be-
ziehungsweise Schiffsräumen mit jener Vorsicht vorgegangen und die Reinigung und Des-
infection derart vorgenommen werde, dass die Verschleppung der Ansteckungsstoffe ver-
mieden werde.
RücksichtUch der Reinigung der Schiffsräume, der bei der Ausladung der Thiere von
denselben betretenen Landungsbrücken und Landungsplätze, der Beseitigung des Düngers,
Kehrichts, Streumaterials, sowie der Desinfection dieser Objecte, haben die in dieser Ver-
ordnung zu den §§ 1, 2 und 10 des Gesetzes enthaltenen Vorschriften analoge Anwendung
zu finden.
Die Desinfection der beim Viehtransporte benutzten Schiffsräume und Geräthe muss
nach Löschung der Fracht bei Fahrzeugen der Binnenschiffahrt längstens innerhalb
48 Stunden, bei Seeschiffen aber mit Vermeidung eines jeden unnöthigen Aufschubes
beendigt sein.
§ 8. Die Desinfection der zum Transporte thierischer Rohproducte benutzten Eisen-
bahnwagen und Schiffe hat einzutreten nach jedesmaliger Beförderung von
a) trockenen oder nur einer vorläufigen Bearbeitung unterzogenen thierischen, ins-
besondere von Wiederkäuern stammenden Rohproducten aus seuchenfreien Gegenden eines
von der Rinderpest verseuchten Landes;
b) von Fleisch und Häuten, eventuell von anderen thierischen Theilen aus Schlacht-
häusern an der Grenze;
c) von Fleisch und Häuten, welche von Rindern, Schafen, Ziegen herrühren, die
wegen Rinderpest oder Lungenseuchenverdachts getödtet und gesund befunden, oder die,
ohne rinderpestverdächtig zu sein, in einem verseuchten Orte oder in einem Seuchen-
bezirke geschlachtet worden sind.
208 EISENBAHN-HYGIENE.
Die Art des der Transportunternehmung zu liefernden Nachweises der unter a) b) c)
bezeichneten Umstände wird im Verordnungswege bestimmt. Auch wird im Verordnungs-
■wege festgesetzt, inwieferne Verpackungsmittel zu desinficiren oder zu vernichten sind.
D. V. Behufs des im § 8 des Gesetzes geforderten Nachweises rücksichtlich der sub
(i) h) c) bezeichneten Rohstoffe sind der Transportunternehmung Ursprungscertificate bei-
zubringen, welche für die sub a) angeführten Objecte der Gemeindevorsteher, für die sub h)
bezeichneten Stoffe der landesfürstliche Thierarzt, dem die Aufsicht eines solchen Schlacht-
hauses übertragen wird, für die sub c) genannten thierischen Theile, sowie für das zum
menschlichen Genüsse geeignete Fleisch geschlachteter lungenseuchekranker Rinder (Gesetz
vom 14 August 1886 Nr. 171 R. G. B.), die Seuchen-Commission auszustellen hat.
Die politischen Landesbehörden haben sowohl von dem ersten Ausbruche, als auch
von dem Erlöschen der Rinderpest im Lande, alle Eisenbahngesellschaften und Dampf-
schifffahrtsunternehmungen ungesäumt zu verständigen.
Ebenso hat jede politische Landesbehörde von dem zu ihrer Kenntnis gelangten
ersten Ausbruche oder dem Erlöschen der Rinderpest im benachbarten Auslande, den ge-
dachten Verkehrsanstalten sofort Mittheilung zu machen.
Mit Rücksicht auf die Bestimmung des § 8 «^ des Gesetzes muss bei Transporten
thierischer Producte, welche über Contumazan stalten eingebracht werden, die Desinfection
der Transportmittel jedesmal stattfinden. Diese Art der Provenienz ist durch die contumaz-
ämtliche Bescheinigung nachzuweisen.
Bei Beförderung gesalzener Häute ist eine Desinfection nicht nothwendig.
§ 9. Die Werkzeuge und Geräthe, welche behufs der Durchführung der Desinfection
benützt werden, sind gleichfalls zu desinficiren.
Ebenso haben sich die hiebei verwendeten Personen einer Reinigung zu unterziehen.
D. V. Die Personen, welche zur Reinigung und Desinfection verwendet werden, haben
sich hiebei eigener Ueberkleider zu bedienen, welche nach vollzogener Arbeit in Wasser
zu waschen und darnach einer ausgiebigen Lüftung zu unterziehen sind. Das Gleiche hat
mit der Fussbekleidung zu geschehen.
Diese Personen haben sich die Hände, und wenn sie sich einer Fussbekleidung nicht
bedienen, auch die Füsse mit 2°/oiger Carbolsäurelösung zu reinigen. Während der Arbeit
und vor vollzogener Reinigung müssen diese Personen den Verkehr mit Leuten, die mit Vieh
zu thun haben, jedes Nahekommen mit letzterem, sowie das Betreten der gereinigten oder
desinficirten Viehstandplätze etc. meiden.
§ 10. Die Desinfection ist unter sachverständiger Aufsicht vorzunehmen und be-
hördlich zu überwachen. Das Desinfectionsverfahren wird im Verordnungswege bestimmt.
D. V. Die Desinfection der "Wagen muss bewirkt werden entweder:
1. Durch heisse Wasserdämpfe, die unter einer Spannung von . mindestens zwei
Atmosphären auf alle Theile im Innenraume des Wagens geleitet werden, oder
2. durch heisses Wasser von mindestens 70" Celsius, dem ein halbes Percent cal-
cinirter Soda oder Pottasche zugesetzt ist, womit alle Theile des Wagens bis zum voll-
ständigen Verschwinden des thierischen Geruches zu waschen sind, oder
3. durch Ausspritzen mit (bei Frost heissem) Wasser und nachheriges Auspinseln
des Fussbodens und aller Seitentheile mit einer wässerigen Lösung, die 2"/o Carbolsäure
und 5°/o Eisenvitriol oder statt letzterem 3% Chlorzink enthält.
Wagen, deren Einrichtung eine Behandlung mit Wasser nicht zulässt, sind nach
gründlichem Abwaschen des Fussbodens und der Decke mit alkalischer Lauge, einer Aus-
räucherung zu unterziehen, die entweder durch Einstellen von auf Holz- oder Thontassen
ausgebreitetem Chlorkalk oder durch Entwickelung von Chlor aus einer Mischung von
1 Theil Chlorkalk und 2 Theilen gewöhnlicher Salzsäure oder von 5 Theilen Kochsalz,
2 Theilen gepulvertem Braunstein und 4 Theilen Wasser, der 4 Theile concentrirtes
Vitriolöl zugesetzt werden, zu bewirken ist.
Bei Anwendung von Chlorkalk allein muss die Räucherung mindestens 8, während
der kälteren Jahreszeit 12 Stunden lang bei vollkommen geschlossenem Wagen unterhalten
werden. Bei Anwendung chlorentwickelnder Mischungen genügt eine 6stündige Ein-
wirkung. Während der Winterszeit ist jedoch die aus Kochsalz, Braunstein und wässeriger
Schwefelsäure bereitete Mischung nicht verwendbar, weil bei niederer Temperatur die
Chlorentwickelung aus diesem Gemische zu gering ist.
In allen Fällen müssen die Wagenräume vor ihrer Wiederbenutzung so lange durch-
lüftet werden, als sie deutlich nach Chlor riechen.
Die Geräthschaften, welche während der Beförderung der Thiere zum Tränken und
Füttern benützt werden, sind ausschliesslich entweder durch Abbrühen mit heissem
Wasserdampf oder mit heisser Lauge zu desinficiren.
Bezüglich der übrigen Geräthe kann eine der zur Desinfection der Wagen zu-
lässigen Verfahrungsweisen in Anwendung kommen.
Die Vieh-Ein- und Ausladeplätze, Viehhöfe, Triebwege, Treppen und Rampen sind
in den Fällen, in welchen nebst der Reinigung auch die Desinfection derselben stattzufinden
hat, entweder durch Begiessen mit einer 2'>/„igen Carbolsäurelösung oder durch Bestreuen
mit carbolsaurem (phenylsaurem) Kalk zu desinficiren.
EISENBAHN-HYGIENE. 209
Die bei der Reinigung dieser Objecto verwendeten Geräthe sind nach jedesmaliger
Benützung selbst einer gründlichen Säuberung durch Abwaschen mit Wasser zu unter-
ziehen, und falls die Desinfection dieser Objecte stattzufinden hat, gleichfalls mittelst der
Carbolsäurelösung zu desinficiren.
§ 11. Im Falle die vorgeschriebene Desinfection nicht gehörig ausgeführt, unter-
lassen oder die Vornahme verweigert wird, ist dieselbe auf Kosten und Gefahr der
Transportunternehraung von Amtswegen zu bewirken.
Das k. k. Handels-Ministerium stellt mit Erlass vom 7. Februar 1889, Z. 27251 der
Eisenbahn- Verwaltungen anheim, die Desinfection der zum Viehtransporte benutzten Wagen,
mit heissem Wasserdampf, der unter einer Spannung von mindestens 2 Atmosphären auf
alle Theile im Innenraume des Wagens einzuwirken hat, unter Ausschluss aller Chemi-
kalien, vornehmen zu lassen. Sie habe sich unter den bekannten und zulässigen Metho-
den als die Zweckmässigste und Sicherste erwiesen, und vermeidet auch den oft beklag-
ten üebelstand der Carboldesinfection, nämlich den Verderb gewisser Güter (z. B. Mehl),
welche bei Verladung in selbst schon vor mehreren Tagen desinficirten Wagen, den Car-
bolgeruch anziehen.
IL Epidemien.
Zur Verhinderung der Verschleppung contagiöser Krankheiten auf dem
Wege des Eisenbahnverkehrs durch das reisende Publicum, sowie die von
diesem benutzten Transportmittel, sind behördlicherseits Anordnungen ge-
troffen, durch welche es ermöglicht wird, den Fährten des einzelnen Krank-
heitsfalles nachzugehen, um denselben für die Umgebung unschädlich zu
machen, sowie den zur Beförderung benützten Waggon von der allfällig er-
folgten Verunreinigung durch Ansteckungsstoffe wieder frei zu machen. Das
reisende Publicum ist rücksichtlich des Verdachtes auf contagiöse Krankheiten
durch das Zugbegleitungs-Personale überwacht und nach dem Verlassen der
Eisenbahn der Anzeigepflicht der Aerzte überantwortet. In Epidemiezeiten
wird dieser Ueberwachungsvorgang noch erweitert durch die allfällige
Activirung einer sanitären Visitation an gewissen Einbruchsstationen.
Die contagiösen Krankheiten, wegen welcher die Behörde in Oesterreich
eine Desinfection vorschreibt, sind:
1. Asiatische Cholera,
2. Pocken,
3. Diphtheritis,
4. Fleck- und Rückfalltyphus,
5. Darmtyphus,
6. Epidemische Ruhr,
7. Scharlach,
8. Masern und Röthein,
9. Rothlauf und accidentelle Wundkrankheiten,
10. Milzbrand und Rotzkrankheit,
11. Wochenbettkrankheiten,
12. Contagiöse Augenentzündung,
13. Lungenschwindsucht und Keuchhusten.
Aus diesem Krankheitsverzeichnisse werden:
Cholera, Pocken, Dyphtherie, Scharlach und Flecktyphus wohl in den
meisten Fällen des stattgehabten Eisenbahn-Transportes, insbesondere bei
augenfälliger Schwere des Krankheitsfalles oder dessen allfälligem letalen
Ausgange während des Transportes, zur behördlichen Kenntnis gebracht,
worauf die Ausmittelung und Desinfection des benutzten Waggons, der be-
treffenden Bahnverwaltung aufgetragen wird.
Wochenbetterkrankungen dürften nur in seltenen Fällen zur Transpor-
tirung gelangen, auch gelangen die Ansteckungsstoffe dieser Krankheit nicht
leicht in Berührung mit Einrichtungsgegenständen des Waggons, wogegen
die Aborte ohnedies regelmässig gereinigt werden müssen. Bei Ruhr, be-
ginnendem Darmtyphus, Masern können sich die Passagiere der ärztlichen
Controle leicht entziehen.
Bei den anderen Krankheiten der Gruppe haften die Ansteckungsstoffe
gewöhnlich nur an den unmittelbar benützten Gegenständen, daher eine
Bibl, med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 14
210 EISENBAHN-HYGIENE.
allgemeine Desinfection der Waggons nicht erforderlich erscheint. Gegen
Tuberculose, und namentlich die den Ansteckungsstoff bergenden Sputa ist
blos die regelmässige feuchte Reinigung der Fussböden in Uebung. Eine, in
jüngster Zeit von einer deutschen Eisenbahnverwaltung gebrachte Anregung —
zur Anbringung von entsprechend eingerichteten Spucknäpfen, behufs isolirtem
Auffangen der Auswurfstoffe, scheitert wohl an der technischen Schwierigkeit
der Anbringungs- und Dislocirungsart solcher Behälter.
Der Eingangs erwähnte Vorgang der erst über behördliche Anordnung
einzuleitenden Recherchirung nach einem durch Infectionsstoffe verunreinigten
Waggon, steht wohl von einem idealen Zustande noch weit ab; denn in-
zwischen verstreichen immer mehrere Tage, während welcher der Wagen frei
benutzt wird; auch gelingt die Ausmittelung des Wagens häufig nicht.
Gelangt das Zugbegleitungs-Personale noch während der Fahrt zur Kenntnis
eines mitfahrenden Infections-Krankheitsfalles, steht die Sache natürlich viel
besser, da die Weiterbenützung des Coupe nicht mehr gestattet wird und
über Anzeige an den Dienstesvorstand, sogleich die Desinficirung des Wagens
eingeleitet werden kann. Ebenso ist in Bezug auf Choleraerkrankungen, wo
zur Zeit einer Epidemie nicht nur eine verschärfte ärztliche Observanz
eingreift, sondern auch die, wegen ihrer Provenienz krankheitsverdächtigen
Passagiere von vorneherein in bestimmten Waggons untergebracht werden,
und somit einer verschärften Beobachtung unterstellt sind, ein befriedigenderer
Vorgang statuirt.
Ueber das Desinf ectionsverfahren bei ansteckenden Krank-
heiten erfolgte nach den Anträgen des Obersten Sanitätsrathes, mit Erlass
des k. k. Ministeriums des Innern vom 16. August 1887, Z. 20662 ex 1886
eine Anleitung, welche den österreichischen Bahnverwaltungen bekannt-
gegeben wurde.
Ueber die Desinficirung von Personenwagen und Schiffs-
räumen, welche von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen benützt
wurden, lautet die Vorschrift:
Vorschrift
über die
Desinficirung von Personenwagen und Schiffsräumen, welche
von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen benützt
wurden.
(Vom k. k. Handelsministerium mit Erlass Z. 33514 ex 1888 genehmigt.)
Wenn die Dienstvorstände durch die Anzeigen der Bahn-Aerzte oder auf irgend eine
andere Art davon Kenntnis erhalten, dass mittelst der Eisenbahn Personen befördert
wurden, welche mit einer der unten genannten Infectionskrankheiten behaftet sind, so sind
nach beendeter Fahrt der Kranken die von ihnen benutzten Wagen abzusperren, zu plom-
biren, und in der Regel möglichst bald in die hiezu bestimmten Werkstätten oder Heiz-
häuser zu überführen, wo sie behufs Vornahme der Desinfection an einem vom Verkehre
möglichst abseits gelegenen Orte abzustellen sind.
A. Wenn die Kranken mit asiatischer Cholera, Blattern, Dyphtherie, Fleck- oder
Rückfall-Typhus oder Scharlach behaftet sind, so müssen alle in jenen Räumen, in welchen
sich die Kranken aufgehalten haben (Coupes, Gänge, Aborte u. dgl.) befindlichen Gegen-
stände in folgender Weise desinficirt werden:
1. Vor Allem sind etwa vorhandene Auswurfsstoffe der Kranken, wo immer sich
dieselben vorfinden mögen, mit einer 5°/oigen Lösung reiner krystallisirter Carbolsäure
sorgfältig wegzuwaschen. Diese Lösung wird in der Weise bereitet, dass vorerst die
Flasche mit krystalhsirter Carbolsäure so lange in heisses Wasser gestellt wird, bis diese
flüssig wird, sodann wird ein Theil Carbolsäure in 19 Theilen warmen Wassers oder 250 g
in 4^/4 Liter Wasser durch längeres Umrühren aufgelöst.
Hiebei ist die Berührung der concentrirten Carbolsäure mit Theilen des mensch-
lichen Körpers sorgfältig zu vermeiden, weil dieselbe ätzend wirkt.
Die 5"/oige Lösung hat auf die Haut keine nachtheilige Wirkung.
2. Alle in dem betreffenden Coupe oder Wagen befindlichen waschbaren Gegenstände
(Schutztücher, Bettwäsche der Schlafwagen, eventuell vom Kranken stammende Wäsche etc.)
sind innerhalb des Wagens in 5°/oige Carbolsäurelösung einzulegen, in dieser Lösung aus
EISENBAHN-HYGIENE. 211
dem Wagen zu schaffen, durch 12 Stunden in derselben liegen zu lassen, sodann auszu-
kochen und auszuwaschen, wie es in der „Anleitung zum iJesinfections- Verfahren bei an-
steckenden Krankheiten'^ vorgeschrieben ist.
3. Alle Bestandtheile von Holz und Metall im Innern des Wagens, also die Sitze
und Wände in den Wägen III. Classe, ferner in den Wägen I. und IL Classe, und in den
Salonwägen alle Holzbestandtheile der Thüren, Fenster, Verkleidungen und Möbel, die
Sitzbretter und Verkleidungen der Aborte, sowie auch Wachsleinwand, Wachstuch und
Leder, womit die Wände, Lehnen und Sitze überzogen sind, müssen mit in o^/oige Carbol-
säure getauchten Lappen oder Schwämmen abgerieben, dann mit in Wasser genetzten und
schliesslich mit trockenen Tüchern abgewischt werden. Die Abort-Trichter sind mit 5%
Carbolsäurelösung wiederholt durchzuspülen.
4. Sammt, Seide und Wollstoffe, womit die Wände, Lehnen, Sitze, Polster, Matratzen
und Decken überzogen sind, oder welche als Vorhänge, oder für irgend welche andere
Zwecke im Innern des Wagens sich befinden, sowie auch die Teppiche, sind, falls diese
Gegenstände durch Auswurfsstoffe oder Krankheitsproducte nicht verunreinigt wurden, bei
geschlossenen Thüren und Fenstern durch 3 aufeinanderfolgende Tage täglich einmal dem
Carbolspray auszusetzen.
Der Carbolnebel wird aus 5°/o Carbolsäurelösung, welche sowohl in den Kessel des
Apparates, als auch in das vorgehängte Gefäss einzufüllen ist, erzeugt, und ist dessen
Strahl auf die genannten Stoffe direct zu richten, so dass nach und nach alle Stellen der-
selben dem Carbolnebel so lange ausgesetzt werden, bis auf den Stoffen die zerstäubte
Lösung in Form kleiner Tröpfchen sichtbar wird. Am Schlüsse sind diese Stoffe mit tro-
ckenen Wolllappen abzuwischen.
5. Wenn die sub 4 genannten Gegenstände durch Auswurfstoffe oder Krankheits-
producte verunreinigt wurden, so sind dieselben, wenn sie aus dem Wagen entfernt
werden können, unter den in der „Cholera-Instruction" und in der „Anleitung zum Des-
infections-Verfahren" vorgeschriebenen Vorsichtsmassregeln aus dem Wagen zu schaffen
und ausserhalb desselben in einem verlässlichen Dampf-Desinfectionskasten zu desinficiren.
Verunreinigte Stoffe, die an den Wänden oder festgemachten gepolsterten Lehnen
oder an mit Federn versehenen Sitzpölstern angebracht sind, müssen abgetrennt und eben-
falls mit VYasserdampf desinficirt werden.
Die darunter befindliche, im Wagen zurückbleibende Polsterung ist (wie sub 4) dem
Carbolspray auszusetzen. Zeigt auch diese Spuren von Verunreinigung, so ist sie ebenfalls
zu entfernen und das Polsterungs-Material mit Dampf zu desinficiren, oder, falls dieses
werthlos ist, unter Aufsicht zu verbrennen. Wurden Polster verunreinigt, welche theils mit
Leder, theils mit anderen Stoffen überzogen sind, so sind sie zu zertrennen und die ein-
zelnen Bestandtheile gesondert zu desinficiren, wie es sub 3 und 5 angegeben ist.
6. Die Fussböden oder die auf denselben festgemachte Wachsleinwand sind mit
6"/oiger Carbolsäure gründlich aufzuwaschen.
7. Zum Abreiben der Sitze und Wände in den Wägen III. Classe ist ebenfalls ö^ige
Carbolsäurelösung zu verwenden.
8. Die zur üebertragung von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen benütz-
ten Tragbahren sind stets auf die bisher beschriebene Weise zu desinficiren.
9. Die Personen, welche die Desinfection vorzunehmen haben, sind auf die, rück-
sichtlich ihrer eigenen Person erforderlichen Vorsichtsmassregeln aufmerksam zu machen,
welche in der „Anleitung zum Desinfections-Verfahren" für die Krankenwärter angegeben
sind, und müssen dieselben zu dieser Arbeit mit eigens für diesen Zweck bestimmten
üeberkleidern, u. zw. je einem langen U eberrocke mit Kapuze mit doppelter Reihe von
Knöpfen und langen Beinkleidern aus dicht gewebtem, waschbarem Stoffe versehen werden,
welche nach beendeter Arbeit ;mit öligen Carbolsäurelösung oder mit Wasserdampf zu
desinficiren und sodann auszuwaschen sind. Die zur Desinfection und Reinigung verwen-
deten Lappen und Schwämme sind zu verbrennen.
B. Wenn Kranke auf der Bahn befördert wurden, welche mit Masern, Keuchhusten,
Darmtyphus, epidemischer Ruhr, Rothlauf, ansteckenden Wundkrankheiten, Wochenbett-
Krankheiten, contagiöser Augenentzündung, Milzbrand, Rotzkrankheit oder Tollwuth be-
haftet sind, so sind unter allen Umständen alle jene Gegenstände in der oben angegebenen
Weise zu desinficiren, welche mit dem Kranken in directer Berührung standen, und ins-
besonders jene, welche von den Ausscheidungen desselben verunreinigt wurden, mithin
einzelne von dem Kranken benützte oder beschmutzte Sitze, Polster, Lehnen, Schutztücher,
Teppiche und der betreffende Theil des Fussbodens. Ob in solchen Fällen auch alle übri-
gen, in den benützten Räumen befindlichen Gegenstände zu desinficiren seien, hat von Fall
zu Fall der Bahnarzt unter Berücksichtigung der speciellen Umstände und der bestehenden
Desinfections-Vorschriften zu entscheiden.
Die Aborte und benutzten Tragbahren sind auch bei den zuletzt genannten Krank-
heiten stets zu desinficiren.
Nachdem auf obige Weise die Desinfection der betreffenden Wägen oder einzelner
Räume derselben beendet ist, sind diese Wägen einer mehrtägigen Lüftung an einem vom
Verkehre abgeschlossenen, luftigen Orte zu unterziehen, und dürfen bei den sub A ge-
14*
212 EISENBAHN-HYGIENE.
nannten Krankheiten erst nach. Verlauf von 8 Tagen, und bei sub B genannten Krankheiten
nach 48stündiger Lüftung wieder verwendet werden.
C. Die Desinfection solcher Wägen geschieht in den hiefür bestimmten Werkstätten
oder Heizhäusern, in welchen folgende hiezu erforderlichen Gegenstände stets bereit zu
halten shid:
a) ein nach der vom k. k. Handelsministerium empfohlenen Type construirter Dampf-
Desinfectionskasten sammt dazu gehörigem Thermometer;
b) ein grosser Dampf-Spray-Apparat mit drehbarem Zerstäubungs- Ansätze;
c) eine entsprechende Anzahl der sub 9 erwähnten üeberkleider, u. zw. 2 Anzüge
für die in den Wägen beschäftigten, und 2 für die den Dampf-Desinfections-Kasten bedie-
nenden Personen;
d) Schwämme und Lappen zur Reinigung der Wagenbestandtheile und der Fuss-
bekleidung der mit den Desinfections-Arbeiten beschäftigten Personen;
e) ein genügender Vorrath von vorgeschriebenen Desinfectionsmitteln.
Das Personal, welches zu dieser Arbeit verwendet werden soll, ist von den Dienst-
vorständen über den Zweck und die in dieser Vorschrift enthaltenen Details des Desinfec-
tions-Verfahrens genau zu unterrichten.
Die Stationen, beziehungsweise Werkstätten oder Heizhäuser, in welchen die Des-
infection solcher Wägen vorzunehmen ist, und der Bereich, aus welchem dieselben zu
diesem Zwecke in die betreffenden Stationen zu dirigiren sind, werden jeweilig von der
Bahnverwaltung bekannt gegeben.
Mit dem Erlasse vom 7. März 1889, Z. 4271 an die Eisenbahnver-
waltungen, betreffend die Desinfection der Einrichtungs-Gegenstände der
Personenwagen mittelst eines Dampf-Desinfections-Apparates empfiehlt das
k. k. Handelsministerium, im Anschlüsse an die f-chon früher bekanntgegebene
„Anleitung zum Desinfectionsverfahren bei ansteckenden Krankheiten" die
Verwendung eines Dampf-Desinfections- Kastens zur Vornahme der Desinfection
der Teppiche, Vorhänge, sowie der zu den Ueberzügen der Polsterungen,
Wände etc. verwendeten Stoffe. Mit diesem Apparate können auch die
inficirten Effecten von Bahnbediensteten und ihrer Angehörigen desinficirt
werden, da derselbe leicht zu transportiren ist.
Die Vorschrift für die Handhabung des Apparates hat folgenden
Wortlaut:
Vorschrift
für die
Handhabung des Apparates zur Desinfection von Gegenständen
aus den Personenwagen, von Kleidern, Papieren etc. mittelst
Wasserdampfes, welcher einer Locomotive entnommen wird.
§ 1. Der Dampf-Desinfectionskasten, dessen Anschaffung und Verwendung zur Des-
infection von Einrichtungsgegenständen der Personenwagen, sowie für inficirte Effecten der
Reisenden, der Bahnbediensteten und ihrer Angehörigen vom k. k. Handelsministerium mit
dem Erlasse vom 7. März 1889, Z. 4271, den Bahn Verwaltungen empfohlen wurde, hat
einen Fassungsraum von einem Cubikmeter, ist aus Holzwänden construirt, deren Innen-
flächen mit Zinkblech luftdicht ausgekleidet sind, und besitzt zur Beschickung eine seitlich
angebrachte Oeffnung, welche durch eine mit Charnieren befestigte Thüre oder durch einen
abnehmbaren Deckel geschlossen werden kann. Im Innern des Kastens sind drei Gitter
aus dreikantigen Holzstäben in gleichen Abständen übereinander angebracht, von welchen
je nach dem Umfange der zu desinficirenden Gegenstände eines oder zwei entfernt werden
können.
An der der Öffnung gegenüberliegenden Wand ist aussen das Dampfeinleitungsrohr
angebracht, an dessen oberem Ende der Verbindungsschlauch befestigt wird. Das untere
Ende dieses Rohres mündet innen am Boden des Kastens mit mehreren Oeffnungen. In
der Mitte der oberen Wand befindet sich eine kleine Oeffnung für den ausströmenden Dampf,
und am Boden eine soche, um das Condensationswasser abfliessen zu lassen.
Der Kasten ist mit vier beweglichen eisernen Handhaben versehen, mittelst welchen
derselbe von vier Personen beliebig übertragen werden kann.
§ 2. Die Ueberführung oder Uebertragung der inficirten Gegenstände zum Desinfec-
tionskasten hat stets unter den Vorsichtsmassregeln zu geschehen, wie sie in der mit dem
Erlasse des k. k. Ministeriums des Innern vom 16. August 1887, Z. 20662 ex 1886, be-
kanntgegebenen Anleitung zum Desinfectionsverfahren bei ansteckenden Krankheiten, Punkt
12 lit. c, 3. Absatz vorgeschrieben sind.
§ 3. Behufs Vornahme der Desinfection der hiezu bestimmten Gegenstände wird der
Kasten neben oder hinter eine geheitzte Locomotive so aufgestellt, dass die Beschickungs-
EISENBAHN-HYGIENE. 213
Öffnung frei zugänglich ist und mittelst eines elastischen Schlauches mit dem hiezu be-
stimmten Dampt'hahne der Locomotive verbunden. Hierauf werden die zu desinficirenden
Gegenstände in den Kasten eingelegt, und zwar sind Vorhänge, von den Polsterungen ab-
getrennte Stoffe, Kleider, Wäsche und andere kleinere Gegenstände in mehreren Abthei-
lungen lose zusammen zu rollen oder in Bündel zu binden, und diese so in die Fächer
neben und übereinander hineinzuschieben, dass die ganze Fläche der Holzgitter gleich-
massig bedeckt ist, und der Dampf nicht durch grössere Räume zwischen und neben den
Gegenständen hindurch streichen kann, ohne diese selbst zu durchdringen. Papiere, wie
z. B. Acten, Documente, Werthpapiere etc. sind, wenn deren Desinficirung nothwendig er-
scheint, lose geordnet oder leicht zusammengelegt, in ein eigenes zu diesem Zwecke dem
Kasten beigegebenes kleines Holzgestell so emzulegen, dass die Papierflächen parallel zu
den Seitenwänden des Kastens, also senkrecht auf dessen Bodenfläche zu stehen kommen,
wodurch das Eindringen des t)ampfes zwischen die Blätter erleichtert wird. Dieselben
können allein oder auch gleichzeitig mit anderen Gegenständen desinficirt werden.
§ 4. Papiere, werthvollere Stoffe und andere Gegenstände, welche durch Nasswerden
Schaden leiden, sind stets in der Mitte des Kastens oder doch so unterzubringen, dass sie
die Seitenwände rmd die obere Wand des Kastens nicht berühren, während die hiefür nicht
empfindlichen Gegenstände, wenn solche gleichzeitig mit obigen desinficirt werden, längs
der Seitenwände einzulegen und zum Zudecken der empfindlichen Gegenstände zu ver-
wenden sind.
Hiedurch werden letztere vor der Durchfeuchtung durch das. wenn auch in sehr
kleiner Menge, an den Blechflächen sich bildende Condensationswasser bewahrt und kommen
nach beendeter Desinfectfon in fast trockenem Zustande aus dem Kasten. Auch eine Be-
schädigung der Papiere ist auf diese Weise nicht zu befürchten.
§ b. Wenn grössere Polster, Matratzen oder Teppiche desinficirt werden sollen, so
ist das oberste und wenn nöthig, auch das mittlere Holzgitter heraus zu nehmen, und
werden sodann diese Gegenstände so in den Kasten eingeschoben, dass sie dessen Raum
möglichst gleichmässig ausfüllen. Das unterste Holzgitter, unter welchem behufs gleich-
massiger Vertheilung des einströmenden Dampfes ein leerer Raum bleibt, darf nicht her-
ausgenommen werden.
§ 6. Sobald die zu desinficirenden Gegenstände in der beschriebenen Weise im Kasten
untergebracht sind, wird behufs dichter Verschliessung der seitlichen Oeffnung die Thüre
oder der Deckel mittelst der zu diesem Zwecke angebrachten Vorrichtungen fest an die
Ränder der Oeffnung angepresst und hierauf mit der Dampfeinströmung unter einem Drucke
von einer Atmosphäre begonnen. Die Temperatur des aus der Oeffnung in der oberen
Wand des Kastens ausströmenden Dampfes muss sofort gemessen werden, indem das un-
tere Ende eines in 120 — 130" Gels, eingetheilten Thermometers, wie sie in chemischen La-
boratorien gebräuchlich sind, einige Centimeter tief in diese Oeffnung eingesenkt und mit
der Hand oder einer Klemme in dieser Sellung so lange festgehalten wird, bis der aus-
strömende Dampf eine Temperatur von 100" Gels, erreicht hat. Von diesem Augenblicke
an gerechnet, muss das Einströmen des Dampfes in den Kasten noch durch 30 Minuten
fortdauern.
§ 7. Nach Ablauf dieser Zeit wird die Einströmung des Dampfes unterbrochen, der
Kasten geöffnet und sind die Gegenstände, nachdem sie sich soweit abgekühlt haben, dass
man sie angreifen kann, ohne sich zu verbrühen, aus demselben zu entfernen und behufs
Trocknung an der Luft auszubreiten oder aufzuhängen. Dabei ist strenge darauf zu achten,
dass die desinficirten Gegenstände nicht mit solchen in Berührung kommen, welche noch
nicht desinficirt wurden und nicht auf Flächen ausgebreitet werden, auf welchen vorher
die inficirten Gegenstände lagen. Solche Flächen sind sofort nach Entfernung der inficirten
Gegenstände von denselben mit 5"/„iger Carbolsäurelösung zu übergiessen. Wenn nicht
alle zu desinficirenden Gegenstände auf einmal im Dampfkasten untergebracht werden können,
so ist dieser Vorgang nach Bedarf zu wiederholen. Mit der letzten Partie sind auch die üeber-
kleider der mit dieser Manipulation betrauten Leute in den Dampfkasten zu legen, und
haben diese ihre Fussbekleidung sogleich mit 5"/oiger Carbolsäurelösung abzuwaschen.
Auch haben sich diese jedesmal, bevor sie die Gegenstände aus dem Dampfkasten nehmen,
die Hände mit ö^/oiger Carbolsäurelösung zu reinigen. Schliesslich ist das am Boden des
Kastens angesammelte Condensationswasser durch die daselbst angebrachte Oeffnung zu ent-
leeren und der Kasten so lange offen stehen zu lassen, bis in seinem Innern alle Bestand-
theüe getrocknet sind.
§ 8. Die ganze Procedur muss von einem vollständig verlässlichen Organe geleitet
und überwacht werden, welches mit allen in dieser Instruction erwähnten Manipulationen,
mit dem Inhalte der Vorschrift über die Desinficirung von Personenwagen, zu deren Hin-
ausgabe die Bahnverwaltungen vom k. k. Handelsministerium mit dem Erlasse vom 19.
April 1889, Z. 33514 ex 1888, aufgefordert wurden, so wie auch mit der vom k. k. Mini-
sterium des Innern bekannt gegebenen „Anleitung zum Desinfectionsverfahren bei anstecken-
den Krankheiten" vollkommen vertraut ist.
Der am 11. December 1888 vom Vorstande des hygienischen Institutes der k. k.
Universität Wien, Herrn Ober-Sanitätsrath Prof. Dr. Max Grub er mit dem Dampf-
Desinfections-Apparate an Sporen des Milzbrand-Bacillus als den als widerstandsfähigsten
214 EISENBAHN-HYGIENE.
unter den bekannten pathogenen Organismen geltenden, gemachte Versuch hatte einen
vollen positiven Erfolg. Die Sporen waren an kurzen Seidenfädchen angetrocknet, je
3 — 4. solcher Fädchen in Kapseln aus sterilisirten Filtrirpapier eingeschlossen. Durch be-
sonderen Controlversuch wurde sichergestellt, dass die Sporen noch volle Keimfähigkeit
und Virulenz besassen.
Derartige Kapseln mit Sporenfäden wurden nun an verschiedenen Stellen des Des-
infectionskastens untergebracht, darunter eine in 10 auf einander gelegte Coupe- Vorhänge
sorgfältig eingerollt.
Eine andere in das Innere einer Rolle gelagert, welche aus einer Anzahl von Fuss-
teppichen, circa 60 an lang und 20 cm dick gebildet war. Die in den verschiedenen Con-
voluten angebrachten Signalpyrometer gaben nach 5 und der letzte nach 11 Minuten der
Dampfeinströmung auf dem mit ihnen in Verbindung gestellten elektrischen Läutewerk das
Zeichen, dass die Gegenstände im Desinfectionskasten auf 100" C erwärmt seien.
Die Controlproben, in peptonisirte Fleichbrühe ausgesäet, wurden am selben Nach-
mittage begonnen und bei einer Aufbewahrung der Proben bei einer Temperatur von 36 — 37"
durch 10 Tage fortgesetzt. Es kam in keiner von den 23 Proben zur Entwickelung von
Milzbrandbacillen. Es ergibt sich somit, dass in allen Theilen des Apparates die erforder-
liche Abtödtungs-Temperatur, somit das Ziel der Desinfection erreicht wurde; dass somit
das '^/astündige Einleiten von Dampf in allen Fällen, auch bei grösseren Objecten, volle
Desinfection verbürgt.
Von allen epidemischen Krankheiten fordert in erster Linie die Cho-
lera die umfassendsten Vorkehrungen. Denn während bei den anderen In-
fections-Krankheiten der Befallene sich in der Regel zu sehr krank fühlt, um
eine Reise anzutreten und diese allenfalls nur unternimmt, um Spitalspflege
aufzusuchen, ist zu Zeiten einer Cholera-Epidemie gerade das Eintreten der
ersten Anzeichen eines Unwohlseins erst das Motiv zum fluchtartigen Ent-
weichen vor der Epidemie, zu einer Zeit wo der Fliehende eben selbst schon
Infectionsträger geworden.
Ferner ist es die grosse Zahl der Erkrankungen, die leichte und durch
die mannigfaltigsten Zwischenträger erfolgende Uebertragbarkeit, das grosse
Mortalitätspercent und die tief in die wirthschaftlichen Verhältnisse eingrei-
fende Wirkung, welche diese Krankheit auszeichnet. Das k. k. Ministerium
des Innern hat in Ansehung des Umstandes, dass zur Verhütung der Ein-
schleppung, namentlich aber der Weiterverbreitung dieses gefürchteten Gastes,
das, wenn auch tadellose Functioniren einer bestellten Sanitäts-Commission
allein nicht hinreichend ist, befunden dass der Mithilfe des grossen Publicums
nicht zu entrathen ist.
Mittelst einer im Jahre 1892 in ihrem Auftrage verfassten Brochure
ertheilt sie eine gemeinverständliche Belehrung über Cholera und Cholera-
massnahmen.
Gegen die Einschleppung von Auswärts, namentlich durch Hadern, ge-
brauchte Leib- und Bettwäsche, alte Kleider, Obst, Gemüse und gewisse
Nahrungs- und Genussmittel ist der Transport aus Choleragegenden verboten.
An den Grenzstationen wird eine sanitäre Grenzrevision der Rei-
senden etablirt. Durch diese kann allerdings die Weiterfahrt von Passagieren,
die bei Abgang verdächtiger Krankheitserscheinungen, dennoch schon inficirt
sein können, nicht behindert werden. Auch die in früherer Zeit geübte Er-
richtung von Contumazanstalten an den Grenzen, in welchen Reisende längere
Zeit beobachtet wurden, haben nicht nur nicht den Zweck erfüllt, sondern
durch die künstliche Anhäufung der Menschen, welche unter unzulänglichen,
ungewohnten Verhältnissen verweilen mussten, war gerade Gelegenheit zum
Ausbruche der Epidemie gegeben. Man ist daher von Contumazanstalten ab-
gegangen.
Die Massregel der sanitären Grenzrevision wird jetzt durch die strenge
Anordnung der Fremdenpolizei ergänzt. Ankömmlinge aus Cholera-
gegenden müssen von den sie Beherbergenden sofort angemeldet werden, und
werden durch 5 Tage unter ärztliche Ueberwachung ihres Gesundheits-Zu-
standes gestellt, während welcher Zeit jedes verdächtige Unwohlsein sofort
anzuzeigen ist. Die Reinhaltung und Desinfection der Aborte auf Bahnhöfen,
EISENBAHN-HYGIENE. 215
in Hotels und Fremdenherbergen, sowie die Abgabe von schmutziger Wäsche
werden strengstens überwacht. Zu diesen Massnahmen ist die einsichtsvolle,
gewissenhafte Mitwirkung der Bevölkerung, in Bezug auf Anmeldung und
Beobachtung der Fremden, von Erkrankungen etc. unerlässlich nothwendig.
Auf der rechtzeitigen Anzeige des ersten Falles oder der ersten Fälle,
auf der sofortigen Durchführung der zweckdienlichen Isolir- und Desinfections-
Massregeln basirt die Möglichkeit der Hintanhaltung der Verbreitung der
Epidemie.
Rechtzeitige Anzeigen jedes Cholerafalles, sofortige Isolirung der infi-
cirten Ubicationen, durchgreifende Desinfection aller inficirten Objecte, um-
fassen die ganze Summe unmittelbarer Hilfsmittel, welche Epidemien ver-
hindern lassen. Nahrungs- und Genuss-Mittel, gebrauchte Kleider und Wäsche,
Hadern und Abfälle dürfen aus der inficirten Localität nicht frei nach aussen
gelangen.
Der Flucht vor der Cholera, welche das schimmste Mittel zur Cholera-
verbreitung ist, und oft zu Erkrankungen der Flüchtlinge auf der Reise, unter
den ungünstigsten Verhältnissen führt, ist durch entsprechende moralische
Einwirkung und gewissenhafte Handhabung eines exacten Sanitätsdienstes, der
das meiste Vertrauen einflösst, entgegenzuwirken.
Sehr wichtig und zur Verhinderung der Epidemie unerlässlich ist die
allgemeine Herstellung sanitätsgemässer Verhältnisse in den Gemeinden und
eine richtige Lebensführung des Einzelnen.
Den politischen Landesbehörden zur Darnachachtung wurde die über
Veranlassung des k. k. Ministerium des Innern durch den Obersten Sanitäts-
rath verfasste Cholera-Instruction vom 5. August 1886, Z. 14067 bekannt ge-
geben. Diese wurde auch den Eisenbahnverwaltungen mitgetheilt.
Nach einer Einleitung über Wesen und Uebertragbarkeit der Krankheit
folgen die „Vorkehrungen gegen die Einschleppung der Cholera zu Lande
über die Reichsgrenze" (Separat-Beilage zum „Das österreichische Sanitäts-
wesen" von 1890, Nr. 29).
Ueber das Verhalten der Eisenbahn-Verwaltungen beim Vor-
kommen von Cholera-Erkrankungs- und Todesfällen hat das k. k. Handels-
Ministerium mit Erlass vom 2. August 1886, Nr. 28856 bestimmte Normen
statuirt. Sie sind in dem Erlasse desselben Ministerium Z. 48967 vom
19. September 1893 mit enthalten. Dieser letztere Erlass führt den Titel
„Grundsätze für die Einrichtung des Eisenbahnverkehrs in Cholera-Zeiten,"
und enthält in erschöpfender Weise alle Directiven für die Bahnverwaltungen
und das Zugbegleitungs-Personale.
Es werden die Stationen, in denen Cholerakranke oder dieser Erkrankung verdäch-
tige Eeisende auswaggonirt und in die Spitalspflege übergeben werden können, mit Ge-
nehmigung des Ministeriums des Innern von den politischen Landesbehörden festgesetzt und
im Wege des k. k. Handelsministerium den Eisenbahnverwaltungen mitgetheilt.
In diesen als „Krankenabgabsstationen" bezeichneten Stationen ist von der Eisenbahn-
Verwaltung für die Bereitstellung der erforderlichen Räumlichkeiten zur vorläufigen
isolirten Unterbringung von auf der Eisenbahn Erkrankten, bis zu ihrer Aufnahrne
in eine Krankenanstalt vorzusorgen. Zur Isolirung solcher Kranken dürfen Localitäten in
den Verkehrsräumen der Personen-Aufnahmsgebäude der Eisenbahnstationen nicht heran-
gezogen werden.
Fehlt es an einem besonderen Isolirlocale, ist ein Sanitätswagen, bezw. ein als solcher
eingerichteter, im Winter beheizbarer Güterwagen bereit zu halten. Im Nothfalle ist der
Kranke bis zur Abholung in dem auszurangirenden, auf ein Nebengeleise zu stellenden
Wagen, in welchem er befördert worden ist, zu belassen.
Ausser den Krankenabgabsstationen werden den Eisenbahn- Verwaltungen auch jene
Stationen bekannt gegeben, auf welchen Aerzte sofort erreichbar und zur Verfügung sind.
Die Berufung dieser Aerzte hat schon von einer früheren Station aus rechtzeitig zu
erfolgen.
Bei Annäherung der Cholera an die Reichsgrenze werden auf bestimmten Zollrevi-
sions-Stationen Aerzte bei der Ankunft der Züge ständig anwesend sein, um die aus dem
inficirten Lande ankommenden Reisenden hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes zu über-
216 EISENBAHN-HYGIENE.
wachen. Diese Aerzte treffen die Entscheidung über die allfällige Nothwendigkeit der
Desinfection schmutziger Wäsche, getragener Kleidungsstücke und anderer beschmutzter
Gegenstände.
Nach Nothwendigkeit wird von der obersten Sanitätsbehörde auch im Innern des
Landes in gewissen Eisenbahnstationen diese sanitäre Revision angeordnet, worüber den
Eisenbahnverwaltungen besondere Mittheilung zugeht.
Die Conductetire haben während der E'ahrt dem Gesundheitszustande der Reisenden,
namentlich der aus Cholaragegenden kommenden, besondere Aufmerksamkeit zu widmen,
und dem Zugsführer von etwaigen Verdacht erweckenden Wahrnehmungen Meldung zu
machen. Der Erkrankte ist sofort zu isoliren.
Sollte dies während der Fahrt nicht anders möglich sein, so ist der Zug zum Still-
stehen zu bringen, um die Mitreisenden aus dem betreffenden Coupe, eventuell Waggon
entfernen zu können. Der Kranke selbst sammt seinen Effecten ist in der nächsten Kran-
kenabgabsstation abzusetzen und dem Stationsvorstande zu übergeben. Die zur sanitäts-
polizeilichen Intervention berufene Gemeindebehörde wird schleunigst in Kenntnis gesetzt.
Der Kranke ist im Isolirlocale so lange zurückzubehalten, bis dessen Untersuchung durch
den Arzt erfolgt ist. Von dem Ausspruche des Arztes hängt es ab, ob der Kranke in das
Choleraspital zu überführen ist, oder ob demselben die Fortsetzung der Reise in einem
separaten Coupe gestattet werden kann. Im letzteren Falle ist die Zielstation des Passagiers,
welche die sanitätspolizeiliche Intervention der Gemeindebehörde anzurufen hat, telegra-
phisch zu avisiren.
Bei der Ankunft auf der Krankenabgabsstation sind diejenigen Personen, welche
sich mit dem Kranken in derselben Wagenabtheilung befunden haben, sowie das Zugbe-
gleitungspersonale, welches mit dem Kranken in Berührung war, der sanitätspolizeilichen
Untersuchung und Desinfection zu unterziehen, und ist wegen der weiteren fünftägigen
Observation das Erforderliche zu veranlassen.
Der Wagen, in welchem sich ein Cholerakranker befunden hat, ist sofort ausser
Dienst zu stellen, und der nächsten geeigneten Station zur Desinfection zu übergeben. Der
Boden zwischen den Geleisen ist bei erfolgter Verunreinigung durch wiederholtes Ueber-
giessen mit Kalkmilch zu desinficiren. Peinlichste Reinhaltung aller Bedürfnisanstalten.
Die in Punkt 1 dieser „Grundsätze" ins Auge gefasste Festsetzung der
Eisenbahnstationen, in denen Cholerakranke oder dieser Erkrankung verdäch-
tige Reisende auswaggonirt, und in die Spitalspflege übergeben werden können,"
erfolgte mit separatem Verzeichnisse, geordnet nach den einzelnen Bahnver-
waltungen, mit Angabe der Gattung des Spitals, dessen Bettenanzahl, der Anzahl
der zur Verfügung stehenden Aerzte, Apotheken und Desinfectionsapparate.
Die massgebenden Gesichtspunkte waren, dass ein Cholerakranker oder
verdächtiger Reisender so rasch als möglich von den Mitreisenden abgesondert
werde, dass anderentheils für die entsprechende Pflege des Erkrankten die
nöthigen Bedingungen vorfindlich seien. Im Heimatsgesetze ist wohl für alle
Gemeinden die Verpflichtung begründet, Reisende, welche wegen Cholera-
erkrankung von der Fortsetzung der Fahrt ausgeschlossen werden müssen,
zur weiteren Pflege zu übernehmen; und hat auch über behördliche Erinnerung
eine Reihe von Gemeinden theils isolirte Abtheilungen bestehender Spitäler
zur Aufnahme von Cholerakranken eingerichtet, theils eigene Nothlocalitäten
für diesen Zweck hergestellt.
In der Praxis stellte sich jedoch heraus, dass nicht jede Gemeinde, in
deren Gebiet sich eine Eisenbahnstation befindet, zur Abgabe von cholera-
kranken Eisenbahnreisenden geeignet ist, sei es, weil das Isolirlocale derselben
von der Eisenbahnstation allzu weit abliegt, und aus dem hiedurch bedingten
langen Transporte des Kranken, Gefahren für diesen oder Gefahren für Ver-
breitung der Ansteckungs-Stoffe hervorgerufen werden; sei es, dass in der
betreffenden Gemeinde ärztliche Hilfe zu schwer zu beschaffen ist, sei es,
dass andere Gründe die Gemeinde als Krankenabgabsstation ungeeignet er-
scheinen lassen.
Es wurden daher unter Berücksichtigung dieser Umstände nur gewisse
Eisenbahnstationen für die Abgabe von Cholerakranken in Spitalspflege in
Aussicht genommen, und zwar solche, in denen die nothwendigen Voraus-
setzungen vorhanden waren. Es wurde auch auf eine, den gegebenen Ver-
hältnissen entsprechende Vertheilung dieser Abgabestationen Rücksicht ge-
nommen. JOS. STÖHR.
ERBLICHKEIT. 217
Erblichkeit. Mit Erblichkeit oder Vererbung bezeichnen wir
die Fähigkeit lebender Wesen auf ihre Nachkommenschaft nicht nur den
allgemeinen Typus ihrer Art und Rasse, sondern neben diesem auch ganz
specielle individuelle Eigenthümlichkeiten zu übertragen, zu „vererben."
Diese für die Erhaltung des Individuums und seiner Art so äusserst
zweckmässige Thatsache wurde zuerst von Charles Darwin richtig aufgefasst
und auf ein Naturgesetz, das Gesetz der Vererbung zurückgeführt, nach
welchem in der Nachkommenschaft alle Eigenschaften des Erzeugers sich bis
in die kleinsten Details, jedoch mit einer gewissen quantitativen Schwan-
kungsbreite wiederholen. Jede durch diese Schwankungen zufällig bei einem
Individuum hervorgerufene Variation der Körperform oder der Arbeitsleistung
gibt gewissermassen einen neuen Mittelpunkt für die Schwankungsbreite der
Nachkommenschaft dieses Individuums. In jeder neuen Generation werden
nun gewisse Eigenschaften ihren Besitzern Vortheile für die Erhaltung oder
Fortpflanzung der Art, andere wieder Nachtheile bringen, so dass jede vor-
theilhafte Variation mehr Aussicht hat auf eine grosse Zahl von Individuen
vererbt zu werden, und nach dem gleichen Princip sich durch die Verschie-
bung des Schwankungsmittelpunktes weiter zu entwickeln.
Wir müssen zwei Arten von Erblichkeit unterscheiden, die erhaltende
oder conservative Erblichkeit und die fortschreitende oder
progressive Erblichkeit.
Die erstere haben wir vor uns, wenn ein Organismus auf seine Nach-
kommen die selbst ererbten, die letztere, wenn ein Organismus die
selbständig erworbenen Eigenschaften vererbt. Wenn nur die erste
Art der Erblichkeit bestände und immer bestanden hätte, so müsste ein Or-
ganismus vollkommen jedem anderen gleichen; aber diese alles gleichmachende
Art der Erblichkeit wird modificirt durch die Wirkung der progressiven Erb-
lichkeit, welche im Laufe der Zeiten zu der jetzt bestehenden Mannigfaltigkeit
der Lebewesen geführt hat. Vermöge der erhaltenden Erblichkeit vererben
die Organismen ihre Eigenschaften entweder sofort auf die nächste Generation,
also auf ihre Kinder, wir sprechen dann von einer ununterbrochenen
Vererbung, oder erst nach Ueberspringung einer oder mehrerer Generationen
auf spätere Nachkommen," und zwar entweder in gesetzmässigem Wechsel bei
bestimmten Generationen auftretend, oder nur gelegentlich in scheinbar will-
kührlicher Weise bald bei einem, bald bei mehreren Nachkommen der einen
oder anderen Generation auftauchend, eine Art der conservativen Erblichkeit,
die wir unterbrochen oder latent nennen. Wir bezeichnen diesen Rück-
schlag eines Individuum auf seine Vorfahren als Atavismus und können
denselben z, B. sehr oft bei Hausthieren beobachten, die in den Zustand der
Verwilderung übergetreten sind. Sie gehen dann wieder in die ursprüngliche
wilde Stammform über, aus welcher sie im Verlaufe vieler Generationen in
den verschiedensten Varietäten zu Hausthieren gezüchtet waren.
Es hat nicht an Versuchen gefehlt, das Wesen der Erblichkeit zu
erklären, eine Beantwortung der Frage zu geben „wie wird vererbt?" Alle
Erklärungen aber, die hierüber abgegeben sind, beruhen nicht auf Thatsachen,
sondern auf subjectiven Urtheilen, sind nur Hypothesen, die zum grössten
Theil auf recht schwachen Füssen stehen. Einer wirklichen Kenntnis der
physiologischen Gesetze, nach welchen die Vererbung vor sich geht, kann sich
bisher noch niemand rühmen.
Leichter lässt sich die Frage beantworten „wer vererbt", nämlich
dahin, dass beide Eltern wohl in gleicher Weise die Fähigkeit haben, phy-
siologische oder pathologische Eigenschaften auf die Nachkommen zu über-
tragen. Ob Vater oder Mutter leichter z. B. Krankheiten vererben, ist voll-
kommen unentschieden. Erhöht ist die Möglichkeit für die Nachkommen,
irgend eine Krankheit von den Eltern zu erben, natürlich in bedeutendem
218 ERBLICHKEIT.
Masse dann, wenn beide Eltern an dieser Krankheit, oder an derselben Dis-
position zu einer Krankheit leiden. Hierin liegt auch die Hauptgefährlichkeit
consanguiner Ehen, weil bei Gatten aus derselben Familie die Möglichkeit
leichter gegeben ist, dass eine in dieser Familie herrschende Krankheits-
disposition sich bei beiden Gatten vorfindet, und infolge dessen beim Sprössling
eine Steigerung der krankhaften Disposition eintritt.
Wer also eine erbliche Anlage zu einer Krankheit besitzt, sollte unter
keinen Umständen eine Person heirathen, die dieselbe Anlage besitzt, sondern
eine solche, die von möglichst entgegengesetzter Constitution ist. Es kann
dann bei der Bildung des Embryo durch das Uebergewicht von einer Seite
her der Einfluss der anderen aufgehoben werden.
Aus diesem Grunde ist eine vernünftige geschlechtliche Auslese und
Kreuzung verschiedener Stämme das beste Mittel, um einer Entartung der
Geschlechter vorzubeugen, wie sie sich bei fortgesetzter Inzucht in der Form
von bis zum Extrem ausgebildeten Familienzügen oder Familienübeln, Familien-
krankheiten zeigen. Bekannt ist ja der durch fortgesetzte Inzucht beförderte
Kretinismus und die Idiotie.
Die praktisch wichtigste und auch am leichtesten zu beantwortende
Frage ist die „was wird vererbt?" Hierauf ist zu antworten: 1. physiolo-
gische Eigenschaften und zwar sowohl auf körperlichem, als auch
auf geistigem Gebiet, und 2. pathologische Eigenschaften auf
körperlichem und geistigem Gebiet.
So vererben sich gewisse Eigenthümlichkeiten des Körpers, wie Grösse
und Form einzelner Körpertheile, Farbe der Haare, der Augen; es vererben
sich auf geistigem Gebiet gewisse Fähigkeiten und Talente, oft eine besimmte
Vorliebe für Künste und Wissenschaften, oder speciell für irgend eine Kunst,
irgend eine bestimmte Wissenschaft u. s. w.
Am wichtigsten und interessantesten für Aerzte ist aber die Erblich-
keit pathologischer Eigenschaften, d. h. die Erblichkeit von
Krankheiten, seien sie nun körperlicher oder geistiger Natur.
Handelt es sich dabei um eine Vererbung der Krankheiten selbst,
oder um die Vererbung der Disposition zur Krankheit, d. h. einer
besonderen Empfänglichkeit für dieselbe?
Beides ist der Fall. Von der grossen Zahl der erblichen Krankheiten,
wie Tuberculose, Syphilis, Gicht, Diabetes, Haemophilie, Carcinom, Fettlei-
bigkeit, Epilepsie, Hysterie, Hypochondrie, Kretinismus, Geisteskrankheiten
u. s. w. können wir manche als Beispiele für die directe Vererbung der
Krankheit selbst anführen, andere wieder als Beispiele für die Vererbung
einer gewissen Disposition für diese Krankheit; eine Mittelstellung nimmt dabei
wohl die Tuberculose ein.
Als Beispiel für die erste Art der Vererbung ist die Syphilis zu
nennen, die entweder am neugeborenen Sprössling schon vorhanden, oder
auch vorläufig latent sein kann, um erst später manifest zu werden, ferner
die Haemophilie, Epilepsie, Kretinismus. Es wird hier die Krank-
heit selbst als solche von den Eltern auf die Kinder übertragen, vererbt. Als
Beispiele für die zweite Art der Vererbung sind zu nennen Diabetes, Fett-
leibigkeit, Carcinom, Hysterie, Geisteskrankheiten u. s. w.
Hier wird das Kind nicht krank geboren, sondern es bringt nur eine beson-
dere Empfänglichkeit für die Krankheit, die Disposition zu der-
selben mit. Es ist dann das betreffende Organ als ein locus minoris
resistentiae anzusehen, welcher den Anforderungen, die an ein normales
Organ gestellt werden, nicht voll entspricht und den Angriffen und Schädlich-
keiten, denen alle unsere Organe im Leben mehr oder weniger ausgesetzt
sind, nicht widerstehen kann. Es erkrankt dann das jahrelang anscheinend
gesunde Kind nach gewisser Zeit, und zwar oft in dem Alter, in welchem
Vater oder Mutter von der Krankheit befallen wurde.
ERNÄHRUNG. 219
Die Tuberculose nimmt — wie schon gesagt — eine vermittelnde
Stellung ein. Bei dieser Krankheit können wir beide Arten der Vererbung
beobachten.
Es kann das Kind tuberculöser Eltern mit den Erscheinungen dieser
Krankheit behaltet geboren werden, oder dieselben wenigstens bald nach der
Geburt aufweisen, es kann dasselbe aber auch jahrelang gesund bleiben und
nach geraumer Zeit erst erkranken.
Unter Umständen können zu einer Krankheit disponirte, erblich belastete
Kinder von der betreffenden Krankheit befreit bleiben, wenn von vornherein
gegen diese Disposition in zweckmässiger Weise angekämpft wird.
Als Disposition bezeichnet man im Allgemeinen eine Eigenthüm-
lichkeit des menschlichen Organismus, vermöge deren er zu gewissen Er-
krankungen mehr geneigt ist, eine grössere Empfänglichkeit für dieselben
besitzt. Man kann also gewissermassen die Disposition zu einer Krankheit
die entferntere Ursache derselben nennen, wozu nun noch, um einen
Krankheit sausbruch zu bewirken, die eigentliche veranlassende Ursache
kommen muss. Man kann von einer allgemeinen Krankheitsdisposi-
tion sprechen, wenn eine Neigung des Körpers überhaupt zu Erkrankungen
vorhanden ist, wenn schädigende Einflüsse leichter als bei anderen Menschen
eine Krankheit veranlassen; und von einer speciellen Krankheitsdispo-
sition, wenn bei im Allgemeinen kräftigen widerstandsfähigen Menschen eine
besondere Anlage, eine besondere Empfindlichkeit gewissen bestimmten Krank-
heiten gegenüber besteht.
Das Wesen der Disposition genau anzugeben ist in den meisten Fällen
nicht möglich, abgesehen von den Fällen, in denen sich — wie bei der Phthisis
pulmonum — der Disponirte schon äusserlich durch seinen Körperbau ver-
räth. Die Disposition kann übrigens, z. B. wie die eben genannte zur Lungen-
tuberculose, ererbt, oder erworben durch schädliche Gewohnheiten und
ungünstige Lebensverhältnisse sein.
In beiden Fällen lässt sich aber die Disposition — wie schon oben er-
wähnt — durch geeignete diätetische Massregeln und durch eine abhärtende
Lebensweise zum Verschwinden bringen, und so der Ausbruch einer Krankheit
verhüten.
Die Hauptmittel der Abhärtung, d. h. der Gewöhnung des Menschen an
äussere, für den schwachen Organismus schädliche Einwirkungen, Anstrengungen
und Entbehrungen sind auf geistigem Gebiet Erziehung resp. Selbsterziehung
des Menschen zu Charakterstärke, Standhaftigkeit in misslichen Lagen und
Beherrschung der Leidenschaften ; auf körperlichem Gebiet kalte, frische, reine
Luft, besonders Morgenluft und Winterluft, kaltes Wasser, als kalte Waschun-
gen, Douchen, Fluss- und Seebäder, leichte Kleidung, kühles und hartes Nacht-
lager, einfache Kost und tüchtige Körperbewegung.
Durch alle diese Massnahmen kann man den Körper erblich belasteter
Individuen so kräftigen und widerstandsfähig machen, dass die in ihm vor-
handene Disposition zu gewissen Krankheiten erlischt, und der Organismus
den Angriffen der eigentlichen veranlassenden Krankheitsursache nicht
unterliegt. a. dräer.
Ernährung. Ernährung ist die Erhaltung des Körpers und seiner
Functionen durch ständige regelmässige Zufuhr von Nahrungsmitteln,
welche einen Ersatz für die von dem Körper stetig verbrauchten Stoffe, aus
denen er selbst aufgebaut ist, liefern sollen. Die Stoffe, aus denen der Körper
aufgebaut ist, und welche einem ständigen gesetzmässigen Verbrauch unter-
liegen, sind Eiweissstoffe, Fette, Kohlehydrate, Wasser und Salze.
Diese Stoffe müssen daher in jeder ausreichenden Nahrung enthalten sein.
Dazu kommen noch sog. Genussmittel, wie die Gewürze, Thee, Kaffee,
220 ERNÄHRUNG.
Alkoholica, Tabak u. s. w., deren Bedeutung darin liegt, dass sie einmal durch
ihren angenehmen Geschmack zur Aufnahme der Nahrung anregen, da eine
geschmacklose Nahrung gar nicht, oder nur mit Widerwillen genommen wird;
dass sie ferner durch gewisse reizende Eigenschaften besonders geeignet sind,
reflectorisch die Absonderung der Yerdauungssäfte anzuregen; und dass sie
schliesslich als Reizmittel eine die Nerven belebende und die Energie stei-
gernde Wirkung auf den Organismus ausüben und auch gelegentlich die Em-
pfindung ungenügender Ernährung verdecken. (Vergl. Artikel „Genussmittel"),
lieber die Bedeutung der einzelnen Nahrungsstoffe ist kurz folgendes
zu sagen.
1. Die Eiweisstoffe: Fleischfresser lassen sich durch blosse Eiweiss-
zufuhr, z. B. ausgelaugtes Fleischpulver mit Wasser, am Leben erhalten und
zwar ist die Stickstoffausscheidung um so grösser, je grösser die täglich zu-
geführte Eiweissmenge ist; der Eiweissverbrauch ist also von der Eiweiss-
zufuhr abhängig. Wird eine bestimmte Eiweisskost längere Zeit unterhalten,
so setzt sich der Organismus nach einiger Zeit mit derselben ins Gleich-
gewicht, so dass Einnahme und Ausgabe von Stickstoff sich gleich sind. Nur
durch besondere, die Zerlegung des Eiweiss beeinflussende Momente, z. B.
Fieber, psychische Erregung etc. kommt es zu rascherem uud stärkerem Ei-
weissverlust.
Das im Körper zerstörte Eiweiss muss in voller Menge wieder durch
Eiweiss ersetzt werden, da nur bei normalem Eiweissgehalt der Organe die
Functionen derselben sich in richtigen Grenzen halten. Eine Bildung von
Eiweiss aus andeien Nahrungsstoffen vermag der Körper nicht zu leisten,
doch sind die verschiedenen Eiweisskörper, gleichviel ob sie sich in thierischen
oder pflanzlichen Nahrungsmitteln finden, gleichmässig im Stande das im Körper
verbrauchte Eiweiss zu ersetzen.
Ausser den echten Eiweissstoffen kommen in der Nahrung noch ver-
schiedene stickstoffhaltige Stoffe vor, welche den Eiweissstoffen gegenüber nicht
vollwerthig sind, also auch keinen vollen Ersatz für verbrauchtes Eiweiss
geben können und doch einen gewissen Werth bei der Ernährung beanspruchen.
Es sind das die leimgebenden Stoffe, wie Glutin, Collagen, Chondrin
u. s. w. Dieselben können zwar nicht das Eiweiss voll ersetzen, üben aber
eine eiweisssparende Wirkung aus, und zwar so, dass nach Voit etwa 100^
Leim ca 36^ Eiweiss vor dem Zerfall schützen.
2. Die Fette: Die Leistungen des Fettes bei seiner Zerlegung im Or-
ganismus sind Wärmeerzeugung und Verringerung des Eiweiss-
zerfalles. Die letztere Eiweiss ersparende Wirkung tritt allerdings nur dann
ein, wenn neben der Fettzufuhr ausreichende Eiweisszufuhr vorhanden ist.
Es schützt also auch reichliche Fettzufuhr neben Kohlehydraten ohne Eiweiss-
zufuhr nicht vor dem Verhungern. Das Fett wird im Körper relativ schwer,
und nur in geringen Mengen zerlegt, bei grösserer Zufuhr wird der Ueber-
schuss an bestimmten Orten abgelagert. Eine vermehrte Fettzufuhr hat also
keinen den Umsatz fördernden Einfluss. Dagegen wird bei Muskelarbeit be-
deutend mehr Fett zerstört, als in der Ruhe.
Von Wichtigkeit ist die schon erwähnte Eigenschaft des Fettes, den
Eiweisszerfall zu verringern, in Fällen, wo die Nahrungszufuhr zum Körper
wegen Krankheit stark vermindert ist, oder ganz unterbleibt. Hier wird, wie
überhaupt beim Hungern das abgelagerte Fett angegriffen, allmählig verbraucht
und so der Zersetzung der Eiweissstoffe des Körpers bedeutend entgegen-
gearbeitet.
Der Ersatz des im Körper verbrauchten Fettes findet in der Regel auch
wieder durch Fette der thierischen oder pflanzlichen Nahrungsmittel statt;
doch kann unter gewissen Umständen im Körper auch Fett aus Eiweiss resp,
aus Kohlehydraten gebildet werden, und zwar in beiden Fällen dann, wenn
sehr reichliche Mengen von Kohlehydraten im Körper vorhanden sind.
ERNÄHRUNG. 221
Alles dem Körper zugeführte Fett muss, um verdaulich zu sein und in
den Säftestrom übergeführt werden zu können, seinen Schmelzpunkt unter
40" C liegen haben.
3. Die Kohlehydrate: Die Kohlehydrate, die in der Regel in grosser
Menge in den Körper eingeführt werden, zerfallen hier vollständig und liefern
als Endproducte ihrer Verbrennung Kohlensäure und Wasser.
Daher finden wir im Körper die Kohlehydrate auch nur in Spuren vor-
handen, nämlich in den kleinen Mengen von Glycogen, welche im Blute, in
der Leber und im Muskel sich vorfinden.
Sie werden also nie zu bleibender Körpersubstanz umgewandelt, aus-
genommen den einzigen, schon bei Besprechung der Fette erwähnten Fall,
dass sie bei sehr reichlicher Zufuhr theilweise zur Fettbildung verwandt werden
können.
Ihre Hauptbedeutung liegt auch vielmehr darin, dass sie bei ihrer Ver-
brennung grosse Mengen Wärme bilden; dass sie ferner noch vollkommener,
als die Fette dies thun, den Eiweisszerfall vermindern und darin, dass sie
schliesslich auch eine geringere Zerstörung des im Körper circulirenden Fettes
und unter Umständen sogar eine Ablagerung desselben im Körper bewirken.
Der Ersatz der verbrauchten Kohlehydrate erfolgt hauptsächlich durch
Zufuhr von Stärke, die im Körper in Zucker übergeht, und durch Zufuhr von
Rohr- und Milchzucker.
4. Das Wasser: Das dem Körper zugeführte Wasser geht nicht einfach
durch denselben hindurch, sondern übt auch gewisse Einflüsse auf den Stoff-
wechsel aus, indem es im Körper eine Reihe sehr wichtiger Functionen hat.
Wasser bildet nämlich den Hauptbestandtheil — wenigstens der Menge nach
— aller Organe, es ist Lösungs- und Transportmittel der gelösten Substanzen
und spielt bei der Wärmeregulirung des Körpers eine wichtige Rolle. Daher
ist auch stets ein voller Ersatz der ausgeschiedenen Wassermenge durch neue
Wasserzufuhr erforderlich, welche dem Körper grösstentheils mit den Speisen
einverleibt wird.
Vermehrte Wasserzufuhr steigert die Harnstojßfausscheidung, die nach
VoiT von einer Steigerung des Eiweisszerfalls im Körper herrührt, nach an-
deren Autoren auf Ausspülung angesammelter Excrete beruht. Jedenfalls hat
anhaltende abnorm starke Wasserzufuhr verschiedene Nachtheile im Gefolge,
z. B. eine starke Verdünnung der Verdauungssäfte mit Ueberbürdung des
Pfortaderkreislaufes und dadurch eintretenden Störungen in den circulatorischen
Apparaten.
Eine Steigerung des Wassergehaltes des Körpers kann nach Voit's
Untersuchungen durch ungenügende Eiweisszufuhr resp. durch Hunger erzielt
werden.
Es ist also daraus zu schliessen, dass das Gewicht eines Menschen sehr
trügen kann; denn ein Mann kann schwer sein und sich durch stattliche
Leibesfülle auszeichnen, ohne dass sein Ernährungszustand ein besonders
guter ist.
Eine vollkommene Entziehung des Wassers, auch des in den festen
Nahrungsmitteln enthaltenen, wirkt wie Hunger, da bald auch feste Nahrungs-
mittel nicht genommen werden können.
5. Die Salze: Die Zufuhr der die Asche der Gewebe und auch der
Excrete bildenden Salze ist fast ebenso unentbehrlich, wie die Wasserzufuhr.
Werden die ausgeschiedenen Salze des Körpers nicht genügend ersetzt, z. B.
bei Fütterung eines Thieres mit ausgelaugten Nahrungsmitteln, so gibt der
Körper eine kurze Zeit hindurch Salze aus seinem Bestände her; in wenigen
Wochen gehen aber derartig gefütterte Thiere an Salzhunger unter den Er-
scheinungen von Schwäche und Lähmung zu Grunde. Diese Erscheinungen
kann man jedoch nur bei Fütterung mit künstlich salzfreigemachten Nah-
090
ERNÄHEUNG.
nmgsmitteln beobacliten. da in der normalen Xahrung sowie im "Wasser Salze
in genügender Menge vorhanden sind, um die täglich ausgeschiedenen Salz-
mengen zu ersetzen.
Xur einzelne Salze werden bisweilen in unzureichender Menge eingeführt
und erzeugen dui'ch ihren Mangel krankhafte Erscheinungen. So erzeugt
mangelhafte Kalkzufuhr Knochenbrüchigkeit und bei jugendlichen Individuen
Rhachitis, mangelnde Eisenzufuhr Hämoglobinmangel, Blässe u. s. w. Bei
ausschliesslicher Pflanzenkost entsteht femer ein Kochsaizdeficit, indem die
Kalisalze der Pflanzen mit dem Kochsalz des Körpers Verbindungen eingehen
und so eine fortschreitende Verarmung des Körpers an XaCl hervorrufen.
Der sogenannten Genussmittel ist schon eingangs genügend Erwäh-
nung gethan, es sei hier nur noch darauf hingewiesen, dass. wenn dieselben
unleugbar auch eine grosse Bedeutung für die Ernährung haben, so doch ein
massiger Gebrauch derselben dringend angezeigt ist, da viele dieser Mittel
in grösserer Menge und häufiger angewandt, die Verdauung in schwerer Weise
schädigen, andere durch Gewöhnung an immer grössere Mengen derselben
den Körper und ganz besonders das Nervensystem allmälig in seinen Func-
tionen stören.
Ueber den Stoffimisatz im Körper lassen sich Schlüsse ziehen aus der
Vergleichung der Einnahmen und Ausgaben eines Körpers. Derartige ver-
gleichende Untersuchungen sind in grosser Menge ausgeführt und haben er-
geben, dass der im Körper verbrauchte Kohlenstofl' zum grössten Theil In-
der exspirirten Kohlensäure, der verbrauchte Stickstoff fast ganz im Harn,
und zwar in dessen Harnstoff, vollständig aber im Harn und Koth wieder
erscheint. Kohlensäure und Harnstoff' sind also die wichtigsten Maasse des
Stoffverbrauches, und zwar kann die Kohlensäure als Maass des Verbrauchs
organischer rkohlenstoff'haltiger) Substanzen überhaupt, Harnstoff' als das Maass
des Verbrauchs stickstoffhaltiger Substanzen, besonders als Maass des Eiweiss-
consums im Organismus betrachtet werden; genauer gilt als solches der ge-
sammte Stickstoffgehalt im Harn und Koth. Berechnet man aus letzterem
das zersetzte Eiweiss. und erscheint in den Excreten mehr Kohlenstoff, als
dem zersetzten Eiweiss entspricht, so muss noch eine andere kohlenstoffhaltige
Substanz zersetzt sein, welche in der Hauptmasse nur Fett sein kann; umgekehrt
schliesst man, wenn die Excrete weniger Kohlenstoff enthalten, als dem Ei-
weiss verbrauch entspricht, auf einen Fettansatz. (Voit, citirt nach HER:iiAXx.)
Als Beispiel für derartige Untersuchungen und Berechnungen diene fol-
gende Tabelle über den Stoff'umsatz eines kräftigea Mannes innerhalb 24 Stun-
den nach Pettexkofeb und Voit:
Kräftiger Mann. Anfang
sgewicht
69-290
. Endge-nicht
69-550 hg.
GTamm in 24 Stunden
Was-
ser
C.
H.
N.
0.
Asche
Einnahmen. -
Fleisch
Eiweiss
Brod
139-7
41-5
4.50-0
5000
1025-0
70-0
.300
79-5
32-2
208-6
435-4
961-2
21
11-0
286-3
31-3
50
109-6
.35-2
25-6
535
22-0
261
7-2
4-3
0-7
156
5-6
4-3
83
3-1
3-9
1-1
8-50
1-35
5-77
3-15
0-67
003
129
2-0
100-5
170
30-6
8-1
2-8
290
8-7
709-0
1792-3
3-2
0-3
99
3-6
2-7
4-2
Milch
Bier
Schmalz
Butter . ...
Stärke
Zuf ker . .
70-0
17-0
4-2
286-3
7090
3.342-7
Salz
Wasser
Inspirirter Sauerstoff
Summa der Einnahmen ....
2016-3=
315-5
j 270 9
19-47
2712-9
23^
EENÄHRI3Ct.
223
Grramm in 24 Stunden
Yr,^i C. H. N. 0. i Asche
aer
Ausgaben:
Harn
. 1343-1
. 114-5
. 1739-7
1278-6
82 9
828-0
12-60
14-50
248 60
2^5
2-17
17-35
2-12
13-71
7-19
663-10
1946-20
18-1
5-9
Koth
Exspiration
2189-5«
— '-24330
Summa der Ausgaben ....
. 3197-3
275-70 {240-22
19-47
26au-:iU
240
Differenz: Einn. minus Ausgabe
4- 145-3
—
^39-8
+ 22-7
0
-L82^
— Ol
Allgemein gütige Zahlen für die nottwendige tägliche Menge der ein-
zelnen Xahrungsstoffe für den Menschen lassen sich nicht anfsteUen, weil
diese Zahlen durch den Einfluss yerschiedener Momente erheblichen Schwan-
kungen unterliegen; denn
1. kann sich der Organismus innerhalb gewisser Grenzen mit den ver-
schiedensten Kostmaassen ins Gleichgewicht setzen;
2. hängt die zur Erhaltung eines gewissen Gleichgewichtszustandes er-
forderliche Nahrungsmenge von der Mischung der Xahrungsstoffe ab:
3. wird der Xahrungsbedarf sehr wesentlich beeinflusst durch die Con-
stitution, da im Allgemeinen bei grösseren, kräftigeren Individuen auch
höhere Zahlen beobachtet werden, als bei kleineren und schwächeren; durch
die Arbeitsleistung des Individuums, da bei erhöhter Arbeitsleiätung z. B.
die Fettzerspaltung bedeutend gesteigert wird: durch Temperament^ indem
leicht erregbare Xaturen grösserer Xahrungszufuhr bedürfen als träge Naturen:
ferner durch das Lebensalter, da mit zunehmendem Alter der Stoiiumsatz
abzunehmen pflegt ; durch das Geschlecht, iudem Frauen im. Allgemeinen eiuen
geringeren Xährstofibedarf haben als Männer, ausgenommen die Zeit der Gra-
vidität und der Lactation; und schliesslich durch Temperatur und Klima, da
z. B. Kälte eine bedeutende Steigerung des Fettzerfalls bewirkt, und wir
daher im Winter und in kalten Klimaten für reichliche Fettzufuhr sorgen
müssen, was im Sommer und in heissen Gegenden gerade zu vermeiden ist.
da hier jede grössere Fettzufuhr zum Körper die Entwärmung desselben er-
schwert, und daher mehr Werth auf die Zufuhr von Kohlenhydraten und Ei-
weiss zu legen ist.
Man kann also — wie schon gesagt — allgemein giltige Zahlen für die
Menge der täglich gebrauchten Xährstoffe nicht aufstellen, sondern nur
Mittelwerthe geben, an die man sich annähernd halten kann, und die man
aus einer grossen Zahl von Einzelbeobachtungen gewinnt.
Einige solcher Einzelbeobachtungen, aus denen wir einen Mttelwerth
herausrechnen könnten, sind z. B. folgende (citirt nach Flüg-geV
Individuum
Ei-
weiss
Fett
Kohle-
drate
N
Autor
28 jähr. Arbeiter . . . 137 ! 72
Derselbe arbeitend . . 137 I 173
36 jähr. Dienstmann . 133 [ 95
Junger Arzt 127 ; 89
Mann b. mittlerer Arbeit 130 ' 40
Derselbe 120 ■ 35
Soldat, leichter Dienst . i 117 i 35
im Felde ... i 147 ' 44
352
19-5
352
19-5
422
21
362
20
550
20
540
19
447
18
504
23
283
356
331
297
325
331
288
336
Pettenkofer u. Yoü
i » 3
Forster
iloleschott
Wolff
Hjldesheim
224 ERNÄHRUNG.
Die Anforderungen, die wir vom hygienischen Stand-
punkte aus an die tägliche Kost stellen müssen, sind abgesehen
davon, dass dieselbe die nöthigen, soeben besprochenen Nährstoffe enthält
und dass sie mit Hilfe der Genussmittel genügend wohlschmeckend gemacht
ist, folgende:
1. Die Nahrung muss gut ausnutzbar und leicht verdaulich
sein, d. h. es muss möglichst viel von ihr resorbirbar sein, und die Kesorp-
tion muss schnell und ohne Verdauungsbeschwerden vor sich gehen.
Die früher giltige Ansicht, dass die Abschätzung des Nährwerthes der
einzelnen Nahrungsmittel direct aus den Resultaten der chemischen Analyse
möglich sei, hat man jetzt fallen gelassen, da man gefunden hat, dass niemals
dieselben Mengen von Nahrungsstoffen in unseren Körper zur Resorption ge-
langen, welche demselben einverleibt wurden. Es muss also nunmehr erst
für jedes Nahrungsmittel festgestellt werden, wieviel resorptionsfähigen
Nahrungsstoff es enthält.
Aus derartigen Untersuchungen hat sich ergeben, dass animalische
Nahrung im Ganzen eine bessere Ausnutzung gestattet, als vegetabilische.
Die Ausnutzung der Nahrung ist ausserdem individuell verschieden und
ferner auch von der Beschaffenheit derselben abhängig; so setzt z. B. die
Beimengung unverdaulicher Cellulose die Resorption sämmtlicher Nährstoffe
bedeutend herab, dasselbe geschieht durch grosse Fettmengen und durch
ein Uebermaass von Kohlehydraten, welche letztere durch abnorme Gäh-
rungen die Darmschleimhaut reizen und die Verdauung stören.
Leicht verdaulich nennen wir ein Nahrungsmittel, wenn es selbst
in grösserer Menge genossen rasch resorbirt wird und auch bei empfindlichen
Menschen keinerlei Verdauungsbeschwerden verursacht. Käse ist z. B. ein
gut ausnutzbares, aber schwer verdauliches Nahrungsmittel. Als leicht ver-
daulich sind gut zerkleinerte, für die Verdauungssäfte leicht durchdringliche,
fett- und cellulosefreie Nahrungsmittel zu bezeichnen. Schwer verdaulich
sind compacte, für die Verdauungssäfte schwer durchdringliche, fette oder
cellulosehaltige Nahrungsmittel, wie Käse, harte Eier, fettes süsses Back-
werk, hartes wenig zerkleinertes Fleisch, Pumpernickel u. s. w.
2. Die Zubereitung der Nahrungsmittel und die Conser-
virung derselben muss derart sein, dass sie einmal verdaulicher und
schmackhafter werden, und dass sie ausserdem keine schädlichen Stoffe, wie
Infectionserreger, Fäulnisgifte, metallische Gifte u. dergl. aufnehmen.
Die Zubereitung der Nahrungsmittel, welche wie schon gesagt
nothwendig ist, um die Speisen schmackhafter, ausnutzbarer und leichter ver-
daulich zu machen, besteht in Abtrennen der Abfälle, z. B. der Hüllen
der Gemüse, Sehnen und Fascien des Fleisches u. s, w.; in mechanischem
Bearbeiten, wie Zerkleinern und Zermahlen der vegetabilischen Nahrungs-
mittel, besonders der Getreidearten, Klopfen des Fleisches etc.; in Kochen
mit Wasser oder Wasserdampf, Backen, Braten; und schliesslich in gewissen
Gährungsprocessen z. B. Säuern des Brodteiges zum Zweck der Auf-
lockerung, Einlegen von hartem Fleisch in saure Milch, um es mürbe zu
machen, Gährung des Sauerkohls u. s. w.
Die Conservirung der Nahrungsmittel zum Zweck längerer Auf-
bewahrung derselben geschieht durch Kälte in Kellern und Eisschränken,
durch Kochen, besonders Kochen in Gefässen, die sofort nach dem Kochen
hermetisch verschlossen werden, durch Trocknen und Räuchern. Alle
diese Mittel dienen dazu, die Saprophyten zu vernichten, oder wenigstens in
ihrer Entwicklung zu hemmen, die ohne diese Conservirungsmethoden schnell
zu einer Zersetzung, zur Fäulniss der Nahrungsmittel führen.
Beim Kochen und Aufbewahren der Nahrungsmittel ist grosse Vorsicht
bezüglich der Wahl der Gefässe zu beobachten, da aus denselben nur zu
ERNÄHRUNG.
225
leicht bei längerer Berührung mit Speisen Gifte in letztere übergehen, die zu
Vergiftungen Veranlassung geben können. So sind Kupfer- und Messing-
gefässe möglichst ganz zu vermeiden, da bei Verwendung derselben nur zu
leicht giftiges Kupferoxyd in die Speisen übergehen kann. Schlecht glasirte
resp. emaillirte irdene oder eiserne Gefässe können besonders bei saurer
Keaction der Speisen leicht lösliche giftige Bleiverbindungen an die Speisen
abgeben. Das gleiche ist von schlechten, d. h, stark bleihaltigen Zinngefässen
zu sagen, die vielfach zur längeren Aufbewahrung von Conserven dienen.
3. Das Volum der Nahrung muss ein zur Sättigung aus-
reichendes, jedoch auch wieder kein zu grosses sein.
Eine an Nährstoffen ausreichende, aber nicht genügend voluminöse Nahrung
würde an dem Fehler leiden, dass sie kein Sättigungsgefühl hervorruft. Die Menge,
die durchschnittlich zur Sättigung eines Erwachsenen hinreicht, beträgt 1800 g,
doch kommen von dieser Zahl natürlich viele individuelle Abw^eichungen
vor und namentlich ist das Volum bei mehr von Vegetabilien lebenden
Menschen ein grösseres als bei mehr animalischer Kost. Eine Volumvermehrung
ist durch Vermehrung des Wassergehaltes der Speise leicht zu erzielen.
Ein zu grosses Volum der Nahrung wirkt direct schädlich, indem es die
Kesorption herabsetzt, und ausserdem allmälig zu Magenerweiterung führt.
Die Folge derselben ist ständiges Hungergefühl, sobald nicht Nahrung in
abnormer Menge zugeführt wird, welche ihrerseits den Magen wieder schädigt
durch stagnirende nicht resorbirbare Nahrungsreste, so dass ein circulus vitiosus
entsteht, unter dessen Einflüssen der Verdauungsapparat schwer zu leiden hat.
4. Die Speisen müssen richtig temperirt genossen werden.
Als normal ist nach Flügge für den Säugling eine Nahrungstemperatur
zwischen 4- 35*' und -\- 40" C, für den Erwachsenen zwischen A;- 1'^ und
-|- 55" C zu bezeichnen.
Niedriger temperirte Speisen und Getränke verursachen leicht Verdauungs-
störungen, höher temperirte haben denselben Nachtheil und können ausserdem
auch Verbrennungen oder wenigstens Hyperämien und Epithelverletzungen
der Schleimhäute des Mundes, der Speiseröhre und des Magens herbeiführen.
Von grosser Wichtigkeit ist die Zusammensetzung einer Kost,
d. h. ihre Mischung aus vegetabilischen und animalischen Nahrungsmitteln.
Vergleichen wir die hauptsächlichsten animalischen und vegetabilischen Nah-
rungsmittel bezüglich ihrer chemischen Zusammensetzung miteinander, so
sehen wir, dass den grössten Eiweissgehalt die animalischen Nahrungsmittel
repräsentiren, während die Kohlehydrate ausschliesslich in den Vegetabilien
enthalten sind. (Vergl. folgende im Auszug nach Flügge citirte Tabelle.)
Chemische Zusammensetzung
einiger Nahrungsmittel.
Animalische Nahi
ungsmitte]
Wasser
7o
Eiweiss
0/
Fett
0/
Kohlehydrate u.
N-freie Extractiv-
Asche
0/
/o
/o
stoffe o/o
/o
Kuhmilch ....
87-05
3-04
3-06
4-08
0-07
Butter
14-14:
0-68
83-11
0-70
1-19
Käse (fett) ....
3575
27-16
30-43
2-53
4-13
,, (halbfett) . . .
46-82
27-12
20-54
1-97
3-05
„ (mager) . . .
48-02
32-65
8-^1
6-80
4-12
Kuhmilch (abgerahmt) .
90-63
3-06
0-79
4-77
0-75
Ochsenfleisch (mittelfett)
72-25
2139
5-19
—
117
Kalbfleisch (mager) .
78-82
19-86
0-82
—
133
Schweinefleisch (fett) .
47-40
14 54
37 34
—
0-72
Schinken (geräuchert) .
27-98
23-97
36-48
1-50
10-07
Leberwurst . .
48-70
15-93
26-33
6-38
2-66
Häring (frisch) .
80-71
10-11
7-11
—
2-07
„ (gesalzen)
46 23
18-90
16-89
1-57
16-41
Schellfisch ....
80 92
17-09
0 35
—
1-64
Pöckling
69-49
21-12
8-51
—
1'24
BiW. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med.
15
226
ERNÄHRUNG.
Vegetabilische Nahrungsmittel.
u
m
o
03
03
03
"3 „
■+^
i^
s5 .2«
CO o
^
H
03
N
O 03 O
o
<
Weizen ...
13-56
15-26
14-86
12-42
11-43
8-91
1-70
1-71
111
1-44
0-96
2-32
66-45
66-86
71-86
2-66
2-01
0-33
1-77
1-77
0-61
Rossen . . .
Weizenmehl (fein)
Roggenmehl
38-15
10-97
6-82
1-95
0-77
3-88
2-37
65-86
40-97
1-62
038
1-48
1-18
Weizenbrod (fein)
Roggenbrod (frisch)
44-02
6 02
0-48
2-54
45-33
0-30
1-31
Pumpernickel
43-42
7-69
1-51
3-25
41-87
0-94
1-42
Reis
13-23
13-60
7-81
2312
0-69
2 28
—
76-40
53-63
0-78
3-84
1-09
3-53
Bohnen
Erbsen
14-31
24-81
1-85
—
54-78
3-85
2-47
Steinpilze
12-81
36-12
1-72
—
37-26
6-71
6-38
Kartoffeln
75-77
1-79
0-16
—
20-56
0-75
0-97
Möhren
87-05
1-04
0-21
6-74
2-66
1-40
0 90
9006
1-83
0-19
1-74
4-12
1-29
0 77
Gurken
95-60
1-02
009
0-95
133
0-62
039
83-58
0-39
—
7-73
6-01
1-98
0-31
Weintrauben .
78-17
0-59
-
14-36
2-75
3-60
053
Es erhellt daraus, dass wir bei unserem bedeutenden Bedarf an Kohle-
hydraten auf eine verhältnismässig grosse Menge von Vegetabilien angewiesen
sind. Indem wir mit den Vegetabilien unseren Bedarf an Kohlehydraten
decken, führen wir mit denselben dem Körper auch gleichzeitig eine gewisse
Menge Eiweiss und einen kleinen Theil Fette zu. Es kommt nun darauf an,
auch die noch fehlende Menge dieser Nährstoffe in geeigneter Weise dem
Körper zuzuführen.
Nach VoiT braucht der Erwachsene in seiner Normalkost 118 ^ Eiweiss,
66 g Fett und 500 g Kohlehydrate, vorausgesetzt, dass keine zu starke Ar-
beitsleistung von ihm verlangt wird. Von diesem Eiweiss soll nun, wenn
irgend möglich Vs als animalisches Eiweiss, V.3 als vegetabilisches aufgenommen
werden; nicht aus dem Grunde, dass etwa animalisches Eiweiss vom Körper
anders verwerthet wird, als vegetabilisches, aber es wird besser ausgenützt,
macht die Nahrung weniger voluminös und ist meist mit Genussmitteln verbunden.
Vorübergehend kann der Eiweissgehalt der Nahrung auch weiter herabgedrückt
werden, etwa bis auf 50 g Eiweiss, dass diese Menge aber auf die Dauer
genüge, ist als höchst unwahrscheinlich anzusehen.
Von gewissem Vortheil ist es, das Fett in der Nahrung auf Kosten der
Kohlehydrate zu vermehren und z. B. 90^ Fett und ca. 410—420 9' Kohle-
hydrate statt der 56 g Fett und 500 g Kohlehydrate zu geben. Da die
üblichen Vegetabilien nur ca. 20 — 25 g Fett zuführen, so sind, um Voit's
Forderung zu erfüllen, im Minium noch ca. 35 — 40 g Fett aus Milch, fettem
Käse oder besser noch direct als Butter, Speck u. s. w. hinzuzufügen.
Einen gewissen Einfluss auf die Zusammensetzung der Nahrungsmittel
hat von jeher, und wird auch weiter stets der Preis derselben ausüben, und
zwar so, dass man immer geneigt sein wird, das relativ theure animalische
Eiweiss und Fett durch billiges vegetabilisches zu ersetzen, bestochen durch
die für denselben Preis grössere Menge der vegetabilischen Nahrungsmittel. —
"Wir wollen nun nach diesen allgemeinen Erwägungen zur Beantwortung der
Frage nach der Ernährung einzelner Individuen und vor allem grosser Massen
übergeben. Es kommt dabei natürlich hauptsächlich darauf an, diese Frage spe-
ciell für die weniger bemittelten Classen zu beantworten, da der Bemittelte eine
grössere Auswahl treffen kann, ohne zu sehr auf den Preis der einzelnen
Nahrungsmittel achten zu müssen.
ERNÄHRUNG.
227
HiKT spricht sich in seiner „Gesundheitslehre für die arbei-
tenden Classen" folgendermassen aus. Der Arbeiter lebt nicht von dem,
was er isst, sondern von dem, was er verdaut; es muss daher bei der Be-
reitung der Speisen auf die Verdaulichkeit Kücksicht genommen werden.
Wasser und Milch sind unter den flüssigen Nahrungsmitteln die wichtigsten,
sie dürfen aber nur abgekocht genossen werden. Fleisch ist auf die Dauer
durch kein anderes Nahrungsmittel zu ersetzen; mindestens zweimal wöchent-
lich muss zum Genüsse desselben Gelegenheit geboten werden. — Krankes
und nicht ganz frisches Fleisch ist, auch wenn es genügend durchgekocht und
gewürzt wird, vom Genuss auszuschliessen. Hohes und nicht völlig durch-
gekochtes Schweinefleisch darf nur nach amtlicher Untersuchung auf Trichinen,
finniges weder roh noch gekocht, auch nicht in Wurst gehackt genossen
werden. — Mehlsuppen dürfen nie den Hauptbestandtheil der täglichen
Nahrung ausmachen. Dasselbe gilt von Kartofi'eln und dem aus Surrogaten
hergestellten sog. „Kaffee." Alkohol darf stark angestrengten Arbeitern,
besonders wenn sie bei niederer Temperatur und in Nässe beschäftigt sind,
in angemessener Menge, d. h. etwa Va — Vd Liter pro Tag gestattet werden. —
Es sind das Forderungen, die man im Allgemeinen wohl unterschreiben kann.
Die eigentliche Nahrung eines körperlich arbeitenden Menschen kann
man ungefähr folgendermassen zusammensetzen und berechnen:
Eiweiss
Fett Kohlehyd. Preis
750 g Schwarzbrod
1360 „ roh = 1000 g geschälte Kartoffeln
250 „ roh =: 200 „ rein Salzhäring . .
200 „ Wurst
50 „ Magerkäse
34 g
13-5 „
20 „
22
16 „
6^
14,.
24 „
4 „
105-5 g
48 (7
350 g
200 „
550 g
16-4 Pfg.
7 „
10 „
16 „
2 5 ,.
52 Pfg.
Die Nahrung eines geistig arbeitenden Menschen müsste mehr Fett und Eiweiss, aber
weniger Kohlehydrate enthalten und würde sich etwa so zusammenstellen lassen:
Eiweiss
Fett Kohlehyd. Preis
300 g Weissbrod
530 „ roh = 400 g geschälte Kartoffeln .
100 „ Reis zu Milchreis
500 com Milch zu Milchreis
100 g (== 110 roh) Ei
250 „ (^ 317 roh) Fleisch
60 „ Butter
17 0^
5-4 „
5-8 „
20 0 „
12-5 „
50-0 „
110-7 g
4^
20
12
50
135 g
80 „
76 „
20 „
311^
10
3
5
7-5
8
43
15
Pfg-
90-5 Pfg.
Für Fett zur Zubereitung, Gewürze und sonstige Genussmittel müsste man hierzu
in beiden Fällen noch 20 — 30 Pfg. hinzurechnen.
Es käme also immer, selbst wenn auch an einzelnen Tagen, die Nahrung
durch Einschaltung von Leguminosen sich billiger stellen würde, dieselbe für
einen Arbeiter pro Tag auf ca. 60 Pf. zu stehen, was für den verheiratheten
Arbeiter — die Familie als aus zwei Erwachsenen und 2 — 3 Kindern be-
stehend gerechnet — eine zu hohe Summe ausmacht.
Man ist daher — und damit kämen wir zu einem neuen wichtigen Ab-
schnitt unserer Betrachtung — dahin gekommen, die Kost für die unbemittelte
Classe dadurch billiger zu gestalten, dass man, ähnlich wie es bei den Massen-
ernährungen in öffentlichen Anstalten (z. B. Waisenhäusern, Gefängnissen) und
beim Militär geschieht, nicht Markt- sondern Engrospreise für die Nahrungs-
mittel bezahlt, indem die Einkäufe in grossem Maasse gemacht werden. An
vielen Orten ist durch diese Einrichtung, z. B. durch die Volksküchen, die
15*
228 ERNÄHRUNG.
eine schmackhafte und ausreichende Mahlzeit für ausserordentlich billigen
Preis liefern, schon viel genützt worden.
Sehr wichtig ist ausserdem für den Arbeiter die möglichst umfangreiche
Verwendung gewisser billiger und sehr nahrhafter und gut ausnutzbarer
Molkereiproducte, wie abgerahmte Milch und Magerkäse.
Was nun die Massenernährung betrifft, wie sie beim Militär und in
öffentlichen Anstalten üblich ist, so stellt sich hier der Preis der Nahrung
wegen des schon erwähnten billigeren Einkaufes wesentlich billiger, als bei
der Einzelernährung.
Es werden z. B. für die Ernährung eines Soldaten pro Kopf und Tag
nur 30—35 Pf. verausgabt. Es erhält der Soldat:
o^inderGarnison:
750 g Brod, 25 g Salz, 150 g Fleisch, 90 g Reis,
oder 120 „ Graupen, Grütze,
oder 230 „ Hülsenfrüchte
oder 1500 „ Kartoffeln;
b) im Manöver:
750 g Brod, 25 g Salz, 250 g Fleisch, 120 g Reis,
oder 150 „ Graupen, Grütze,
oder 300 „ Hülsenfrüchte,
oder 2000 „ Kartoffeln
und 15 g gebrannten Kaffee,
c) im Kriege:
750 p Brod, 25^ Salz, 375 g Fleisch, 125 g Reis,
oder 500p Zwieback, oder 250 „ Rauchfleisch, oder. 125 „ Graupen, Grütze,
oder 170 „ Speck, oder 250 „ Hülsenfrüchte,
oder 250 „ Mehl,
oder 1500 „ Kartoffeln
und 25 g gebrannten Kaffee.
Meinert rechnet aus diesen Kostsätzen folgenden Nährstoffgehalt heraus:
a) 101 g Eiweiss, 22 g Fett, 489 g Kohlehydrate,
o) 135 5, ;, 27 „ „ 5oo „ „
c) 130 „ „ 81 „ „ 512 „
VoiT verlangte aber für die tägliche Nahrung folgenden Nährstoffgehalt:
a) 120 g Eiweiss, 56 g Fett, 500 g Kohlehydrate,
b) 135 „ „ 80 „ „ 500 „
c) 135 „ „ 100 „ „ 500 „
Das in der wirklichen Kost fehlende Fett müssen die Soldaten durch
aus eigener Tasche zugekaufte Butter, Schmalz etc. ersetzen.
Aber auch die letzte für den Kriegsfall angesetzte Ration ist für an-
strengende Kriegsleistungen noch zu gering bemessen, es muss in solchen
Fällen der Eiweiss- und Fettgehalt der Nahrung bedeutend erhöht werden.
Zu dem Zweck ist man schon seit langer Zeit, und auch jetzt noch damit
beschäftigt, Fleisch- und Fleischgemüse- resp, Fleischmehlcon-
serven herzustellen, da frische Nahrungsmittel in hinreichender Menge im
Felde nicht immer zu haben sind. Ein Product dieser Bemühungen ist z. B.
ausser den gewöhnlichen Conserven der aus Mehl und Fleisch bestehende
Fleischzwieback. Ein älteres, im Kriege 1870/71 viel gebrauchtes Pro-
duct war die Erbswurst, die aus einem Gemenge von Erbsenmehl mit Speck,
Salz, Zwiebeln und Gewürz bestand. Zur Bereitung wurde entweder reiner,
oder mit Muskelfleisch durchwachsener Speck benutzt. Das Erbsenmehl wurde
gewonnen durch Zermahlen reifer, gelber, entschalter und vorher gedörrter
Erbsen, und durch ein besonderes Verfahren am Sauerwerden verhindert.
Von grosser Wichtigkeit ist auch die Ernährung der Gefangenen,
für welche pro Kopf und Tag auch nur der geringe Preis von 28— 36 Pf.
ERNÄHRUNG. 229
verausgabt wird. Die tägliche Kost in den Gefängnissen enthält (nach Flügge) :
in den preussischen Strafanstalten, alter Etat:
110 ^ Eiweiss, 1b g Fett, 677 */ Kohlehydrate,
in den preussischen Strafanstalten, neuer Etat:
100 g Eiweiss, 50 g Fett, 553 g Kohlehydrate,
im Gefäugniss Plötzensee:
117 ^ Eiweiss, 32 ^ Fett, 597 y Kohlehydrate.
Die Nahrungsstoflfe werden verabreicht in der Form von 625 — 650 g
Brod, 30 — 43 g Fleisch; im übrigen Kartoffeln, Leguminosen, abgerahmte
Milch, Häring etc.
VoiT verlangt für arbeitende Gefangene täglich
118 ^ Eiweiss, 56 g Fett und 500 g Kohlehydrate.
Diese Forderung wird durch den neuen Kostsatz in den preussischen
Strafanstalten nahezu erfüllt; jedenfalls bedeutet der neue Kostsatz einen
grossen Fortschritt gegenüber dem alten, bei dem zu wenig Fett und zu viel
Kohlehydrate gereicht wurden. Die Nahrung war einmal dadurch, dass sie
der Hauptsache nach aus Vegetabilien und zwar aus Leguminosen bestand,
zu voluminös, andererseits wurde durch die stets breiige Form der Speisen
bald bei den Gefangenen Ekel vor denselben erregt.
In den letzten Jahren ist aber die gesammte Körperpflege und als
Wesentlichstes derselben die Ernährung eine viel bessere geworden, denn
man sah allmälig ein, dass die ohnehin in Folge ihrer Lebensweise zu Er-
krankungen neigenden Gefangenen gerade einer besonderen Körperpflege,
einer zweckmässigen Ernährung bedürfen. Dieselbe muss derart sein, dass
sie nicht auf die Dauer eine besondere Lebens- oder Gesundheitsbeeinträch-
tigung für den Gefangenen zur Folge hat. Allerdings wird dabei aber wieder
vom wirthschaftlichen Standpunkte und im Interesse des Strafvollzuges die
grösste Billigkeit und Einfachheit gefordert.
So ist man denn, hauptsächlich auf Anregung Voit's, etwa seit Mitte
des vorigen Decenniuras von dem alten Regime abgekommen und hat neue
Kostsätze und auch eine gewisse Aenderung in der Zubereitung der Speisen
eingeführt, indem die Breiform weniger zur Anwendung kommt.
Was die einzelnen Nahrungsmittel betrifft, so sind solche Stoffe, die
leicht in saure Gährung im Darmkanal übergehen und viel Koth erzeugen,
wie Schwarzbrod, Kartoffeln und Rüben unzweckmässig, und thunlichst durch
Reis, Mais und Leguminosen zu ersetzen.
Als eiweisshaltiges Nahrungsmittel ist natürlich das frische Fleisch
am empfehlenswerthesten, aber auch am theuersten. Billige Eiweissträger
sind Magermilch, Magerkäse, Häringe, Fleischmehl, Stockfisch, geräucherte
oder getrocknete Fische, ganz besonders aber frische billige Seefische, wie
Schellfisch und Kabeljau.
Als Fette sind Talg, Speck, eventuell Schmalz und Margarine zu nennen.
Sehr wichtig ist die Zubereitung. Es ist dabei zu beachten, dass
die Speisen durch billige Zuthaten, wie Grünzeug, Salz, Zwiebeln, Pfeffer,
Essig, Majoran, Kümmel, Anis, Lorbeerblätter etc. schmackhaft gemacht
werden; dass ferner eine gewisse Abwechslung zu herrschen hat, indem ein-
mal die einzelnen Stoffe gemischt, einmal getrennt gegeben werden; und dass
schliesslich die Speisen nicht immer die gleiche Form haben, besonders nicht
die breiige, welche sonst das bei Gefangenen so leicht eintretende Abge-
gessensein mit Uebelkeit und Magencatarrhen bewirkt.
Es sind deshalb bei Zubereitung der Speisen Gemüse, Suppe, Fleisch
thunlichst getrennt zu halten.
230 FABRIKHYGIENE.
Bezüglich der Ernährung der Gefangenen in den einzelnen Staaten
ist nach Wernich und Wehmer kurz Folgendes zu sagen:
Den Ernährungsmodus in Preussen haben wir bereits oben besprochen, es ist nur
noch zu erwähnen, dass die Gefangenen sich von ihrem Arbeitsüberverdienst wöchentlich
bis für 60 Pf. Extra-Nahrungs- und Genussmittel beschaffen können; dazugehören
auch Schnupf- und Kau-Tabak und Cigarren.
Ein zweckmässiges, unschuldiges und in einzelnen Strafanstalten auch schon ein-
geführtes billiges Anregungsmittel ist übrigens der Kaffee.
In Bayern ist in den Zuchthäusern die Normalkost für schwer arbeitende Gefan-
gene von folgender Zusammensetzung: 104 ^ Eiweiss, 47^ Fett, 541^ Kohlehydrate. Dabei
werden dreimal wöchentlich je 132 g Fleisch gegeben; ferner sind die Kostformen von 12
auf 46 vermehrt und mehr feste eingeführt.
In Baden erhalten die Insassen der Centralstrafanstalten täglich Fleischbrühe;
Schwerarbeitende und Leute mit langer Strafdauer jeden zweiten, die anderen Gefangenen
jeden dritten Tag 107 g Fleisch. Suppe und Zuspeise wird getrennt gegeben, Breie selten.
England gibt täglich 180 g Fleisch.
Frankreich gibt nur zweimal in der Woche 135 g Fleisch, gestattet aber sehr
reichliche Selbstverpflegung von den hoch bemessenen Arbeitsprämien.
Belgien gibt viermal in der Woche 100 g Fleisch, also durchschnittlich 12^/2 g
animalisches Eiweiss täglich, ausserdem noch ca. 97 g vegetabilisches Eiweiss, 602 g Kohle-
hydrate, aber nur 28'49 Fette.
Oesterreich gewährt im Allgemeinen 108 g Eiweiss, 508 g Fett und o06'5 g
Kohlehydrate.
Russland gibt täglich 92-25 g Eiweiss und 19'73^ Fett. Darunter sind ömal je
204"74 g Fleisch in der Woche einbegriffen.
Norwegen gibt sehr viel Milch, also mit derselben schon viel Eiweiss und Fett.
Die Insassen der Gemeinschaftsgefängnisse erhalten täglich dreimal je 0'5 Liter Voll-
milch, daneben noch täglich 20 g Butter oder Fett, je zweimal wöchentlich 125 g Häring,
95 g Fleisch und einmal 65 g Speck.
Die Insassen der Zellengefängnisse erhalten täglich ^\^ Liter Milch und zweimal
wöchentlich je 100 g Häring, 95 g Fleisch und einmal 65 g Speck.
Schweden gewährt reichlich Fleisch, theils frisch, theils in gesalzenem Zustande.
Die Schweiz gibt ihren Gefangenen einmal in der Woche 200 g Fleisch, einmal
80 g Fisch, einmal 60 ^f Rindsleber, einmal 40 g Käse; dazu Speck, Butter, Oel und Schmalz,
so dass sich dabei das animalische Eiweiss auf täglich ca. 12 g, das vegetabilische auf ca.
75 g stellt, das Fett auf 35 g, die Kohlehydrate auf 430 g. A. DRÄER.
Fabrikhygiene. Die Fabrikhygiene bildet eines jener Capitel der Ge-
sammtgesundheitspflege, über welches weitgehende statistische Erhebungen
vorliegen, welches zu verschiedenen zweckmässigen und unzweckmässigen
Gesetzen, Verordnungen und Einrichtungen Veranlassung gab. Alles zum
Schutze der arbeitenden Bevölkerung, um die es sich bei der Fabrikhygiene
vorzugsweise handelt.
Ich betrachte es nun nicht als meine Aufgabe hier auf all diese Dinge
einzugehen und so zu sagen einen Auszug oder kurzen Abriss der Fabrik-
hygiene zu geben, wie sie in besonderen Schriften über diesen Gegenstand
niedergelegt ist. Ich beschränke mich vielmehr auf das Nothwendigste d. h.
auf diejenigen Dinge, welche in hervorragender Weise geeignet sind, Gesund-
heit und Leben, der bei Gewerben und Industrie beschäftigten Arbeiter und
Arbeiterinnen zu gefährden.
Die Gefahren, auf welche hier aufmerksam gemacht werden soll, trenne
ich in solche, welche die arbeitende Bevölkerung bei ihrer Beschäftigung, und
in solche, welche sie in ihren Wohnungen und in ihrer häuslichen Lebens-
führung vielfach zu treffen pflegen.
Was die ersteren betrifft, so werden hiebei Luft, Licht und Temperatur
Berücksichtigung finden müssen, wie sie oft in den Arbeitsräumen bei den
verschiedenen Betrieben gefunden werden, dann wird auf die Folgen der kör-
perlichen Ueberanstrengung, auf die Art der Beschäftigung einzugehen sein.
In Bezug auf letztere spielen die Wohnung, Ernährung, Erziehung,
Sitten und Gewohnheiten offenbar eine bedeutende Rolle.
FABRIKHYGIENE. 231
Die gewöhnliche atmosphärische Luft, wie wir sie im Freien einathmen,
besteht in runden Zahlen ausgedrückt aus 80°/o Stickstoff und 20'Vo Sauer-
stoff, denen constant etwa 0*04"/o Kohlensäure beigemischt ist. Wird dieses
Verhältnis nach einer oder der anderen Richtung hin bedeutend gestört, so
kann diese Luft an sich schon Gesundheit und Leben gefährden. Beispiele,
wo durch das Zusammenpferchen von Thieren und Menschen in zu engen
Räumen schwere Krankheitserscheinungen und sogar der Tod hervorgerufen
wurden, liegen genug vor. Erklärlich ward dies durch die Erfahrungsthat-
sache und das Experiment, dass einestheils der Sauerstoffgehalt der Luft
nicht bedeutend vermindert und dass anderntheils die durch den Athmungs-
oder andere Processe erzeugte Kolilensäure nicht in zu grossen Mengen und
nicht zu lange in der Luft vorhanden sein darf, ohne dass Nachtheile für die
Gesundheit entstehen.
Im Uebrigen sind alle Gase, rein eingeathmet irrespirabel, d. h. sie ver-
ursachen alsbald Tod und Verderben für alles Organische, das der atmo-
sphärischen Luft bedarf.
Bei Gasinhalationskrankheiten, wie sie gelegentlich oder l)ei einzelnen
Industriezweigen und Gewerben vorkommen, handelt es sich daher immer um
Gase, welche der atmosphärischen Luft beigemengt sind, wie denn über-
haupt alle Beimengungen zur atmosphärischen Luft, seien sie gas- oder
dampfförmiger, oder seien sie fester Xatur einen nachtheiligen Einfluss auf
die Gesundheit ausüben und zuweilen früher oder später den Tod verursachen.
In dem Folgenden mögen nun diejenigen gas- und dampfförmigen, sowie
die Körper Berücksichtigung finden, welche in Staubform der Luft beigemengt,
bei den verschiedenen Industrien und Gewerbebetrieben am häufigsten vor-
kommen.
1. Kohlenoxydgas.
Als Betriebe, bei welchen sich vorzugsweise Kohlenoxydgas der Luft
beimischt, wären zu nennen: die Gasfabrication, die Anlagen, welche zur Her-
stellung des Roheisens nothw^endig sind und die Anlagen zur Coaksbereitung.
Auch bei der Ueberführung des Holzes in Holzkohlen entwickeln sich bedeu-
tende Mengen Kohlenoxydgas und endlich entwickelt sich in Oefen, in denen
bei mangelhaftem Zuge das Brennmaterial nicht vollständig verbrennt, Kohlen-
oxydgas. Zu den Vergiftungen mit Kohlenoxyd sei ausdrücklich bemerkt,
dass die Krankheitserscheinungen, welche dabei entstehen, kaum in einem
Falle auf die Wirkungen dieses Gases zurückzuführen sein dürften, denn bei
den genannten Arbeiten und Processen entwickeln sich neben Kohlenoxyd
immer auch mehr oder weniger Kohlensäuren, Kohlenwasserstoffe und viel-
leicht auch noch andere Gase. Es wäre daher vielleicht besser, wenn man
bei den in den genannten Betrieben vorkommenden Vergiftungen einfach von
Kohlendunstvergiftungen reden wollte.
Die Symptome, welche bei dieser Art von Vergiftungen vorkommen,
näher zu beschreiben, ist schwer, weil sie individuell oft sehr verschieden sind
und weil nicht wenig auch von der Temperatur und Feuchtigkeit der betref-
fenden Luft dabei abhängt. Im Allgemeinen kann nur so viel gesagt werden,
dass es vorzugsweise Störungen des centralen Nervensystems mit ihren Folgen
sind, die besonders in Erscheinung treten: Kopfweh, Schwindel, Flimmern
vor den Augen, Bew^usstlosigkeit und wenn die Einwirkung zu lange dauert,
der Tod der betroffenen Individuen.
Was die Vorkehrungen für die Prophylaxe betrifft, so dürften dieselben,
um Wiederholungen zu vermeiden, einen passenden Platz weiter unten finden.
2. Kohlensäure.
Die Kohlensäure ist bekanntlich ein Gas, welches durch Athmungs-,
Gährungs- and Verbrennungsprocesse nicht selten in beträchtlichen Mengen
232 FABEIKHYGIENE.
erzeugt wird. Gelegenheit zur Vergiftung mit gedachtem Gase ergibt sich
daher überall, wo diese Processe vor sich gehen und wären in erster Reihe
die Räume zu erwähnen, wo sich viele Mensche, Thiere oder Pflanzen be-
finden.
Um lediglich bei Gewerbe und Industrie zu bleiben sei hier erwähnt,
dass Locale, welche für die zu fassende Menge von Menschen zu klein oder
zu schlecht ventilirt sind, durch die Anhäufung der Exspirationskohlensäure
gesundheitsschädlich wirken können. Dass die auf diese Weise entstehende
und sich ansammelnde Kohlensäure Schädigungen der schwersten Art hervor-
rufen kann, beweist die Erfahrung, dass auf voUgepropften Sclavenschiffen,
die einer Betriebsart der schlimmsten Sorte dienen, schon zahlreiche Todes-
fälle durch Kohlensäurevergiftung vorgekommen sind. Experimentell lässt sich
dies, wie bekannt, mit Thieren nachweisen. Hier wären, wenn auch nicht zu
den Betriebsarten gereclmet, auch noch Kasernen, Gefängnisse, Schulen u. s. w.
zu erwähnen. Ferner seien erwähnt die Erstickungen in Pflanzenhäusern,
wobei unter anderen (Kohlenoxyd) die von den Pflanzen exhalirte Kohlensäure
offenbar eine Hauptrolle spielt.
Von den Gährungsprocessen kommen hier in Betracht die Gährung von
Pflanzensäften, sowie von pflanzlichen Stoffen überhaupt. Es sind daher vor-
zugsweise Leute, die mit der Wein-, Bier- und Presshefenbereitung beschäf-
tigt sind, deren Gesundheit durch die übermässige Ansammlung von Kohlen-
säure gefährdet ist.
Unter besonders ungünstigen Verhältnissen können auch Todtengräber,
Brunnenmacher, Cloaken- und Grubenarbeiter Gefahr laufen, durch Kohlen-
säure vergiftet zu werden.
Im Uebrigen scheinen viel grössere Mengen Kohlensäure ohne merkliche
Störungen des Allgemeinbefindens ertragen zu werden, als man gewöhnlich
anzunehmen pflegt. Ich wenigstens habe mich mit zwei Knaben von 10 und
12 Jahren versuchsweise mehrere Tage hinter einander jeweils 8 Stunden
täglich in einem Zimmer aufgehalten, wo der Kohlensäuregehalt der Luft
durch künstliche Entwickelung auf 5,10 und 12% gehalten wurde, ohne dass
wir auch nur im Geringsten belästigt worden wären.
Die Symptome, welche bei Kohlensäurevergiftungen auftreten, werden
sehr verschieden geschildert. Kopfweh, Schwindel, Ohrensausen, Erbrechen
werden als solche genannt. Wahrscheinlich hängt auch hierbei sehr viel von
der Individualität, von der Menge, von der Zeit und vielleicht auch noch von
anderen Umständen ab, unter denen die Kohlensäure mit der Luft eingeathmet
wird. Bei allzugrossen Mengen oder bei der Einathmung von reiner Kohlen-
säure kann natürlich, wie bei allen irrespirablen Gasen auch Betäubung und
Tod sofort eintreten.
3. Schwefelwasserstoff.
Vergiftungen durch Schwefelwasserstoffgas kommen im grossen Ganzen
bei Gewerben und Fabrikationsbetrieb selten vor. Es sind fast ausschliesslich
die Cloakenreiniger und Canalarbeiter, welche den schädlichen Wirkungen
dieses Gases ausgesetzt sind. Aber auch hier scheint die Individualität eine
grosse Rolle zu spielen. Ich habe schon Leute kennen lernen, die nach kur-
zem Aufenthalte in einem Räume, wo Schwefelwasserstoff entwickelt wurde,
Kopfweh und Uebelkeit empfanden und anderntheils habe ich schon
Patienten behandelt, welche aus eigenem Antriebe Schwefelwasserstoffgas, wie
es dem bekannten Apparate entströmt, direct und in grossen Mengen ein-
athmeten, weil ihnen dasselbe als gutes Mittel gegen ihren chronischen
Katarrh empfohlen worden war, Vergiftungserscheinungen haben dieselben
aber auch nach mehrtägigem Gebrauche dieser Cur nicht gezeigt. Angesichts
einer grossen Zahl von Abortreinigern und Canalarbeitern, die ich lange Zeit
FABRIKHYGIENE. 233
beobachtete, will es mir scheinen, dass die bekannten Vergiftungserscheinun-
gen nur eintreten, wenn Schwefelwasserstoff rein und längere Zeit in grossen
Mengen eingeathmet wird, d. h. in Mengen, wie sie die gewöhnlichen Ver-
hältnisse nicht bieten.
4. Schwefelkohlenstoff.
Schwefelkohlenstoff ist ein Gas, das nur in Gummifabriken Verwendung
findet und eingeathmet wird. Als Vergiftungserscheinungen werden Kopfweh,
Ameisenkriechen, Gliederschmerzen, Hautjucken und ein lästiger Husten ohne
charakteristische Sputa angegeben. Ausserdem sollen psychische Exaltations-
zustände und erhöhter Geschlechtstrieb entstehen, die bald einem gewissen
Stumpfsinne, einer starken Abspannung, Muthlosigkeit und Traurigkeit weichen,
doch sollen diese Zustände nicht bei allen Arbeitern in gleichmässiger Weise
auftreten.
5. Chlor-, Brom-, Jodgas oder Dämpfe.
Das Gemeinsame dieser bei verschiedenen Betrieben sich entwickelnden
Gase und Dämpfe liegt darin, dass sie die Schleimhäute reizen. Sie ver-
ursachen daher Husten und Schnupfen. Am stärksten mrkt das Chlor. Es
gibt Individuen, die schon anfangen zu husten, wenn sie in eine Atmospäre
kommen, wo Chlor zur Desinfection entwickelt wird, wie dies in öffentlichen
Aborten zur Zeit drohender Epidemien zu geschehen pflegt. In grösseren
Mengen eingeathmet, kann Chlor sogar Blutungen der Schleimhäute ver-
ursachen. Jod wirkt weniger intensiv. Längere Zeit eingeathmet oder dem
Körper auf andere Weise zugeführt, erzeugt es aber den sogenannten „Jod-
schnupfen" und schliesslich einen kachektischen Zustand, den man „Jodismus''
nennt. Dass bei längerer Incorporirung von Jod Drüsen und Geschwülste
atrophiren, ist bekannt und hat ihm dies seinen Platz in unserem Arzneischatze
gesichert. Brom wärkt nur unter ganz besonderen Umständen schädlich, so
dass Bromvergiftungen unter gewöhnlichen Verhältnissen sehr selten vorkom-
men dürften.
6. Arsenwasserstoff.
Das Arsenwasserstoffgas ist offenbar eines der giftigsten Gase. Nach
dem Experiment soll schon V^Vo dieses Gases, der Luft beigemengt, im Stande
sein, Hunde, Katzen, Kaninchen und andere kleine Thiere zu tödten.
Beim Industriebetriebe dürften jedoch Vergiftungen durch Arsen wasser-
stofi'e höchst selten vorkommen. Vorkommen mögen sie aber immerhin. Ich
selbst wenigstens hatte seinerzeit Gelegenheit, zwei Fälle von Arsenvergiftungen
zu beobachten, die sich auf die Entstehung und Einathmung von Arsen-
wasserstoff zurückführen Hessen. Es handelte sich dabei um zwei mit Metall-
modeln und arsenhaltigen Anilinfarben arbeitende Handdrucker, von denen der
eine an Arsenkachexie starb, während der andere, noch w^eniger lang beschäf-
tigte, sich nach Einstellung der Arbeit nach und nach wieder erholte. Der
Urin beziehungsweise die Eingeweide dieser beiden Männer ergaben, mit dem
MARSH'schen Apparate untersucht, deutliche Arsenspiegel.
7. Phosphorwasserstoff.
Dass auch Phosphorwasserstoff ein sehr giftiges Gas ist, kann keinem
Zweifel unterliegen. Ob bei Gewerben und Industrie Gelegenheit zu Ver-
giftungen mit diesem Gase gegeben ist, ist mir wenigstens nicht bekannnt.
Bei den Fortschritten, welche die Industrie täglich macht, darf übrigens
schon darauf aufmerksam gemacht werden, dass das Einathmen von Phosphor-
wasserstoffgas sehr schlimme Folgen haben kann. —
Von den Dämpfen und Dünsten, die beim Betriebe von Gewerben und
Industrie schädlich auf die Arbeiter einwirken können, wären in erster Reihe
234 FABRIKHTGIENE.
ZU erwähnen die Dämpfe der verschiedenen Säuren, wie Salzsäure, Schwefel-
säure, schwefelige Säure, Salpetersäure, Königswasser u. s. w.; ferner die
Dämpfe von Chlor, Brom, Jod. Auch der häufig und in grossen Mengen ein-
geathmete Dunst von Oel, Terpentin und ähnlichen Dingen kann gewiss einen
schädlichen Einfluss auf die Gesundheit ausüben. Schon der Reiz, den all
diese Dinge auf die Respirationsorgane ausüben, lässt auf ihre Schädlichkeit
schliessen.
Dass all die bisher genannten Körper in festem Zustande oder mit
Flüssigkeiten gemischt je nach ihrer Menge als scharfe Gifte wirken und
dieselben Krankheitserscheinungen hervorrufen oder directe Gewebsverletzun-
gen (Aetzung, Verbrennung) bewirken können, ist zu bekannt und kommen
dieselben zu wenig in Folge gewerblicher und industrieller Betriebe vor, als
dass dieselben hier besonders aufgeführt werden müssten.
Dagegen muss hier der Vergiftungen besonders gedacht werden, von
denen nicht genügend bekannt ist, wie sie entstehen oder von denen man
annehmen kann, dass sie theils durch die Einathmung von Dämpfen, theils
durch die Einverleibung von festen Partikeln oder durch beides zugleich ent-
stehen. Dahin sind unter andern vorzugsweise zu rechnen die Vergiftungen
durch Blei, Zink, Quecksilber, Arsen und Phosphor.
Bleivergiftungen kommen in allen Betrieben vor, in denen mit Blei
und dessen Präparaten hantirt wird. Doch kann im grossen Ganzen gesagt
werden, dass diejenigen Menschen, welche mit der Gewinnung und Herstellung
metallischen Bleies beschäftigt sind, weniger an Bleivergiftung erkranken,
als diejenigen, welche das Blei zu technischen Zwecken verarbeiten. So sind
es namentlich die Schriftgiesser, Schriftsetzer und Anstreicher, bei welchen
die Bleivergiftung (Bleikolik, Bleizittern, Bleilähmung u. s. w.) in ihren ver-
schiedenen Formen auftritt.
lieber die Art und Weise, wie und warum diese verschiedenen Erschei-
nungen der Bleivergiftung zu Stande kommen, scheinen die Gelehrten noch
lange nicht einig zu sein. Sicher ist nur, dass jeder Gefahr läuft mit der
Zeit irgend welche Erscheinungen von Bleivergiftung an sich zu erfahren, bei
dem Blei durch den Respirations- oder Verdauungsapparat oder durch die
Haut in den Körper gelangt, und darnach sind dann auch die verschiedenen
prophylaktischen Massnahmen zu treffen.
Quecksilbervergiftungen. Aehnlich, wie bei der Bleivergiftung, verhält
es sich mit den Vergiftungen durch Quecksilber. Auch hier sind es weniger
diejenigen, welche mit der Gewinnung der Erze beschäftigt sind, als die-
jenigen, welche mit den Dünsten des Quecksilbers in längere Berührung
kommen, die solchen Vergiftungen ausgesetzt sind. Es sind daher vorzugs-
weise zu nennen: die Hüttenarbeiter, die Arbeiter in Spiegelfabriken, die
Hersteller von physikalischen Instrumenten, bei denen Quecksilber benützt
wird, und endlich die Arbeiter einzelner Betriebszweige, bei denen Quecksilber-
salze verwendet werden, wie beim sogenannten Kyanisiren des Holzes und
beim Präpariren von Haaren zur Herstellung von Hüten.
Der Vergiftungserscheinungen, wie sie nicht selten beim medikamen-
tösen Gebrauch von Quecksilberpräparaten entstehen, sei hier nur insoferne
gedacht, als sie den Beweis von der Giftigkeit des Quecksilbers und seiner
Salze liefern. Vom hygienischen Standpunkte aus, ist die Vorsicht beim
Hantiren mit Quecksilber und seinen Präparaten um so mehr zu empfehlen,
als das einmal in den Körper gelangte Quecksilber sehr schwer wieder aus
demselben zu bringen ist und durch seinen Verbleib eine Menge von oft
schweren und langwierigen Krankheitserscheinungen hervorgerufen werden,
auf die jedoch hier nicht näher eingegangen werden kann.
FABRIKHYGIENE. 235
Aehnliche Krankheitserscheinungen, wie durch Blei und Quecksilber
können auch durch Silber (Argyrismus), durch Kupfer (Cuprismus), Antimon
(Stibismus, Antimonialismus) und durch Zink hervorgerufen werden.
Arsenvergiftungen. Wenn hier noch einmal von Arsenvergiftung die
Rede ist, so geschieht dies nur, um auf den das Arsen betreffenden gewerb-
lichen Betrieb im Ganzen einzugehen. Im Uebrigen mag es als Ergänzung zu
dem bereits oben Gesagten betrachtet werden.
Bei der Gewinnung und Verarbeitung des metallischen Arsens erkranken,
von juckenden Ekzemen abgesehen, wenige Menschen. Auch der Umgang mit
trockenen Arsensalzen und arsenhaltigen Farben scheint keinen schädigenden
Einfluss auf die Arbeiter auszuüben. So habe ich beobachten können, dass
von all den Arbeitern, welche mit den oben erwähnten, trockenen arsenhaltigen
Arsenfarben beschäftigt waren, auch nicht einer erkrankte, trotzdem Kleider,
Haut, Bart und Kopfhaare immer die betreffende intensive Färbung hatten.
Ganz gleich scheint es sich bei dem bekannten, vielverwendeten Schwein-
furter Grün zu verhalten. Auch bei der Hantirung mit dieser Farbe erkran-
ken verhältnismässig wenige Menschen an Arsenvergiftung. Wenn nun aber
trotzdem zahlreiche Fälle von Vergiftungen durch Schweinfurter Grün und
durch damit gefärbte Stoffe vorkommen, so kann es nur in der Umsetzung
und Verdunstung des Arsens und seiner zu technischen Zwecken verwen-
deten Salzen liegen, die einzig wirksame Prophylaxe der gedachten Farbe
gegenüber wäre daher das directe Verbot derselben und der mit ihr gefärbten
Stoffe, es müsste denn nur das Arsen bei ihrer Bereitung überflüssig werden,
wie dies bei den Anilinfarben längst der Fall ist.
Phosphorvergiftiing. Vergiftungen durch Phosphor mit ihren schweren
Folgen (Nekrose von Knochen), kommen bei der Fabrikation von Phosphor-
zündhölzern öfter, vielleicht ausschliesslich vor. Ob es der Phosphor selbst
oder ob es seine Oxydationsproducte sind, welche diese Krankheit hervorrufen,
ist noch nicht sicher festgestellt. Das letztere erscheint jedoch wahrschein-
licher als das erster e.
Im Uebrigen wird die Herstellung von Phosphorzündhölzern durch
anderweitige Herstellung " von Zündhölzern immer mehr in den Hintergrund
gedrängt und werden damit auch die Vergiftungen durch Phosphor in der
Industrie an Zahl abnehmen, vielleicht gar nicht mehr vorkommen.
Des Weiteren müssen hier besprochen werden diejenigen Dinge, welche
in Form von Staub die Luft verschlechtern und so Veranlassung, namentlich
zu Erkrankungen der Respirationsorgane geben.
Der Staub ist je nach seiner Herkunft verschiedener Natur. Es lässt
sich derselbe in anorganischen und organischen eintheilen. Bei ersterem
unterscheidet man mineralischen und metallischen, bei letzterem vegetabilischen
und animalischen Staub.
Rein wird der Staub nur in einzelnen Fällen und bei besonderen Gele-
genheiten eingeathmet. Meist erweist sich der eingeathmete Staub als ein
Gemisch von verschiedenen Staubsorten. Der leichteren Uebersicht halber mag
aber hier an der gedachten Eintheilung festgehalten und mögen auch die
Schädigungen, welche Staubinhalationen verursachen, darnach aufgeführt werden.
1. Der Mineral- und Metallstaub.
Die gefährlichsten Staubarten sind offenbar der Mineral- und Metall-
staub, wie sie sich bei der feineren Bearbeitung von Steinen und Metallen
entwickeln. Es sind daher besonders die Steinhauer, Feilenhauer, Metall-
schleifer und ähnlich beschäftigte Menschen, die sich durch diese Beschäftigung
236 FABRIKHYGIENE.
die verschiedensten Erkrankungen der Athmungsorgane, vom einfachsten Ca-
tarrh bis zur tödtlichen Lungenschwindsucht, zuziehen.
Das Gefährliche der Steinhauerarbeit und das häufige Dahinsterben der
damit beschäftigten Arbeiter an Lungenschwindsucht ist hinlänglich bekannt
und statistisch nachgewiesen.
2. Vegetabilischer Staub.
Weniger gefährlich als der Mineral- und Metallstaub ist der vegetabi-
lische Staub, wenngleich, laut statistischen Berichten, die Zahl der durch
diese Staubsorte Erkrankten höher angegeben wird, als die der durch Mineral-
und Metallstaub Erkrankten. Die durch vegetabilischen Staub hervorgerufenen
Krankheiten, wie wir sie bei Dreschern, Müllern, Bäckern, Kohlen- und Russ-
arbeitern, Spinnern, Webern, Cigarrenm achern u. s. w. antrefien, sind im grossen
Ganzen doch seltener und leichterer Natur, trotzdem der Staub oft in un-
glaublichen Mengen eingeathmet wird. Das Sputum der Drescher z. B. bildet
oft einen förmlichen Teig von vegetabilischem und mineralischem, von der
Ackererde herrührendem Staub, der nicht selten durch die Brandpilze des
Getreides ganz schwarz gefärbt ist. Nichtsdestoweniger habe ich von hun-
derten von Dreschern, die ich im Verlaufe der Zeit unter Augen hielt, nicht
einen einzigen gefunden, dessen chronischen Catarrh, Emphysem, Lungen-
entzündung oder Schwindsucht ich anstandslos hätte auf seine Beschäftigung
zurückführen können. Die chronischen Catarrhe und das Emphysem der
Müller und Bäcker dagegen lässt sich viel leichter auf den Mehlstaub zurück-
führen. Allerdings fällt hier in Betracht, dass diese Leute dem gedachten
Staube viel länger, so zu sagen Jahre lang ausgesetzt sind, bis die erwähnten
Krankheiten sich ausbilden, während das Dreschen mit seinem gemischten
Staube verhältnismässig nur kurze Zeit dauert- Ganz ähnlich verhält es sich
auch mit den Spinnern, Webern und Cigarrenarbeitern.
3. Animalischer Staub.
Unter dem Einflüsse animalischen Staubes stehen verhältnismässig die
wenigsten Arbeiter und dürfte derselbe auch der am wenigsten massenhaft
sich entwickelnde und der am wenigsten schädliche sein, es müssten denn
nur — und diese Möglichkeit liegt nahe — specifisch wirkende, pathogene
Pilze mit demselben eingeathmen werden. Bürstenbinder, Kürschner, Sattler,
Tuchscheerer, Schuhmacher, Hut- und Knopfmacher sind vorzugsweise durch
animalischen Staub bedroht.
Was nun die Prophylaxe gegen die der Luft beigemischten gas-, dampf-
und staubförmigen Körper betrifft, so wird das Hauptgewicht dabei auf eine
sorgfältige Lüftung der Arbeitsräume, auf möglichste Beschränkung der Ar-
beitszeit und auf die Verwendung von sogenannten Respiratoren zu legen sein,
Dinge, die man leider nur zu oft vernachlässigt findet. Namentlich bequemen
sich die Leute sehr schwer Respiratoren zu tragen, die sich gerade bei den
gefährlichsten Beschäftigungen sicherlich bewähren würden. Ich habe aber
in zahlreichen Steinbrüchen z. B. bei hunderten dort beschäftigten Steinhauern
auch nie einen einzigen Respirator gesehen,
Licht. Dass das Licht einen mächtigen Einfluss auf alles organische
Leben ausübt, sehen wir ganz deutlich bei Pflanzen, die im Dunkeln gehalten
werden. Aber auch Menschen, die lange Zeit des Tageslichtes entbehren,
leiden unter diesem Mangel. Sie sehen nicht nur blass aus, sondern es leidet
offenbar auch der ganze Haushalt des Körpers darunter Noth.
Dass unter dem Einflüsse von zu viel und zu wenig Licht das Sehver-
mögen leidet, sei hier nur gelegentlich erwähnt.
Temperatur. Der Einfluss der Temperatur, wie sie bei industriellen Be-
trieben vorkommt, ist individuell sehr verschieden. Es gibt Menschen, welche
FABRIKHYGIENE. 237
hohe und niedere Temperaturen und bedeutende Schwankungen derselben ohne
jeglichen Nachtheil ertragen, während andere sehr emptindlich sind, weich
und widerstandslos werden und sich alle möglichen Krankheiten dadurch
zuziehen.
Feuchtigkeit. Der längere Aufenthalt in feuchter Luft oder bei Be-
schäftigungen, w^o die Kleider durchnässt werden, ist geeignet, die Gesundheit
in verschiedener Weise zu schädigen, indem sie die Hautthätigkeit und die
Lungenausdünstung alteriren und so auch den Betrieb in inneren Organen
stören oder die Haut in übermässiger Weise reizen.
Dass das Beziehen von feuchten Wohnungen rheumatische Erkrankungen
verursacht, ist volksthümlich bekannt. Ich habe aber auch viele Menschen
beobachtet, die sich, meines Erachtens wenigstens, ihre Brightische Nieren-
krankheit durch ihre Beschäftigung in feuchter Luft zugezogen haben. Das
„Wie" rauss ich dahingestellt sein lassen. Es muss aber auffallen, wenn man
in verhältnismässig kurzer Zeit mehrere Menschen aus demselben Betriebe
an Bright'scher Nierenkrankheit zur Behandlung bekommt und bei genauerer
Nachforschung die Entdeckung macht, dass dieser Betrieb ein feuchter ist.
Auch hartnäckige Ekzeme habe ich bei Arbeitern entstehen sehen, deren
Kleider bei der Beschäftigung häufig oder regelmässig durchfeuchtet wurden,
Ekzeme, bei denen man, wenn sie lange Zeit schon bestanden und man ihre
Heilung versuchte, deutlich den Antagonismus beobachten konnte, der zwischen
äusserer Haut und inneren Organen existirt. Es mögen hier nur zwei Fälle
bei Arbeitern erwähnt sein. Bei dem einen entwickelte sich sofort ein be-
denklicher Lungencatarrh, sobald man daran ging, sein am Unter- und Ober-
schenkel befindliches, durch Reiben der feuchten Kleider entstandenes Ekzem
zum Verschwinden zu bringen. Der Mann starb später an Schwindsucht, war
aber erblich in dieser Beziehung belastet. Der andere bekam regelmässig
Diarrhoe, auch wenn das Ekzem durch Aussetzen der Arbeit von selbst anfing
zu heilen. Später war der Mann anderweitig beschäftigt und verlor auch nach
und nach seinen Darmcatarrh.
Nahrung. Eine der wichtigsten Rollen spielt, wie bei allen Menschen,
so auch bei der arbeitenden Bevölkerung die Ernährung. Bei den Fabrik-
arbeitern tritt nun nicht selten der Fall ein, dass ihre Ernährung eine zu
mangelhafte oder unzweckmässige oder schlecht zubereitete ist.
Man muss gesehen und versucht haben, was die Leute oft essen und
was sie trinken und man muss gesehen haben, wie sie essen und trinken, um
zu verstehen, dass eine solche Ernährung dem Gedeihen und der Erhaltung
eines Organismus nicht förderlich sein kann. Es würde zu weit führen, wenn
ich hier auf all die Einzelnheiten, wie ich sie viele Jahre beobachtet habe,
eingehen wollte. Es mag daher genügen, wenn ich im Allgemeinen anführe,
dass die Nahrung vieler, sehr vieler Arbeiter in Bezug auf ihren Nährwerth
zu geringe und dazu meist auch noch eine schlecht zubereitete ist, wie das
in der Natur der Verhältnisse liegt. Die Leute sind arm, denn wer sonst
sein Auskommen findet, geht nicht in eine Fabrik. Zudem sind sie meist
auch schlecht unterrichtet. Man trifft nicht selten Hausfrauen bei der Fabrik-
bevöikerung, die in häuslichen Dingen ausserordentlich schlecht bewandert
sind. Wo und wie sollten sie sich auch die hierin nöthigen Kenntnisse er-
worben haben, wenn sie selbst von frühester Jugend an in die Fabrik gingen
und kaum Zeit fanden, sich auch nur einen Strumpf zu stricken oder eine
Schürze zu flicken !
So kommt es, dass die zur Verfügung stehenden geringen Nahrungs-
mittel oft auch noch recht schlecht zubereitet sind. Ich habe den Kaffee,
den sie mit in die Fabrik nehmen und im Condensationswasser warm zu
halten suchen, oft versucht, ich habe das Gemüse, das sie sich bereiten, ge-
238 FABRIKHYGIENE.
kostet — von Fleisch oder sonstiger besserer Nahrung ist oft die ganze
Woche kaum die Kede — und ich habe das meist schlecht gefunden, obwohl
ich in dieser Beziehung gar nicht verwöhnt bin. Das allein genügte schon,
um Leute, die nicht selten auch noch in verdorbener Luft leben, blass und
schlecht genährt aussehen zu lassen. Das ist aber das Schlimmste noch
nicht. In manchen Betrieben ist die Unsitte des Bier-, Wein- und Schnaps-
trinkens eingerissen. Viele Arbeiter gehen einfach nüchtern zur Arbeit und
es benützen dann nicht etwa nur Männer, sondern auch Frauen und halb-
wüchsige Knaben und Mädchen die sogenannte Frühstückspause, um sich an
geistigen Getränken zu laben und zu stärken, wie sie meinen. Es ist das
eine Unsitte, die sich schwer rächt.
Ueber die Kleidung ist, soferne sie den nöthigen Schutz gew^ährt, wenig
zu sagen. Die Reinlichkeit wäre das einzige, was oft viel zu wünschen
übrig lässt.
Ueber die Wohnungen der Fabrikarbeiter dagegen Hessen sich Bücher
schreiben. Meist sind sie zu klein, dunkel, oft feucht, mit den schlechtesten
Lagerstätten, die man sich denken kann, ausgerüstet und zu alledem oft
noch recht unreinlich. Natürlich, die Leute haben die Mittel nicht, um sich
bessere Wohnungen zu miethen und sie begnügen sich oft, so zu sagen, mit
jedem Loch, um ihr ärmliches Mobiliar unterzubringen und wenigstens vor
den Unbilden des Wetters geschützt zu sein. In einer solchen Wohnung wird
dann noch gekocht, gewaschen, Holz getrocknet und noch so manches ge-
trieben, wozu andere Menschen andere Räumlichkeiten haben.
Wen sein Beruf zu jeder Stunde des Tages und der Nacht in solche
Räumlichkeiten führt, dem wird es klar, warum so viele Kinder in denselben
sterben und w^arum die Ueberlebenden schlecht aussehen, so oft krank sind
und überhaupt nicht gedeihen wollen.
Ich habe die Luft in vielen derartigen Wohnungen untersucht und ab-
gesehen von dem penetranten und eckelhaften Gerüche derselben nicht selten
2 und mehr Procente Kohlensäure darin gefunden. Nicht verschwiegen darf
im Uebrigen werden, dass in neuerer Zeit durch die Einrichtung von Arbeiter-
wohnungen sich in dieser Beziehung vieles zum Bessern gestaltet hat.
Was endlich die Erziehung im weitesten Sinne, die Sitten und Ge-
wohnheiten der Fabrikbevölkerung betrifft, so dürften dieselben, meines Er-
achtens wenigstens, am meisten zu der allmäligen Degeneration derselben bei-
tragen. Es ist das auch kaum anders möglich. Kinder, die oft schon von decre-
piden Eltern erzeugt sind, im Elende geboren, schlecht genährt und wegen
Mangel an Zeit schlecht gepflegt und erzogen werden, kann man um dessen
Willen schon kaum eine gute Zukunft prophezeien. Sie geniessen zwar später
die Wohlthaten der Schule, vielfach werden sie aber schon während des schul-
pflichtigen Alters zu leichteren Arbeiten benützt und kommen so in die Ge-
sellschaft und den Verkehr mit erwachsenen Personen, die in ihren Reden
und Handeln oft nicht besonders vorsichtig sind. So hören und sehen sie oft
Dinge, die für Kinder am allerwenigsten passen.
Sobald sie der Schule entwachsen sind, rangiren sie als Arbeiter und
Arbeiterinen und verkehren ohne Unterschied des Alters. Männer und Frauen,
junge Burschen und Mädchen gehen mit einander zur und von der Arbeit,
nicht selten des Nachts und grosse Strecken Weges. Dass all dies bei jungen
Leuten mit mangelhafter oder ganz ohne Erziehung die Sittlichkeit nicht
fördert, ist nicht schwer einzusehen. Näher lässt sich das schwer schildern.
Thatsache ist aber, dass halbwüchsige Bürschchen und Mädchen viel zu früh-^
zeitig in den geschlechtlichen Verkehr mit all seinen Nachtheilen treten, zu frühe
heirathen und Kinder erzeugen, ehe sie ausgewachsen sind, und den nöthigen
Verstand besitzen, der zur Gründung einer Familie gehört. Die Folgen davon
lassen sich statistisch nachweisen und es ist gar nicht zum Verwundern, wenn
FARBEN. 239
die Kecrutirungscommissionen in Fabrikbezirken die erwartete Anzahl taug-
licher Mannschaften selten finden. Ich habe es mir angelegen sein lassen,
nachzuforschen, was aus Leuten wird, die vom Lande weg in Fabriken ver-
ziehen und so konnte ich feststellen, dass von 6 Familien, die im Jahre 1844
etwa 40 Köpfe stark in eine Spinnerei und Weberei verzogen, heute — von
einigen Personen, die frühzeitig nach Amerika auswanderten abgesehen —
nur noch 8 Nachkommen übrig sind und diese sind zum Theil nicht gesund.
Es liegt also hiemit ein Beispiel vor, dass ursprünglich zahlreiche Familien
innerhalb 50 — 60 Jahren unter dem Einflüsse der bisher geschilderten Dinge
aussterben können. Es kommt dies zwar sonst auch oft in kürzerer Zeit bei
manchen Familien vor, aber dass der Hygiene in Bezug auf Gewerbe und
Industrie ein grosses und wichtiges Wirkungsfeld offen steht, ist nicht zu
bezweifeln. Zu bezweifeln ist aber auch nicht, dass das, was bis jetzt durch
Verordnungen und Gesetze zum Schutze der arbeitenden Bevölkerung geschehen
ist, bei weitem nicht ausreicht, um die Züchtung eines Proletariats zu ver-
hindern, das thatsächlich der übrigen Gesellschaft über den Kopf zu wachsen
droht. Und dieses drohende Gespenst dürfte allem Anscheine nach so lange
nicht verschwinden, als nicht der einzelne Familienvater im Stande ist, den
Unterhalt für seine Familie zu verdienen und seinen Kindern eine anständige
Erziehung zu geben. So lange Vater und Mutter von frühe morgens bis spät
abends arbeiten müssen, um sich und ihren Kindern einen kärglichen Lebens-
unterhalt zu verschaffen und dabei doch riskiren, dass ihre Söhne und Töchter
physisch und moralisch verkommen, werden Gewerbe und Industrie das nicht
leisten, was sie leisten sollten und vielleicht auch könnten. Das Hauptsäch-
lichste der Prophylaxe auf gewerblichem und industriellem Gebiete wird also
weniger in der Reinhaltung der Luft, in der Errichtung von Arbeiterwohnungen,
Krankencassen, Consumvereinen, Volksküchen und wie die anderen Surrogate
alle heissen, sondern es wird mehr in Dingen zu suchen sein, die auf die
Kräftigung des jugendlichen Körpers, auf die Veredlung des Charakters hin-
wirken, denn Arrauth und Elend verkümmern Leib und Seele und machen
den Menschen schliesslich zu allen Schandthaten und Lastern fähig.
A. EIPFEL.
Farben. Farben werden in ausgedehntestem Maasse angewendet zur
Auskleidung und Ausschmückung unserer Wohnräume, zur Färbung
unserer mannigfachen Bekleidungsstoffe, zur Herstellung von Kunst- und
kunstgewerblichen Gegenständen, zum Verschönern und Hervorheben zahl-
reicher Nahrungs- und Genussmittel. An der Benützung der Farbstoffe hat
daher die Wohnungs-, Bekleidungs-, wie Nahrungsmittel- Hygiene ein
lebhaftes Interesse. Indem nicht selten schädliche und giftige Farben zur
Verblendung kommen, hat die gerichtliche Medicin Anlass, mit denselben
sich zu beschäftigen, und sind gesetzliche Bestimmungen über Zulässigkeit
und Unzulässigkeit gewisser Farben für bestimmte Zwecke erlassen worden.
Man hat die Farbstoffe eingetheilt einmal nach ihrer Farbe, andrerseits
nach ihrer Verwendung (als Baumwollen-, Leder-, Papier-Farbstoffe etc.),
oder auch nach ihrem Vorkommen, als natürliche oder künstlich hergestellte.
Da aber die grossartigen Fortschritte der neueren Chemie gelehrt haben,
einerseits die wichtigsten natürlichen Farbstoffe, wie z. B. Indigo und Alizarin,
künstlich darzustellen, andrerseits eine Unzahl neuer prächtiger Farbstoffe
synthetisch zu bereiten, von denen viele durch geringe Variationen in der
Darstellung ganz verschiedene Farben ergeben, so erscheint es allein zweck-
mässig, eine Eintheilung nach chemischen Gesichtspunkten vorzunehmen.
Es sind zunächst zu unterscheiden anorganische und organische
Farbstoffe.
240 FARBEN.
I. Anorganische Farbstoffe.
1. Kalk färben: Schlemmkreide (Marmorweiss), billige Wasser-
Anstrichfarbe; ungiftig.
2. Barytfarben: Gefälltes Baryumsulfat (Permanentweiss); Wasser-
Anstrichfarbe, ungiftig.
3. Chromfarben, sämmtlich giftig: Chromoxyd (Chromgrün); neutrales
Bleichromat (Chromgelb); basisches Bleichromat (Chromzinnober); Gemisch
von basischem und neutralem Bleichromat (Chromorange). — Färbung von
fabrikmässig dargestellten Nudeln mit Chromgelb führte in Amerika zu einer
Massenvergiftung. — Zwei Kinder, die einige, an einen sogenannten Bienen-
korb befestigte, mit Chromgelb gefärbte Birnen gegessen hatten, gingen an
Chromblei-Vergiftung zu Grunde.
Weyl fand Bleichromat in Garnen; Lehmann ebenfalls in Nähgarn,
Strickgarn, Baumwollzeug, ferner im gelben Wagenlack, im gelben Lack für
Milcheimer, in gelb bemalten Federhaltern, Spielsachen u. s. w. Streng zu
verurtheilen ist die Verwendung von Chromgelb zur Färbung künstlicher
Butter, oder an Stelle von Eigelb.
4. Arsen färben, sämmtlich giftig: Schweinfurter Grün (Doppelsatz von
essigsaurem und arsenigsaurem Kupfer.) Zum Färben von Papier, Tapeten,
Teppichen, Kleiderstoffen benützt. — Scheele's Grün (arsenigsaures Kupfer).
5. Antimonfarben, giftig: Antimonsulfid (Goldschwefel), zum Vul-
canisiren des Kautschuk gebraucht.
6. Zinnfarben, giftig: Schwefelzinn (Musivgold), zur unechten Ver-
goldung von Puppen, Galanteriewaaren etc.
7. Zinkfarben, nicht giftig: Zinkoxyd (Zinkweiss), Gel-Anstrichfarbe.
Basisches Zinkchromat (Zinkgelb), giftig als Chrom Verbindung.
8. Manganfarben, nicht giftig: Umbra, ein Gemenge von Mangan,
Thonerde und Eisenhydroxyden; braune Malerfarbe.
Bister oder Manganbraun, zum Färben, Drucken, Malen.
9. Cadmiumfarben, giftig: Schwefelcadmium (Cadmiumgelb), Maler-
farbe.
10. Uran färben, sämmtlich giftig: Uransaures Natrium (Urangelb),
zum Färben von Porzellan, Email, Glasflüssen, — in der Malerei als Oelfarbe
benutzt.
11. Eisenfarben: Eisenoxyd (gelber oder brauner Ocker, Röthel,
Neapelroth.) Billige Anstrichfarbe für Holz und Eisen. Nicht giftig.
12. Bleifarben, sämmtlich giftig: Bleioxyd (Bleiglätte) — Bleioxydul
(Mennige), beide gelb, als Wasser- und Oelfarbe benutzt.
Basisches Bleicarbonat (Bleiweiss), Malerfarbe.
13. Quecksilberfarben, sämmtlich giftig: Quecksilbersulfid (Zinnober),
als Malerfarbe oder zum Färben von Siegellack unbedenklich; zum Färben
von Nahrungsmitteln verboten.
14. Kupferfarben: Bremerblau oder Bremergrün (besteht hauptsäch-
lich aus Kupferoxydhydrat), als Wasser- oder Leimfarbe hellblau, als Oelfarbe
anfangs blau, später durch Verbindungen mit Oelsäuren, grün werdend.
Kupferlasur und Malachit (Verbindungen von Kupfercarbonat mit Kupfer-
oxydhydrat). — Oelblau (eine Verreibung von Schwefelkupfer in Oel und
Firnissen). — Grünspan (essigsaures Kupfer).
Kupfer ist — als Metall, wie in seinen Verbindungen — sehr weit ver-
breitet, und gelangt häufig, durch die Art der Zubereitung oder Aufbewah-
rung, in menschliche Nahrungsmittel. In kupfernen Gefässen gekochte Speisen
FARBEN. 241
lösen kleine Mengen Kupfer auf (vermöge ihres Gehaltes an Säuren, an
Fetten, an Kochsalz). Den Gemüseconserven, die durch das Erhitzen in Wasser-
dampf ihre Farbe verloren haben, wird zur Wiedererlangung der grünen Fär-
bung Kupfer künstlich zugesetzt („Reverdissage"). — Ueber die Giftigkeit des
Kupfers gehen die Meinungen weit auseinander. Jedenfalls ist Kupfer von
einer gewissen Menge ab, und bei häufig wiederholter Aufnahme, giftig;
andererseits wird aber die Gefahr der Kupfervergiftung meist weit überschätzt.
Die freie Vereinigung bayerischer Chemiker fasste 1892 zu Eegensburg die
Resolution, dass 2b mg Kupfer in 1 hg Conserven als der Gesundheit nicht
schädlich zu erachten sei.
In Deutschland ist seit 1887, in Oesterreich seit 1886, beziehungsweise
1888, die Anwendung des Kupfers zum Färben von Nahrungsmitteln verboten.
II. Organische Farbstoffe.
Die organischen Farbstoffe werden zum weitaus grössten Theile künst-
lich, und zwar aus Steinkohlentheer hergestellt („Theerfarbstoffe"). Die Farb-
stoffe färben die Gewebe entweder direct: „Substantive Farbstoffe," oder nach
vorheriger „Beizung": „adjective Farbstoffe." Die Beizung besteht in einer
Präparation der Gewebe mit Aluminiumsulfat oder Eisenoxydulsulfat, Blei-
acetat, chromsauren Salzen, Natriumarsenat, Brechweinstein etc. Manche dieser
Beizen sind giftig; sie werden jedoch aus den gefärbten Geweben sorgfältig
wieder ausgewaschen, so dass nur ein kleinster Theil zurückbleibt.
Die verschiedenen organischen Farbstoffe sind charakterisirt nach ge-
wissen chromophoren Gruppen. Die Theerfarbstoffe färben entweder direct als
solche, oder in Form ihrer carbonsauren oder sulfosauren Salze.
1. Nitrosofarbstoffe: Chromophore Gruppe: — NO.
Vertreter: Naphtolgrün. Ungiftig.
2. Nitrofarbstoffe: Salze nitrirter Phenole. Zum Theil stark giftig.
Pikrinsäure (Trinitrophenol), gelb, sehr giftig.
Dinitrokresol, gelb, giftig; als Safransurrogat zum Färben von Butter,
Bäckerwaaren etc. vielfach benutzt.
Martiusgelb (Dinitro-a-Naphtol), giftig. Dient zum Färben der Maccaroni.
Naphtolgelb (Dinitro-a-Naphtolsulfosäure), ungiftig.
Aurantia (Hexanitrodiphenylamin), gelb; anscheinend giftig.
3. Azofarbstoffe: Chromophore Gruppe — N=N — . Zahlreiche Farb^
Stoffe, anscheinend ungiftig. Die wichtigsten leiten sich ab von dem soge-
nannten Congofarb Stoffe.
4. Triphenylmethan- oder Rosanilinfarbstoffe, sogenannte
„Anilinfarben", weil durch Oxydation von Anilin entstehend. Chromophore
Gruppe C\R — n. Enthalten die wichtigsten und längst bekannten Farbstoffe,
I I
wie Fuchsin, Dahlia, Malachitgrün u. s. w. — Anscheinend sämmtlich ungiftig.
Die angeblichen Fuchsin- etc. Vergiftungen beruhen wohl mit Sicherheit auf
Verunreinigungen mit Arsen, das den Farbstoffen von ihrer Darstellung her
(Oxydation des Anilin mittelst Arsensäure) anhing.
5. Rosolsäurefarb Stoffe oder Aurine: Chromophore Gruppe
V^R— 0; ungiftig.
Rosolsäure, Korallin, Paeonin.
6. Phtaleine, Chromophore Gruppe !^\R— CO; ungiftig.
,/
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 16
242 FARBEN.
Hierzu gehört das Eosin. Eosin ist resorptiv ungiftig, scheint aber
unter Umständen local reizen zu können.
CO
7. Anthrachinonfarben, Chromophore Gruppe
Wichtige Farbstoffgruppe, enthält u. A. das Alizarin. Alizarin ist giftig.
(1 ccm gesättigte Lösung Alizarinblau S tödtet Kaninchen in V* Stunde).
K >s
8. Methylenblaugruppe, Chromophore Gruppe | R
— N^
Hierher gehört das Methylenblau. Dasselbe besitzt intensive physio-
logische Wirkungen, ist aber verhältnismässig wenig giftig.
9. Azine, Chromophore Gruppe -^\]S[/ .
II
Hierher gehört das Safranin, ausser zur Färbung von Baumwolle zu-
weilen auch zum Färben von Liqueuren benützt. Giftig (0*05 p ä;^ subcutan
wirken auf den Hund stark toxisch).
CO CO
10. Indigo, Indigblau C6H4<<yjT>C=C-<-vTTT>-C6H4. Resorptiv ungiftig,
aber local zuweilen reizend.
11. Organische Farbstoffe unbekannter Constitution: WeinfarbstofE,
Heidelbeerfarbstoff, Cochenille etc. Ungiftig.
In den meisten civilisirten Ländern hat die Verwendung von gesund-
heitsschädlichen Farben eine gesetzliche Regelung erfahren. Die hierauf be-
züglichen Bestimmungen Oesterreich-Ungarns und Deutschlands sind unge-
fähr identisch. Es genüge daher, das deutsche Reichs-Gesetz vom 5. Juli 1887
über die Verwendung gesundheitsschädlicher Farben aufzuführen.
§ 1. „Gesundheitsscliädliche Farben dürfen zur Herstellung von Nahrungs- und
Genussmitteln, welche zum Verkauf bestimmt sind, nicht verwendet werden. — Gesundheits-
schädliche Farben im Sinne dieser Bestimmung sind diejenigen Farbstoffe und Farbzube-
reitungen, welche: Antimon, Arsen, Baryum, Chrom, Kupfer, Quecksilber, Uran, Zinn, Zink,
Gummigutti, Korallin, Pikrinsäure enthalten."
In dieser Liste sind von organischen Farbstoffen äusserst wenige ent-
halten. Es ist auch unmöglich, bei der Unzahl der vorhandenen und täglich
neu dargestellten Farbstoffe eine Entscheidung über die Schädlichkeit der
einzelnen Substanzen zu treffen. Von den aufgeführten, verbotenen Farb-
stoffen ist das Korallin kaum als giftig zu bezeichnen. Dagegen sollten als
giftig verboten werden Dinitrokresol, Safranin, Martiusgelb, Aurantia. Anstatt
einzelne organische Farbstoffe als schädlich zu verbieten, dürfte es geeigneter
sein, eine Liste von nachgewiesenermassen ungiftigen Farben aufzustellen, die
allein zum Färben von Nahrungs- und Genussmitteln angewandt werden
dürften.
§ 2. „Zur Aufbewahrung und Verpackung von Nahrungs- und Genussmitteln dürfen
Gefässe, Umhüllungen und Schutzdecken, zu deren Herstellung Farben der in § 1 be-
zeichneten Art verwendet sind, nicht benutzt werden.
Auf die Verwendung von schwefelsaurem Baryt, Barytfarben^ welche von kohlen-
saurem Baryum frei sind, Chromoxyd, Kupfer, Zinn, Zink und deren Legirungen als
Metallfarben, Zinnober, Zinnoxyd, Schwefelzinn als Musivgold, sowie aller in Glasmassen,
Glasuren oder Emaille eingebrannten Farben und auf den äusseren Anstrich von Gefässen
aus wasserdichten Stoffen finden diese Bestimmungen nicht Anwendung."
Das zur Verpackung von Nahrungs- und Genussmitteln häufig ange-
wandte bunte Papier enthält nicht selten giftige Bestandtheile, namentlich
FARBEN. 243
Arsen (Schweinfurter und Scheele's Grün), Pergamentpapier enthält oft ge-
sundheitsschädliche Mengen Blei.
§ 3. ^Zur Herstellung von kosmetischen Mitteln dürfen die in § 1 bezeichneten
Stoffe nicht verwendet werden. — Auf schwefelsaures Baryum, Schwefelcadmium, Chrom-
oxyd, Zinnober, Zinnoxyd, Zinkoxyd, Schwefelzink, sowie auf Kupfer, Zinn, Zink und
deren Legirungen in Form von Puder finden diese Bestimmungen nicht Anwendung."
Unter diesen § fallen die Seifen, Pomaden, Haaröle, Schönheitswässer,
Goldcream, Schminken, Lippenpomaden, Puder, Zahnpulver, Zahnseifen, Mund-
wässer etc. Alle die Präparate enthalten nicht selten gesundheitsschädliche
Stofte; französisches Puder enthält 40—907,) Bleiweiss; — französische Kopf-
wässer und Haarfärbemittel enthalten Silber, I31ei, Quecksilber, Zink, Wismuth,
Schwefel und Aehnl.; — Schminken sind oft bleihaltig u. s. f.
§ 4. „Zur Herstellung von Spielwaaren (incl. Bilderbogen, Bilderbücher, Tuschfarben),
Blumentopfgittern, künstlichen Christbäumen dürfen die in § 1 bezeichneten Farben nicht
verwendet werden. — Auf die in § 2, Absatz 2, bezeichneten Stoffe, sowie auf Schwefel-
antimon und Schwefelkadmium als Färbemittel der Gummimasse, Bleioxyd in Firniss,
auf Bleiweiss als Bestandtheil des sog. Wachsgusses (jedoch höchstens zu 1% der Masse),
chromsaures Blei als Oel- oder Lackfarbe, oder mit Lack- oder Firnissüberzug, auf in Wasser
unlösliche Zinnverbindungen (bei Gummispielwaaren jedoch nur, soweit sie als Färbemittel
der Gummimasse, als Oel- oder Lackfarben oder mit Lack- oder Firnissüberzug verwendet
werden), findet diese Bestimmung nicht Anwendung."
Das Gesetz gestattet demnach die Anwendung giftiger Farben als Oel-
oder Lackfarben. Dass diese jedoch durchaus nicht ungiftig sind, dafür
sprechen Vergiftungen von Arbeitern beim Hantiren mit Chrombleilack,
bezw. beim Mennigeanstrich, — sowie von Kühen, die an einem (noch
feuchten) Mennigeanstrich geleckt hatten.
§ 5. „Zur Herstellung von Buch- und Steindruck auf den in den §§ 2, 3 und 4 be-
zeichneten Gegenständen dürfen nur solche Farben nicht verwendet werden, welche Arsen
enthalten."
Arsen Vergiftungen sind beim Hantiren mit Banknoten mit grünem Auf-
druck, Vergiftung mit Blei bei Herstellung grüner Briefmarken be-
obachtet worden. Es sollte ausser Arsen die allgemeine Anwendung giftiger
Farben für Drucksachen untersagt werden.
§ 6. ^Tuschfarben jeder Art dürfen als frei von gesundheitsschädlichen Stoffen, bezw.
giftfrei, nicht verkauft oder feilgehalten werden, wenn sie den Vorschriften in § 4, Abs. 1
lind 2, nicht entsprechen."
§ 7. „Zur Herstellung von Tapeten, Möbelstoffen, Teppichen, Stoffen zu Vorhängen
oder Bekleidungsgegenständen, Masken, Kerzen, sowie künstlichen Blättern, Blumen und
Früchten, dürfen Farben, welche Arsen enthalten, nicht verwendet werden.
Auf die Verwendung arsenhaltiger Beizen oder Fixirungsmittel findet diese Be-
stimmung nicht Anwendung. Doch dürfen derartig bearbeitete Gespinnste oder Gewebe
nicht verwendet werden, wenn sie das Arsen in wasserlöslicher Form oder in solcher Menge
enthalten, dass sich in 100 dgm mehr als 2 gm Arsen vorfinden."
§ 8. „Die Vorschriften des § 7 finden auf die Herstellung von Schreibmaterialien,
Lampen- und Lichtschirmen sowie Lichtmanschetten Anwendung.
Die Herstellung von Oblaten unterliegt den Bestimmungen in § 1, jedoch sofern sie
nicht zum Genüsse bestimmt sind, mit der Massgabe, dass die Verwendung von schwefel-
saurem Baryt, Chromoxyd und Zinnober gestattet ist."
§ 9. ,, Arsenhaltige Wasser- oder Leimfarben dürfen zur Herstellung des Anstrichs von
Fussböden, Decken, Wänden, Thüren, Fenstern der Wohn- und Geschäftsräume, von Roll-,
Zug- oder Klappläden oder Vorhängen, von Möbeln und sonstigen häuslichen Gebrauchs-
gegenständen nicht verwendet werden."
Vergiftungen durch arsenhaltige Farben haben von jeher eine grosse
Rolle gespielt. Chronische Vergiftung durch arsenhaltige Tapeten kommt
wahrscheinlich durch Abstauben des arsenhaltigen Staubes zu Stande, in
manchen Fällen wahrscheinlich auch dadurch, dass auf den Tapeten schma-
rotzende Schimmelpilze aus der Arsensäure eine flüchtige Arsenverbindung
bilden. In London waren von 100 Tapetenproben nur 20 frei von Arsen;
24 enthielten Arsen in Spuren, 56 enthielten pro qtn 1 — 600 mg arsenige Säure.
— In Stockholm wurden von 9632 Proben von Tapeten, Geweben, Farben etc.
41 7o arsenhaltig gefunden. — Mit Schweinfurter- Grün gefärbte Ballkleider
16*
244 FERIENCOLONIEN.
haben schon mehrfach Vergiftungen hervorgerufen. — Die bisher als Anilin-
farben-Vergiftungen aufgeführten Fälle sind wohl sämmtlich Arsenvergiftungen
gewesen, herrührend von dem den Farben von ihrer Herstellung (durch Oxy-
dation des Anilin mittels Arsensäure) her anhaftenden Arsen. Jetzt ersetzt
man die Oxydation mittels Arsensäure durch ein anderes, das sog. ;,Coupir-
Verfahren", nämlich durch Oxydation mittels Nitrobenzol in schwefelsaurer
Lösung. Das Nitrobenzol ist zwar ebenfalls giftig, es lässt sich aber, da es
flüchtig ist, aus dem Endproduct vollständig entfernen.
Unter den Beizen sind namentlich die Arsen- und Antimonbeizen als
giftig hervorzuheben. Für die letzteren bestehen keine gesetzlichen Bestim-
mungen, wiewohl sie zweifellos schädlich wirken können. Ein baumwollener
Hosenstoff, der an den Schenkeln starke Ekzeme hervorgerufen hatte, enthielt
pro qdm 0'085 g Antimon. Ein Paar baumwollene Strümpfe von 60 — 70 g
Gewicht enthielt bis 0"25 g Antimon. Die freie Vereinigung bayerischer
Chemiker schlägt vor, dass Gewebe nicht mehr als 2 mg Antimon pro qdm ent-
halten dürfen.
§ 10. „Auf die Verwendung von Farben, welche die in § 1 bezeichneten Stoffe nicht
als constituirende Bestandtheile, sondern nur als Verunreinigungen, und zwar höchstens in
einer Menge enthalten, welche sich bei den in der Technik gebräuchlichen Darstellungs-
verfahren nicht vermeiden lässt, finden die Bestimmungen der §§ 2 bis 9 nicht Anwendung."
Dieser § ist eine Concession an die chemische Grossindustrie. Es ist
der Technik unmöglich, ohne die Herstellungskosten enorm zu steigern, che-
misch reine Rohstoffe anzuwenden. Des ferneren ist es äusserst schwierig,
Niederschläge im Grossen so auszuwaschen, dass die in ihnen enthaltenen
gelösten Steife vollständig entfernt werden. Das Gesetz gestattet daher einen
solchen Gehalt an diesen fremden Bestandth eilen, wie er sich bei den besten
technischen Methoden als nothwendig herausstellt. e. heinz.
FerienCOlonien. Um wenigstens einen Theil der für die Gesundheit der
Schulkinder durch den Schulbesuch erwachsenden Schäden gut zu machen,
haben sich Institutionen gebildet, die sich dieser Aufgabe unterziehen. Diese
Schädigungen zeigen sich am deutlichsten bei den unter schlechten Verhält-
nissen lebenden Kindern des Proletariats der Grossstädte. Es steht fest, dass
schon die Ferien allein, ohne sonstige Aenderung der Verhältnisse, auf die
Kinder von günstigem Einflüsse sind, der sich unter anderem in einer wäh-
rend dieser Zeit stärkeren Zunahme des Gewichtes äussert (Schmidt-Mon-
nard). Diesen guten Einfluss der schulfreien Wochen des Jahres noch weit
deutlicher zu machen, haben sich in den verschiedenen Städten Feriencolonien=
vereine gebildet, deren Hauptaufgabe darin besteht, den die Volksschule be-
suchenden Kindern einen zuträglichen Aufenthalt in Gegenden zu ermöglichen,
die, entrückt der Atmosphäre der Grossstädte, eine Kräftigung des jugend-
lichen Organismus bei entsprechenden hygienischen und Ernährungsverhält-
nissen herbeizuführen im Stande sind. Ueberdies ist ein derartiger Aufent-
halt zweifellos geeignet, auch auf die geistige und moralische Entwickelung
der Kinder von dem besten Einflüsse zu sein.
Die Feriencolonien verdanken ihre Entstehung einer Anregung des
Pfarrers Bion aus Zürich, der im Jahre 1876 eine Anzahl Kinder in den
Ferien zur Kräftigung aufs Land entsandte. Diese Idee fand Nachahmung und
ist heute in ausgedehntem Masse in vielen Staaten verbreitet (Schweiz, Deutsch-
land, Oesterreich, Italien, Russland, England, Amerika etc.). Die Zahl der in
Feriencolonien verschickten Kinder ist in stetiger Zunahme begriffen. — Man
sieht dies am besten an Deutschland, wo im Jahre 1876 eine Stadt 7 Kinder
in Colonien sandte, 1885 bereits aus 76 Städten 9999 Kinder verpflegt wurden,
und während der Ferien 1893 11178 Kinder diese Wohlthat genossen.
Schobst in Hamburg kam im selben Jahre wie Bion auf denselben Ge-
danken, der übrigens in ähnlicher Form schon seit 25 Jahren vor beiden in
Kopenhagen ausgeführt worden war.
FERIENCOLONIEN. 245
I
Was den Ort der Feriencolonie betrifft, so soll er sich in gesundheit-
licher und landschaftlicher Beziehung vortheilhaft von dem gewöhnlichen Auf-
enthalte der Kinder unterscheiden. Die Möglichkeit ausgiebigsten Aufent-
haltes in freier, gesunder Luft soll gewährleistet sein. Locale Verhältnisse
spielen hier eine grosse Rolle. Auf entsprechende Unterkunft der Kinder ist
stets Bedacht zu nehmen. Sehr wünschenswerth ist die Erwerbung oder Her-
stellung eigener Ferienheime. Ferner ist für die Möglichkeit leichter Versor-
gung der Colonisten mit hinreichenden und frischen Nahrungsmitteln, vor
allem mit Milch, die selbstredend nicht in rohem Zustande genossen werden
soll, frischem Fleisch etc. Obsorge zu treffen. Auch an die Erreichbarkeit
ärztlicher Hilfe für den Nothfall ist nicht zu vergessen.
Hat das Comite die Mittel zur Erfüllung dieser Bedingungen aufgebracht,
so entsendet es in der Regel unter der Leitung eines Lehrers oder einer
Lehrerin, oder eines Lehrers und einer Lehrerin eine Anzahl Kinder in die
Stätte des Ferienaufenthaltes.
Die Leiter der Colonien müssen Lust und Liebe zu dieser Sache haben,
ihre rein pädagogischen Eigenschaften während dieser Zeit vergessen können,
mit den Kindern während dieser Zeit in entsprechender Weise wie in einer
Familie umzugehen verstehen, da diese Tage der Erholung, nicht der Arbeit
gewidmet sein sollen.
Dort, wo Selbstverköstigung der Kinder der Colonie möglich ist,
strebt man darnach, sie einzuführen. Es wird dadurch der Feriencolonie der
Charakter der Familie gegeben, es wird weiter damit für manche Kinder,
grösseren Mädchen z. B., die mit sind, eine leichte, zweckmässige Beschäftigung
verschafft. Das Essen selbst soll einfach, aber gut und nahrhaft sein.
Mehr als 20 — 30 Kinder soll man einem Colonieführer nicht übergeben,
Beaufsichtigung und Beschäftigung könnten sonst leicht auf Schwierigkeiten
stossen. Bei der Auswahl der Kinder soll man sich von gewissen Grund-
sätzen leiten lassen. Eigentlich sollte sie, wie dies auch an sehr vielen Orten
schon geschieht, stets unter ärztlicher Beihilfe geschehen. Kinder mit offenen
scrophulösen Affektionen, Kinder mit chronischen Lungenleiden (Tuberculose),
Kinder mit sonst schweren organischen Krankheiten (Herzfehler) und manchen
anderen Leiden, z. B. Herpes tonsurans, Ekzemen etc., sollten Colonien mit
sonst Gesunden principiell nicht theilen dürfen — für diese ist, in An-
betracht der vollkommen anderen Bedürfnisse, in anderer Weise zu sorgen.
Ausserdem bilden sie zum Theile eine Gefahr für dies Gesunden. Auch darauf
soll man achten, ob die Kinder nicht mit Ungeziefer behaftet sind. Leichte
Grade von Blutarmuth, allgemeine Schwächlichkeit und Zurückgebliebenheit,
schlechte materielle Verhältnisse der Angehörigen, das sollen die Hauptbeweg-
gründe für das Verschicken in die Colonie bilden. Besonders unmoralische
und verderbte Individuen fern zu halten, ist Sache der betreffenden Schule.
Am geeignetsten für den Landaufenthalt sind die Kinder im 8. — 14.
Jahre, im schulpflichtigen Alter. Es kann nur gebilligt werden, wenn manche
Vereine ein besonderes Augenmerk auf die älteren Kinder richten, die dem
Ende des Volksschulunterrichtes nahe stehen, und denen der harte Kampf
mit dem Dasein unmittelbar bevorsteht.
Die Dauer des Aufenthaltes auf dem Lande ist nicht gleich; sie wechselt
zwischen 2 — 6 Wochen. Je länger, desto besser. Es ist das sicher nicht zu
viel für 1 Jahr Schulzimmeraufenthalt. Die Wirkungen des Aufenthaltes in
der Colonie zeigen sich, soweit sie sich auf die körperlichen Zustände be-
ziehen, in Zunahme des Körpergewichtes, des Brustumfanges, der Capacität
der Lungen, dem frischeren Aussehen der Kinder, der Zunahme des Hämo-
globingehaltes. Das alles ist durch Messungen und Wägungen und Unter-
suchungen an zahlreichen Kindern festgestellt werden. Oft soll es geschehen,
dass durch einen mehrwöchentlichen Landaufenthalt ein Kind im Stande ist,
246 'FINDELWESEN (FINDELPFLEGE).
ein Jahr körperlicher EntwickeluDg nachzuholen — respective unter gleich
schlechten Verhältnissen zurückgebliebenen um so viel vorauszukommen. Mag j
auch die Wirkung nicht stets sich ganz genau in Mass und Zahlen aus- |
drücken lassen, jedenfalls trägt ein durch eine Feriencolonie ermöglichter
Landaufenthalt wesentlich zur Hebung der allgemeinen Constitution bei. Durch
Belehrungen, die man den Eltern ertheilt, sucht man das in der Feriencolonie
Erreichte für später noch nach Möglichkeit zu festigen.
In Orten, wo es nicht möglich ist, eine grössere Zahl von Kindern ver-
eint zu pflegen, sucht man sie einzeln oder in kleinen Gruppen bei Familien
auf dem Lande für einige Wochen unterzubringen. Dies geschieht entweder gegen
Entlohnung oder ohne Entgelt. Dieses System ist aber im Allgemeinen nicht
so zu empfehlen, wie das erst geschilderte, und besonders in Fällen, wo keine
Bezahlung für die Kinder entrichtet wird, nur mit Vorsicht aufzunehmen.
Neben den Feriencolonien entwickelt sich an manchen Orten das System
der Stadt- oder Halbcolonien. Hier vereinigen sich die Kinder inner-
halb ihres gewöhnlichen Aufenthaltsortes an gewissen Sammelstätten, werden
dort mit Brod und Milch betheiligt und machen unter Führung und Leitung
der Lehrer Ausflüge, Spaziergänge, unternehmen Spiele im Freien etc. Man
nennt solche Colonien auch Milchcolonien. Das System der Feriencolo-
nien ist soweit verbreitet, dass jährlich Congresse in dieser Angelegenheit
abgehalten werden.
Die Kosten für die Verpflegung der Kinder werden von den Vereinen
getragen. Sie schwanken je nach dem Orte zwischen 0-47 — 2'03 Mk. pro
Tag und Kind (Neumann). Manche Eltern tragen etwas zu diesen Kosten
bei, falls sie dies im Stande sind. Doch darf hiedurch dem betreffenden
Kinde nichts zahlenden gegenüber keinerlei Vortheil erwachsen. Kinder, die
nicht ganz gesund sind, besonders schwächliche, Scrophulöse etc., werden durch
einen derartigen Landaufenthalt nicht wesentlich gefördert und erheischen
Pflege und Behandlung in einem Soolbade, Seebade oder Höhenklima, wohin
sie theils durch Spitäler, theils durch Private, theils durch Staats- und Ge-
meindeeinrichtungen gesendet werden können. Dies sind jedoch Angelegen-
heiten, die dem Wirkungskreise der Feriencolonievereine im engeren Sinne
ferne liegen. j. loos.
Findelwesen (Findelpflege). im Alterthume war es nicht nur ge-
stattet, Kinder zu tödten, sondern es war dies bei Griechen und Eömern
unter gewissen Umständen selbst geboten. Nur die Juden bildeten in dieser
Beziehung eine bemerkenswerthe Ausnahme. Wurden dem Untergange ge-
weihte, ausgesetzte Kinder doch von Jemandem aufgenommen und gross-
gezogen, dann wurden aus ihnen Sklaven.
Das erste Findelhaus für verlassene, eheliche Kinder wurde unter Trajan errichtet.
CoNSTANTiN erliess im Jahre 318 ein Gesetz, nach welchem Kindes- und Elternmord in
gleicher Weise bestraft werden sollte, und des weiteren ein Gesetz, dass die Gemeinde die
Pflicht habe, für verlassene Kinder die Obsorge zu übernehmen. Sollte sie dies zu thun
nicht im Stande sein, dann musste der Staat für die nöthigen Mittel aufkommen. Durch
die katholische Kirche angeordnet, tritt schon im 5. Jahrhunderte an die Stelle privater
die öffentliche Fürsorge für Findelkinder. Solche wurden damals in der Regel zuerst
Pflegeeltern übergeben und später in eigenen Anstalten (Brephotrophien) untergebracht. Noch
im 9. Jahrhunderte findet man in vielen Kirchen Marmorbecken, in die man die Kinder
niederlegte. Das waren die eigentlichen Findlinge. Von dort wurden sie aufgenommen
und in geistliche Pflege übergeben.
Bischof Dartheus von Mailand errichtete 787 die erste geschlossene Findel-Anstalt.
Nach dieser wurden viele andere errichtet, so z. B. in Montpellier, Marseille, in vielen an-
deren Städten und Staaten, auch in Deutschland. Eine der grössten, die Annunciata
in Neapel, verdankt ihr Dasein der Königin Sancia, der Gemahlin Roberts von Anjou,
und entstand 1343. Napoleon gab 1811 die Anordnung zur Errichtung von Findelanstalten
in sämmtlichen Arrondissements von Frankreich, Josef IL gründete 1784 die Wiener Findel-
anstalt. In Deutschland wurden zur Zeit der Reformation die meisten Findelanstalten wegen
der schlechten Resultate, die sie erzielten, wieder aufgelassen, und an ihrer Stelle die ver-
FINDELWESEN (FINDELPFLEGE). 247
lassenen Kinder in anderer Weise verpflegt (germanisches System, im Gegensatze zu
dem romanischen). Auch in Russland wurde im Jahre 1808 die Anlage von Findel-
anstalten aufgelassen, und die Findlingscolonien an deren Stelle gesetzt. Die entsprechen-
den Kinder werden in den Colonien verheirateten Handwerkern zur Pflege übergeben und
später selbst in verschiedenen Colonien angesiedelt.
Gewöhnliche Verhältnisse vorausgesetzt, erhalten und erziehen die eigenen
Eltern ihre Kinder. Wo dies nicht der Fall ist und sein kann, da hat die
menschliche Gesellschaft zu anderen Mitteln die Zuflucht genommen, um die
hilflosen Geschöpfe nicht verkommen und zu Grunde gehen zu lassen. Unter
den Veranstaltungen, die sich mit der Pflege derartiger Wesen befassen,
nehmen die Findelanstalten eine wichtige Rolle ein. Sie sind ein Bestand-
theil der allgemeinen Kinderpflege. Sie sind in der Weise, wie sie früher
reichlicher noch bestanden haben und heute noch bestehen, eine Frucht des
Christenthums, wie sie in dieser Form andere Religionen nicht aufzuweisen
haben.
In Oesterreich sind die Findelanstalten staatliche Institute (Prag, Wien).
Sie stehen mit Gebäranstalten in innigem Contacte. Sie sind heute nichts
anderes als Durchgangsstationen für ihre Pfleglinge, da es sich im Laufe der
Zeit und in Folge der gemachten Erfahrungen herausgestellt hat, dass die
Pflege und Erziehung grösserer Mengen von Neugebornen und Säuglingen
in geschlossenen Anstalten auf nicht zu überwindende Schwierigkeiten stösst.
Dagegen dienen sie zum Aufenthalte und zur Pflege kranker Säuglinge,
denen hier ein sonst nicht zu beschaö'ender Vortheil in Folge der Einrichtung
und der Statuten solcher Anstalten gewährt werden kann, ein Hauptmittel
zur Genesung, die Ernährung durch die Mutterbrust. Einzelne Findelanstalten
nehmen deshalb auch bloss kranke Säuglinge auf, nicht eigentlich Findlinge
(Brüssel). Dies ist wohl auch der Hauptvorzug des romanischen Systemes,
gegenüber dem in Deutschland gebräuchlichen germanischen, wo die Kinder
alle in derselben Weise versorgt werden wie die Waisenkinder, denen man
in Bedarfsfalle die Brust der Amme nicht verschaffen kann. Im Gefühle
dieses Mangels ofi"enbar hat man deshalb in manchen deutschen Städten, z. B.
in Breslau, Asyle gegründet, bestimmt für legitime und illegitime Mütter,
die ihre Kinder selbst nähren und augenblicklich erwerbslos sind. In diesen
Asylen können sie bis 6 Wochen zum Behufe des Säugens ihrer Kinder auf-
genommen und erhalten werden. Dieses nur in grossen Städten durchführ-
bare Princip ist unserer Meinung nach nur ein schwacher Ersatz der früher
viel verbreiteten und jetzt noch anderswo bestehenden Art der Verpflegung
und Versorgung der Findlinge.
Findelanstalten sind in den meisten Staaten vorhanden: in Italien, Frank-
reich, Oesterreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Russland, Nord- Amerika.
Die meisten sind in Italien, wo sich fast jede grosse Stadt des Besitzes einer
solchen erfreut, so Rom, Neapel, Mailand, Florenz, Bologna etc.
Ursprünglich geschah die Aufnahme der Kinder in diese Anstalten
durch die sogenannte Drehlade (la tour, la ruota), d. h. Einrichtungen,
die es ermöglichten, das entsprechende Kind der Anstalt zu übergeben, ohne
mit den Bewohnern derselben in Berührung zu kommen, so dass die Herkunft
des Kindes thatsächlich unbekannt blieb. So aufgenommene Kinder, deren
Alter oft ungefähr geschätzt w^erden musste, bekamen eine mit einer Plombe
versehene Marke mit den nöthigen Daten, und dann wurde für sie in ent-
sprechender Weise weiter gesorgt. Dieses Aufnahmssystem mittels der
Drehlade besteht noch in Spanien, Brasilien, Argentinien, zum Theile in
Italien und im Seine-Departement in Frankreich. In den übrigen Findel-
anstalten ist es beseitigt worden, und ein anderer Modus der Aufnahme der
Kinder ist an seine Stelle getreten. Abgesehen von anderen Gründen,
musste man mit dieser Aufnahmsart schon deshalb brechen, weil man sehr
oft todte Kinder in der Drehlade vorfand, so in Italien in der Zeit zwischen
248 FINDELWESEN (FINDELPFLEGE).
1890—1892 noch 742. Es sank z. B. in Orleans allein durch die Ab-
schaffung der Drehlade 1855—56 die Mortalität um 13%. Es hatte das
System der absoluten Verheimlichung der Geburt noch viele andere Nach-
theile. Es fehlten dem Kinde und der Mutter alle Vortheile, die eine ge-
ordnete Geburts- und Wochenbettmöglichkeit beiden selbstverständlich gewährt.
Auf diese Weise konnte einer der Hauptzwecke der Anstalten: Verhütung
und Beschränkung des Kindesmordes und des Aussetzens der Kinder sicher
nicht erreicht werden. Dazu kam noch der Einfluss des Transportes auf die
im zartesten Alter stehenden Kinder, die oft bei jeder Witterung und Jahres-
zeit, unter den denkbar schlechtesten Verhältnissen dem ersten besten für
die Abgabe in die Anstalt mitgegeben wurden. So kamen sie mitunter
thatsächlich erfroren in derselben an (Moskau). Es sprechen alle mensch-
lichen Gefühle für das Brechen mit diesem System.
Das heutige Findelhaus nimmt also in der Kegel nicht mehr eigentliche
Findlinge auf, sondern ist in allererster Linie für die u n e h e 1 i c h e n Kinder
bestimmt. Die Aufnahme geschieht nicht überall unter den gleichen Be-
dingungen und Modalitäten. Wer sich über die Einzelheiten dieser in den
verschiedenen Anstalten unterrichten will, dem bleibt nichts übrig, als diese
in den Statuten derselben, die selbstverständlich nicht überall mit einander
übereinstimmen, nachzusehen. Hier ist es unmöglich, die Details alle anzu-
führen, wir müssen uns auf principielle und allgemeine Vorschriften be-
schränken.
Die Findelanstalten bezwecken vornehmlich die in einer mit ihr in Ver-
bindung stehenden Gebäranstalt geborenen unehelichen Kinder in ge-
eignete Familien unterzubringen. Diese Familien erhalten hiefür monatlich
eine entweder aus dem Landesfonde oder aus anderer Quelle zu bestreitende
Entlohnung. So erwirbt jede ledige Frauensperson, deren Namen, Orts-
zugehörigkeit, Armuth amtlich nachgewiesen ist, die sich auf eine Klinik der
Gebäranstalt aufnehmen und zum Unterrichte daselbst verwenden lässt,
die sich nach Austritt aus der Klinik durch 4 Monate zu Ammendiensten in
der Findelanstalt verpflichtet, den Anspruch auf 6jährige Versorgung ihres
Kindes auf öffentliche Kosten (Prag). Ist oder wird die Mutter zur Zeit der
Geburt krank, kommt das Kind allein in die Anstalt.
Das Findelhaus nimmt jedoch nicht nur uneheliche Kinder auf, sondern
unter Umständen selbst eheliche, falls diese die Eltern verloren haben, oder
wenn selbe Gefängnisstrafe verbüssen müssen, manchmal auch, wenn die
Mutter nach der Entbindung im Gebärhause nicht im Stande ist, zu stillen.
Da man mit der künstlichen Ernährung der Säuglinge sehr schlechte
Erfahrungen gemacht hat, werden die Kinder in den Findelanstalten an der
Brust behalten. In Folge der Verpflichtung der Mütter zum Säugen, ist dies
leicht möglich. Nur für den Fall des Todes des eigenen Kindes erlischt diese
Verpflichtung, sich als Amme in der Anstalt verwenden zu lassen, für die
Mutter. In der Regel sucht man es zu erreichen, dass jede Amme bloss ein
Kind stillt. Bei Ammenmangel erhält sie noch ein zweites. Die Mortalität
in den Anstalten steigt sofort, sobald man gezwungen ist, einer Amme mehr
als ein Kind an die Brust zu legen und betrug in Folge dieser Umstände
in Moskau gelegentlich trotz Ammenernährung unter den Säuglingen bis 60%.
Ausserdem müssen sich in manchen Anstalten die Ammen auch noch zu
leichten häuslichen Arbeiten verwenden lassen.
Die kranken Säuglinge werden selbstverständlich in der Anstalt so
lange als nothwendig behalten. Die gesunden trachtet man in der Regel
sobald als möglich in die Aussenpflege zu geben, d. h. passende Pflege-
eltern für sie zu finden. — Man trachtet, für Säuglinge Leute zu finden, die
die Kinder wiederum an die Brust nehmen. In erster Linie kommt hier in
Betracht die eigene Mutter, die natürlich zumeist stets das Recht hat, das
FINDELWESEN (FINDELPFLEGE). 249
Kind als eigen zu reclamiren und es aus dem Verbände der Anstalt zu
nehmen. Dann kommen in Betracht die Verwandten, weiter von der Mutter
zu bezeichnende Pflegeparteien, wobei unter sonst gleichen Umständen Brust-
parteien den Vorzug erhalten, schliesslich ganz Fremde nach dem Gutachten
des Vorstandes der Anstalt.
Man gibt auch mehr als ein Kind einer Partei zur Pflege, dann ver-
schiedenen Alters und Geschlechtes zur Vermeidung von Verwechselungen.
Die Dauer der Aussenpflege ist bei den verschiedenen Anstalten
ungleich. Sie beträgt 6 Jahre in der böhmischen, 10 in der nieder-
österreichischen Findelanstalt. Dann muss das Kind von der Mutter oder
Heiraatsgemeinde zurückgenommen werden und mit diesem Zeitpunkte hört
auch die Geheimhaltung der Mutterschaft auf, es sei denn in anderer Weise
für das Kind Vorsorge getroffen worden. — Immer hat jedoch auch während
dieser Zeit die Mutter das Recht, ihr Kind an sich zu nehmen. — In der
Zwischenzeit hat der Anstaltsdirector die Vormunds- und elterlichen Rechte
über das Findelkind. Die Pflegepartei kann das Kind gegen Kündigung
zurückstellen, es kann amtlich bei Reclamirung seitens der Mutter, bei
schlechter Pflege seitens der Anstalt zurückverlangt werden.
In Mailand bleiben die Kinder bis zum 15. Jahre in der Aussenpflege und kehren dann
in die Anstalt zurück. Mädchen können dann bis zum 25. Jahre in derselben verbleiben,
werden in Arbeitsschulen beschäftigt, können zu Hebammen ausgebildet werden etc. In
den romanischen Ländern kann die Mutter überhaupt nur unter erschwerenden Umständen
ihr einmal der Anstalt übergebenes Kind zurückerhalten.
In Frankreich bleiben die Kinder bis zum LS. Jahre bei den Pflegeeltern, verdingen
sich dann als Arbeiter.
In Rassland kommen sie nach ßwöchentlichem Anstaltsaufenthalte in die Pflege,
in der sie in der Regel bis zur Majorennität verharren. — Wieder andere Satzungen gelten
für das Foundlings Asylum in London, für die Anstalten in New-York u. s. w.
Nicht auf die Dauer wie die unehelichen Kinder, sondern nur für eine
gewisse Zeit werden wirkliche Findlinge, d. h. weggelegte Kinder, verpflegt,
ferner Kinder, die man von anderen Orten als von den Gebärkliniken erhält,
Kinder, deren Eltern im Strafhause oder in Untersuchungshaft sich befinden,
sich in ganz besonderer Noth befinden.
Die Controle über die in Aussenpflege befindlichen Kinder ist in
allererster Linie Pflicht der Anstalt. Sie muss von jedem Todesfalle ver-
ständigt werden, sie fordert in manchen Fällen das Kind zurück, falls bei
Brustparteien dieser übernommenen Verpflichtung nicht nachgekommen wird,
bei schlechter Erziehung, Anleitung zur Unmoralität, Vagabondage, Bettelei etc.,
falls das Kind bei anderen als den Parteien angetroffen wird, denen es über-
geben worden war. Unterstützt wird die Findelanstalt bei dieser Beauf-
sichtigung theils von der öffentlichen Behörde, theils von den Seelsorgern.
In manchen Gemeinden gibt es eigene Findelväter, Findelkindererzieherinnen, die
wiederum dem Pfarrer Bericht erstatten. Mitunter werden die Kinder selbst regelmässig
ärztlich untersucht, z. B. seitens der Annunciata jährlich zweimal. In Frankreich, wo
nach dem 12. Jahre keine Pension mehr gezahlt wird, controlirt die Findelhausdirection
das Kind bis zur Grossjährigkeit. In Moskau verliert jede Mutter, die sich durch .3 Jahre
um ihr Kind nicht gekümmert hat, vollkommen das Recht, es je zurückzufordern.
In die Annunciata kommen jährlich etwa 2000 neue Kinder. Dies nur einige
Beispiele.
Die Sterblichkeit in den Findelanstalten war in den früheren Jahren
eine sehr grosse — eine so grosse, dass dieser Umstand als ein Hauptgrund
zur Aufhebung der Anstalten benützt wurde. — Es hiess nicht ganz mit
Unrecht, in den Findelanstalten sterbe jedes zweite Kind. Ja, in Irkutsk
betrug während zweier Jahre die Mortalität 100%, so dass kein Kind in
dieser Zeit dortselbst 1 Jahr alt wurde. Nebst nicht ganz tadellosen
hygienischen Verhältnissen trugen noch manche andere Umstände Schuld
an der hohen Mortalität, die vornehmlich Kinder des ersten Lebensjahres
betrifft. Zu den am meisten unter diesen verbreiteten Krankheiten zählen:
250 FINDEL WESEN (FINDELPFLEGE).
Soor, Diphtherie, angeborene Syphilis, Dermatitis, Skierödem, Blenorrhoea
neonat., Darmkatarrhe, septische Erkrankungen. Ein grosser Theil der
Kinder betritt schon krank die Anstalt. Dazu kommt, dass ein Theil der
Kinder, schwächlich, nicht mit dem Normalgewichte ausgestattet, das Licht
der Welt erblickt, dass die Entwicklungsbedingungen dieser Kinder in der
Regel sehr schlechte waren, da es sich zumeist um uneheliche handelt und
ausserdem noch um solche aus den allerschlechtesten Verhältnissen. Auch
der Umstand, dass mitunter mehr als , ein Kind einer Amme an die Brust
gegeben werden musste, trug zur Vergrösserung der Sterbeziffer bei. In
Folge Erkenntnis all dieser Umstände, in Folge Besserung der Verhältnisse
der Anstalten und auch der mit ihnen vereinigten Gebärkliniken ist es jetzt
wohl überall besser geworden.
In Italien beträgt die Mortalität jetzt circa 21— Sö^/q. Die absolute 1885 in Prag
9-77o, 1894 — 14-227o, während zu derselben Zeit die Sterblichkeit der Findlinge im
1. Lebensjahre 3717% war. Dabei sind in derselben Anstalt in diesem Jahre 3067 Kinder
neu aufgenommen worden und erstreckte sich die Pflege im Ganzen auf 10.249 Kinder.
Die niederösterreichische Findelanstalt verpflegte im Jahre 1895 insgesammt 26.985
Kinder, bei 6.986 Neuaufnahmen in diesem Jahre. Die allgemeine Mortalität war 12-7%,
die der Kinder im ersten Lebensjahre 40"8%. — Nähere Auskünfte über diese Verhältnisse
erhält man aus den jährlich in den einzelnen Anstalten erscheinenden Berichten. Hier
mögen diese Beispiele genügen.
Die hygienischen Anforderungen, welche an die Findelhäuser selbst
gestellt werden, decken sich mit denen, die man im Allgemeinen heute an
Spitäler zu stellen gewohnt ist. In der Pariser Anstalt kommt jedes Kind
zuerst in Quarantaine zur Feststellung allenfallsiger Erkrankungen. Syphi-
litische werden auf besondere Abtheilungen aufgenommen und erhalten wo-
möglich eine syphilitische Amme. — Alle Kinder trachtet man rasch aufs
Land zu geben, um sie im Erkrankungsfalle wieder in die Anstalt zu nehmen.
Kränkliche, schwächliche und syphilitische Kinder pflegt man überhaupt in
der Anstalt zu behalten und nicht vor ihrer Genesung in Aussenpflege zu
übergeben.
Auch die Entlohnung für die in Aussenpflege befindlichen Kinder ist nach An-
stalten und Ländern eine ungleiche. — Für besonders gute Pflege zahlen manche An-
stalten eigene Prämien (Mailand). Wird das Kind Eltern oder Grosseltern zur Pflege über-
geben, pflegt die Entlohnung in der Regel eine geringere zu sein, als bei ganz fremden
Leuten, meist nur ^/s des gewöhnlichen Pflegegeldes zu betragen. Doch ist durchaus nicht
immer die eigene Mutter die beste Pflegerin des Kindes. In Frankreich versucht man die
Mütter durch Angebot eigener Unterstützungen zur Eigenpflege zu bewegen (secours aux
fiUes meres, bon de nourrice, secours d'orphelins).
In Neapel erhalten die Pflegeeltern mitunter keine Entschädigung, mitunter die
ersten 18 Monate 5 Lire. Ammen erhalten JO — 12 Lire pro Monat. Ein Prager Findelkind
kostet im ersten Lebensjahr circa 78 fl., später circa 48 fl. pro Jahr; für ein Rostocker
Armenkind pflegt etwa 120 Mark pro Jahr gerechnet zu werden (üffelmann). Kommt ein
Findelkind später in den Besitz von Vermögen, dann kann dieses zum Ersatz der Findel-
kosten eventuell herangezogen werden.
Die Zahl der in Findelanstalten verpflegten Kinder ist eine ziemlich
grosse — 1888 kamen in Russland etwa Yg aller Gehörnen in Findelpflege. —
In Böhmen soll es durchschnittlich Yio sein. In Prag wurden in der Zeit
von 1880—1884 13.780 Kinder von der Findelanstalt aufgenommen. Wie
statistische Untersuchungen erwiesen haben, ist der Vorwurf, den man den
Findelanstalten gemacht hat, die Zahl der illegitimen Geburten zu vermehren,
nicht stichhältig. Es hat sich gezeigt, dass deren Zifi'er von manchen anderen
Factoren, nicht jedoch von dem Bestände der Findelanstalt im Lande ab-
hängig ist. Dass jedoch bei grosser Zahl illegitimer Kinder durch die
Findelanstalt Kindesmord und Verwahrlosung der Kinder verhütet werden
kann, das ist sicher. Auch hat es sich gezeigt, dass, wo keine entsprechende
Fürsorge getroffen wird, das System der Engelmacherinnen blüht, die zahl-
reiche Kinder einem langsamen, aber um so sichereren Elende, Siechthum
und Untergange entgegenführen. Es controlirt sie ja Niemand. Dass die
Erhaltung von Findelanstalten viel Geld kostet, das lässt sich nicht leugnen,
ist aber kaum als Vorwurf aufzufassen. Es wird doch zweckmässig verwendet.
FLEISCHBESCHAU. 251
Dagegen ist es nicht ganz unberechtigt, zu behaupten, dass die Ein-
richtung der Findelanstalten die natürlichen Bande der Blutsverwandtschaft
und Familienzusammengehörigkeit zerreisse. Doch ist auch dieser Nachtheil
in Anbetracht der Rettung, Erhaltung und Erziehung so zahlreicher, sonst
leicht dem Verkommen preisgegebener Geschöpfe nicht allzu ernst zu nehmen.
— Und dies um so weniger, als mit dem System der geheimen Aufnahme
und des Geheimhaltens der Eltern für immer doch im Allgemeinen und mit
Recht gebrochen ist. Gänzlich ist dieselbe noch nicht aufgehoben. In
Russland, wo ebenfalls nur gegen Beibringung eines Geburtszeugnisses
Kinder in Findelanstalten aufgenommen werden, ist bei Erlag von 25 Rubeln
die Möglichkeit geboten, dieses in einem geschlossenen Couvert zu übergeben.
— Dass man das Geheimnis der unehelichen Mutter, so weit dies statthaft
ist, durch die Satzungen der Anstalt zu wahren sucht, finden wir für recht
und billig. (Näheres im Statut der niederösterreichischen Landes-Gebär-
und Findelanstalt § 13, 14, 31 etc.).
Die Findelanstalten waren und sind ausserdem Stätten des Studiums
für viele physiologische und pathologische Verhältnisse des Kindesalters,
denen wir sehr viele diesbezügliche Kenntnisse verdanken. Manche sind mit
Gebärkliniken verbunden, einige noch mit anderen (Annunciata mit vier).
Dass sie nebstbei das Publicum mit ärztlich geprüften Ammen versorgen,
nur nebenbei. Betrachtet man die Findelanstalten als Durchgangsstationen
für gesunde Säuglinge, als Pflegestätten für kranke, als Controlstätten für
die in Aussenpflege sich befindlichen Kinder, so ist, die besten hygienischen
Einrichtungen vorausgesetzt, in Anbetracht des meist traurigen Geschickes
der unbeaufsichtigten zahlreichen Kost- und Haltekinder, zumal in Verbindung
mit ebenso zweckmässig eingerichteten Gebäranstalten, im Interesse der Nach-
kommenschaft deren Vermehrung und Verbreitung zu wünschen, j. loos.
Fleischbeschau. Das Fleisch steht mit seinem grossen Nährwerthe,
den es infolge seines hohen Protein- und angemessenen Fettgehaltes besitzt,
sowie mit der Eigenschaft, unter den verschiedensten Formen zubereitet und
genossen werden zu können, mit Recht obenan unter den animalischen Nah-
rungsmitteln, namentlich der besser situirten Volksclassen. Es bildet dem-
entsprechend sowohl als solches, als auch in Form verschiedener Fleisch-
waaren und Conserven, einen sehr wichtigen Handelsartikel, bei dessen Ver-
werthung nicht selten getrachtet wird, minderwerthige oder werthlose, ja sogar
schädliche Waare unerlaubter Weise in den Verkehr zu bringen.
Solche Regelwidrigkeiten hintanzuhalten, das Fleisch consumirende
Publicum vor Uebervortheilungen und noch mehr vor Beschädigungen seiner
Gesundheit zu schützen, ist Aufgabe einer nach wissenschaftlichen Principien
functionirenden Fleischbeschau. Die Regelung derselben ist auf Grund der
modernen medicinischen Anschauungen theils bereits erfolgt, theils erst im Zuge,
und ist derzeit in den meisten Ländern ein besonders hiezu angestelltes
Sanitäts-Personale mit deren Durchführung beschäftigt.
Die Fleischbeschau bildet derzeit schon eine besondere medicinische
Disciplin, die in ihren Einzelheiten im Rahmen dieses Artikels nicht erschöp-
fend dargestellt werden kann, wozu aber hier auch keine Nothwendigkeit vor-
liegt, nachdem der Arzt sowohl als solcher, als auch als Sanitätsbeamter nur
mit einem Theile derselben in Berührung zu kommen pflegt.
Die Fleischbeschau zerfällt nämlich in ihrer praktischen Durchführung
in zwei, scharf getrennte Theile. Nachdem der Werth und die Beschaffenheit
des Fleisches in erster Reihe von der Gattung, dem Ernährungs- und Gesund-
heitszustande des betrejffenden Thieres abhängt, müssen diese Momente in
einem jeden einzelnen Falle nothwendigerweise strenge berücksichtigt und
auf ihren Einfluss eingehend geprüft werden. Dies hat unmittelbar vor und
252 FLEISCHBESCHAU.
nach der Schlachtung zu geschehen und dieser Theil der Fleischbeschau ist
jedenfalls der wichtigere, denn wo derselbe strenge durchgeführt wird, kann
zum Detailverkauf nur solches Fleisch gelangen, dessen entsprechender Werth
und Unschädlichkeit vorher, auf der Schlachtbank, bereits constatirt wurde.
Diese Aufgabe, zu deren Erfüllung ganz specielle Kenntnisse der Anatomie
und der Pathologie der Schlachtthiere nöthig sind, ist derzeit fast überall
Thierärzten oder hiezu besonders geschulten empirischen Fleischbeschauern
übertragen.
Die Controle des Fleischverkehres seitens der Aerzte beginnt gewöhnlich
mit dem Momente, wo das Fleisch den Schlachthof oder die Schlachtbank
verlässt, beziehungsweise als fertige Waare dem consumirenden Publicum
feilgeboten wird. Abgesehen von den kleinen Thieren, die auch im Ganzen,
jedoch auch da gewöhnlich ohne die wichtigsten inneren Organe, verkauft
werden, handelt es sich in der Regel nur um mehr -minder grosse Fleisch-
stücke, die bloss nach den ihnen anhaftenden Eigenschaften^ ohne Kenntnis
der Beschaffenheit der wichtigeren inneren Organe des betreffenden Thieres,
beurtheilt werden müssen. Eine eingehende Untersuchung des Fleisches
selbst ist, trotz der vorangegangenen thierärztlichen Untersuchung, umsomehr
geboten, als Fleisch auch postmortale Veränderungeu erleiden kann, die die
ursprünglich gesunde Waare eventuell zu einem schädlichen Nahrungsmittel
gestalten. Ausserdem wird aber die Untersuchung auf der Schlachtbank,
besonders auf dem Lande, nicht immer von gehörig geschulten Organen und
auch nicht immer in einwandsfreier Weise durchgeführt, wo dann eine Nach-
prüfung jedenfalls wünschenswerth erscheint. Endlich unterliegt von Aussen
zugeführtes Fleisch, sowie das Geflügel und das Wildpret, das vorher über-
haupt keiner Untersuchung unterzogen wurde, nothwendigerweise der sanitäts-
polizeilichen Controlle.
Die Gesichtspunkte, die für die Durchführung dieser Letzteren mass-
gebend sind, wollen wir, mit Rücksicht auf die Bedürfnisse des Arztes, im
Nachstehenden in Kürze erörtern."^)
Merkmale des Fleisches nach den Thiergattungen.
Die Gattung des Thieres bestimmt in erster Reihe den Marktwerth des
Fleisches. Dieser hängt namentlich vom Verhältnisse der Proteinsubstanzen,
der Fette und des Wassers zu einander ab, und dieses Verhältnis variirt
innerhalb weiter Grenzen je nach der Gattung der Schlachtthiere. Wird nun
hiebei auch die Schmackhaftigkeit der einzelnen Fleischarten, sowie die Vor-
liebe der Consumenten für gewisse Sorten, beziehungsweise ihre Abneigung
gegen einzelne derselben, in Betracht gezogen, so ergibt sich ohneweiters
die Nothwendigkeit, dass der Verkäufer stets die gewünschte, dem Markt-
werthe entsprechende Fleischsorte an die Abnehmer zu verabreichen habe
und ist es klar, dass die Unterschiebung nicht gewünschter Sorten eine Be-
nachtheiligung des consumirenden Publicums bedeutet, die auch im sanitäts-
polizeilichen Interesse hintangehalten werden soll.
Das Fleisch zeigt nun Verschiedenheiten, je nach der Thiergattung, die
zumeist auch dem minder geübten recht auffällig sind. Es gilt dies besonders
von der Farbe des Fleisches, die durch den sehr verschiedenen Hämo-
globingehalt der Muskelsubstanz bedingt ist, welch' letzterer jedoch auch mit
dem Alter und der Art der Ernährung zusammenhängt, derart, dass der-
selbe bei neugeborenen und bei ausschliesslich mit Milch genährten Thieren
*) Weitere Orientirung bieten die Handbücher der Fleischbeschau, wie:
OsTERTAG, Handbuch der Fleischbeschau. Stuttgart 1892.
Schmidt-Mülheim, Handbuch der Fleischkunde. Leipzig 1884.
Baranski, Anleitung zur Vieh- und Fleischbeschau. Wien und Leipzig 1887.
ViLLAiN ET Bascou, Manuel de l'inspecteur des viandes. Paris-Bruxelles 1886-
Complement hiezu v. J.
ELEISCHBESCHAÜ. 253
sehr gering ist, später aber, bei Trockenfütterung, stufenweise ansteigt.
Weiterhinist die Beschaffenheit des Fettes zu berücksichtigen, indem
dessen Farbe und Olemgehalt, somit die Consistenz und der Schmelzpunkt,
sehr verschieden sein kann. Endlich müssen die mit dem Fleische zusamraen-
häDgenden Skeletttheile in Augenschein genommen werden, und in zweifel-
haften Fällen können die anatomischen Unterschiede im Baue der einzelnen
Knochen ausschlaggebend sein. Diesbezüglich muss hier lediglich auf die
anatomischen Handbücher, sowie auf eine eigens zu Zwecken der Fleischbeschau
zusammengestellte Studie P. Martin's in der Zeitschrift für Fleisch- und
Milchhygiene (Bd. L, H. 5 — 11) verwiesen werden, während die sonstigen
Merkmale der hier in Betracht kommenden Fleischarten nachfolgend kurz
angeführt werden sollen.
1. Rindfleisch. Die Farbe variirt zwischen blassroth und dunkelroth;
Rinder mittleren Alters, sowie auch Kühe, haben ein schön bräunlichrothes,
derbfaseriges, elastisches Fleisch von gleichmässigem Glänze, während solches
von Bullen oder von alten Kühen stärker dunkelroth und zähe ist. Das je
nach dem Mastzustande in verschiedener Menge vorhandene Fett ist z. Theil
zwischen die Muskelfaserbündeln eingelagert, wodurch die Querschnittfläche
der Muskeln ein marmorirtes Aussehen erhält (bessere Sorte), oder es hat sich
nur im Unterhautbindegewebe, sowie unter den serösen Häuten in dickeren
Schichten angesammelt. Es hat eine weisse oder gelbliche Farbe (letztere
besonders bei älteren Thieren), ziemlich feste Consistenz und schmilzt bei
41—500 c (ca. 32% Olein).
Büffel haben ein ganz ähnliches Fleisch, nur ist das Fett oft von dunkler gelber
Färbung, und kann zuweilen am Fleische ein eigenartiger Moschusgeruch wahrgenommen
werden.
2. Kalbfleisch. Das Fleisch von über zwei Wochen alten Kälbern ist
zart rosaroth, elastisch, sehr fettarm; nur bei Mastkälbern hat sich stellenweise,
jedoch nicht zwischen die Muskelfaserbündel, Fett angesetzt. Letzteres ist
weiss, weicher als Rinderfett, erstarrt jedoch ebenfalls bei Zimmertemperatur.
3. Schaf-(Hammel-)Fleisch. Es ist gewöhnlich hellroth, eventuell bei
älteren Thieren mehr dunkelroth, von massig fester Consistenz. Fett ist
zwischen den Muskelbündeln entweder gar nicht, oder nur spärlich vorhanden,
hingegen unter der Haut und in der Bauchhöhle bei gemästeten Thieren in
erheblicher Menge angesammelt; es ist weiss, fest und schmilzt bei 41 — 52*^ C
(ca. 307o Olein).
4. Ziegenfleisch. Im Allgemeinen dem Hammelfleisch sehr ähnlich,
jedoch sehr fettarm und enthält auch das Unterhautbindegewebe nur sehr
wenig Fett, wohingegen die Nierenkapsel fast immer in ein dickes Fettlager
eingeschlossen ist. Das Fett ist rein weiss und noch fester, als jenes von
Schafen.
Sowohl dem Schaf- als dem Ziegenfleisch haftet, namentlich bei Böcken, ein speci-
fischer Geruch an, der für sich allein für die betreffende Thiergattung bezeichnend ist.
5. Schweinefleisch. Ist im Aussehen dem Kalbfleische ähnlich, jedoch
mit Fett stark durchwachsen, und ausserdem bildet letzteres mächtige Schichten
unter der Haut (Speck) und in der Bauchhöhle; es ist weiss oder schwach
gelblich gefärbt und schmilzt bei 40-5 — 48'' C, das Nierenfett bei 30'' C
(ca. 627o Olein).
Das bedeutend minderwerthige Fleisch von Ebern ist dunkelbraunroth und hat einen
eigenartigen Ebergeruch.
6. Pferdefleisch. Es ist grobfaserig, von dunkelbraunrother Farbe, die
an der Luft noch stark nachdunkelt und einen bläulichen Schimmer erhält,
Consistenz wenig fest, so dass kleine Fleischstückchen zwischen den Fingern
zerrieben werden können. Das Fett, das gewöhnlich nur unter der Haut (am
Bauche) und um die Bauchorgane abgelagert ist, während die Muskeln selbst
254 FLEISCHBESCHAU.
fettarm sind, ist entschieden gelb, weich, ölig, schmierig und schmilzt schon
bei 30—320 q (950/^ oiein).
Pferdefett hat ein hohes Jodabsorptions-Vermögen; seine Jodzahl ist
79.71 — 85.57 (gegenüber 49.74 — 58.45 bei Ochsenfleischfett). Es gilt dies auch für das
intramusculäre Fett, das mit Petroläther aus der Trockensubstanz isolirt werden kann.
Dem Pferdefleische entströmt, namentlich im frischen Zustande, ein eigenthümlicher
Pferdestallgeruch, der nach Zündel bei Zusatz von concentrirter Schwefelsäure noch
mehr hervortreten soll (Leysering und Bascou erhielten jedoch hiemit nicht immer zu-
treffende Resultate).
Endlich enthalten Pferdemuskeln relativ viel Glykogen, welcher Umstand dessen
Nachweis auch in gehacktem Fleische ermöglicht. Hierauf soll weiter unten bei Besprechung
der Fälschungen näher eingegangen werden.
7. Hundefleisch. Ist dunkelbraunroth, massig fest, etwas klebrig; das Fett,
besonders im Unterhautbindegewebe und in der Bauchwand in dickerer Schichte
angesetzt, weiss oder gelblich, von widerlichem Geruch, auffallend weich und
schmierig; schmilzt bereits bei 22.5*^ C.
8. Wildpret. Das Fleisch der im Freien wild lebenden Thiere ist ge-
wöhnlich dunkelbraunroth, wenig ausgeblutet und fettarm. Unterschiebungen
pflegen nur in der Richtung vorzukommen, dass Fleisch von gewöhnlichen
Schlachtthieren als Wildpret verwendet wird. Die wichtigsten Anhaltspunkte
bieten, ausser den anatomischen Differenzen, der höhere Blutgehalt und der
für die betreffende Thierart oft specifische Geruch des Fleisches.
Beschaffenheit des Fleisches nach dem Alter der Thiere.
Sowohl von gar zu jungen, als auch von sehr alten Thieren stammen-
des Fleisch ist als minderwerthig zu betrachten. Jenes von kaum einige
Tage alten Thieren hat vermöge seines hohen Gehaltes an Wasser und an
leimgebenden Substanzen einen sehr geringen Nährwerth, ausserdem ist es
aber nicht selten Träger schädlicher Substanzen wegen der im frühen Alter
nicht seltenen septischen Erkrankungen. Alte Thiere hingegen haben ein
sehr zähes, fettarmes, schwer verdauliches Fleisch.
Es sollten Kälber vor der dritten oder höchstens zweiten Woche, Lämmer,
Zicken und Ferkel vor Ablauf der ersten Woche überhaupt vom Consume
ausgeschlossen werden. Hingegen darf das Fleisch von alten, aber sonst ge-
sunden Thieren unter Declaration verkauft werden.
Nachdem junge Thiere gewöhnlich im Ganzen in den Fleischer-, bezie-
hungsweise Selcherläden gehalten werden, ist es möglich, auch hier das Alter
wenigstens annähernd zu bestimmen. Hauptsächlichste Zeichen derUn-
reife sind: An der Bauchwand noch hängender Nabelstumpf, beziehungsweise
noch klaffende Nabel wunde; offene Nabelgefässe und darin frische, der Gefäss-
wand nicht adhärirende Blutgerinnsel; lebhaft geröthetes Zahnfleisch; lebhaft
rothes Knochenmark. Das Fleisch selbst ist kaum etwas geröthet, feucht,
schlaff, schlitzig, fettlos und lässt sich mit dem Finger leicht durchstossen.
Der die Nieren umgebende Fettpolster ist gelblich oder schwach geröthet und
durchfeuchtet.
Jedesmal sollen die Nabelgefässe an der Bauchwand, sowie die Gelenke
behufs Constatirung einer eventuell vorhandenen pyämischen Erkrankung
eingehend untersucht werden (s. unten unter „Septikämie" und „Pyämie").
Geruch des Fleisches.
Gewisse Fleischarten haben einen eigenthümlichen Geruch, der von dem
gewöhnlichen, angenehmen Fleischgeruch differirt und für die betreffenden
Thierarten charakteristisch ist. Die Beschaffenheit dieser besonderen Gerüche
-lässt sich näher kaum definiren, und ist deren Erkennen jedenfalls nur durch
persönliche Uebung möglich.
Es sei hier nur darauf hingewiesen, dass schon das Schaf-(Hammel-)
Fleisch und noch mehr der Talg dieser Thiere, eigenthümlich riecht; ein
FLEISCHBESCHAU. 255
ähnliclier, jedoch schon widerwärtiger Geruch haftet aber dem Fleische der
Widder und noch mehr jenem der Ziegenböcke an, u. zw. in so hohem Grade,
dass solches Fleisch einzig aus diesem Grunde nicht als vollwerthig betrachtet
werden kann. Verschieden und für die betreffende Thierart ebenfalls speci-
fisch ist der Geruch des Fleisches von alten Ebern und von Spitzebern
(zuweilen gemahnt derselbe an Urin). Endlich entströmt dem Pferdefleische
und noch mehr dem Hundefleische ein eigenartiger Geruch, der beim
letzteren süsslich-eklich ist und in noch verstärktem Masse am Hundefette
wahrgenommen werden kann.
Ausser diesen, eigentlich normalen Gerüchen, kann das Fleisch, unabhängig von der
Thiergattung, abnorme Gerüche erhalten, die es widerwärtig, ekelhaft und darum für den
Consum unbrauchbar machen können. So kann Fleisch nach verschiedenen Arzneien,
wie Karbolsäure, Theer, Kampher, Aether, Asa foetida, Terpentin etc. riechen, wenn die
Thiere mit solchen Mitteln innerlich behandelt oder in stark riechenden B-äumen (z. B. stark
desinficirten Waggons oder Stallungen) gehalten worden sind, oder weil das Fleisch selbst
diese Gerüche wälirend der Aufbewahrung an sich gezogenhat. Weiterhin soll Fleisch von
Schafen, denen innerlich Schwefel verabreicht wurde, nach Schwefelwasserstoff riechen.
Die Fütterungsweise kann dem P'leische ebenfalls einen abnormen
Geruch verleihen. So hat Fleisch von Schweinen, die mit Fischen gefüttert
wurden, namentlich nach dem Kochen einen eigenthüm liehen Fischgeruch,
während das Fett beim Ausschmelzen zuweilen nach Thran riecht. Anhal-
tende Fütterung mit Spülicht kann dem Schweinefleische einen süsslich faden
Geruch verleihen. In südlichen Gegenden (Italien, Frankreich) hat man nach
Verfütterung des Bockshornes (Trigonella foenum graecum) einen höchst
unangenehmen, an Schweinemist erinnernden Geruch am Fleische wahrgenom-
men (Morot).
Mangelhaft ausgeblutetes Fleisch.
Fleisch kommt, mit Ausnahme des Wildpretes, stets in möglichst aus-
geblutetem Zustande in den Verkehr (die sogenannte englische Patent-Schlacht-
methode ohne Verblutung ist nur in einigen englischen Städten üblich). Blut-
leere des Fleisches kann wohl als zuverlässiger Bew^eis gelten dafür, dass im
betreffenden Thiere im Momente der Schlachtung die Nerven- und Herzaction
noch kräftig war. Hiemit im Gegensatze kann aus einem ungew^öhnlich hohen
Blutgehalte des Fleisches' darauf geschlossen werden, dass dem Thiere erst in
der Agonie oder sogar erst nach dem natürlichen Tode die Adern geöffnet
worden sind.
Nachdem am ausgeschroteten Fleische der Grund des zu späten Abste-
chens nur höchst selten nachgewiesen worden kann, und somit gefährliche
Krankheiten als Ursachen der Nothschlachtung stets zu gewärtigen sind, muss
nicht gehörig ausgeblutetes Fleisch stets als verdorbenes Nahrungsmittel be-
trachtet und als solches dem Consurae entzogen werden. Es gilt dies natür-
lich in noch höherem Masse vom Fleische von umgestandenen Thieren.
Mangelhaft ausgeblutetes Fleisch hat eine dunklere Farbe und sind die
Adern im intermuskulären Bindegewebe mit Blut gefüllt; aus dem Fleische
lässt sich eine grössere Menge dunkelrothen Blutes auspressen. Dabei sind
die Aponeurosen, sowie die serösen Häute, oft von einem zarten Netze stark
injicirter Kapillargefässe durchsetzt, das denselben eine von Weitem gleich-
massig röthliche Färbung verleiht. Noch mehr tritt der hohe Blutgehalt an
den inneren Organen (Lungen, Leber, Herzvorhöfe) hervor, ausserdem in
grösseren Venenstämmen, von denen besonders die Achselvenen besichtigt zu
werden verdienen.
Infolge des Blutreichthums geht das Fleisch rasch in Fäulniss (s. u.) über,
und nachdem das Blut, von dem die Zersetzung ausgeht, in den Fleischstücken
ziemlich gleichmässig vertheilt ist, tritt die charakteristische Verfärbung in
allen Theilen fast gleichzeitig auf, zu allererst aber am Rande der Schnitt-
flächen als ein Saum von trüber erdiger Farbe (Villain), sowie-in den Brust-
und Psoasmuskeln (Mandel).
256 FLEISCHBESCHAU.
Ab und zu wird versucht, das Blut aus dem Fleische durch Einlegen in fliessendes
Wasser zu entfernen. Es gelingt dies wohl mehr-weniger, jedoch ändert sich hiedurch auch
die Farbe der Muskulatur, indem dieselbe verblasst und zugleich die Fleischstücke ein
wässeriges Aussehen erhalten.
Fälschungen.
Im Fleischhandel finden Uebervortheilungen vor Allem in der Weise
statt, dass infolge ihres geringen Nährwerthes oder aus einem anderen Grunde
minderwerthige Fleischarten statt der gewünschten, höher bezahlten Sorten
dem Käufer angeboten werden. Namentlich wird getrachtet, Pferdefleisch als
Kindfleisch, seltener Ziegenfleisch als Hammelfleisch, und nur ausnahmsweise
Hundefleisch als Schweinefleisch zu verwerthen. Die Hintanhaltung solcher
unredlicher Manipulationen gelingt auf Grund der oben angeführten Merkmale
zumeist ohne Schwierigkeit.
Bedeutend schwieriger gestaltet sich die Unterscheidung des Fleisches
nach Körperregionen, wenn demselben die Knochentheile nicht mehr an-
hängen. Hiezu sind ganz eingehende praktische Kenntnisse der Muskelfor-
mationen nach Regionen, sowie des Skelettes nöthig, die wohl nur bei pro-
fessionsmässigen Fleischhauern, Selchern und Fleischbeschauern vorausgesetzt
werden können. Strittige Fälle werden sich daher nur unter Zuziehung solcher
Special-Experten lösen lassen.
Praktisch wichtiger ist die Beurtheilung der Fälschungen von Wurst-
fabrikaten, wobei zu denselben einestheils ungewohnte Fleischarten, anderer-
seits statt des Fleisches fremde Substanzen beigemischt werden. Es ist
namentlich das Pferdefleisch, das infolge seines niedrigen Preises statt
Schweine-, Rind- oder Kalbfleisch verwendet wird, wobei die Täuschung umso
leichter gelingt, als solche Beimischungen sich weder durch den Geschmack,
noch durch den Geruch bemerkbar machen. In Verdachtsfällen gelingt jedoch
der Nachweis von namhafteren Pferdefleischmengen in Fleischgemischen durch
die Feststellung des Glykogengehaltes derselben.
Schon früher hatte Limpricht Dextrin *), 0. Nasse Glykogen aus Muskeln verschie-
dener Thiere dargestellt, jüngstens aber hat Niebel nachgewiesen, dass letztere Substanz
in Pferdemuskeln in bedeutend grösserer Menge vorhanden ist, als im Fleische der übrigen
Schlachtthiere. Seine Untersuchungen zeigten nämlich, dass, während der Glykogengehalt
des Rindfleisches zwischen 0 und 0-204<'/o variirt, im Hammel- und Schweinefleische aber
kaum Spuren desselben nachzuweisen sind, Pferdefleisch 0-373 bis l*072''/o Glykogen enthält.
Die kleinsten im Pferdefleische gefundenen Werthe übersteigen daher die höchsten bei den
anderen Fleischarten erhaltenen Werthe, und ein Glykogengehalt von nahezu l^/o
oder darüber spricht entschieden für Pferdefleisch. Die diesbezüglich be-
stehenden erheblichen Differenzen **j ermöglichen demnach namhaftere Mengen von Pferde-
fleisch auch in Fleischgemischen nachzuweisen, mit Sicherheit jedoch nur dann, wenn die
Waare in noch ziemlich frischem Zustande zur Untersuchung gelangt, denn später wandelt
sich das Glykogen in Dextrin um.
Zur Reindarstellung, bez. quantitativen Bestimmung des Glykogen
dient gewöhnlich das von Brücke angegebene und von Kulz modificirte Verfahren.
Das zu untersuchende Material — bO g — wird mit 3 — 4% Aetzkali und dem 4 fachen
Wasservolumen auf dem Wasserbade 6—8 Stunden erhitzt, bis dasselbe vollständig zerkocht
ist. Nachdem die Flüssigkeit bis auf die Hälfte eingedampft und erkaltet ist, werden die
N-haltigen Substanzen durch abwechselnden Zusatz von Salzsäure und Quecksilberjodid-
Jodkahumlösung (Brücke's Reagens) gefällt. Alsdann wird der Niederschlag auf ein Filter
gebracht, das Filtrat nochmals durch Zusatz von Salzsäure und Quecksilber-Jodkalium-
lösung geprüft, ob auch sämmtliche N-haltigen Bestandtheile ausgefällt sind, der Rückstand
in einer Reibschale unter Zusatz von Salzsäure, Quecksilber- Jodkaliumlösung und Wasser
verrieben und wieder filtrirt. Letztere Operation wird so oft wiederholt, bis das Filtrat auf
Zusatz von Alkohol keine Trübung mehr erkennen lässt. Das Filtrat bildet alsdann ge-
wöhnlich eine klare und bei Anwesenheit von Glykogen opalescirende Flüssigkeit. Zeit-
weilig, speciell im Sommer, erscheint die Flüssigkeit etwas getrübt. Um dies zu ver-
meiden, setzt man, wenn die Flüssigkeit nach Zusatz von Salzsäure und Quecksilberjodid-
*) Niebel hat es nie nachweisen können, auch Limpricht nur in 3 Fällen.
**) Nur im Fleische von Kaninchen, Hunden und Katzen erreicht der Glykogengehalt
bis 0-9% (Nasse); relativ viel Glykogen, nach M. Donnell bis 50% der Trockensubstanz,
enthält ausserdem fötales (nüchternes) Kalbfleisch.
FLEISCHBESCHAU. 257
Jodkaliumlösung sich nicht klar abgesetzt hat, soviel Natron zu, dass die Mischung schwach
sauer reagirt, säuert darauf mit Salzsäure wieder etwas mehr an und filtrirt; alsdann ist
das Filtrat stets schön klar.
Zur Abscheidung des Glykogens wird das Filtrat unter Umrühren mit dem 2^/2-fachen
Volumen 90°/o-igen Alkohols versetzt und, nachdem das Glykogen sich abgesetzt hat," filtrirt.
Das Glykogen wird darauf mit 60, dann mit 9ü°/o-igem, schliesslich mit absolutem Alkohol,
mit Aether und wieder mit absolutem Alkohol gewaschen und nach dem Trocknen bei
110° C gewogen. So dargestellt, ist das Glykogen in der Regel frei von Stickstoff und
Asche, doch ist es nothwendig, sich davon jedesmal zu überzeugen.
Bedeutend weniger sicher ist der Nachweis des Pferdefleisches durch die Bestimmung
der vorhandenen Zuckermenge, bez. der reducirenden Substanz überhaupt, ob-
zwar hohe Werthe, ca. P/o der entfetteten Trockensubstanz diesbezüglich ebenfalls begrün-
deten Verdacht erregen (auch bei gepökeltem, gebratenem oder geräuchertem Fleisch). Neben
dem Gehalt an Glykogen, bez. an reducirenden Substanzen muss unbedingt auch die braun-
rothe Farbe des Objectes nachgewiesen werden, um den Einwand, dass der Gehalt an
Kohlehydraten durch (nüchternes) Kalbfleisch bedingt sein könne, auszuschhessen. Anderer-
seits genügt bei Vorhandensein der braunrothen Farbe auch schon der qualitative Nach-
weis von Glykogen zum Nachweise des Pferdefleisches (Niebel).
Zar IBestimmung des Zuckergehaltes werden 100 g des feingehackten
Fleisches, bez. Fleichgemisches mit der öfachen Menge Wasser 2 Minuten gekocht und
kolirt, der Rückstand mit Wasser gut verrieben, abgepresst und diese Operation noch
zweimal wiederholt. Die Flüssigkeit wird auf weniger als 100 can eingeengt, filtrirt und
das Filtrat, nachdem man es etwas alkalisch gemacht hat, auf 150 com gebracht. Zur
Titrirung erhitzt man 1 ccm FEHLiNc'scher Lösung mit 4 ccm Wasser und lässt von dem
Fleischauszuge bis zur Entfärbung zulaufen (Niebel).
Bräutigam und Edelmann behaupten, das Fleischwaare, deren Abkochung auf
Zusatz von Jodwasser eine Rothfärbung erfährt, im begründeten Verdachte stehe, Pferde-
fleisch zu enthalten. Die Zuverlässigkeit ihrer Methode, die vermöge ihrer Einfachheit in der
Praxis sehr werthvoll wäre, ist aber von Niebel in Abrede gestellt worden.
Beimischungen von Stärke- und Kartoffelmehl zu Würsten
sind ebenfalls als Fälschungen zu betrachten, jedoch nur dann, wenn ihre
Menge 2% der Wurstmasse übersteigt. Geringere Mengen werden nämlich
jetzt schon fast allgemein als Bindemittel verwendet bei der Herstellung ge-
wisser Wurstarten (sogen. Koch- oder Bratwürsten), um die Fähigkeit des
Fleisches, Wasser zu binden, zu erhöhen.
Die Anwesenheit von Stärke überhaupt lässt sich mit Leichtigkeit feststellen, einer-
seits durch die Jodreaction (die Schnittfläche wird mit LuGOL'scher Lösung betupft,
worauf blaue Färbung entsteht), anderseits u. z. sicherer durch den mikroskopischen Nach-
weis der Amylumkörner (concentrisch geschichtete Körperchen mit excentrisch gela-
gertem Kerne).
Dieser Nachweis genügt jedoch an sich nicht zur Feststellung des objectiven That-
bestandes der Fälschung, sondern es ist hiezu die quantitative Bestimmung der Stärke-
menge, bez. des durch Kochen mit Säuren aus der Stärke gebildeten, invertirten Zuckers
erforderlich. Bezüglich der hiezu geeigneten Methode muss hier auf die chemischen Hand-
bücher hingewiesen werden.
Das Färben des Fleisches und der Fleischwaaren, besonders
der Würste und des Hackfleisches, involvirt ebenfalls den Thatbestand der
Fälschung. Zumeist wird zwar hiebei nur der Zweck verfolgt, sonst weniger
entsprechendes Aussehen gefälliger zu gestalten, — was übrigens auch nicht
zu billigen ist, weil hiedurch der Marktwerth unbegründeter Weise gehoben
wird, — hie und da wird aber auch bereits verdorbene und darum allenfalls
schädliche Waare durch das Färben marktfähig gemacht. Die Unterscheidung,
bez. Erkennung des letzteren Umstandes ist aber im gegebenen Falle eben
durch diese künstliche Färbung unmöglich gemacht.
Als Färbemittel werden gewöhnlich schon in hochgradiger Verdünnung stark
rothfärbende Substanzen, namentlich Anilinroth oder Fuchsin, sowie Cochenille, bez. Karmin
(im Handel „Karnit") benützt. Nachdem Fuchsin im Aethyl- oder Amylalkohol, Karmin
aber in Glycerin (Klinger und Bujard), sowie auch in Ammoniak enthaltendem Alkohol
(Petsch) leicht löslich ist, lassen sich die genannten Farbstoffe leicht nachweisen. In der
Praxis dürfen Fleisch- und Wurstwaaren, die mit Alkohol, bez. Glycerin oder ammoniak-
haltigem Alkohol behandelt, diese roth färben, getrost beanstandet und der weiteren che-
mischen Untersuchung überwiesen werden.
Das Aufblasen des Fleisches durch Einpressen von Luft in die
Maschen und Lymphräume des subcutanen und intermuskulären Bindegewebes,
BJbl. med. "Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 17
258 FLEISCHBESCHAU.
verfolgt den Zweck, fettarmer Waare das Aussehen gemästeter Waare zu ver-
leihen, indem die weiss schimmernden Luftbläschea den Eindruck von Fett-
klümpchen machen und gleichzeitig die Waare voluminöser erscheint. Es
handelt sich somit um eine Benachtheiligung des Käufers, indem ihm für
einen höheren Preis in Wirklichkeit minderwerthiges Fleisch als gemästetes
und daher vollwerthiges abgegeben wird. Aufgeblasenes Fleisch ist aber auch
aus dem Grunde im Fleischerladen zu beanstanden, weil die Untersuchung
der Fleischwaare nicht festzustellen vermag, ob die Luft aus einem reinen
oder unreinen Blasebalge oder aber aus dem Munde und den Athmungsorganen
eines, möglicherweise kranken, Menschen herstammt.
Aufgeblasenes Fleisch ist als solches unschwer zu erkennen. Die schil-
lernde, glänzende Schnittlääche des Bindegewebes ist schon geeignet, den Ver-
dacht diesbezüglich zu erwecken, ausserdem aber lässt sich das hier schwam-
mige Gewebe, durch Verdrängen der Luftblasen, leicht zusammenpressen,
wobei oft auch ein leises Knistern zu fühlen ist.
Postmortale Veränderungen des Fleisches.
Unter den Veränderungen, die das Fleisch während des Aufbewahrens
erleiden kann, ist die Fäiifiiiss ohne Zweifel die wichtigste. Das Fleisch
bietet vermöge seiner chemischen Zusammensetzung einen überaus günstigen
Boden für die Ansiedelung von Spalt- und Schimmelpilzen, die dann, bei
günstiger Temperatur und Feuchtigkeit, Zersetzungsprocesse hervorrufen, die
unter dem Sammelnamen „Fäulniss" zusammengefasst werden.
Nachdem das Fleisch während der Ausschrotung in verhältnismässig
hoch temperirten Räumen autbewahrt wird, so geht dasselbe, bei nicht ge-
nügend raschem Absätze, leicht in Fäulnis über und kommt daher der Sanitäts-
beamte gar nicht selten in die Lage, dieselbe an Fleischwaaren constatiren zu
können. Eine richtige Erkennung der Fäulniss ist aber aus dem Grunde von
hoher Wichtigkeit, weil unter den chemischen Fäulnissproducten einige giftiger
Natur sind und der Genuss zersetzten Fleisches die unter den Namen Allan-
tiasis und Botulismus bekannten schweren Erkrankungen zur Folge haben
kann.
Das Fleisch erleidet nun in Folge der F'äulniss Veränderungen, die zum
Theil auch in objectiver Weise festgestellt werden können. Die hauptsäch-
lichsten Merkmale der Fäulniss sind:
1. Der eigenthümliche, anfangs süssliche oder säuerliche, später aashaft
stinkende Geruch, der auch bei geringer Uebung als solcher zu erkennen
ist. Derselbe macht sich bereits im Anfangsstadium der Fäulniss bemerkbar,
wo das Fleisch noch ein vollkommen entsprechendes Aussehen haben kann.
Es trifft dies besonders für grössere Fleischstücke zu, die auch Knochen ent-
halten, nachdem die Fäulniss oft eben vom bluthaltigen Knochenmarke aus-
gehend, in den tieferen, dem Knochen unmittelbar anliegenden Schichten
zu beginnen pflegt.
2. Die Verfärbung undErweichung des Fleisches ist gewöhnlich
nur im bereits etwas vorgeschrittenen Stadium der Fäulniss bemerkbar. Mit
der Zersetzung der Muskelsubstanz erhält nämlich deren mehr-weniger ge-
sättigte rothe Farbe einen Stich in's Graue, bez. Grünliche (die grüne Färbung
ist besonders charakteristisch); ausserdem verliert die Muskulatur zugleich
den gleichmässigen Glanz und hat überhaupt ein schmutziges Aussehen. Die
schmutziggraue, bez. grüne Färbung tritt vielleicht noch mehr am Binde-
gewebe und namentlich dort hervor, wo dieses die markhaltigen Knochen um-
fasst. Mit Rücksicht auf den letzteren Umstand müssen in Verdachtsfällen
recht tiefe, bis an den Knochen heranreichende Einschnitte gemacht, allenfalls
auch die Knochen gespalten werden.
FLEISCHBESCIIAÜ. 259
Gleichzeitig verlieren die Muskeln ihre Elasticität, werden schlaff, weich,
später schmierig; zwischen den Fingern gedrückt, sickert eine schmutzig
braune, klebrige Flüssigkeit hervor, die bei vorgeschrittener Fäulniss auch
Gasblasen enthält.
Das Fett erhält ebenfalls eine schmutziggraue oder gelbe, event. grün-
liche Färbung, wird weicher und lässt sich mit den Fingern leicht ver-
schmieren, was namentlich bei jenen Fleischarten auffällt, deren Fett sonst fest
und starr zu sein pflegt; auch verbreitet fauliges Fett einen eigenthümlich
ranzigen Geruch.
Ist die Fäulniss bereits sehr vorgeschritten, so hat sich dessen Ober-
fläche mit einer schlickrigen, klebrigen Schichte bedeckt, in der sich auch
Schimmelpilze und im Sommer oft auch Fliegenmaden anzusiedeln pflegen
(die Anwesenheit der Letzteren beweist jedoch für sich allein noch nicht die
Fäulniss).
Weichheit und Schlaffheit, neben unangenehmem Geruch und widerlichem Geschmack,
sind auch beim Speck Zeichen eines ungesunden Zustandes.
3. Alkalische Reaction der Muskelsubstanz. Während das
Fleisch in der Todtenstarre und auch später, so lange es frisch ist, eine
saure Reaction besitzt (Milchsäure!), schlägt dieselbe, infolge Auftretens von
Ammoniak als Fäulnissproduct, in die alkalische um. Die Alkalescenz, die
durch Aufdrücken eines Streifens Lackmuspapier auf die Schnittfläche des
Fleisches leicht nachgewiesen werden kann, ist somit ein sehr werthvolles,
objectiv festzustellendes Merkmal der Fäulniss, es gelingt jedoch deren Nach-
weis nur in bereits vorgeschritteneren Stadien der fauligen Zersetzung. (Es
handelt sich hier natürlich um die Reaction der nicht geräucherten und nicht
gepökelten Muskelsubstanz).
4. Auftreten von freiem Ammoniak im Fleische (Eiweiss) ist, im
Falle dessen Nachweis gelingt, an und für sich entscheidend für die Consta-
tirung der Fäulniss. W. Eber hat hiezu folgende praktische Methode em-
pfohlen:
In ein gewöhliches Reagensglas oder ein cylindrisches Glasgefäss überhaupt wird von
der Reagensflüssigkeit soviel geschüttet, dass der Boden bis zu einer Höhe von ca 1 cm
bedeckt wird. Das Reagens selbst besteht aus je 1 T. conc. Salzsäure und Aether sulf.,
und 3 T. Alkohol. Nachdem das mit dieser Flüssigkeit beschickte Glas einmal umge-
schüttelt und dadurch die Wandungen angefeuchtet wurden, wird ein kleines Stückchen
des zu untersuchenden Fleisches (oder Wurstmateriales) an das Ende eines Glasstabes ge-
klebt, rasch und ohne Berührung der Wand in das Glas so eingeführt, dass dessen unteres
Ende ca 1 cm von dem Flüssigkeitsspiegel entfernt bleibt.
Die aus der Reagensflüssigkeit aufsteigenden Cblorwasserstoff-Alkohol-Aether-
Dämpfe bilden bei Anwesenheit von Ammoniak einen mehr-weniger dichten Nebel, der die
Probe umhüllt, allmählig den Glascylinder erfüllt und später sich an der Wand desselben
als weisser Belag niederschlägt. Die Probe muss in einem ammoniakfreien Räume aus-
geführt werden und soll die Temperatur des Untersuchungsobjectes, des Reagensglases und
des Glasstabes möglichst gleichförmig sein.
Der Eintritt der Fäulniss hängt natürch von der Temperatur und
der Feuchtigkeit des Raumes ab, in welchem das Fleisch aufbewahrt wird; zu
warme, schlecht ventilirte und unreine Localitäten eignen sich darum nicht
zu diesem Zwecke.
Das Fleisch selbst geht desto früher in Fäulniss über, je weniger con-
sistent und je blutreicher es ist. Aus diesem Grunde verdirbt verhältnis-
mässig rasch das Fleisch von umgestandenen oder nothgeschlachteten und
nicht gehörig ausgebluteten Thieren; ausserdem Hammelfleisch und Schweine-
fleisch, namentlich in den Partieen um das Becken und die Nieren herum,
während das Fleisch der grösseren Schlachtthiere länger der Fäulniss
"widersteht.
Noch rascher als im Fleische tritt die Fäulniss in den stets mehr Blut
enthaltenden parenchymatösen Organen ein. Die Leber, die Nieren
17*
260 FLEISCHBESCHAU.
und das Gehirn haben ganz besonders eine geringe Haltbarkeit. Die ersteren
werden dabei brüchig und erhalten eine verschwommene braunrothe oder
schmutzig grünliche Färbung, die die normale Zeichnung der Schnittfläche
verdeckt. Die Gehirnmasse erscheint schmutzig röthlich, wie blutig durch-
tränkt, wird sehr weich, breiartig und verbreitet einen äusserst widerlichen
Geruch.
Die mikroskopische Untersuchung der Fleischwaaren hat bei der Constatirung
der Fänlniss weniger Bedeutung. Zu derselben eignet sich besonders der aus den ver-
dächtigen Fleischstücken ausgepresste, hier schmutzigröthliche Muskelsaft, der von ver-
schieden geformten Bakterien geradezu wimmelt und ausserdem feine Detrituskörner und
Fetttröpfchen enthält. Aehnlich ist der Befund in der erweichten Muskelsubstanz, wobei
in den Muskelfasern die Querstreifung vollkommen geschwunden oder nur mehr stellen-
weise erhalten ist.
Hinsichtlich des Bakterienbefundes ist zu berücksichtigen, dass die bei der Fäulniss
vorkommenden Bakterien (die häufigsten sind Proteus-Arten) zum grössten Theile an sich
nicht pathogen sind. Kraus hat im Beginne der Fäulniss, bei noch frischem Aussehen
des Fleisches, fünf Bakterien arten aus den tiefergelegenen Schichten ausgezüchtet, von
denen sich keine als pathogen erwiesen hat. Von den pathogenen Spaltpilzen sind zu
nennen: der GÄRTNER'sche Bacillus und die GAFFKY-PAAK'schen Wurstbacillen.
Unter Umständen lassen sich an der Oberfläche, ja selbst im Innern des Fleisches,
auch Schimmelpilze nachweisen.
Wurstwaaren gehen, vermöge ihres höheren Wassergehaltes und ihres
lockereren Gefüges, unter nur halbwegs günstigen Umständen rasch in Fäul-
niss über. Namentlich gilt dies für die gekochten Würste, die nicht immer
gehörig durchgewärmt und später oft nicht genügend abgekühlt werden.
Durch die Fäulniss wird die Consistenz der Würste stets weicher, oft
schmierig, zuweilen an der Oberfläche schimmelig; unter der Haut und an
der Oberfläche bilden sich oft Blasen; die Schnittfläche ist missfärbig,
schmutzig röthlich, die der betreffenden Wurstart eigenthümliche Zeichnung
verschwommen; eingelagerte Speckstücke erhalten eine grünlichgelbe Färbung;
endlich riechen faulige Würste stets sehr widerlich.
Fauliges Fleisch und noch mehr faulige Würste verursachen vermöge
der in ihnen während der Fäulniss gebildeten chemischen Gifte (Ptomaine)
sehr leicht schwere Vergiftungen; schon die geringsten Grade der Fäulniss
motiviren daher den Ausschluss der Waare vom Consume.
Das häufige Grauwerden der Würste kann durch zu hohen Wassergehalt, durch
Fehler beim Austrocknen oder Räuchern oder durch Verwendung schlechter Gewürze (ver-
ändertes Pfefferöl) verursacht sein (Falk und Oppermann), wobei allenfalls auch eine
Bacillen-Infection (Bac. mesentericus) im Spiele sein kann (Serafijmi).
Weitere postmortale Veränderungen des Fleisches sind:
Verfärbungen der Oberfläche, durch Ansiedlung verschiedener
farbstoffproducirender Bacterien bedingt. Am häufigsten kommen rothe
Flecken zur Beobachtung, die Culturen des Bac. prodigiosus darstellen;
seltener sind blaue Flecken, durch den Bacillus der blauen Milch verursacht.
Leuchtendes Fleisch erhält diese Eigenschaft ebenfalls von der
Ansiedlung gewisser Spaltpilze. Das Leuchten tritt an in feuchten dumpfen
Localitäten aufbewahrten Fleisch- oder Wurstwaaren nur im Dunkeln hervor,
wobei das Fleisch selbst, abgesehen von der etwas schlickrigen Oberfläche,
noch ganz gesund erscheinen kann, ja es verschwindet das Leuchten stets
mit dem Eintritte der Fäulniss.
Obzwar weder von den färbigen, noch von den leuchtenden Bacterien
irgendwelche schädliche Eigenschaften bekannt sind, muss damit behaftetes
Fleisch, wenigstens in den oberflächlichen Schichten, als ein verdorbenes
Nahrungsmittel betrachtet werden.
Gefrorenes Fleisch ist daran zu erkennen, dass es an der nur
halbwegs feuchten Aussenluft eine feuchte, schmierige Oberfläche erhält und
dass die durch Abschaben der Oberfläche gewonnenen rothen Blutkörperchen
entfärbt und deformirt sind. Ausserdem erhält das gewöhnlich schwach
FLEISCHBESCHAU. 261
grünlich gefärbte Serum unregelnicässige gelblich-braune Hämoglobin-Krystalle,
die häufig schon mit blossem Auge, sicherer aber bei einfacher mikroskopischer
Untersuchung sichtbar sind (Maljean).
Endlich kann Fleisch und innere Organe während der Schlachtung durch
den Inhalt des Magens oder der Gedärme besudelt werden. Dies ist
aus den anhaftenden Futter- oder Kothpartikelchen zu erkennen, wobei auch
der eigenthümliche Geruch dieser Stofte dem Untersuchenden zu Statten
kommt. Halbverdaute Futterstoffe sind zuweilen in den Bronchien der Lungen
enthalten, wohin sie während des rituellen Schächtens hinein zu gelangen
pflegen.
Wildpret unterliegt derselben Auffassang wie sonstiges Fleisch, d. h. es stellt in
fauligem Zustande ein verdorbenes Nahrungsmittel dar. (Haut-gout ist nicht so sehr
ein Resultat der gewöhnlichen Fäulniss, als vielmehr einer Art sauren Gährang [Eber]).
Krankheiten des Fleisches.
Von den mannigfachen Erkrankungen der Schlachtthiere, die das Fleisch
derselben zum menschlichen Genüsse ungeeignet machen oder dessen Markt-
werth herabsetzen, sind es verhältnissmässig nur wenige, die durch die Unter-
suchung des Fleisches selbst erkannt werden können. Eben die gefährlichsten
Krankheiten, die verschiedenen Formen der Septikämie und die septischen
Intoxicationen, bewirken gar keine oder nur wenig auffällige Erkrankungen
in der Muskelsubstanz.
Doch kann auch eine gewissenhafte Controlle des Fleischverkehrs in den
Fleischläden und auf den Marktplätzen Vieles beitragen zum Schutze des
fleischconsumirenden Publikums, namentlich dort, wo die Beschau der Schlacht-
thiere nicht Fachmännern, sondern Empirikern anvertraut ist. Die wichtigsten
Erkrankungen des Fleisches sollen im Nachstehenden angeführt werden.
A) Thierische Parasiten.
Finnen. Es kommen hier besonders zwei Arten in Betracht, u. z. der
Blasenwurm der Taenia mediocannelata, der Cysticercus inermis im Piindfleische
und jener der Taenia solium, der Cysticercus cellulosae, im Schweinefleische.
Beide Blasenwürmer sind rundliche oder längliche, grau durchscheinende Bläschen
bis zur Grösse einer Erbse, die im Fleische zwischen den Muskelfasern, im interstitiellen
Bindegewebe, eingebettet sind. Sie lassen sich gewöhnlich leicht mit der Messerspitze aus-
heben und werden sie dann zwischen den Fingern gedrückt, so tritt aus der Blase der
darin eingestülpt gewesene Scolex mit dem feinen Halse hervor.
Wird nun die Blase zwischen dem Objectträger und Deckgläschen oder zwischen
zwei Objectträgern massig gedrückt und das Präparat unter das Mikroskop gebracht, so
kann die Diagnose durch den Nachweis des Scolex und des zartgerippten Halses vollends
gesichert werden. Der Scolex ist bei beiden Finnen mit vier kreisrunden Saugnäpfen ver-
sehen und jener der Schweinefinne trägt hinter dessen Spitze einen gut sichtbaren, doppelten
Hakenkranz von je 12 — 14 Haken.
Die Zahl der Finnen wechselt, besonders beim Schweine, innerhalb sehr
weiter Grenzen. Während in schweren Fällen das Fleisch von den Blasen
wie durchsäet erscheint, gelingt es vereinzelte Finnen nur durch Anschneiden
und sehr sorgfältige Prüfung der Muskeln nachzuweisen. Lieblingssitze der
Rinderfinne sind die Kaumuskeln und der Herzmuskel; solche der Schweine-
finne: die Bauchmuskeln, die muskulösen Theile des Zwerchfelles, die Zunge,
das Herz, die Kau-, Zwäschenrippen- und Nackenmuskeln, die Einwärtszieher
der Hinterschenkel und die Brustbeinmuskeln, so ziemlich in der angeführten
Reihenfolge (Ostertag); viel seltener sind sie in den inneren Organen und
in den serösen Körperhöhlen anzutreffen.
Bedeutend schwieriger gestaltet sich der Nachweis der Finnen in zer-
kleinertem Fleische und in Würsten. Es gelingt zwar ab und zu in der
durchmusterten Waare schon mit freiem Auge einzelne Finnen zu erblicken,
die dann noch mikroskopisch untersucht werden können, doch erheischt eine
solche Untersuchung, wenn ein glücklicher Zufall nicht an die Hand geht,
262 FLEISCHBESCHAU.
viel Zeit und Geduld und ist ein negatives Resultat nur wenig beruhigend.
Mehr Erfolg verspricht das von Schmidt-Mülheim vorgeschlagene nach-
folgende Verfahren:
Eine kleine Fleischprobe wird mit künstlichem Magensaft (0'5°/(,ige Salzsäure mit
etwas Pepsin-Glycerin vermischt) mehrere Stunden hindurch bei häufigem Umrühren bei
40° C. digerirt. Es werden nun die Fleischtheile und die Blasen der etwa vorhandenen
Finnen verdaut, während die Ammen und die Haken auf den Boden des Gefässes herab-
sinken, das Fett aber sich auf der Oberfläche der Flüssigkeit ansammelt. Die Ammen,
die schon mit freiem Auge als reiskorngrosse weisse Körper kenntlich sind, können dann
nach dem Abgiessen der Flüssigkeit hervorgeholt und unter das Mikroskop gebracht werden.
Finniges Fleisch darf in rohem Zustande höchstens unter Declaration
verkauft werden; zweckmässiger ist es, dasselbe vorher im Wasserbade bis zu
70° C. durchzuwärmen und in gekochtem Zustande zu veräussern. Von sehr
zahlreichen Finnen durchsetztes Fleisch sollte, da dann auch die Muskulatur
ödematös zu sein pflegt, überhaupt nicht zum Consum zugelassen werden.
Tricliinen. Im Fleische der Schweine, überaus selten bei den übrigen
Schlachtthieren, kommt die jugendliche Form (Muskeltrichine) der im Darme
derselben Thiergattung lebenden Trichina spiralis (Darmtrichine) vor.
Die Muskeltrichine ist ein sehr feiner, 0'6— l'O mm langer Rundwurm, mit vorderem
spitzen und hinterem etwas dickerem und abgerundetem Ende; in der vorderen Körper-
hälfte befindet sich der von einer Reihe rundlicher Zellen, dem sogenannten Zellkörper
umgebene, zarte Schlund.
Die Muskeltrichinen sind anfangs in dem interstitiellen Bindegewebe der Muskeln
oder im Innern der Sarkolemmaschläuche einzelner Muskelfasern, zumeist in mehr weniger
gestreckter Lagerung anzutreffen; die contractile Substanz der ergriffenen Fasern, geht
schon frühzeitig durch Entartung und Schwund zu Grunde. Später, circa 3 — 4 Wochen
nach der Ansteckung, haben sie sich in dem entsprechend ausgebuchteten Sarkolemma-
schlauche spiralig zusammengerollt und noch später hat sich um dieselben eine ge-
schlossene Kapsel gebildet, in die sich im weiteren Verlaufe Kalksalze ablagern.
Im Schweinefleische werden in den weitaus meisten Fällen solche ein-
gekapselte Trichinen angetroffen. Sie sind an der charakteristischen, citroneii-
förmigen, an den beiden verjüngten Polen abgerundeten Kapsel, die die be-
nachbarten Muskelfasern auseinandergedrängt hat, unter dem Mikroskope
leicht zu erkennen. Bis zu circa einem ^4 — V2 Jahre nach der Einwanderung
lässt sich in der Kapsel auch die spiralig zusammengerollte junge Trichine
wahrnehmen, während dieselbe später durch die Kalkschichte mehr-weniger
verdeckt wird.
Verkalkte Trichinenkapseln sind zwar auch schon mit freiem Auge als
äusserst feine, weisse, im durchfallenden Lichte dunkle Pünktchen kenntlich,
jedoch kann ihr eigentliches W^esen ausschliesslich mit Hilfe des Mikroskopes
festgestellt werden. Letzteres ist umso weniger zu entbehren, als in geringer
Zahl vorhandene Kapseln sich überhaupt dem freien Auge entziehen.
Zur mikroskopischen Untersuchung sind etwa bohnengrosse Probestückchen
von dem zu untersuchenden Fleische mit einer gebogenen Scheere zu entnehmen. Liegt
ein ganzes oder ein halbes Schwein vor, so ist es rathsam, hiezu besonders die Zwerchfell-
pfeiler, den Zwerchfellmuskel, die Zwischenrippenmuskeln, die Bauchmuskeln, die Kehlkopf-
muskeln und die Zungenmuskeln zu wählen. Handelt es sich um die Untersuchung
einzelner Fleischstücke, Schinken, Würste etc., so sind die Proben stets von mehreren
Stellen auszuschneiden.
Aus den Proben werden hanfkorngrosse Stückchen, unter Zusatz eines Tropfens
Wasser, zwischen zwei Objectträgern plattgedrückt und so auf den Objecttisch eines
Mikroskopes gebracht (circa öOfache Vergrösserung genügt). Besonders eignen sich hiezu
die sogenannten Compressorien von Naake, Oelttasch oder Wächter, die aus zwei auf
einander passenden Glasplatten bestehen, die mittelst zweier Schrauben aneinander genähert
werden können; es können zwischen diese Platten auf einmal 24, beziehungsweise 36 Präparate
eingelegt werden.
Handelt es sich um bereits älteres, trockenes Fleisch, so ist ein Zusatz von l^/oiger
Essigsäure, bei geräuchertem Fleisch oder Würsten aber ein solcher von 10%iger Kalilauge
zweckmässig. Im Falle die Kapseln, weil verkalkt, im durchfallenden Lichte schwer er-
scheinen, können die Salze durch Essigsäure gelöst und so die umhüllten Trichinen
sichtbar gemacht werden.
FLEISCHBESCHAU. 263
Trichinöses Fleisch wird, wegen der Schwere der Infection für den
Menschen, allerwärts stets vom Consume bedingungslos ausgeschlossen,
obgleich ein Erwärmen auf 70" C. oder das Durchkochen die Trichinen ganz
sicher abtödtet.
Psorosperniien. Die auch unter dem Namen MiESCHER'sche Schläuche
oder RAiNEY'sche Körperchen bekannten Psorospermien-Gruppen, die in
Muskeln von Schweinen, Rindern und Schafen, besonders in jenen des
Schlundes, des Kehlkopfes und des Zwerchfelles gar nicht so selten vor-
kommen, haben wegen ihrer Unschädlichkeit eine nur sehr geringe Bedeutung.
Es sind dies längliche, zuweilen ovale oder auch rundliche Körper, die aus einer
zarten Umhüllungsmembran und darin eingeschlossenen kipfel- oder nierenförmigen, kleinen
Körperchen, den eigentlichen Psorospermien bestehen. Die Schläuche sind innerhalb des
Sarkolemmas, in der contractilen Substanz der Muskelfasern eingebettet und letztere ist
noch als ein feiner quergestreifter Saum beiderseits zu erkennen. Die abweichende Form,
der körnige Inhalt bei schwacher Vergrösserung und das normale Aussehen des un-
mittelbar angrenzenden Muskelplasmas, unterscheidet diese Schläuche von den Trichinen-
kapseln.
Blasenwürmer. Wenig Bedeutung kommt hier den sonstigen Blasenwürmern zu,
als welche zu nennen sind:
Cysticemis tenuicollis, der Blasenwurm der im Hunde lebenden Taenia marginata,
kann die Grösse eines Apfels erreichen; der hervorgestülpte Kopf hat einen langen zarten
Hals. Kommt nur im losen Bindegewebe unter dem vorgewölbten Bauchfelle und dem
Brustfelle der "Wiederkäuer vor und kann, besonders dem Netze und dem Gekröse an-
haftend, zuweilen auch in der Fleischbank gefunden werden.
Cysticercus pisiformis, der Blasenwurm der T. serrata des Hundes, ist der Schweine-
finne sehr ähnlich, nur an einem Pole etwas zugespitzt. Kommt am Bauchfelle von Hasen
und Kaninchen vor.
Coenurus cerebralis, der Blasenwurm der T. coenuriis des Hundes, bildet bis apfel-
grosse Blasen, deren Wand innen mit zahlreichen Kopfanlagen besetzt ist. Kommt im
Gehirne von Schafen, zuweilen aber auch im Rückenmarke vor.
Echinococcenblasen. Diese Blasenwürmer (Echinococcus polymor'pJius) der im
Hunde lebenden T. Echinococcus, kommen im Fleische nur ausnahmsweise und in geringer
Grösse vor, während sie in inneren Organen, namentlich aber in der Leber und den
Lungen, bei den Schlachtthieren einen überaus häufigen Befund bilden und hier einen sehr
ansehnlichen Umfang erreichen können. Sie bestehen aus einer doppelten, nach aussen
bindegewebigen, nach innen chitinösen gallertigen Wand, welch' letztere sich leicht ablösen
lässt und hiebei sich zusammenrollt, unter dem Mikroskope aber einen feingeschichteten,
lamellösen Bau zeigt. Zuweilen sind an ihrer Innenfläche stecknadelkopfgrosse Taenien-
kapseln zu sehen, oder sie schwimmen frei in der von der Blasenwand eingeschlossenen,
wässerigen, gelblichen Flüssigkeit herum. In der Entwicklung stehen gebliebene Blasen
wandeln sich nach theilweiser Resorption der Flüssigkeit in käsige oder mörtelige Knoten
um, in deren Masse noch Theile der Blasenwand mit streifiger Schichtung und Haken
mit dem Mikroskope nachgewiesen werden können.
Fleisch mit Echinococcusblasen ist für den Menschen nicht schädlich, es genügt, sie
mitsammt der nächsten Umgebung auszuschneiden und zu vernichten; mit solchen Blasen
besetzte innere Organe werden am besten im Ganzen verworfen.
Distomen. Trematoden in der Muskulatur, beziehungsweise im Fleische,
bilden überhaupt sehr seltene Vorkommnisse, während zwei Arten derselben:
dasDistomum hepaticum und das Distomumlanceolatum, sehr häufig
in der Leber und nicht selten auch in den Lungen der Schlachtthiere anzu-
treffen sind. Das erstere hat eine blattähnliche Form und ist circa 16 — 40 mm
lang, 6 — 12 mm breit. Das letztere, seltenere, ist einer Lanzette ähnlich
und hat eine Länge von nur 4 — 8 mm, eine Breite von nur 1-0— 2*5 ww;
für beide sind ausser der Form noch die zwei Saugnäpfe am vorderen
Leibesende charakteristisch.
Nach Entfernung der Egel mitsammt der nächsten Umgebung kann das
Fleisch freigegeben werden, während mit solchen behaftete innere Organe,
sobald an ihnen entzündliche Veränderungen wahrzunehmen sind, vom Con-
sume ausgeschlossen werden sollen.
Ausser den genannten kommt noch, in sehr seltenen Fällen, das sogenannte
Muskeldistom um im Schweinefleische, namentlich in den Zwerchfellpfeilern und den
264 FLEISCHBESCHAU.
Kehlkopfmuskeln, vor. Es ist auf den ersten Blick einer eingekapselten Trichine nicht
unähnlich und hat auch so ziemlich dieselbe Grösse ; es liegt jedoch zwischen den Muskel-
fasern, lässt im Inneren die halbmondförmigen Magenschläuche leicht erkennen und kann
im frischen Zustande auch eine wurmförmige Bewegung an demselben wahrgenommen
werden.
Oestruslarven. Dieselben, von glasheller oder gelblicher Farbe,
5 — 10 mtn lang, 2 — 3 mm breit, kommen besonders in der Zeit vom December
bis März, zuweilen in grösserer Zahl im Wirbelcanal von Rindern vor, sind
aber hier, inmitten des Fettgewebes nur bei genauem Nachsehen zu finden.
Eine Bedeutung kommt dem Befunde nur in jenen seltenen Fällen zu, wo
das Fettgewebe und das Bindegewebe des Rückgrates in der Umgebung
wässerig durchtränkt ist und das Fleisch infolge dessen ein unappetitliches
Aussehen hat.
B) Pflanzliche Parasiten.
Spaltpilze. Die grösste Bedeutung kommt den Spaltpilzen zu, nachdem
durch gewisse Arten derselben, beziehungsweise durch ihre chemischen Stoff-
wechselproducte, die schwersten Erkrankungen beim Menschen im Wege des
Fleischgenusses verursacht werden können. Ganz frisches gesundes Fleisch
enthält im Innern, sowie auch das in den tiefer gelegenen Adern etwa vor-
handene wenige Blut, keine Spaltpilze. Ihr Vorhandensein daselbst spricht
daher dafür, dass sie entweder schon bei Lebzeiten des Thieres in dessen
Körpersäften enthalten waren oder dass sie nachträglich hinein gelangt sind
und sich dort vermehrt haben. Wenn nun auch Bacterien im Fleische bereits
vor dem Auftreten der sonstigen Fäulnisserscheinungen auftreten können,
so ist ein namhafterer Bacteriengehalt in den tieferen Schichten stets ein
Befund, der hinsichtlich der Geniessbarkeit des Fleisches begründeten Verdacht
zu erregen vermag. Hingegen kann aus dem Nachweise von Spaltpilzen
überhaupt auf der Oberfläche der Fleischwaaren, ohne Feststellung ihrer
pathogenen Specificität, in keiner Richtung irgendwelcher Schluss hinsichtlich
der Beschaffenheit des Fleisches gezogen werden. Zur mikroskopischen Unter-
suchung, die im Anfertigen von frischen, sowie von getrockneten und ge-
färbten Deckgläschenpräparaten besteht, müssen daher stets Gewebstheile
oder Saftproben aus den tiefen Schichten der Waare gewählt werden.
Diese Untersuchung ist stets geboten, wenn am Fleische, an den
Muskelfasern selbst oder am Bindegewebe, Veränderungen wahrgenommen
werden, die durch die Einwirkung von Bakterien oder ihrer Stoffwechsel-
producte entstanden sein können. Als solche sind zu nennen: punktförmige
Blutaustritte oder grössere Blutergüsse, Eiter- oder Jaucheherde zwischen
den Muskeln oder den Muskelfaserbündeln, ödematöse Durchtränkung des
peri- und intermusculären oder interfibrillären Bindegewebes, graue oder
gelbe Verfärbung der Muskelsubstanz (homogene oder körnige Structur des
Plasma unter dem Mikroskope), Ecchymosen in den serösen Häuten, sowie
überhaupt stets, wenn das Fleisch nicht gehörig ausgeblutet ist, namentlich
aber in Fällen von Nothschlachtungen.
Basenau ist der Ansicht, dass das Verfahren mit dem Fleische nothgeschlachteter
Thiere von dem Ausfalle der bakteriologischen Untersuchung abhängig zu machen sei.
Vorhandensein von Mikroorganismen in Ausstrichpräparaten, die mit aus der Tiefe des
Fleisches gewonnenem Materiale angefertigt wurden, motivire den Ausschluss des Fleisches
vom Consume. Ist das Resultat negativ, so wären mit dem Materiale auch Platten zu
giessen. (Letzteres Verfahren ist, wegen der hiezu nöthigen längeren Zeit, wohl nur selten
in der Praxis durchführbar).
Gemische von verschieden geformten Bakterien in den Präparaten sind
in allen Fällen von Fäulniss anzutreffen, gleichviel ob das Fleisch ursprünglich
gesund oder aber krank war. Hingegen erweckt das Vorhandensein einer
einzigen Bakterienart stets begründeten Verdacht auf eine specinsche infectiöse
Erkrankung des betreffenden Thieres, besonders dann, wenn das Fleisch sonst
noch ein ziemlich frisches Aussehen hat. Auf Grund solcher Befunde kann zu-
FLEISCHBESCHAU. 265
weilen die Art der Erkrankung mit Bestimmtheit festgestellt werden, oft ist
aber die Form der Bakterien allein nicht genügend charakteristisch und sind
zur endgiltigen Entscheidung der Frage auch Cultur- und Impfversuche an-
zustellen. Stets muss aber beachtet werden, dass ein negativer Bakterienfund
eine septikaemische Erkrankung, namentlich aber septische Intoxication,
durchaus nicht ausschliesst.
Die wichtigsten infectiösen Krankheiten, die hier in Betracht kommen, sind:
Septikaemie und Pyacraie. Makroskopisch sind oft, jedoch nicht immer, graue
oder gelbliche Verfärbung der Muskelsubstanz, Oedem des Bindegewebes, eventuell auch
Blutaustritte in demselben wahrzunehmen, während mikroskopisch im Fleischsafte zuweilen
die Bakterien der Eiterung, namentlich Streptococcen nachgewiesen werden können.
Ausserdem sind Eiterherde im interstitiellen Bindegewebe ein werthvoller Befund bei Pyaemie.
Pyo-septikaemische Processe sind besonders bei sehr jungen, wenige Tage alten
Thieren häufig und können dieselben mit Sicherheit angenommen werden, wenn neben
oder ohne die bereits genannten Veränderungen, in den Nabelgefässen schmutzig verfärbte
oder erweichte Gerinnsel, in den Gelenken aber graue oder eiterige Flüssigkeit vor-
handen sind.
Milzbrand. Neben stellenweiser ödematöser Durchtränkung des Bindegewebes und
schwarzrothen Blutaustritten, sind im Blute oder auch im Bindegewebssafte die verhältnis-
mässig grossen, unbeweglichen, zu Ketten aneinander gereihten Milzbrandbacillen vor-
handen, die auch in ungefärbten frischen Präparaten zu erkennen sind.
Rauschbrand. Die ergriffene Muskelpartie ist schmutzig verfärbt, dunkel rothbraun
oder schwarzroth; sie enthält, sowie auch das umgebende, ödematös durchtränkte Binde-
gewebe, Gasblasen, die einen eigenthijmlichen, süsslich-faden Geruch verbreiten. Im Ge-
webssafte der kranken Theile und der nächsten Umgebung können in gefärbten Präparaten
die mittelgrossen, schmalen Rauschbrandbacillen nachgewiesen werden, die zum Theile
Sporen enthalten und dann Trommelschlägeln ähnlich sind.
Malignes Oedem. Hochgradiges Oedem des subcutanen und interstitiellen Binde-
gewebes, mit oder ohne Gasbildung, bei wenig hervortretender Veränderung der Muskel-
substanz. Die Oedemflüssigkeit enthält die gestreckten Bacillen des malignen Oedems und
daneben lange, wellenförmig gebogene Fäden, die auch Sporen enthalten können. (In
fauligem Fleische kommen dieselben Bakterien häufig vor).
Rothlauf der Schweine. Im Blutsafte der sonst normal aussehenden Muskelstücke
können durch Färben die äusserst feinen, bis 1 '5 ,a langen, geraden Puothlaufbacillen nach-
gewiesen werden.
Septicaemia haemorrhagica. Bei den unter diesen Sammelbegriff gehörenden
Krankheiten (Bollinger's Rinderseuche, Schweineseuche und Schweinecholera, Geflügel-
cholera) enthält das Blut sehr kleine, verhältnissmässig kurze Bacillen, die sich nur an den
Polen färben und darum für gewöhnlich den Eindruck von Diplococcen machen. Das inter-
stitielle Bindegewebe ist zuweilen ödematös oder blutig durchtränkt und kann auch kleine
oder grössere Hämorrhagien enthalten.
Tuberculose. Ist durch die Untersuchung des Fleisches nur dann zu constatiren,
wenn sich im Bindegewebe der Muskeln oder in den ihnen anhängenden Lymphknoten
gelbe, trockene, käsige oder mörtelartige Herde befinden, in denen sich dann allenfalls
auch die Tuberkel-Bacillen mit Hilfe der bekannten Färbungsmethoden nachweisen lassen.
Besonders sollen diesbezüglich die Leisten-, Kniefalten-, Bug- und Achseldrüsen, sowie auch
der seröse Ueberzug der Rippen einer eingehenden Besichtigung unterzogen werden, indem
das Rippenfell, besonders bei Rindern, nicht selten mit kleinen, ziemlich derben, an der
Schnittfläche faserigen, zuweilen verkästen oder auch bereits verkalkten Prominenzen
(Perlknoten) besäet ist. In der Umgebung der erkrankten Lymphknoten sind zuweilen im
benachbarten Bindegewebe secundäre Tuberkeleruptionen anzutreffen (Moul6). Tuberculose
Herde können ausserdem im Innern der Knochen enthalten sein (besonders bei Schweinen).
Actinomj'kose. Kommt im Fleische, zwischen den Muskeln, mit Ausnahme der
Zunge, sehr selten vor, während sie im Unterhautbindegewebe des Halses und noch mehr
in den Gesichtsknoten ziemlich häufig ist, bei generalisirter Actinomykose aber auch an-
dere Knochen (Wirbel, Rippen) actinomykotische Herde enthalten können. Dieselben sind
den tuberculösen derart ähnlich, dass die richtige Differential-Diagnose, ohne Kenntniss
des Befundes in den inneren Organen, nur mit Hilfe des Mikroskopes gestellt werden
kann. Jedenfalls erregen diesbezüglich begründeten Verdacht in den Herden (bei Schweinen
in der eiterigen Masse), und in der nächsten Umgebung eingebettete gelbliche, sandkorn-
grosse, runde Körperchen, die sich leicht herausheben lassen. Die Actinomycesdrusen sind
dann im frischen Ausstrichpräparate auch ohne Färbung an der charakteristischen Brom-
beerform und den kolbigen Anschwellungen der radiären Pilzfäden leicht zu erkennen.
Botryomykose. Kommt im Fleische nur ganz ausnahmsweise vor, doch können
beim Schweine grosse Fleischpartien in speckige, derbe Massen umgewandelt sein, die zahl-
266 FLEISCHBESCHAU.
reiche mörtelartige Herde enthalten (Wildtbr\ndt). In denselben können mit dem Mikros-
kope die zoogloeartigen Mikrococcenhaufen leicht nachgewiesen und von Actin omycesdrnsen
unterschieden werden.
Muskelactinomykose. In den Muskeln der Schweine, ausnahmsweise auch bei
Schafen, besonders in den Zwerchfellpfeilern, den Bauchmuskeln und den Zwischenrippen-
muskeln (Hertwig), kommen zuweilen Rasen des DuKCKER'schen Actinomyces musculorum
suis vor, der dem vorher genannten Strahlenpilze nach Form und Anordnung der Pilz-
fäden ähnlich sieht, nur dass die kolbigen Anschwellungen der letzteren weniger aus-
gesprochen ist. Auf das Vorhandensein dieser Pilze wird man Verdacht schöpfen, wenn
Schweinefleisch grau verfärbt, erweicht und wässerig durchtränkt erscheint.
Rotzki'ankheit. Werden im Pferdefleische, im intermuskulären Bingegewebe, Herde
von röthlichgrauem, viscösem Eiter vorgefunden, so liegt begründeter Verdacht auf diese
Krankheit vor. Durch die bakteriologische Untersuchung (starke einfache Färbung oder
noch besser nach Löffler's Methode mit alkalischem Methylenblau), können die stets iu
spärlicher Zahl vorhandenen ßotzbacillen nachgewiesen werden. Aber auch ohne einen
solchen positiven Befund darf in solchen Fällen eine gefährliche pyämische Erkrankung
angenommen werden.
Die Beurtheilung des Fleisches in den hier angeführten Krank-
heitsfällen richtet sich naturgemäss nach der Art der Erkrankung, doch ist
hier stets ein strengeres Verfahren am Platze, als wenn manche dieser Krank-
heiten nur in einzelnen inneren Organen vorgefunden worden sind, nachdem
dort stets eine Infection auch des Fleisches selbst angenommen werden muss.
Zeichen von Septikaemie und Pyaemie, Milzbrand, Rauschbrand, malignem
Oedem oder Rotzkrankheit, sowie tuberkulöse Herde im Fleische, in den
Fleischlymphknoten oder in den Knochen, motiviren stets eine unbedingte
Saisirung des Fleisches, während in Fällen von Schweinerothlauf und Acti-
nomykose das Fleisch, insoforne es sonst ein gesundes Aussehen hat, in durch-
kochtem Zustande, eventuell unter Declaration, noch zum Verkaufe zugelassen
werden darf.
0) Sonstige Veränderungen des Fleisches.
Blutungen. Dieselben können die Folge einer septischen Infection
oder Intoxication oder aber durch traumatische Einwirkungen entstanden sein.
Im ersteren Falle sind fast stets auch sonstige Veränderungen, wie trübe,
blassgraue Färbung der Muskel, seröse Infiltration des Bindegewebes, Eiter-
herde, kleine Blutaustritte in den serösen Häuten etc. vorhanden, während
bei frischen Blutungen traumatischen Ursprunges (bei Schweinen auch als
Folge von Muskelzerrungen [Ostertag]), die unmittelbar benachbarte Musku-
latur, ausser der blutigen Infiltration, ein gesundes Aussehen hat. Aber auch
in solchen Fällen kann sich später zur Hämorrhagie ein entzündliches Oedem
hinzugesellen, das dann eine ernstere Beurtheilung des Fleisches motivirt.
Eine mikroskopische Untersuchung des ausgetretenen Blutes ist in zweifel-
haften Fällen jedenfalls erwünscht.
Wässerige Durchtränkung, als Folge von chronischen kachek-
tischen Krankheitszuständen, bez. von chronischer Anämie und Hydrämie,
kommt besonders bei Schafen, seltener bei Rindern vor. Neben Fehlen von
acuten entzündlichen Veränderungen, ist das Fleisch überhaupt weicher, matsch,
sehr fettarm, wie ausgewaschen, die Muskelbäuche schmächtig. Auf Druck
fliesst viel farblose wässerige Flüssigkeit aus dem Fleischstücke.
Fettige Entartung. Ausser der trüben Schwellung und der fettigen
Degeneration bei den verschiedenen septischen Erkrankungen, wobei das Fleisch
ein glanzloses, trüb graues, wie gekochtes Aussehen erhält, kommt bei jungen
Thieren, namentlich bei Kälbern, eine ausgedehnte fettige Entartung der Mus-
kulatur vor, wobei die Muskelfibrillen gequollen, undurchsichtig und gelblich
oder grau verfärbt erscheinen. Die Schnittfläche ist faulem Holze ähnlich und
geht solches Fleisch rasch in Verwesung über (Repiquet).
Noch seltener ist eine wachsartige Degeneration der Muskulatur junger Thiere, die
dann dem Fischfleische ähnlich aussieht.
FRÜCHTABTREIBUNG. 267
Bei Pferden, selten bei Rindern, kommt ausgebreitete parenchymatöse und fettige
Degeneration, besonders ausgesprochen in den Psoasmuskeln, im Verlaufe der rheumatischen
Hämoglobinämie (schwarzen Harnwinde) vor.
Geschwülste. Metastatische Neubildungen, wie Melanome, Sarkome,
Carcinome, kommen im Fleische im Allgemeinen selten vor und sind gewöhn-
lich schon mit freiem Auge unschwer zu diagnosticiren.
In Fällen von frischen traumatischen Blutungen kann das Fleisch, mit
Ausnahme der betroffenen Theile, zum Consum frei zugelassen werden, in
den übrigen Fällen stellt das in seinem Aussehen veränderte Fleisch ein ver-
dorbenes Nahrungsmittel dar. F. HüTYRA.
Fruchtabtreibung (Crimineller Abortus).
Unter Abortus versteht man eine Geburt, die so frühzeitig erfolgt,
dass das Kind noch nicht körperlich soweit entwickelt ist, dass es selbst-
ständig fortzuleben vermag, also, wie man zu sagen pflegt, noch nicht lebens-
fähig ist. Eine solche Geburt ist zu unterscheiden von einer Frühgeburt
(partus praematurus), die zu einer Zeit erfolgt, wo das Kind zwar lebens-
fähig, aber noch nicht reif und ausgetragen ist.
Eine bestimmte Zeitgrenze zwischen Abortus und Frühgeburt gibt es
nicht. Man nimmt gewöhnlich an, dass in der Mehrzahl der Fälle die Lebens-
fähigkeit erst mit der 28. Woche beginnt, also nach Ablauf des siebenten
Monats, und innerhalb dieser Zeit erfolgende Geburten Fehlgeburten
sind, während man Geburten zwischen der 28. und 38. Woche als Früh-
geburten bezeichnet.
Ein Abortus tritt häufig spontan ein in Folge von Krankheitszuständen
oder zufälligen Einwirkungen auf den mütterlichen Körper. Es gibt Frauen,
die besondere Dispositionen zu Abortus haben, so dass mitunter eine eigentliche
Impotentia gestandi besteht, während andere gegen eine grössere Zahl von
sogenannten Abortivmitteln gleichsam immun sind.
In seltenen Fällen wird der Abortus auch künstlich eingeleitet von
Seiten der Kunst, wenn das Leben der Mutter in Gefahr steht bei längerer
Dauer der Schwangerschaft, z. B. bei unstillbarem Erbrechen, bei Ein-
klemmung des schwangern retroflectirten Uterus, auch bei Nephritiden, bei
perniciöser Anämie u. s. w. Ueberhaupt werden in der neuesten Zeit die
Indicationen für den künstlichen Abortus ergiebiger gestellt als früher. Wenn
eine solche Eile, dass man den Eintritt der Lebensfähigkeit nicht abwarten
kann, als lebensrettend nicht absolut nothwendig ist, wendet man sich an die
künstliche Einleitung einer Frühgeburt.
Criminell dagegen ist der Abortus, wenn er aus anderen Gründen
nur zur Aufhebung einer Schwangerschaft herbeigeführt wird und nennt man
das dann Fruchtabtreibung, welche in der Gegenwart bei den Cultur-
völkern strafrechtlich als Verbrechen behandelt und peinlich bestraft wird.
Die Strafe kommt derjenigen für Kindesmord einigermaassen nahe, indem die
Leibesfrucht bei der Fruchtabtreibung natürlich zu Grunde geht. Da dieses
Verbrechen häufig unter Mithilfe noch anderer Personen geschieht, so beziehen
sich die strafrechtlichen Bestimmungen auch auf diese, wie sich aus nach-
stehenden Strafartikeln des österreichischen und deutschen Strafgesetzes ergibt.
Oesterreichisches Strafgesetz. §. 144. Eine Frauensperson, welche ab-
sichtlich was immer für eine Handlung unternimmt, wodurch die Abtreibung ihrer Leibes-
frucht verursacht oder ihre Entbindung auf solche Art, dass das Kind todt zur Welt
kommt, bewirkt wird, macht sich eines Verbrechens schuldig.
§. 145. Ist die Abtreibung versucht, aber nicht erfolgt, so soll die Strafe auf
Kerker zwischen sechs Monaten und einem Jahre ausgemessen, die zu Stande gebrachte
Abtreibung mit schwerem Kerker zwischen einem und fünf Jahren bestraft werden.
§. 146. Zu eben dieser Strafe, jedoch mit Verschärfung, ist der Vater des abgetriebenen
Kindes zu verurtheilen, wenn er mit an dem Verbrechen Schuld trägt.
268 FRUCHTABTREIBÜNG.
§. 147. Dieses Verbrechens macht sich auch derjenige schuldig, der aus was immer
für einer Absicht wider Wissen und Willen der Mutter die Abtreibung ihrer Leibesfrucht
bewirkt oder zu bewirken versucht.
§. 148. Ein solches Verbrechen soll mit schwerem Kerker zwischen ein und fünf
Jahren, und wenn zugleich der Mutter durch das Verbrechen Gefahr am Leben oder
Nachtheil an der Gesundheit zugezogen worden ist, zwischen fünf und zehn Jahren bestraft
werden.
Kürzer und dem deutschen Strafgesetz ähnlich drückt sich der österreichische
Strafgesetz-Entwurf aus:
§. 229. Eine Schwangere, welche ihre Frucht abtreibt, oder im Mutterleibe tödtet
oder dies durch einen^Anderen thun lässt, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit
Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft.
§. 230. Dieselbe Strafe trifft denjenigen, welcher mit Einwilligung der Schwangeren
ihre Frucht abtreibt oder im Mutterleibe tödtet, hat er dieses gegen Entgelt gethan, so ist
auf Zuchthaus bis zu zehn Jahren zu erkennen.
§. 231. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wissen und Willen
abtreibt oder tödtet wird mit Zuchthaus von zwei bis fünfzehn Jahren bestraft. Ist durch
die Handlung der Tod der Schwangeren verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht
unter zehn Jahren ein.
Deutsches Strafgesetz. §. 218. Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich
abtreibt, oder im Mutterleibe tödtet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft.
Sind mildernde umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten
ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welcher mit Einwilligung
der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tödtung bei ihr angewendet oder ihr
beigebracht hat.
§. 219. Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren,
welche ihre Frucht abgetrieben oder getödtet hat, gegen Entgelt die Mittel hiezu verschafft,
bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.
§. 220. Wer die Leibesfrucht einer Schwangeren ohne deren Wissen und Willen
vorsätzlich abtreibt oder tödtet, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft.
Ist durch die Handlung der Tod der Schwangeren verursacht worden, so tritt
Zuchthausstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslänghche Zuchthausstrafe ein.
Aus diesen gesetzlichen Bestimmungen ergeben sich die gerichtlich-
medicinischen Aufgaben, ohne deren Lösung eine richterliche Behandlung
einer Fruchtabtreibung gar nicht möglich ist. Zu diesen Aufgaben gehören:
1. die Bestimmung oder der Nachweis, dass ein Abortus stattgefunden
hat, oder wenigstens ein Versuch dazu gemacht worden ist. Da im §. 145
des österreichischen Strafgesetzes ausdrücklich auch der Versuch zu einer
Fruchtabtreibung mit Strafe bedroht ist;
2. die Aufklärung darüber, ob der stattgefundene Abortus ein spontaner
oder ein durch angewandte Mittel provocirter war, und im letzteren Falle
3. ob der durch Mittel provocirte Abortus für die betreffende Person
nachtheilige Folgen oder gar den Tod nach sich gezogen hat.
1. Diagnose des Abortus.
Die Diagnose eines stattgehabten Abortus ergibt sich einerseits aus
der Untersuchung der abgegangenen Leibesfrucht oder wenigstens aus Ab-
gängen von der betreffenden Person, anderseits aus der Untersuchung dieser
selbst. Diese Untersuchungen bleiben sehr häufig mangelhaft, indem beide
Untersuchungsgegenstände nicht immer erhältlich sind, bald hat man eine
Leibesfrucht, respective einen Fötus zur Untersuchung, aber nicht die be-
treffende Person, von welcher das abgegangene Kind stammt, bald hat man
die letztere zur Untersuchung, aber nicht die abgegangene Leibesfrucht.
Daraus erklärt es sich, warum gerichtlich-medicinische Untersuchungen über
criminellen Abortus oft gar nicht stattfinden können oder wenigstens nicht
zu bestimmten Resultaten führen. Gerade beim criminellen Abortus kommt
es häufig vor, dass derselbe unter Mitwirkung von Personen stattfindet, die
gewerbsmässig diese Mitwirkung betreiben, und dann auch dafür sorgen, dass
die Abgänge beim Abortus in einer Weise beseitigt werden, dass sie nicht
leicht auffindbar sind. Es sind daher meistens ganz besondere Zufälligkeiten,
welche zu Judicien einer stattgehabten Fruchtabtreibung führen.
FRUCHTABTREIBUNG. 269
Die abgegangene Leibesfrucht. Nach statistischen Erhebungen
(Tardieu) erfolgt der criminelle Abortus meistens in den ersten sechs
Monaten der Schwangerschaft und zwar am häufigsten zwischen dem vierten
und sechsten Monat, was sich sehr natürlich daraus erklärt, dass Versuche
zur Fruchtabtreibung gewöhnlich erst dann vorgenommen werden, wenn eine
Schwangerschaft sehr wahrscheinlich ist, denn das Ausbleiben der Menstruation
ein- oder zweimal gibt in dieser Beziehung noch keine grosse Wahrschein-
lichkeit. Daraus folgt weiterhin, dass schon in den ersten Schwangerschafts-
monaten abgetriebene Leibesfrüchte in den seltensten Fällen zur Untersuchung
kommen, und dass meistens die vorzunehmenden Untersuchungen Leibes-
früchte betreffen, welche schon mehrere Monate Lebensalter haben.
Die Untersuchung solcher Leibesfrüchte muss dann nach mehreren
Richtungen hin geschehen, nämlich einerseits in Bezug auf das Alter der
Leibesfrucht, aus welchem sich selbstverständlich weiterhin ein Schluss ziehen
lässt, auf den Schwangerschaftsmonat, in welchem der Abortus stattgefunden
hat, anderseits auf allfällig vorhandene Bildungsfehler, oder fötale Krank-
heiten, welche ein frühzeitiges Absterben der Leibesfrucht hätten bedingen
und dadurch zum Eintritt eines Abortus führen können. Endlich ist die
Leibesfrucht auch noch genau auf das Vorhandensein von Verletzungen zu
untersuchen, welche vielleicht auf eine mechanische Abtreibung der Leibes-
frucht schliessen Hessen.
Obschon nun, wie gesagt, Untersuchungen von Leibesfrüchten in den
ersten Lebensmonaten, namentlich im ersten und zweiten Monat, höchst selten
vorkommen, müssen wir der Vollständigkeit wegen die anatomischen Charaktere
auch solcher Leibesfrüchte berücksichtigen, und beginnen wir daher mit dem
ersten Monat. In diesem Monat abgegangene Leibesfrüchte sind noch
in den Eihäuten enthalten und gehen gewöhnlich in Blutgerinnseln verloren.
Wenn man daher in verdächtigen Fällen derartige Abgänge erhält, was aber
selten zutrifft, so muss man solche Blutgerinnsel genau untersuchen, ob
dieselben nicht das Ei enthalten, d. h. den Embryo mit den Eihäuten, denn
ein solcher Fund würde einen stattgehabten Abortus sofort beweisen. In spä-
teren Monaten geht das Ei gewöhnlich nicht mehr vollständig ab, sondern
die Eihäute zerreissen uüd die Frucht geht gesondert ab. Eihäute und Nach-
geburt werden später ausgestossen. W^erden nun nur noch häutige Gebilde
gefunden, so ist eine genaue, makroskopische eventuell mikroskopische Unter-
suchung nothwendig, um die gefundenen Membranen als Amnion und Chorion
und daher als Eihäute zu unterscheiden gegenüber anderen häutigen Gebilden,
die bei der Menstruation mitunter ausgestossen werden, als sogenannte De-
cidua menstrualis oder als Folge eine Endometritis exfoliativa. Freilich hat
die grösste Bedeutung der aufgefundene Embryo selbst, welcher am Ende
des ersten Monates eine Länge von lern hat. Das ganze Ei gleicht an
Grösse einem Taubenei, ist 2 cm lang und das Chorion an seiner ganzen
Oberfläche zottig. Der Embryo ist stark gekrümmt, der Nabelstrang kurz,
das Amnion liegt dem Embryo nicht mehr dicht an. Am Halse j euerseits
4 Kiemenspalten, von den Extremitäten sind erst Stümpfe vorhanden u. s. w.
Am Ende des zweiten Monates ist das Ei hühnereigross, der Embryo
hat eine Länge von 2^2 — 3 cm, ein Gewicht von fast 4^, die Kiemenspalten
geschlossen, Mund- und Nasenhöhle getrennt, die Extremitäten bereits in ihre
drei Theile geschieden, in verschiedenen Knochen (Wirbelkörper, Rippen,
Schlüsselbeine u. s. w.) Ossificationspunkte.
Am Ende des dritten Monates, das Ei gänseeigross, der Embryo 7 —
9 cm lang. Gewicht 5 — 20^, Finger und Zehen mit den Nägeln deutlich zu
unterscheiden, in den meisten Knochen Ossificationspunkte, die äusseren
Genitalien beginnen sich zu differenziren, durchschnittlich die Nabelschnur
7 cm lang und die Placenta 36 g schwer.
270 FRÜCHTÄ.BTREIBÜNG.
Am Ende des vierten Monates der Fötus 10 — 17cm lang, wiegt
bis zu 120^, das Geschlecht deutlich unterscheidbar, durchschnittlich die
Nabelschnur 19 cm lang und die Placenta 80^ schwer.
Am Ende des fünften Monates: Länge des Fötus 18—27 cm, Gewicht
durchschnittlich 284^, die Haut hellröthlich und dünn, Kopfhaare, Lanugo
und Vernix caseosa treten auf, Länge der Nabelschnur 31 cm. Gewicht der
Placenta 178^.
Am Ende des sechsten Monates: Länge des Fötus 28 bis 34 cw,
Durchschnittsgewicht 634 ^r, Kopf im Verhältnis zum Kumpfe noch gross, Pu-
pille durch die Pupillarmembrane verschlossen, Hoden noch in der Bauch-
höhle, die kleinen Schamlippen von den grossen noch unbedeckt, die Insertion
der Nabelschnur im mittleren Drittel zwischen Schamfuge und Schwertfortsatz,
sie selbst im Mittel 37 cm lang, die Placenta 273 g schwer.
Am Ende des siebenten Monates der Fötus 35 — 38cm lang, das
Mittelgewicht desselben 1218, die Länge der Nabelschnur 42 cm, das Mittel-
gewicht der Placenta 374 g, die Hoden im Leistencanal, in der Pupillarmem-
brane häufig beginnender centraler Schwund, Haut noch röthlich und ohne
Fettpolster, mit Wollhaaren dicht bedeckt.
Diese anatomischen Charaktere abgegangener und zur Untersuchung
gelangter Leibesfrüchte ermöglichen die Bestimmung des Alters der Frucht
und damit auch der Zeit, zu welcher der Abortus stattgefunden hat. Da
unter solchen Verhältnissen immer die Vermuthung nahe liegt, dass es sich um
einen criminellen Abortus handelt, obschon auch häufig genug spontan ab-
gegangene Leibesfrüchte in Flüssen, Aborten und der Nähe von Strassen
u. s. w. gefunden werden, so ist es immer geboten, den Fötus nicht bloss auf
seine Altersverhältnisse, sondern auch noch auf allfällige Verletzungen zu
untersuchen, die etwa mit einer mechanischen Abtreibung der Leibesfrucht
in Verbindung stehen könnten. Solche Verletzungen sind hin und wieder,
jedoch im Ganzen selten gefunden werden. Meistens bestanden sie in Stich-
verletzungen, wir kommen bei der mechanischen Fruchtabtreibung darauf noch
einmal zurück. Wir haben eine grössere Zahl mehrmonatlicher Leibesfrüchte,
worunter indess auch einzelne spontan abgegangene sich befunden haben
mögen, zu untersuchen Gelegenheit gehabt, aber niemals derartige Verletzungen
gefunden, so dass wir das Vorkommen derselben für selten halten müssen.
Zudem sind auch bei älteren Leibesfrüchten, die in Aborte gelangt und aus
diesen herausgefischt worden sind, wenn an ihnen Verletzungen gefunden
wurden, diese öfters erst postmortal entstanden, was ich mehrmals consta-
tiren konnte.
Sehr häufig kommt es vor, dass nach Auffindung nicht lebensfähiger
Leibesfrüchte angehobene gerichtliche Untersuchungen mit der Untersuchung
dieser abschliessen müssen, indem die Mutter fehlt, so dass der Richter
durch Vermittlung der Sachverständigen nicht mehr erfährt, als dass ein
Abortus in diesem oder jenem Schwangerschaftsmonat stattgefunden hat.
Anders verhält es sich in solchen viel selteneren Fällen, wenn eine der
Fruchtabtreibung verdächtige Person in Untersuchung gelangt, und fällt dann
dem Gerichtsarzte die Untersuchung der betreffenden Person in Bezug auf
stattgehabten Abortus zu. Hiebei kann es sich um zwei verschiedene Unter-
suchungsobjecte handeln, nämlich um Untersuchung einer lebendenPerson
oder einer Leiche.
Untersuchung einer lebenden Person. Die Persönlichkeiten,
welche hier in Betracht kommen, sind meistens jüngere ledige Personen, viel
seltener verheirathete Frauen. Die Indicien, welche den Verdacht eines statt-
gefundenen Abortus begründen können, wenn keine abgegangene Leibesfrucht
gefunden worden ist, bestehen theils in gemachten verdächtigenden Anzeigen,
FRUCHTABTREIBUNG. 271
theils in starken Blutungen, oder auch in Erhebungen über gebrauchte Arznei-
mittel, oder im Bestand besonderer Zufälle von Unwohlsein u. s. w. Die
Untersuchungen unter solchen Verhältnissen sind selbstverständlich viel
schwieriger als in denjenigen Fällen, wo eine Leibesfrucht gefunden wurde,
die muthmaasslich von der betreffenden Person herrühren soll, indem dadurch
auch schon der Zeitraum der Schwangerschaft bestimmt wird, vorausgesetzt
natürlich, dass die gefundene Leibesfrucht der in Untersuchung befindlichen
Person angehört, was sich aus dem Zusammenstimmen des Fruchtalters und
den Untersuchungsergebnissen bei der betreffenden Person schliessen Hesse.
Die Erscheinungen, welche man an solchen Personen findet, sind ver-
schieden nach dem Zeiträume der Schwangerschaft, in welchem der Abortus
stattgefunden hat, und nach der Zeit, in welcher man nach dem Fruchtabgange
zur Untersuchung gelangt.
Hat der Abortus in den ersten zwei bis drei Schwangerschaftsmonaten
stattgefunden und kann man die betreffende Person schon in den ersten paar
Tagen untersuchen, so wird man nicht viel anderes finden, als ausser den
Erscheinungen der Defloration, welche natürlich nur für einen stattgehabten
coitus sprechen, mehr oder weniger starke Blutung mit periodisch auftreten-
den Schmerzen. Da aber solche Erscheinungen auch bei der gewöhnlichen
Menstruation sich einstellen können, wird man daraus auf einen stattgehabten
Abortus noch nicht schliessen können. Nur etwa die längere Dauer der
Blutung gegenüber früheren Menstruationsperioden könnte Verdacht auf Abort
erregen und dann unter umständen die Beschaffenheit der Abgänge, welche
nicht den Charakter von menstrualen Bildungen haben. Doch wird man in
solchen Fällen nicht wohl im Stande sein, sich mit Bestimmtheit für einen
stattgehabten Abortus auszusprechen, und kann die Untersuchung erst später
stattfinden, wenn die Blutungen schon aufgehört haben, so wird die bestehende
Defloration das einzige sichere Ergebnis der Untersuchung sein.
Handelt es sich aber um Abgang einer älteren Leibesfrucht, so hat der
Vorgang schon mehr Aehnlichkeit mit einer rechtzeitigen Geburt und zwar
um so mehr, je älter der Fötus ist. Hier zeigen sich schon Vergrösserung
des Gebärmutterkörpers, Veränderungen der Vaginalportion nach Stellung und
Consistenz, mehr oder weniger geöffneter Muttermund, stärkere Pigmentirung
der Brustwarzen und der Warzenhöfe, dunklere Färbung der linea alba,
Schwellung der Milchdrüsen u. s w. Verletzungen am Muttermund, resp. Ein-
risse, und an den äusseren Genitalien zeigen sich meistens nur bei Geburten
grösserer, der Lebensfähigkeit bereits nahestehender Leibesfrüchte. Nach Unter-
suchungen, welche derartige Ergebnisse liefern, lässt sich allerdings auch
ohne dass man die abgegangene Leibesfrucht gefunden hat, eine Diagnose
auf stattgehabten Abortus stellen.
Bei Untersuchungen aber, die in späteren Zeiträumen nach einem Abor-
tus, stattfinden, wird die Diagnose desselben, wenn es sich um Leibesfrüchte
handelt, die noch nicht den sechsten Monat überschritten haben, kaum mit
Sicherheit zu stellen sein.
Untersuch ungeinerLeiche. Gerichtliche Leichenuntersuchungen
von Personen, die in Folge eines Abortus gestorben sind, kommen eigentlich
nur bei criminellem Abortus vor, und handelt es sich dann in solchen Fällen
nicht bloss um die Constatirung eines stattgehabten Abortus, sondern wesent-
lich auch um Feststellung der Todesursachen in Folge stattgehabter Versuche
zur Fruchtabtreibung, wovon später die Ptede sein wird.
Was die Constatirung eines stattgehabten Abortus betrifft, so
kommen hier wie bei der Untersuchung an Lebenden dieselben Verhältnisse
in Bezug auf Dauer der Schwangerschaft und Zeit der Untersuchung nach
dem Abgang der Leibesfrucht in Betracht. In den ersten Monaten beziehen
sich die Erscheinungen hauptsächlich auf die bekannten bei der Schwanger-
272 FRUCHTABTREIBUNG.
Schaft eintretenden Veränderungen der Uterinschleimhaut, welche mikrosko-
pisch festzustellen sind, und auch auf diejenigen in dem einen oder anderen
Eierstocke, nämlich auf die Gegenwart eines corpus luteum verum, welches
in den meisten Fällen wenigstens von einem corpus luteum falsum, das bei
jeder Menstruation entsteht, durch eine bedeutendere Grösse sich unter-
scheidet.
Auf diese letztere Erscheinung wird roan bei Untersuchungen über stattgehabten
Abortus immerhin Rücksicht zu nehmen haben, obschon derselben an und für sich eine
grössere diagnostische Bedeutung nicht beigemessen werden kann, da auch ohne Eintritt
von Schwangerschaft grössere corpora lutea sich bilden können. *)
Spätere Untersuchungen über Abortus in diesem Stadium können zu
keinen aufklärenden Kesultaten mehr führen.
Wird die Section an Personen gemacht, die schon ältere Leibesfrüchte
geboren haben, und ist nur kürzere Zeit seit der Geburt verflossen, so wird
man zunächst die schon bei der Untersuchung an lebenden Personen angege-
benen Verletzungszustände an den äusseren Genitalien constatiren, und dann
weiterhin die Veränderungen an der Gebärmutter, als die Vergrösserung des
Uteruskörpers, die Veränderungen an der Vaginalportion, die Einrisse am
Muttermund, ferner die Beschaffenheit der Uterinschleimhaut, die Insertions-
stelie der Placenta, allfällige Blutcoagula und Eihautreste. Zur Bestimmung der
veränderten Grössenverhältnisse hält man sich an die bekannten Normal-
maasse.
Die Höhe des jungfräulichen Uterus beträgt 6—8 cm. Der transversale Durchmesser
des Fundus 4 — 5 cm, der grösste sagittale 2 — 3 cm (Henle).
Findet die Untersuchung erst längere Zeit nach dem stattgehabten
Abortus statt, so wird man nach der Geburt älterer Leibesfrüchte ausser einer
gewissen Vergrösserung des Uterus, der nach mehrmonatlichen Schwanger-
schaften niemals auf seine ursprünglichen Grössenverhältnisse reducirt wird,
auch noch ausser der narbigen Beschaffenheit des Hymen, Narben am orificium
uteri, und an der hinteren Commissur oder am Damme finden, wenn hier
Zerreissungen stattgefunden haben.
2. Spontaner oder provocirter Abortus.
Ist durch die bisherigen Untersuchungen das Stattgehabthaben eines
Abortus ermittelt, so kommt die Erörterung der zweiten Frage, in welcher Weise
der Abortus herbeigeführt wurde, ob es sich um einen spontan entstandenen
oder um einen durch Anwendung fruchtabtreibender Mittel herbeige-
führten Abortus handelt.
Spontan entstandene Fehlgeburten geben zwar selten zu gerichtlichen
Untersuchungen über Fruchtabtreibung Anlass, weil meistens alle Indicien
hiefür fehlen, gleichwohl ist es für die richtige Beurtheilung der zur Frucht-
abtreibung angewandten Mittel nothwendig, auf die Ursachen des spontan ent-
stehenden Abortus Ptücksicht zu nehmen, da dieser ausserordentlich häufig
vorkommt, und die veranlassenden Ursachen sehr mannigfaltig und theilweise
auch solche sind, welche beim criminellen Abortus ebenfalls in Betracht
kommen.
Bezüglich der Schwangerschaftsperioden, in welchen der spontane Abortus
am häufigsten vorkommt, sind der Erfahrung zufolge hauptsächlich zwei
Perioden hervorzuheben, nämlich einerseits die erste Zeit der eingetretenen
Schwangerschaft. Hegar **) schätzt die Frequenz der Aborte in den ersten
Schwangerschaftsmonaten gleich 1 auf 8 — 10 rechtzeitige Geburten, eine zweite
Periode ist diejenige des sechsten und siebenten Schwangerschaftsmonates, also
*) Leopold: Archiv f. Gynäkol. XL 110. 1877. — Hofmann, Lehrb. d. gerichtl. Me-
dicin. 1884. S. 213.
**) Mag. f. Geburtsk. Bd. 21. 1863.
FRÜCHTABTREIBÜNG. 273
die Periode, in welcher die Leibesfrucht die Lebensfähigkeit erlangt. Es ist
eine bekannte Sache, dass einzelne Frauen keine lebenden Kinder erlangen,
weil dieselben immer zu früh, namentlich schon im siebenten Monate geboren
werden, und Hofmann *) macht hiefür die von ihm gemachte Erfahrung
geltend, dass die grösste Zahl der faultodt geborenen Früchte dem Ende des
sechsten und noch häufiger dem siebenten Monate angehörten.
Nach Whitchead kamen von 602 Aborten auf die 9. bis 16. Woche 422.
ungezählte Aborte kommen aber in den ersten Wochen der Schwangerschaft vor.
Die Menstruation bleibt ein, zwei bis drei Wochen aus, stellt sich dann in ungewöhnUcher
Stärke wieder ein, was aber gewöhnlich nicht als Abortiren aufgefasst und nicht weiter
berücksichtigt wird.
Die Ursachen des spontanen Abortus sind sehr mannigfaltig und
theils in abnormen Zuständen der Frucht, theils in solchen der Mutter be-
gründet, theils liegen sie in der Einwirkung äusserer Vorgänge.
Was die abnormen Zustände der Frucht betrifft, so bestehen diese mit-
unter in Bildungsfehlern, die als solche dann erkannt werden können, oder
es sind Ernährungs- und Circulationsstörungen, welche den Tod der Frucht
bedingen und dieser führt dann zur Ausstossung der Frucht, d. h. zum Abortus.
Die Veranlassung zu solchen Ernährungs- und Circulationsstörungen gibt vor
Allem die Syphilis sowohl der Mutter als der Frucht und gehört dahin be-
sonders die Hypertrophie des Chorions und die Placentarsyphilis, ferner Tor-
sionen der Nabelschnur, Apoplexien der Placenta u. s. w.
Von Seiten der Mutter kommen erhebliche Blutungen, gesteigerter Blut-
druck und Wärmeströmung durch acute fieberhafte Krankheiten mit hohen
Temperaturen, ferner locale Krankheiten, zumal Endometritis, acute Neph-
ritis, Lage- und Stellungsveränderungen des Uterus (namentlich Retro- und
Antroflexion) u. s. w. in Betracht.
Von äusseren Einwirkungen sind besonders Quetschungen und Erschütte-
rungen zu erwähnen, sei es, dass dieselben vorzüglich den Unterleib oder den
ganzen Körper betreffen, indem dieselben zu Blutungen zwischen die Eihäute
ftihren.
Bei dem spontanen Abortus ist entweder die Frucht schon vorher ab-
gestorben und wird nur die todte Frucht ausgestossen, oder der Tod der-
selben tritt erst in Folge der Austreibung ein. Nicht unwichtig ist die Er-
fahrung, dass abgestorbene Früchte oft längere Zeit innerhalb der Gebär-
mutter nicht bloss Tage, sondern selbst Wochen lang verbleiben können, und
auch die Austreibung ist nicht selten eine prolongirte, selbst Pausen
machende.
Provocirter crimineller Abortus. Spontaner und provocirter
Abortus und künstliche Frühgeburt concurriren zusammen. Nach den vielen
Veranlassungen und nach dem häutigen Vorkommen des spontanen Abortus
sollte man glauben, es sei nichts leichter, als einen Abortus zu bewirken,
was jedoch keineswegs zutrifft, und gibt es eine Unmasse von Mitteln, welche
zu diesem Zwecke empfohlen und angewandt worden sind. Hiebei sind jedoch
zwei Arten von Mitteln zu unterscheiden, nämlich die inneren medicini-
schen und äusseren mechanischen Mittel. Die angeführten Gesetz-
gebungen bezeichnen die angewandten Mittel nicht näher und fassen nur die
Handlung der Abtreibung auf. Andere Gesetzgebungen dagegen verlangen,
dass zu dem Zwecke der Fruchtabtreibung hiezu geeignete Mittel in
Anwendung kommen, wie z. B.
Das Bernisghe Strafgesetz Art. 135. Eine schwangere Weibsperson, welche in
der rechtswidrigen Absicht eine Fehlgeburt oder den Tod der Frucht im Mutterleibe zu
bewirken, hiezu geeignete Mittel angewendet hat u. s. w.
*j Lehrbuch d. ger. Med. S. 225. 1884
Bibl. med. Wissenscliaften. Hygiene u. Ger. Med. 18
274 FßüCHTABTRElBUNG.
Für die forensische Behandlung des Falles hat das insofern einige Be-
deutung, als aus der Anwendung zur Fruchtabtreibung geeigneter Mittel
sich natürlich die Absicht einer solchen Handlung ergibt und hat eine hier-
auf bezügliche Frage auch insofern eine Berechtigung, als es allerdings zur
Fruchtabtreibung geeignete Mittel gibt, wozu namentlich manche der mecha-
nisch wirkenden gehören, während freilich in vielen anderen Fällen nur aus
der Thatsache des erfolgten Abortus sich ergibt, dass das zur Bewirkung
desselben angewandte Mittel ein geeignetes war.
Die vorzeitige Unterbrechung einer Schwangerschaft kann auf doppelte
Weise geschehen, einerseits dadurch, dass Contractionen des Uterus herbei-
geführt werden, welche zur Ausstossung der Frucht führen, andererseits da-
durch, dass ein Absterben derselben veranlasst wird, welches dann den Abortus
bedingt. Mittel, welche diese Vorgänge herbeizuführen vermögen, werden als
Abortivmittel bezeichnet. Da nun vorkommenden Falls, wenn ein Abortus
stattgefunden hat, und dazu angeblich oder erwiesenermaassen Mittel ange-
wandt worden sind, von Seiten der Sachverständigen nachgewiesen werden
soll, dass der Abortus durch diese oder jene Mittel herbeigeführt oder wenig-
stens versucht wurde, ist es nothwendig, diese Mittel bezüglich ihrer Wirkung
etwas näher ins Auge zu fassen.
Was zuerst die i n n e r e n Fruchtabtreibungsmittel betrifft, so ist
die Thatsache festzustellen, dass wir zur Zeit keine Mittel kennen, welche
mit nur einiger Sicherheit in nicht vergiftenden Gaben den Tod der Frucht
bewirken und dadurch den Abgang derselben veranlassen könnten und dass
wir ebensowenig im Stande sind, solche Contractionen des Uterus hervor-
zurufen, dass dadurch Abortus herbeigeführt würde. Uebrigens stehen beide
Vorgänge meistens so in Verbindung, dass sie nicht von einander getrennt
werden können.
Dass toxische Substanzen durch Vermittlung des Placentarkreislaufes in die Frucht
übergehen können, ist experimentell ausser Zweifel gesetzt und gehören dahin z. B. Chloro-
form, Salicylsäure, Jodkalium, Bromkalium u. s. w., während andere Substanzen z. B.
Strychnin, Ergotin, Curare u. s. w. nach Thierversuchen nicht nachgewiesen werden
konnten. Dass grössere Gaben von Jodkalium zu Abortus führen sollen, ist zwar behauptet
(Tardieü), aber durch weitere Erfahrungen noch nicht erwiesen worden.
Die Hervorrufung von Uteruscontractionen durch Reizung der Uterin-
nerven ist mehrfältig nachgewiesen worden. Die Gebärmutter enthält theils
eigene automatische Nervencentren, theils sind solche in verschiedenen Partien
des Rückenmarks (Lendenmark, Brustmark) vorhanden und können durch directe
und reflectorische Reizungen dieser Nervencentren- Contractionen des Uterus
ausgelöst werden. Als Reizmittel wurden so versucht an Thieren: Strychnin,
Nicotin, Carbolsäure u. s. w. Als besonders wirksam erwies sich Oleum
Sabinae. Am häufigsten jedoch wird diese Reizung reflectorisch vermittelt,
ganz besonders durch Reizzustände der Schleimhaut des Magens und weiter-
hin der Gedärme. Diese Reizungen der Uterinnerven haben aber nicht bloss
myomotorische sondern auch angiomotorische Effecte zur Folge, wodurch
wesentliche Störungen in der Blutcirculation und daher auch im Placentar-
gebiete hervorgerufen werden, die einen Blutmangel und einen Blutüberfluss,
selbst Blutung in der Frucht und ihren Umhüllungen hervorbringen und
dadurch das Absterben der Frucht bedingen können.
Die Wirkung der Abortivmittel hängt aber nicht bloss von der gereichten Menge
derselben ab, sondern auch von der Empfindlichkeit des betreffenden Individuums, deren
grosse Verschiedenheit es bedingt, dass gleiche Ursachen mitunter die verschiedensten
Wirkungen hervorbringen. Auch ist darauf aufmerksam zu machen, dass eine grosse Ver-
schiedenheit in der Reizbarkeit der Uterinnerven und daher auch in der Wirkung ange-
wandter Reizmittel davon abhängig ist, ob der Uterus im Zustande höherer Grade der
Gravidität sich befindet, oder erst in den Anfängen derselben. So wirkt z. B. das Seeale
cornutum ganz anders, wenn es bei Geburten als Wehen treibendes Mittel gegeben wird,
als wenn es in den ersteh Monaten der Schwangerschaft zur Bewirkung von Uteruscon-
tractionen gegeben wird.
FRÜCHTABTREIBÜNG. 275
Nach dem Gesagten wird es verständlich, dass drastisch wirkende Abführ-
mittel, namentlich bei empfindlichen Personen zu Abortus führen können,
sowie auch mehrfach gereichte Brechmittel, wobei noch die Erschütterung des
Körpers in Betracht kommt, und dass eigentlich alle sogenannten Emmenagoga
auch als Abortivmittel zu betrachten sind.
Dass nun aber hauptsächlich solche Mittel reflectorisch zu Uterus-
contractionen und weiterhin durch Bewirkung schwerer Circulationsstörungen,
auch zum Tode der Frucht führen können, welche heftige Reizung und
Entzündung der Magen-Darmschleimhaut hervorzubringen vermögen, wenn sie
in stärkerer und dann meistens vergiftender Gabe gereicht werden, ist leicht
einzusehen, und zu dieser Kategorie von Mitteln gehören vor allem diejenigen,
welche ganz besonders im Rufe von Abortivmitteln stehen, wie in erster
Linie die verschiedenen Juniperusarten, als J. sabina (wovon das Oleum
Sabinae), J. virginiana (wovon das Cedernöl), dann verschiedene Thuja-
arten,*) Th. occidentalis, ferner Taxus baccata, dann auch Ruta
graveolens, Tanacetum vulgare u. s. w. Diese Pflanzen enthalten ins-
gesammt scharfe Oele, durch welche sie reizend und giftig wirken. Ihnen
schliessen sich noch andere Oele an wie das Absinthöl, das Terpentin-
öl u. s. w.
Hin und wieder werden auch noch andere reizende und giftig wirkende Substanzen
in Anwendung gebracht, wie Canthariden, Phosphor, namentlich von Phosphorzünd-
hölzchen, welche gleichfalls bedeutende Reizerscheinungen im Darmcanal und überhaupt
schwere Vergiftungserscheinungen hervorbringen und dadurch abortiv wirken können.
Es hat keine weitere Bedeutung, jedes einzelne Mittel, welches je einmal
als Abortivmittel in Gebrauch gezogen wurde, aufzuführen, denn in der Gerichts-
praxis wird es sich bei der Beurtheilung der Wirkung eines zu Fruchtabtrei-
bungszwecken angewandten Mittels doch immer darum handeln, ob das be-
treffende Mittel, sei es nun ein als Abortivmittel bekanntes oder als solches
nicht bekanntes, Wirkungen geäussert hat, die zu einem Abortus hätten führen
können oder zu einem solchen geführt haben.
Nach meinen Erfahrungen über Fälle von Fruchtabtreibung habe ich von Seeale
cornutum, in der ersten Hälfte der Schwangerschaft angewandt, auch wenn grössere Gaben
genommen wurden, niemals einen abortiven Effect kennen gelernt, und auch von Ex-
tracten und Oelen verschiedener Juniperusarten in Pillenform oder von Aufgüssen und
Abkochungen der Pflanzentheile habe ich keinen Abortus entstehen gesehen, so lange die
letzteren oder das Oel nicht in vergiftender Gabe genommen wurden, in welchen Fällen
dann eher der Tod als ein Abortus eintrat. In einem Falle z. B. wurde von der betreffenden
Person mehrere Monate hindurch eine Masse von Pillen mit Juniperusestract genommen,
welche durch ;Vermittlung des Liebhabers aus verschiedenen Apotheken beschafft wurden,
aber ganz ohne Erfolg bis zum sechsten Monat, erst dann wandte man mechanische Mittel
an und durch diese gelang dann der Abortus. Auf der Anklagebank sassen in diesem
Falle neben der Betreffenden der Liebhaber und der Arzt, welcher die Operation aus-
führte. — Die Anwendung von Absinth ist mir in zwei Fällen vorgekommen. Die Be-
treffenden wurden betrunken, auch trat bei der einen ziemlich heftiges Erbrechen ein,
allein Abortus erfolgte nicht. Es konnte daher auch nur der Versuch bestraft werden.
Die forensische Beurtheilung, resp. Diagnose von Fruchtabtreibungs-
fällen durch innere Mittel ist immer eine sehr schwierige Sache. Es kommen
hiebei verschiedene Verhältnisse in Betracht.
Bald soll festgestellt werden, ob gewisse Mittel, welche die der Fracht-
abtreibung verdächtige Person angewandt haben soll, wirklich geeignete
Mittel hiezu waren, oder wenigstens, da das Prädicat „geeignete" nicht immer
verlangt wird, einen Abortus hätten hervorbringen können. Die Beurtheilung
eines solchen Falles setzt natürlich Kenntnis und Untersuchung des fraglichen
Mittels voraus, sowie auch der Art der Anwendung. Ergibt sich nun, dass
das betreffende Mittel in die Kategorie der Abortiva gehört, so wird na-
*) TsCHiRCH, Ist Thuja ein Abortivum? Zeitschr. des allgem. österr. Apotheker-
vereins 1893. Nr. 6 und 7.
18*
276 FRUCHTABTREIBUNG.
türlicli dadurch der Verdacht einer beabsichtigten Fruchtabtreibung gestützt,
zumal wenn noch nachgewiesen werden kann, dass die betreffende Person das
Mittel längere Zeit in Anwendung gebracht hat. Ist hingegen das Mittel
nicht als ein solches bekannt, so sind seine Wirkungen gleichwohl nach me-
dicinischer Erfahrung näher zu bezeichnen und darauf gestützt die Fragen zu
beantworten, ob das Mittel in gewissen Gaben hätte Krankheitszustände her-
vorbringen können, in deren Gefolge Abortus hätte eintreten können, oder
ob in dieser Beziehung das Mittel als ein ganz indifferentes anzusehen ist.
Im ersten Falle könnte immer nur ein Versuch zur Fruchtabtreibung ange-
nommen werden.
Handelt es sich dagegen um einen wirklich stattgehabten Abortus und
besteht Verdacht, dass derselbe auf künstliche Weise herbeigeführt wurde, so
müsste namentlich in Fällen, wo keine verdächtigen Arzneimittel vorliegen,
zuerst wohl untersucht werden, ob der Abortus vielleicht nicht spontan ein-
getreten ist, und wäre hiezu wesentlich in Betracht zu ziehen, ob nicht Ein-
wirkungen irgend welcher Art stattgefunden haben, welche bei der Indivi-
dualität der Betreffenden zu einer Fehlgeburt hätten führen können, ferner ob
der Abortus nicht unter Erscheinungen aufgetreten ist und einen Verlauf ge-
nommen hat, welche als Folgen der Wirkungen eines der genannten Abor-
tivmittel anzusehen wären. Allein aus der Art und Weise, wie die Frucht
abgegangen ist, ob das ganze Ei auf einmal, oder nach Zerreissung der Ei-
häute der Embryo oder Fötus für sich allein, lässt sich kein Schluss auf spon-
tanen oder provocirten Abortus ziehen.
Sind keine der oben angeführten Verhältnisse auffindbar, die für einen
spontanen Abortus sprechen könnten, so ist derselbe unwahrscheinlich und
ein provocirter Abortus um so wahrscheinlicher, wenn bei der betreffenden
Person Mittel behändigt worden sind, welche von derselben gebraucht wurden
und den Charakter von Abortivmitteln haben. Die Untersuchung würde in
diesem Falle hauptsächlich darauf zu richten sein, ob die dem gebrauchten
Arzneimittel entsprechenden Erscheinungen z. B. einer Gastroenteritis vor-
handen waren und ob im Anschluss an diese die Fehlgeburt erfolgte. Da diese
Beweise in manchen Fällen nicht immer in zuverlässiger Weise beigebracht
werden können, so dürfen auch die gerichtlich- medicinischen Schlüsse nicht
allzu bestimmte sein, und muss die Beurtheilung der äusseren Um-
stände, welche hier eine wichtige Rolle spielen, dem urtheilenden Richter
überlassen bleiben, inwieweit dieselben für einen provocirten Abortus sprechen.
Hat die Fruchtabtreibung zu einem tödtlichen Ende geführt, und ist man über die
angewandten Mittel einigermaassen im Unklaren, so müsste die Leichenunter-
suchung mit einer chemischen Expertise zur Aufklärung verbunden werden.
Mechanische Fruchtabtreibungsmittel. Man könnte eigentlich
auch noch eine Abtheilung von thermischen Fruchtabtreibungsmitteln unter-
scheiden, indem es mitunter vorkommt, dass Schwangere zum Zwecke des
Wiedereintrittes der Menstruation sich dämpfen und sich hiezu auf mit heissem
Wasser oder mit Absuden verschiedener Art gefüllte Gefässe setzen, oder,
was mir auch vorgekommen ist, dass sie über einem Gefäss, in welchem Wein-
geist angezündet ist, mit gespreizten Beinen stehen. In einem solchen Falle
müsste ich begutachten, ob dieses Vorgehen ein geeignetes Mittel sei zur
Bewirkung eines Abortus, was ich verneinte.
Hieran reihen sich die leicht ausführbaren warmen Scheidendouchen, die
auch von Geburtshelfern zur Einleitung einer künstlichen Frühgeburt mehr-
fältig in Gebrauch gezogen worden sind. Es ist thatsächlich, dass durch
solche wiederholte Douchen ein Abortus bewirkt werden konnte, '") aber dieses
Mittel wirkt immerhin unzuverlässig.
*) Hierauf bezügliche Fälle s. bei Säxinger, Schwangersch. u. Geburt, im Handb. d.
ger. Med. von Maschka, III. S. 273. 1882.
FRUCHTABTREIBUNG. 277
Von den nur mechanisch wirkenden Mitteln sind in erster Linie auf-
zuführen äussere Gewaltseinwirkungen auf den Körper überhaupt oder speciell
auf den Unterleib und den Uterus. Dahin gehören Körpererschütterungen
durch Sprung oder Fall von einer gewissen Höhe herab, auch Fahren auf
holprigen Wegen mit Fuhrwerken ohne Federn, anhaltendes Tanzen u. dgl.
Speciell auf den Unterleib und den Uterus wirken Stösse gegen denselben,
auch Massiren desselben, namentlich des fundus uteri. Dass derartige Vor-
gänge, zumal solche der ersten Art Abortus bedingen können, ist keinem Zweifel
unterworfen.
Erst kürzlich war ich bei einem Falle betheiligt, wo eine im siebenten Monate be-
findliche schwangere EYau. von einer Laube, deren Boden einbrach, mehrere Meter hoch
herunter stürzte und besonders stark mit der linken Beckenseite auffiel, woselbst sich
erhebliche Quetscherscheinungen zeigten. Der Vorfall fand am 5. Oct. 1895 statt und am
7. gleichen Monats trat die Geburt eines der Reife noch nicht nahe stehenden Kindes ein
welches schon nach anderthalb Stunden unter Erscheinungen von Lebensschwäche starb.
Ich hatte zu constatiren, dass der Fall Ursache der zu früh eingetretenen Geburt war und
dass diese den Tod des Kindes zur Folge hatte. Die Klage lautete auf fahrlässige Tödtung
wegen Schadhaftigkeit der Laube.
Der Eintritt eines Abortus nach solchen Vorgängen ist meistens eine
Zufälligkeit, wenn auch eine absichtlich herbeigeführte, was namentlich an-
zunehmen wäre, wenn durch Massage des Uterus ein Abort bewirkt worden
wäre, wovon uns indessen kein Fall bekannt ist.
Schwere Eingriffe zur Bewirkung eines Abortus sind solche, welche sich
auf die Gebärmutter selbst beziehen und im Einbringen von Fremdkörpern
in dieselbe, in Einspritzungen und in Perforation oder Zerreissung der Ei-
häute bestehen. Diese Eingriffe setzen fast immer Mithilfe noch anderer Per-
sonen voraus, welche theils in Aerzten, besonders aber in Hebammen, selten
in Laien bestehen. Durch solche Eingriffe ist allerdings die Bewirkung eines
Abortus ziemlich sicher.
Bei den Einspritzungen, zu welchen das Spritzenrohr durch den Cervix
eingebracht wird, kommt es sehr auf die Gewalt an, mit welcher die Ein-
spritzung gemacht wird. Durch solche Einspritzungen kann die Flüssigkeit
durch die Tuben in die Bauchhöhle gelangen, wie ich einen Fall der Art
beobachtet habe.
Ein Landarzt hatte bei einer im vierten Monat Schwangeren Einspritzungen in den
Uterus gemacht mit Bleiwasser und zwar, wie es scheint, mit ziemlicher Gewalt. Es folgten
darauf brennende Schmerzen im Unterleib und traten Wehen ein, durch welche die Frucht
ausgestossen wurde, aber zugleich traten Erscheinungen einer heftigen Peritonitis auf, an
welcher die Person schon in den nächsten vierundzwanzig Stunden starb. Ich kam in
den Fall die Section zu machen, welche keine gerichtliche war, und fand den Uterus leer,
aber die Erscheinungen einer heftigen diffusen Peritonitis und einer rechtsseitigen Salpin-
gitis. Von dem injicirten Bleiwasser konnten keine Spuren entdeckt werden.
Durch solche Injectionen kann Ablösung und Zerreissung der Eihäute
herbeigeführt, und dadurch der Abortus veranlasst werden.
Sehr häufig kommt das Einlegen von Bougies oder anderen ähnlichen
Gegenständen in die Vaginalportion vor, welche längere Zeit liegen gelassen
und zu wiederholten Malen eingeführt werden. Dadurch können allerdings
Uteruscontractionen ausgelöst werden, die zu Abortus führen, zumal wenn die
eingelegten Fremdkörper aus quellenden Substanzen, aus Pressschwamm, Lami-
naria u. dgl. bestehen. Werden derartige Gegenstände tiefer eingeführt,
was bei ungeschickten Händen sehr leicht geschieht, so beruht deren Wirkung
nicht bloss auf diktatorischer Reizung des Cervix, sondern es kommt auch
Ablösung und Zerreissung der Eihäute vor.
Am sichersten wird der Abortus durch Perforation der Eihäute bewirkt,
wobei das Fruchtwasser gewöhnlich ganz abfliesst, und die Wehenthätigkeit
nach verschiedener Zeit, jedoch meist bald "'") eintritt. Die Gegenstände, welche
*) Tardieu, Etüde med. leg. sur avortement. Paris 1863. — Id. Avortement. Paris
1864 — Gallard, Avortement, Paris, 1879.
278 FRUCHT ABTREIBUNG.
Mezu gebraucht werden, sind verschiedener Art, jedoch meistens Stricknadeln
und da die Betreffenden diese Gegenstände nicht leicht selbst einbringen
können, wird die Einführung dieser Gegenstände von Anderen, meist He-
bammen vorgenommen. Werden solche stechende Gegenstände von ungeschick-
ten Händen eingebracht, so können dadurch Perforationen des Scheidengewölbes,
des Cervix und des Gebärmutterkörpers, namentlich der hinteren Wand des-
selben herbeigeführt werden.
Ausser diesen Manipulaiionen kommen noch manche andere vor, wie sie gerade der
Unverstand, Sitten und Gebräuche verschiedener Orte, Aberglauben u. dgl. hervorbringen.
So werden nicht selten Blutegel an den Oberschenkeln und am Mittelfleisch gesetzt, Ader-
lässe gemacht, reizende irritirende Gegenstände in Scheide und Mastdarm gebracht
u, s. w., worauf daher bei Untersuchungen zu achten ist.
Die Diagnose einer Fruchtabtreibung durch mechanische Mittel
ist meistens leichter als diejenige durch innere, weil nicht selten in verdäch-
tigen Fällen bei den betreiienden Personen Gegenstände gefunden werden,
als Ansatzrohre von Spritzen, Stricknadeln, Stücke von Bougies u. s. w.,
welche auf einen Abtreibungsvorgang schliessen lassen, und ist ein Abortus
nachgewiesen, so findet man mitunter irgend welche Verletzungsspuren, je
nach den ausgeführten Manipulationen, was freilich bei lebenden Personen
nur in beschränkter Weise geschehen kann. Ist noch eine Leibesfrucht vor-
handen, so wird man diese in Bezug auf allfällige Verletzungen zu unter-
suchen haben. Dieselben sind indessen selten und die wenigen bekannt ge-
wordenen Fälle betrafen stets den Kopf.
Der Verlauf eines criminellen Abortus ist meistens schwerer als der-
jenige eines spontanen. Bald folgt der Abgang der Frucht schon rasch nach
der mechanischen Insultation, wenn diese wirksameren Methoden entspricht,
schon nach wenigen Stunden, bald erst nach mehreren Tagen, am 2., 3., 4.,
auch 5. Tage. Der spätere Abgang der Leibesfrucht kann durchaus nicht
als ein Beweis gegen den causalen Zusammenhang des Abortus mit der me-
chanischen Einwirkung angesehen werden, auch können bei diesem Vorgange
Pausen eintreten, indem die Wehenthätigkeit zeitweise aussetzt.
3. Schwere Folgen des criminellen Abortus.
Erfahrungssache ist, dass viele Fälle von Fruchtabtreibung ohne weitere
nachtheilige Folgen verlaufen, und daher gar nicht zu einer gerichtlichen Unter-
suchung Anlass geben.
Dagegen kommt es in Ausnahmsfällen auch vor, dass Aborte zu schweren
Nachkrankheiten und selbst zum Tode führen, so dass, wenn bei der Frucht-
abtreibung noch andere Personen betheiligt waren, dadurch Anlass zu richter-
lichen Untersuchungen gegeben wird.
Solche schwere Folgen können begründet sein in dem Abgange der
Frucht selbst, oder in den hiezu angewandten Mitteln, wobei die Verschie-
denheit dieser als innere und mechanische Mittel wesentlich zu berücksich-
tigen ist.
Von Seiten des abortiven Vorganges können namentlich Blutungen
Gefahr bringen. Jeder Abort ist immer mit mehr oder weniger starker
Blutung verbunden und hängt die Stärke und Dauer derselben wesentlich von
der rascheren oder langsameren Ausstossung der Frucht und der Eihäute ab.
Nun sind Fälle bekannt, in welchen die Blutung, wenn keine Kunsthilfe in
Anwendung kommt, zu einem hochgradigen, selbst tödtlichen Blutverlust führte.
Dieser und die Ursache desselben wird in den meisten Fällen durch eine
Section sich ohne Schwierigkeiten nachweisen lassen.
Sind nur innere Mittel angewandt worden, so kommt es mitunter vor,
dass die betreffenden Personen in Folge unsinnigen Gebrauches irritirender
narkotischer Abortivmittel in einen Zustand von fieberhafter Aufregung und
Bewusstlosigkeit gerathen, dabei Blut aus den Genitalien verlieren und
FRÜCHTABTREIBUNG. 279
schliesslich zu Grunde gehen, ohne zum Bewusstsein gekommen zu sein, so
dass von ihnen über das Vorgefallene keine Auskunft mehr zu erlangen ist.
Da in solchen Fällen gewöhnlich keine Section gemacht wird, bleibt es zwei-
felhaft, ob der Vorfall auf einen Versuch zur Fruchtabtreibung zu beziehen
ist, obschon nach den vorhandenen Intoxicationserscheinungen begründeter
Verdacht dafür besteht. Aufklärung hierüber erhält man in solchen Fällen
bisweilen durch Auffindung von Ueberresten gebrauchter Abortivmittel. Fo-
rensisch haben derartige Fälle keine weitere Bedeutung, zeigen aber, in welcher
Weise Fruchtabtreibuugsversuche durch innere Mittel zuweilen verlaufen.
Derartige Fälle habe ich mehrmals zu beobachten Gelegenheit gehabt.
Die schwersten Folgen haben mitunter Fruchtabtreibungsversuche durch
mechanische Mittel. Dass durch Anwendung solcher Mittel die Geburt
künstlich eingeleitet werden kann ohne weitere nachtheilige Folgen, beweisen
die vielfach vorgekommenen Fälle von künstlich eingeleiteter Frühgeburt ohne
Nachtheile für Kind und Mutter. Auch ist die Zahl von Fruchtabtreibungen
ohne üble Folgen für die Mutter, wenn jene mit Vorsicht und Sachkenntnis
ausgeführt werden, wde das von Hebammen bekannt ist, die mitunter ein Ge-
werbe daraus machen, gar nicht unerheblich. Aber auch die Casuistik von
Fruchtabtreibungsfällen, wo in ungeschickter und roher Weise verfahren wurde,
und Todesfälle dadurch herbeigeführt wurden, ist sehr reichhaltig. Der Tod
ist in solchen Fällen meistens zurückzuführen auf eine Infection und auf
die weiteren Folgen von Verletzungszu ständen.
Dass eine Infection stattgefunden, ergibt sich aus dem Auftreten und
der septischen Erkrankung kurze Zeit nach der Ausführung derartiger Manipu-
lationen, die meistens auf Perforation der Eihäute abzielten. Es tritt eine
septische, puerperale Endometritis und Peritonitis auf mit ent-
sprechender fieberhafter Aufregung, welchem Zustand die Betreffenden er-
liegen. Wenn man bedenkt, in wie vorsichtiger Weise man gegenwärtig einer
Infection gegenüber bei gynäkologischen Operationen verfährt und verfahren
muss, um gegen jene gesichert zu sein, so ist leicht ersichtlich, dass eine
Nichtbeachtung aller dieser Cautelen, indem mit unreinen Händen, unreinen
Instrumenten oder anderen Gegenständen gearbeitet wird, zu einer infectiösen
Entzündung der verletzten Geburtstheile führen muss. Wir pflichten daher
vollkommen der Ansicht Liman's *) bei, dass das Auftreten eines septischen
Zustandes kurze Zeit nach einem stattgehabten Abortus den Verdacht erwecken
muss, dass zur Bewirkung desselben irgend welche mechanische Eingriffe statt-
gefunden haben.
Sollte die Infection erst später nach Abgang der Frucht eintreten, so
könnte an eine Nachinfection gedacht werden, was übrigens forensisch doch
keine weitere Bedeutung hätte, da der wunde Zustand der inneren Fläche der
Geburtstheile in Folge der Fruchtabtreibung doch immer als das wesent-
lichste disponirende Moment für eine Infection von aussen her angenommen
werden müsste.
Sehr beachtenswerth ist die von Dr. Böters, gewesener Arzt am grossen städtischen
Krankenhaus, gemachte Erfahrung, welche Liman **) anführt: „Unter einer grossen Reihe
von Aborten, die mit mehr oder weniger ausgesprochenen puerperalen Erkrankungen in
meine Behandlung kamen, hat keiner den Beweis der spontanen Enstehung erbringen
können. Von den Fällen dagegen, die wegen nachweislich spontan begonnenem Abort von
mir behandelt wurden, ist kein einziger puerperal erkrankt gewesen, oder während der
Behandlung an Wochenbettfieber erkrankt."
Die Verletzungszustände sind verschiedener Art. Da sie meistens
zum Zweck der Perforation der Eihäute gemacht werden, so bestehen sie am
*) L. c. I. 250.
**) L. c. S. 250.
280 GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
häufigsten in Stichverletzungen, die mitunter nicht bloss die Eihäute, sondern
beim Einbringen der Instrumente auch das Scheidengewölbe, den Cervix und
weiterhin die Gebärmutter, namentlieh die hintere Wand oder den Grund
derselben betreffen Mitunter dringen diese Gegenstände nach Perforation
der Gebärmutter noch in andere benachbarte Gebilde. So fand Tardieu die
' arteria iliaca dextra verletzt. Die Perforationen der Gebärmutter haben meist
Peritonitis zur Folge. Zerreissungen der Scheide und des Uterus sind selten,
und kommen in Folge der Einführung grösserer Instrumente oder einzelner
Finger oder selbst der ganzen Hand vor. Namentlich wird der innere Mutter-
mund bei Einführung grösserer Instrumente leicht verletzt, weil der Cer-
vicalcanal hier am engsten ist. Spontane Zerreissungen des Uterus in Folge
des Abortus kommen hier nicht leicht vor. Als seltene Vorkommnisse sind
auch noch zu erwähnen, dass in die Gebärmutter eingeführte Gegenstände
wie Sonden, elastische Bougies u. s. w. nicht mehr entfernt werden konnten
und dann erst später an anderen Stellen zum Vorschein kamen und extra-
hirbar wurden. Ein grösserer Theil derartiger Verletzungszustände ist na-
türlich nur, wenn Sectionen gemacht werden, zu constatiren.
C. EMMEßT.
Gebäranstalten und Geburten-Statistik.
A. Gebäranstalteii.
Gebäranstalten haben die Bestimmung, insbesondere armen Schwangeren
und Gebärenden Aufnahme behufs Niederkunft zu gewähren. Aber auch Be-
mittelte suchen in diesen Zuflucht, wenn sie eine Complication bei der Geburt
befürchten, oder wenn sociale Rücksichten die Geheimhaltung der Nieder-
kunft erheischen.
Zweck der meisten Gebäranstalten ist ferner, angehende Aerzte und
Hebammen im Geburtsfache auszubilden, so wie auch jeweilig einer be-
schränkten Anzahl von schon fertigen Aerzten Gelegenheit zur specialistischen
Ausbildung in der Geburtshilfe zu ermöglichen. Schliesslich ist es Aufgabe
der Gebäranstalten, die wissenschaftliche Seite der Geburtshilfe zu pflegen.
Man wird nicht fehlgehen, wenn man annimmt, dass Herbergen zur Aufnahme von
Schwangeren und Gebärenden, als Vorläufer der Gebäranstalten, schon zu einer Zeit in
Europa bestanden haben, bevor die erste beglaubigte Gebäranstalt gegründet wurde.
Als solche wird seit dem Anfange des 13. Jahrhundertes das Hotel- oder Maison-
Dieu in Paris genannt, woselbst eine Special-Abtheilung für Gebärende eingerichtet war.
Doch war auch diese im Anfange nur eine Herberge, da von einem sachgemässen Beistande
nirgends eine Erwähnung geschieht. Eine der ersten Gebäranstalten muss auch jene in
Krakau sein, denn es heisst von ihr, dass sie im .Tahre 1220 gegründet wurde. Erst in
das Jahr 1378 fällt die Anstellung der ersten Hebamme, namens Juliette, im Hötel-Dieu.
Von da an hat an dieser Gebäranstalt durch nahezu 400 Jahre ein Hebammenregiment
geherrscht, welches einerseits für die Ausbildung des Faches so viel wie nichts geleistet
hat, andererseits durchzusetzen wusste, dass Aerzten der Zutritt behufs Ausbildung in der
Geburtshilfe verwehrt werde. Denn obzwar seit 1660 auch ärztliche Hilfe beansprucht
wurde, wa,ren Männer wie Peu, Mauriceau, Portal, Levret und de la Motte nur Chirur-
giens externes und hatten sonst im Hötel-Dieu keinen Einfluss.
Im Jahre 1771 wurde die Gebäranstalt des Hotel-Dieu in das neugegründete „Ho-
spice da la Maternite" verlegt und Madame Düges als Sage-femme en chef zur alleinigen
Leiterin ernannt, in welcher Stellung sie bis 1801 verblieb. In die letzten Jahre ihrer
Amtawirksamheit fällt auch schon der Beginn eines geburtshilflichen Unterrichtes für Aerzte.
Das Jahr 1802 brachte zu Gunsten der Maternite und des ganzen Faches durch-
greifende Reformen. Baudelocque wurde zum Leiter der Anstalt und Geburtshelfer an der-
selben ernannt und ihm ein Internist, dann ein Oberchirurg (Auvity), ein chirurgischer
Eleve (Petit) und eine Oberhebamme, die nachmals so berühmt gewordene Madame
Lachapelle zur Seite gestellt. Auch fällt in dieses Jahr die officielle Eröffnung der ecole
de la maternite. Gegenwärtig verfügt Frankreich über 24 Gebäranstalten.
Die erste Gebäranstalt auf deutschem Boden ist, wie Anselm Martin geschichtlich
nachgewiesen hat, zweifelsohne jene in München. Denn schon im Jahre 1589 bestand
GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK. 281
hier, wie aus alten vorgefundenen Rechnungen ermittelt werden konnte, im ehemaligen
Hospitale zum heiligen Geist'' eine Abtheilung, in welche arme Mädchen schon vor
der Niederkunft unentgeltliche Aufnahme gefanden haben und hier das Wochenbett durch-
machen konnten. Im Jahre 1800 wurde die Gebäranstalt in das Waisenhaus, im Jahre 1819
ins Krankenhaus verlegt und im Jahre 1832 in einem eigenem Hause untergebracht. Seit
1783 besteht der Unterricht für Aerzte, nachdem schon lange früher Hebammen an der
Münchener Gebäranstalt herangebildet wurden.
In das Jahr 1728 fällt die Errichtung der Gebäranstalt und der geburtshilflichen
Schule in Strassburg durch den Prätor Franz Josef von Klinglin. Die Leitung erhielt
JoH. Jag. Fried.
Nach dem Muster der Strassburger Anstalt wurde unter Röderer. jene in Götti ngen
im Jahre 1751 errichtet. In demselben Jahre erhielt auch Berlin eine Gebäranstalt in der
Charite. Hieraufkamen im vorigen Jahrhunderte in D eutschland: 1763 Gas sei (seit 1792
nach Marburg verlegt), 1774 Dresden (seit 1784 als öffentliche Anstalt), 1778 Würz-
burg und 1779 Jena an die Reihe. In rascher Aufeinanderfolge fällt zu Beginn dieses
Jahrhunderts die Errichtung zahlreicher Gebäranstalten in Deutschland, welches trotz
nachträglicher Aufhebung einzelner, gegenwärtig 42 öffentliche, dem Unterrichte dienende
Gebäranstalten besitzt.
In Oesterreich war im ehemaligen St. Marxer-Spital in Wien, wahrscheinlich
seit seiner Gründung eine Gebärabtheilung. Den an dieser neugegründeten Lehrstuhl für
Geburtshilfe erhielt 1754 J. Nep. Crantz, welchen vier Jahre früher van Swieten nach
Paris lind London reisen liess, um sich dort in der Geburtshilfe auszubilden.
Im Jahre 1784 wurde diese Gebärabtheilung in das von Kaiser Josef IL neugegrün-
dete allgemeine Gebärhaus, ins allgemeine Krankenhaus verlegt. In dem denkwürdigen
Gründungsdecrete heisst es: „Es sey hiemit ein Zufluchtsort eröffnet, in welchem alle jene,
die ihrer Entbindung aus welchen Rücksichten immer mit Furcht und Bangigkeit entgegen-
sehen — indem sie hier vor aller Nachforschung und Entdeckung, vor allen Kränkungen
und Verfolgungen gesichert, die sorgfältigste Pflege und Wartung erhalten — mit ruhigem
Gemüthe ihr Geburtsgeschäft vollenden, and falls sie es für nöthig halten, die Frucht
ihres Fehltrittes für immer vor der Welt unter dem Schutze öffentlicher Autorität ver-
bergen können."
An dieser Gebäranstalt wurde im Jahre 1789 Lucas Johann Boer, durch Kaiser
Josef die Professur der praktischen Geburtshilfe und die Leitung der Gratisabtheilung
übertragen.
Die Lehren, welche Boer bis zu seinem 1822 erfolgten Rücktritte von hier aus ver-
breitet hat, bleiben unvergänglich. Der Grundgedanke derselben war, dass die Geburt als ein
natürlicher Vorgang, sofern keine pathologischen Störungen vorhanden sind, den Natur-
kräften zu überlassen ist.
Der Wiener Schule geb-ührt auch der Ruhm, in Ignaz Philipp Semmelweis einen
Schüler gehabt zu haben, der im Jahre 1847 das Wesen und die Ursache des Kindbett-
fiebers in scharfsinniger Weise erkannt und auch die Mittel zur Verhütung desselben an-
gegeben hat.
Zu den hervorragenden Vertretern der Geburtshilfe gehörten ferner in Wien Carl
von Braun-Fernwald, Ludwig Bandl und Josef Späth.
In Prag wurde im Jahre 1737 eine Privatentbindungsanstalt gegründet. Seit 1789
besteht die öffentliche Gebäranstalt. Auch die Prager Schule hat sich besonders hervor-
gethan, als deren Hauptvertreter aus früheren Zeiten, Kiwisch von Rotterau, Seifert,
Streng und A. Breisky genannt werden müssen. Im Ganzen besitzt gegenwärtig Oester-
reich 18 Gebäranstalten, wovon 15 theils dem Unterrichte für Aerzte, theils für Hebammen
oder für beide Zwecke dienen.
Ungarn, einschliesslich Croatien hat 6 Gebäranstalten, wovon jene von Budapest
und Klausenburg mit der Universität verbunden sind.
Von den übrigen europäischen Staaten seien noch erwähnt Belgien mit 4, Däne-
mark mit 1, England mit 28, Griechenland mit 1, Italien mit 19, die Nieder-
lande mit 4, Portugal mit 3, Russland mit 10, Spanien mit 9 und die Schweiz
mit 5 Gebäranstalten.
Organisation der Gebäranstalten in Oesterreich. Die öster-
reichischen Gebäranstalten waren früher alle Staatsanstalten und wurden in
den öOiger Jahren in die Verwaltung der Länder übergeben.
Bis zu Ende der 60iger Jahre, in einzelnen Kronländern noch länger, waren mit
den Gebäranstalten auch Findelanstalten verbunden. Um Ersparungen zu erzielen und
angeblich auch um die Moralität zu heben, erfolgte mit Ausnahme von Niederösterreich,
Böhmen und Dalmatien in allen übrigen Kronländern, da wo solche bestanden haben, die
Aufhebung der Findelanstalten. Der erwartete Nutzen stellte sich aber nicht ein. Denn
jene Länder, welche die Findelanstalten aufgehoben haben, müssen jetzt an auswärtige
282 GEBÄEANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
Findelanstalten namhafte Summen an Verpflegskosten für Gebärende und Findelkinder
entrichten. Für Oberösterreich z. B. beträgt diese Summe gegenwärtig ungefähr jährlich
70,000 Gulden, während das Land vor der Aufhebung der Findelanstalt nur wenige Hundert
Gulden zahlen musste. Aber auch der Unterricht ist durch diese Verfügung für die be-
treffenden Länder sehr geschädigt worden, da die Geburtenanzahl tief herabgegangen ist.
Zur Verbesserung der Moralität hat aber die Aufhebung der Findelanstalten nicht im Ge-
ringsten beigetragen. Wohl aber sind die Kindsmorde seit dieser Zeit häufiger geworden
und das Elend bei den mittellosen, ledigen Müttern grösser. Besonders hart betroffen sind
von dieser Verfügung die nach Mähren zuständigen Mütter, indem deren Kinder auch in
fremden Findelanstalten keine Aufnahme finden.
In einzelnen Kronländern regt sich wieder das Bestreben, den Gebäranstalten neuer-
dings Findelanstalten anzugliedern und es wären wahre Acte der Humanität, wenn es dazu
käme. Tirol ist damit mit gutem Beispiele einigermassen vorangegangen, indem jene Mütter,
deren Kinder in der Innsbrucker Gebäranstalt geboren wurden, durch zwei Jahre monat-
lich einen Beitrag aus Landesmitteln erhalten. Thatsächlich ist auch an der Innsbrucker
Gebäranstalt seit dieser Zeit die Geburtenanzahl bedeutend gestiegen, welcher Umstand
zur Förderung des geburtshilflichen Unterrichtes wesentlich beiträgt.
In die österreichischen Gebäranstalten werden die Aufnahmesuchenden
entweder unentgeltlich, oder gegen vorherige Bezahlung aufgenommen. Für
die ersteren bestreitet entweder das Land die ganzen Verpflegskosten, wie
dies bei den Unbemittelten in Oberösterreich der Fall ist, oder die Kosten
müssen durch die Zuständigkeits-Gemeinde der Verpflegten dem Lande ersetzt
werden. Die in die sogenannte Gratisabtheilung Aufgenommenen müssen sich
beim Unterrichte verwenden lassen. Die Verpflegsdauer einer einzelnen darf
aber an den meisten Gebäranstalten statutarisch ohne Begründung 8 Wochen
nicht übersteigen.
Für die Zahlenden gibt es an den verschiedenen Gebäranstalten ver-
schiedene Classen. Wenn auch für diese die Geheimhaltung im früheren Sinne
aufgehoben wurde, wird sie doch insoweit eingehalten, als die betreffenden
Frauen nur gegenüber der Direction, bezw. der Verwaltung verpflichtet sind,
das Nationale anzugeben, während dasselbe im Protokolle nicht aufzu-
scheinen hat.
Im Gegensatze zu Deutschland, woselbst der die ärztlichen Agenden besorgende
Arzt fast überall auch der Director der Gebäranstalt, bezw. der Frauenklinik in admini-
strativer und ökonomischer Beziehung ist, sind die Verhältnisse an den österreichischen Ge-
bäranstalten etwas complicirter. So bestehen an der Wiener und Prager Gebäranstalt
ärztliche Directoren, welchen nur die Administration und ökonomische Gebahrung der Ge-
bäranstalt obliegt und welche ausserdem als Directoren der Findelanstalt deren ärztliche
Agenden zu besorgen haben. Da, wo die Gebäranstalt als eine Abtheilung des Landes-
krankenhauses besteht, besorgt die administrativen und ökonomischen Agenden auch ein
ärztlicher Director, während dem Primarärzte der Gebärabtheilung nur der ärztliche Theil
obliegt. Von einem Arzte setzt man voraus, dass er für die ärztlichen Bedürfnisse einer
Gebär-Abtheilung, innerhalb der Grenzen des präliminirten Budgets, das richtige Einsehen
hat und in dieser Beziehung ist die Stellung des Abtheilungsvorstandes gegenüber dem
ärztlichen Director eine annehmbare.
Viel schlimmer steht es aber um jene Gebäranstalten, die keinen ärztlichen Director
haben, sondern wo der Primararzt die ärztlichen und der Verwalter in coordinirter Stellung
die administrativen und ökonomischen Agenden zu besorgen hat. Competenzstreitigkeiten
sind hier an der Tagesordnung, da die ärztlichen Agenden mit jenen des Verwalters innig
verquickt sind, letzterer aber für die ärztlichen Bedürfnisse der Anstalt meist kein Verständnis
hat und deshalb oft Anschaffungen, die unumgänglich nöthig sind, in kleinlicher Weise
verweigert und damit den Dienst schädigt. Competenzüberschreitungen der Verwaltung
auch anderer Art gehören bei solchen Verhältnissen nicht zu den Seltenheiten. Deshalb
wäre es recht und billig, wenn sämmtliche ärztlichen Vorstände an den österreichischen
Gebäranstalten im Interesse des Dienstes zu Gebäranstaltsdirectoren beziehungsweise zu
Directoren der Gebärkliniken ernannt werden möchten. Für jene Landesgebäranstalten,
welchen vom Staate erhaltene gynäkologische Kliniken angegliedert sind, möchten sich in
der Administration wieder neue Schwierigkeiten ergeben, die nur dann beseitigt werden
könnten, wenn die Gebäranstalten neuerdings verstaatlicht würden. Die Länder wären
auch gewiss mit einer solchen Transaction einverstanden, doch schwerlich wird sich die
Staatsverwaltung in absehbarer Zeit zu einem solchen, die Staatsfinanzen so eng be-
rührenden Schritte, entschliessen.
GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
283
Die Verpflegsdauer der Mütter an den österreichischen Gebäranstalten,
so wie die Ausgaben für dieselben im Jahre 1894 sind im Nachstehenden
zusammengestellt:
Summe
der Ver-
pflegstage
Durchschnitt-
liche Verpflegs-
dauer einer
Mutter in Tagen
Summe aller]
Ausgaben
in Gulden
Kosten
perMutter
und Tag
Anmerkung
Wien ....
150.956
14-00
209300 00*
1-385
''■• laut Präliminare
Linz . .
Salzburg .
10.415
3.495
2500
960
13572-45
3514-44*
1-30
1005
* davon für die Apo-
theke 514 fl. 64 kr.
Graz . .
11.085
19-20
17896-84
1-61
Klagenfurt
Laibach .
10.053
3.044
29-00
17-00
6985-00
444408*
0-69
1-74
* unbedecktes
Kostenerfordernis
Triest . .
4.719
13-60
5255-205
1-113
Innsbruck
18.448
26-30
1661980
1-448
Prag . .
75.514
20-30
106566-62
1-41
Brunn .
17.048
23-00
42969-305
1-84
Olmütz .
6.878
31-26
12027-505
1-75
Lemberg
13.976
11-92
13438-74
0-961
Krakau .
11.750
18-89
1444610
0-707
Czernowitz
2.706
19-83
4951-73
1-82
Zara . .
1.846
27-00
1310-66
0-71
Ragusa .
878
3800
735-52
0 84
Sebenico
930
30-00
520-80*
0-56
* approximativ
Spatalo .
637
29-00
287-924
0-452
Sumn
le
344.368
2236
474,822-722
1-185
Es betrug demnach bei 18.253 Geburten der Kostenaufwand 474.822 fl.
72 kr.
Wenn man bedenkt, wie viel Elend damit gelindert und wie viel
Unglück verhütet wurde und dazu berücksichtigt, dass um diesen Betrag das
Materiale für sämmliche geburtshilflichen Universitätskliniken und Hebammen-
schulen, im Ganzen für 22 geburtshilfliche Lehrstätten der im Reichsrathe
vertretenen Königreiche und Länder für das Jahr 1894 beigestellt worden
ist, dann kann getrost ausgesprochen werden, dass der angestrebte Zweck
um einen billigen Preis erreicht wurde.
Die an einzelnen Gebäranstalten auffallend geringen Erhaltungskosten
erklären sich einerseits aus dem Umstände, dass in den betreffenden Ländern,
beziehungsweise Städten die Marktpreise billiger, andererseits dadurch, dass
284 GEBÄRÄNSTÄLTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
in Anstalten, die als eine Abtheilung des Krankenhauses bestehen, die
Administrationsauslagen geringer sind.
Salzburg hat überhaupt keine Auslagen für die Administration, da dort
nur eine Poliklinik eingerichtet ist. Durchwegs grössere Ausgaben haben hin-
gegen jene Gebäranstalten, in welchen Universitätskliniken untergebracht sind.
Von den 18 österreichischen Gebäranstalten dienen 15 dem geburts-
hilflichen Unterrichte. In Ragusa, Sebenico und Spalato bilden die Gebär-
anstalten kleine Abtheilungen der Krankenhäuser und wird an diesen kein
Unterricht ertheilt. Im Ganzen sind mit den 15 dem Unterrichte die-
nenden Gebäranstalten 7 Universitätskliniken für Aerzte und Studirende
und 15 Hebammenschulen verbunden. Von den letzteren besteht jene in
Wien noch als eine selbständige Universitätsklinik für Hebammen, in Graz
und Innsbruck sind die Hebammenschulen den Universitätskliniken für Aerzte
und Studirende angegliedert, in Krakau |besteht für die Hebammenschule
zwar eine eigene Abtheilung in der Gebäranstalt, doch gehört der Professor
als Ordinarius dem medicinischen Professoren-CoUegium an, während die
übrigen 11 eine eigene Categorie von selbständigen, staatlichen Hebammen-
Lehranstalten bilden.
Als Unterrichtsstätten nehmen die Gebäranstalten einen hohen Platz in
der Hygiene ein und die wissenschaftliche Ausbildung der Geburtshilfe ist
nur eine Errungenschaft der Gebäranstalten. An letzteren sind die Grund-
sätze, nach welchen die Geburt zu leiten ist, zur Reife gelangt, die Ursachen
der puerperalen Infectionskrankheiten wurden in einer Gebäranstalt erkannt,
sowie die richtigen Wege zur Verhütung der Puerperalprocesse angebahnt
und jene Heilspersonen, welche bei normalen und pathologischen Geburts-
fällen interveniren müssen, haben zum Mindesten die Grundlage für ihre
segensreiche Thätigkeit an Gebäranstalten erlangt.
Hoffentlich sind jene Zeiten für immer vorbei, wo aus falsch aufgefasstem
Sparsamkeitsbegriffe und in missverstandener Absicht, die Moralität zu bessern,
die Aufhebung der Gebäranstalten angestrebt wurde.
Für solche, welchen das Wohl der Menschheit aufrichtig am Herzen liegt,
sind die Gebäranstalten auch kein „nothwendiges Uebel," sondern eine Staats-
nothwendigkeit.
ß. Geburten-Statistik.
Zur Darstellung der Geburtenstatistik wurden insbesondere die darauf
bezüglichen Vorkommnisse vom Jahre 1894 der im österreichischen Reichs-
rathe vertretenen Königreiche und Länder, gewählt.
Im Ganzen fanden in diesem Jahre statt:
in Niederösterreich .... 95"552 Geburten
„ Oberösterreich 25'328 „
„ Salzburg 5-623 „
„ Steiermark 41 "354 „
„ Kärnten. . 11-588 „
„ Krain 17-530
„ Triest sammt Gebiet . . . 5-327 ^
„ Görz und Gradiska . . . 8-259 „
„ Istrien 12 396
„ Tirol 24132
„ Vorarlberg 3-304 „
„ Böhmen 218-923
„ Mähren 85-338 „
„ Schlesien 25*501 „
„ Galizien 297260
„ der Bukowina 28-962 y,
„ Dalmatien 22-362_ „
Summe 928739 Geburten
GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
285
In welchem Masse die Geburtenfrequenz im Decennium 1885 bis 1894
zu- oder abgenommen hat, ist aus folgender Zusammenstellung ersichtlich:
1885
1886
1887
1889
1890
1891
1892
1893
1894
Geburten
885.201
901.003
915.555
915.702
924.690
894.356
947.017
897.290
951.015
928.739
-|- oder —
gegen das Vorjahr
1
5.802
+
14.552
+
147
~r
8.988
—
30.334
+ 52.661
—
49.727
+
53.725
—
22.276
Es waren daher die Schwankungen sehr gross, und insbesondere fällt
der Umstand auf, dass in den Jahren 1890, 1892 und 1894 die Geburten-
frequenz gegen die Vorjahre bedeutend abgenommen hat. Dem gegenüber
muss für die Jahre 1891 und 1892 ein bedeutender Anstieg verzeichnet
werden, so dass schliesslich ein Ausgleich zu Gunsten einer Zunahme er-
olgt ist
In Hinsicht auf den Stand der Mütter hat das Jahr 1894 folgende Er-
gebnisse geliefert:
Ehelich
7o
Unehelich
/o
69.937
7319
25.615
26-81
20.462
79-91
4866
2109
4.069
7200
1,554
28.00
31.370
75-85
9.984
24-15
6.674
57-59
4.914
42-41
16.281
92-87
1.249
7-13
4379
82-20
928
17'S0
8.016
97-04
243
2-96
12.042
97-13
354
2-87
22.313
92 46
1.819
7-54
3.106
94-00
198
6-00
187.264
85-53
31.659
14-47
75.867
88-90
9.471
11-10
22.599
87-83
2-902
12-17
258.606
86-99
38.654
1301
25.533
88-16
3.429
11-84
21.648
96-80
714
3-20
Niederösterreich
Oberösterreich . .
Salzburg . . . .
Steiermark . . .
Kärnten . . . .
Krain
Triest and Gebiet .
Görz und Gradisca
Istrien
Tirol . . . . .
Vorarlberg . . .
Böhmen . . . .
Mähren . . . .
Schlesien . . . .
Galizien . . . .
Bukowina . . . .
Dalmatien . . . .
Es waren daher im Verhältnisse
ten in Istrien (2-87 70)5 die meisten
die wenigsten unehelichen Gebur-
in Kärnten (42'4l7o)- In diesem
286
GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
Kronlande stellte das grösste Contingent die Stadt Klagenfurt und betrug
hier im Jahre 1894 die Zahl der unehelichen Geburten 70% (563 von 798).
Zur Charakteristik der Kärtner Bevölkerung muss hier aber lobend bei-
gefügt werden, dass die meisten ledigen Mütter nach der ersten Niederkunft
heirathen.
In Betreff des Geschlechtes der Neugeborenen stellt sich das Verhältnis
wie folgt:
Knaben
Mädchen
-\- an Knaben
Niederösterreich . .
Oberösterreich . . .
Salzburg
Steiermark . . . .
Kärnten
Krain . ... . .
Triest und Gebiet . .
Görz und Gradisca .
Istrien
Tirol
Vorarlberg . . . .
Böhmen
Mähren
Schlesien
Galizien
Bukowina
Dalmatien
Summe
49.228
13.155
2.953
21.369
5.979
9.067
2.773
4287
6.324
12.549
1.712
113.210
43.974
13.059
153.170
14.702
11.435
478.946
46.324
12.173
2.670
19.985
5.609
8.463
2.554
3.972
6.072
11.583
1.592
105713
41.364
12.442
144090
14 260
10.927
449.793
2.904
982
283
1.384
370
604
219
315
252
966
120
7.497
2.610
617
9.080
442
508
29.153
Von diesen waren lebend geboren:
Knaben
Mädchen
-j- an Knaben
Niederösterreich
Oberösterreich
Salzburg
Steiermark .
Kärnten
Krain
46.726
12.639
2.870
20.508
5.810
8.900
2.563
4.176
6.186
12.290
1.683
109.054
42.730
12.658
148.880
14.338
11.324
44.626
11.763
2.595
19.322
5.460
8318
2 417
3.902
5.977
11.414
1.571
102.595
40.357
12.105
140.792
13.998
10.851
2.100
876
275
1.186
350
582
146
274
209
876
112
6.459
2.373
553
8,088
340
473
Triest und Gebiet
Görz und Gradisca ....
Istrien
Tirol
Vorarlberg .......
Böhmen
Mähren
Schlesien
Galizien
Bukowina ........
Dalmatien
Summe . . .
463.335
438.063
25.272
GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
Todtgeboren;:
287
Knaben
Mädchen
-f-an Knaben
Niederösterreich
Oberösterreich . .
Salzburg ....
Steiermark . . .
Kärnten ....
Krain
Triest und Gebiet .
Görz und Gradisca
Istrien
Tirol
Vorarlberg, . . .
Böhmen ....
Mähren
Schlesien ....
Galizien ....
Bukowina ....
Dalmatien ....
Summe
2.502
516
83
861
169
167
210
111
138
259
29
4.156
1.244
401
4.290
364
111
1.698
410
75
668
149
14)
187
70
95
169
21
8.118
1.007
337
3.298
262
76
804
106
8
198
20
22
78
41
43
90
8
1.038
237
64
992
102
35
15.611
11.730
3.881
Es ergab sich daher im Jahre 1894 ein Plus von 25.272 lebend gebo-
renen Knaben.
Dass aber dennoch in der Bevölkerung die Mädchen über die Knaben
überwiegen, erklärt sich aus der grösseren Sterblichkeit der Knaben in den
ersten Lebensjahren.
So starben von den im Jahre 1894 lebend geborenen Kindern, 125.464
Knaben und 100.994 Mädchen, was ein Plus von 24.472 an Todesfällen für
Knaben im ersten Lebensjahre ergibt. Und in einem gewissen Verhältnisse
sterben auch in den nächsten Jahren mehr Knaben als Mädchen, so dass
daraus ein Ueberschuss an letzteren resultirt.
An Mehrlingsgeburten kamen im Jahre 1894 vor:
Zwillings-
geburten
Drillings-
geburten
Vierlings-
geburten
Niederösterreich
Oberösterreich . .
Salzburg ....
Steiermark . . .
Kärnten ....
Krain
Triest und Gebiet .
Görz und Gradisca
Istrien
Tirol
Vorarlberg . . .
Böhmen ....
Mähren
Schlesien ....
Galizien ....
Bukowina . . ,
Dalmatien . . .
Summe
288
91
578
145
202
47
94
108
285
36
2392
949
249
8051
834
158
11
1
1
1
1
2
3
5
1
28
4
1
34
7
2
9883
102
288
GEBÄRANSTALTEN UND GEBURTEN-STATISTIK.
Nach G. Veit verhält sich die Frequenz der Zwillingsschwangerschaft
wie 1:89, jene der Drillingsschwangerschaft wie 1:7910 und die der Vier-
lingsschwangerschaft wie 1:371.126.
Auf unsere Zahlen angewendet, betrug die Frequenz der Mehrlings-
geburten, und zwar
für die Zwillinge 1:93-97
„ „ Drillinge 1:9105-28 und
„ „ Vierlinge 1:928-739.
Dies soll durchaus nicht für die Feststellung der richtigen Relation
massgebend sein, da für diese eine noch grössere Zahlenreihe nothwendig ist.
Die Gebäranstalten der im österreichischen Reichsrathe vertretenen
Königreiche und Länder ergaben im Jahre 1894 folgende Statistik:
Gebäranstalt in
Geburten
'^•^
Anzahl
Wien
Linz
Salzburg (Poliklinik)
Graz
Klagenfurt ....
Laibach
Triest
Innsbruck . . . .
Prag
Brunn
Olmütz
Lemberg
Krakau
Czernowitz , . . .
Zara
Ragusa
Sebenico
Spalato
Summe . . .
9407
101
9508
41
12
26-02
300
6
—
306
4
—
083
341
8
—
349
5
—
0-93
518
7
—
525
6
—
1-43
335
4
—
339
4
—
0-92
146
3
—
149
3
—
0-40
304
6
—
310
6
—
0-84
6-26
5
—
631
7
1-73
3321
35
1
3357
23
2
9-19
652
6
—
658
7
1
1-77
183
0
—
183
4
—
0-50
1084
23
—
1107
8
—
311
568
9
—
577
6
—
1-58
115
2
—
117
2
—
026
60
2
—
62
2
' —
017
22
0
—
22
1
—
006
30
1
—
31
1
—
00-8
22
0
—
22
1
—
0-06
18034
218
1
18253
132
15
49 88
55
2
1
5
1
1
3
21
10
2
8
6
4
1
10
An der Geburtenfrequenz der einzelnen Kronländer sind demnach die
Gebäranstalten im folgenden Verhältnisse betheiligt:
Wien 9-96°/o
Linz l-20«/o
Salzburg . • - 6-20o/o
Graz 1-26%
Klagenfurt 2-92''/o
Laibach 0-85ö/o
Triest 5-81%
Innsbruck 2-61°/o
Prag l'öS^/o^
Brunn 0-77% 0-98%
Olmütz 0-217„J
Lemberg ^'^''"/«'In-p.ßo;
Krakau" 0-l<d%f^^%
Czernowitz 0-40°/o
Zara 0-28o/o
Ragusa ^"^^"/»/ncoo;
Sebenico O'U^^^^'U
Spalato • 0-107o)
Durchschnitt 1-93%
GEBURTSVERHÄLTNISSE. 289
Eine grössere Geburtenanzahl, als dem Durchschnitte entsprechen würde,
haben daher Wien, Salzburg, Klagenfurt, Triest und Innsbruck. Für eine
jede dieser GebJlranstalten sind hiefür Erklärungsgründe vorhanden. In Wien
der grosse Zuzug der arbeitenden und dienenden Classe aus der ganzen
Monarchie und insbesondere der Umstand, dass hier eine Findelanstalt besteht.
In Salzburg ist die grössere Geburtenfrequenz durch die poliklinische Ein-
richtung begründet, wonach eine jede Gebärende, wenn sie die Beistand-
leistung der Hebammenschule anruft, 8 li. 40 kr. und wenn es sich um
eine Zwillingsgeburt gehandelt hat, 16 fl. 80 kr. aus dem Gebärhausfonde als
Vergütung auch dann noch erhält, wenn die Geburt dem Ende entgegen geht
oder nur noch die Placentarperiode abgewartet werden muss. Wohl gibt es
auch von der Schule zur Geburt vorgemerkte Schwangere, die für den Unter-
richt zur Verfügung stehen. Diese Einführung ist aber mit vielen Umständ-
lichkeiten verbunden und keineswegs einwandfrei.
Dass die Gebäranstalt in Klagenfurt eine den Durchschnitt übersteigende
Geburtenfrequenz hat, ist aus der grossen Anzahl der unehelichen Geburten
des Kronlandes Kärnten und insbesondere der Stadt Klagenfurt erklärlich.
Für Triest ist die Hafenstadt und die Grösse der letzteren massgebend;
denn von Görz, Gradisca und Istrien kommt kein Zuzug, nachdem diese
Gebiete gerade die geringste Anzahl unehelicher Geburten Oesterreichs auf-
weisen.
In Innsbruck datirt der Aufschwung in der Geburtenfrequenz seit 1870,
in welchem Jahre die zweite Landesanstalt, Alle Laste in Südtirol, aufgehoben
wurde. Nach der Aufhebung der Findelanstalt im Jahre 1881 ging die
Geburtenanzahl bedeutend zurück, um neuerdings anzusteigen, nachdem den
in der Innsbrucker Anstalt niedergekommenen Müttern, wie schon erwähnt, für
deren Kinder durch zv/ei Jahre monatliche Unterstützungen gewährt wurden.
Für Innsbruck kommt auch die comfortable Einrichtung der neuen
Klinik, sowie der Umstand in Betracht, dass aus Vorarlberg ein Zuzug von
Schwangeren erfolgt.
Weit unter dem Durchschnitte blieben, trotz der bestehenden Findel-
anstalten, die dalmatinischen Gebäranstalten; der Grund hiefür liegt in der
Vertheilung des Materiä;ls an vier Orten und in der geringen Anzahl
unehelicher Geburten in Dalmatien. l. piskacek.
GeburtSVerhältniSSe. Geburten haben in mehrfacher Hinsicht ge-
richtlich medicinisches Interesse, und geben namentlich häufig in Kindes-
mordfällen zu mancherlei Erörterungen Anlass, bald schon im Anfange einer
gerichtlichen Untersuchung über Kindesmord, bald erst in den Schwurgerichts-
verhandlungen. Wir werden in Nachstehendem die wichtigsten hier in Be-
tracht kommenden Verhältnisse etwas näher berücksichtigen.
1. Diagnose einer überstandenen Geburt.
Von der Diagnose eines stattgehabten Abortus war schon im Artikel
„Fruchtabtreibung" die Rede. Hier handelt es sich um Geburten von reifen
oder wenigstens der Reife nahestehenden Kindern, und es ist am häufigsten
zu constatiren, das Stattgehabthaben einer erst kürzlich überstandenen
Geburt bei Personen, welche im Verdachte stehen, kürzlich geboren und das
Kind bei Seite geschafft zu haben, und angeben, dass der anfänglich noch vor-
handene Blutabgang von der Menstruation herrühre. Dass der richterliche
Beamte unter solchen Verhältnissen ohne vorgängige sachverständige Unter-
suchung der betreffenden Person nicht weiter den Fall criminell behandeln
kann, ist leicht einzusehen, und werden wir so in Anspruch genommen, den
Angaben der verdächtigen Person gegenüber zu constatiren, ob dieselbe vor
Kurzem, d. h. vor einigen Tagen oder wenigen Wochen geboren hat.
19
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med.
290 GEBURTSVERHÄLTNISSE.
Die Erscheinungen sind natürlich verschieden je nach der seit der
Geburt verflossenen Zeit, und wird die Untersuchung um so leichter Auf-
klärung verschaffen, je kürzer dieselbe ist, denn wenn erst längere Zeit nach
der Geburt die Untersuchung gemacht werden könnte, wäre nur noch zu con-
statiren, dass die betreffende Person überhaupt geboren hat, aber nicht mehr,
ob das seinerzeit aufgefundene und bereits untersuchte Kind auf dieselbe zu
beziehen ist.
Kurze Zeit, d. h. in den ersten Tagen nach der Geburt, denn in gericht-
lichen Fällen kommt man höchst selten unmittelbar nach der Geburt zur
Untersuchung, sind folgende Erscheinungen wahrzunehmen, die wir gewöhn-
lich in folgender Ordnung erheben:
Die Personen sind in der Regel blass, haben ein angegriffenes Aussehen,
die Temperatur ist etwas erhöht, anfänglich bis 39", später 38*^ und darunter.
An den unteren Extremitäten werden zuweilen erweiterte Venen wahr-
genommen.
Die Brüste sind geschwellt, die Brustdrüse lässt sich deutlich als
scheibenförmiger, etwas höckeriger Körper durchfühlen. Sind die Brüste gross,
so bemerkt man an denselben öfters ähnliche Hautveränderungen (Striae), wie
an dem unteren Bauchumfang. Brustwarzen und Warzenhof erscheinen stärker
pigmentirt, und bei Compression der Brustdrüse in der Richtung von der
Peripherie gegen die Brustwarze hin, wo die Ausgänge der Milchgänge sich
befinden, dringen Milchtröpfchen aus, die den Charakter von Colostrum haben,
indem sich in denselben Colostrumkörperchen (grosse, rundliche, einen Kern
und zahlreiche Fetttröpfchen enthaltende Zellen) neben wenig zahlreichen
Milchkügelchen nachweisen lassen.
Mitunter kommt es vor, dass Personen, die schon einmal in Untersuchung waren,
wenn ihnen Verhaftung droht, durch irdene Pfeifchen, deren Köpfe sie auf die Brustwarze
setzen, die Milch aus den Brüsten saugen, so dass bei der Untersuchung keine Milch in
denselben gefanden wird. Wir fragen daher immer, wenn die Betreffenden sich in Gefangen-
schaft befinden, ob ihnen nicht ein derartiger Gegenstand abgenommen worden ist. In-
dessen kann man auch in solchen Fällen noch Milch erhalten, wenn zu wiederholten Malen,
namentlich von der Achselgegend her die Milchgänge gegen die Brustwarze hin gestrichen
werden.
Nun geht man zur äusseren Untersuchung des Bauches über; da findet
man zunächst die Bauchhaut schlaff', namentlich um den Nabel herum, und
am unteren Bauchumfang in Folge der starken Dehnung der Bauchhaut
röthliche Streifen, sogenannte Schwangerschaftsnarben. Drückt man zwischen
Symphyse und Nabel die Finger etwas ein, so fühlt man den Gebärmutter-
körper von rundlicher Form. Die weisse Linie ist mehr oder weniger pigmen-
tirt (linea fusca).
Schliesslich untersucht man die Geschlechts- und Geburtstheile selbst.
Bei der frühen Untersuchung findet immer noch etwas Blutabgang statt, was
die Betreffenden gewöhnlich als Menstruation bezeichnen. Der Scheidenein-
gang ist weit, die grossen Labien sind noch etwas geschwollen. Handelt es
sich um eine Erstgebärende, so sieht man noch frische Einrisse in der
Scheidenklappe, ferner auch an der hinteren Commissur, und mehr oder
weniger tief in den Damm gehend, seltener sind Einrisse der Schleimhaut in
der Nähe der Clitoris. Die Schleimhaut der Scheide ist glatt ohne rugae,
schlaff und von blauröthlicher Farbe. Am Cervix ist der Muttermund noch
offen, so dass man einen Finger einführen kann, und sind frische Einrisse
constatirbar.
Von diesen Erscheinungen verlieren sich mehrere bald, andere per-
sistiren länger und bleiben selbst für immer.
In den ersten zwei bis drei Tagen ist der Ausfluss noch blutig, später
wird er mehr fleischwasserähnlich, nach acht bis neun Tagen gelblich, dicker,
eiterartig, noch später schleimig und verliert sich schliesslich in der dritten
GEBURTSVERHÄLTNISSE. 291
Woche. Mikroskopisch enthalten die Lochien anfänglich viel Blutkörperchen,
dann Flimmer-, Cylinder-, Päasterepithelien, fettig entartet, Keste der decidua
vera, später Eiter und zuletzt Schleimkörperchen. Der Geruch ist eigen-
thümlich. Bei Frauen, welche stillen, ist der Ausfluss geringer als bei Nicht-
stillenden. Wenn nicht gesäugt wird, nimmt die Milchsecretion schon nach
wenigen Tagen ab, die Brüste fallen zusammen, und nach vier bis sechs
Wochen ist nur noch wenig Milch vorhanden. Die Einrisse an den äusseren
Genitalien und am Muttermund vernarben. Der Muttermund bleibt noch
acht bis zehn Tage offen, so dass man den Finger einführen kann, der Cervix
nimmt nach vier bis fünf Wochen wieder seine frühere Gestalt an, die voll-
ständige Involution des Uterus bedarf jedoch einer Zeit von sechs bis acht
Wochen.
Wird nun die Untersuchung der betreffenden Person zu einer Zeit
gemacht, wo noch der grösste Theil der angeführten Folgeerscheinungen der
Geburt vorhanden sind, so hat die Stellung der Diagnose einer stattgehabten
Geburt keine Schwierigkeiten, und wird man nach den angegebenen successiven
Kückbildungszuständen auch im Stande sein, approximativ die Zeit anzugeben,
welche seit der eingetretenen Geburt verflossen ist. Je später die Unter-
suchung gemacht werden kann, desto vorsichtiger muss man in seinem Ur-
theil sein und dieses nicht etwa nur auf eine einzelne Erscheinung stützen.
Handelt es sich nicht um Feststellung einer erst kürzlich überstandenen
Geburt, sondern darum, zu constatiren, ob eine Person überhaupt ge-
boren hat, so ist auch die Beantwortung dieser Frage meistens mit grosser
Sicherheit möglich, denn nach jeder Geburt eines reifen oder wenigstens der
Reife nahestehenden Kindes bleiben einige Veränderungen, die sich niemals
vollständig verlieren, und dahin gehören die sogenannten Schwangerschafts-
narben, die früher ein röthliches, nunmehr aber ein weissliches, in der That
mit Narben einige Aehnlichkeit habendes Aussehen haben und streifenförmig
am unteren seitlichen Bauchumfang verlaufen.
Sie beruhen auf Dehnung des cutanen Bindegewebes und sind umso
hervortretender, je grösser die Ausdehnung des Bauches war, woraus sich
erklärt, dass sie mitunter in geringen, fast unkenntlichen Graden bestehen
und auch bei anderen Arten der Bauchausdehnung vorkommen können.
Diesen narbigen Veränderungen der Bauchhaut schliesst sich die freilich
weniger auffällige, dunklere Färbung der weissen Linie an. Auf eine dunk-
lere Färbung der Brustwarzen und des Warzenhofes ist kein grösseres Gewicht
zu legen, da man ja keinen Vergleich mit der früheren Färbung hat. Von
grösserer Wichtigkeit dagegen sind die narbigen Zustände der äusseren und
inneren Genitalien in Folge stattgefundener Zerreissungen. So spricht die
Gegenwart der Carunculae myrtiformes, da die Bildung dieser auf einer voll-
ständigen Zerreissung des Hymens beruht, und diese nur durch eine Geburt
herbeigeführt wird, sehr für eine überstandene Geburt, ebenso die Zerreissung
der hinteren Commissur und eventuell auch des Dammes. Von ganz beson-
derem diagnostischen Werthe sind die narbigen Einrisse, resp. Einkerbungen
des Muttermundes, welche theils durch das Gefühl, theils durch das Gesicht
zu erkennen sind. Eine zurückgebliebene Vergrösserung des Uteruskörpers
lässt sich durch die Bauchdecke fühlen.
Yon einer irgend erfolgreichen Simulation einer überstandenen Geburt kann
heutzutage keine Rede mehr sein, und verdienen ältere hierauf bezügliche Histörchen
keine Erwähnung.
Eine andere Frage, die bei zu stellenden Diagnosen über stattgehabte
Geburten Berücksichtigung verdient, ist die, ob eine Person mehrmals
geboren hat. Diese Frage lässt sich an lebenden Personen mit einiger
Sicherheit nur dann beantworten, wenn es sich nach einer in früherer Zeit
stattgehabten Geburt um eine erst kürzlich überstandene handelt, indem
sich hier die älteren Zeichen, namentlich Narben, in Gemeinschaft mit frischen
19*
292 GEBüRTSVERHÄLTNISSE.
Einrissen und anderen, eine kürzlich stattgehabte Geburt kennzeichnenden
Merkmalen vorfinden. Hier können unter Umständen Irrungen vorkommen,
in der Art, dass von der früheren Geburt zurückgebliebene Zeichen als Beweis
einer kürzlich überstandenen Geburt angesehen werden, wie folgender Fall
beweist.
Eine Frau in L., welche vor Jahresfrist geboren hatte, kam in den Verdacht, abermals
schwanger gewesen zu sein, vor kürzerer Zeit geboren und das Kind beseitigt zu haben. Der
Verdacht wurde sogar von einer Hebamme, welche die Frau kannte, ausgesprochen. Die
Frau kam in Untersuchung und wurde von zwei Aerzten untersucht, welche Schlaffheit
der Bauchhaut, Schwangerschaftsnarben an derselben, Weite der Scheide, Schleimausfluss
aus derselben u. s. w. und ausserdem Milch in den Brüsten fanden. Ihr Gutachten ging
dahin, dass die Fran vor kürzerer Zeit geboren haben müsse, und bezog sich dabei
hauptsächlich auf den Milchgehalt der Brüste. Die Frau stellte auf das Bestimmteste in
Abrede, dass sie seit der letzten Geburt noch einmal geboren habe, und auch verschiedene
Zeugenverhöre förderten keine Beweise für eine spätere Geburt zu Tage, so dass die Unter-
suchung zu keinem Resultat führte. Die Acten wurden der Anklagekammer zu allfälliger
weiterer Verfügung eingegeben. Diese ordnete eine nochmalige Untersuchung der betreffen-
den Person an und dann üebergabe der Acten zur Begutachtung an das Sanitätscollegium.
Nach mehr als sechs Wochen fanden die Aerzte bei dieser zweiten Untersuchung ganz die-
selben Erscheinungen wieder und behaupteten abermals, die Frau, da sie Milch in den
Brüsten habe, müsse vor kürzerer Zeit geboren haben. Vor dem Sanitätscollegium hatte ich
über den Fall zu referiren, und da ergab sich aus den Acten, dass die Frau ihr bereits
einjähriges Kind in der Nacht immer noch säugte, was sie absichtlich verschwieg. Auf
die mangelhafte Begründung des ärztlichen Gutachtens will ich nicht näher eingehen. Die
Untersuchung wurde natürlich aufgehoben, und die Frau für die ausgestandene Unter-
suchungshaft entschädigt.
Kommt man in den Fall, eine überstandene Geburt durch eine Section
constatiren zu können, so sind selbstverständlich die frischen und alten
Zeichen einer Geburt, namentlich die inneren, in grösserem Umfange zu er-
kennen, und sind es namentlich die Gebärmutter einerseits und die Ovarien
andererseits, welche an Lebenden nicht so zugänglich sind.
Der Uterus erscheint kürzere Zeit nach der Geburt noch ziemlich gross^
auffallend weich und schlaff, enthält häufig noch Blutgerinnsel, Eihautreste
und Ueberbleibsel der Decidua, ausserdem im Grunde die unebene Placentar-
stelle. Später und auch nach vollendeter Involution sind die Dimensionen
des Uterus grösser, und ist die ganze Form mehr abgerundet und der Grund
kugelförmig. Hofmann *) fand bei zwei Personen, die beide vor einem Jahre
geboren hatten, die Länge des Uterus 9 cm, den Tubenabstand in dem einen
Falle 4*5, in dem anderen 5 cm, die Dicke der Uteruswand bei beiden in
der Tubenhöhe 2, am Cervix r2 cm, während die Breite des Cervix am
äussern Muttermund gemessen in einem Falle 2*5, in dem anderen 2*7 cm.
betrug.
Bezüglich der Veränderungen an den Ovarien ist schon im Artikel
„Fruchtabtreibung" auf die Gegenwart eines grösseren Corpus luteum auf-
merksam gemacht worden.
2. Frühgeburt und Spätgeburt.
Die normale Dauer der Schwangerschaft wird gewöhnlich zu 280 Tagen,
oder 40 Wochen oder 10 Mondesmonaten, gleich 9 Kalendermonaten, ange-
nommen. Die Geburt, welche nach dieser Schwangerschaftszeit eintritt, heisst
eine rechtzeitige, tritt sie drei bis vier Wochen vor dieser Zeit ein, so
nennt man sie Frühgeburt, tritt sie noch früher ein, und zwar vor dem
achten Monate, also vor der 28. Woche, so wird die Geburt Fehlgeburt ge-
nannt, weil zu dieser Zeit das Kind noch nicht oder kaum lebensfähig ist. Tritt
die Geburt einige Wochen nach der angegebenen Normalzeit der Schwanger-
schaft ein, so nennt man sie Spätgeburt. In der gerichtlichen Medicin be-
stimmt man die Schwangerschaftsdauer gewöhnlich nach dem Entwicklungsgrade
*) Lehrbuch, 1884 S. 213.
GEBURTSVERHÄLTNISSE. 293
des Kindes, und nennt ein am Ende des 10. Mondesmonats geborenes Kind
ein reifes und ausgetragenes und abstrahirt davon die sogenannten
Zeichen der lleife.
Obige Zahlenangaben in Bezug auf die normale Dauer der Schwangerschaft sind
übrigens nicht so genau ku nehmen, weil überhaupt eine genaue Berechnung der Dauer
der Schwangerschaft gar nicht möglich ist, indem man ja den Tag, an welchem die Be-
fruchtung des Eies stattgefunden hat, gar nicht kennt und auch nicht kennen kann. Dass
in den meisten Fällen die Befruchtung des Eies in den nächsten Tagen nach dem Aufhören
der zuletzt dagewesenen Menstruation eintreten soll, wird ziemlich allgemein angenommen,
und stützt sich darauf die bekannte NÄGELE'sche Berechnung der Schwangerschaftsdauer,
nach welcher man zum Anfangstage der letzten Menstruation sieben Tage beifügt und von
da ab drei Kalendermonate zurückzählt. Jedenfalls kann es sich hier um Differenzen von
einigen Wochen handeln, was auch mit den bei Thieren vorkommenden Verhältnissen über-
einstimmt (ScHROEDER*). Glcichwolil besteht in einer grossen Zahl von Fällen eine gewisse
Constanz bezüglich der Dauer der Schwangerschaft und des Geburtseintrittes.
Nach Ahlfeld**) betrug die Durchschnittsdauer der einzelnen Schwangerschaft in
653 Fällen 271-44 Tage. Die grösste Zahl der Geburten fiel in die 39. Woche (27-ö6"/o),
dann in die 40. Woche. (26'19''/o). Man ersieht hieraus, dass in der grösseren Zahl von
Fällen die Schwangerschaft nicht 280 Tage dauerte.
Frühgeburt. Diese kann in mehrfacher Weise von Seiten der ge-
richtlichen Medicin Beachtung erheischen. Einmal kommt bei Kindern, die im
siebenten oder achten Monat geboren sind, die Lebensfähigkeit in Frage. Be-
kanntlich tritt diese am Ende des siebenten oder Anfang des achten Monats ein,
und kommen Kinder, zu dieser Zeit geboren, meistens sehr lebensschwach zur
Welt und sterben häufig bald aus Lebensschwäche ab. In Kindsmordfällen
rauss dieser Erfahrung Rechnung getragen werden, da dieses frühe Absterben
des Kindes zu ganz unberechtigter Annahme einer gewaltsamen Todesart des-
selben führen könnte, wie mir derartige Fälle vorgekommen sind.
Ferner kann es geschehen, dass eine bereits vor ihrer Verehelichung
schwanger gewesene Frau schon sieben oder acht Monate nachher mit einem
reifen Kinde niederkommt, und der Ehemann dasselbe nicht anerkennen will,
da dasselbe schon vor der Verehelichung erzeugt worden sein müsse. In fol-
gendem Falle führte ein solches Vorkommniss zu einem Kindsmord.
Die betreffende Frau hatte dem Manne verheimlicht, dass sie bereits schwanger sei,
und der Mann war daher sehr verwundert, dass die Frau, schon sieben Monate nach der Ver-
ehelichung ein Kind bekam und fragte daher die Hebamme, ob denn das Kind eigentlich auch
ein reifes und ausgetragenes sei, was diese, keine Ahnung von den Motiven der Frage habend,
sofort bejahte und bekräftigte, dass das Kind ein durchaus reifes und ausgetragenes sei.
Der Mann gerieth nun ausser sich vor Wuth und wollte sich sofort von seiner Frau
scheiden lassen. Am folgenden Morgen war das Kind todt. Die Autopsie ergab Erstickungs-
tod durch Verschliessung der Eingangspforten der Luftwege, und weitere Erhebungen er-
gaben, dass die Frau die Nacht über das Kind bei sich im Bette und im linken Arm hielt.
Die Frau kam nun wegen Kindesmord in Criminaluntersuchung und zur Aburtheilung vor
das Schwurgericht. Nachdem das Kind todt war, bereute der Mann sein Vorgehen. Die
Frau wurde unter Annahme mildernder Umstände nur massig bestraft. Ich hatte den
Fall als Repräsentant des Sanitätscollegiums vor dem Schwurgericht zu vertreten.
In derartigen Fällen kann eine gerichtliche Untersuchung des Kindes
in Bezug auf sein Alter nothwendig werden, ob dasselbe der Schwangerschafts-
dauer seit der Verehelichung entspricht oder nicht, da in diesem Falle eine
Ungiltigkeit der Ehe erklärt werden könnte. Im siebenten oder achten Monate
werden keine reifen Kinder geboren, und hierauf bezügliche Angaben beruhen
eben auf Irrthum. Die gesetzlichen Bestimmungen, welche solchen Unter-
suchungen zu Grunde liegen, sind:
Oesterr. bürgerl. Gesetzbuch §58. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach
der Ehehchung bereits von einem Anderen geschwängert findet, so kann er fordern, dass
die Ehe als ungiltig erklärt werde.
§ 156. Die rechtliche Vermuthung (einer unehelichen Geburt) tritt bei einer frü-
heren Geburt erst dann ein, wenn der Mann, dem vor der Verehelichung die Schwanger-
*) Lehrbuch der Geburtshilfe. 7. Aufl. 1882. S. 83.
**) Beobachtungen über die Dauer der Schwangerschaft, Monatsschrift für Geburts-
kunde. Bd. 34.
294 GEBÜRTSVERHÄLTNISSE,
Schaft nicht bekannt war, längstens binnen drei Monaten nach erhaltener Nachricht von
der Geburt des Kindes der Vaterschaft gerichtlich widerspricht.
§ 157. Die von dem Manne innerhalb dieses Zeitraumes rechtlich widersprochene
Rechtmässigkeit einer früheren oder späteren Geburt kann nur durch Kunstver-
ständige, welche nach genauer Untersuchung der Beschaffenheit des Kindes und
der Mutter die Ursache des ausserordentlichen Falles deutlich angeben, bewiesen werden.
Spätgeburt. Als Spätgeburten (Partus serotini) werden alle diejenigen
Geburten bezeichnet, welche nach 280 Tagen oder 40 Wochen eintreten.
Dass die Geburt einige Tage nach diesem Termine eintreten kann, wird von
keinem erfahrenen Geburtshelfer bestritten, doch sind im Allgemeinen Früh-
geburten häufiger als Spätgeburten.
Forensisch haben Spätgeburten wegen Paternitätsverhältnissen eine be-
sondere Bedeutung, indem bei erst nach dem gewöhnlichen Termin geborenen
Kindern Zweifel entstehen können, ob sie auch zu der der Schwangerschafts-
dauer entsprechenden Zeit erzeugt worden sind oder erst später.
Es ist leicht einzusehen, dass derartige Zweifel nur dann erhoben wer-
den können, wenn es sich nicht blos um eine mehrtägige, sondern um eine mehr-
wöchentliche Verspätung der Geburt handelt, und nur in diesem Fall kann
man eigentlich von Spätgeburten reden, die aber doch nur innerhalb gewisser
Grenzen vorkommen und angenommen werden können. Es ist unglaublich,
was in der älteren gerichtlichen Medicin von Seiten der einzelnen Aerzte und
ganzer medicinischer Facultäten in Bezug auf Spätgeburten angenommen
wurde, worüber ich auf die Mittheilungen von Casper und Liman*) ver-
weise. Auch hat diese Unsicherheit in Betreff der zulässigen Schwanger-
sciiaftsdauer zu zahlreichen Betrügereien Anlass gegeben, wovon die gericht-
liche Medicin manche Beispiele aufzuführen hat.
Das Schwierige in der Behandlung dieses Gegenstandes beruht aber
darin, dass bezüglich der Dauer der Schwangerschaft allerdings Verschieden-
heiten vorkommen, deren Erklärung von Seiten der Medicin auch nicht immer
möglich ist, so dass die Bestimmung eines Termines ad quem Schwierigkeiten
hat, zumal auch Verhältnisse bestehen, welche die Feststellung eines Termines
a quo erschweren, wodurch die Berechnung der Schwangerschaftsdauer eine
mehr oder weniger unzuverlässige wird.
Man berechnet gewöhnlich die Schwangerschaftsdauer nach dem ersten
Ausbleiben der Menstruation bis zum Geburtseintritte, weiss aber nicht, zu
welcher Zeit nach dem Ausbleiben der Menstruation die Befruchtung statt-
gefunden hat, so dass hiedurch jedenfalls Differenzen begründet werden. Aber
auch wenn man bei der Berechnung von der stattgefundenen Cohabitation
auszugehen im Stande ist, was Elsässer und Andern möglich war, kann man
keine sicheren Zahlen erhalten, da die Vorgänge der Cohabitation und der
Befruchtung des Eies durchaus nicht immer zeitlich zusammenfallen, und
diese Zeit überhaupt nicht näher bestimmt werden kann. Auch ist die Frage
bezüglich des Menstruationstypus, ob derselbe immer ein 28tägiger oder
mitunter auch ein längerer oder gar kürzerer ist, noch nicht entschieden^
so dass die Annahme von Cederschjöld, Schuster u. A. mit den 10 indi-
viduellen Menstruationsperioden für die Schwangerschaftsdauer nur hypo-
thetisch ist.
Unter diesen Verhältnissen bleibt wenigstens vorläufig nichts Anderes
übrig, als sich an zuverlässige, der neueren Zeit angehörige statistische Zu-
sammenstellungen zu halten, um die Schwangerschaftsdauer in der Mehrzahl
der Fälle kennen zu lernen, da in der gerichtlichen Medicin diese und nicht
die Ausnahme geltend ist. Nach Ahlfeld's Untersuchungen von 53 Geburts-
fällen fiel die grösste Anzahl der Geburten in die 39. Woche (27-567o)> i^
die 40. Woche 26-197o- Kürzer ist die Schwangerschaftsdauer in Gebär-
*) Handb. d. gerichtlichen Medicin. 7. Aufl. Bd. I. 1881.
GEBÜRTSVERHÄLTNISSE. 295
häusern als in Privathäusern, bei Mehrgeschwängerten als bei Erstgeschwän-
gerten, bei Unverheiratheten als bei Verheiratheten. Hohl *) fand nach einer
grösseren Zahl von Schwangerschaftslällen, die er zusammenstellte, als gewöhn-
liche Dauer 275 bis 287 Tage. Nach Elsässer ■^"'^") dauerte die Schwanger-
schaft in 200 Fällen 71 Mal (= 27'3''/o) über 280 Tage, und zwar bei 23-87o
bis zum 290. Tage, bei M^o bis zum 300. Tage und bei 2-37o bis zum
306. Tage u. s. w. Auf Grundlage solcher Erfahrungen hat die Gesetzgebung
als gerichtlich zulässige Dauer der Schwangerschaft in Paternitätsfragen die
Zeit von 300 bis 302 Tagen angenommen.
Preuss. allgem. Landrecht Thl. IL Tit. 2. § 19. Ein Kind, welches bis zam
dreihundertzweiten Tage nach dem Tode des Ehemannes geboren, wird für das ehe-
liche Kind desselben gerechnet.
§ 2. Gegen die gesetzliche Vermuthung der Vaterschaft in der Ehe geborener Kinder
soll der Mann nur alsdann gehört werden, wenn er überzeugend nachweisen kann, dass
er der Frau in dem Zwischenräume vom dreihundertundzweiten bis zweihundert-
undzehnten Tage vor der Geburt des Kindes nicht ehelich beigewohnt habe.
Weitaus in der Mehrzahl der Fälle wird diese Begrenzung der Spät-
geburten das Richtige treffen, zumal es erfahrene Geburtshelfer gibt, wie
z. B. GussEROw, die niemals Spätgeburten über 300 Tage gesehen haben.
Allein diesen gegenüber gibt es andere, gleichfalls erfahrene Gynäkologen,
welche dieser Ansicht nicht beitreten. So sagt z. B. Schroeder***): „Wie
weit die Grenzen der Schwangerschaftsdauer gehen, ist nicht mit Sicherheit
zu bestimmen. Ich selbst zweifle keinen Augenblick, dass ein reifes Kind
etwa innerhalb 240 bis 320 Tagen nach der letzten Periode geboren werden
kann." Besonders englische Geburtshelfer berichten von sehr späten Spät-
geburten bis zu 332 und 333 Tagen. Natürlich sind bei der forensischen
Beurtheilung von Spätgeburten alle Missbildungen des Kindes auszu-
schliessen, welche eine aussergew^öhnliche Verzögerung der Geburt be-
dingen können. Nach den oben angegebenen zuverlässigen statistischen
Zusammenstellungen von Geburtsfällen nach der Schwangerschaftsdauer ge-
hören Spätgeburten über 302 Tage zu den Seltenheiten, allein sie kommen
doch vor (nach Ahlfeld in 2% aller Geburtsfälle), und könnte von Seiten
der Gesetzgebung diesem möglichen Vorkommniss dadurch Ptechnung getragen
werden, dass für derartige zweifelhafte Fälle eine Untersuchung durch Sach-
verständige vorgeschrieben würde, welche übrigens unter solchen Verhältnissen
wohl immer stattfinden wird, weil ja von Seiten Kunstverständiger in Streit-
fällen der Thatbestand einer Spätgeburt festzustellen ist.
Bei solchen Untersuchungen müsste immer einerseits die Schwanger-
schaftsdauer, andererseits die Entwicklung des Kindes berücksich-
tigt w^erden.
Zunächst wäre der Tag der Geburt bestimmt zu ermitteln, und zwar
namentlich der Eintritt derselben, da ja aus verschiedenen Gründen eine
Verzögerung der eingetretenen Geburt herbeigeführt werden kann. Sollte
man Gründe haben, an der Glaubwürdigkeit der gemachten Angaben zu
zweifeln, da Spätgeburten nicht selten fälschlich angegeben werden, so hätte
man zur Zeitbestimmung der eingetretenen Geburt die Frau in Bezug auf
Zeichen einer kürzlich überstandenen Geburt zu untersuchen und auch die
Entwicklungsverhältnisse des Kindes zu berücksichtigen. Weiterhin müsste
man sich über den Menstruationstypus der betreffenden Frau zu orientiren
suchen und zur Bestimmung des Terminus a quo nach dem Anfange der
zuletzt dagewesenen Menstruation und eventuell nach einem zu dieser Zeit
*) Lehrbuch der Geburtsh. Leipzig 1862. S. 172.
**) Henke's Zeitschr. Bd. 73. 1857. S. 394.
***J Lehrbuch der Geburtsh. 7. Aufl. 1882. S. 83.
296 GEBÜRTSVERHÄLTNISSE.
stattgefundenen Coitus sich erkundigen. Ausserdem wäre auch noch zu berück-
sichtigen, unter welchen Verhältnissen die betreffende Person während der
Dauer der Schwangerschaft sich befunden hat, ob diese den Ernährungsver-
hältnissen des Kindes günstig oder ungünstig waren.
Es ist leicht einzusehen, dass die Fingirung einer Spätgeburt sehr leicht zur Ver-
deckung einer zu anderer Zeit stattgehabten Schwängerung benutzt werden kann, wovon
Taylor *) eine Reihe von Fällen zusammengestellt hat.
Bei der Untersuchung des Kindes wird man bei Spätgeburten voraus-
setzen können, dass das Kind in Bezug auf Gewicht, Körperlänge, Kopfdurch-
messer, Ossificationsverhältnisse u. s. w. alle Zeichen eines reifen ausgetra-
genen Kindes darbieten wird, und zwar unter Umständen noch weiter gehende
Entwicklungszustände, wie stärkerer Haarwuchs, Verknöcherung fötaler Nähte,
der Fontanellen u. s. w. Indessen haben diese letzteren Veränderungen keinen
grossen diagnostischen Werth, da auch bei gewöhnlicher Schwangerschafts-
dauer derartige Entwicklungsverhältnisse vorkommen. So dürfte auch nicht
die Gegenwart einzelner Zähne in den Kiefern der Kinder als ein sicheres
Zeichen einer Spätgeburt angesprochen werden, da dieses im Ganzen sehr
seltene Vorkommniss (Dumur**) hat unter 17.578 Neugeborenen der Pariser
Maternite nur drei Kinder mit Zähnen gesehen) nicht als ein Zeichen der
Ueberreife, sondern vielmehr als ein abnormes Entwicklungsverhältniss anzu-
sehen ist. Jedenfalls aber würde eine mangelhafte Entwicklung des Kindes,
welches nicht alle Zeichen der Reife darböte, gegen eine Spätgeburt sprechen.
Bei derartigen Geburten, welche über 302 Tage gedauert haben sollen
und bei welchen es sich um Paternitätsverhältnisse handelt, wäre auch
noch die Frage zu berücksichtigen, ob der angebliche Schwängerer eigentlich
auch zeugungsfähig war, indem Fälle bekannt sind,"^"^*) in welchen die
Zeugungsfähigkeit des angeblichen Schwängerers durchaus zweifelhaft war, und
dadurch der Betrug offenkundig wurde.
3, Unbewusste Geburt.
Wenn von unbewusster Geburt die Rede ist, so handelt es sich nicht
um Abortusgeburten, sondern um Geburten älterer, lebensfähiger und gelebt-
habender Kinder, und entsteht hiebei die Frage, ob solche Kinder geboren
werden können, ohne dass die betreffende Person Kenntnis s davon hat. Es
kommt nämlich nicht selten vor, dass Personen, welche auf Abtritten geboren
haben, wobei das Kind in den Abtritt gefallen ist, angeben, sie hätten nicht
gewusst, dass das von ihnen Abgegangene ein Kind gewesen sei. Man hat
daher nicht selten vor dem Schwurgericht die Frage zu beantworten, ob es
möglich oder nur wahrscheinlich sei, dass ein grösseres Kind aus den Geburts-
theilen treten könne, ohne dass die Gebärende ein Gefühl davon habe. Mit
der angeblichen Unbewusstheit von der stattgehabten Geburt soll entschuldigt
w^erden, dass die betreffende Person von dem Vorgefallenen keine Mittheilung
gemacht Ihabe, da sie eben nicht gewusst habe, dass es sich um ein Kind
handelte, so dass jeder Rettungsversuch für das hinuntergefallene Kind
unterblieb.
In vielen Fällen wird das angebliche Vorkommniss einer unbewussten
Geburt noch dadurch begründet, dass die Betreffenden angeben, gar nicht ge-
w^usst zu haben, dass sie schwanger seien, und ist daher noch weiterhin die
Frage zu erörtern, ob eine Verkennung eines schwangeren Zustandes möglich
ist, in welchem Falle die Unbewusstheit einer Geburt die Folge der Unbe-
wusstheit einer Schwangerschaft wäre.
*) Principles of medical jurispr. IL 1873. S. 269.
**) Des dents dans les questions medico-legales. Lyon, 1882.
***) S. Taylor 1. c.
GEBURTSVERHÄLTNISSE. 297
Dass eine Schwangerschaft in den ersten Monaten ihres Bestehens ver-
kannt werden kann, ist kaum zu bestreiten, da die Erscheinungen anfänglich
nicht sehr hervortretende und auffällige sind, doch reichen dieselben in man-
chen Fällen hin, bei dem Bewusstsein, sich der Möglichkeit einer Schwän-
gerung ausgesetzt zu haben, die Betreffenden bezüglich ihres Zustandes
zweifelhaft zu machen, und werden auch gerade in dieser ersten Zeit Hebammen
häufig zu Untersuchungen in Anspruch genommen, welche so oft die Ge-
schwängerten irre führen.
Uebrigens hat ausser dem vorausgegangenen geschlechtlichen Umgang
und ausser dem Ausbleiben der Menstruation die Schwangerschaft in ihrem
weiteren Verlaufe so charakteristische, von der Betreffenden nicht zu verken-
nende Veränderungen und Erscheinungen zur Folge, wie das fortgesetzte Aus-
bleiben der Menstruation, die stetige Zunahme des Unterleibes, so dass alle
Kleider zu eng werden, die um die Mitte der Schwangerschaft eintretenden
Kindsbewegungen, in der späteren Zeit die Schwellung der Brüste und der
Milchgehalt derselben, mitunter durch spontanen Ausfluss der Milch indicirt,
dass eine gänzliche Verkennung der Schwangerschaft bei einem normalen
Verlaufe derselben von vornherein nicht wohl annehmbar ist, vorausgesetzt,
dass es sich nicht um eine geistesschwache Person handelt.
Nicht ohne Grand enthielt daher das frühere preussische Strafgesetz die Bestim-
mung, dass nach der 30. Schwangerschaftswoche eine Verkennung der Schwangerschaft
nicht mehr angenommen werden kann, eine Bestimmung, die heutzutage nicht mehr halt-
bar wäre.
Wenn daher eine unbewusste Schwangerschaft, welche thatsächlich mehr-
mals und auch uns vorgekommen ist, für annehmbar oder wenigstens wahr-
scheinlich gehalten werden soll, so müssen immerhin besondere Verhältnisse
bestanden haben, von welchen wir folgende hervorheben.
In den meisten Fällen war die Betreffende eine Erstschwangere, welche
durch eigene Erfahrung mit den Schwangerschaftsverhältnissen noch nicht
näher bekannt geworden ist, und daher einzelne Erscheinungen, wie nament-
lich die Kindsbewegungen um die Mitte der Schwangerschaft nicht richtig zu
deuten im Falle war. Einer Erstschwangeren gleichzustellen wäre natürlich
auch eine Frau, welche längere Zeit in der Ehe kinderlos geblieben ist, an
eine Schwängerung nicht mehr dachte und nun ganz unerwartet in einen
solchen Zustand kam, wie der von Tanner*) mitgetheilte Fall beweist.
Eine 24jährige Frau, seit 3 Jahren verheirathet, aber kinderlos, deren Menstruation
seit 10 Monaten ausgeblieben war, klagte seit 11 Uhr der verflossenen Nacht über grosse
Schmerzen im Untedeib. Der Assistent eines Arztes erklärte die Schmerzen als Folge von
Blähungen und Entzündung, womit Frau und Mann einverstanden waren. Dr. Takker fand
die Frau kreissend und extrahirte kurz darauf ein ausgetragenes Kind.
In anderen Fällen sind die Geschwängerten bezüglich des Vorganges bei
der Schwängerung einigermassen im Unklaren gewesen, indem sie zu der
betreffenden Zeit betrunken oder schlaftrunken, jedenfalls nicht bei klarem
Bewusstsein waren und sich daher nicht mehr daran erinnerten, oder aber
der stattgehabte Vorgang ist nach der Ansicht der Betreffenden nur in unvoll-
ständiger Weise geschehen, so dass sie nicht an die Möglichkeit einer Schwän-
gerung denken konnten. Sehr belehrend ist in dieser Beziehung der von
Säxinger ■"*) mitgetheilte Fall, der zugleich beweist, dass eine Schwängerung
ohne vorgängige Defloration möglich war.
Ein iSjähriges Mädchen hatte seit dem Eintritt der Periode im 14 Jahre dieselbe
sehr unregelmässig gehabt, ausserdem litt sie an Bleichsucht und dyspeptischen Erschei-
nungen. Der behandelnde Arzt gab verschiedene Mittel gegen diese Zufälle, nahm auch
■eine Untersuchung vor und stellte schhesslich die Diagnose auf Cystom des Ovariums.
*) Monatsschr. für Geburtsk. 1863. Bd. 21.
*"•) Schwangerschaft u. Geburt im Handb. d. gerichtl. Medicin von Maschka. Bd. 3.
1882. S. 218.
298 GEBURTSVERHÄLTNISSE.
Das Mädchen wurde nun zur Operation Säxinger zugesandt, dieser fand Schwangerschaft
in der 30. bis 32. Woche, dabei thatsächlich jungfräuhche Beschaffenheit des introitus
vaginae, der Hymen intact, liess nur mit Mühe den Finger eindringen. Am normalen Ende
der Schwangerschaft trat die Geburt eines Knaben ein. Es wurde nan eine Cohabitation
zugegeben und wurde nur als ein misslungener Versuch gedeutet.
Besonders leicht zu Täuschungen können Unregelmässigkeiten in der
Menstruation führen, sei es, dass die Menstruation schon vor dem Eintritt
der Schwangerschaft mehrmals ausgeblieben, oder dass dieselbe noch während
der Schwangerschaft mehrmals eintrat, was öfters beobachtet worden ist.
Elsässer*J hat 50 solcher Fälle gesammelt und gefunden, dass die Menstruation
nach der Schwängerung sich einstellte:
in 8 Fällen noch 1 Mal
» "5 » " * »
» 8 „ „ 5 „
In allen mir vor dem Schwurgericht vorgekommenen Fällen jedoch, wo die Betref-
fenden angaben, dass sie während der Schwangerschaft noch ihre Menstruation hatten,
ergab sich auf weiteres Befragen, dass diese niemals in der regelmässigen Weise wie früher
eingetreten war.
Ausser den Unregelmässigkeiten in der Menstruation tragen zur Täu-
schung der Betreffenden auch noch Untersuchungen von Hebammen oder
behandelnden Aerzten bei, welche die Schwangerschaft verkannten, zur Be-
kämpfung der verschiedenen dieselbe begleitenden Erscheinungen mancherlei
Mittel in Anwendung brachten uud falsche Diagnosen stellten, z. B. ein
Cystom des Ovariums, wie in dem oben von Säxinger mitgetheilten Falle,
oder Wassersucht diagnosticirten, wie in dem folgenden Falle von
Wald-^-*):
Ein Ladenmädchen war sehr unregelmässig menstruirt und litt an allerlei Uebeln.
Den Coitus hatte sie einmal zugelassen und schrieb die Erscheinungen der Schwanger-
schaft ihrem früheren Leiden zu. Der behandelnde Arzt verordnete Landaufenthalt. In
der letzten Zeit der Schwangerschaft consultirte sie wiederholt den Arzt wegen Zunahme
des Bauchumfanges, und dieser stellte noch 8 Tage vor der Geburt die Diagnose auf
Wassersucht. Im Geschäftslocal wurde die Betreffende von der Geburt überrascht, das
Kind fiel auf den Boden. Als sie es aufhob, wickelte sie es in Tücher. Die Section ergab,
dass das Kind gelebt hat und dass Erstickungserscheinungen vorhanden waren, so dass
eigentlich ein Kindesmord vorlag. Die Betreffende entschuldigte sich wegen des Vorfalls
damit, dass sie nicht gewusst habe, schwanger gewesen zu sein, eine Entschuldigung, die
unter den obwaltenden Umständen nicht sehr glaubwürdig war, denn die Be-
treffende war sich des stattgehabten Coitus bewusst, hat die Kindesbewegungen gefühlt,
und wegen ihrer Zweifel sich fortwährend vom Arzte untersuchen lassen, muss daher
wenigstens an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gedacht haben.
Der m i r vorgekommene Fall betraf eine grossgewachsene, 21 Jahre alte Person vomi
Lande, welche mich wegen angeblicher Wassersucht, wogegen sie schon verschiedene Mittel
gebraucht hatte, consultiren wollte. Der Bauchumfang war allerdings bedeutend und einer
hochschwangeren, im letzten Stadium der Schwangerschaft befindlichen Person entsprechend.
Meine erste Frage war daher, ob sie nicht in schwangerem Zustande sich befinde, was sie
jedoch sofort verneinte mit dem Bemerken, dass sie nicht wüsste woher, auch habe sie
ihre Regeln eigentlich nie ganz verloren, sei auch beim Landarzt gewesen, der ihr Mittel
gegen Wassersucht gegeben habe u. s. w. Ich musste bald die sichere üeberzeugung ge-
winnen, dass die Person an die Möglichkeit einer Schwangerschaft nicht im entferntesten
dachte. Ich nahm nun eine genauere äussere und innere Untersuchung vor und konnte-
namentlich auch durch Fühlen des vorliegenden Kopfes und Hören der Herztöne aufs be-
stimmteste constatiren, dass die Person in hochschwangerem Zustande sich befinde und der
Geburt eines Kindes nahestehe. Ich theilte ihr das auf das Bestimmteste mit, verordnete
natürlich keine Mittel und rieth ihr, sich für die in kürzester Zeit bevorstehende Geburt
bereit zu halten. Sie verliess mich, immer noch behauptend, es könne nicht sein, begab'
sich aber doch zu einer Bekannten in der Stadt, von der ich nach 8 Tagen die Nachricht
erhielt, dass die Betreffende ein lebendes Kind bekommen habe.
*) Henke's Zeitschr. Bd. 73. S. 402
**) Lehrbuch 2. S. 130.
GEBURTSVERHÄLTNISSE. 299
Aus diesen Mittheilungen ergibt sich, dass die Möglichkeit einer Ver-
kennung der Schwangerschaft nicht bestritten werden kann, wenn gewisse
Verhältnisse bestehen, wohin namentlich gänzliche Unerfahrenheit, Unklarheit
bezüglich des stattgehabten Umganges, Unregelmässigkeit der Menstruation
und unrichtige ärztliche Diagnose gehören. Allein im Allgemeinen ist die
Combination solcher Verhältnisse doch eine Seltenheit, und sind daher auch
weitaus in den meisten Fällen die Angaben der Betreffenden, von ihrem
schwangeren Zustande nichts gewusst zu haben, unglaubwürdig und können
nicht als Entschuldigung für eine ganz unerwartet unter ungünstigen Ver-
hältnissen eingetretene Geburt angenommen werden.
Und, was die Behauptung einer unbewussten Geburt betrifft, auch wenn
die Betreffende ihre Schwangerschaft nicht abgeleugnet hat, indem sie angibt,
wenn die Geburt auf einem Abtritt stattfand, gar nicht gefühlt zu haben,
dass etAvas wie ein Kind von ihr abgegangen sei, und deshalb auch alle
Massnahmen zur Eettung desselben unterliess, so haben wir eine solche Be-
hauptung niemals für glaubwürdig erklärt. Als mir einmal in einem der-
artigen Falle ein Vertheidiger das Vorkommen solcher Fälle dadurch be-
weisen wollte, dass er mich fragte, ob nicht in einzelnen Gebäranstalten unter
den Abtrittsitzen Gitter angebracht seien, um allfällig unerwartet geborene
Kinder aufzufangen, bejahte ich diese Frage, fügte aber bei, dass ein solcher
Vorgang noch durchaus nicht beweise, dass die Betreffende den Abgang eines
Kindes nicht gefühlt habe.
4. Sturzgeburt.
Unter Sturzgeburten werden gemeinhin solche Geburten verstanden,
bei welchen das Kind aus den Geburtstheilen herausgetrieben, unmittelbar
irgend wohin stürzt, sei es auf den Boden, wenn die betreffende Person steht,
Stehgeburt, oder in einen Abtritt, wenn dort geboren wird, Sitzgeburt. Er-
folgt die Geburt, indem die Betreffende auf dem Boden kauert oder kniet,
so kann von einem Sturz des Kindes nicht wohl die Rede sein, und ebenso
verhält es sich bei Geburten auf Kübeln oder Nachtgeschirren. Wohl aber findet
bei Sitzgeburten auf Abtritten ein Sturz des Kindes von verschiedener Höhe statt.
Forensisch haben derartige Geburten insofern Bedeutung, als bei tödt-
lichen Folgen des Sturzes die Frage entsteht, inwieweit bei einem solchen
Vorkommniss die Mutter betheiligt ist, sei es durch Unterlassungen oder
Handlungen, worauf bei einzelnen Strafgesetzgebungen, wie z. B. bei der Bemi-
schen, Rücksicht genommen wird.
Der Tod des Kindes kann bei Sturzgeburten auf verschiedene Weise
herbeigeführt werden, bei Steh- und Kopfgeburten durch Verletzungen des
Schädels, bei Sitzgeburten in Aborten auch durch Körperverletzungen, oder was
noch häufiger ist, durch Erstickung in der Jauche. In Kindsmordfällen
spielen diese Sturzgeburten eine grosse Rolle.
Bezüglich der Veranlassungen zu Sturzgeburten sind zwei wesentlich
verschiedene Vorgänge zu unterscheiden, von welchen die Art der Sturz-
geburt abhängt. In dem einen Falle nämlich ist bei starken Wehen der
Geburtsverlauf ein sehr stürmischer und rascher, partus praecipitatus,
so dass die Betreffende von der Geburt überrascht und dadurch mitunter ge-
zwungen wird, an einem ganz ungeeigneten Orte die Geburt zu überstehen.
In anderen Fällen, und zwar den weitaus häufigsten, ist der Vorgang so, dass
die Geburt ihren normalen Verlauf durchmacht. Die Eröffnungsperiode dauert
nach VoiT") bei Erstgebärenden ungefähr 20, bei Mehrgebärenden etwa 12
Stunden, die Austreibungsperiode bei Erstgebärenden nicht ganz 2 Stunden,
bei Mehrgebärenden nur 1 Stunde. Nun wird von der Betreffenden die erste
Periode theils absichtlich, theils aus Unkenntniss ganz ausser Acht gelassen,
*) Mag. f. Geburtsk. Bd. 5, S. 344 u. Bd. 6, S. 105.
300 GEBÜRTSVERHÄLTNISSE.
und erst wenn die heftigen Wehen zur Austreibung des Kindes eintreten,
begeben sie sich auf Aborte oder werden an einem andern für die Geburt
ungeeigneten Orte von dieser überrascht und sprechen dann von Sturzgeburt,
und von der Unmöglichkeit, in diesem Zustande fähig gewesen zu sein, den
Abtritt zu verlassen oder sich sonst an einen andern für das Geburtsgeschäft
geeigneten Ort zu begeben. Das ist in Kindsmordsfällen der gewöhnliche
Vorgang bei den sogenannten Sturzgeburten.
Die Benennung Sturzgeburt verdienen eigentlich nur diejenigen Ge-
burten, welche den Charakter von präcipitirten haben, das Kind von einer
gewissen Höhe herabstürzt, so dass allfällig entstehende Verletzungen, zumeist
Kopfverletzungen, Folgen dieses Sturzes sind, und dieser durch den ab-
normen und ungewöhnlichen Geburtshergang herbeigeführt wird, für welchen
die Betreffende natürlich nicht verantwortlich gemacht werden kann. In den
zahlreichen anderen Fällen dagegen sind es keine Sturzgeburten, durch einen
abnormen präcipitirten Geburtshergang bedingt, sondern der Sturz ist die
Folge einer gewöhnlichen Geburt mit Vorhergang einer Eröffnungs- und Aus-
treibungsperiode, wobei aber die Betreffende die erste Periode, sei es absicht-
lich oder aus Unkenntniss, gar nicht beachtet und erst bei dem letzten Acte
der Austreibungsperiode auf einen Abort sich begibt, oder irgendwo stehend
von der Geburt überrascht wird. Hier trägt die Schuld am tödtlichen Sturze
des Kindes, wenn es keine unbewusste Geburt gewesen ist, wovon im vorigen
Artikel die Rede war, die Mutter.
Nach diesen verschiedenen Verhältnissen ist leicht einzusehen, dass es
für die medicinischen Experten schwierig sein kann, dem Richter die ent-
sprechende Aufklärung über diese Verhältnisse zu geben, damit eine richtige
Beurtheilung der Schuldfrage möglich ist, und sind hiezu auch noch die
äusseren Umstände, unter welchen die Geburt stattgefunden hat, von Seiten
des Richters sehr zu beachten.
Dass eine Geburt im Stehen vor sich gehen kann, ist nicht mehr zu
bezweifeln, doch wird der Act im Stehen immerhin so vor sich gehen, dass
die Stehende mit den Händen irgend wo sich hält oder anstemmt; freistehend
wird kaum je eine Person gebären können; sind keine Gegenstände zum An-
stemmen da, so wird sie sich niederkauern. Stehgeburten kommen übrigens
nicht bloss bei präcipitirten Geburten vor, sondern auch bei solchen, welchen
eine Eröffnungsperiode vorhergegangen ist. Den Fall einer unter solchen
Verhältnissen eingetretenen Stehgeburt habe ich erst kürzlich forensisch zu
behandeln gehabt, welchen ich als Beispiel anführe:
Eine 22jährige Person, welche schon einmal unehelich geboren hatte und als Köchin
im Dienste stand, wurde zum zweitenmal unehelich schwanger; die Schwangerschaft nahm
einen regelmässigen Verlauf, und auch die Geburt begann mit einer Vorbereitungs-
periode in der zweiten Hälfte der Nacht. Als die Austreibungsperiode nach stattgehabtem
Blasensprung einsetzte, begab sich die Betreffende in die Küche, brachte eine grössere
Schüssel in die Nähe des Kochherdes nebst einem dicken Tuch, und während sie nun am
Kochherd beschäftigt war und stehend einen schweren Kochtopf emporheben wollte, um
ihn zu dislociren, traten heftige Wehen ein, und die Kreissende konnte nur noch stehend,
mit den Händen auf den Topf gestützt, sich halten, als das Kind aus den Geburtstheilen
herausgetrieben, einen Moment von der Nabelschnur gehalten wurde, die zerriss, und
dann auf den Boden fiel. Sogleich brachte sie dasselbe in die Schüssel und bedeckte es
mit dem dicken Tuche. Sie hatte die Geburt verheimlicht, bis man das Kind in der Küche
fand. Die gerichtliche Untersuchung ergab, dass das Kind reif und lebensfähig war, dass
es gelebt hat und an Erstickung starb. Von dem durch die Nabelschnur abgeschwächten
Sturze hatte das Kind am Hinterkopfe eine rundliche röthliche Stelle von etwa 2 cm Durch-
messer. Die Nabelschnur war nahe der Placenta abgerissen und hatte eine Länge von
74 cm. Die Länge der unteren Extremitäten von den Hüften a,n gemessen betrug 85 cm.
Der Damm war nicht eingerissen.
Ob die Sturzgeburt eine präcipitirte oder eine bei einer gewöhnlichen
Geburt, sei es mit Absicht, sei es aus Unkenntniss, herbeigeführte Sturzgeburt
war, ergibt sich hauptsächlich aus dem Geburtsverlauf, der freilich nicht in
allen Fällen sicher gekannt ist.
GEFÄNGNISSWESEN. 301
Für eine präcipitirte Geburt spriclit der Vorgang, dass mit dem Kinde
zugleich auch die Nachgeburt abgeht, so dass der ganze Geburtsact in ver-
hältnissmässig kurzer Zeit verläuft. Auch hat man schon beobachtet, dass
in Folge der starken Wehen, wenn keine Unterstützung des Dammes stattfindet,
dieser mitunter in grösserer Ausdehnung einreisst. Ferner setzt eine prä-
cipitirte Geburt günstige Grössenverhältnisse des Kindskopfes und des Becken-
durchmessers voraus.
Selbstverständlich können dieselben Verhältnisse und Vorgänge auch
bestehen und vorkommen bei Sturzgeburten in Folge gewöhnlicher Geburten,
wenn die Betreffende nur den letzten Act der Geburt beachtet und für diesen
auf einen Abort sich begibt, oder von demselben stehend überrascht wird,
wie in dem oben mitgetheilten Falle.
In allen diesen Fällen wird eine Zerreissung der Nabelschnur statt-
finden, und zwar in Folge des Gewichtes des aus den Geburtstheilen heraus-
getriebenen Kindes. Diese so entstandene Zerreissung findet meistens dem
einen oder anderen Nabelschnurende nahe statt und ist an den unregelmässigen;
mehr oder weniger gezackten und schräg verlaufenden Trennungsrändern als
Kisswunde leicht zu erkennen, gegenüber einer Schnittwunde durch Scheere
oder Messer. Ist die Nabelschnur mehr in der Mitte gerissen, so dass noch
längere Beste am Kinde und an der Placenta sich befinden, so spricht das
mehr für eine Zerreissung durch Hände, als für eine solche durch Sturz des
Kindes, während die Trennung ganz nahe dem Kinde oder der Placenta die
erstere mehr oder weniger ausschliesst. Scharfe Trennung der Nabelschnur
spricht sozusagen immer gegen eine Sturzgeburt.
Bei Sturzgeburten kommen dann noch besonders die Schädelverletzungen
in Betracht, da ja bei Stehgeburten und bei den häufigen Kopfgeburten das
stürzende Kind auf den Kopf fällt. Die Höhe des Falles wird, absehend von
Abtrittsgeburten, bei welchen jene eine sehr verschiedene sein kann, der
Länge der unteren Extremitäten der Gebärenden entsprechen und daher
keine sehr bedeutende sein, doch wird hier die Beschaffenheit des Bodens
wesentlich in Betracht kommen, ob Stein, Holz, Erde u. dgl. In den meisten
Fällen fallen die Kinder mit dem einen oder anderen Scheitelbein auf, viel
seltener mit dem Hinterhaupts- oder Stirnbein, und besteht die Verletzung theils
in Quetschstellen der Beinhaut mit mehr oder weniger Blutaustritt, theils in
Fissuren und Fracturen, welche den Ossificationsstrahlen der Knochen folgen
und von dem Scheitelbeinhöcker ausgehend gegen die Sagittal-, Kranz- und
Lamdanaht verlaufen. Bald ist nur eine Fissur vorhanden, bald sind deren
mehrere miteinander in Zusammenhang stehende, welche auf eine momentane
Compression des Schädelgewölbes von der Auflallsstelle aus hinweisen.
Viel bedeutendere Verletzungen können bei Abtrittsgeburten vorkommen,
wo nicht blos die Auffallsstelle des Schädels fracturirt ist, sondern auch ein-
zelne Seitentheile des Schädels von dem Aufschlagen derselben an die Wan-
dungen der Abtrittsrohre Verletzungen zeigen. Bei Abtrittsgeburten kommen
übrigens meistens noch andere Todesursachen in Betracht, als diejenigen durch
Schädelverletzung. c. emmeet.
Gel^ngniSSWesen. (Hygiene des Gefängnisswesens).
Soweit wir in die Geschichte dex* menschlichen Gesellschaft zurückzublicken ver-
mögen, hat sich dieselbe allezeit das Recht zugesprochen, Verstösse gegen die jeweilige
gesellschaftliche Ordnung, gegen das jeweilig geltende Recht, an dem Thäter zu ahnden,
zu strafen, und unter den zur Anwendung gelangenden Strafmitteln finden wir seit den
ältesten Zeiten die Entziehung der Freiheit — das Gefängniss.
Die ersten Gefängnisse dienen allerdings nur in den seltensten Fällen dem Vollzuge
der Strafe, sie haben -vielmehr hauptsächlich den Zweck der Sicherung des Verbrechers
bis zur Vollstreckung des ürtheiles, das, den damaligen Rechtsanschauungen und dem
Strafzwecke jener Zeit entsprechend, auf eine Vernichtung oder möglichst schwere Schädi-
302 GEFÄNGNISSWESEN.
gang der leiblichen oder wirthschaftlichen Existenz des Verbrechers abzielt. Erst weit
später, am Ausgange des Mittelalters hat das Gefängniss auch die Bestimmung, dem Straf-
vollzuge zu dienen, und da auch noch zu dieser Zeit die Strafe dem Verbrecher ein
möglichst grosses üebel zufügen soll, entstehen jene entsetzlichen Gefängnisse, deren oft
gegebene Schilderungen uns mit Grauen erfüllen. Erst am Ausgange des 17. und Beginn
des IS. Jahrhunderts finden sich vereinzelt von höheren Gesichtspunkten ausgehende,
human denkende und von der Ueberzeugung, dass die damaligen Gefängnisse nur zur
Züchtung von Verbrechern dienten, durchdrungene Männer, von denen ein Versuch der
Besserung dieser Zustände ausgeht (Rathsherr Peter Rentzl in Hamburg 1670; Papst
Clemens XL 1703). Sehr langsam, erst gegen das Ende des 18. Jahrhunderts kommt nun
unter dem Einfluss der philantropischen Bestrebungen jener Zeit, insbesondere aber durch
das Wirken des grossen Menschenfreundes John Howard in England (1726 — 1790) die
Anschauung zum Durchbruche, dass das Verbrechen seinen Grund nicht ausschliesslich in
der Individualität des Verbrechers, sondern auch in den socialen Zuständen habe, dass die
Besserung des Verbrechers einen der Strafzwecke bilden müsse, dass die Freiheitsstrafe
nicht zu einer langsam vollzogenen Todesstrafe, der Verbrecher während und durch die
Haft nicht geistig und körperlich gebrochen werden dürfe. Insbesondere die Anerkennung
des Grundsatzes: Besserung des Verbrechers ist einer der vornehmsten Strafzwecke, musste
zur Ueberzeugung von der vollständigen Unzulänglichkeit und Untauglichkeit der be-
stehenden Gefängnisseinrichtungen führen, und der Versuch, diesen Strafzweck durch be-
stimmte, in den Strafvollzug eingreifende und denselben charakterisirende Massregeln zu
erreichen, führte zur Aufstellung und Entwicklung der verschiedenen Haftsysteme, von
denen noch späterhin ausführlicher gesprochen werden wird. Leben und Gesundheit der
Sträflinge gewannen jetzt erst für den Staat und die Gesellschaft Interesse, man begann,
sich mit den sanitären Zuständen der Gefängnisse zu beschäftigen, versuchte nach wissen-
schaftlichen Grundsätzen dieselben zu verbessern, und so entwickelten sich die Anfänge
einer Gefängnisshygiene.
Gegenwärtig hat das Strafrecht fast aller europäischer und der meisten überseeischen
Culturstaaten obige Anschauungen grundsätzlich acceptirt; allein die Durchführung einer
auf diesen Grundsätzen beruhenden Reform des Gefängnisswesens wurde durch die grossen
politischen Umwälzungen, welche dieses Jahrhundert mit sich brachte, vielfach unter-
brochen und gelangte mit Rücksicht auf die grossen financiellen Opfer, welche sie er-
heischt, in den meisten Staaten nur stufenweise zur Ausbildung. Dass bei der Durch-
führung einer solchen Reform der Hygiene eine grosse Rolle zufällt, ist selbstverständlich
und wurde auch allseitig anerkannt, wie überhaupt die grosse und weittragende sociale
Bedeutung einer richtigen Lösung der Probleme des Gefängnisswesens und des Strafvoll-
zuges von keinem Einsichtigen mehr geleugnet wird. Der aus der Haft körperlich ge-
schwächte, krank, minder arbeitsfähig Entlassene wird selbst bei festem Willen zur Besse-
rung, da ja für ihn der Kampf um das Dasein jetzt noch weit schwieriger geworden ist,
leichter wieder dem Verbrechen verfallen, als der kräftig und gesund entlassene Ver-
brecher; die Obsorge für die Gesundheit der Sträflinge ist somit nicht nur ein Postulat
der Humanität, sondern liegt auch im Interesse der menschlichen Gesellschaft.
Die sanitären Verhältnisse in den Gefängnissen besitzen in vielen
Beziehungen eine grosse Wichtigkeit für die Gesellschaft. Das enge Zu-
sammenwohnen so vieler Menschen in diesen Anstalten macht diese letzteren in
hohem Grade geeignet, sich zu Seuchenherden zu entwickeln; und in der That
wurde schon wiederholt das Uebergreifen einer in einem Gefängniss entstan-
denen Epidemie auf die freie Bevölkerung beobachtet. Bekannt ist in dieser
Beziehung die Katastrophe von Oxford im Jahre 1577, wo durch die aus dem
Gefängnisse vorgeführten Verbrecher das Richter- Collegium und noch 300 an-
dere Personen inficirt und binnen wenigen Tagen hinweggerafft wurden.
Insbesondere der in den früheren Gefängnissen geradezu endemische Fleck-
typhus hat, von einem Gefängnisse ausgehend, oft Verbreituog in der Bevöl-
kerung gefunden. Die Justizpflege hat auch überall den wissenschaftlich be-
gründeten Vorschlägen zur Besserung der sanitären Verhältnisse der Straf-
häuser in weitestem Umfange Folge gegeben. Der Effect war eine sehr be-
deutende Verminderung der Morbidität- und Mortalitätspercente in den Ge-
fängnissen aller Länder.
Trotzdem sind diese Percente selbstverständlich noch immer weit höher
als in der freien Bevölkerung und werden es auch immer bleiben, einmal weil
die hygienischen Bestrebungen bezüglich der Gefangenhäuser ihre Grenzen
finden und auch finden müssen, in der Anerkennung des Grundsatzes, dass
die Strafe für den Verbrecher immer ein empfindliches Uebel bleiben müsse,
GEFÄNGNISSWESEN. 303
weil weiters das Leben des Gefangenen ein so naturwidriges und so viele
Gefahren für Leib und Seele in sich schliessendes ist, dass die schädlichen
Wirkungen desselben nie ganz behoben werden können, und weil endlich die
Verbrecher zum grössten Theile aus einer Bevölkerungsschichte stammen,
welche theils schwer mit der Noth des Lebens zu kämpfen hat, theils einem
höchst excessiven Leben ergeben ist und sonach in den Strafvollzug einen
schon geschwächten und wenig widerstandsfähigen Organismus und den Keim
zu zahlreichen Erkrankungen mitbringt. Was nun die Sterblichkeitspercente
betrifft, so sind dieselben nach den Verschiedenheiten, die die einzelnen Straf-
anstalten bezüglich der körperlichen Beschaffenheit der Eingelieferten (ob vor-
wiegend Land- oder Stadtbewohner, industrielle Arbeiter etc.) oder der ört-
lichen Verhältnisse darbieten, grossen Schwankungen unterworfen und variiren
zwischen 0'9 und 9-07o- Speciell die österreichischen Anstalten hatten
im Jahre 1892 im Durchschnitte 3*2% Sterblichkeit bei den Männer- und
4*07o iii den Weiberstrafanstalten; in der Einzelhaft sogar nur 0-97o- Wir
werden auf die Bedeutung dieser letzten Ziffer noch bei der Besprechung der
verschiedenen Strafsysteme zurückkommen.
Ferner ist der durch die Statistik der Strafanstalten aller Staaten fest-
gestellte Umstand von Bedeutung, dass die beiden ersten Haftjahre die
grösste Sterblichkeit aufweisen. So fielen von den im Jahre 1892 in den
österreichischen Strafanstalten vorgekommenen Todesfällen 49"37o auf die
beiden ersten Haftjahre. Man wird wohl nicht fehl gehen, wenn man an-
nimmt, diese Erscheinung habe ihren Grund darin, dass die schon kränklich
oder schwächlich oder mit ausgesprochener Disposition zu schweren Erkran-
kungen dem Strafvollzuge Zugeführten, schon in den ersten beiden Haftjahren
dem schädigenden Einfluss der Haft erliegen und dadurch das Sterblichkeits-
percent so hoch stellen. Auch in den nächsten beiden Haftjahren ist die
Sterblichkeit noch sehr gross, nämlich 23*3 7o (in den österreichischen Straf-
anstalten im Jahre 1892), so dass diese beiden Haftperioden zu den vorge-
kommenen Todesfällen 72'67o lieferten. Das 3. und 4. Haftjahr raffen eben
von den Schwächlichen und Gebrechlichen hinweg, was sich in den beiden
ersten Jahren noch erhalten hat. In ziemlicher UelDereinstimmung mit diesen
Daten und den daraus gezogenen Schlüssen finden wir weiters bei der öster-
reichischen Strafanstaltsbevölkerung des Jahres 1892, dass von den Verstor-
benen 61 '470 bei ihrer Einlief erung als von mittelmässigem oder schlechtem
Gesundheitszustand oder als gebrechlich bezeichnet wurden. Was das Alter
der Verstorbenen betrifft, so befanden sich nahezu 53^0 derselben in der
Altersclasse von 20 bis 40 Jahren, ein Percentsatz, welcher so ziemlich dem
Percent entspricht, mit welchem diese Altersclasse in der Sträflingsbevölkerung
vertreten ist: 657o- Die Strafanstalten beherbergen somit der überwiegenden
Majorität nach Menschen aus dem besten und kräftigsten Lebensalter und
selbstverständlich keine Kinder, deren hohe Sterblichkeit in der freien Be-
völkerung das Sterblichkeitspercent so sehr beeinflusst; zwei Umstände, welche
bei der Beurtheilung der Sterblichkeit in den Gefängnissen schwer ins Ge-
wicht fallen. Ein Vergleich mit der Sterblichkeit derselben Altersstufe der
freien, selbst unter schlechten hygienischen Verhältnissen lebenden Bevölkerung
macht den verderblichen Einfluss der Haft noch deutlicher.
So verglich Engel die Sterblichkeit in den preussischen Strafanstalten im Jahre 1861,
welche 2-97°/o betrug, mit der gleichzeitigen Sterblichkeitsziffer der beim Berg- nnd Hütten-
wesen beschäftigten Arbeiter, von denen nur VOS^Jq starben, und kommt sonach zu dem
Schlüsse, „dass ungeachtet aller Sorgfalt und Pflege, die in den Strafanstalten den Kranken
gewidmet wird, die Gefangenschaft der Gesundheit fast doppelt so nachtheilig ist, als einer
der gesundheitsgefährlichsten Berufe und fast 3mal todbringender als derselbe."
Es ist eine seit langem bekannte Thatsache, dass es insbesondere die
Tuberculose in allen ihren Formen ist, welche in den Gefängnissen am häu-
figsten zur Todesursache wird. Wenn auch gewiss ein grosser Theil der an
304 GEFÄNGNISSWESEN.
Tuberculose Verstorbenen schon erkrankt, oder wenigstens in hohem Grade
disponirt, der Strafanstalt zugegangen ist, so muss doch zugegeben werden,
dass die Möglichkeit einer Infection gerade in den Strafanstalten und insbe-
sondere in der Gemeinschaftshaft eine sehr grosse ist und dass wohl ein
grosser Theil der Verstorbenen erst in der Anstalt selbst erkrankte.
Den günstigen Einfluss der Einzelhaft sehen wir auch hier wieder hervortreten,
indem nach dem statistischen Berichte über die österreichischen Strafanstalten des
Jahres 1892 die Zahl der Tuberculose-Todesfälle betrug: in der Gemeinschaft bei den
Männern 233, bei den Weibern 46, bei den in der Einzelhaft befindlichen 8, oder in Per-
centen ausgedrückt: in der Camulativhaft entfielen öl-S^/o der Todesfälle auf Tuberculose
bei den Männern und 62-2*'/o bei den Weibern, dagegen nur 36-4% in der Einzelhaft.
Es steht zu hoffen, dass durch geeignete hygienische Massnahmen auch
riicksichtlich der Tuberculose noch eine wesentliche Besserung erzielt werden
wird. Unter den Krankheiten, welche besonders häufig in den Strafanstalten
zur Beobachtung gelangen und die man deshalb nicht sehr glücklich Gefäng-
nisskrankheiten genannt hat, wären ätiologisch 2 Gruppen zu unter-
scheiden: solche, welche in vermehrter Zahl auftreten, weil sie durch die auf
die Gefangenen gleichmässig einwirkenden Schädlichkeiten bedingt siiid —
die Krankheiten der Gefangenen, und solche, an welchen die Gefange-
nen bei ihrem Eintritt in die Anstalt bereits leiden, die ihre Frequenz den
üblen Einflüssen verdanken, welchen ein grosser Theil der Verbrecher in der
Freiheit ausgesetzt ist, oder sich aussetzt — die Krankheiten der Ver-
brecher. Die Tuberculose ist wohl in beiden Gruppen vertreten. In die erste
wären einzureihen die Inanitionskrankheiten, welche sich so häufig bei den
Gefangenen als Folgen langer Haft und unzweckmässiger Ernährung einstellen
und als Gefängniss-Kachexie bezeichnet werden. Eingeleitet von Ver-
dauungsstörungen, welche ihrerseits wieder häufig eine Folge der langandauern-
den psychischen Depression vieler Gefangenen sind, und von Durchfällen füh-
ren diese Kachexien, namentlich bei Fortdauer der vegetabilischen Ernährung,
unter fortschreitender Abmagerung zur Insufficienz des Herzens, zu Hydrop-
sien, Lymphomen, Nephritis, chronischem Scorbut etc. 10 — 157o der Todes-
fälle sind auf sie zurückzuführen. Als Typen der 2. Kategorie wären ins-
besondere aufzuführen: die schweren Neurosen, Lues, chronischer Alkoholismus
und psychische Störungen. Auffallend hoch ist die Zahl der Fälle von
Hysterie bei den weiblichen Sträflingen und mit 25% des gesammten weib-
lichen Sträflingsstandes gewiss eher zu niedrig als zu hoch bemessen; von
einfacher hysterischer, psychischer Constitution bis zu schweren Lähmungen
und Krampfzuständen finden sich hier alle Uebergänge. Aber auch Psychosen
kommen in den Strafanstalten sehr häufig vor, betreffen meist hochgradig
veranlagte Individuen und entstehen unter dem Einflüsse der Haft gewöhnlich
in der ersten Zeit derselben. Es ist dies nicht eben verwunderlich, da ja
Criminalität und Geistesstörung so häufig derselben Quelle entstammen.
Nach ziemlich übereinstimmenden Angaben deutscher Gefangenhausärzte erkranken
nahezu 3°/o der Gefangenen an Psychosen, ein Percentsatz, der angesichts des Umstandes,
dass die Geisteskranken in der freien Bevölkerung Deutschlands nur 3 per mille betragen,
als ein sehr hoher bezeichnet werden muss. In den österreichischen Strafanstalten wurden
im Jahr« 1892 auffallenderweise nur 0'34'"/„ der Gefangenen von Psychosen ergriffen. Diese
grosse Difi'erenz in der Häufigkeit der Geisteskrankheiten in den österreichischen und
deutschen Strafanstalten kann jedenfalls nicht lediglich in der Verschiedenheit der Be-
völkerung beider Staaten begründet sein, sie wird sich zum Theil aus dem verschieden
strengen Massstabe, der bei der Beurtheilung zweifelhafter Geisteszustände angelegt
wurde, erklären lassen.
In vielen Staaten bestehen wegen dieser Häufigkeit der Psychosen bei
den Strafanstalten eigene Irrenabtheilungen, die, obwohl räumlich gesondert
und nicht unter der Hausordnung der Strafanstalt stehend, doch einen integri-
renden Bestandtheil derselben bilden. In neuerer Zeit wurden auch in
Deutschland ähnliche Einrichtungen getroffen und scheinen sich dort sehr zu
GEFÄNGNISSWESEN. 305
bewähren. Hervorzuheben wäre noch der rapide Verlauf, den Schwachsinns-
zustände unter dem Einlluss der Haft oft zeigen — offenbar in Folge der
ungeheuren Verarmung des Vorstellungsinhaltes in der Monotonie der Haft.
Innerhalb weniger Monate sahen wir einen bei seiner Einlieferung massig
Imbecillen, der noch für zurechnungsfähig erklärt werden musste, zum Ko-
prophagen herabsinken.
Auch die in den IStrafanstalten vorkommenden Selbstmorde und Selbst-
mordversuche finden am besten hier ihre Besprechung, weil sie ja zweifellos
in einem gewissen Connex zu den eben besprochenen Verhältnissen stehen.
Ueber die Häufigkeit derselben, sowie über ihre Motive ist es allerdings sehr
schwierig, verlässliche Daten zu erhalten.
In den österreichischen Strafanstalten haben im Jahre 1892 nur 3 Gefangene durch
Selbstmord geendet, so dass nur 0-7% aller Todesfälle auf Selbstmord zurückzuführen
waren und nur OOlS'Vo aller Sträflinge sich selbst den Tod gaben. Auch in den Straf-
anstalten anderer Staaten haben, offenbar in Folge der Besserung aller Verhältnisse in den-
selben und der humaneren Richtung in der Behandlung der Gefangenen die Selbstmorde
eine wesentliche Abnahme erfahren.
Es sind dem Gesagten zu Folge demnach die Gesundheitsverhält-
nisse in den Strafanstalten, wenn sich dieselben auch gegen frühere Zeiten
wesentlich gebessert haben, noch keineswegs besonders günstig zu nennen.
Einige der Ursachen hiefür liegen im Wesen der Strafe und sind durch hy-
gienische Massregeln nicht zu beseitigen, wie z. B. die tiefe psychische De-
pression vieler Gefangenen, die erzwungene Abstinenz vom normalen sexu-
ellen Verkehr etc. etc. Aufgabe der Gefängnisshygiene ist es aber, die übrigen
auf die Gefangenen einwirkenden Schädlichkeiten, soweit dieselben nicht im
Rahmen des gesetzlich normirten Strafvollzuges liegen, so viel als möglich
zu beseitigen. Dieses kann nur durch die sorgfältige Befolgung aller durch
die Hygiene im Allgemeinen aufgestellten Grundsätze geschehen. Die Gefan-
genen sind von Haus aus keine anders organisirten Menschen, als die Freien,
sie reagiren gerade so auf die ihre Constitution treffenden Schädlichkeiten,
nur dass sich diese letzteren im Gefangenhause summiren. Die Bedingungen
für das körperliche und geistige Gedeihen, ausgedrückt in der Beschaffenheit
von Luft, Boden, Wasser, Wohnung, Ernährung, Kleidung, Beschäftigung etc.,
sind bei den Gefangenen im Grunde genommen dieselben, wie für die freie
Bevölkerung, und die Hygiene hat nur diese Bedingungen dem Strafvollzuge
soweit als thunlich anzupassen.
Was zunächst die bauliche Anlage der Gefängnisse betrifft, so
haben im Allgemeinen die Grundsätze der Bauhygiene auf dieselbe An-
wendung. Grundsätzlich sollte die Unterbringung von Gefängnissen in nicht
für diesen Zweck eigens hergestellten Gebäuden, alten Klöstern, Castellen,
Festungen u. s. w., wie dies noch vielfach der Fall ist, ausgeschlossen sein.
Für die Anlage einer neuen Anstalt sollte eine möglichst freie, hohe Lage
auf durchlässigem, nicht morastigem Boden, nicht in unmittelbarer Nähe
einer Stadt oder grösserer Ansiedlungen gewählt werden. Die Nähe eines
grösseren Wasserlaufs ist erwünscht. Für einwandfreies Trinkwasser in
ausreichender Menge ist vorzusorgen, und bei Berechnung des für die Anstalt
überhaupt erforderlichen Wasserquantums auf die Möglichkeit einer aus-
giebigen Spülung Bedacht zu nehmen. Das für die Anstalt in Aussicht ge-
nommene Terrain ist gleich möglichst gross zu proponiren, um landwirth-
schaftliche Betriebe auf dem Anstaltsgrund durch einen Theil der Sträflinge
ausführen und die Nahrungsmittel für die Anstalt zum Theil selbst erzeugen
zu können, eventuell ist die Anlage von Rieselfeldern in Betracht zu ziehen.
Wichtig ist das Verhältniss der bebauten zur nicht bebauten Boden-
fläche, es muss für grössere bepflanzte Höfe, womöglich für eine Gartenanlage
Sorge getragen werden.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. ^ed. 2Ü
306 GEFÄNGNISSWESEN.
Bezüglich der Grösse der Anlage sollte dieselbe für höchstens 500 und
mindestens 200 Gefangene berechnet werden. Grössere Anlagen sind schwer
zu übersehen und der erziehliche Einfluss der Beamten auf die einzelnen
Häftlinge und die so nothwendige Individualisirung in der Behandlung der-
selben kaum mehr zu erreichen. Kleine Anstalten sind wegen der Kosten
der Bauanlage zu vermeiden. Was die innere Einrichtung der Gefäng-
nissräume betrifft, so richtet sich dieselbe zum Theile nach dem in Anw^en-
dung kommenden Strafsystem. Gegenwärtig haben die grösseren Strafanstalten
gewöhnlich neben einer grösseren Anzahl von Einzelzellen Räume für die
gemeinschaftliche Haft, nämlich Schlaf- und Arbeitssäle. Die Einzelzellen
sind in Flügeln, welche radienartig in einer grossen Centralhalle zusammen-
laufen, untergebracht. Sowohl die Centralhalle als die einzelnen Flügel sind
in den einzelnen Stockwerken nicht unter theilt, sondern bilden ihrer ganzen
Höhe nach einen Raum und haben Oberlicht. Der Zugang zu den einzelnen
Zellen findet nur auf schmalen eisernen Gängen und Stiegen statt, welche
auf der inneren Seite der Flügel angebracht sind. Es entsteht so in der
Mitte der ganzen Anlage und in den Achsen der Flügel ein sehr grosser
Luftraum, der durch Oberlicht gut beleuchtet ist und von der Centralhalle
aus einen sehr guten Ueberblick über sämmtliche Zellen gestattet. Nach
diesem System sind die meisten der neueren Strafanstalten gebaut.
In jeder Anstalt sollte ein eigener, von den übrigen Bauten möglichst
abgesonderter und baulich seinem Zwecke entsprechend angelegter Spitals-
tract vorhanden sein, welchem die freieste und sonnigste Lage zuzuweisen
wäre. Der Belagraum des Spitales sollte mindestens für 5*'/o des gesammten
täglichen Sträflingsstandes berechnet sein; abgesonderte Räume für Infections-
krankheiten und für Geisteskranke sind unbedingt erforderlich, die Einrich-
tung von 1 bis 2 Tobzellen sehr nothwendig.
Von grösster "Wichtigkeit sind die räumlichen Verhältnisse der Deten-
tionsräume. Die Einzelzelle, in welcher die Gefangenen Tag und Nacht ver-
bleiben, soll mindestens 25 khm Luftcubus besitzen, und zwar bei einer Höhe
von 3 Metern mindestens.
Dieses Ausmass ist das geringste, unter welches bei der baulichen An-
lage nicht mehr herunter gegangen werden sollte. Berücksichtigt man, wie
viele Gegenstände, Arbeitsutensilien u. s. w. in der Einzelzelle untergebracht
sind, so verringert sich der freie Raum ohnehin sehr beträchtlich. Die
Ministerialverordnung für die österreichischen Strafanstalten vom 28. Juni
1876 bestimmt für die Einzelzelle sogar 35 khm Luftcubus. Für die Einzel-
schlafzelle, in welcher der Gefangene nur die Nacht zubringt, während er
tagsüber in Gemeinschaft arbeitet, wird ein niedrigeres Ausmass, 14 bis 16 khm,
zugestanden werden können. In der Gemeinschaftshaft sind für die Schlafsäle
mindestens 16 khm Luftcubus auf einen Gefangenen zu berechnen; für die
Arbeitssäle sind allgemein giltige Masse schwer zu bestimmen, da sich die-
selben zum Theil nach der Arbeit richten sollen, doch sollten 6 bis 8 khm
Luftcubus mindestens auf 'einen Arbeiter entfallen.
Dass hiemit den Anforderungen für die Luftbeschaffenheit noch nicht
genügt ist, sondern auch für entsprechende Lufterneuerung durch Ventilation
Sorge zu tragen ist, ist selbstverständlich. In der Einzelzelle wird eine ent-
sprechend grosse Fensteröffnung verlangt werden müssen; dieselbe soll IQ m
betragen und mindestens 2 m über dem Boden angebracht sein; das Fenster
soll nach oben und innen aufzuklappen sein. In der Einzelzelle wird diese
Ventilation in den meisten Fällen genügen und eine centrale Ventilations-
anlage überflüssig werden, doch ist diese, da auch Centralheizung eingeführt
werden muss, unschwer herzustellen und mit der Heizung zu verbinden. In
den Schlaf- und Arbeitssälen der Gemeinschaftshaft ist aber eine grössere
Ventilationsanlage unerlässlich und auch hier am besten mit der Heizung
in Verbindung zn setzen.
GEFÄNGNISSWESEN. 307
Die letztere wird in den grösseren Gefängnissen, insbesondere in den
Zellengefängnissen, unbedingt durch eine centrale Anlage besorgt werden
müssen, und sind die verschiedenen Systeme zulässig. Am meisten wird die
Warmwasserheizung empfohlen, da dieselbe am gleichmässigsten die in den
weiten Flügeln der Anstalt zerstreut liegenden Räume mit Wärme versorgt,
während die Luftheizung häutig sehr ungleichmässig wirkt. Ueberdies bilden
die Kanäle der Luftheizung eine ausgezeichnete Brutstätte für Ungeziefer,
aus welcher dasselbe kaum auszurotten sein wird.
Auch die Frage der künstlichen Beleuchtung, insbesondere der Arbeits-
räume ist von Wichtigkeit, weil die Verschlechterung der Luft durch die
Verbrennungsproducte der Lichtquelle möglichst vermieden werden soll. Des-
halb ist das Petroleumlicht, das diesen Fehler am meisten an sich trägt,
möglichst zu vermeiden. Für grössere Anstalten wird es meist leicht möglich
sein, Gaslicht oder elektrisches Licht selbst zu erzeugen, und wäre dieser
Beleuchtungsmodus dann allerdings der beste.
Die Beseitigung und Unschädlichmachung der Abfallstoffe und
Spülwässer ist eine weitere hochwichtige sanitäre Massnahme. Das hiezu
geeignete Verfahren wird sich auch hier nach den Einrichtungen des Ge-
langenhauses zu richten haben. In der Cumulativhaft sind Closete mit
Wasserabschluss und reichlicher Spülung anzulegen, dieselben aber mög-
lichst an einer mehr abgesonderten Stelle der Anstalt zu vereinigen. In den
gemeinschaftlichen Schlafsälen wird zu ähnlichen Einrichtungen gegriffen
werden müssen. In der Einzelhaft empfiehlt sich mehr ein portatives System,
und scheinen die in vielen Strafanstalten, so auch in Stein, in Anwendung
stehenden folgenden Einrichtungen ihrem Zwecke sehr gut zu entsprechen.
In jeder Einzelzelle ist in der gegen den Gang gerichteten Wand eine Nische an-
gebracht, die einen grösseren eisernen Topf enthält. Die Nische ist nach innen gut
schliessbar, enthält ein Gefäss mit einem Desinfectionsmittel und hat einen Ventilations-
schlauch, der in den nächsten Kamin oder ins Freie mündet; sie ist aber auch von aussen,
vom Gange aus zugänglich, und von hier aus wird jeden Morgen durch einen Sträfling der
Topf entfernt und in der in jedem Stockwerk eines jeden Flügels befindlichen Spülzelle
entleert und gereinigt. Der Insasse der Zelle kann sonach jede einzelne Entleerung sofort
selbst desinficiren, was bekanntlich die sicherste und beste Desinfection darstellt. Als
Desinfectionsmittel wird hiebei vielfach Torfmull verwendet, welchem jedoch zwar eine
grosse Desodorirungs-, aber nur eine schwache oder gar keine Desinfections-Wirkung zu-
kommt.
Betreff der weiteren Beseitigung der Abfallstoffe wird es wohl nur selten
möglich sein, die Anstalt in ein bestehendes Canalisationssystem einzufügen.
Wo es geschehen kann, ist dieser Modus zu wählen. Wo dies nicht möglich
ist, wäre das Tonnensystem den anderen Methoden vorzuziehen. Dasselbe
ist auch in den Zellengefängnissen, wo unter den Spülzellen je eines Flügels
eine Tonne aufgestellt wird, leicht durchführbar. Der Inhalt der Tonnen
kann zur Beschickung von Rieselfeldern, Bereitung von Kunstdünger u. s. w.
verwendet werden und zwar zweckmässig durch die Anstalt selbst.
Ferner ist in jeder Anstalt auf die Anlegung einer entsprechenden
Badeeinrichtung Bedacht zu nehmen und soll dieselbe neben W^annen-
bädern, kalten und warmen Douchen, womöglich ein Dampfbad enthalten.
Neben diesen, die bauliche Anlage und Einrichtung der Strafanstalten
betreffenden hygienischen Massnahmen, kommt die grösste Bedeutung für die
Gesundheit der Gefangenen der Ernährung derselben zu. Sie bildet wie
die wichtigste, so auch die schwierigste Aufgabe der Gefängnisshygiene.
Die unzweckmässige, allen Gesetzen der Ernährung widersprechende,
im besten Falle auf die Stillung des Hungergefühls ausgehende Verpflegung
der Gefangenen in den früheren Gefängnissen war die Grundursache der un-
günstigen Gesundheitsverhältnisse und der hohen Sterblichkeit in denselben.
Freilich ist es überhaupt noch nicht allzu lange her, dass wir über die Ge-
setze des Stoffwechsels im menschlichen Körper und über rationelle Ernäh-
20*
308 GEFÄNGNISSWESEN.
rung desselben auf wissenschaftlicher Forschung beruhende Kenntnisse be-
sitzen. Erst die grundlegenden Arbeiten vox Pettenkofer's und von Voit's,
sowie RuBNEß's Forschungen über die Ausnützung der Nahrungsmittel im
menschlichen Körper haben uns in den Stand gesetzt, zweckentsprechende
Vorschriften über eine Ernährung zu geben, welche, wie es bei den Gefan-
genen geschehen soll, den Körper durch einfache und zugleich billige Nahrungs-
mittel in einem stofflichen Gleichgewicht zu erhalten und ihn zu einer ent-
sprechenden Arbeitsleistung zu befähigen vermag. Den insbesondere von
V. VoiT diesbezüglich gestellten Anforderungen über die Menge und Art der zu
verabreichenden Nährstoffe ist auch seitens der Staatsverwaltung überall in
liberalster Weise entsprochen worden, und die Menge der gereichten Nähr-
stoffe muss heute fast überall als eine zureichende bezeichnet werden. Die
Schwierigkeiten einer rationellen Gefängnisskostnorm bestehen aber noch
immer in der richtigen Auswahl und Mischung jener Nahrungsmittel, welche
dem geforderten Gehalt an Nährstoffen entsprechen.
VoiT hat bekanntlich als Norm aufgestellt: eine tägliche Zufuhr von 118 g Eiweiss,
56 g Fett und 500 g Kohlenhydrate für einen arbeitenden, männlichen Gefangenen mittel-
mässiger Constitution, und 85 g Eiweiss, 30 g Fett und 300 g Kohlenhydrate für einen nicht
arbeitenden Gefangenen. Aus financiellen Gründen ist die Gefängnisskost eine überwiegend
vegetabilische und war es früher ausschliesslich. Die geforderte Menge von 500 g Kohlen-
hydraten, die übrigens Voit selbst als das Maximum der Kohlenhydratzufuhr bezeichnet,,
sind jedoch in den verschiedenen vegetabilischen Nahrungsmittel in sehr verschiedener
Menge derselben enthalten. Wählen wir beispielsweise als Vertreter der eigentlichen Amy-
lacea das Weizenbrot und den Reis, als Vertreter der Leguminosen die Erbsen, weiters.
wegen ihrer ausgedehnten Anwendung als Nahrungsmittel die Kartoffel, endlich für die
sogenannten grünen Gemüse die gelbe Hübe, so finden wir die geforderten 500 g Kohlen-
hydrate in 934 g Weizenbrot mittelfeiner Sorte, in 640 g Reis, in 862 g Erbsen, aber erst
in 2293 g Kartoffeln und erst in über 4000 g gelben Rüben enthalten. In den 934 g Weizen-
brot wären auch 127 g Eiweiss und nahezu 50 g Fett enthalten; die 640 g Reis würden
aber nur 60 g Eiweiss und gar kein Fett, die 862 g Erbsen wohl überschüssiges Eiweiss,
nämlich 160 g, aber ebenfalls kein Fett, die ohnehin schon sehr grosse Menge Kartoffel
aber nur 44 g Eiweiss ohne Fatt und die 4000 g gelbe Rüben erst 60 g Eiweiss und eben-
falls kein Fett ergeben.
In ähnlicher Weise verhalten sich die meisten vegetabilischen Nahrungsmittel. Mit
Ausnahme des Weizenmehles enthält somit keines derselben die entsprechende Menge Ei-
weiss und Fett. Da der fehlende Fettbedarf leicht hinzugefügt werden kann, so handelt es
sich hauptsächlich um den Ersatz des fehlenden und hochwichtigen Eiweissquantums.
Die vegetabilischen Nahrungsmittel haben aber ferner noch den Nachtheil, abgesehen
von der ungenügenden Menge Eiweiss, die sie enthalten, dass selbst die erforderliche Menge
Kohlenhydrate nur bei einem sehr grossen Volum der Kost gereicht werden kann; bei
einigen derselben übersteigt dieses Volum zweifellos die Aufnahmsfähigkeit der mensch-
lichen Verdauungsorgane nnd ist selbst bei den mindest voluminösen, dem Weizenbrot und
Reis, ein nur von wenig Individuen bewäitigbares. Kurz, „die Ertragbarkeit" nach Rubner,
der darunter die somatischen Empfindungen nach Aufnahme der Nahrung ohne Rücksicht
auf die Resorbirbarkeit und Ausnützbarkeit versteht, ist bei der vegetabilischen Kost eine
geringe. Hiezu kommt noch, dass durch die bei allzureichlicher Ernährung mit Amyl-
acen im Darme entstehenden Gährungsprocesse auch eine vermehrte Peristaltik des.
Darmes hervorgerufen wird, welche die Ingesta noch rascher und mit noch grösseren
Verlusten für die Resorption wieder aus dem Darme entfernt, und dass bei längerem,
Bestand dieser Gährungsprocesse Diarrhöen und Darmkatarrhe entstehen, welche bei dem
gewöhnlich ohnehin geringen Körperbestand der Gefangenen von den bedenklichsten
Folgen sind.
Endlich besteht bei den vegetabilischen Nahrungsmitteln ein sehr grosser Nachtheil
in dem Umstände, dass von ihrem ohnehin geringen Eiweissgehalt ein grosser Theil nicht
resorbirt wird und mit dem Kothe vollständig unausgenützt den Organismus wieder ver-
lässt. Dieser Eiweissverlust durch mangelhafte Ausnützung ist bei vielen Vegetabilien ein
sehr grosser und beträgt, um bei den früheren Beispielen zu bleiben, nach Rubner bei Brot
der verschiedenen Sorten 20 bis 30%, bei Reis 20-4%, bei Erbsen 17-5%, bei Kartoffeln 32-2o|o,
und bei gelben Rüben sogar 39'0*'/o des Eiweissgehaltes.
Es ist somit klar, dass wir dem Organismus Ersatz für das in den Vegetabilien in
unzureichender Menge vorhandene und für seine ungestörten Functionen so nothwendige Ei-
weiss bieten müssen, dass wir der Nahrung einen sogenannten „Eiweissträger" hinzufügen
müssen. Der beste Eiweissträger ist das frische Fleisch, ausserdem Milch, Käse, Kleber etc.
Es ist nun Sache einer rationellen Kostnorm, das Verhältniss zwischen vegetabilischem
und animaUschem Eiweiss herzustellen, das täglich in der Nahrung gereicht werden soll.
GEFÄNGNISS WESEN. 309
Bestimmte, überall gütige Speisenormen lassen sich aber mit Rücksicht auf die in den ver-
schiedenen Gegenden leichter oder schwerer zugänglichen Arten vegetabilischer Nahrungs-
mittel und mit Rücksicht auf die landesübliche Ernährungsweise, der auch die Gefangenen-
kost möglichst nahe kommen soll, nicht aufstellen. Es wird aber je nach der zur Zeit
gereichten vegetabilischen Kost das fehlende Eiweiss und Fett zu ergänzen sein. Das Maxi-
mum von Brot, welches gegeben werden kann, soll nach Rubner nicht 750^ übersteigen.
Aus der Brotration und den übrigen zur Zeit benützten Vegetabilien ist der Eiweissgehalt
leicht zu berechnen und so auch die zur Completirung des Eiweissbedarfes nöthige Menge
der Eiweissträger zu bestimmen. So wird man, wenn Leguminosen gegeben werden, den
Eiweissträger nahezu ganz entbehren können, wird denselben aber in vermehrtem Masse
der Kost zusetzen müssen, wenn überwiegend sogenannte grüne Gemüse gereicht werden.
Heutzutage bekommen fast in allen Strafanstalten die Gefangenen 2- bis 3mal
wöchentlich frisches Fleisch in einem allerdings sehr wechselnden, zwischen 100 und 200 y
schwankenden Ausmasse. Aber insbesondere die Verwendung von Milch und Käse zu
•diesem Zwecke wäre in weit grösserem Umfange, als bisher üblich, empfehlenswerth;
speciell der Käse, der ja überall billig zu beschaffen wäre und nach den neuesten Unter-
suchungen auch die Ausnützung des vegetabilischen Eiweisses sehr fördert. Auch die in vielen
Ländern sehr billigen minderwerthigen Fischsorten werden mit Vortheil angewendet werden
können, wie es übrigens in mehreren Staaten schon geschieht. Voit empfiehlt, die dem
Fleische beifallenden Knochen unter hohem Drucke auszusieden, wodurch sowohl eine
Leim gebende Substanz, als auch reichlich Fett in die Brühe übergeht, welch letztere dann
zur Bereitung anderer Speisen verwendet werden könnte.
Mit der richtigen Auswahl der Nahrungsmittel ist aber die Frage der
Ernährung der Gefangenen noch nicht gelöst. Ein sehr grosser Fehler der
Gefängnisskost, wie sie heute üblich ist, liegt in ihrer Monotonie und Reiz-
losigkeit. Es ist nicht immer ganz richtig, dass Hunger der beste Koch ist.
In Strafanstalten kann man es sehen, dass der Gefangene, trotzdem er hungrig
ist, die vorgesetzten Speisen nicht essen kann, weil er sich an ihnen „ab-
gegessen" hat, dass er trotz Hungers beim blossen Anblick der Kost und
durch ihren Geruch Brechneigung, Würgen, selbst sogar Erbrechen (das so-
genannte Erbrechen mit reiner Zunge) bekommt und absolut nicht im Stande
ist, die Nahrung zu sich zu nehmen. Auch die fast ausschliessliche Breiform,
in welcher die Kost gereicht wird, trägt zu dem Ekel und Widerwillen sehr
viel bei und hat überdies den Nachtheil, dass in Folge der geringen Kau-
bewegungen auch eine sehr geringe Einspeichelung der Speisen erfolgt, was
namentlich bei stärkemehlhaltigen Nahrungsmitteln deren Verdauung und
Ausnützung beeinträchtigt.
RuBNER äussert sich über die Folgen der Monotonie wie folgt: „Die Abneigung gegen
monotone Kost hat ihre weitere Berechtigung noch darin, dass gleichmässige Kost —
namentlich vegetabilische — häufig zu Darmbeschwerden Veranlassung gibt. Es bilden
sich Gährungsprocesse aus, welche immer lebhafter werden, insoferne, als jeder nach-
folgende Dai'minhalt an den Wandungen bereits jene Keime vorfindet, welche unter den
gegebenen Bedingungen am besten sich entwickeln. Dadurch werden die Gährungen immer
lebhafter, bis es zur wirklichen Erkrankung des Darmes kommt."
Auch die vollständige Reizlosigkeit der Gefängnisskost, die fast aller
Genussmittel entbehrt, ist ein schwerwiegender Uebelstand. Allerdings tragen
die Genussmittel zur eigentlichen Ernährung nicht direct bei, wohl aber in-
direct, indem sie die Aufnahme der Speisen erleichtern und überdies durch
ihren Einfluss auf das Nervensystem die Verdauung derselben befördern. „Die
Genussmittel machen die Nahrungsstoffe erst zu einer Nahrung", sagt Voit.
Endlich ist aber auch eine eingehende Individualisirung in der Kost
der Gefangenen erforderlich. Es ist geradezu widersinnig, so vielen Menschen
ohne Rücksicht auf ihre Constitution oder Grösse, ihr Alter, ihre Arbeits-
leistung, ihre Muskelentwicklung u. s. w., kurz ohne Rücksicht auf ihr Nahrungs-
erforderniss und eventuelle Gebrechen, die gleiche Nahrung in gleicher Form
zu reichen. Hier sollte dem Arzte vollkommen freie Hand gelassen werden.
Auch dieser Forderung wird in der Einzelhaft leichter entsprochen werden
können. Daneben sollten periodische Wägungen der Gefangenen obligatorisch
gemacht werden. Wenn auch bei dem gewöhnlich sehr grossen Wassergehalt
der Gewebe der Gefangenen die Wage allein zur Bestimmung des Ernäh-
310 GEFÄNGNISSWESEN.
rungszustandes nicht ausreicht, so gestattet doch die Wägung in Verbindung
mit den sonstigen Ergebnissen der ärztlichen Untersuchung ein richtiges
Urtheil über eine eventuelle Verminderung des Ernährungszustandes der
Gefangenen, und ist dann durch eine Erhöhung oder Verbesserung der Kost
oder durch Verminderung der Arbeitsleistung Abhilfe möglich, bevor der
Organismus zu sehr geschädigt ist.
Neben diesen beiden Haupterfordernissen für die Gesundheit der Ge-
fangenen, der richtigen Ernährung und der baulichen Anlage der Anstalten^
kommt den übrigen Einrichtungen eine geringere Bedeutung zu.
Die Kleidung, an deren Uniformität aus begreiflichen Gründen fest-
gehalten wird, erfordert für den Gefangenen keine weiteren Eigenschaften
als für einen anderen Arbeiter, nur ist auf das notorisch grosse Wärme-
bedürfniss der Gefangenen Eücksicht zu nehmen, ebenso auf eventuelle frühere
Gewohnheiten bezüglich wärmerer Unterkleider u. s. w., weil sich sonst leicht
Rheumatismen entwickeln können.
Bezüglich der Lagerstätten ist auf ein eigenes Bett für jeden Ge-
fangenen unbedingt zu dringen. Die gemeinschaftlichen Schlafstellen, soge-
nannte Pritschen, wie sie sich noch heute in einzelnen Strafanstalten, ja
sogar in Untersuchungsgefängnissen finden, sind unbedingt zu beseitigen und
zwar nicht nur aus hygienischen Gründen, sondern auch aus Gründen der
Sittlichkeit. Es ist geradezu eine Verleitung zur Unzucht, wenn man junge
Leute, denen der normale sexuelle Verkehr entzogen ist, halb entkleidet in
so nahe Berührung mit einander bringt, wie es auf diesen „Pritschen" ge-
schieht. Auch gross und breit genug soll das Bett sein, denn der Gefangene,
der tagsüber tüchtig gearbeitet hat, hat auch das Recht, seinen Körper Nachts,
in einer bequemen, nicht durch die Mängel der Lagerstätte erzwungenen Lage,
ausruhen zu lassen.
Dass auf die peinlichste Reinlichkeit nicht nur in der ganzen An-
stalt, sondern auch bei den Gefangenen gesehen werden soll, ist selbstver-
ständlich und bedarf keiner Begründung. Heutzutage findet man auch in
vielen gut geleiteten Anstalten eine Sauberkeit und Nettigkeit, welche, so wie
sie natürlich zur Erhaltung der Gesundheit beiträgt, auch einen nicht zu
unterschätzenden erziehlichen Einfluss auf die Gefangenen ausübt. Behufs
Pflege der körperlichen Reinlichkeit ist neben Sorge für Bäder — jeder Ge-
fangene sollte im Winter mindestens Imal, im Sommer 2mal monatlich, ein
Bad erhalten ■ — den Gefangenen eine ausgiebige Waschung am Morgen vor
der Arbeit und am Abend nach derselben, bei staubiger Arbeit auch vor dem^
Essen, zu ermöglichen. Die Waschapparate mit laufendem Wasser sind die
vom hygienischen Standpunkte einzig zulässigen.
Eine grössere Wichtigkeit kommt der Beschäftigung der Gefan-
genen zu. Nach den modernen Gesetzen über den Strafvollzug ist die
Zwangsarbeit der Gefangenen überall eingeführt und gewiss auch vom hygie-
nischen Standpunkte nur zu billigen, da die durch die Arbeit hervorgerufene
Muskelthätigkeit, so wie sie die Ausnützung der Kost fördert, auch dem
allgemeinen körperlichen Zustande des Gefangenen dienlich ist.
Einer Ueberanstrengung der Gefangenen sollte allerdings durch die
ärztliche Controle der Arbeit vorgebeugt werden; ein Ausmass von 10 bis 11
Stunden Arbeitszeit mit den entsprechenden Unterbrechungen (Mahlzeit^
Spaziergang etc.) dürfte im Allgemeinen entsprechend sein.
Was die verschiedenen Arbeitszweige anbelangt, so sollte das Bestreben
zunächst dahin gehen, möglichst alle Erfordernisse der Anstalt durch die
eigene Arbeit zu decken. Hiebei werden schon viele Gefangene im Freien
bei landwirth schaftlichen Betrieben Verwendung finden können — eine Arbeit^
die für die Gesundheit der Gefangenen von wohlthätigstem Einflüsse ist, der
abwechselnd nach einem gewissen Turnus alle Gefangenen zuzuweisen wären
GEFÄNGNISSWESEN. 311
und die von Kirn sehr passend als „die Badecur der Gefangenen" bezeichnet
wurde. Auszuschliessen wären nur jene Betriebe, welche durch mechanische
oder chemische Verunreinigung der Luft von schädlichen Folgen für die Ge-
fangenen sein könnte. Bei der Zuweisung der Gefangenen an die einzelnen
Betriebe sollte auch die Stimme des Anstaltsarztes gehört werden.
Im Allgemeinen bestimmt der Entwurf des Gesetzes über den Strafvollzug im
deutschen Reiche, dass „auf die Kenntnisse, die Lebensgewohnheiten, billige Wünsche, das
spätere Fortkommen und die Gesundheit der Gefangenen E,ücksicht zu nehmen sei". —
In den letzten Jahren wurde in Oesterreich die Verwendung von Sträflingen zur Arbeit
bei den Wildbachverbauungen im Hochgebirge versuchsweise durchgeführt, und zwar mit
sehr gutem Erfolge. Der Gesundheitszustand dieser Gefangenen war trotz sehr an-
strengender Arbeit ein im Ganzen recht befriedigender, und die durch diese Massregel
nebenbei erzielte theilweise Evacuirung der betreffenden Anstalten kam auch den in der
Anstalt verbliebenen zu Gute. Bemerkenswerth ist, dass bei diesen Sträflings-Abtheilungen,
von denen einige wochenlang in einem einsamen Hochthal arbeiteten, und wobei 60 bis 70 Ge-
fangene nur von 5 bis 7 Aufsehern überwacht wurden, die Disciplin durchwegs eine
musterhafte war, die Gefangenen auch die schwersten Arbeiten bereitwillig ausführten, und
die betreffenden Abtheilungen auch wiederholt bei Katastrophen, welche die freie Be-
völkerung betrafen, in die ßettungsaction mit grösstem Eifer und Erfolg eingriffen.
Zur Aufrechthaltung der Disciplin in den Gefangenhäusern sind ge-
wisse, vom Leiter der betreffenden Anstalt zu verhängende Disciplinarstrafen
leider unerlässlich. Die körperliche Züchtigung, früher in grossem Umfange
geübt, ist jetzt fast überall aufgehoben, und so bestehen die Disciplinarmittel
heutzutage in Ertheilung eines Verweises, Entziehung von Begünstigungen,
bei dem progressiven Haftsystem in Rück Verweisung in eine niedere Abthei-
lung, Entziehung des Arbeitsverdienstes, Anhaltung in der Dunkel-Zelle bei
hartem Lager und endlich in Kostschmälerungen. Gerade das letztere Straf-
mittel hat aber in hygienischer Beziehung seine grossen Bedenken und wird
von vielen Seiten, auch von Kubner, als absolut unzulässig bezeichnet, „denn
es gefährdet Leben und Gesundheit in nachhaltigster Weise".
Allein andererseits muss zugestanden werden, dass gerade dieses Dis-
ciplinarmittel bei ganz depravirten, verrohten und verkommenen Verbrechern
fast das einzige wirksame ist. Jedenfalls sollte aber auch hier dem Anstalts-
arzte der weitgehendste Einfluss gewahrt bleiben.
Im Übrigen wäre der Ausspruch eines der ausgezeichnetsten und erfahrensten
Gefangenhausärzte, Beer's, zu beachten: „Gefangene, die sich in der Anstalt viele Strafen
zukommen lassen, sind für mich immer geistig verdächtig gewesen, weil Individuen mit
normalem psychischen Vermögen die richtige Einsicht in ihre Lage haben und sich den
gegebenen Verhältnissen bald zu accomodiren lernen."
Ausser den in Vorstehendem erläuterten hygienischen Grundsätzen und
Einrichtungen kommen noch die prophylactischen Massregeln zur
Verhütung der Verbreitung von Infectionskrankheiten in Betracht. Sie sind
selbstverständlich im Grossen und Ganzen keine anderen, als die von der
Gesetzgebung aller modernen Staaten in Bezug auf diese Krankheiten in An-
wendung gebrachten und auch vollkommen genügend, um bei exacter und
genauer Handhabung den Ausbruch einer Epidemie in einer Strafanstalt hintan-
zuhalten. Alle diesbezüglichen Vorschriften über Isolirung der Kranken,
Desinfection der Kleider, Wäsche, Utensilien, Dejecte u. s. w., finden auch in
den Strafanstalten ihre volle Anwendung und bedürfen daselbst nur einer noch
strengeren Durchführung, weil die dichte Bevölkerung dieser Anstalten und
die geringere Widerstandsfähigkeit, man könnte sagen, die leichtere Inficir-
barkeit ihrer Insassen die Gefahr steigern. Ein grösserer moderner Des-
infectionsapparat sollte demnach in keiner Strafanstalt fehlen. Von besonderen
Massnahmen wären noch zu erwähnen: die Revaccination bei allen Sträflingen
bei ihrem Eintritt in die Anstalt, welche in den meisten Staaten obligatorisch
ist und auch in Oesterreich durch den Ministerialerlass vom 11. Dec. 1888
angeordnet ist. Bezüglich der ägyptischen Augenkrankheit besteht in Oester-
reich die Verordnung, dass sämmtliche Sträflinge vierteljährlich einer genauen
312 GEFÄNGNISSWESEN.
Untersuchung in Bezug auf Trachom-Erkrankungen unterzogen werden müssen.
Ueber die vorgenommene Untersuchung ist ein Protocoll zu führen und das-
selbe dem landesfürstlichen Amtsarzte auf Verlangen vorzulegen. Nur mit
Rücksicht auf die Tuberculose, welche, wie wir gesehen haben, eine so grosse
Verbreitung in den Strafanstalten findet, wären noch strengere Massnahmen
erwünscht, so insbesondere die schon in vielen Anstalten, aber noch nicht
überall durchgeführte Verwendung von Spucknäpfen mit flüssiger Füllung
(Carbolwasser, Kaliumpermanganat, auch gewöhnliches Wasser) zur Verhütung
der Verstaubung des Auswurfes. Dabei ist es aber selbstverständlich noth-
wendig, dass alle Getangenen bei Vermeidung strenger Bestrafung angewiesen
werden, diese Spucknäpfe auch wirklich zu benützen und niemals auf den
Boden zu spucken. Ferner die gründliche Desinfection der Kleider und der
Wäsche noch arbeitender Tuberculöser vor ihrer Verwendung bei anderen
Gefangenen, endlich die räumliche Trennung solcher Sträflinge von den
übrigen Gefangenen bezüglich der Arbeitsräume und Schlafsäle.
Weiter sollte der für die Erstarkung der Körperconstitution und die
Hebung der Widerstandsfähigkeit der Gefangenen so wichtigen körper-
lichen Uebungen im Freien seitens der Anstaltsorgane volle Aufmerk-
samkeit zugewendet werden.
Zur Pflege der religiösen Gefühle der Gefangenen, sowie zum Unterricht
derselben sind in den meisten modernen Strafanstalten die umfassendsten
Einrichtungen getroffen, die jedoch in dieser Schrift, welche hauptsächlich die
Hygiene des Gefängnisswesens behandeln soll, eine eingehendere Würdigung
nicht finden können.
Es erübrigt noch, die verschiedenen Haftsysteme einer Bespre-
chung zu unterziehen.
Das älteste und auch jetzt noch vielfach gebräuchliche ist die Cumu-
lativhaft. Die Gefangenen arbeiten tagsüber in gemeinschaftlichen Arbeits-
räumen und schlafen in grösseren gemeinschaftlichen Schlafsälen. Die früheren
Gefängnisse machten gar keinen Unterschied zwischen den einzelnen Sträf-
lingen, sie wurden ganz wahllos in den einzelnen Räumen zusammengepfercht,
nicht einmal eine Trennung der Geschlechter war durchgeführt — und es ist
geradezu unglaublich, was in dieser Beziehung von verlässlichen Gewährs-
männern berichtet wird. Gegenwärtig, wo ja schon im Strafgesetze verschie-
dene Kategorien von Gesetzesverletzungen und dementsprechend auch ver-
schiedene Haftkategorien aufgestellt sind, ist es ja in dieser Beziehung besser
geworden. Aber der schwere Vorwurf, der gegen dieses System, wenn hier
überhaupt von einem „System" die Rede sein kann, seit langem erhoben
wurde, dass es eine Schule für Verbrecher bildet, hat auch heute noch seine
volle I3erechtigung.
Für die alten, ganz depravirten Gewohnheitsverbrecher hat dieser Strafvollzug auch
nichts abschreckendes mehr; hier finden sie unter Gleichgesinnten eine gewisse Anerkennung
ihrer verbrecherischen Eigenschaften, der grösste Verbrecher geniesst den grössten ßespect
unter seinen Mitsträflingen, die Erzählungen begangener Verbrechen und die Verabredung
neuer bilden den gewöhnlichen Gesprächsstoff, hier fühlen sie sich unter ihresgleichen
ganz wohl. Bei den jüngeren, noch nicht ganz verderbten Verbrechern aber wird jede
bessere Regung durch den Spott und Hohn der anderen unterdrückt, die auch jetzt noch
nicht ganz verloren gegangene Romantik einiger Arten von Verbrechen wirkt für sie in
hohem_ Grade verlockend, ein gewisses Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelt sich
und leider gehen auch sie bald vollständig in dieser verbrecherischen Gemeinschaft unter.
Bezeichnend für dieses System ist der Ausspruch eines alten Berliner Verbrechers. „Wir
sind Spitzbuben von Profession, Plötzensee ist unser Gymnasium, Sonnenberg unsere Hoch-
schule." *) Eine individualisirende Behandlung der Gefangenen durch die Anstaltsbeamten
ist natürlich unter solchen Umständen fast vollständig ausgeschlossen. Kurz, der Straf-
zweck der Besserung ist hier absolut nicht zu erreichen.
*) Plötzensee und Sonnenberg sind zwei grosse preussische Strafanstalten.
GEFÄNGNISSWESEN. 313
Ebenso schlimm steht es mit den hygienischen Verhältnissen. Das enge
Zusammenleben, die vielfache Berührung, in die die Gefangenen untereinander
kommen, ist an und für sich ein gesundheitlicher Nachtheil und fördert die
Verbreitung von ansteckenden Krankheiten in hohem Grade.
Die Uebelstände dieser Art von Strafvollzug wurden auch schon am Ende des
vorigen und Anfang des jetzigen Jahrhunderts allgemein anerkannt, und so gross war das
Bedürfnis nach einer Besserung derselben, dass selbst das grausamste und abscheulichste
Strafsystem, das Anburn' sehe oderSchweigssystem, in der Hoffnung, eine Besserung
herbeizuführen, Anklang fand, in Amerika und Europa in vielen Staaten eingeführt, aber
gottlob bald wieder aufgegeben wurde. In der Anstalt Anburn in Amerika (gegründet 1820)
suchte man die verbrecherische Gemeinschaft durch ein absolutes Schweiggebot zu durch-
brechen. Die Gefangenen wurden Nachts in kleinen Zellen isolirt gehalten, tagsüber
arbeiteten sie gemeinschaftlich, doch waren sie zu absolutem Schweigen verpflichtet, und
das Mittel, durch welches dieses Sprachverbot aufrecht erhalten werden sollte und auch
wurde, war die Peitsche. Die Aufseher hatten die Pflicht, bei jeder Verletzung dieses
Verbots sofort dreinzuschlagen. Wie oft sie einen Unschuldigen trafen, dass die Gefangenen
vollständig schutzlos der Willkür eines Aufsehers preisgegeben waren, that nichts zur
Sache. Einen Erfolg erzielte man allerdings nicht, denn die Verständigung unter den Ge-
fangenen erfolgte doch, aber man zog eine solche Erbitterung, einen solchen Rachedurst
und Hass der Gefangenen gegen die Anstaltsorgane gross, dass es wiederholt zu gewalt-
thätigen Eruptionen kam. Von einer Besserung der Verbrecher war selbstverständlich
nicht die Rede, das Gefühl der Zusammengehörigkeit angesichts der gemeinsamen Pein
nur ein um so grösseres. Auch als man später in Frankreich die Peitsche durch den
Hunger zu ersetzen suchte und für den Bruch des Schweiggebotes Kostentziehungen ein-
führte, erreichte man nichts als ein so rasches und bedenkliches Ansteigen der Mortalität,
dass man diesen Versuch bald aufgab.
Vom hygienischen Standpunkt über dieses System ein Wort zu verlieren, ist wohl
überflüssig.
In England suchte man durch Einführung des Classensystems die Uebelstände
der Gemeinschaftshaft zu beheben. Man theilte die Verbrecher nach ihren sittlichen
Qualitäten, nach der Art der Verbrechen, nach Alter u. s. w. in Classen ein, deren An-
gehörige wohl unter einander in Gemeinschaftshaft standen, aber mit den Gliedern der
anderen Classen nicht in Contact kommen sollten. Hiebei stellte es sich heraus, dass,
wollte man genau und gewissenhaft individualisiren, immer mehr Classen nothwendig
wurden, zuletzt wurden schon 15 unterschieden und immer noch fanden die Anstaltsorgane
nicht gleichartige Verbrecher in einer Classe beisammen. Endlich kam man auch hier
zur Einsicht, dass „jeder Verbrecher eine eigene Classe bildet", und gab das System auf.
Auch in hygienischer Beziehung bot dieses System gegenüber der Cumulativhaft keine
Vortheile.
Schon früher (1790) kam man in dem amerikanischen ünionstaate Pennsylvanien
zu dem Grundsatze, dass nur vollständige Isolirung des Verbrechers ihn bessern könne.
Er sollte ganz auf sich selbst gewiesen sein, ohne jeden Verkehr, ohne jede Beschäfti-
gung, ohne jede Ablenkung sollte er Einkehr in sich selbst halten, nur der Seelsorger sollte
ihn in seiner sittlichen und religiösen Erhebung unterstützen.
In der von den Quäkern geleiteten Anstalt in Pennsylvanien wurde dieses System
auch durchgeführt, und so die erste Anstalt mit Einzelhaft gegründet. Allein diese
vollständig unthätige Einsamkeit wirkte auf die Gefangenen höchst ungünstig ein. Für
einen grossen Theil derselben war sie absolut unerträglich, Geisteskrankheiten traten
immer häufiger auf, und der Vorwurf grosser Grausamkeit wurde gegen dieses System
mit Recht erhoben. Bald darauf versuchte man in Philadelphia dieses System mit der
Modificirung einzuführen, dass an die Stelle der Unthätigkeit die Zwangsarbeit in der
Zelle treten sollte. Die Arbeit sollte den Gefangenen die Einsamkeit erträglicher machen,
ihn auch sittlich heben, er sollte an geregelte Thätigkeit gewöhnt werden, und der
Arbeitszwang sollte ihm die Schwere der Strafe fühlbar machen.
In dieser Form hat sich nun das System der Einzelhaft von Phila-
delphia aus sowohl in Amerika als in Europa immer mehr Anhänger er-
worben und besteht heutzutage in den meisten Staaten als gesetzlicher Straf-
vollzug. Wohl werden auch jetzt noch von vielen Seiten gegen dieses System
Bedenken geltend gemacht. Eigenthümlicher Weise sind es gerade zwei ganz
entgegengesetzte Vorwürfe, die gegen dasselbe erhoben werden. Die Einen
finden auch in dieser Form die Anhaltung in der Einzelhaft zu grausam,
die Strafe zu schwer; die Anderen sehen in der Unterbringung in einer eigenen
Zelle zuviel Behaglichkeit und finden daher die Strafe zu leicht. Die Wahr-
heit ist, dass der verkommene, depravirte, wiederholt rückfällige Verbrecher
die Einzelhaft allerdings als eine sehr schwere Strafe empfindet, hauptsächlich
314 GEFÄNGNISSWESEN.
darum, weil er die Gemeinschaft mit seinen verbrecherischen Genossen ver-
misst, in der er sich so wohl gefühlt hat. Diese Sorte Verbrecher soll aber
die Strafe schwer und empfindlich treffen, und selbst wenn dieses Verfahren
inhuman wäre, so ist' zu bedenken, dass vor Allem die psychische Infection
noch nicht ganz verdorbener Verbrecher verhütet werden soll, und dass dem-
nach die Isolirung des Infectionsträgers eine absolute Nothwendigkeit ist^
geradeso wie bei den körperlichen Infectionskrankheiten eine Isolirung durch-
geführt wird, obwohl hiebei leider auch oft gegen die Gebote der Humanität
Verstössen werden muss. Für den noch besserungsfähigen, den besser ver-
anlagten Verbrecher aber ist seine Absonderung von der Gemeinheit und Roh-
heit der Gewohnheitsverbrecher keine Verschärfung der Strafe, sie wird von
ihm im Gegentheil geradezu als eine Wohlthat empfunden werden müssen.
Auch ist der Vorwurf, dass die Vereinsamung, in die der Gefangene ver-
setzt wird, allzu drückend sei, nicht ganz stichhältig, denn in gut geleiteten
Anstalten steht der Einzelhäftling in einem regen Verkehr mit den Anstalts-
organen, empfängt täglich Besuche seitens der Beamten, des Arztes oder des
Seelsorgers, bekommt Bücher u. s. w. Allerdings werden durch dieses System
an die Anstaltsbeamten grosse Anforderungen gestellt. Andererseits sorgt die
strenge Arbeitszucht, die in der Anstalt herrschen muss, schon dafür, dass
nicht zu viel „Behaglichkeit" aufkommt.
Schwerwiegender ist der gegen das System der Einzelhaft erhobene Vorwurf, dass
dasselbe die Gefangenen psychisch schwerer schädige und häufiger zu Geisteskrankheiten
führe, als die Cumulativhaft. In der That sind in den ersten Zeiten auffallend viele Psychosen
in der Einzelhaft beobachtet worden, und man hat auch ein ganz bestimmtes Krankheits-
bild dieser „Einzelhaftpsychosen" entworfen. Eingeleitet von psychischer Depression,
Angstzuständen, bei denen aiiffällig häufig Gehörshallucinationen eine grosse EoUe spielen,
kommt es zu tobsachtartigen Erregungszuständen, denen ein der einfachen Melancholie
ziemlich analoger Symptomencomplex folgt. Allein seit man die schwer nervösen oder zu
Psychosen disponirten Gefangenen von vornherein von der Einzelhaft ausschloss, auf die
ersten Anzeichen einer psychischen Verstimmung mehr Aufmerksamkeit verwandte und in
solchen Fällen die Einzelhaft unterbrach, sind auch wirklich manifeste Geistesstörungen in
der Einzelhaft weit seltener geworden und erreichen jetzt kaum einen höheren Percentsatz
als in der Cumulativhaft. Dabei ist noch zu berücksichtigen, dass eine Psychose sich in
der Einzelhaft leichter bemerkbar machen wird, als in der Gemeinschaftshaft, wo ruhigere
Geisteskranke leicht übersehen werden können und gewiss auch oft übersehen werden.
Gleichwohl soll im Allgemeinen nicht geleugnet werden, dass die Einzelhaft die psychische'
Constitution der Gefangenen tiefer beeinflusst, und daher eben nicht alle zur Anhaltung
in Einzelhaft geeignet sind, wie dies auch der internationale Gefängniss-Congress von
Stockholm 1878 ausgesprochen hat. Auffällig bleibt immerhin das ungewöhnlich hohe
Heilungspercent, welches diese „Einzelhaftpsychosen " aufweisen, nämlich 70— 80% und
die Raschheit mit welcher sich gewöhnlich die Heilung vollzieht. Eine Autorität ersten
Ranges, Griesinger äussert sich über diese Frage folgendermassen : „Es scheint sicher, dass
die strenge Einzelhaft, ohne Unterschied eingeführt, die Zahl der psychischen Erkrankungen
erhöht, dass manche Individuen sie gar nicht vertragen. Wo indess alle Massregeln für
die leibliche und geistige Gesundheit der Sträflinge in völlig zweckentsprechender Weise
getroffen sind, die Zeit der Einzelhaft nicht zu lange fortgesetzt, reichliche Bewegung im
Freien gewährt, Gemüth und Intelligenz der Gefangenen in geeigneter W^eise angeregt und
gehoben werden, wo man zugleich stets alle Achtsamkeit auf die Erscheinungen einer
tieferen Gemüthsverstimmung und die ersten Zeichen der beginnenden Seelenstörung ver-
wendet und der Individualität der Gefangenen so weit als möglich Rechnung trägt, da
dürfte die psychische Gefährdung durch die Einzelhaft doch nicht so bedeutend sein."
Gegenüber diesen theils nur behaupteten, theils wohl, aber nur in ge-
ringerem Grade vorhandenen Nachtheilen, hat die Einzelhaft sowohl vom cri-
minellen, als auch vom hygienischen Standpunkte so viele Vortheile, dass jene
kaum in Betracht kommen. Es ist in ersterer Beziehung gewiss, dass der
Strafzweck der Besserung fast nur in der Einzelhaft erreicht werden kann,,
sowie dass nur diese eine individualisirende Behandlung der Gefangenen
möglich macht; die hygienischen Vortheile der Einzelhaft sind aber so auf
der Hand liegend, dass sie eine Specificirung nicht bedürfen und äussern sich
auch in der geringeren Sterblichkeit der Einzelhäftlinge. Es ist schon darauf
hingewiesen worden, dass beispielsweise in den österreichischen Strafanstalten
GEFÄNGNISSWESEN. 315
im Jahre 1892 das Sterblichkeitspercent in der Cumulativhaft 3-2% bei den
Männer- und 4-0% in den Weiberstrafanstalten, in der Einzelhaft nur O-Q^/o
betrug.
Wenn auch zugegeben werden muss, dass diese grosse Differenz nicht
allein auf Kechnung der Einzelhaft zu setzen ist, da ja schon durch die noth-
wendige Auswahl der zur Einzelhaft geeigneten Gefangenen ein besseres, d. i.
gesünderes Material der Einzelhaft zugeführt wird, und weil bei dem Auftreten
gewisser Erkrankungsformen die Einzelhaft unterbrochen wird, so ist doch
gewiss noch ein grosser Theil der Erfolge dem Systeme selbst, der Isolirung
der Gefangenen zuzuschreiben, insbesondere wenn man bedenkt, dass die
Einzelhaft fast ausschliesslich den Beginn einer längeren Freiheitsstrafe bildet,
und wir gesehen haben, dass gerade die ersten Haftjahre die grösste Sterb-
lichkeit aufweisen.
Eine strenge und schwere Strafe bleibt die Einzelhaft immer, und des-
halb haben fast alle Staaten die Dauer der Anhaltung in Einzelhaft zeitlich
beschränkt; in Oesterreich und Deutschland darf sie drei Jahre nicht über-
steigen — andere Staaten gehen sogar bis zehn Jahre.
Alles für und wider gegen einander gehalten, wird zugestanden werden
müssen, dass das System der Einzelhaft hoch über allen anderen bisher be-
sprochenen Systemen steht und wem, wie es vorgekommen, die grösseren
Kosten der Einzelhaft, insbesondere der baulichen Anlagen, Bedenken ein-
flössen, dem möchten wir den Ausspruch Eduard Liwingston's in Erinnerung
bringen: „Das Verbrechen fügt dem Staate und der Gesellschaft so grossen
materiellen Schaden zu, dass auch das kostspieligste Gefängnisssystem, wenn
es nur das Verbrechen und die Verbrecher mindert, sparsam zu nennen ist,
gegenüber den billigsten, welches das Verbrechen fördert und Verbrecher
grosszieht."
Einen weiteren Fortschritt in der Art des Strafvollzuges stellt das jüngste
Strafsystem, das sogenannte irische oder Progressiv-System, dar, dessen
Begründer, Sir Walter Crofton, Generalinspector der Gefängnisse in Irland,
ist. In Irland zuerst eingeführt, findet es in letzter Zeit immer mehr Freunde,
wurde auch schon in mehreren Anstalten am Continente versuchsweise ein-
geführt und soll nach übereinstimmenden Mittheilungen sehr günstige Erfolge
aufweisen.
Es basirt auf zwei im Strafvollzuge ganz neuen Gedanken. Erstens soll
der Gefangene es durch seine Führung während der Haft in der Hand haben,
sich seine Situation selbst zu verbessern, die Schwere der Strafe zu mildern;
zweitens soll der Gefangene, nicht wie es bisher der Fall ist, aus der voll-
kommenen Gebundenheit seines Willens während der Haft unvermittelt bei
Beendigung seiner Strafe in volle Willensfreiheit versetzt und allen Gefahren
und Versuchungen des Lebens plötzlich wieder gegenüber gestellt werden,
sondern schon während der Haft seine Besserung, seine sittliche Erstarkung
documentiren, kurz, seinen Willen bethätigen können.
Das System hat demnach vier Haftstufen. In der ersten steht der Gefangene in
strengster Einzelhaft, bei schwerer Arbeit und sogar bei minderer Ernährung. In dieser
Stufe hat er neun Monate zu verbringen, bei besonders guter Führung kann ihm ein Monat
erlassen werden. Dann steigt er in die 2. Stufe auf. Hier besteht gemeinschaftliche Arbeit
und Isolirung bei Nacht. Diese Stufe ist wieder in 4 Eangsclassen eingetheilt, von denen
jede höhere dem Gefangenen mehr Begünstigungen gewährt und die er je nach seiner
Aufführung und seiner Arbeitsleistung in verschieden kurzer Zeit durchläuft. Bei schlechter
Führung tritt Rückversetzung in eine mindere Classe ein — ein ausgezeichnetes und sehr
wirksames Disciplinarmittel. — Bei fortgesetzt correctem Benehmen und nach Absolvirung
einer bestimmten Arbeit tritt der Gefangene in die .3. Stufe ein, in die sogenannte Zwischen-
anstalt (intermediat Prison). Hier legt er die Sträflingskleidung ab, arbeitet ohne Aufsicht,
findet vollkommen unbehinderten Verkehr mit der freien Bevölkerung, darf Lohndienste
für diese verrichten, Einkäufe besorgen u. s. w. Diese Stufe ist die eigentlich charak-
teristische für das irische System; in ihr soll der Gefangene zeigen, wie weit sein Wille
zum Guten und seine Widerstandsfähigkeit gegen äussere Einflüsse erstarkt ist; hat er
316 GENÜSSMITTEL.
sicli auch hier durch längere Zeit tadellos geführt, so tritt die 4. Stufe der Haft ein, d. i.
Beurlaubung unter Polizeiaufsicht.
Das Aufsteigen von einer Stufe in die andere tritt nach dem Urtheile
und den Beschluss der Anstaltsbeamten ein. Es stellt demnach auch dieses
System grosse Anforderungen an die ethische und intellectuelle Qualität der
Gefängnissbeamten. Vom hygienischen Standpunkte bietet es gegenüber den
anderen Systemen nur Vortheile.
Wir können diesen Artikel nicht schliessen, ohne mit einigen Worten
eine Frage zu berühren, die zwar nicht direct zum Gefängnisswesen gehört,
aber doch in innigstem Zusammenhang mit demselben steht und von grösster
Wichtigkeit ist. Wir meinen die Obsorge für die entlassenen Sträf-
linge. Wer es einmal gesehen hat, mit welch' ungeheuren Schwierigkeiten
ein aus der Haft Entlassener, insbesondere, wenn er den intelligenteren Kreisen
angehört, zu kämpfen hat, um sich wieder eine Existenz zu gründen, wer
weiss, wie oft die Unmöglichkeit, sich wieder eine Stellung zu erringen und
ein anständiges Brod zu finden, den Unglücklichen in den Tod oder neuer-
dings in's Zuchthaus geführt hat, wird von der Nothwendigkeit, hier Abhilfe
zu schaffen, innerlichst überzeugt sein. Auch der entlassene Verbrecher hat
„ein Recht auf Arbeit". — Leider ist ein thätiges Eingreifen in dieser Hin-
sicht überall der privaten Wohlthätigkeit überlassen geblieben und diese, bei
aller Mühe, die sich edle Menschenfreunde geben, absolut unzureichend. Hier
sollte auch der Staat helfend eingreifen. J. Knapp.
GenuSSmittel. Um den Bestand unseres Organismus zu erhalten,
müsste — theoretisch — eine aus reinem Eiweiss, Fett, Kohlehydraten, Salzen
und Wasser zusammengesetzte Nahrung genügen. Und doch würde eine
solche jedes Reiz- und Genussmittels baare Nahrung nicht ihrem Brennwerth
entsprechend ausgenützt, vor Allem aber nur die kürzeste Zeit ertragen
werden. Hunde weisen eine künstlich geschmacklos gemachte Kost hart-
näckig und dauernd zurück, auch wenn ihnen keine andere Nahrung gereicht
wird. Der Mensch ist noch weit empfindlicher als das Thier; eine reizlose
Kost erscheint ihm unerträglich; die Gewürze sind für ihn nicht mehr ein
Genussmittel allein, sondern ein dringendes Bedürfnis. Der Mensch verlangt
nach einer fortwährenden Abwechselung der Geschmacksreize. Die ewig
gleichmässige Kost in Gefängnissen, Arbeitshäusern und Aehnl., die an und
für sich, nach Qualität und Quantität der Nahrungsstoffe hygienischen An-
forderungen völlig zu genügen scheint, wird — nachdem anfangs gern
gegessen — später hartnäckig verweigert, oder, wenn aus zwingendem Hunger
doch genossen, schlecht ausgenützt. Daher das bleiche, anämische Aussehen
vieler Gefängnissinsassen. Gewürze oder Genussmittel erreichen dadurch, dass
sie eine sonst gleichförmige Nahrung dem Menschen annehmbar und gut
ausnützbar machen, eine hohe hygienische Bedeutung. Zu der Hauptnahrung
des ärmeren Volkes, der reizlosen Kartoffelkost, gehört nothwendig ein Reiz-
mittel: der allgemein getrunkene Kaffee. — Die Genussmittel und Geschmacks-
reize ermöglichen aber nicht nur dem Menschen die Aufnahme der
Speisen, sie fördern auch — durch Anregung der Secretion der Verdauungs-
säfte, der Bewegungen des Magens (durch Gewürze, Bitterstoffe, durch kleine
Mengen Alkohol, Nicotin etc.) — die Verdauung und Resorption der
Speisen. Die meisten Genussmittel haben des Weiteren eine ausgesprochene
antiseptische Wirkung. Die ätherischen Oele sind starke Desinficientia
(Senföl hemmt z. B. zu 1 : 33000 das Bakterienwachsthum). Es können somit
Zersetzungen des Mageninhaltes verhindert werden. — Die Hauptbedeutung
der gebräuchlichen Genussmittel liegt jedoch in ihrer theils leicht er-
regenden, theils leicht narkotischen Wirkung. Die einzelnen
Genussmittel wirken sehr verschieden, — bei den einen überwiegt mehr die
Erregung (Kaffee, Thee), bei den anderen die betäubende Wirkung (Alkohol);
GENÜSSMITTEL. 317
Tabak scheint in der Mitte zu stehen. Die Genussmittel wirken auch hier
nicht allein, oder auch nur vorwiegend, als — überflüssige — Luxusmittel; sie
sind von hoher Bedeutung zur Anfrischung zu geistiger wie körperlicher
Arbeit (Thee, Kaflee), zum Ertragen von Entbehrungen, von Gefahren (Schnaps
und Tabak für den Soldaten), zur Erwärmung und Anregung bei Nässe und
Kälte (Branntwein). Im Uebermass genommen können alle Genussmittel
schädliche Wirkungen entfalten. Es wäre aber unverständig und undurch-
führbar, deshalb die Genussmittel einfach verbieten zu wollen. Die Hygiene
hat nur dafür zu sorgen, dass für Herstellung der verschiedenen Genussmittel
tadellose Stoffe zur Verwendung kommen, dass bei der fabrikmässigen Her-
stellung das mit den Stoffen beschäftigte Arbeitspersonal keinen Schädlich-
keiten ausgesetzt ist, dass der Gebrauch eines Genussmittels für Andere
keine schlimmen Folgen habe, und dass die verschiedenen Genussmittel nicht
mit minderwertigen oder gar schädlichen Substanzen verfälscht in den Handel
gebracht werden.
Die Genussmittel lassen sich in vier Gruppen einth eilen:
1. Die Gewürze (inclusive Salze).
2. Die Coffein (bezw. Thein oder Theobromin) enthaltenden Stoffe.
3. Die Alcoholica.
4. Gewisse Alkaloide und verwandte stark wirkende Körper, zu welchen
noch der Tabak zu zählen ist.
1. Gewürze. Die allgemeine Bedeutung der Gewürze ist in der Ein-
leitung hervorgehoben. Speciellere Angaben finden sich im Bande „Chemie"
beim Artikel „Nahrungs- und Genussmittel" S. 625. Es sei daher hier nur
kurz die Bedeutung der Salze besprochen.
Kochsalz ist sowohl Nahrungs- als Genussmittel und dem Organismus
unentbehrlich. Der tägliche Bedarf eines erwachsenen Menschen an Kochsalz
beträgt 12 — 20 g. Die in der Nahrung enthaltene Salzmenge genügt dem
Menschen nicht, namentlich nicht bei Pflanzennahrung. In der letzteren sind
nämlich unverhältnismässig viel Kalisalze enthalten; diese werden, als dem
Organismus fremd, rasch wieder, namentlich durch die Nieren, ausgeschieden,
erzeugen also gesteigerte Diurese. Durch diese wird aber nicht Wasser,
sondern eine Na Cl-reiche Salzlösung dem Körper entführt: — daher der Salz-
hunger der Herbivoren, "das Kochsalzbedürfnis der von Pflanzen- oder ge-
mischter Nahrung lebenden Menschen, während reine Jägervölker das Kochsalz
eher entbehren können. Das Speisesalz wird gewonnen als Steinsalz in Berg-
werken (Stassfurt, Wieliczka) oder als Soolsalz, in sogenannten Gradirwerken.
Das Steinsalz ist das reinste Kochsalz. Es wird gemahlen als „feines Speise-
oder Tafelsalz" in Handel gebracht. Das durch Eindampfen der concentrirten
Soole gewonnene Salinensalz ist ziemlich stark durch andere Salze, Chlor-
magnesium, Chlorcalcium etc. verunreinigt. Diese Beimengungen geben dem
Salz eine gewisse Schärfe: „es salzt stärker"; andererseits machen sie das
Salz stärker hygroskopisch, leichter zusammenbackend, und dadurch unan-
sehnlicher.
2 Kaffee, Thee, Cacao und verwandte Stoffe.
Die Coffein beziehungsweise verwandte Körper enthaltenden vegetabi-
lischen Producte stellen die am weitesten und allgemeinsten verbreitete Gruppe
von Genussmitteln dar. Hierher gehören:
Der Kaffee; die gerösteten Samen des Kaffeebaums, Coffea arabica,
Rubiacee; ursprünglich an der Ostküste Afrikas, südlich von Abessynien, wild
wachsend; frühzeitig nach Arabien verpflanzt; gegenwärtig in sämratlichen
Ländern der tropischen Zone angebaut.
Der Thee; die getrockneten Blätter des Theestrauches, Thea chinensis,
Ternströmiacee, ursprünglich im oberen Indien heimisch; jetzt in ganz Ost-
asien bis zum 40" nördlicher Breite cultivirt.
318 GENÜSSMITTEL.
Cacao; die Samen des Cacaobaumes, Theobroma Cacao, Sterculiacee,
in Mittel- Amerika heimisch; im tropischen Amerika, ferner auf Java, Manila,
Bourbon, den Canarischen Inseln cultivirt.
Mate oder Paraguaythee, die Blätter von Hex Paraguayensis, Aqui-
foliacee, in Paraguay und Südbrasilien bis Rio de Janeiro und den boli-
vianischen Anden wild wachsend.
Die Guaranapaste, aus den gerösteten Samen von Paullinia sorbilis,
Sapindacee Nordbrasiliens, bereitet.
Colanüsse; die Früchte von Cola acuminata, Sterculiacee, in West-
und Centralafrika heimisch.
Während Katfee, Thee und Cacao universelle Benützung auf dem ganzen
Erdkreis gefunden haben, sind die drei letzt aufgeführten Genussmittel auf
ihre Heimat beschränkt geblieben. Der Paraguaythee, Jerva Mate (circa 0,47o
Coffein enthaltend) wird als Aufguss — in Südbrasilien, Paraguay und den
benachbarten Ländern — anstatt Thee allgemein genossen. Der jährliche
Verbrauch wird auf 4 Millionen kg geschätzt. — Die Guaranapaste (47o Coffein
enthaltend), geraspelt, und mit Wasser zu einem Getränk verrührt, ersetzt im
Thale des Amazonas, in Bolivia wie in Centralbrasilien, den Kaffee. — Die
Colanüsse (2% Coffein enthaltend) dienen den Negerstämmen Westafrikas
von Senegambien bis Angola als Kaumittel.
Von den drei universell angewandten Stoffen unserer Gruppe enthält
Kaffee Coffein, Thee Thein; Cacao Theobromin. Das Thein ist wohl sicher
mit dem Coffein identisch; beide stellen Trimethylxanthin dar, während
Theobromin Diraethylxanthin ist.
Das Coffein beziehungsweise Theobronin ist es aber nicht allein, das
die Drogen dieser Gruppe zu Genussmitteln macht: Coffein ist nicht, — und
wird nie Genussmittel werden; es sind vielmehr die Drogen mit ihrem Coffein-
gehalt plus ihrem Aroma: wo dies von der Natur nicht mitgegeben, wird
es künstlich — durch Ptösten beim Kaffee — erzeugt. Der Coffeingehalt des
Kaffees beträgt durchschnittlich 0'757o-
Kaffee. Die Güte einer Kaffeesorte hängt keineswegs ausschliesslich von ihrem Coffe'in-
gehalt ab — ebensowenig wie die Qualität einer Cigarre von der in ihr enthaltenen Nicotin-
menge; die feinsten Kaffeesorten haben vielmehr am wenigsten Coffein — wie die feinsten
Cigarren am wenigsten Nicotin. Moccakaffee enthält z. B. 0'64°/o Coffein, während Jamaica
l'43°/o und Ceylon l'öS^/o enthalten. — Die Qualität des Kaffees wird beurtheilt nach dem
Gewichte: je leichter der Kaffee, desto besser ist seine Qualität. 1 Deciliter Mocca wiegt
z. B. 500 g^ 1 Deciliter Zanzibar 606 g.
Die Menge des in einem Jahre producirten Kaffees lässt sich zu 7^2 ^ill- Meter-
centner annehmen. Der Verbrauch an Kaffee hat in den letzten 50 Jahren in Frankreich
um das Sechsfache, in Oesterreich-Üngarn um das Fünffache, in Deutschland um das
Doppelte zugenommen. Den verhältnismässig grössten Verbrauch weisen die Niederlande
auf, nämlich 7'14 hg jährlich per Kopf; — den geringsten Russland: O'IO kg per Kopf.
Belgien consumirt 4'24 kg jährlich pro Kopf, Norwegen 3-45, die Schweiz 301,
Dänemark 2'45, Deutschland 2'38, Schweden 2'36, Frankreich 1"43, Oesterreich-Üngarn 0'84,
Italien 047, Grossbritannien 0'45 kg. Europa verbraucht von der Gesammtproduction an
Kaffee circa 60%; die übrigen 40''/o vertheilen sich auf die anderen Welttheile.
Der Kaffee wird erst durch das Rösten zum Genussmittel, indem durch
dasselbe das, das eigenthümliche Kaffeearoma tragende, Caffeol entsteht.
Auf der combinirten Wirkung des aromatischen Princips und des gelinde
narcotisirenden Coffein's beruht die Bedeutung des Kaffees (beziehungsweise
Thees) als universelles Genussmittel. Einen Nährwerth besitzt Kaffee oder
Thee nicht; die in den Kaffeebohnen enthaltenen Eiweisskörper werden durch
das heisse Wasser nicht aufgenommen. Um die Proteinsubstanzen löslich zu
machen und dadurch dem Kaffee einen Nährwerth zu geben, empfahl Liebig,
den Kaffeeaufguss mit einer P/oo Lösung von doppelkohlensaurem Natrium
(1 Messerspitze auf 1 l Wasser) zu bereiten. Dieses Verfahren hat sich jedoch
nie eingebürgert. Abgesehen davon, dass man in dem Kaffee gar kein Nähr-
sondern ein Genussmittel sehen will, wären die in Lösung gehenden Mengen
GENÜSSMITTEL. 319
Eiweiss nur sehr gering und verliert der Kaffeeaufguss durch den Zusatz
von Natrium bicarbonicum seine schöne, klare Farbe. Andererseits sind ge-
wisse Oi'te, deren Brunnenwasser reich an doppelkohlensaurem Natrium ist,
berühmt durch die Vorzüglichkeit des daselbst gebrannten Katfees (Karlsbad,
Vichy.) Bekannt ist, dass sich zur Bereitung eines guten Kaffees hartes,
kalkreiches Wasser besser eignet als weiches; umgekehrt zieht die Hausfrau
für die Theebereitung weiches Wasser dem harten vor. Der Rückstand des
Kaffeeinfuses, der sogenannte Kaffeesatz, wird von dem Orientalen, der den
Kaffee nicht durchseiht, sondern in der Schale absetzen lässt, zum Theile
mitgenossen. Bei uns wird er im Allgemeinen als werthlos weggethan,
beziehungsweise zum Düngen von Blumentöpfen, zum Reinigen von Stuben etc.
verwandt. Der in grösseren Mengen (z. B. in Kaffeehäusern) gesammelte
Rückstand wird neuerdings von Fabriken zur Beimischung zu Kaffeesurrogaten
verarbeitet. Pavy räth, den Kaffeesatz mit heissem Wasser auszukochen und
das so erhaltene Infus zur Bereitung von Kaffeeaufguss aus frischen Bohnen
zu benützen.
Enthält Kaffee (und Thee) auch kein Nährmittel, so sah man in ihm
früher doch ein Sparmittel, das die Eiweissverbrennung im Körper herabsetze.
Man kam zu dieser Ansicht durch die Beobachtung, dass Kaffee das Gefühl
der Müdigkeit wie des Hungers zu unterdrücken vermag. Einzelne Forscher,
wie BoEKER und Lehmann, wollten in der That eine Verminderung der
Harnstoftäusscheidung infolge Kaffeegenusses beobachtet haben. Die exacten
Versuche von Voit haben jedoch die Unrichtigkeit dieser Beobachtungen ge-
zeigt: Kaffee beziehungsweise Thee hat auf den Stoffwechsel des Menschen
keinerlei Einfluss. „Es können eben mannigfache Alterationen im Nerven-
system, welche unsere gesammte Stimmung und unser ganzes Sein wesentlich
berühren, vor sich gehen, ohne eine für uns erkennbare Spur in dem Stoff-
verbrauch zu hinterlassen" (Voit).
Die allgemeine hygienische Bedeutung des Kaffees (beziehungsweise Thees)
liegt darin, dass er von allen Genussmitteln das am günstigsten wirkende
und zugleich das unschädlichste ist. — Da die Menschheit einmal eines
Genussmittels nicht entrathen kann, so wäre bei der Wahl eines die anderen
ausschliessenden Genussmittels, unbedingt dem Kaffee oder Thee der Vorzug
zu geben. Der Kaffee ist den übrigen Genussmitteln, den alkoholischen
Getränken, dem Tabak etc. in dreifacher Beziehung überlegen: Erstens ist
seine Wirkung eine rein anregende: die Reactionszeit nimmt ab, die Prompt-
heit geistiger und körperlicher Bewegung nimmt also zu (bei Alkohol um-
gekehrt), die Urtheilskraft ist nicht wie bei Alkohol geschwächt, sondern
verschärft, concentrirt, die anregende Wirkung einer Dosis hält dabei über
mehrere Stunden vor: dabei folgt dem Stadium der Anregung beim Kaffee
nicht, wie bei den anderen Genussmitteln, ein Stadium der Depression. Daher
ist Kaffee das beste Anregungsmittel bei langdauernder, angestrengter, nament-
lich geistiger Thätigkeit. Zweitens ist der Kaffee das unschädlichste aller
Oenussmittel. Dies gestattet, dass wir ihn durch ein ganzes Leben ohne Schaden
zu uns nehmen. Es kommen wohl auch durch Genuss zu starken Kaffees Schädi-
gungen vor, bestehend in Nervosität und Herzpalpitationen, — allein dieselben
sind verschwindend gering gegenüber den zahllosen Gesundheitsstörungen,
die durch andere Genussmittel: Alkohol, Nicotin und andere Alkaloide ver-
ursacht werden. Drittens liegt beim Kaffeegenuss die Gefahr des Uebermasses
im Genuss und der fortdauernden Steigerung der Dosen nur im geringen
Masse oder gar nicht vor. Kaffee oder Thee reizt eben nicht zur über-
mässigen Fortsetzung des Genusses, wie das Bier, Wein und Schnaps thun,
und bedingt keine Gewöhnung, die zur Anwendung immer kräftigerer Reize»
immer grösserer Dosen, wie bei Nicotin oder Morphium hinreisst.
Die Erkenntnis, dass Kaffee und Thee nicht nur bei andauernder geistiger Thätig-
keit, sondern auch bei langer, anstrengender körperhcher Arbeit das beste Anregungsmittel,
320 GENÜSSMITTEL.
und dem Alkohol in jedem Falle vorzuziehen ist, hat sich in den letzten Jahren immer
mehr Bahn gebrochen. — In den meisten Armeen ist nunmehr anstatt des Schnapses, Kaffee
und Thee als Genussmittel beziehungsweise als Anregungsmittel bei Strapazen eingeführt
worden, und in der That wird die Widerstandsfähigkeit durch Kaffee und Thee mehr ge-
steigert als durch Alkohol. — Auch in Bergsteiger-Kreisen ist die Ansicht nunmehr durch-
gedrungen, dass Alkoholgenuss vor Erreichung des Zieles, beziehungsweise wenn man noch
reichlich schwierige, harte Arbeit vor sich hat, oft geradezu schädlich ist, während Kaffee
oder Thee sich als vorzügliches Anregungsmittel bewährt haben.
An Stelle von reinem Kaffee kommt häufig minderwerthiger oder ge-
fälschter, mit fremden Zusätzen versehener Kaffee, sowie zahlreiche Surrogate
des Kaffees zum Verkauf. Eine minderwerthige Waare ist die „Triage"
(Brenn waare): schlechte, aus gebrochenen schwarzen und oft mit Schalen ge-
mischten Bohnen bestehende Sorte. — Noch schlechter ist der sogenannte
havarirte oder marinirte Kaffee, in den auf der Ueberfahrt Seewasser
eingedrungen ist. — Kaffee zieht sehr leicht fremde Gerüche an (Pfeffer,
Ingwer, Stockfisch, Heringe etc.), wodurch seine Qualität natürlich ver-
schlechtert wird.
Verfälschungen: Die ungebrannten Bohnen werden zur Erzeugung einer be-
stimmten grünlichen oder bräunlichen Färbung mit verschiedenen Mitteln : Indigo, Berliner-
blau, Curcuma, Chromblei, Ocker, Eisensalzen, Gerbsäure, Graphit, Kohle aufgefärbt. —
Die gröbste Fälschung ist die Herstellung künstlicher Kaffeebohnen mittelst besonderer
Maschinen. — Der gebrannte Kaffee wird häufig durch Zucker- oder Sirupzusatz künsilich
beschwert. Der gemahlene gebrannte Kaffee ist der Verfälschung durch die mannigfachsten
Substanzen ausgesetzt: am häufigsten wird Kaffeesatz, Kaffeeschalen, geröstete Cichorien,
Gerste, Eicheln, Lupinen, Mohnrüben, Feigen, Kastanien etc. ja selbst Erde und Torf zu-
gesetzt. — In keinem geregelten Haushalte sollte gemahlener Kaffee gekauft werden.
Kaffeesurrogate. — Es existiren eine Anzahl, meist aus Getreide- oder Fruchtarten
hergestellte Kaffeesurrogate, gegen die sich, falls sie nur als solche deutlich gekennzeich-
net werden und keine schädlichen Stoffe beziehungsweise Verunreinigungen enthalten,
hygienischerseits nichts einwenden lässt. Sie sollen theils ein billigeres Ersatzmittel für
den Kaffee darstellen, theils, durch ihren grösseren Gehalt an Nährstoffen (namentlich
Kohlehydraten), als diätetisches Mittel dienen.
Cichorienwurzel; das aus derselben bereitete Getränk besitzt keinerlei Nähr-
werth und hat mit dem Kaffee nichts als die braune Farbe und den bitteren Geschmack
gemein. Ursprünglich wendete man die Cichorie an, um dem Kaffee, der namentlich zur
Zeit der Napoleonischen Continentalsperre sehr theuer war, den Schein der Stärke zu
geben; aber der Geschmack gewöhnte sich so sehr an dasselbe, dass er vielen zum Be-
dürfnis wurde. — Die Cichorienwurzel kommt, geröstet und gemahlen, als Pulver oder in
Tafeln in den Handel; sie ist häufig verfälscht: mit Runkelrüben, Mohrrüben, Eicheln,
Fett, brauner Melasse, Blut (um sie feucht zu erhalten), Lehm, Ziegelsteine, Ocker, Torf etc.
Feigenkaffee: zum grössten Theil in Südtirol hergestellt; von grosser Verbreitung,
namentlich in Süddeutschland. Er besteht aus gerösteten Feigen und stellt eine braune
Masse mit vielen weissen Kernen dar. Verfälschungen kommen vor mit Johannisbrod,
gedörrtem Obst und Aehnl.
Eichelkaffee, 1784 von Mara empfohlen ; aus gebrannten Eicheln dargestellt. Ent-
hält Gerbsäure; durch diese und den bitteren Geschmack dem Kaffee ähnlich, dient mehr
als diätetisches Genassmittel.
Kinderkaffee, aus gerösteten Getreidearten und Hülsenfrüchten bereitet; dient
als Kindernährmittel.
Schwedischer oder Continentalkaffee; besteht aus den gerösteten Samen
von Astragalus baeticus; soll eines der besten Kaffeesurrogate sein.
Kaffee wird schliesslich bereitet aus Dattelkernen, Weintraubenkernen, Hage-
butten u. s. w.
Der Thee hat ebenfalls die ausgedehnteste, wenn auch nicht so allge-
meine Verbreitung wie der Kaffee gefunden.
Als Volksgetränk dient der Thee vor allem den Chinesen und Japanesen, in Europa
ist nur bei Engländern und Holländern der Theegenuss zur Volkssitte geworden; ausgedehn-
ter Theeconsum findet auch in Russland statt; in den übrigen Ländern Europas beschränkt
Grossbritannien
2-16
Canada
163
Vereinigten Staaten
0-59
Niederlande
0-48
Dänemark
017
Russland
017
GENDSSMITTEL. 321
sich die Sitte des Theetrinkens auf die Städte und die höheren Bevölkerungsschichten.
Der durchschnittliche Theeverbrauch in einem Jahre beträgt pro Kopf der Bevölkerung in
Australischen Colonien 3'47 kfj Portugal 0'05 kg
Schweiz 0"05 „
Norwegen O'O^i „
Deutschland 0 03 „
Schweden 001 „
Oesterreich O'Ol „
Belgien 001 „
China exportirte 1885 1,618 404 Piliuls schwarzen Thee, 214'693 grünen Thee, 280-112 Ziegel-
thee, 1-1505 Staubthee, im Ganzen 2,128-814 Pikuls, gleich 128 8 Mill. hj, im Werthe von
173 Mill. Mark. Die Production Chinas beträgt ungefähr das Dreifache der Ausfuhr. —
Es exportirten ferner 1885 Britisch-Ostindien 31-2 Mill. kg, Japan cca. 16, Java und Madura
circa 2 4, Ceylon und andere Gebiete l'S Mill. kg. Der Gesammtexport betrug im Jahre
1885 190-1 Mill. kg.
Sämmtliche Theesorten stammen von der einen Theepflanze, Thea
chinensis L. Der Thee des Handels erlangt seinen Geruch und Geschmack
erst durch die Präparation der geernteten Blätter. Man unterscheidet Grünen
Thee, Schwarzen Thee, Ziegelthee und Staubthee. Der schwarze
Thee ist einer Gährung unterzogen worden; beim grünen Thee wird diese
Gährung vermieden. Zur Bereitung des letzteren werden die frischen Blätter
in eisernen Pfannen unter tüchtigem Umrühren kurz erwärmt; die hierdurch
weich gewordenen Blätter werden mit den Händen gerollt und dann wieder
in die Wärrapfannen gebracht, in denen sie vollkommen getrocknet werden.
Für den Export werden die Blätter mit einer Mischung von Indigo oder
Berlinerblau, Curcuma und Thon oder Gyps bestäubt, um ihnen ein besseres
Aussehen, beziehungsweise eine bestimmte Farbennuance zu geben. Diese
Behandlung ist so allgemein, dass kaum ungefärbter grüner Thee in den
Handel kommt; da die benützten Farbstoffe keine schädlichen sind, so ist
auch dies Verfahren hygienischerseits nicht zu beanstanden. — Zur Bereitung
des schwarzen Thees lässt man die Blätter erst eine Gährung durchmachen,
indem man sie in grosse Haufen schichtet. Die weich gewordenen Blätter
werden zu Ballen gerollt, und abwechselnd getrocknet und der Luft aus-
gesetzt. Die fertig getrockneten Blätter sind schwarzbraun, unregelmässig
gestaltet, dünn, blattstielartig. — Der grüne wie der schwarze Thee werden
vor dem Versandt künstlich parfümirt, durch Zwischenlagen wohlriechender
Blüthen von Jasmin, Orange, Rose, Olea fragrans u. s. w. — Ziegelthee
ist chinesischer Thee, der" durch Hebelpressen in Tafel- oder Ziegelform ge-
bracht ist; er ist sehr hart und dicht, und besteht aus Blättern und Stengeln
der Theepflanze. — Staubthee ist eine geringe, aus zerbrochenen Blättchen
und Stengeln und sonstigem Abfall bestehende Theesorte. — Den besten Thee
liefern die jungen an der Spitze fein behaarten Blättchen der ersten der 3—4
Jahresernten („Pecco mit weissen Blüthen"); diese Blätter enthalten die ge-
ringste Menge Holzsubstanz und das meiste Aroma. — Die specifischen
Bestandtheile des Thees sind das dem Thee seinen Geschmack und Geruch
gebende flüchtige Theeöl und das — chemisch mit dem Coffein vollständig
übereinstimmende — Thein. Aehnlich wie beim Kaffee ist Theingehalt und
Qualität des Thees nicht einander proportional, sondern enthalten gerade die
besten Theesorten die geringste Menge Thein. Der grüne Thee enthält mehr
ätherisches Theeöl (l7o) ^^s der schwarze Thee {V^'^U), wirkt daher aufregen-
der. — Die Wirkung des Thees ist der des Kaffees durchaus ähnlich; von
der hygienischen Bedeutung des Thees als Genussmittel gilt das über den
Kaffee Gesagte.
Verfälschungen des Thees kommen zunächst in der Richtung vor, dass bessere
Sorten mit minder feinen vermischt werden, — oder dass bereits extrahirte Blätter dem
Thee zugemischt werden : dieselben werden mit Gummi bestrichen, mit Gerbstoffen impägnirt,
gerollt, grün oder schwarz gefärbt und parfümirt; nachgewiesen wird diese Fälschung durch
den geringen Gehalt an Thein. — Ferner wird häufig durch Bestäuben mit Gyps, Talg,
Speckstein etc. der zarte Anflug der jungen Blätter der ersten Ernte („Blüthen") vor-
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Aled. 21
322 GENÜSSMITTEL.
zutäuschen gesucht, wobei gleichzeitig eine Gewichtsvermehrung stattfindet. — Schliesslich
werden dem Thee Blätter von anderen Pflanzen beigemengt: in China z. B. die Blätter
von Camellia, in Russland von Epilobium, in Europa von Lithospermum, von Weide, Pappel,
Buche, Ulme, Kirsche, Schlehe. Die Blätter werden eigens präparirt (gefärbt und par-
fümirt); zuweilen kommen hierbei gesundheitsschädliche Stoffe (Kupfersalze, Bleichromat
u. a.) zur Verwendung.
Cacao, und die durch Mischung von Cacao mit Zucker und Vanille her-
gestellte Chocolade, stellt nicht allein ein Genuss- und Anregungsmittel,
sondern zugleich ein Nahrungsmittel dar. — Reiner Cacao, i. e. die von
Keimen und Schalen befreiten, durch Kosten und Zusammenschmelzen präparirten,
pulverisirten Cacaobohnen enthalten 167o Eiweiss, 30^0 Fett („Cacaobutter"),
3 — 4% Asche, l'5'^/o Theobromin. Da der übermässige Fettgehalt für den
Gebrauch unangenehm ist, wird gewöhnlich „entölter Cacao" verwendet, der
aber auch noch 25 — 30% Fett enthält. — Eine Tasse Cacao aus Ib g be-
reitet, enthält circa 2 ff Eiweiss, 4^ Fett und 4^ Kohlehydrate. Chocolade
enthält im Mittel 1-5—2% Wasser, 9% Eiweiss, 0-6% Theobromin, 15% Fett,
607o Zucker, 2% Asche. Eine Tasse Chocolade aus 15^ liefert 1^ Eiweiss,
2 g Fett, 10 g Zucker. — Cacao und Chocolade enthalten also eine, wenn
auch massige, dafür aber leicht resorbirbare Menge Nährsubstanz, stellen
daher ein bekömmliches Genuss- und Nahrungsmittel dar. Die geringe Menge
Theobromin kommt bei der Wirkung kaum in Betracht.
Verfälschungen von Cacao finden nicht selten statt durch Hinzufügen von Rinden-
theilen, von Mehl, Dextrin, Zucker, durch künstliche Beschwerung mit Sand, Thon, Ocker.
— Chocolade erhält häufig einen Zusatz von Mehl, Talg, Schweinefett; nicht selten ist
sie — von der Bereitung durch die Maschinen her — mit Eisenoxyd verunreinigt; Choco-
lade wird an feuchten Orten leicht dumpfig; ferner zieht sie gern Gerüche benachbarter
Drogen an. (Vergl. über die Verfälschung von Kaffee, Thee, Cacao und Chocolade den Bd.
„Med.-Chemie" S. 622-624.)
3. Alkoholische Genussmittel : Bier, Wein, Branntwein etc.
Die universalste Verbreitung haben zu allen Zeiten die alkoholischen
Genussmittel gehabt. Der Gebrauch des Alkohols ging nicht wie der des
Kaffee's oder Thee's von einem Volk oder einem Lande aus: alle Völker,
Culturvölker wie Wilde, haben sich — durch Gährung vegetabilischer Pro-
ducte — alkoholische Getränke zu bereiten gewusst. Die alkoholischen Genuss-
mittel der civilisirten Welt sind Wein, Bier und Branntwein; die verschie-
denen Spirituosen Getränke wilder Völkerschaften aufzuführen, würde hier zu
weit führen.
Die Bereitung von Wein, Bier und Branntwein, die Verfälschungen, welchen
dieselben ausgesetzt sind; sowie die Erkennungsmethoden für letztere, sind
in dem Bande ,, Chemie" ausführlich geschildert worden; die physiologische
Wirkung des Alkohols auf den menschlichen Organismus wurde in dem Bande
„Pharmakologie" S. 349 dargelegt; — hier soll nur die allgemeine hygie-
nische Bedeutung der alkoholischen Genussmittel einer Betrachtung unter-
zogen werden. — Die Grund Wirkung der Alkoholica ist keine anregende,
sondern von vornherein eine lähmende; die häufig beobachtete Vermehrung
der Athmung und Pulsfrequenz rührt von der Reizung der sensiblen Nerven
der Magenschleimhaut her; die scheinbare Erregung nach Alkoholgenuss ist
durch frühzeitige Lähmung der centralen Hemmungsvorrichtungen zu erklären.
„La vino veritas" bedeutet nicht, dass die Wahrheitsliebe gesteigert, sondern
dass die besonnene Zurückhaltung verringert ist; und wer traurigen und
sorgenvollen Herzens, gedrückt und in seiner Lebensfreudigkeit gehemmt nach
einer Flasche Wein heiterer ist, hat die Sorgen betäubt, aber nicht die philo-
sophische Tragkraft seiner Seele vergrössert. — Die Reactionszeit, d. h. die
Zeit, welche erforderlich ist, um auf einen Sinneseindruck, z. B. durch eine
verabredete Signalbewegung zu reagiren, nimmt unter Alkohol zu, und trotz-
dem glaubt der Betreffende ganz besonders prompt und schnell reagirt zu
haben. Längere Zeiträume erscheinen dann also kürzer als die Norm: daher
GENUSSMITTEL. 323
die Kurzweil. — Die Entschlussfähigkeit, Todesverachtung u. dgl. m. nehmen
unter Alkohol zu durch Fortfall von Rücksichten und sonstigen hemmenden
Einflüssen. — Nur gewisse einzelne Seelenfunctionen nehmen thatsächlich
durch Fortfall der Hemmungen nach Genuss alkoholischer Getränke zu. Ausser
der „Freudigkeit" (und auch Geschlechtslust) ist es namentlich die Phantasie,
welche entzügelt und dadurch lebhafter wird: daher der Dichter und Künstler
im Weine meist eine Hilfe hat, der Denker meistens nicht (Filehne). —
Für die anregende Wirkung des Alkohol kommt nicht der Alkohol allein in
Betracht, sondern auch die verschiedenen Geschmacks- und Kiechstoffe, mit
denen er in Form von Wein, Bier, Schnaps etc. verbunden ist. — Wein er-
zeugt im Allgemeinen eine angeregte heitere Stimmung, Bier mehr ein still-
beschauliches Behagen; Branntwein lässt am ehesten die rohen, thierischen
Triebe des Menschen zum Durchbruch kommen. Jedoch ist bei der Beur-
theilung der Wirkung der verschiedenen alkoholischen Getränke sehr die
Individualität und Nationalität der Trinker zu berücksichtigen. Wein trinkt
eben vor Allem der leichtlebige Franzose und Südländer, Bier der ernstere
Deutsche (als Typus des Biertrinkers gilt der behäbige Baier); Schnaps ist
hauptsächlich das Getränk der niederen Gesellschaftsclassen. — Kohlensäure-
haltige Getränke (Most, Champagner etc.) wirken besonders erregend be-
ziehungsweise berauschend, indem die Kohlensäure — durch Hyperämisirung
der Magendarm Schleimhaut — die Resorption begünstigt. — Eine nützliche,
anregende Wirkung kann Alkohol in concentrirter Form, als Branntwein, zur
Erzeugung rascher Erwärmung bei kalter feuchter Umgebung haben. Hier
leistet ein Schnaps besseres als kalter Kaffee oder Thee. Heisser Thee oder
Kaffee wäre freilich vorzuziehen, ist aber gewöhnlich gerade in solchen Situa-
tionen nicht zu beschaffen.
Dem Alkohol, beziehungsweise den meisten alkoholischen Genussmitteln,
ist eine hygienische Bedeutung als Nährmittel im Allgemeinen nicht zuzu-
sprechen. Früher glaubte man, dass Alkohol den Eiweisszerfall hintanhalte,
mass ihm also eine Bedeutung als Sparmittel bei. Neuere Versuche haben
jedoch erwiesen, dass Alkohol (abgesehen von toxischen Mengen) ohne Ein-
fluss auf den Eiweissumsatz ist, dass die Stickstoffausscheidung unter seiner
Einwirkung nicht abnimmt. Dagegen vermag der Alkohol durch seine Ver-
brennung im Organismus eine bedeutende Menge Wärme zu entwickeln und
dadurch bis zu einem gewissen Grade Kohlehydrate oder Fett zu ersetzen.
Der Alkohol wird im Organismus fast vollständig bis zu den Endproducten:
Wasser und Kohlensäure oxydirt; nur äusserst geringe Mengen (weniger als
3^0 des eingeführten Alkohols) werden durch Lunge, Haut und Niere ab-
geschieden (BiNz). Alkohol hat die Verbrennungswärme 7-1, d. h. die Ver-
brennung von lg Alkohol erzeugt soviel Wärme, dass dadurch 7-1 Liter
Wasser um PC. erhöht werden können (liefert 7-1 „Calorien"). Der Mensch
bedarf täglich circa 2200 Calorien, die durch Verbrennung seiner gemischten
Nahrung geliefert werden. 1 Liter guten Rheinweins enthält circa 100^ Al-
kohol; diese liefern 710 Calorien. 4 Löffel Leberthran (ein Fettgemenge mit
der Verbrennungswärme 9*1) entwickeln 455 Calorien, also nur ^/^ der obigen
Menge. Dabei wird vorausgesetzt, dass sämmtlicher Leberthran resorbirt wird.
Die Aufnahme von Leberthran wird nicht selten z. B. bei einem fiebernden
Typhuskranken — schwierig sein, während demselben Kranken 1 Flasche
Wein mit Leichtigkeit beigebracht wird. Gerade für Kranke, die eine andere
Nahrung aufzunehmen nicht vermögen, insbesondere für Fieberkranke, ist
der Alkohol von Werth als respiratorisches Nährmittel, das die Consumption
des Organismus und den Kräfteverfall aufzuhalten geeignet ist. — Für Ge-
sunde dagegen ist der Alkohol als Wärmequelle entbehrlich, um so mehr, je
geringer die Anforderungen an die Wärmebildung des Organismus sind: daher
die Bewohner südlicher Länder der Alkoholica leicht entrathen können, und
der Branntweinconsum nach Norden zu immer mehr zunimmt. Bewohner
21*
324 GENUSSMITTEL.
kühlerer Gegenden, die nach dem Tropen übersiedeln und dort die heimische
Sitte, regelmässig starke Alkoholica in grösserer Menge zu sich zu nehmen,
weiterführen (namentlich Engländer), verfallen rasch den schädlichen Wir-
kungen des Alkohols (Delirium, Leber- und Nierenerkrankungen etc.).
Ueber die schädlichen Folgen des Alkoholmissbrauchs: die acute und chro-
nische Alkoholvergiftung ist hier nicht der Ort zu reden. Dass der Alkoholismus die Menschheit
schwer und nicht nur an ihrer Gesundheit schädigt, ist allgemein anerkannt. Zu allen
Zeiten hat ein Missbrauch geistiger Getränke stattgefunden. Im Alterthum und Mittel-
alter waren es fast nur die wohlhabenden Classen, die ein üebermass alkoholischer Ge-
nussmittel zu sich nahmen; namentlich Bürger und Edle des Mittelalters scheinen Un-
geheures im Vertilgen von Wein und Bier geleistet zu haben. Während in den gebildeten
Kreisen in dieser Beziehung eine Besserung stattgefunden zu haben scheint (nur die
Studenten bleiben dem mittelalterlichen Brauche treu), hat in den niederen Bevölkerungs-
classen der Branntweingenuss in erschreckender Weise überhand genommen. Die jährlich
consumirten Mengen Schnaps sind ganz ungeheure: Brüning berechnet die Ausgaben für
Schnaps in Preussen auf 261 Mill. Mark pro Jahr (71 Mill. Mark mehr als die sämmtlichen
directen Staatssteuern betragen). England verausgabt jedes Jahr 1200 Mill. Mark für Al-
kohol; Amerika versteuerte 1886/88 1,424,595.000 Liter spirituöser Getränke (d. i. 31'5 Liter
pro Kopf) im Werthe von 2633 Mill. Mark (i. e. 56-.30 Mark pro Kopf); die kleine Schweiz
vorausgabt jährlich 120 Mill. Mark für Alkohol. Nach Bahr wurden in den 4 Jahren
1872—1875 im Zollvereinsgebiet pro Jahr und Kopf 6 Liter Wein, 82 Liter Bier und 10 Liter
Branntwein verbraucht. Es beträgt der Consum an Schnaps pro Kopf und Jahr für
Norwegen 3*4 Liter
Oesterreich 4-0 „
Frankreich 4-25 „
Grossbritannien 60 „
Schweiz 7"5 „
Niederlande 9"7 „
Belgien 9-75 „
Deutschland 100 „
Schweden 160 „
Russland 180 „
Deutschland steht somit an dritter Stelle. Schweden zeigt in den letzten Jahren eine
Besserung, während in Frankreich der Alkoholgenuss bedrohlich zunimmt, und Russland
in vollstem Niedergang begriffen ist. Rochard berechnet den ökonomischen Schaden, den
das Schnapstrinken verursacht (durch Verlust an Arbeit, durch Verursachung von Un-
fällen etc.) für Frankreich jährlich zu 1158 Mill. Mark; für Deutschland lässt sich dieser
Verlust auf 1500 Mill. Mark veranschlagen; für England schätzt man den Gesammtschaden
durch Schnapstrinken gleich ^/4 des Gesammteinkommens sämmtlicher Handarbeiter Gross-
britanniens. Zu dem gesundheitlichen und wirthschaftlichen Ruin des Trinkers kommt
noch die Gefahr der sittlichen Verkommenheit. Die Zunahme der Verbrechen, der Geistes-
krankheiten, der Selbstmorde ist zum grossen Theile auf Rechnung der Trunksucht
zu setzen.
Den Alkoholismus wegen seiner schrecklichen Wirkungen zu bekämpfen, oder we-
nigstens nach Möglichkeit einzudämmen, haben sich Staat wie Private zur Aufgabe ge-
macht. Am weitesten ist man darin in den Vereinigten Staaten gegangen, wo in einzelnen
Staaten das Feilhalten von Getränken gesetzlich verboten ist. Zu ähnlich weitgehenden
Bestimmungen hat man sich in europäischen Staaten nicht entschliessen können. Eine
Herabminderung des Schnapsgebrauches wäre anzustreben: durch Beschränkung der Ver-
kaufsstellen für geistige Getränke, — durch Vertheuerung des Branntweins und gleich-
zeitige Verbilligung des weniger schädlichen Bieres und Weines, bezw. kostenloser Abgabe
von Kaffee und Thee, — durch gerichtliche Bestrafung von Trunkenheit und Trunk-
sucht, durch Ueberführung und unentgeltliche Behandlung in Trinkerasylen. In Deutschland
hat man durch die Steuergesetzgebung im Jahre 1887 den gemeinsten Branntwein, den
Spiritus um das Vierfache gegen früher vertheuert. Der nicht zum Trinken bestimmte
Spiritus ist von der Steuer ausgenommen, wird aber, um nicht doch als Schnaps verwendet
zu werden, durch Beifügung von widerlich riechenden Pyridinderivaten ungeniessbar ge-
macht, „denaturirt." — In Oesterreich, der Schweiz, Holland, Frankreich wird öffentliche
Trunkenheit bestraft, beziehungsweise gilt sie bei Excessen etc. als Erschwerungsgrund. —
Trinkerasyle sind zuerst in Amerika gegründet worden, in denen Trunksüchtige aller
Stände untergebracht werden. In Deutschland gibt es Trinkerasyle, in denen aber nur
Wohlhabende Verpflegung finden können. Gesetzlich geregelt ist die Unterbringung in
Trinkerasylen nur im Canton St. Gallen in der Schweiz durch das Gesetz vom 21. Mai 1891:
§ 1. Personen, welche sich gewohnheitsmässig dem Trünke ergeben, können in einer
Trinkerheilanstalt versorgt werden.
§ 3. Die Versetzung in eine Trinkerheilanstalt erfolgt: a) auf Grund freiwilliger An-
meldung, b) durch Erkenntnis des Gemeinderathes der Wohngemeinde.
GENÜSSMITTEL. 325
Bier. Die Bereitung und Eigenschaften, von Bier, Wein, Branntwein,
sowie die Verfälschungen und deren Nachweise sind im Artikel „Nahrungs-
und Genussmittel" "") eingehend besprochen worden. — Nach seiner hygie-
nischen Bedeutung ist das Bier nicht nur ein relativ unschädliches und be-
kömmliches Genussmittel, sondern auch in bestimmtem Grade ein Nährmittel.
Bier enthält neben Wasser, Alkohol, Kohlensäure und Bitterstoffen Eiweiss-
stoÖ'e, Zucker und Dextrin, letztere drei allerdings in geringer Menge, aber
dafür in gelöster, sehr leicht resorbirbarer Form. Bei dieser vollständigen
Ausnutzbarkeit ist der Nährwerth des Bieres, wenn es in reichlichen Mengen
genossen wird, nicht gering anzuschlagen. Den Beweis liefert die fast regel-
mässig eintretende Corpulenz der habituellen Biertrinker. Ein gutes, wenig
Alkohol und reichlich Extractivstoffe enthaltendes billiges Bier, wie z. B. das
Münchener Bier, ist als vortreffliches Volksgetränk zu bezeichnen.
Es enthält:
Mänchener Löwenbier 91-08% Wasser, S^ Alkohol, 5 920/0 Extract
Dreher'sches Bier (Wien) 9Ü-86°/o „ S-ßö/o „ 5-54%
Berliner: Böhmisches Bräuhaus-Bier 90-60o/o „ 4-1 1^ „ 5-29%
Culmbacher Exportbier 86-31°/o „ 5-29% „ 8'40''/o
Die schweren süddeutschen Exportbiere werden namentlich in Nord-
deutschland consumirt: man braut und trinkt also dort ein viel „schwereres"
d. h. alkoholhaltigeres Bier. Der Consum beträgt in Preussen pro Jahr und
Kopf 40 Liter, in Baiern 220 Liter.
Ein gutes Bier soll glanzhell, vollmundig, gut moussirend sein, der
Alkoholgehalt soll 2-5— 4-5%, der Extract mindestens 4*^/o betragen; auf
1 Theil Alkohol sollen 1-2— 1-6 Theile Extract kommen, am besten 1-6— 1*8;
Glycerin soll höchstens zu 0-57o vorhanden sein.
Fälschungen ist das Bier in deutschen Ländern selten ausgesetzt, häufiger in
ausserdeutschen europäischen Staaten (in englischen Bieren: Porter, Stont, wurde z. B. Pikro-
toxin nachgewiesen) ; — ein geradezu unglaubliches Getränk wird aus Mais und Strychnin
oder Belladonnawurzel etc. in manchen „Brauereien" der Vereinigten Staaten bereitet. —
Nach bayrischem Gesetz darf Bier nur aus Malz und Hopfen bereitet werden, und ist jeder
Zusatz — z. B. auch von Salicylsäure — strafbar. Bei den Verfälschungen des Bieres ist zu
unterscheiden zwischen solchen, die zwar keine Gesundheitsstörung nach sich ziehen (z. B.
der Zusatz massiger Mengen von Salicylsäure oder saurem schwefligsaurem Kalk zur Halt-
barmachung, oder von kohlensaurem Alkali gegen die Säuerung), die aber die Minder-
werthigkeit eines Bieres verdecken — und solchen, die direct schädlich wirken. Zu letzteren
gehören Pikrinsäure, Pikrotoxin, Strychnin, Semina Colchici, Radix Belladonnae u a. Als
billige Surrogate werden verwendet: Stärke oder Stärkezucker an Stelle von Gerste; Enzian,
Wermuth, Quassia anstatt des Hopfens; Glycerin wird zugesetzt zur künstlichen Herstellung
der Vollmundigkeit des Bieres, lieber die genannten Verfälschungen wie deren Nachweis
s. Artikel „Nahrungsmittel" des Bandes „Cüiemie."
Wein. Unter „Wein" verstehen die Weinproducenten den gewerbe-
gerecht vergohrenen und geklärten Traubensaft, die Weinhändler ein aus
Traubensaft nach den Regeln der Kunst bereitetes wohlschmeckendes Getränk.
Diese beiden Definitionen decken sich durchaus nicht: nach der letzteren sind
Zusätze fremder Stoffe: von Zucker, von Alkali etc., soweit sie allein zur
Verbesserung des Geschmackes beitragen, erlaubt. Hygienischerseits ist gegen
solche Manipulationen nichts einzuwenden, so lange durch dieselben nicht
eine höherwertige Weinsorte vorgetäuscht werden soll, und die zugesetzten
Stoffe zu keiner Gesundheitsstörung führen können. Jedoch ist die Grenze
zwischen Erlaubtem und Schädlichem oft schwer zu ziehen, und sind die
Meinungen über die Zulässigkeit gewisser Verfahren (z. B. über das Gypsen)
getheilt. Eine ausführliche Schilderung der verschiedenen Verfahren und
deren Beurtheilung findet sich in dem mehrfach erwähnten Artikel (Bd. „Chemie"
S. 595 ff.). — Reiner Naturwein enthält durchschnittlich 85— 887o Wasser,
9—12% Alkohol, circa 2% Extract, O'l- 0-87o Zucker, bis 0-27o Färb- und
*=) Band „Med. Chemie" S. 595-622.
326 aENüSSMITTEL.
Gerbstoff; 0-2 7o Asche, ferner Essigsäure, Weinsäure, Aepfelsäure, Bernstein-
säure, Glycerin, Oenanthäther (Caprin- und Caprylsäureester). Der Wein ist kein
Nahrungs- sondern lediglich Reiz- und Genussmittel.
Die durchschnittliche Jahresproduction von Wein beträgt in Hectolitern in
Frankreich 36,689.000 Europa 99,907.700
Italien 21,759.000 Vereinigte Staaten 800.000
Spanien 20.519.000 Algerien 690.000
Oesterreich-Ungarn 8,920.000 Kapland 170.000
Portugal 4,000.000 Australien 72.000
Deutschland 2,089.200 Aussereuropäische Gebiete 1,732.000
Griechenland 2,000.000 Gesammtproduction 101,639.700
Russland 1,840.000
Rumänien 1,000.000
Schweiz 600.000
Serbien 500.000
Der mittlere Weinverbrauch pro Kopf und Jahr beträgt in
Frankreich 102-1 Liter Deutschland 4*8 Liter
Spanien 79-4 „ Holland 3 0 „
Portugal 75-9 „ Grossbritannien 29 „
Italien 70 7 „ Norwegen 0-9 „
Schweiz 47-0 „ Schweden O'ö „
Oesterreich-Ungarn 21-1 „
Obstweine werden aus Aepfeln, Birnen, Heidelbeeren, Johannisbeeren in ganz ana-
loger Weise wie der Traubenwein — durch Selbstvergährung — dargestellt. Wegen des
bedeutend geringeren Zuckergehaltes wird ihnen künstlich Zucker zugesetzt. — Die Obst-
weine enthalten Alkohol, Zucker, Pectinstoffe, Gummi, Glycerin, Salze. Apfelweine Wein-
säure (?), Essigsäure, Buttersäure, Gerbsäure, Bernsteinsäure, Oxalsäure, Milchsäure und
Aethersäuren. Obstwein enthält im Allgemeinen die Hälfte mehr Extract und Asche als
der Traubenwein. — Die Obstweine stellen wohlbekömmliche, reine und billige Anregungs-
und diätetische Mittel dar.
Branntwein. lieber die verheerenden Einflüsse des Schnapstrinkens ist
oben schon gesprochen worden. Die schädlichen Wirkungen des concentrirten
Alkohols werden noch bedeutend dadurch erhöht, dass häufig einerseits un-
reiner Alkohol zur Darstellung des Schnapses verwandt wird, andererseits
direct schädliche Stoffe („zur Verschärfung des Geschmackes") zugesetzt werden.
In ersterer Beziehung ist es der Gehalt an Fuselöl, der so verderblich wirkt.
Fuselöl stellt ein Gemenge der höher siedenden Alkohole, Propyl-, Amyl-,
Butyl-Alkohol und Furfurol dar. In normalem Branntwein sollte höchstens
1 p. m. Fuselöl enthalten sein. Der schon nach Amylalkohol riechende
Kartoffelschnaps enthält — neben 30 — 40% Alkohol — 0-37o und mehr Fuselöl.
Der sogenannte „Kornschnaps" wird, wenn echt, aus Getreide hergestellt. Er
wird jedoch vielfach aus Kartoffelschnaps unter Zusatz künstlicher „Nord-
häuser Kornessenz'' hergestellt. In Ländern der kalt gemässigten Zone wird
also am meisten der so schädliche Kartoffelschnaps consumirt. In südlicheren
Ländern wird Branntwein aus Mais, Keis, Früchten, Wein etc. hergestellt. —
In den Gebirgsl ändern des südlicheren Mitteleuropa wird aus zerstossenen
Kirsch- und Pflaumenkernen „Kirsch-" und „Zwetschkenbranntwein" hergestellt;
derselbe enthält 0-3 — 0-57o Blausäure; ein Gehalt über O'lVo sollte nicht zu-
gelassen werden. — Die feineren Branntweinsorten stellen dar: Cognac aus
Wein, — Arac aus Reis, — Rum aus Zuckerrohr gewonnen. Cognac enthält
40— 50o/o, Arac c. 507o, Rum 65— 707o Alkohol. Bei den hohen Eingangs-
zöllen, der Beliebtheit und dem Massenconsum dieser Getränke, dem die Dar-
stellung aus reinen Producten kaum genügen kann, findet eine weit verbrei-
tete Nachahmung und Verfälschung statt. (Näheres Bd. „Chemie" S. 618 ff.)
Alkaloide als Genussmittel. Zu — in jedem Falle überflüssigen, ja
schädlichen — Genussmitteln sind eine Anzahl stark wirkender Arzneimittel
geworden. Manche Personen haben für gewisse Arzneimittel, deren heilende
oder mildernde Wirkung sie zunächst erfahren, eine Art Ideosynkrasie, die
GENÜSSMITTEL. 327
allmählig zum Bedürfnis, und schliesslich zur Leidenschaft wird. So gibt es
Personen, die sich regelmässig mit Chloroform-Aether oder Lustgas betäuben,
andere, die habituell Digitalis, wieder andere, dieAntipyrin, Phenacetin, Sulfonal
oder Aehnl. zu sich nehmen. Es sind aber immer nur vereinzelte Indi-
viduen, die die aufgeführten Arzneimittel gewohnheitsmässig nehmen. Da-
gegen gibt es eine Pteihe stark wirkender, natürlicher (oder aus solchen dar-
gestellter künstlicher) Producte, deren Genuss nicht von Einzelnen, sondern
von Tausenden, ja von ganzen Völkerschaften betrieben wird. Es sind dies aus-
schliesslich Alkaloide, bezw. Alkaloide enthaltende Naturproducte. Dieselben
sollen im Folgenden kurz aufgeführt werden.
Der Fliegenpilz, Amanita muscaria, wird in Nordrussland und
Sibirien von Ostjaken, Samojeden, Kamtschadalen, Tanguten, Jakuten u. s. w.
als berauschendes und erregendes Mittel (Berserkerwuth) genossen. Von welchem
Bestandtheil des Pilzes diese erregende Wirkung abhängig ist — ob vom
Muscarin oder einer anderen Substanz, — ferner ob der kamtschadalische
Fliegenpilz sich von dem gewöhnlichen Fliegenpilz Mitteleuropas durch Vor-
handensein besonderer (ev. auch Fehlen giftiger) Stoffe unterscheidet, ist noch
unaufgeklärt.
Haschisch, ein im Orient in ähnlicher Weise wie Opium allgemein be-
nutztes Genuss- und Betäubungsmittel. — In Nordindien werden zu Beginn
der Fruchtreife die Zweigspitzen und obersten Blättchen der weiblichen Hanf-
pflanze (Cannabis sativa var. indica) gesammelt: „Bhang"; aus diesem wird
eine salbenartige, gelbgrüne Masse hergestellt, die mit verschiedenen Pulvern,
Gummi, Zucker, aromatischen Substanzen versetzt, den sogenannten Ha-
schisch darstellt. Als Churrus wird der aus den vielen Drüsen der Stengel
und Blätter schwitzende, die wirksamen Bestandtheile hauptsächlich enthal-
tende Harzsaft bezeichnet. — Der Haschisch ist theils zum Rauchen, theils
zum Kauen bestimmt; nicht selten ist ihm noch Nicotin, Opium, Canthariden
und Aehnl. beigemengt.
Die Anwendung des Haschisch ist sehr weit verbreitet; Millionen von Menschen ge-
brauchen ihn habituell. Dem Haschischgenuss wird namentlich in Nordafrica, Westasien
und Ostindien gehuldigt; aber auch die Brasilianer rauchen Hanf gern; die Hottentotten
cultiviren den Hanf nur, um ihn zu rauchen.
Der Haschischrausch äussert sich in ausserordentlicher Erregung der
Phantasie, Hallucinationen, heiterer, geräuschvoller Stimmung, Neigung zu
Bewegungen, lärmender Ausgelassenheit, Gefühl des Schwindens der räum-
lichen und zeitlichen Grenzen, der Aufhebung der Schwere, des Fliegens, des
ungemessenen Hinausstreckens des eigenen Körpers u. s. f. Das Bewusstsein
bleibt — besser als bei Opium — erhalten. — Den ßeizerscheinungen folgt
ein Depressionszustand; zuweilen tritt derselbe, mit trüber melancholischer
Stimmung und entsprechenden Hallucinationen, von Anfang an auf, oder
wechselt mit den Pteizerscheinungen ab.
Der Haschisch führt nicht zu Verdauungsstörungen und verstopft
nicht, wie Opium; dagegen sollen Katalepsie und Manie häufige Folgezustände
des habituellen Haschischgenusses sein. Schon im 12. Jahrhundert lehrte Ibn
Beitae, dass derselbe Delirien, Tobsucht und dauernden Wahnsinn veran-
lassen könne. In dem Irrenasyl in Bengalen wurde unter 232 Fällen 76mal
Haschischgenuss als Grund des Irrsinns angegeben; 34 von den 76 Kranken
fanden Heilung.
Ueber die im indischen Hanf enthaltenen Bestandtheile sind unsere
Kenntnisse noch sehr unbefriedigend. Gefunden wurden in demselben: ein
flüchtiges Alkaloid Cannabinin; ein nicht flüchtiges Alkaloid, Tetanocannabin,
wirkt strychninartig; ein Glykosid Cannabin, wirkt hypnotisch; ein flüssiger
Kohlenwasserstoff Cannaben, wirkt toxisch; ein amorphes Harz Cannabinon,
bewirkt Delirien, ja acute Manie.
328 GENÜSSMITTEL.
Von Europäern scheint Haschisch wenig genommen zu werden. Die
Wirkung soll für sie eine weniger angenehme sein, als für die Orientalen.
Vergiftungen sind in Deutschland meist mit dem officinellen Extractum Cannabis
indicae vorgekommen, theils als medicinale Vergiftungen, theils, um sich einen Rausch zii
verschaffen. 0 5 — 1 g sind (bei einem guten Präparat) schon stark wirksam. — Symptome
der Vergiftung sind ausser den oben angeführten Reizerscheinungen, Anaesthesien und Pa-
rästhesien, Ameisenkriechen, Kälte und Taubsein der Extremitäten; Pupillen erweitert und
reactionslos, Puls stark beschleunigt. Zuweilen treten Convulsionen auf. Dem Stadium
der Erregung folgt tiefste Depression, eventuell mit katalepsieartigem Zustand. Die ersten
Symptome treten nach ^/a bis 1 Stunde auf; Restitution erfolgt meist in 48 Stunden.
Opium. Dem Opiumgenusse sind — wie dem des Haschisch — viele
Millionen von Menschen ergeben; der Gebrauch des Opium ist sogar noch
weit verbreiteter als der des Haschisch.
In ganz Süd- und Ostasien wird dem Opiumgenuss gehuldigt. Der habituelle Ge-
brauch desselben ist längst nicht mehr auf die Eingeborenen beschränkt. Die Aufmerk-
samkeit Europas wurde zuerst durch einen Roman Dickens auf das Opiumrauchen gelenkt.
Bis dahin war es Engländern und Amerikanern unbekannt. 1881 wurde bereits die Zahl
der Opiumraucher in Nordamerika auf 3—5000 geschätzt. 1889 zählte man in Newyork
allein 8—10-000 Opiumraucher. Auch nach Australien, wie in andere englische Colonien
ist diese Unsitte gedrungen, ja, hat auch schon in Grossbritannien Fuss gefasst. Es wird
nicht das rohe Opium als solches geraucht, sondern ein aus demselben dargestellter
wässeriger Extract, Chan du genannt. 18—20 Pfund Opium geben ca. 10 Pfund Extract.
Zum Parfumiren werden verschiedene wohlriechende pflanzliche Stoffe zugesetzt. Zum
Gebrauche wird etwas von der Masse auf eine lange Stahlnadel gebracht und über die
Flamme einer kleinen Lampe gehalten, bis es 8 — lOmal ins Sieden gekommen ist. Dabei
verändert das Chandu seine Farbe (von Schwarz zu Braun oder Goldgelb) und seinen
Geruch. Dann erst wird es in eine sehr kleine Pfeife gebracht und geraucht. Das zum Rauchen
präparirte Opium soll relativ arm an Morphin sein. Bei der Darstellung soll ein beträcht-
licher Theil des Morphin verloren gehen. Ein weiterer Theil wird beim Rauchen ver-
brannt. Was sich etwa noch unzersetzt verflüchtigt, dürfte sich im Pfeifenrohr zum
grössten Theile condensiren. Ein habitueller Opiumraucher rauchte morphinfreies Opium
mit dem gleichem Genuss wie stark morphinhaltiges. Ein massiger Opiumraucher in China
verbraucht täglich ca. 6 g Opium; in einzelnen Fällen ist aber der Verbrauch bis 32 g
gesteigert.
Neben dem Opiumrauchen wird im Orient auch dem Opiumessen gefröhnt.
Die Perser verachten den Opiumraucher, geniessen aber allgemein das Opium in Gestalt
parfümirter Pillen. Die Anfangsdosis beträgt 0-03- 0-12 g, sie steigert sich im Laufe der
Jahre bis 8 — 10 g und mehr. Der durch seine „Bekenntnisse eines Opiumessers" zu einer
gewissen Berühmtheit gelangte Thomas de Quincey fröhnte dem Opiumgenusse durch
50 Jahre, und nahm schliesslich täglich 8000 Tropfen Opiumtinctur zu sich !
Der Opiumgenuss erzeugt einen Rauschzustand mit hochgesteigerter Phan-
tasie und angeblich vermehrter Schärfe und Energie des Verstandes. Hallu-
cinationen, wie sie die glühendste Phantasie sich nicht ausmalen kann, ent-
heben den Opiophagen der Wirklichkeit und versetzen ihn in einen wollust-
artigen Exaltationszustand. Diesem folgt nach einigen Stunden eine tiefe
Depression, die den Opiophagen zu erneutem Opiumgenuss und zu immer
gesteigerten Dosen treibt.
Die Meinungen über die Gefährlichkeit des Opiumgenusses sind getheilt.
Indische Aerzte behaupten, dass Menschen bei massigem Gebrauch Jahre und
Jahrzente lang gesund erscheinen und ihre Obliegenheiten erfüllen. Gleich-
wohl ist der Opiumgenuss in jedem Falle für schädlich zu erachten und zu
verbieten. Die Hauptgefahr liegt in dem Uebergehen von einer massigen
Dosis zu einer immer grösseren, das — sei es, dass die frühere Dosis nicht
mehr genügt, sei es, dass körperliche oder psychische Unannehmlichkeiten
dazu veranlassen — später oder früher doch mit Sicherheit eintritt. Die
Folgen des lange fortgesetzten Opiumgenusses sind äusserst traurige. Die
Gesichtsfarbe solcher „Theriaki" ist fahl, das Gesicht eingefallen, die Augen
tiefliegend, matt und ausdruckslos, der Gang schlotterig; es besteht äusserste
Abmagerung in Folge von Verdauungsstörungen: hartnäckige Verstopfung
wechselt ab mit dysenterischen Durchfällen; Gliederzittern, Schwindel, Blasen-
schwäche, Impotenz kommen hinzu, der Kranke geht schliesslich an Lungen-
ödem und Herzschwäche, oder an allgemeiner Paralyse zu Grunde.
GENDSSMITTEL. 329
Missbrauch des Opiums bezw. von Mohnabkochungen findet vielfach in Europa zur
Beruhigung kleiner Kinder statt. Derselbe ist aufs Energischeste, sei es durch Belehrung
der Mütter über die Schädlichkeit dieses Vorgehens, sei es durch Bestrafung von Kinder-
mädchen, Kinderpflegerinnen etc., die dieses „Beruhigungsmittel" gebrauchen, zu be-
kämpfen. Namentlich in England soll mit Opium viel Unfug getrieben werden, um Kinder
zur Ruhe zu bringen. Die auf solche Weise chronisch mit Opium gefütterten Kinder (meist
armer Leute), die sich schliesslich an relativ grosse Dosen gewöhnen, magern ausser-
dentlich ab und erliegen früh meist dem Hydrocephalus.
Morphin. Der Opiophagie des Orients entspricht der MorpMnmissbrauch
der Culturvölker des Occidents. Die Morphiophagie, das habituelle Mor-
phiumeinspritzen (innerlich wird Morphium nur in sehr seltenen Fällen habi-
tuell genommen), hat sich in den letzten Jahrzehnten in erschreckender Weise
ausgebreitet. In den grossen Centren zählen die Morphinisten nach Tau-
senden und Zehntausenden. Anlass zum chronischen Morphiumgebrauch gibt
fast stets die raedicinale Anwendung der Morphininjection gegen irgend welche
Schmerzen. So glänzende curative Erfolge die durch A. Wood 1853 ein-
geführte Subcutaninjection des Morphin gezeitigt hat, so verheerend hat sie
andererseits auf Tausende und Tausende gewirkt. Es ist kein Zweifel, dass
in sehr vielen Fällen der Arzt die Schuld trägt, dass seine Patienten dem
Morphinismus verfallen. Zur Subcutaninjection des Morphin sollte nur
in den dringendsten Fällen gegriffen werden; nie dürfte dem Patienten oder
auch nur dessen Angehörigen die Morphiumspritze überlassen, sondern jede
einzelnen Injection sollte vom Arzte selbst gemacht werden. Leider wird
hiergegen in zahlreichen Fällen gesündigt.
Neben der medicinalen Anwendung des Morphium als Subcutaninjection ist es
häufig die Neugierde, die Wirkung des Morphins kennen zu lernen, der Leichtsinn, der
die Folgen des Morphingebrauches nicht bedenkt, und der glaubt, jeden Augenblick aus
freien Stücken mit den Einspritzungen aufhören zu können, die zum Morphinismus führen
Es werden naturgemäss zu Morphinisten am leichtesten diejenigen, die mit Morphin viel
hantiren bez., denen es jeden Augenblick frei zur Verfügung steht: vor Allem daher
Aerzte, Apotheker und Chemiker. Die Zahl der dem Morphinismus ergebenen Aerzte ist
leider eine erschreckend grosse. Die Schilderung des Morphinismus, seines Verlaufes und
seiner Behandlung ist in dem Bande „Pharmakologie" unter dem Artikel „Morphin" gegeben.
Hier interessiren die Massregeln, die zur Eindämmung dieser verderblichen Leidenschaft
führen können. Morphin gehört als stark wirkendes Arzneimittel naturgemäss zu den in
der Deutschen kaiserlichen Verordnung vom 27. Jänner 1890 § 1 Anlage B aufgeführten
Arzneien, die nur in Apotheken feilgehalten oder verkauft werden dürfen. Hier zählt
Morphin nicht zu den eigentlichen „Giften," sondern zu den „differenten Stoffen," deren
Aufbewahrung und Abgabe besonderen Bestimmungen unterliegt. Die Abgabe erfolgt nur
an Personen, die als zuverlässig bekannt oder legitimirt sind, bezw. nur auf ärztliches
Recept. — Es dürfte, falls diese Vorschriften über das Morphin genau eingehalten werden,
die Erlangung des Morphin in kleinen Mengen für den Laien erschwert, wenn auch nicht
unmöglich gemacht werden. Nichts aber steht ihm im Wege, wenn er sich Morphin in
beliebig grossen Mengen im Grosshandel, von einer chemischen Fabrik beschaffen will. § 3
der Deutschen kaiserlichen Verordnung vom 27. Jänner 1890 lautet: „der Grosshandel,
sowie der Verkauf an Apotheken oder an solche Staatsanstalten, welche üntersuchungs-
oder Lehrzwecken dienen, unterliegen vorstehenden Bestimmungen (§ 1 s. o.) nicht"
Aehnliche Vorschriften bestehen auch in Oesterreich. Es müssen weit genauere und ein-
gehendere Bestimmungen über die Abgabe von Morphin seitens der Fabriken bezw. Gross-
droguerien getroffen werden. Und zwar müssen diese Bestimmungen sich nicht nur auf
das betreffende Land beschränken: es müssen Vereinbarungen über den internationalen
Giftverkehr getroffen werden, da sich sonst jeder z. B. aus England beliebige Mengen der
stärksten Gifte verschaffen kann.
Coca, Cocain. Die Cocablätter, von dem in Peru und Bolivien einhei-
mischen, und dort seit alter Zeit, wie neuerdings auch in anderen Gegenden
cultivirten Strauche Erythroxylon Coca, dienten und dienen noch einem grossen
Theil der südamerikanischen Bevölkerung als unentbehrliches Genussmittel.
Der Cocagebrauch wurde in Peru schon bei der Eroberung durch die Spanier
angetroffen. Die Blätter werden, zum Theil unter Hinzufügung von Pflanzen-
asche oder von Kalk, gekaut. Ein Eingeborener soll Durchschnittlich 28 — 42 g
pro Tag verbrauchen. Das Cocakauen vermindert, nach übereinstimmenden
Angaben der Eingeborenen, das Bedürfnis nach Nahrung und macht den
330 GENÜSSMITTEL.
Körper gegen Strapazen widerstandsfähiger. Ohne Coca unternimmt kein Ein-
geborener eine halbwegs grössere Leistung. In der That sind die Leistungen,
namentlich im Zurücklegen weiter oder beschwerlicher Wegstrecken, ver-
glichen mit der geringen Nahrungsaufnahme, erstaunlich.
Mantegazza schildert die Wirkung des Cocakauens nach Selbstversuchen. Kleine
Dosen. (4 — 8 g) erzeugten Gefühl der Zunahme der Kräfte, der Beweglichkeit, grössere Leb-
haftigkeit der Sprache, Aufgelegtheit zu jeder Art Arbeit. Nach grösseren Gaben: Zustand
der Isolirung von der Aussenwelt, Gefühl von Wohlbehagen und Glückseligkeit. Nach
sehr grossen Dosen: fieberhafter Zustand mit dem Gefühl angenehmer Trägheit, leichter
Kopfschmerz, Zunahme der Pulsfrequenz, Hallucinationen and Delirien, ohne völligen Be-
wusstseinsverlust, später Schlaf; keine Nach wehen. Mantegazza brachte unter dem Ein-
fluss des Cocains 40 Stunden zu, ohne Nahrung zu sich zu nehmen, und Schwäche zu fühlen.
Die Wirkung der Cocablätter ist wohl hauptsächlich die des Cocains
(s. den betreffenden Artikel im Band Pharmakologie); jedoch kommen vielleicht,
namentlich bei den frischen Blättern noch andere Stoffe, ein aromatischer
Riechstoff etc. in Betracht. — Aehnlich schlimme Folgen wie der Opium-
genuss scheint das Cocakauen nicht zu haben. Dagegen ist höchst verderblich
der in Europa in neuester Zeit aufgekommene habituelle Cocaingenuss.
Zum Cocainismus führen dieselben Momente wie zum Morphinismus.
Sehr häufig greifen Morphinisten in der Absicht, sich das Morphin durch
Anwendung eines Ersatzmittels abzugewöhnen, zur Cocaineinspritzung. Hier-
durch ist aber noch nie ein Morphinist des Morphins entwöhnt worden, viel-
mehr verfällt er jetzt der gepaarten Leidenschaft, indem er Morphin mit
Cocain neben einander nimmt. — Cocain ist deshalb so gefährlich, weil es
gewöhnlich weit häufiger eingespritzt wird, da der Rausch rascher verfliegt,
und weil mit den Dosen meist sehr rasch gestiegen wird. Für die mögliche
Einschränkung des Cocaingebrauches gilt das bei Morphin Gesagte.
Tabak. Die Blätter von Mcotiana Tabacum und verwandten Arten. Die
reifen, getrockneten Blätter werden in Haufen geschichtet und einer Gährung
überlassen. Durch diese wird Geschmack und Geruch der Blätter geändert,
Stärke und Zucker verschwinden, die Eiweissstoffe werden theilweis in Amide
verwandelt. Zur Herstellung von Kau-, Schnupf- oder Rauchtabak werden die
Blätter verschieden lange Zeit in sogenannte Saucen gelegt, zu deren Her-
stellung die mannigfachsten Stoffe: Salpeter, Alaun, Borax, Branntwein, Zucker,
Zimmt u. s. w. Verwendung finden.
Der Tabakverbrauch ist ein ganz ungeheurer. Crawford schätzt die durchschnitt-
liche jährliche Tabaksconsumtion auf der ganzen Erde auf 4480 Millionen Pfand (wonach
auf den Kopf über 4 Pf. Tabakverbrauch kämen). Zur Herstellung dieser Menge Tabak
sind 9 Millionen Morgen guten Tabakbodens erforderlich. Der Tabakconsum ist pro Kopf
und Jahr für Belgien 2-5, Niederlande 20; Schweiz 1-6; Oesterreich 1-245; Deutsch-
land 1-205; Norwegen 1-025; Dänemark 1-003; Russland 0883; Frankreich 0-803; Gross-
britannien 0-616; Italien 0-571; Spanien 0-490 ä;^.
Der Rauchtabak enthält ungefähr 20% Asche, lO^o Feuchtigkeit,
70% verbrennliche Stoffe. In der Asche herrschen Kalisalze vor. Häufig
wird KNO3 künstlich zugesetzt um die Verbrennlichkeit zu erhöhen. Anderer-
seits soll die Tabakasche möglichst wenig Chlor (weniger als 0*4% ) und
Phosphorsäure enthalten. Der wichtigste, wirksame Bestandtheil des Tabaks
ist das stark giftige Nicotin. Es ist in grünen Tabaksblättern zu 173—8%
der Trockensubstanz, in präparirten zu 0—5% enthalten. Bessere Tabaks-
sorten haben einen massigen Nicotingehalt; Havannatabak enthält weniger
Nicotin als gewöhnliche Rauchtabake.
Der beste Tabak wächst auf der Insel Caba (Havannatabak); fast gleich guter aaf
der Philippineninsel Luzon (Manillacigarren), beide aus Nicoüana tabacum; der berühmte
„Latakia" in Syrien stammt von N. rustica; der „Schiras" in Persien von N. persica. —
Havanna, Portoriko, Latakia enthalten 0-6 — 1.2% Nicotin: „Badischer Unterländer," als
schlechter Rauchtabak bekannt, 3-36% Nicotin. Der sehr stark betäubende „syrische
Tabak" enthält gar kein Nicotin.
Durch längeres Ablagern tritt bedeutender Nicotinverlust ein. Beim
Rauchen einer Cigarre destillirt reichlich Nicotin vom brennenden Ende der
GENUSSMITTEL. 331
Cigarre nach der Spitze hin, daher das letzte Ende das nicotinreichste und
darum giftigste ist.
Zur quantitativen Bestimmung des Nicotins wird der getrocknete, gepulverte Tabak
mehrmals mit ammoniakhaltigem Aether ausgezogen, der Auszug wird auf dem Wasserbade
destillirt, wobei NH,, und Aether übergeht, das Nicotin zurückbleibt. Das Nicotin be-
stimmt man durch Titration mit Schwefelsäure: ein Aequivalent Nicotin (162) wird durch
ein Aequivalent SO3 (40) neutralisirt.
Der Tabaksrauch enthält ausser Nicotin eine grosse Menge Bestandtheile:
Kohlensäure, Kohlenoxyd, Wasser, Schwefelwasserstoff, Stickstoff, Essig-,
Ameisen-, Butter-, Valeriansäure, Blausäure, kohlensaures und essigsaures
Ammonium, Salmiak, Cyanammonium, Carbolsäure, Anilin, Pyridin, Picolin,
Lutidin, empyreumatische Substanzen und Russ. Als giftig kommen von
diesen Bestandth eilen (ausser dem Nicotin) in Betracht: das Pyridin und
seine Homologen, die, medicamentös angewendet, Uebelkeit, Gliederzittern,
Schwindel, Kopfschmerz, Erbrechen erzeugen können; — das Kohlenoxyd,
zu 5 — 107o ini Tabakrauch enthalten; im Blut von Thieren, die sich in
mit Tabaksrauch geschwängerten Räumen aufgehalten, war CO in nachweis-
baren Mengen vorhanden; — der Ammoniak, vermöge seiner auf die Ath-
mungsorgane reizenden Wirkung; — die Russpartikelchen, die sich massenhaft
im Lungenepithel ablagern. Dass der Tabaksrauch toxisch wirkt, haben zahlreiche
Versuche an Thieren ergeben. Auch beim Menschen, namentlich bei empfind-
lichen, daran nicht gewöhnten Individuen vermag der Tabaksrauch zweifellos
toxische Symptome: Kopfschmerzen und Reizerscheinungen der Athemwege und
des Magens hervorzurufen. Es sollte deshalb das Rauchen in allen öffentlichen,
nicht ausdrücklich für Raucher bestimmten Räumen verboten werden.
Die Bedeutung des Tabaks als Genussmittel besteht in einer leichten
allgemeinen Erregung des Nervensystems, womit sich eine geringe angenehm-
narkotische Wirkung (im Gegensatz zu Thee und Kaffe) verbindet. Wird man,
um der Muskelermüdung zu steuern, oder um die geistige Thätigkeit auf-
zufrischen, dem Thee und Kaffee den Vorzug geben, so empfindet man die
Annehmlichkeit der Cigarre oder Pfeife besonders im Zustand der behaglichen
Ruhe nach gethaner Arbeit, oder in der Periode gesteigerter Darm- und ver-
minderter Hirnthätigkeit nach einer reichlichen Mahlzeit. Es ist aber der
Tabak nicht allein ein — anscheinend überflüssiges — Genussmittel: er ist
von hoher Bedeutung für den gewöhnlichen Arbeiter, um ihm über die Mo-
notonie der körperlichen Arbeit, oder für den Soldaten, um ihm über Hunger
und Durst, den Mangel jeder Bequemlichkeit, über trübe Stimmung, Furcht
und Gefahr hinwegzuhelfen.
Der Tabak kann, wie jedes Genussmittel, durch übermässigen Gebrauch
zu schwerer Schädigung des Organismus, insbesondere Herzaffectionen und
Sehstörungen führen. Die Schilderung der acuten wie chronischen Nicotin-
vergiftung finden wir in dem Bande „Phamakologie und Toxikologie'' dieses
Werkes, S. 671, ff. — Ausser durch Rauchen, Kauen, Schnupfen kann aber
der Tabak noch in anderer Weise zu Vergiftungen führen.
Früher waren medicinale Nicotinvergiftungen nicht selten, indem man
Tabakabkochungen als Klystier oder Eingiessungen (bei Darmverschlingung etc.)
gebrauchte. — Anwendung von Tabaksaft als Abortivum hat schon zum Tode
von Kind und Mutter geführt. — Die Anwendung von Tabaksaft gegen Haut-
krankheiten im Orient verursacht nicht selten resorptive Vergiftungen. — Ein
Schmuggler, der sich Tabakblätter um den blossen Leib gebunden, erlitt eine
schwere Tabakvergiftung. — Schliesslich ist reines Nicotin zu Selbstmord wie
zu Mordzwecken angewendet worden.
Verfälschungen des Tabaks finden statt durch sogenannte Tabak-
surrogate: Blätter von Runkelrüben, Nussbaum, Huflattich etc. Orientalische
Tabake sind nicht selten mit Blättern von Hyoscyamus niger, Datura stram-
332 GERICHTLICHE MEDICIN.
monium oder Atropa Belladonna gemengt; Cigaretten aus dem Orient ent-
halten häufig einen Zusatz von Opium.
Der Schnupftabak wird vielfach gefälscht. Um ihn zu beschweren wird
Sand, Kalk, Ocker u. s. w. zugesetzt. Gesundheitsschädlich sind Verfäl-
schungen mit Niesswurz. Zur Erkennung aller dieser Verfälschungen dient
am besten die genaue mikroskopische Untersuchung. e. heinz.
Gerichtliche Medicin. Die gerichtliche Medicin umfasst
die Lehren über die Verwertung naturwissenschaftlicher und
ärztlicher Kenntnisse für Zwecke der Rechtspflege. Dieselbe
ist sohin eine angewandte Disciplin und als solche in Parallele zu
setzen mit den übrigen Fächern der praktischen Medicin. Während diese
dem Wohle des Einzelnen dient, ist es Aufgabe jener, im Interesse
des Bestandes der Gesammtheit zur Aufrechthaltung der so-
cialen Ordnung behilflich zu sein und dem Richter zur Erkennung
und richtigen Deutung von Gebrechen verschiedenster Art Mittel und Wege
zu zeigen.
Ihre we sentlichste Anwendung finden die Lehren der ge-
richtlichen Medicin in der Sachverständigen-Thätigkeit des
Arztes bei Gericht, die sich entsprechend dem grossen Umfange der Dis-
ciplin auf alle Fragen der civil- und strafrechtlichen Praxis, zu
deren Entscheidung medicinische Kenntnisse erforderlich sind, erstrecken
wird. Aber nicht allein das umfängliche Gebiet der Arzneikunde
mit ihren verschiedenen Specialfächern, sondern der Gesammtinhalt der
Naturwissenschaften überhaupt liefert dem Gerichtsarzte die
Mittel zur Begutachtung von unaufgeklärten Rechtsfällen.
Die umfassende und verantwortungsschwere Aufgabe des Arztes, welcher in
der Eigenschaft eines Sachverständigen bei Gericht thätig zu sein berufen
ist, macht es demselben zur vornehmsten Pflicht, sich immerfort auf der Höhe
der stetig fortschreitenden und sich mehr und mehr ausgestaltenden Wissen-
schaft zu halten, um den höchsten Forderungen der Rechtspflege jederzeit in
hinreichender Weise entsprechen zu können.
Nach dem Dargelegten kann es einem Zweifel nicht mehr unterliegen,
dass eine umfängliche tiefe heilärztliche Durchbildung für den
Sachverständigen bei Gericht zu einer erspriesslichen Thätigkeit un-
umgänglich noth wendig ist; ebenso unzweifelhaft erscheint es jedoch, dass
hiezu nebstdem noch die weitgehendste Kenntnis einer Summe
specifisch gerichtlich-medicinischer Details erforderlich wird,
durch deren zweckdienliche Verwertung für forense Fälle in erster Linie die
Lehr- und Erfahrungssätze der praktischen Heilkunde den Intentionen des
Richters zurecht gemacht werden. Zudem ergeben sich in gerechter Beur-
theilung der hohen Ziele, denen unsere Disciplin zu dienen hat, für dieselbe
noch eine Reihe eigenartigster Gesichtspunkte, die der sonstigen
Richtung der praktischen Medicin vollkommen fern gelegen sind. Diese
müssen daher in gleicher Weise wie die oben herangezogenen Fragen in dem
Lehrgebäude der gerichtlichen Medicin ihre Stellung finden und eigens ge-
lehrt werden.
Es mag zur Beleuchtung des Gesagten der Hinweis darauf genügen, dass zu den
Eigenschaften eines tüchtig geschulten Chirurgen die Kenntnis der Cha-
rakteristica des Nahschusses nicht nötig ist, ohne dass sein Ruf hiedurch irgend
welchen Schaden nehmen könnte, während der Gerichtsarzt mit den Kriterien des-
selben wohl vertraut sein muss; auch dürfte es kaum zu den Obliegenheiten eines selbst
viel beschäftigten Geburt shelfers gezählt werden, sich Einblick in die Bedeutung
der Lun gensch wimmprobe zu verschaffen, während der pro foro thätige Arzt
desselben nicht entrathen kann.
Das Gesammtgebiet der gerichtlichen Medicin lässt sich sach-
gemäss in zwei grosse Abschnitte theilen, deren einer die Unter-
GERICHTLICHE MEDICIN. 333
suchungen lebloser Gegenstände — auch von Leichen — um-
fasst, während der zweite Theil in seinem ausgedehnten Rahmen
die Untersuchungen am Lebenden einschliesst. Für die erste
Kategorie ist nächst einer umfassenden gerichtsärztlichen Durchbildung die
Kenntnis der Lehren der descriptiven nnd pathologischen Anatomie,
der Physiologie und allgemeinen Pathologie, Chemie und Bacterio-
logie erforderlich, für die zweite Art von Untersuchungen kommen in erster
Linie die Lehrsätze der gerichtlichen Medicin in Betracht, die
naturgemäss das Gebiet der übrigen Disciplinen der medicinischen Wissenschaft,
als Chirurgie, Gynäkologie, Psychiatrie, Toxikologie und Sy-
philitologie, nach verschiedenen Richtungen hin streifen.
Die Anwendung der Summe dieser Kenntnisse muss in jedem
concreten Falle in formell bestimmter, für den Richter brauchbarer
Weise erfolgen, wenn der letztere den angestrebten Nutzen aus dem Attest
des Gerichtsarztes soll ableiten können. Das Ergebnis einer jeden gerichtsärzt-
lichen Untersuchung ist daher in rein sachlicher Weise, ohne alle sub-
jectiven Zut baten von Seiten des Untersuchers, in einem schriftlichen
Elaborat — Befundaufnahme — in übersichtlicher Aufeinanderfolge sorg-
fältig geordnet, zusammenzufassen, so zwar, dass sämmtliche für die Klarstellung
des Falles nöthigen Einzelheiten in gehöriger und sachgemässer Art zur Dar-
stellung gelangen. Es sollte in jedem Befunde nur mit bestimmten W^erten
gerechnet und alle annäherungsweisen, daher leicht irreführenden Schätzungen
grundsätzlich vermieden werden. Erst am Schlüsse der sachlichen Beschrei-
bung des Wahrgenommenen hat man in einem getrennten Abschnitt eventuell
auch den subjectiven Angaben des Untersuchten oder einzelner Mitglieder
seiner Umgebung Raum zu geben. Eine objective und nach allen Seiten hin
erschöpfende Befundaufnahme ist allerorts die alleinige und einzig verwert-
bare Unterlage für die richtige Deutung zweifelhafter Straffälle und er-
möglicht auch einzig und allein dem Begutachter in zweiter Instanz die Auf-
klärung unliebsamer Missgrifie und grober Irrthümer oder schwerwiegender
Widersprüche in der Auffassung der -ersten Experten. Die Wichtigkeit einer
genauen Befundaufnahme erhellt gerade in jenen Fällen, wo sogenannte Ober-
gutachten von den Behörden eingeholt werden. Eine verwertbare Ent-
scheidung ist nachgerade an eine sorgfältige Untersuchung und erschöpfende
Beschreibung des Objectes durch die ersten Aerzte geknüpft. Die anscheinend
geringfügigste Mangelhaftigkeit nach dieser Richtung hin erschwert oder
verhindert überhaupt eine bestimmte Aussage des überprüfenden Sachver-
ständigen. Eine Untersuchung, welche über der Description des in Frage
stehenden Theiles des Objectes eine Darstellung der allgemeinen Beschaffen-
heit desselben in unverantwortlicher Weise vergisst und damit wichtige
Kriterien für die Beurtheilung der Sachlage aus den Händen gibt, kann
keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Es ist daher niemals ausser
Acht zu lassen, dass die Gesammtheit, aber nicht einzelne Theile
des Untersuchungs-Objectes die Unterlage für unsere Entschei-
dungen pro foro liefern.
Aus dem grossen Umfange der gerichtlichen Medicin sollen an dieser
Stelle blos 1. die Narben und Tätowirungen, 2. W^erkzeuge und
Waffen und 3. die Fussspuren einer eingehenden sachlichen Würdigung
unterzogen werden, während bezüglich der übrigen Capitel auf deren geson-
derte Betrachtung an anderen Orten verwiesen wird.
1. Narben und Tätowirungen. Unter Narbe im Allgemeinen ver-
stehen wir im anatomischen Sinne den durch neugebildetes Granu-
lationsgewebe gedeckten Ersatz eines Defectes in der Continuität
von Geweben.
Die Narbe ist eine aus embryonalem Gewebe aufgebaute Neubildung, deren Ober-
fläche anfänglich aus einer dünnen Lage zarten Epithels sich zusammensetzt. Eine reich-
334 GERICHTLICHE MEDICIN.
liehe Durchsetzung des Grundgewebes mit feinsten Blutgefässen gibt der jungen Narbe
das für sie charakteristische rosafarbene Aussehen. Das Narbengewebe ist entweder in
Form einer leistenförmigen Erhabenheit prominirend oder gegen die Umgebung
nach Art einer Furche oder grubigen Vertiefung eingezogen. An der Ober-
fläche fehlen die natürlichen Hautrinnen, die an verschiedenen 'Körperstellen die eigen-
artigen Hautzeichnungen veranlassen, so dass ein glattes, glänzendes Gefüge der Narben
resultirt, deren Beschaffenheit durch Mangel an Pigment und Haarfollikeln sich überdies
von der Nachbarschaft deutlich kennzeichnet. Später gelangen die neugebildeten Blut-
gefässe durch Obliteration zum Verschwinden, das junge zarte Gewebe wird durch derbes,
festes Fasergewebe ersetzt, und die Epithelschichte verdichtet sich augenscheinlich. Durch
diese anatomische Umänderung erleidet auch das Aussehen der Narbe einen merklichen
V^andel, der sich dem Auge als Weissfärbung und dem Gefühl als Verhärtung kundthut.
Es erscheint somit möglich, mit Zugrundelegung der eben gekennzeichneten Verhältnisse
eine junge Narbe von einer älteren zu unterscheiden.
Eine gerichtsärztliche Beurtheilung erfahren die Narben in erster Linie
in jenen Fällen, wo nach erfolgter Ausheilung von incriminirten Verletzungen
an den Experten die Aufgabe herantritt, an der Hand des anatomischen Be-
fundes sich über: ä) Provenienz, h) Alter, c) Folgezustände und
d) Heilv erlauf der einer Narbe zu Grunde liegenden Wunde auszusprechen
oder e) den Identitäts-Nachweis von Personen unbekannter Herkunft
anzutreten.
a) Herkunft von Narben. Bezüglich der Entscheidung über die Natur
von Narben muss vor Allem daran erinnert werden, dass es streng charakte-
ristischeNarbensensustrictiori, deren Beschau allein schon unter allen
Umständen die Feststellung der Diagnose über die Genese derselben ermöglicht,
nicht gibt. Andererseits wäre es ein nicht genug tadelnswerther Irrthum, wollte
man in Folge dieses, namentlich von Hebra scharf hervorgehobenen Erfahrungs-
satzes zu dem extremen Standpunkt hinneigen, von vornherein alle auf die Be-
stimmung der Natur von Narben hinzielenden Bestrebungen für überflüssig zu
betrachten. Es verdient vielmehr betont zu werden, dass bei genauester Ber ü ck-
sichtigung aller einschlägigen Verhältnisse, als Anordnung der
Narben, deren Sitz, Lage und etwaige Mitketheiligung der Umge-
bung, im Zusammenhalte mit dem anatomischen Bilde und dem Er-
gebnis der Erhebungen über Wundverlauf etc. in der grösseren
Mehrzahl der Fälle mit einiger Wahrscheinlichkeit eine meist nach vielen
Richtungen hin befriedigende Antwort betrefis der Entstehungsursache der
Narbe zu gewärtigen ist.
So wird die Entscheidung einer der cardinalsten Fragen, ob nämlich ein der
zu untersuchenden Narbe zu Grunde liegender Process auf ein Trauma oder auf
eine Erkrankung (hauptsächlich Syphilis, Tuberculose, ulcus cruris) zurück-
zubeziehen ist, in den seltensten Fällen auf Schwierigkeiten stossen, nachdem die Locali-
sation ad nates, an den Genitalien, in den Schenkel- und Leistenbeugen, der
Sitz über pr ominirenden Knochenleisten (z. B. an der Tibia und am Darm-
bein kämm) oder an den seitlichen Halspartien mit gleichzeitiger Betheiiigung der
Knochen und verkäster Lymphdrüsen in den verschiedensten Körperregionen einen
sicheren Wegweiser zur Bestimmung der Natur des Leidens liefert. Die Anwesenheit
etwaiger Reste des die Vernarbung bedingenden Krankheitsprocesses wird die Differenzirung
wesentlich erleichtern.
Betreffs Beurtheilung der Frage über die Entstehung einer Narbe aus
einer scharfrandigen oder unregelmässig gerissenen Wunde, diene als Richt-
schnur, dass eine Schnittverletzung bei ungestörtem Heilverlauf in der
Regeleine scharflinige, feine, röthliche und später abblassende
Narbe zurücklässt, die je nach der Betheiligung des Untergrundes leicht
verschieblich oder lixirt ist; während eine Quetsch-Risswunde ceteris
paribus in Form einer Narbe ausheilt, die nach Zahl ihrer Lappen eine viel-
fach unregelmässig unterbrochene Linie darstellt. Es darf hiebei
jedoch nicht verschwiegen werden, dass mannigfache Uebergänge bestehen,
und gegebenen Falls die aus einer Schnittwunde hervorgegangene Narbe, zu-
mal wenn Eiterung hinzugetreten ist, die Charakteristica einer aus Riss-
GERICHTLICHE MEDICIN. 335
wunden entstandenen Narbe bieten kann, und umgekehrt eine Continuitäts-
Trennung mit gequetschten Rändern, die sich per primam geschlossen hat,
unter Umständen einmal eine lineare Narbe aufweist. Ueberhaupt ist daran
festzuhalten, dass die endliche Gestalt einer Narbe von mehrfach
wechselnden Componenten — als Form und Localisation der
Wunde, Spaltrichtung der befallenen Hautpartie und nicht zumindest von
Heilverlauf und Menge der Granulationen — abhängig ist, so dass
hierin die mannigfachen Variationen im Aussehen einer Narbe bei
gleicher Entstehungsursache einer Verletzung ihre anatomische Er-
klärung finden. Gleichwohl wird in vielen Fällen an der Hand der soeben ge-
kennzeichneten Eigenschaften der Narben ein Rückschluss auf den Entstehungs-
modus der fraglichen Wunde möglich sein, sobald allen in Betracht kom-
menden Verhältnissen gebührend Rechnung getragen wird. Im Lauf der Zeit
undeutlich gewordene Narben werden zufolge künstlicher Hyper-
ämisirung ihrer Umgebung durch Massage wieder zum Vorschein ge-
bracht; solche, die an die Unterlage fixirt waren, erhalten mit der Zeit eine
weiter gehende Verschieblichkeit zurück. Ferner soll hervorgehoben werden,
dass die Längsausdehnung der Narben in Folge Retractions-
fähigkeit der Nachbarschaft hinter dem Längenmass der voraus-
gegangenen Verletzung nicht unwesentlich zurückbleibt.
Narben nach Schussverletzungen unterscheiden sich in Form und Aussehen
zuweilen durch nichts von jenen nach Schnitt- und Risswunden. Spitzku gel- Wunden
können nach Art einer Schnittverletzung ausheilen, während manchmal auch ent-
sprechend der Zahl der Lappen strahlige Narben resultiren. Die Einschussöff-
nung lässt sich durch eingesprengte Pulverkörnchen noch lange nach Abschluss der
Vernarbung als solche erkennen. Die Deutung der Narben nach Schrotschüssen wird
in Folge der Multip licität derselben kaum auf Schwierigkeiten stossen und selbst nach
einer Reihe von Jahren noch möglich sein.
Nach weitgehenden, die Cutis und die übrigen darunter gelegenen
Weichtheile betreffenden Verbrennungen erhalten sich meist äusserst derbe,
hochroth gefärbte, strahlige, hypertrophische Narben, die nur ausnahmsweise
ein Analogen finden nach ausgebreiteten Risswunden mit grossen Substanz-
verlusten. Verbrennungen, die sich nur auf die Oberhautgebilde beschränken, lassen
überhaupt keine oder nur undeutliche Spuren zurück. Verbrühungs-Narben oder
solche nach Verletzungen mit ätzenden Flüssigkeiten (Säuren, Laugen u. dgl.)
sind schon an ihrer charakteristischen, durch das Herabfliessen der Flüssigkeiten
bedingten Verlaufsrichtung zu erkennen. Narben nach Bisswunden können zu-
weilen durch ihre Anordnung und Localisation charakterisirt sein.
Schliesslich soll auch der sogenannten falschen Narben gedacht
werden, die im Anschluss von hochgradiger Abmagerung, z. B. nach Typhus,
sich einstellen oder durch ausgedehnte Lockerung der Cutis zu Stande
kommen im Gefolge von Krankheiten mit schnell einsetzender Ausdehnung
der Haut, in ähnlicher Weise wie am Abdomen von Schwangeren.
Dieselben stellen sich ohne Prodromen ganz unvermittelt ein und zeigen sich
in Gestalt mehr weniger stark glänzender, glatter, blasser Streifen,
die beim Spannen der Haut an Deutlichkeit gewinnen.
h) Die Altersbestimmung von Narben wird unter genauester
Berücksichtigung aller, den Wundverschluss beeinflussenden
Factoren mit Zugrundelegung des oben skizzirten Vorganges der
Narbenbildung zu erfolgen haben. Wenn auch der nach aussen durch
Rothfärbung sich manifestirende Blutgefässreichthum einer jungen
Narbe ein nicht zu unterschätzendes Kriterium für die Altersbestimmung
liefert, so darf nicht ausser Acht gelassen werden, wie erfahrungsgemäss
gerade die Wundheilung von den mannigfachstenBedingungen — Alter,
Constitution und Ernährungszustand des Beschädigten, Ausdehnung,
Localisation des Substanzverlustes und Heilverlauf — abhängig ist.
Bei einem jugendlichen Individuum wird unter sonst gleichen Ver-
hältnissen die Wundschliessung und Restitutio ad integrum viel
336 GEEICHTLICHE MEDICIN.
rascher beendet sein, als bei einer alten, abgezehrten und maras-
tischen Person. Daher erscheint es von vornherein unthunlich, bestimmte,
allgemein giltige, zeitliche Grenzen für die Dauer der Ausheilung
als Norm aufzustellen. Im allgemeinen benöthigt eine Wunde je nach dem
Grade ihrer Ausdehnung unter der Voraussetzung einer ungestörten Heilung
einen Zeitraum von einigen Tagen bis zu wenigen Wochen zur
vollständigen Oonsolidation, während anderntheils bei grösseren
Substanz Verlusten selbst viele Monate zur Deckung des Defectes in
toto nicht ausreichen.
c) Folgezustände der Narben. Die Narben gewinnen ein be-
sonderes gerichtsärztliches Interesse in erster Linie durch die
aus ihnen erwachsenden Verunstaltungen und Functionsbehinderungen
einzelner Körpertheile oder ganzer Complexe des Körpers, die je nach ihrem
Grade und Sitz eine verschiedene Beurtheilung erfahren.
Als beachtenswerth wird hervorgehoben, dass jede Narbe, unbeschadet ihrer Lage,
in Folge grösserer Vulnerabilität des Gewebes als locus minoris resistentiae
auf die wechselvollsten äusseren Reize hin der Sitz immer wiederkehren der Entzündungen
sein kann, welche bei der äusserst mangelhaften Vascularisation der alten Narbe
nicht selten einen höchst langwierigen Verlauf nehmen und manchmal erst nach vielen
Wochen zur Abheilung gelangen. Bei einschlägigen Beobachtungen wäre vor allem ein
eventuelles Verschulden durch Vernachlässigung der Behandlung oder un-
genügenden Schutz des Narbengewebes gegen äussere Schädlichkeilen besonders
zu vermerken. Dieses Wiederaufbrechen von bereits vernarbten Stellen kann nach pene-
trirenden Wunden der Brust und des Unterleibes durch die Infectionsgef ahr und
Möglichkeit von Organ- und Gewebsvorfällen noch specielle Bedeutung gewinnen.
Auch werden unter Umständen Narben älteren Datums durch fortgesetzten Zug oder an
haltenden Druck atrophisch und verdünnen sich so weit, dass sie Anlass zu Brüchen
verschiedenster Art (Hernien) geben. Etwaige Anästesien, Parästesien (Jucken,
Kribbeln, Gefühl des Taubseins, Ameisenlaufen etc.) geringerer Intensität im Gebiete
junger Narben sind meist unwesentliche Erscheinungen, die sich in der Regel
in kürzerer Zeit verlieren; dahingegen geben eingeheilte und gezerrte Nerve n-
stämmchen zu erheblichen Schmerzen Anlass, die in Form von Neuralgien, an
bestimmte Nervenverzweigungen gebunden, mit grösster Heftigkeit auftreten und bis zu
paroxysmenartig einsetzenden Krampfanfällen (Trismus und Tetanus) sich
steigern können. Aehnliche Zustände gelangen ebenso häufig zur Beobachtung bei zurück-
gebliebenen und in der Narbe eingeschlossenen Fremdkörpern, nach deren Ent-
fernung und Circumcision der Narbe sämmtliche Erscheinungen zum Schwinden
gebracht werden. Bei Beurtheilung bezüglicher Folgezustände von Narben ist somit auch
die Möglichkeit einer Behebung der Krankheitssymptome und eventuellen Ausheilung durch
einen entsprechenden operativen Eingriff zu ventiliren.
Unter dem Einflüsse einer noch unbekannten individuellen Praedisposition
kann es in seltenen Fällen zu hypertrophiren den Granulationswucherungen
und wulstartigen Auswüchsen im Gebiete des Narbengewebes (Bildung eines Narben-
keloids) kommen, die sich in Gestalt von Fortsetzen auch auf die nächste Umgebung
erstrecken und netzförmige Stränge darstellen. Auch ganz flache Hautnarben können der
Ausgangspunkt dieses Processes werden, der jeder Behandlung trotzt. Selbst die vollständige
Exstirpation mit primärer Heilung der Wunde schützt nicht vor Recidiven. — Die Mög-
lichkeit der Entwicklung von bösartigen Neubildungen, wie Krebs, auf Grund
narbig veränderter Hautstellen bei hiezu nicht disponirten Individuen muss entschieden
verneint werden.
Die hin und wieder aus Narben erwachsenden Verunstaltungen
und durch zurückbleibende Narbencontracturen der Gelenke bedingten
Functionsbehinderungen sind für die forensische Beurtheilung von gleich weit-
gehender Bedeutung und dürfen bei einschlägigen Beobachtungen nicht
ohne Berücksichtigung bleiben. Die für die ersteren massgebenden Gesichts-
punkte sind je nach Lebensstellung, Geschlecht und Alter des
Individuums vielfach wechselnd und different. Während selbst strahlige
und gewulstete Narbenzüge im Gesichte eines jungen Akademikers oder
Officiers als eine für Viele anstrebenswerte Zierde gelten, kann schon eine
leichte, geradlinige Narbe die Gesichtszüge eines jugendfrischen Mädchens
verunstalten. Danach wird auch das Urtheil des begutachtenden Arztes
wesentlich verschieden ausfallen, je nachdem die Verletzte eine senile
GERICHTLICHE MEDICIN. 337
und auf die Verwertung äusserliclier Reize nur mehr wenig Anspruch
erhebende Person ist, oder ob die ungeschmälerte Anmuth des Weibes erst
ihre Schuldigkeit betreffs Aeusserung auf das andere Geschlecht hätte thun
sollen. In gleicher Weise ist auch der Sitz der Narbe für die Ent-
scheidung des Sachverständigen bestimmend, wobei nicht ausser Acht gelassen
werden darf, w'as von der verunstaltenden Narbe etwa auf Rechnung nicht
sachgemässer Behandlung oder mangelnder Obsorge von Seite des Patienten
zu setzen ist. In vielen Fällen lässt sich überdies noch durch einen nach-
träglichen, geringfügigen operativen Eingriff Manches ausbessern (Abtragen
von vorspringenden Leisten und Umschneiden der Narbe etc. bei En- und
Ektropium der Lider, Lippen und Nasenflügel).
Ausgedehnte Verwachsungen der Mundschleimhaut mit
Ober- und Unterkiefer, der Lippen, Augenlider, Nasen-
öffnungen und des äusseren Gehörganges nach tiefen ulcerirenden
Verletzungen des Gesichtes werden, wenn sie sich als unoperabel erweisen,
zu schweren Schädigungen der Sprache, Ernährung, des Ge-
sichtes, Gehöres und Geruches führen.
Der Grad der Verunstaltung bei Narben des Halses ist von der
Localisation wesentlich abhängig und bei weniger ausgebreiteten Narben
und an durch die Kleidungsstücke geschützten Stellen nicht beachtenswert.
Andererseits können durch narbige Contracturen so hochgradige Ver-
drehungen des Kopfes resultiren, dass die Bewegungen desselben voll-
kommen behindert sind.
In gleicher Weise bedingen ausgedehnte Narben des Brustkorbes
Verkrümmungen und Verstellungen desselben, Narben der Ge-
schlechtstheile beeinträchtigen das Begattungs-, Zeugungs- und
Gebär vermögen durch narbige Stricturen des Gliedes oder Verwachsungen
und Verengungen der Scheide; Narben am Mittelfleisch der Frau
können ein wichtiges Gebärhindernis abgeben und bei beiden Geschlech-
tern die Defäcation nicht unwesentlich störend beeinflussen.
Bei Narben, die aus weitgehenden Zerstörungen der Haut der
Gliedmassen nach Verbrennungen zweiten und dritten Grades er-
wachsen, bleiben unter Umständen Functionsbehinderungen zurück, welche in.
extremen Fällen dem völligen Verlust des Gliedes gleichzusetzen
sind. Nach Verwachsungen der Hinter flächen des Unter- und
Oberschenkels, Verwachsungen der oberen Extremitäten mit der
Brustwand, der Beugeflächen des Ober- und Unterarmes u. dgl.
können zw^ar die geschädigten Glieder im Laufe der Zeit durch Dehnung des
Narbengewebes an Beweglichkeit gewinnen, aber meist führen auch die Ein-
griffe des Chirurgen behufs Lösung der Functionsbehinderung zu keinem be-
friedigenden Resultat. Der Grad der Functionsstörung durch die über
Gelenken sitzenden Narben wird für die Beurtheilung der nur vor-
übergehenden oder immerwährenden Berufsunfähigkeit die Directive abgeben.
Schliesslich sei erwähnt, dass bei jugendlichen Individuen, deren
Wachsthum noch nicht abgeschlossen ist, durch continuirlich wirkenden.
Narbenzug und Druck die Knochenentwicklung soweit behindert werden
kann, dass höchst auffällige und entstellende Assymetrien, z. B. im Gesichte,
resultiren; oder in Folge von Veränderungen der Gelenksenden
und Atrophie der Knochen und Muskeln der Ausgang inSiechthum
eintritt.
Die Narben der Sehnen und Muskeln im Gefolge von tiefen,
eiternden Wunden bei Quetschungen u. dgl. sind nach den gleichen Gesichts-
punkten bezüglich der Functionsbehinderung zu beurtheilen, wie dies oben
für die Narben der Haut bereits ausgeführt wurde.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene n. Ger. Medicin. 22
338 GERICHTLICHE MEDICIN.
d) Heilverlauf. Die durch mannigfache Abweichungen vom normalen Wundverlauf
bedingte Verzögerung der Wundschliessung verursacht naturgemäss ein vrechselndes Bild
im Aussehen der Narbe, welches noch nachträglich verwertbare Anhaltspunkte füi' die
Beurtheilung der Wundheilung bietet. Eine scharflinige Durchtrennung der Haut
vereinigt sich bei Ausschluss einer primären oder secundären Wundinfection und bei Vermei-
dung von MalträtLrungen anderer Art unter gewöhnlichen Verhältnissen in Gestalt einer
schmalen, linearen Narbe; während nach sicher constatirter, ursprünglich scharf-
randiger Verletzung der Ausgang der Verheilung in ein hochgradig gewulstetes,
unregelmässig gegen die Umgebung abgegrenztes Narbengewebe mit Ver-
dichtung, Röthung und Infiltrirung der Nachbarschaft darauf hindeutet, dass im physio-
logischen Ablauf des Vernarbungsprocesses irgend eine Störung, z. B. in Folge
langwieriger Eiterung mit necrotischem Zerfall einzelner Gewebsreste eingetreten ist. C o n-
tinuitätstrennungen mit vielfach gequetschten und gerissenen Wundrändern
führen meist zu unregelmässigen, starren und breiten Narben, selbst unter den
denkbar günstigsten Bedingungen bei Verschluss per primam. Bei an der Unterlage mehr
weniger unbeweglich fixirten Narben hat die Tiefe der Wunde bis zum bezüglichen
befestigenden Grunde (Fascie, Periost und Knochen) gereicht.
e) Identitäts-Nachweis. Die Anwesenheit verschiedenster Narben
und Narbenzüge an den wechselndsten Körperstellen unbekannter Personen
oder deren Leichen ist in manchen Criminalfällen von ausschlaggebender Be-
deutung für die Feststellung der Identität geworden. Auch an der Leiche
lassen sich diese anatomischen Merkmale einer vorausgegangenen Verletzung
bei genauer Untersuchung am Glänze der vernarbten Stelle, an der
Farbe, am Mangel oder an der abweichenden Anordnung der Faser-
zeichnung der Haut noch nach vielen Jahren erkennen. Nur ganz ober-
flächliche Narben geringerer Ausdehnung können durch Schrumpfung der
Oberhautgebilde undeutlich werden. Als eine specifische, durch eingeheilten
Farbstoff gekennzeichnete Art von Narben sind die Tätowirungs-Marken
anzusprechen, die sich an den verschiedensten Stellen des Körpers bei Per-
sonen beiderlei Geschlechtes vorfinden können.
In unseren Breitegraden liefern den weitaus grössten Percentsatz der Tätowirten der
Soldaten- und Matrosenstand und in Straf- und Besserungshäusern unter-
gebrachte Personen; wie überhaupt Internirungen aller Art die Beschäftigungslosen zu
dieser Form der Körperbemalung anzuleiten scheinen. Während bei den europäischen
Völkern mit Ausschluss der Mädchen in Bosnien und der Herzegowina, wo das
Tätowiren landesüblich ist, diese Art der Körperverzierung nur ausnahmsweise beobachtet
wird, ist dieselbe unter den halbcivili sirten Stämmen der Südsee als allgemeiner
Volksbrauch eingeführt, dem sich alle Glieder der Gesellschaft ohne Unterschied zu
einer bestimmten Zeit (meist zur Zeit der Geschlechtsreife) unterwerfen.
Unter Tätowiren versteht man das Fixiren verschiedenartiger
Zeichnungen auf der Körperoberfläche durch Einverleibung
von Farbstoffen (Zinnober, Tusche, Berlinerblau, Waschblau,
Tinte, Schiesspulver, gepulverte Kohle, Antimonoxyd u. dgl.)
in kleinste Hautstichwunden und Einheilung derselben durch
den Vernarbungsprocess.
Ausgeführt wird diese Procedur mit eigens zu diesem Zwecke construirten
Instrumenten in Form von kleinsten Häkchen aus Knochen oder Muscheln
(Neuseeland), oder in Gestalt mehrerer mit einander zu einem Bündel vereinigter
Nadeln, deren in die Farblösungen getauchte Spitzen in die Haut hineingetrieben werden.
Die zur Tätowirung gewählten Ornamente sind meist bildliche Darstellungen, die auf
die verschiedensten Wechselfälle aus dem Leben der betreffenden Personen Bezug haben
und des Oefteren auch seelische Vorgänge aus gewissen Lebensepochen widerspiegeln. So
findet man als Sinnbilder der Liebe: Initialen des Namens der oder des Geliebten,
Angabe der Zeit der ersten Liebe, ein oder mehrere von Pfeilen durchbohrte Herzen, ver-
schlungene Hände, Frauenfiguren, das Bildnis der Auserwählten, Liebesgedichte etc. Die
Symbole des Krieges, vorwiegend beim Soldatenstand, erstrecken sich auf zeitliche An-
gaben über den Eintritt beim Militär, Dauer der Dienstzeit, Jahreszahl einer denkwürdigen
Schlacht und auf die Darstellung verschiedener Waffengattungen, als gekreuzte Flinten oder
Bajonette bei der Infanterie; Dampfer, Barke, Anker bei Marine; Bombenmörser bei
Festungsartillerie; Kanonen mit Granaten oder Kugelpyramide bei Feldartillerie u. dgl.
Die religiösen Zeichen: Kreuz mit Kreis, Herz Jesu von Kerzen umgeben, Bild des
Sacramentes, Crucifix, Schutzheilige, bildliche Darstellung der Kreuzigung Christi u. A.
finden sich besonders als Ausdruck eines frommen Gemüthes bei der Landbevölkerung der
GERICHTLICHE MEDICIN. 339
Alpengegenden häufig. Ausserdem beziehen sich die Zeichnungen nicht selten auf das
Gewerbe, so dass sie die Beschäftigung der Tätowirten andeuten, oder es kommen Kraft
und Stärke durch Thiere (Löwe) und die Verehrung für gewisse Personen, als Fürsten, Poli-
tiker etc. durch deren Porträtirung zum Ausdruck. Das unbändige Gefühl der P>,ache
bezeichnet die Darstellung des Todtenkopfes oder gespannter Schasswaffen und eines ge-
zückten Dolches etc.
Die forensische Bedeutung all dieser mannigfachen Zeichen für
die Erkennung und Feststellung unbekannter Personen in Folge von sicht-
lichen Anklängen in der bildlichen Figur an Stand und Gewerbe ist umso
einleuchtender, als durch den Vernarbungsprocess der Farbstoff durch
Jahrzehnte festgehalten wird und nur in den seltensten Fällen bei schon
ursprünglich schwachen Marken oder nach Anwendung bezüglicher Hilfsmittel
(Aetzung oder Auskratzen) ganz spurlos verschwindet. An abgebleichten und
unkenntlich gewordenen Tätowirungszeichen kann der Nachweis von Farb-
stoff in den regionären Lymphdrüsen die letzten Zweifel beheben.
Die Bestrebungen der Schule Lombroso's, in den Tätowirungsmarken un-
trügliche Attribute des geborenen Verbrechers zu erblicken,
haben vor einer unbefangenen Kritik deutschen Forschergeistes nicht Stand
halten können.
2. Werkzeuge iind Waffen. Die Mannigfaltigkeit der Werk-
zeuge, welche in einem Untersuchungsfalle gelegentlich zur Begutachtung
dem Arzte vorgelegt werden können, ist eine derartig grosse, dass eine
erschöpfende Aufzählung und Darstellung derselben unthunlich erscheint. Es
genüge der Hinweis darauf, dass sämmtliche handlichen Gegen-
stände der menschlichen Umgebung, zuweilen einzelne Körper-
theile selbst (Füsse, Hände, Zähne) unter Umständen zur Verwendung ge-
langen. Die Nothwendigkeit einer besonderen gerichtsärztlichen Beurtheilung
von Werkzeugen und Waffen ergiebt sich aus der E'orderung des Richters
nach einer genauen Qualification des Instrumentes im Sinne
des Strafgesetzes. Die hiefür in Betracht kommenden Fragen beziehen
sich auf die Bestimmung der Art des die vorliegende Verletzung ver-
anlassenden Werkzeuges, der Anwendung desselben bei Aus-
führung der That, seiner Eignung, die nachgewiesene Wunde zu setzen,
und schliesslich auf die Entscheidung, ob der Gebrauch des vorgezeigten
Instrumentes gemeinhin Lebensgefahr einschliesse, und ob die Ver-
letzung auf eine solche Art unternommen wurde, womit gemeiniglich
Lebensgefahr verbunden ist (österreichisches Strafgesetz § 155 a).
Häutig kann bei genauester Würdigung aller bezüglichen Momente Auf-
klärung über den Hergang bei der Verletzung, über die zeitliche
Aufeinanderfolge der einzelnen Verletzungen und bei mehreren Theil-
habern über die Thäterschaf t, beziehungsweise Zugehörigkeit dieser
oder jener Verletzung zu den einzelnen, in Verwendung gestan-
denen Instrumenten gegeben werden. Zur Erleichterung der Eintheilung
und um den praktischen Bedürfnissen des Gerichtsarztes Rechnung zu tragen,
empfiehlt sich, dem Vorgange von Liman folgend, bei der ausserordentlichen
Verschiedenheit der verletzenden Werkzeuge nach Grösse, Form
und Schwere, die Classificirung derselben nach ihren Effecten,
obwohl eine derartige Gruppirung einen Anspruch auf wissenschaftliche Be-
rechtigung niemals erheben kann.
Danach unterscheiden wir am besten scharfe, spitze, stumpfe
und stumpfkantige Instrumente und Feuerwaffen; und die sie
kennzeichnenden Verletzungen tragen in ihrem Aussehen im Allge-
meinen die Eigenheiten und Merkmale von Schnitt-, Stich-, Riss-
und Schusswunden, sodass mit Verwertung der Charakteristica der-
selben die Bestimmung der Art des verletzenden Instrumentes meist keine
Schwierigkeiten bietet. An gewissen Körperstellen, wo die Haut straff
22*
340 GERICHTLICHE MEDICIN.
Über die knöcherne Unterlage gespannt ist (Schädel) oder über
eine scharfe, vorspringende Knochenleiste zu liegen kommt (crista
tibiae, linea semicircularis ossis occipitis externa etc.) können durch Auf-
oder Anschlagen an stumpfe, selbst flache Gegenstände scharf-
randige lineare Verletzungen der Haut in Folge Berstung der-
selben entstehen, die nach der Beschaffenheit der Wundränder als völlige
Schnittwunden imponiren würden. Die Beschau des Wundgrundes wird jedoch
auch hier in den meisten Fällen allen Zweifel beheben lassen durch den Nach-
weis von einzelnen Gewebsbrücken (Blutgefässe und Nervenstämmchen), die
in Folge ihrer grösseren Resistenz die Wundränder noch verbinden; die Beur-
theilung bezüglicher Narben wird den angedeuteten Verhältnissen Rechnung
tragen müssen. In besonderen Fällen kann auch z. B. zur Beurtheilung von
Waffen und elektrischen Anlagen die Zuziehung fachtechnischer Sachverstän-
diger der Waffenkunde und der Elektrotechnik beantragt werden, wenn die
ärztlichen Kenntnisse zur Klärung des Sachverhaltes nicht ausreichen. Jedes-
mal muss aber der gutachtlichen Aeusserung eine gewissenhafte Beschrei-
bung des Instrumentes in allen seinen Theilen nach Grösse, Form,
Ausdehnung, Festigkeit, Schärfe und Schwere, und genaue Angabe
über die Anwesenheit eventueller Gewebsreste in den Fugen, Ritzen und
Unebenheiten seiner Bestandtheile vorausgehen. Ein vergleichsweises Zu-
sammenhalten der Grössenverhältnisse des Werkzeuges mit der
Form und Ausdehnung der Verletzung wird die Entscheidung der Frage, ob
das vorgewiesene Instrument die in Rede stehende Wunde etc. zu erzeugen
geeignet war, mit Leichtigkeit gestatten, wenn auch zugegeben werden muss,
dass nur bei Verletzungen des Knorpels und des Knochens die zurückblei-
benden Eindrücke der Umrisse und Kanten des Werkzeuges die bestimmte
Beantwortung gestatten. In manchen Fällen wird sogar eine Aeusserung
im verneinenden Sinne von Bedeutung werden. Ob die Verletzung mit
grosser Gewalt beigebracht wurde, ist aus dem überwundenen Widerstand
durch schützende Kleiderlagen, Knöpfe, Riemen, Brieftasche, Uhr und dgl.
zu ermessen. Aus der Localisation und Wundrichtung mit Berücksichtigung
aller besonderen Umstände des Falles (Anordnung der Kleider, eventuelle
Lage des Leichnams u. s. w.) sind mitunter höchst wertvolle Schlüsse auf
die Stellung des Thäters möglich. Die Lage der Verletzung in der Herz-
gegend oder am Unterleib und an den seitlichen Halspartien in der Um-
gebung der grossen Halsgefässe im Vergleiche mit der Tiefe des Wundcanals
gestattet das Urtheil, dass die Handhabung des Werkzeuges (Messer, Dolch
u. dgl.) auf eine solche Weise erfolgte, mit der gemeiniglich Lebensgefahr
verbunden ist. Aus der Anordnung und der Art bestimmter Verletzungen,
die ein fachgemässes Führen des Instrumentes voraussetzen, lassen sich unter
Umständen Anhaltspunkte für das Erkennen des Gewerbes des Thäters (Fleisch-
hauer, Raseur u. dgl.) gewinnen. Das wechselnde anatomische Verhalten der
Verletzungen begründet die Annahme der Verwendung von verschiedenen
Werkzeugen bei Ausführung eines Verbrechens, wobei in der Deutung der
Verhältnisse betreffs der Zahl der Thäter grosse Vorsicht geboten erscheint,
nachdem die verschiedenartig gestalteten Verletzungen auch nur von einem
Individuum gesetzt sein können.
Die Frage nach der zeitlichen Aufeinanderfolge mehrerer Verletzungen
lässt sich bei Anwesenheit von leichteren und einer schweren Verwundung,
die den sofortigen Tod bedingen musste, ohne Schwierigkeiten dahin ent-
scheiden, dass die ersteren voraussichtlich vor der letzten zugefügt wurden.
Desgleichen werden Verletzungen, die als Zeichen geleisteten Widerstandes
gedeutet werden müssen, vor einer tödtlichen Verwundung beigebracht
worden sein.
Bezüglich der Beurtheilung der Folgen von Verletzungen im Sinne
der Lebenswichtigkeit und des Ausfalles bestimmter Functionen, muss daran
GERICHTLICHE MEDICIN. 341
erinnert werden, dass Individuen mit Herz Stichwunden und Ver-
letzungen der grossen arteriellen und venösen Gefässe, mit
Zertrümmerung des Schädels nebst ausgedehnten Hirnwunden zu
gewissen Verrichtungen befähigt sind, Ortsveränderungen vornehmen
können, schreien, lauten, sich zur Wehre setzen und dgl. Selbst
complete Durchschneidung der Weichtheile des Halses mit Durch-
trennung der Luftröhre bis an die Wirbelsäule schliesst den Gebrauch
der Stimme für kürzere Zeit nicht gänzlich aus; sowie es auch der Erfahrung
entspricht, dass mit Schenkelhals-Fractur behaftete Personen kleinere
Strecken Weges zurückzulegen im Stande sind.
3. Fiissspuren. Wenn auch nicht geleugnet werden darf, dass die ge-
naue Beobachtung und entsprechende Verwertung der an einem Thatorte des
Verbrechens zurückgelassenen Fussspuren von folgenschwerer Bedeutung für
die Aufklärung einer strafgerichtlichen Untersuchung werden kann, so darf
andererseits auch nicht verschwiegen werden, dass zu einschlägigen, brauch-
baren Beobachtungen selbst dem vielbeschäftigten Gerichtsarzte nur höchst
selten Gelegenheit geboten wird, weil erfahrungsgemäss zum Theil infolge un-
sachlichen Vorgehens bei einschlägigen Vorkommnissen durch die Hilfsorgane,
zum Theil durch ungeschicktes Dazwischentreten unbetheiligter Neugieriger
oder der Entdecker des Verbrechens, denen die Einsicht für den Wert der
Verhältnisse fehlt, diese untrüglichen Zeichen von der Anwesenheit der Thäter
bis zur völligen Unkenntlichkeit verwischt und vernichtet werden.
Soll aus einschlägigen Beobachtungen auch der gehörige Nutzen ge-
zogen werden, darf allerdings nicht ausser Acht gelassen werden, dass eine
sorgfältige, scharfsinnige und exacte Beschreibung aller Details und
Eigenheiten der Spuren um so nothwendiger geboten erscheint, je gering-
fügiger dieselben bei der ersten Beschau in die Augen springen. Eine nur
oberflächliche, mit wenigen Worten zusammenfassende, summarische Behand-
lung der Besonderheiten der Spuren ist dem völligen Fehlen aller bezüglichen
Anhaltspunkte gleichzusetzen; und man darf bestenfalls mit dem negativen
Ergebnis sich vollkommen zufrieden geben, wenn daraus nicht zum Ueber-
fluss noch nebst Zeitverlust Täuschungen gröbster Art erwachsen.
Eine subtile, alle .Einzelheiten der Spur gewissenhaft be-
achtende Description ist somit unerlässliche Vorbedingung für die nütz-
liche Verwendbarkeit derselben zur Aufhellung des Straffalles.
Die sich dem Auge des sorgfältigen Beobachters darbietenden, an dem
Orte eines Verbrechens zurückbleibenden Fussspuren sind zweierlei Art und
präsentiren sich entweder als einfache Abdrücke der mit färbendem Ma-
terial, Blut u. dgl. behafteten Füsse und des Schuhwerks; oder es bleiben
directe Eindrücke, plastische Abforraungen derselben in dem nach-
giebigen und erweichten Boden (Lehm, Koth, Sand, Schnee u. dgl.) zurück.
Zur Fixirung der ersten empfehlen sich genaue Zeichnungen oder die
Photographie, welche entschieden die wahrheitsgetreueste Wiedergabe aller
Verhältnisse ohne jede subjectiven Zuthaten der Verfertiger darbietet; und
für die letztere eine plastische Nachformung des Eindruckes, von
der einzig und allein die wahrheitsgemässe Darstellung aller Tiefenverhält-
nisse zu erwarten ist.
Mit Hilfe der von Chausse empfohlenen Methode des Netzzeichneus wird es auch
für den weniger Geübten möglich, die Spur in brauchbarer Weise für spätere Ver-
gleichszwecke wiederzugeben. Dieselbe besteht darin, dass man die Spur mit einem Recht-
eck umzeichnet und auf dessen Seiten gleiche, möglichst kleine Theile aufträgt. Durch Ver-
bindung der Theilstriche der gegenüberliegenden Seiten erhält man ein System kleinster
Quadrate in die Spur eingetragen, sodass auf einem entsprechend grossen Blatt Papier,
auf dem die gleichen Quadrate aufgezeichnet sind, die üebertragung statthaben kann.
Zur plastischen Darstellung der Eindrücke auf einem Boden verwendet man
am Besten Gyps, Gyps und Cement oder Gyps und Sand zu gleichen Theilen,
welche in feinst gepulvertem Zustand nach gehöriger Austrocknung der Spur, z. B. mit
342 GESCHLECHTSLEBEN.
Fliesspapier, mit einem Sieb in die Vertiefungen eingestäubt werden, bis die Masse die
Bodenfläche etwas überragt. Durch Begiessen mit Wasser mittelst einer fein durchlöcherten
Brause einer Giesskanne wird die ganze Masse, über die ein trockener Leinwandlappen
ausgebreitet ist, vorsichtig durchfeuchtet und durch gehörige Zeit sich selbst zur Erstarrung
überlassen. Nachdem dieser negative Abdruck der Spur ausgehoben worden ist, können
nach BeÖlung seiner Flächen nach Bedarf viele positive Abklatschungen vorgenommen
werden, die alle die thatsächlichen Verhältnisse der ursprünglichen Spur wiedergeben. Ge-
pulverte Stearinsäure, die durch Erwärmen verflüssigt wird, und eine Combination
von Stearinsäure und Gyps wird von Hugoulin und Jaumes mit angeblich bestem Er-
folge in Anwendung gebracht.
Die Anfertigung von Zeichnungen, Photographien und plastischen Abdrücken der
Spuren empfiehlt sich behufs Vornahme von Vergleichungen in allen Fällen, wo die ur-
sprünglichen Formen am Thatorte nicht aufgehoben werden können. Durch diese Dar-
stellungen lassen sich noch nach Jahren Aufschlüsse über die Grössenverhältnisse der
Fussspuren erhalten.
Aus der Anordnung, der Zahl und der Gestalt der an dem Orte eines
Verbrechens vorgefundenen Fussspuren werden wichtige Anhaltspunkte über
die Art des Angriffes, über die Ausführung der That und die Betheiligung
von ein oder mehreren Personen gewonnen, ebenso kann man wertvolle Zeichen
eines geleisteten Widerstandes u. dgl. mit Leichtigkeit entnehmen.
Dass besondere anatomische Merkmale und Abweichungen des Fußes von
der Norm oder Eigenthümlichkeiten in der Beschuhung sichere Fährten zur
Eruirung des Thäters bieten können, ist selbstverständlich.
Schliesslich muss noch daran erinnert werden, dass ungeschicktes Mani-
puliren an der Spur oder gar Eintretenlassen und Einlegen von Füssen ver-
dächtiger Personen in dieselbe, wodurch naturgemäss die häufig sehr schwachen
Conturen des Eindruckes zerstört werden, einem günstigen Ergebnis ein-
schlägiger Untersuchungen keinen Vorschub leisten.
C. IPSEN.
Geschlechtsleben. Unter dieser Collectivbezeichnung fassen wir eine
Reihe von auf den geschlechtlichen Verkehr des Menschen Bezug habenden
Capiteln zusammen, welche von forensischer und hygienischer Bedeutung sind.
Weiteres ist im nächstfolgenden Artikel „Geschlechtsverhältnisse'''' enthalten.
1. Beischlaf (als Einleitung; Begriff und Erklärung).
Der Begriff „Beischlaf" nimmt das Interesse des Gerichtsarztes in
doppelter Hinsicht in Anspruch: erstens in civilrechtlicher Beziehung, wenn
es sich um die strittige Fähigkeit zur Ausübung des Beischlafes handelt, und
zweitens in strafrechtlichem Verhältnisse, wenn eine Ausführung desselben
unter gesetzwidrigen Umständen in Frage steht. Der civilrechtlichen Seite
dieses Themas sind in den Abschnitten „Begattungsunfähigkeit", „Zeugungs-
unfähigkeit" und „Conceptionsunfähigkeit" (s. „Geschlechtsverhältnisse'''')hesondere
Besprechungen gewidmet; hier bleiben allein die strafrechtlichen Gesichts-
punkte zu erörtern.
Der Begriff „Beischlaf" wird im forensischen Sprachgebrauche vielfach
verschieden definirt. Alle gegebenen Begriffserklärungen bewegen sich in
verschiedenen Variationen zwischen zwei Grenzpunkten. Die Vertreter des
einen Extrems sprechen von Beischlaf bereits da, wo eine innige Berührung der
Geschlechtstheile des einen mit dem Körper eines anderen Individuums stattfand,
während die Wortführer des anderen erklären, dass man von einem wirklichen
Beischlafe nur da reden dürfe, wo mit der immissio penis in vaginam auch
eine immissio seminis zustande gekommen sei. Zu einer befriedigenden De-
finition gelangen wir unseres Erachtens allein durch Basirung des forensischen
Begriffes auf dem physiologischen. In der Physiologie bedeutet das Wort
„Beischlaf" diejenige Vereinigung der männlichen mit den weiblichen Ge-
schlechtstheilen, welche den Zweck der Zeugung verfolgt. Diese physiolo-
gische Vereinigung zieht gemeinhin als unmittelbare Folgen nach sich: 1. ge-
wisse anatomische Veränderungen an den weiblichen Genitalien, die Entjung-
GESCHLECHTSLEBEN. 343
ferung oder Detioration, und 2. die Ablagerung männlichen Samens in die
weibliche Scheide. In der Regel resultiren diese beiden Folgen gemeinsam
aus der geschlechtlichen Vereinigung, es kann jedoch auch sehr wohl gele-
gentlich die eine ohne die andere eintreten. Nun ist aber jede von ihnen
für sich allein im Stande, die sociale Existenz des weiblichen Individuums in
tief einschneidender Weise zu beeinflussen. Einerseits kann ein Mädchen mit
den Zeichen der Defloration auch ohne erfolgte Schwängerung gesellschaftlich
erheblich geschädigt werden, andererseits tritt die gleiche Consequenz durch
eine erfolgte Befruchtung in erhöhtem Maasse auch dann ein, wenn die ana-
tomischen Merkmale der Defloration nicht zur Ausbildung gelangten. Als
Beischlaf im gerichtsärztlichen Sinne definiren wir demgemäss: „eine jede
Vereinigung der männlichen mit den weiblichen Geschlechtstheilen, die derart
beschaften ist, dass aus ihr entweder die Defloration oder die Ablagerung
männlichen Samens in die weibliche Scheide oder beides zugleich erfolgt oder
doch erfolgen kann." Aus dem Begritte Beischlaf auszuschliessen und dem-
jenigen der „Unzucht" zu subsummiren ist demnach die w^ollüstige Ver-
einigung zweier Körper gleichen Geschlechtes, sowie die Befriedigung der
männlichen Lust in einer anderen Höhle oder an einer anderen Stelle des
weiblichen Leibes als in der Scheide.
2. Ehe.
„Ehe" ist die gesetzlich anerkannte Vereinigung zwischen Mann und
Weib zu dauernder Gemeinschaft aller Lebensverhältnisse. Sie gewährt die
edelste Form der Befriedigung des Geschlechtstriebes und ermöglicht in
höchster und bester Weise die Erfüllung des von der Natur beabsichtigten
Zweckes dieses neben dem Hunger mächtigsten und unwiderstehlichsten
aller Naturtriebe: die Erhaltung und Fortpflanzung des Menschengeschlechtes.
Sie bildet die Grundlage der Familie, in welcher allein in bestmöglicher
Weise das leibliche und sittliche Wohl der Gatten sowohl wie der Nach-
kommen zu gedeihen vermag. Da sich in den mittleren Lebensaltern beide
Geschlechter constanterweise im numerischen Gleichgewichte befinden, so ist
von der Natur die Möglichkeit geboten, dass jeder Mann eine Frau und jedes
Weib einen Gatten bekommen kann. Sociale Missverhältnisse aber bedingen
es, dass in allen Culturstaaten wegen der grossen äusseren Schwierigkeiten
für die Gründung eines Hausstandes nur wenig mehr als die Hälfte aller
Erwachsenen verehelicht sind. Statistische Erfahrungen haben es längst er-
wiesen, dass das Wohl der Individuen sowohl wie das des ganzen Staates in
directem Verhältnisse zur Zahl der geschlossenen Ehen steht. Dies gilt zu-
nächst für das leibliche Wohl. Der Gesundheitszustand der Verheiratheten
ist durchschnittlich günstiger als der der Ledigen, und das erreichte
höchste Lebensalter ist bei den ersteren in beiden Geschlechtern höher als
bei den Unverheiratheten; trotz der Gefahren des Wochenbettes ist die Sterb-
lichkeit unter den Ehefrauen auch während der Zeit der Fruchtbarkeit, vom
20. bis 45. Lebensjahre, nicht so gross wie die unter den gleichaltrigen
ledigen Weibern. Gleicherweise wirkt die Ehe günstig auf das sittliche Wohl
der Einzelnen wie der Gesammtheit. Erfahrungsgemäss liefern die Verhei-
ratheten ein verhältnismässig geringes Contingent zum Verbrecherthum;
letzteres rekrutirt sich vielmehr in weit überwiegender Anzahl aus der Menge
der Ledigen; auch Verwitwete, namentlich aber Geschiedene gerathen viel
leichter auf Abwege als Eheleute, und überall tritt unter den Verbrechern
die Zahl derjenigen, w^elche unehelich geboren und aufgewachsen sind, ohne
je den segnenden Einfluss elterlicher Liebe und fester Familienzucht kennen
gelernt zu haben, auffallend hervor. Besonders deutlich machen sich diese
Unterschiede des Civilstandes in der Statistik der Selbstmorde geltend.
344 GESCHLECHTSLEBEN.
Die Zahl der geschlossenen Ehen ist in den verschiedenen Ländern und Völkern sehr
verschieden; sie wird durch eine ganze Reihe von Momenten beeinflusst, unter denen der
gesammte Volkscharakter, das Maass des öffentlichen und privaten Wohlstandes, sowie die
Eigenart der Erwerbsbeschäftigungen obenan stehen. In südlichen Ländern wird im all-
gemeinen in früheren Lebensaltern geheirathet, und werden mehr Ehen geschlossen, als
z. B. bei uns, weil einmal die Geschlechtsreife früher eintritt, zudem der Volkscharakter
leidenschaftlicher, rascher und weniger nachdenklich und besonnen ist, und weil zweitens
die materiellen Bedürfnisse geringer sind, und der nothwendige Lebensunterhalt für die
Familie leichter zu erwerben ist. Durchgehends ist ferner die Beobachtung zu machen,
dass die Zahl der Ehen in städtischer Bevölkerung grösser ist als auf dem Lande; von
wesentlichem Einflüsse ist naturgemäss auch die Stufe der allgemeinen Sittlichkeit; je
mehr ein Volk den ausserehelichen Geschlechtsverkehr als unmoralisch verabscheut, um so
grösser wird das Streben jedes Einzelnen nach der Heirath sein.
Einen sehr wichtigen Factor für die gesunde Entwicklung eines Staats-
wesens bilden die Fruchtbarkeitsverhältnisse der in ihm geschlossenen
Ehen. Diese werden von einer ganzen Reihe von Momenten beeinflusst,
welche uns wohl nur zum Theil bekannt sind. Leicht verständlich ist die
Beobachtung, dass der allgemeine Gesundheitszustand einer Bevölkerung auf
die Fruchtbarkeit einwirkt, indem alles, was die Gesundheit fördert und
kräftigt, auch die letztere hebt. Von Wichtigkeit ist in dieser Hinsicht eine
rationelle Volksernährung und die Schaffung hygienischer Einrichtungen,
welche alle Schädlichkeiten, namentlich für eine vorwiegend im Fabrikbetriebe
thätige Bevölkerung ausschaltet. Von Wichtigkeit ist sodann das Alter der
Heirathenden, dessen Durchschnitt wiederum vom Volkscharakter und allgemeinen
Wohlstand, von der Eigenart der Erwerbsthätigkeit, sowie von Brauch und Sitte
abhängig ist. Fast überall steht die Mehrzahl sowohl der Männer wie der
Frauen zur Zeit der Eheschliessung im dritten Lebensjahrzehnt, dabei sind
die Frauen zumeist jünger, die Männer meist älter als 25 Jahre. Ehen, bei
deren Schliessung der Mann unter 21, die Frau unter 16 Jahre alt ist (so-
genannte „vorzeitige Ehen") erzielen meist eine schwächliche Nachkommen-
schaft oder bleiben gänzlich unfruchtbar. Desgleichen ist erfahrungsgemäss
auf eine geringere Kinderzahl zu rechnen, je mehr der Mann die Mitte der
dreissiger, die Frau die Mitte der zwanziger Jahre überschritten hat. Von
Einfluss ist auch das gegenseitige Altersverhältnis der Ehegatten derart, dass
diejenigen Ehen am meisten Aussicht auf reichen Kindersegen haben, in
denen der Mann weder jünger, noch auch erheblich älter ist, als die Frau.
In richtiger Würdigung der Thatsache, dass geordnete Eheverhältnisse einen der
wichtigsten Factoren für die gesunde Entwicklung eines Volkes bilden, ist von jeher in
allen Culturstaaten in der Gesetzgebung die Regelung der ersteren besonders berücksichtigt
worden. Die modernen Gesetzbücher enthalten meist sehr eingehende Bestimmungen hin-
sichtlich des Eherechtes, namentlich setzen sie das für die Eheschliessung erforderliche
Mindestalter fest, verbieten durchgehends die Heirath zwischen Blutsverwandten (siehe
Blutsverwandtschaft) und enthalten Bestimmungen über die Lösung bestehender Ehen.
3. Blutsverwandtschaft.
Der Begriff der Blutsverwandtschaft war von altersher bis zum heutigen
Tage vielfach der Gegenstand lebhafter Erörterungen bezüglich der Frage,
ob eine Blutsverwandtschaft der Ehegatten schädigend auf ihre Nachkommen-
schaft einwirke oder nicht.
Bei manchen Völkern, auch bei solchen mit vorgeschrittener sittlicher Cultur, war
noch in geschichtlicher Zeit das Heirathen unter den nächsten Blutsverwandten gang und
gäbe, wie z. B. bei den Egyptern und Persern; auch aus der Geschichte unserer heidnisch-
germanischen Vorfahren sind uns Ehen zwischen Brüdern und Schwestern bekannt. Von
den heute noch existirenden Naturvölkern gestattet ein Theil die Blutsverwandten-Ehe,
während sie bei anderen verpönt ist. Das Verbot blutsverwandter Heirathen, welches von
jeher im jüdischen Volke, wie auch im alten Rom zu Recht bestanden hatte, verschaffte
sich mit dem Vordringen des Christenthums in immer weiteren Völkerkreisen Geltang;
gleicherweise untersagt auch der Muhamedanismus die Ehe zwischen Blutsverwandten bis
zum vierten Grade.
Ob in der That die Blutsverwandtschaft der Eltern unmittelbar auf die
Nachkommenschaft degenerirend einwirke, ist noch keineswegs sicher ent-
GESCHLECHTSLEBEN. 345
schieden. Unter den wissenschaftlichen Vertretern der Anschauung von der
Schädlichkeit der Verwandten-Ehe sind die Franzosen Devay ■■ ; und Boudin **)
und der Engländer Bewis ■'•"") die namhaftesten. Sie behaupten, dass allgemeine
Körperschwäche, Unfruchtbarkeit, körperliche Missbildungen, angeborene Taub-
stummheit und Anomalien der Augen bis zu völliger Blindheit, ganz besonders
aber psychische Minderwertigkeiten der verschiedensten Grade bis zu tiefstem
Blödsinn als oft beobachtete unmittelbare Folgen aus der Blutsverwandtschaft
der Eltern resultire. Andere Forscher dagegen (Oesterlen, Reich, Voisin,
Bourgeois, Perier, G. Darwin u. A.) vertreten die Anschauung, dass die
Blutsverwandtschaft an sich unschädlich sei, und dass die genannten Uebel-
stände, wo sie constatirt seien, in ungünstigen socialen und hygienischen
Verhältnissen begründet seien, die in den betreffenden Fällen durch Gene-
rationen hindurch unablässig sich geltend gemacht hätten.
Die Erfahrungen, welche bei der rationellen Thierzucht experimentell gewonnen
worden sind, scheinen für die Richtigkeit der letzteren Anschauung zu sprechen. Durch
die sogenannte Inzucht nämlich, d. h. die fortgesetzte Paarung zwischen den Gliedern
derselben Familie, welche häufig bis znr sogenannten Incestzucht, Paarung zwischen Vater
und Tochter, Mutter und Sohn, Bruder und Schwester, getrieben wird, gelingt es — bei
umsichtiger Fernhaltung schädigender und Wahrung aller möglichen begünstigenden
äusseren Einflüsse — besonders charakteristische Vorzüge des betreffenden Stammes bei
den Nachkommen zu festigen und zu potenciren. Durch zielbewusste Nutzanwendung dieser
Erfahrung hat man geradezu die Entstehung und eine staunenswerte Vervollkommnung
neuer Nutzviehrassen erreicht, wie z. B. die des berühmten Shorthorn-Rindes in England.
Andererseits aber werden gleicherweise auch Fehler oder Schwäche-
zustände vererbt und potencirt, zumal wenn ungünstige äussere Einflüsse,
hygienische Unzuträglichkeiten in Nahrung, Behausung u. dgl. durch Generationen
hindurch dauernd einwirken. Es erscheint sehr plausibel, dass dieser Umstand
für die constatirten Minderwertigkeiten der Descendenten weit verhängnis-
voller ist als die Blutsverwandtschaft an sich. -"*"'-)
Das Oesterreichische Recht fülirt als Ehehinderungsgrund folgende Verwandtschafts-
grade an: Zwischen Verwandten in auf- und absteigender Linie, zwischen voll- und halbbürtigen
Geschwistern, zwischen Geschwisterkindern, wie auch mit den Geschwistern der Eltern,
nämlich mit dem Oheim und der Muhme väterlicher und mütterlicher Seite, kann keine
giltige Ehe geschlossen werden, es mag die Verwandtschaft aus ehelicher oder unehelicher
Geburt entstehen.
Für das Deutsche Reich nennt gleichermaassen der §. 33 des am 1. Januar 1876 in
Kraft getretenen Gesetzes über die Beurkundung des Personenstandes und die Ehe-
schliessung vom 6. Februar 1875: 1. Verwandte in auf- und absteigender Linie, 2. voll-
oder halbbürtige Geschwister, 3. Stiefeltern und Stiefkinder, Schwiegereltern und
Schwiegerkinder jeden Grades ohne Unterschied, ob das Verwandtschafts- oder Schwäger-
schaftsverhältnis auf ehelicher oder ausserehelicher Geburt beruht und ob die Ehe, durch
welche die Stief- oder Schwiegerverbindung begründet wird, noch besteht oder nicht.
Der geschlechtliche Verkehr zwischen solchen Verwandten gilt als Blut-
schande, Incest, und wird in Oesterreich durch §. 131 des Strafgesetzbuches,
respective §§. 184 und 185 des Strafgesetz-Entwurfes, im Deutschen Keiche
durch §. 173 des Deutschen Strafgesetzbuches mit harten Strafen bedroht.
4. Diagnose des stattgehabten Beischlafs.
Es ist die Vorsicht anzuerkennen, welche durchweg von den praktischen
Aerzten bei der Beurtheilung gerichtsärztlicher Angelegenheiten angewendet
wird. Um so auffälliger muss es erscheinen, wie diese gerechtfertigte Vor-
sicht vielfach ausser Acht gelassen wird bei der in Rede stehenden Frage
der „Diagnose des stattgehabten Beischlafs". Ich habe Gelegenheit gehabt,
wahrzunehmen, mit welcher Sicherheit, aber auch Oberflächlichkeit diese zu-
*) Devay, Hygiene des familles. 2. Edit. 1858.
„ Du danger des mariages consanguines. Paris 1862.
**) Boudin, Annales d'Hygiene publ. et de medecine legale. II. Ser. Tome XVUI.
***) Bewis, North American med. chir. Review 1858.
****) Vergl. Nathusius „Vorträge über Viehzucht und Rassenkenntnis". Berlin 1872.
Settegast „Thierzucht", 4 Aufl. Breslau 1878.
346 GESCHLECHTSLEBEN.
meist Schwierigkeiten bietende Frage beurtheilt wird. Ohne Zweifel trägt
hieran die Annahme Schuld, dass die Diagnose des stattgefundenen Beischlafs
leicht zu stellen sei, obwohl dieses nicht immer zutrifft; vielmehr kann es
sich hier um eine schwer zu entscheidende, genaue Sachkenntnis voraus-
setzende Angelegenheit handeln, deren Entscheid mit schwerwiegenden Folgen
für den Angeklagten verknüpft sein kann.
Will man mit Sachkenntnis an die Beurtheilung der Diagnose des
stattgehabten Beischlafs herantreten, so ist in erster Linie nothwendig eine
genaue Kenntnis von der Beschaffenheit unverletzter, jungfräulicher Geschlechts-
organe, denn möglich ist diese Diagnose überhaupt nur dann, wenn der Bei-
schlaf vollführt ist an jungfräulichen Personen. Waren die Geschlechts-
theile aber bereits nicht mehr intacte, hatten schon früher Cohabitationen
stattgefunden, oder waren gar die Geschlechtsorgane verändert durch Ent-
bindungen, dann wird es nur in den seltensten Fällen möglich sein, die Frage
zu entscheiden. Gänzlich unmöglich aber ist die Entscheidung nicht, wenn
eben nur die angeblich Verletzte früh genug zur Untersuchung gelangt. Der
Nachweis von Samen in den Geschlechtstheilen würde den vor kurzem statt-
gefundenen Beischlaf mit Sicherheit darthun.
Derartige Ereignisse sind selten. Fast immer handelt es sich bei dieser
Frage um die UntersuchuDg von gemissbrauchten Kindern, jungen Mädchen,
bei denen unverletzte Geschlechtstheile vorhanden waren. Nun werden als
Zeichen der Jungfräulichkeit verschiedene anatomische Verhältnisse angeführt,
wie das Aneinanderliegen der grossen Labien, die zarte röthliche Farbe und
Beschaffenheit der kleinen, ein ähnliches Verhalten des Scheideneinganges.
Aber ausschlaggebend nach dieser Richtung hin ist einzig und allein das
Verhalten des Hymen, denn die genannten Organe können durch mancherlei
Umstände — Onanie, Krankheiten — verändert, ihr charakteristisches Aussehen
kann geschwunden sein, ohne dass selbst Beischlafsversuche stattgefunden haben.
Bei allen diesen Untersuchungen wendet sich daher die Aufmerksamkeit
des Gerichtsarztes dem Hymen zu; seine Beschaffenheit, die an ihm möglicher-
weise stattgehabten Veränderungen können eine Diagnose gestatten. Ich sage
„können", keineswegs aber „müssen", denn trotz wiederholter Cohabitationen
kann der Hymen völlig unverletzt sein, wie es auch den Geburtshelfern eine
bekannte Thatsache ist, dass selbst der Hymen Erstgebärender eine intacte
Beschaffenheit zeigen kann, wenn solches Vorkommnis auch gewiss zu den
Seltenheiten gehören wird, ebenso wie der unverletzte Hymen einzelner Pro-
stituirten. Eine absolute, eine ausschliessliche Beweiskraft ist durch die
Intactheit des Hymen nicht gegeben. Es ist gut, wenn man diese Einschrän-
kung, diese Herabsetzung des diagnostischen Wertes des intacten Hymen
sich von vornherein bei den Untersuchungen festhält, dann wird man die-
selben mit um so grösserer Sorgfalt vornehmen, da man sich der Schwierig-
keiten, welche die Untersuchung bieten kann, bewusst ist.
Dieser Gedankengang führt aber in erster Reihe zu der Frage: „Wie
ist der unverletzte Hymen beschaffen?" Nun ist diese Frage nicht so einfach
zu beantworten, da der Hymen sehr erhebliche Verschiedenheiten bieten kann.
Man braucht keineswegs hier an die so mannigfachen Abweichungen und Ab-
normitäten zu denken, wie solche zahlreich in den gerichtlich-medicinischen
Handbüchern verzeichnet und abgebildet sind. Jeder, der sich für diese Dinge
interessirt, wird an den genannten Stellen genaue Beschreibungen und Ab-
bildungen finden können. Hier, für die Beantwortung der aufgeworfenen
Frage sollen nur die häufiger vorkommenden Verhältnisse berührt werden.
Durchweg stellt man sich unter dem Hymen eine Duplicatur, eine Schleimhautfalte
im Introitus vaginae vor, die von allen Seiten sich mehr oder minder gleichmässig zur
Mitte erhebt, hier mit scharfem dünnen Rande ein meist excentrisch gelegenes Foramen
hymenaeum umschliesst. Diese Vorstellung von der Scheidenklappe ist eine durchweg rich-
tige, der Mehrzahl der Fälle entsprechend. Hat bei solcher Beschaffenheit des Hymen ein
Beischlaf stattgefunden, so muss durchgehends eine Zerstörung der Scheidenklappe statt-
GESCHLECHTSLEBEN. 347
finden, dieselbe zerreisst mehr oder minder tief. Es bedarf nicht der Erwähnung, dass
sowohl alsbald nach der Zerstörung als auch in späterer Zeit die stattgehabte Defioration
festzustellen ist. In frischen Fällen ist die Aufgabe leicht. Die Röthung und Schwellung
der Vulva, des Scheideneingangs, die Secretion dieser Theile, vor allem die Einrisse des
Hymen, welche am freien liande beginnend mehr oder minder tief bis zur Ansatzstelle sich
erstrecken, sichern die Diagnose; dazu tritt diemeist leichte Blutung, sowie die subjectiven
Angaben der Verletzten. Findet die Untersuchung in späterer Zeit statt, wie dieses in gerichts-
ärztlicher Thätigkeit sich fast stets ereignet, so sind alle vorgenannten Erscheinungen ver-
schwunden, bis auf die Einrisse des Hymen, welche allerdings jetzt vernarbt sind. Aber
auch bei diesen späteren Untersuchungen würde die Aufgabe, die Feststellung des statt-
gehabten Beischlafs, unschwer zu entscheiden sein, denn die vernarbten Einrisse, weniger
die zarten Narben, sind ja sichtbar, wenn man nur sicher darüber wäre, dass vor der
Defloration keine der gleich zu erwähnenden Abweichungen vorhanden gewesen wäre. Hier
beginnt die Schwierigkeit der Aufgabe, die so erheblich sein kann, dass man zur grossen
Verwunderung des Gerichtshofes aussagen muss, die Frage könne nicht mehr mit Sicher-
heit entschieden werden.
Diese Abweichungen, die keineswegs selten sind, betreffen die Gestalt der Scheiden-
klappe, den freien Rand derselben, das Foramen hymenaeum. In ersterer Beziehung ist
hervorzuheben der lippenförmige und der gelappte Hymen. Der lippenförmige Hymen,
welcher gleichsam ein drittes Paar Schamlippen vorstellt, zeigt ein Foramen hymenaeum
mit grossem senkrechten Durchmesser, die seitlichen Theile sind entwickelt, weniger, fast
gar nicht der obere und untere Saum. Es ist klar, dass bei solcher Gestaltung eine er-
hebliche Spannung der Theile beim Eindringen des männlichen Gliedes nicht stattzufinden
braucht, die Einrisse, welche allein bei späteren Untersuchungen die Diagnose stützen, er-
folgen nicht oder in geringem Maasse, und um so eher wird dieses dre Fall sein können, wenn
die Organe geschlechtsreife waren und die Structur der Scheidenklappe eine grosse Dehn-
barkeit gestattet. Auch in dieser letzteren Beziehung liegen erhebliche Verschiedenheiten
vor. Mit grosser Wahrscheinlichkeit unterbleiben Einrisse bei dem gelappten Hymen. Hier
sind schon von vornherein Einrisse vorhanden, der Hymen besteht eben aus mehreren
Lappen, eine Spannung der Scheidenklappe findet bei der Defloration nicht statt, das
männliche Glied schiebt einfach die Lappen zur Seite.
Auch der freie, scharfe Saum des Hymen, der die Integrität der Theile so leicht
beweist, kann Anomalien zeigen. Die eben erwähnten angeborenen Einrisse oder, wie sie
gewöhnlich genannt werden, „Einkerbungen" betreffen nicht immer allein den freien Rand
der Scheidenklappe, sie können die ganze Membran bis auf die Ansatzstelle durchgreifen
und selbstredend bieten sie umso grössere Schwierigkeit bei der Diagnose, je tiefer sie sind,
je mehr der Hymen ein wirklich gelappter ist. Es wird von diesen angeborenen Einker-
bungen stets hervorgehoben, dass ihre Lage symmetrisch auf beiden Seiten sei, und dadurch
sei ihre Unterscheidung von Deflorations-Einrissen leicht. Das ist im allgemeinen richtig,
aber es ist auch zu bedenken, dass Deflorations-Einrisse symmetrisch liegen können, da
eine Gesetzmässigkeit bei der Entstehung der letzteren keineswegs vorliegt.
Die sonstigen Abweichungen am freien Rande, die feinen Zackungen desselben, die
feinen Wimperhaare u. s. w. sind für unsere Betrachtungen ohne Wert.
Auch das Foramen hymenaeum kann von sehr verschiedener Grösse sein, umso
grösser, wenn der Saum, die Wände der Scheidenklappe gering entwickelt sind. In letz-
terem Fall kann die Oeffnung so gross sein, dass der untersuchende Finger, Specula von
sehr geringem Durchmesser bei vorsichtiger Untersuchung die Oeffnung passiren können,
ohne Einrisse hervorzurufen. Ist bei solcher Gestaltung der Hymenalwände noch eine
grosse Schlaffheit in denselben, wie überhaupt in den Geschlechtstheilen bei geschlechts-
reifen Personen vorhanden, so ist eine Defloration ohne Entstehung von Einrissen denkbar,
da eben eine Spannung der Theile nicht stattfindet.
Es ist aus diesen Erörterungen ersichtlich, dass Untersuchungen, welche
längere Zeit nach angeblichen Beischlafsversuchen angestellt werden, auf er-
hebliche Schwierigkeiten bezüglich der Diagnose stossen können. Um diese
letztere nach Möglichkeit stellen zu können, hat man sich unter schwierigen
Verhältnissen insbesondere nach Narben umzusehen, denn Einrisse hinter-
lassen Narben; wenn solche auch wegen ihrer Feinheit oft nicht sichtbar
gemacht werden können, so gelingt es doch bei tieferen Einrissen an der einen
oder anderen Stelle Narben zu sehen, die selbstredend bei angeborenen Ein-
rissen fehlen. Es ist ferner zu beachten, dass die angeborenen Einkerbungen
beiderseits sich symmetrisch gegenüberliegen. Vorzugsweise aber wird zu
einem Urtheil gelangt werden können, wenn man die ursprüngliche Form,
die Gestalt der Scheidenklappe durch Zusammenschieben des Scheideneinganges
sich wieder herzustellen versucht. Dann kann man sich eine Ansicht von
der Grösse, der Gestalt der Hymenalöffnung, des Hymens selbst, der Enge
des Introitus vaginae bilden.
348 GESCHLECHTSLEBEN.
Unter schwierigen Verhältnissen ist eine Diagnose nur auf solchem
Wege möglich. Da aber vor Beginn der Untersuchung die Schwierigkeiten
nicht vorauszusehen sind, so sollen die Untersuchungen überhaupt nur an-
gestellt werden bei guter Beleuchtung und vor allem bei geeigneter Lagerung
der Verletzten auf Untersuchungsstuhl oder Tisch. Der Richter, dem die
vorstehenden Schwierigkeiten nicht bekannt sind, ersucht vielfach um Unter-
suchungen, die in irgend einem Nebenraum des Sitzungszimmers angestellt
werden sollen. Einem derartigen Ersuchen kann nicht gefolgt werden, da die
Genauigkeit der Untersuchung darunter leiden würde.
Wenngleich durch die vorstehenden Erörterungen die hauptsächlich inter-
essirenden Fragen beantwortet sind, so verdienen dennoch folgende Punkte einer
Erwähnung, da sie fast stets im gerichtlichen Verfahren zur Sprache gelangen.
Da erscheint es dem Richter auffällig, dass trotz der Angaben der Ver-
letzten, gewöhnlich eines zum Beischlaf benutzten Kindes, der objective Befund
ein negativer ist, das Hymen ist unverletzt gefunden. Demgegenüber muss
hervorgehoben werden, dass es als Regel anzusehen ist, dass eine Verletzung
der Scheidenklappe bei Kindern sehr selten gefunden wird. Die Enge der
kindlichen Geschlechtstheile, das räumliche Missverhältnis zwischen ihnen
und dem männlichen Gliede bedingt es, dass der Beischlaf sich in der Vulva
abspielt und natürlich muss es daher erscheinen, dass der Hymen unverletzt
ist. Nur mehrfache Beischlafsversuche bei älteren Kindern erweitern die
Geschlechtstheile derselben und führen dann auch zur Verletzung der Scheiden-
klappe. Die Angaben des gemissbrauchten Kindes über das mehr oder minder
tiefe Eindringen des männlichen Gliedes sind ohne Wert dem objectiven
Befunde des unverletzten Hymen gegenüber.
Seitens des Angeklagten wird gewöhnlich hervorgehoben, dass die am
Hymen constatirten Verletzungen von onanistischen Versuchen der Verletzten
herrühren, oder dass selbige hervorgerufen seien nicht durch das Eindringen
des männlichen Gliedes, sondern des Fingers des Angeklagten.
In letzterer Beziehung wird ärztlicherseits selten ein Entscheid zu geben
sein, es kann nicht festgestellt werden, ob die Hymenverletzungen durch das
erigirte Glied oder den Finger des Angeklagten bedingt wurden. Nur wenn
erhebliche Verletzungen des Scheideneingangs, der hinteren Commissur, des
Dammes vorhanden sind, so werden diese Complicationen eher für die An-
wendung des Fingers, als des Gliedes sprechen.
Hinfällig ist zumeist der andere Einwand, die Entstehung der Hymen-
Verletzungen durch Onanie.
Es ist sehr wohl bekannt, dass die Onanie auch bei Mädchen weit verbreitet ist.
Aber diese Art der Selbstbefieckung spielt sich an und in den äusseren Geschlechtstheilen,
zwischen den Nymphen, dem Vorhof, an der Clitoris ab. Eine Durchbohrung des Hymen,
ein Eindringen des Fingers seitens des onanirenden Kindes in die enge Vagina findet des
lebhaften Schmerzes halber nicht statt. Die mehrfachen Untersuchungen der in Idioten-
und Epileptischen- Bewahranstalten zahlreich onanirenden Kinder haben das gleiche Re-
sultat ergeben.
Anders allerdings liegen die Verhältnisse bei geschlechtsreifen Personen, insbesondere
bei denen, welche schlaffe, nachgiebige Geschlechtstheile besitzen oder deren Scheidenklappe
die früher erwähnten Verhältnisse zeigen, den lippenförmigen oder gelappten Hymen, das
grosse Foramen hymenaeum. Unter diesen Verhältnissen kann es dann auch vorkommen,
dass bei stetiger Onanie voluminöse Körper in die Vagina eingeführt werden, immer aber
ohne erhebliche Verletzung des Hymen.
Diese Vorkommnisse beweisen nur den vorstehend oft genug betonten
Satz, dass der unverletzte Hymen allein eine ausschliessliche Beweiskraft gegen
•den vollzogenen Beischlaf nicht besitzt.
5. Nachweis von Sperma.
Es ist eine des häufigeren vorkommende Aufgabe in der gerichtsärzt-
lichen Thätigkeit, Untersuchungen auf Samen vorzunehmen. In der Regel
GESCHLECHTSLEBEN. 349
sollen derartige Untersuchungen an Kleidungsstücken, insbesondere Hemden
ausgeführt werden. Viel seltener wird es sich um den Nachweis von Samen
am lebenden oder todten Körper handeln.
Was zunächst diese Untersuchungen am lebenden Körper betrifft, so kommen die-
selben in Frage bei Nothzuchtsattentaten, insbesondere solchen bei Kindern. Wenn auch
derartige Attentate des häufigeren vorkommen, so hat dennoch der Gerichtsarzt selten
Gelegenheit, die Kinder daraufhin zu untersuchen, ob an oder in den Geschlechtstheilen
derselben sich Samen nachweisen lässt. Zunächst führen die Eltern das Kind zu dem
Arzte der Familie, und wenn diese Zuführung alsbald erfolgt, so würde es seitens des
Arztes unschwer sein, den Nachweis des Samens zu erbringen. Da aber derartige Unter-
suchungen doch verhältnismässig sehr selten an den praktischen Arzt herantreten, so
werden dieselben im gegebenen Falle gewöhnlich unterlassen. Gelangt die Sache zur
Kenntnis der Gerichtsbehörden, so bringt, es der Gang der Untersuchung mit sich, dass
erst nach längerer Zeit der Gerichtsarzt mit der Untersuchung des Kindes betraut wird.
Dann aber ist nicht mehr darauf zu rechnen, den Nachweis von Samen an oder in den
Geschlechtstheilen zu erbringen. In frischen Fällen ist wie gesagt der Nachweis leicht.
Es bedarf nur des Aufstreichens des an oder in den Geschlechtstheilen sich befindenden
Schleimes auf Deckgläser und der mikroskopischen Durchsicht desselben. Will der Arzt
diese Untersuchungen nicht durchführen, so genügt es, etwas von dem Schleim zwischen
zwei Objectträger einzubetten und letztere dem Untersuchungsrichter zur weiteren Be-
förderung zu übergeben.
Noch seltener wie am lebenden Körper sind die Untersuchungen an der Leiche.
Nur die in der jüngsten Zeit des öfteren vorkommenden Lustmorde haben Veranlassung
gegeben, an den Geschlechtstheilen der Ermordeten derartige Untersuchungen anzustellen.
Der Nachweis des Samens in den Geschlechtstheilen würde stets ein sicherer Be-
weis für den vollzogenen Beischlaf sein.
Die weitaus häufigste Art der Untersuchung auf Samen wird an Klei-
dungsstücken, Hemden, ausgeführt. Wer mehrfach diese Untersuchungen vor-
genommen, der weiss, dass das äussere Ansehen der so mannigfach in der
Wäsche vorkommenden Flecke — Secret der Scheide, Urin, Koth, Schmutz —
niemals genügen kann, um Samenflecke zu erkennen. Für gewöhnlich handelt
es sich um Wäsche von Kindern der niederen Volksclassen, und diese Wäsche,
Tage oder Wochen lang getragen, zeigt naturgemäss eine Menge der ver-
schiedensten Flecke. Immerhin aber kann die einfache Besichtigung zur
Orientirung dafür dienen, welche Stellen zur Untersuchung auszuwählen sind,
denn Samenflecken auf Leinwand steifen dieselbe, sie zeigen unregelmässige
Begrenzung, graue Farbe mit leicht grünlichem Schimmer. Niemals aber
können diese Zeichen, seien sie noch so deutlich vorhanden, befänden sie sich
auf ganz reiner Wäsche, eine Beweiskraft beanspruchen für die Diagnose:
„Samenfleck".
Dieser Beweis kann allein erbracht werden durch die mikroskopische
Untersuchung der auf Samen verdächtigen Flecke, und zwar allein durch den
Nachweis der Spermatozoen. Das Auffinden dieser charakteristischen Gebilde
lässt weiteren Zweifel nicht zu, während die sonst im Samen vorkommenden
Bestandtheile, wie Epithelien, lymphoide Zellen, Spermatinkrystalle u. s. w.
irgend eine beweisende Kraft nicht besitzen, sie sind für die Untersuchung
nur hinderlich, da sie die Durchsuchung der Präparate erschweren. Sperma-
tozoen aber sind solche wohl charakterisirte Gebilde, dass Verwechslungen
kaum möglich sein werden. Der birnförmige Kopf, der lange fadenförmige
Schweif, die Grösse 0-035 — O'OöO mm, lassen sie alsbald erkennen. Die lebhaften
Bewegungen, welche Samenfäden in frisch entleertem Secret zeigen, wird der
Gerichtsarzt kaum jemals sehen, da Untersuchungen an frischem Samen
sehr selten sind.
Wenn auch die Untersuchung auf Samen an Kleidungsstücken zeit-
raubender, schwieriger ist, wie am menschlichen Körper, so ist diese Unter-
suchung eine mehr Erfolg versprechende, da die Haltbarkeit der Samenfäden
auf den genannten Substraten noch nach Wochen und Monaten selbige nach-
weisen lassen kann. Es kommt hier wesentlich darauf an, welche Behandlung
die Wäsche, Kleidungsstücke erfahren haben in der Zeit, bis sie an den
i
350 GESCHLECHTSLEBEN.
untersuchenden Arzt gelangen. Bis dahin werden diese Gegenstände vielfach
besehen, sie werden zusammengerollt, verpackt, durch die Post an die Unter-
suchuDgsbehörde geschickt, endlich dem Arzt übergeben. Durch diese mehr-
fachen Manipulationen werden die im eingetrockneten Samen so leicht zer-
brechlichen Gebilde zerstört, im mikroskopischen Bilde sieht man dann so
oft Köpfe ohne Schweife, und ist der Zusammenhang von Kopf und Schweif
aufgehoben, so ist die Diagnose allein aus diesen Fragmenten nicht mehr
möglich, denn zur sicheren Erkennung des Samens gehört wenigstens ein
völlig erhaltener Samenfaden.
Untersuchung von Samen flecken. Die Behandlung der verdächtigen Flecke
auf Leinwand, Kleidungsstücken, Möbeln u. s. w. kann in verschiedener Weise erfolgen:
Ist der Same, wie das nicht häufig vorkommt, in dicker Schicht aufgetragen, so
kann von letzterer ein kleines Blättchen einfach mit dem Messer abgehoben und auf ein
Deckglas gelegt werden. Häufiger ist der Same in die Leinwand eingezogen. Dann
werden kleine Stückchen der verdächtigen Stellen ausgeschnitten, in eine kleine, stark
vertiefte Uhrschale gegeben, mit einigen Tropfen destillirten Wassers befeuchtet, mit einem
Glase bedeckt und nun 6—12 Stunden stehen gelassen. Am rathsamsten beschickt man
4—6 Uhrschalen mit Leinwandstückchen am Abend. Am nächsten Morgen zieht man die
Stückchen auf den Rand der Uhrschale mit einer Pincette. drückt dieselben hier aus, und
es fliesst dann eine trübe, milchige Flüssigkeit in die Uhrschale, von welcher dann 1 — 2
Tropfen auf Deckgläser gebracht werden. Oder aber man schneidet die verdächtigen Stellen
aus und zieht aus dem Gewebe mehrere Fäden hervor, die nun auf Deckgläser gelegt
werden.
In früherer Zeit wurden nun diese Präparate sofort mit starken Vergrösserungen
(300 und darüber) untersucht. Wegen Farblosigkeit der Spermatozoen war das Auffinden
stets schwierig und die ganze Untersuchung eine ungemein zeitraubende. Eine wesent-
liche Erleichterung hat die Aufgabe durch das Färben der Spermafäden erfahren, eine
Färbung, wie sie in gleicher Weise ausgeführt wird bei den Bacterien. Nachdem das Prä-
parat lufttrocken geworden, dreimal leicht durch die Flamme gezogen, wird es mit Farb-
flüssigkeit benetzt, diese recht lange, bis zu mehreren Stunden, auf dem Präparat gelassen
und dann erst abgespült. Es sind bestimmte Färbemethoden empfohlen (Ungar, Bräutigam),
ich habe die gewöhnlichen Farbstoffe — Hämatoxilin, Fuchsin, Gentianaviolett u. s. w, —
für hinreichend brauchbar gefunden, wenn ihre Einwirkung nur genügend lange gewesen
war. Der Vorzug dieses Verfahrens besteht darin, dass nun mit geringen Vergrösserungen
(100—150) die Objecte durchmustert werden können. Bei einiger Uebung erkennt man
schon mit diesen geringen Vergrösserungen die Spermatozoen, auf verdächtige Stellen wird
dann stärkere Vergrösserung eingestellt. Wer dieses Verfahren einigemale geübt hat, wird
gewiss nicht zu der alten Methode zurückkehren; auch bedarf es nicht mehr der Ein-
trocknung der Präparate und späteren Durchsuchung, wie solches von Pincus und Liman
empfohlen war. Sind viele Epithelien aus den Samenwegen dem Präparate beigemischt,
so empfiehlt es sich, solche durch Betupfung mit Kalilauge zu zerstören, letztere kann
ebenso wie Säuren die Samenfäden nicht zerstören, wohl aber die die Durchmusterung be-
hindernden Epithelien.
Sind Spermatozoen gefunden, so ist der verdächtige Fleck als ein
Samen fleck erwiesen. Werden trotz sorgfältigster Untersuchung, die sich
auf mehrere verdächtige Flecke auszudehnen hat, keine Samenfäden gefunden,
so ist die Vermuthung naheliegend, dass es sich nicht um Samenflecke han-
delt, aber mit Sicherheit kann solches nicht behauptet werden. Bei nega-
tivem Befunde ist stets zu bedenken, dass der Gehalt des Samens an Sper-
matozoen verschieden, ja, dass durch Krankheiten, insbesondere Gonorrhoe
und Epididymitis, Syphilis, Alter, vollständiger Mangel an Spermatozoen
(Azoospermie) vorhanden sein kann. Wird bei negativem Befunde noch be-
wiesen werden können, dass sich im Präparat andere Bestandtheile gefunden
haben, die fremder Herkunft sind — Koth, Schmutz, Vaginalsecret u. s. w.
— so gewinnt die bis dahin vermuthete Abwesenheit von Sperma sehr an
Wahrscheinlichkeit.
6. Nachweis venerischer Affectioneii.
Der Nachweis venerischer Affectionen hat eine doppelte gerichtsärztliche
Bedeutung. Erstens ist er unter Umständen ein höchst wertvolles Glied in
der Kette der Beweise für einen stattgehabten geschlechtlichen Angriff über-
GESCHLECHTSLEBEN. 351
haupt. Zweitens aber kann eine derartige Infection für das betroffene Indi-
viduum Gesundheitsschädigungen zur Folge haben, deren Vorhandensein fest-
zustellen und deren Höhegrade abzumessen, die Aufgabe des Gerichtsarztes
werden kann.
Der Begriff der venerischen Aftectionen umfasst drei verschiedene, wohl
charakterisirte Krankheitsformen: 1. den weichen Schanker, Ulcus molle; 2. den
Tripper, Gonorrhoea; und 3. die Syphilis, welche hier in Gestalt des syphili-
tischen Primärattectes, des sogenannten Ulcus durum oder harten Schankers, in
Betracht kommt. Alle drei Affectionen sind in hohem Grade ansteckend, und
jede von ihnen entsteht durch die Uebertragung je eines besonderen, „speci-
fischen" Krankheitsgiftes. ¥/enngleich es bisher allein für den Tripper gelungen
ist, ein solches Krankheitsgift in Gestalt des im Jahre 1879 von Neisser ent-
deckten Gonococcus thatsächlich und einwandsfrei nachzuweisen, so können wir
doch auch hinsichtlich des weichen Schankers und der Syphilis nach dem klini-
schen Verlaufe derselben und aus Analogieschlüssen nicht mehr zweifelhaft sein,
dass auch sie durch je einen specifischen Mikroparasiten hervorgerufen werden.
Für die Uebertragung des specifischen Krankheitserregers wird während des
Beischlafes durch die innige Berührung eines Körpers, welcher das Gift be-
herbergt und stellenweise nach aussen abscheidet, mit einem gesunden Indi-
viduum die günstigste Gelegenheit geboten, und in der That gehören ander-
weitige Ansteckungsmodi, als der durch einen Coitus, entschieden zu den Aus-
nahmen.
Für den Gerichtsarzt aber ist die Thatsache von der grössten Wichtig-
keit, dass nicht alle krankhaften Erscheinungen, welche nach einem sexuellen
Verkehre zwischen zwei Personen auftreten, auf der Infection mit einem der
genannten drei Krankheitsgifte beruhen. Wurde nämlich an einem weiblichen
Individuum der Beischlaf vollzogen oder zu vollziehen versucht, oder wurden
die weiblichen Geschlechtstheile mit Händen oder anderen Gegenständen in-
sultirt, oder endlich wurden gegen ein männliches Individuum päderastische
Angriffe vollführt, so werden sehr häufig infolge mechanischer Einwirkungen
entzündliche Reizzustände hervorgerufen.
Je nach der Intensität des einwirkenden Reizes können die verschiedensten Höhe-
grade entzündlicher Reaction, von der einfachen Hyperämie bis zur Absonderung seröser,
hämorrhagischer und eitriger- Secrete, ja bis zu j^rosionen, Blutungen und Geschwürs-
bildungen zur Beobachtung gelangen. Derartige traumatische Aifectionen haben mit viru-
lenter Infection nichts zu thun und sind von ihr strenge zu unterscheiden. Freilich ist
die Differentialdiagnose in der Praxis häufig durchaus nicht leicht. Zumeist handelt es
sich naturgemäss um geschlechtliche Angriffe von Männern gegen — häufig noch sehr
junge, ja noch kindliche — weibliche Individuen; doch können virulente Infectionen durch
päderastischeu Verkehr auch von einem männlichen Individuum auf ein anderes von glei-
chem Geschlechte übertragen werden.
In allen Fällen, welche die Feststellung einer als venerisch erkannten
oder verdächtigen Affection erfordern, hat der Gerichtsarzt nicht allein die
inficirte Person, sondern ebenso auch das angeklagte Individuum zu unter-
suchen und festzustellen, ob der Körper des Beschuldigten eine Erkrankung
aufweist, deren Natur und Entwicklungszustand zu der bei der inficirten
Person vorhandenen in einer solchen Uebereinstimmung steht, dass der Schluss
auf einen ätiologischen Zusammenhang beider gerechtfertigt erscheint.
Finden sich z. B. Vulva und Vagina eines Mädchens lebhaft geröthet, und zeigen
diese Theile eine bedeutende Absonderung serös-eitrigen oder rein eitrigen Secretes, so hat
der Gerichtsarzt die Differentialdiagnose, ob Vulvovaginitis traumatica (Catarrhus trauma-
ticus) oder ob Gonorrhoe vorliegt, zu entscheiden. Von Wichtigkeit für die Entscheidung
ist, dass die Gonorrhoe ein mehrtägiges Incubations-Stadium einzuhalten pflegt, während
dessen wohl schon ein lästiges Jucken und Brennen der befallenen Theile, aber noch nicht
eine Eitersecretion auftritt. Weiterhin ist die Intensität der Entzündungserscheinungen
beim Tripper meist sehr heftig: hochgradige Röthung und Schwellung, bedeutende Schmerz-
haftigkeit und profuse Eiterabsonderung, während sich alle diese Erscheinungen bei der
nur traumatischen Entzündung viel weniger hochgradig gestalten; von gewisser Bedeutung
ist namentlich auch eine auftretende eitrige Urethritis, die ziemlich oft bei Gonorrhoe, fast
352 GESCHLECHTSLEBEN.
nie beim Catarrhus traumaticus beobachtet wird. Endlich heilt die traumatische Entzün-
dunof unter einer geeigneten Behandlung (Fernhaltung aller weiteren Reizungen bei Beob-
achtung grösster Sauberkeit) meist schnell und vollständig aus, während die Gonorrhoe
eine ungleich längere Krankheitsdauer beansprucht und auch einer sachgemässen Therapie
längere Zeit zu trotzen vermag. Die sichere Diagnose auf Gonorrhoe sollte in solchem
Falle heute kein Gerichtsarzt mehr aussprechen, bevor er imstande ist, die NßissER'schen
Gonococcen im gefärbten mikroskopischen Präparate zu demonstriren. Ist der des geschlecht-
lichen Attentates Beschuldigte auf Tripper zu untersuchen, so wird die Diagnose bei einer
acuten Gonorrhoe mit reichlichem Eiterfiuss keinerlei Schwierigkeiten darbieten. Es ist
aber wohl zu beachten, dass es einen Jahre und Jahrzehnte lang bestehenden chronischen
Tripper giebt, der fast gänzlich symptomenlos verläuft, aber trotzdem noch ansteckungs-
fähig ist; sehr oft weiss sogar der Träger selbst nichts von dem Fortbestehen seiner, wie
er meint, längst gänzlich ausgeheilten Krankheit. In solchem Falle ist der Urin, nament-
lich der zuerst morgens entleerte, sorgfältig auf die Anwesenheit von Eiterzellen und
„Tripperfäden" zu untersuchen. Nöthigenfalls wird der Gerichtsarzt den Verdächtigen früh
morgens, bevor er zum ersten Male urinirt hat, mit einer Untersuchung überraschen; dabei
gelingt es manchmal, in der Harnröhre eine sehr geringe Menge serösen Secretes vorzu-
finden. Die Tripperfäden kann man mit blossem Auge im Harn schwimmen sehen, aus
dem sie mit einer feinen Pincette eingefangen ixnd zur mikroskopischen Untersuchung auf
ein Deckgläschen verbracht werden können. Lässt man den ersten Morgenharn einige
Stunden in einem nach unten zu spitz werdenden Kelchglase (Sectglas) stehen, so kann
man mit einer Pipette bequem die zu unterst stehenden Tropfen mit ihrem etwa vorhan-
denen Bodensatze herausnehmen, um sie auf einem Deckgläschen eintrocknen zu lassen.
Ebenso wird man auch das in der Harnröhre selbst vorgefundene Secret — etwa
mittels einer frisch ausgeglühten feinen Platinöse — auf ein Deckgläschen übertragen.
Gelingt es mit Hilfe der geeigneten Färbemethoden in einem der so gewonnenen Deck-
gläschen-Präparate zweifellos die Gonococcen nachzuweisen, so ist damit die Diagnose des
bestehenden Trippers sicher erbracht. Besonders zu achten ist dabei auf die charakte-
ristische Anordnung der Coccen zu je zweien (Diplococcen), sowie darauf, dass dieselben viel-
fach innerhalb der Eiterzellen liegen.
Fast noch schwieriger ist die Diagnose, wenn die bestehende Entzündung sich nicht allein
in katarrhalischen Zuständen äussert, sondern bis zur Ausbildung von ülcerationen vor-
geschritten ist. Lautet doch dann die Frage noch complicirter so: ist das Geschwür nur
ein einfaches ,, Ulcus traumaticum" oder handelt es sich um eine virulente Affection?
und wenn letzteres der Fall ist, haben wir hier einen weichen Schanker (Ulcus molle) oder
haben wir ein syphilitisches Geschwür vor uns (harten Schanker, Ulcus durum, syphili-
tischen Primäraffect) ? Von Wichtigkeit ist auch hier wieder der ganze Verlauf der Affection,
ihre Dauer und ihr Verhalten gegenüber einer zweckmässigen Therapie. Das einfache
Ulcus traumaticum hat grosse Neigung zu schneller Verheilung, sofern nur bei Beobachtung
der nöthigen Sauberkeit neue Reizungen vermieden werden. Die virulenten Geschwüre
kommen bei gleicher zuwartender Behandlung nicht so schnell zur Ausheilung. Das aus
einer anfangs ganz kleinen Eiterpustel hervorgehende Ulcus molle zeichnet sich sogar,
sofern es nicht therapeutisch beeinflusst wird, durch ein rasches Umsichgreifen aus. Das
Ulcus traumaticum ist frei von infectiösen Eigenschaften und tritt zumeist nur vereinzelt
auf. Das Ulcus molle dagegen sondert ein ansteckendes Secret ab, welches sehr häufig
in der Umgebung des ersten eine ganze Anzahl secundärer Geschwüre hervorruft. Diesen
Unterschied kann man experimentell zur Sicherstellung der Diagnose verwerten. Erzeugt
man — etwa auf dem Oberschenkel des zu Untersuchenden — eine kleine Hautverletzung und
impft in diese ein wenig von dem Secret des fraglichen Geschwüres, so wird, wenn letz-
teres ein Ulcus molle war, auch an der Impfstelle ein solches entstehen können, während
die Ueberimpfung von einer traumatischen Dlceration folgenlos bleibt. Bei dem gleichen
Experimente kann der syphilitische Schanker nur in der allerersten Zeit nach geschehener
Infection ein neues Ulcus durum hervorrufen, da der Körper, sobald das luetische Gift den
Organismus durchsetzt hat, gegen eine neue syphilitische Ansteckung immun wird.
Die Differentialdiagnose zwischen weichem und hartem Schanker ist häufig recht
schwierig und kann niemals allein nach der Beschaffenheit der Ulceration selbst entschieden
werden; man muss vielmehr stets das klinische Gesammtbild berücksichtigen. Freilich
bestehen gewisse Unterscheidungsmerkmale auch in der Beschaffenheit der Ulcera selbst;
so ist das Ulcus durum meist flach, nicht tief ausgebohrt, sondern mehr schalenförmig, wie
mit einem Hohlmeissel ausgeschnitten und hat scharf abgegrenzte Ränder, einen glatten,
glänzenden, wie lackirt erscheinenden Grund und nur geringe Eitersecretion. Dagegen
stellt der weiche Schanker einen tieferen Substanzverlast dar, mit unterminirten Rändern,
missfarbigem, speckig belegten Grunde und lebhafterer Eitersecretion. Alle diese Unter-
schiede jedoch sind nicht scharf gegeneinander abgegrenzt, sondern weisen vielfache Ueber-
gänge auf. Namentlich aber sei betont, dass auch das Merkmal der Härte, der Induration
des Grundes und der Ränder des Geschwüres, dessen Vorhandensein das Ulcus durum,
dessen Fehlen das Ulcus molle charakterisiren soll, nur mit Vorsicht zu verwerten ist.
Die Ausbildung der Sclerose ist stets von der Localisation abhängig. Ein typischer Primär-
affect kann an gewissen Stellen seine ganze Entwicklung durchlaufen, ohne je eine pal-
GESCHLECHTSVERIIÄLTNISSE. 353
pable Härte aufzuweisen, und die später folgenden Allgemeinerscheinungen beseitigen jeden
Zweifel an der luetischen Natur der Affection. Andererseits kann ein Ulcus molle an
Stellen, wo die oberen Partien der Haut straff an die unteren angeheftet sind, eine derbe
Infiltration darbieten, welche von der ,, charakteristischen" Härte des Ulcus durum nicht
zu unterscheiden ist. Die gleiche Induration bildet sich regelmässig aus, wenn ein Ulcus
molle mit gewissen Aetzmitteln behandelt worden ist, namentlich mit Arg. nitr., Sublimat
oder Cupr. sulf Deshalb hat der Gerichisarzt unter Umständen auch danach zu forschen,
ob bereits eine ärztliche Behandlung stattgefunden und welcher Art dieselbe gewesen.
Von Werth ist schliesslich das Verhalten der Lymphdrüsen. Sie können bei allen drei
Formen der virulenten Infectionen sowohl, als auch bei den rein traumatischen Affectionen
in Mitleidenschaft gezogen werden. Hinsichtlich ihrer ßetheiligung am Krankheitsbilde
aber unterscheidet sich die Syphilis wesentlich von den übrigen Affectionen. Während die
Lymphdrüsenschwellungen (Bubonen) sonst durchweg mit mehr oder minder lebhaften
anderweitigen Entzündungserscheinungen, mit Schmerzhaftigkeit, ßöthung der bedeckenden
Haut u. s. w. bis zu ausgedehnter Abscessbildung verknüpft sind, dabei aber fast aus-
schliesslich auf die dem primären Erkrankungsheerde zunächst gelegenen Lymphdrüsen
beschränkt bleiben, ist der Mangel derartiger Entzündungserscheinungen, sowie die Aus-
breitung der völlig schmerzlosen harten Schwellung auf entferntere Drüsengruppen, nament-
lich auf die cervicalen, cubitalen und axillaren Lymphknoten, eines der sichersten und
wichtigsten Zeichen der Syphilis. (Indolente Bubonen; Lymphangitis luetica universalis.)
Endlich muss der Gerichtsarzt eingedenk sein, dass ausser den trauma-
tischen Affectionen der Genitalien gelegentlich auch Herpesefflorescenzen,
diphtheritische oder gangränöse Ulcerationen, sowie endlich das seltene Noma
(Wasserkrebs) den virulenten Infectionen ähnliche Bilder erzeugen können.
BEUMER-WOLTEESDORF.
GeSChlechtSVerhältniSSe. Diese werden unter den verschiedensten
Verhältnissen Gegenstand gerichtsärztlicher Untersuchung und Begutachtung
und nehmen die forensische Thätigkeit sehr häufig in Anspruch. Diese
Untersuchungen betreffen das Civil- und Strafrecht, doch am häufigsten das
letztere. Es kommen hiebei in Betracht: zweifelhaftes Geschlecht, zweifel-
hafte Zeugungsfähigkeit, zweifelhafte Jungfrauschaft und die verschiedenen
Geschlechtsdelicte.
1. Zweifelhaftes Geschlecht und Zwitterbildung.
An den Geschlechtsorganen der Menschen kommen verschiedene Miss-
bildungen vor, welche das Erkennen des Geschlechtes, ob männlich oder
weiblich, erschweren können, wie z. B. das Fehlen der äusseren Genitalien,
die Verwachsung des Gliedes mit dem Scrotum, der Defect der vorderen
Blasenwand, die sogenannte vesica fissa u. s. w. Ausserdem kommen aber
auch einer Zwitterbildung ähnliche Bildungen vor, bei welchen das
wahre oder wenigstens prävalirende Geschlecht nach civilrechtlichen Be-
stimmungen festzustellen ist, da nach diesen eine Kategorie von Zwittern nicht
angenommen wird, wie aus nachstehenden Bestimmungen zu ersehen ist.
Preuss. Landrecht. Tit. I. Theil 1. § 19. Wenn Zwitter geboren werden, so
bestimmen die Eltern, zu welchem Geschlecht sie gehören sollen;
§ 20. Jedoch steht einem solchen Menschen nach zurückgelegtem 18. Lebensjahr die
Wahl frei, zu welchem Geschlecht er sich halten will;
§ 21. Nach dieser Wahl w^erden seine Rechte künftig beurtheilt;
§ 22. Sind aber die Rechte eines Dritten von dem Geschlechte eines vermeintlichen
Zwitters abhängig, so kann Ersterer auf eine Untersuchung von Sachverständigen
beanti'agen.
§ 23. Der Befund der Sachverständigen entscheidet auch gegen die Wahl des
Zwitters und seiner Eltern.
Die Geltung des einen oder anderen Geschlechtes bei Zwittern ist also
eventuell durch Sachverständige zu entscheiden, was ein Vertrauen in die
diagnostische Kunst voraussetzt, welches zu rechtfertigen die heutige Medicin
noch nicht im Stande ist, da nur an der Leiche sicherstellende Unter-
suchungen vorgenommen werden können. Vielleicht, dass später durch Ver-
wendung der elektrographischen Untersuchung an Lebenden weitere Auf-
klärung zu erhalten sein wird.
Bibl. med. WisseDSchaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 23
354 • GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
Bei der Zwitterbildung kommen einerseits die Geschlechtsdrüsen, Eier-
stock und Hoden, andererseits die Geschlechtsgänge in Betracht, bei weib-
lichen Individuen die Tuben, der Uterus und die Vagina, bei männlichen die
vasa deferentia, die Samenbläschen, die ductus ejaculatorii und die Harn-
röhre. Da die Geschlechtsdrüsen in Bezug auf die Geschlechtsbestimmung die
massgebenden Organe sind, so nennt man die Individuen, bei welchen bei-
derlei Drüsen zugleich vorhanden sind, wahre Zwitter, bezieht sich die Dupli-
cität nur auf die Geschlechtsgänge, so spricht man von falschen Zwittern
oder Scheinzwittern. Diese sind unendlich viel häufiger als die wahren
Zwitter.
Beiden wahren Zwittern hat man die Vertheilung der Keimdrüsen in
verschiedener Weise gefunden. Die häufigste Form ist diejenige, wo auf
einer Seite ein Hode, auf der anderen ein Eierstock sich befindet; der soge-
nannte Hermaphrodismus verus lateralis. In den meisten Fällen ist hier
nur die männliche Keimdrüse vollständig entwickelt und die andere blos
rudimentär vorhanden. Derartige Fälle sind mehrere und mikroskopisch
sichergestellte bekannt von J. Meyer, Berthold, Barkovv'', Klotz u. s. w.
Die Hoden mit vollständig entwickelten Nebenhoden befanden sich einmal im
Leistencanal, dreimal in der einen Geschlechtsfalte in einem proc. vaginalis.
Die Ovarien ohne Follikel, dem fötalen Zustande entsprechend, fanden sich
dreimal an der gewöhnlichen Stelle und einmal in der rechten Geschlechts-
falte. Viel seltener ist der Hermaphrodismus verus bilateralis, wo auf
jeder Seite ein Eierstock und ein Hode sich befinden. Secirte Fälle sind von
ScHRELL und Blastmann *) bekannt. Ein anderer hiehergehöriger mikrosko-
pisch untersuchter Fall ist der von Hoppner **). Es fanden sich bei einem
Kinde unter den Ovarien liegend die Hoden, wobei aber Nebenhoden, vasa
deferentia, Samenbläschen und ductus ejaculalorii fehlten. Eine dritte Form
des Hermaphrodismus verus als unilateralis scheint in der Weise vorzu-
kommen, dass auf einer Seite Hode und Eierstock sich befinden, auf der
anderen eine einfache Keimdrüse, wenigstens fand Bannon in einem Falle
auf einer Seite beide Geschlechtsdrüsen, auf der anderen eine verkümmerte
Keimdrüse.
Das viel häufiger vorkommende Scheinzwitterthum bezieht sich auf
männliche und weibliche Scheinzwitter, von welchen die ersteren häufiger
als die letzteren sind. Eine weitere Verschiedenheit dieser Scheinzwitter
beruht darauf, dass die Zwitterbildung bald nur die äusseren Geschlechtsgänge
mit den äusseren Geschlechtstheilen betrifft oder nur die inneren, in Folge i
dessen man einen Pseudohermaphrodismus externus, internus und completus
unterscheidet. Beim Pseudohermaphrodismus masculinus ist die häufigste Form
der completus, beim weiblichen der Pseudohermaphrodismus externus.
Zum Verständniss dieser hermaphroditischen Bildungen ist die Berück-
sichtigung der Entwicklungsverhältnisse des Urogenitalsystems noth-
wendig, welches eine eigenthümliche Combination der Harn- und Geschlechts-
organe darstellt. Beide nehmen ihren Ursprung an derselben Stelle der
epithelialen Auskleidung der Leibeshöhle und erleiden in morphologischer
Hinsicht während des embryonalen Lebens bedeutende Umwandlungen, auf;
welchen eben die Möglichkeit einer Zwitterbildung beruht. i
Anfänglich haben die Geschlechtsdrüsen einen bisexuellen Charakter und
sind auch die Ausführungsgänge beider Geschlechter gleichartig angelegt. '"""")
Die Geschlechtsdrüsen erhalten ihre specifischen Gewebsbestandtheile aus dem
Keimepithel, während die ausführendön Gänge von der Urniere geliefert
*) Klebs, Handb. d. path. Anat. 1876, I. S. 724.
**) Arch. f. Anat. u. Phys. 1870. S. 679.
***) Waldeyer, Eierstock und Ei. Leipzig 1870.
.GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 355
werden. Erst im zweiten und dritten Monat tritt eine Differenzirung von
Hoden und Eierstock ein. Der Urnierengang, WoLFr'scher Gang, führt in die
Cloake des Enddarmes, welche später zum sinus urogenitalis wird. Gleich-
zeitig mit der Entwicklung der Keimdrüsen bilden sich neben dem Urnieren-
gang die MüLLER'schen Gänge *), welche anfänglich mit jenem verschmolzen
sind, und münden in den sinus urogenitalis. Wird das Geschlecht männlich,
so verschwinden allmälig die MtJLLER'schen Gänge, so dass nur noch ein
Rudiment derselben als sogenannte Vesicula prostatica (Utriculus masculinus)
ülirig bleibt. Die Urnierengänge werden zu Samenleitern und Samenbläschen.
Bei weiblichen Individuen verschwinden die Urnierengänge, und die MüLLER'schen
Gänge werden schliesslich zu den Tuben, zum Uterus und zur Scheide. Bei
dieser Differenzirung der beiden Geschlechter, welche auf tiefgreifenden
Metamorphosen des ganzen Urogenitalapparates beruht, bilden sich einige
Anlagen fast vollständig zurück, andere finden nur beim männlichen und
wieder andere nur beim weiblichen Geschlecht Verwendung und gehen im
entgegengesetzten Fall zu Grunde, so dass bei einem Fortbestand derselben
aus was für Gründen immer Anlass zu einer Zwitterbildung gegeben ist.
Auch die Entwicklung der äusseren Geschlechtstheile geht in
einer Weise vor sich, dass anfänglich das Geschlecht noch indifferent ist.
Zuerst bemerkt man an Stelle der Genitalien eine spaltförmig erscheinende
Grube, die Cloakenmündung, diese wird später von einer ringförmigen Wulst,
der Geschlechtswulst, umgeben, von deren vorderem Umfang ein nach aussen
vorspringender Höcker, der Geschlechtshöcker, entsteht, an dessen unterer
Fläche sich gleichzeitig eine Rinne bildet, die sich nach abwärts bis zur
Cloake hinzieht. In den nächsten Wochen entwickelt sich der Höcker noch
mehr nach aussen und gestaltet sich zu dem bei beiden Geschlechtern noch
gleichen Geschlechtsgliede um. Dabei wird auch die Rinne an der unteren
Fläche tiefer und seitlich von Hautfalten umgeben, den sogenannten Ge-
schlechtsfalten. Dabei treten Veränderungen in der Cloake auf, welche in
zwei hinter einander liegende Oeffnungen, den After und den sinus urogeni-
talis, getrennt wird. Die Scheidewand wird später durch Verdickung zum
Damm.
Vom vierten Monat an treten nun die Geschlechtsverschiedenheiten auf.
Wird das Geschlecht männlich, so verlängert sich der Geschlechtshöcker
zum Penis. Der sinus urogenitalis wird durch Verlängerung und Verwach-
sungsprocesse zur Harnröhre. Durch Verdickung der Wandungen derselben
wird die Bildung der Prostata eingeleitet. Die Geschlechtsfalten verwachsen
in der Medianebene und bilden das Scrotum. Wird das Geschlecht weiblich,
so wächst der Geschlechtshöcker zur Clitoris aus. Die Geschlechtsfalten,
welche die Rinne unter dem Geschlechtshöcker begrenzt haben, werden zu
den Nymphen. Die Geschlechtswülste, durch Fetteinlagerung voluminös ge-
worden, bilden die grossen Labien.
Finden in diesem Zeitraum Entwicklungsstörungen statt, so dass weder
der eine noch der andere Geschlechtstypus sich vollständig entwickelt, so
treten Missbildungen ein, die eben fälschlich als Zwitterbildungen auf-
gefasst worden sind, indem die äusseren Genitalien weder dem männlichen
noch dem weiblichen Geschlechtstypus vollständig gleichen. So bildet sich
beim männlichen Geschlecht der Geschlechtshöcker nicht vollständig zum
Penis aus, sondern bleibt verkümmert, einer Clitoris ähnlich, die Geschlechts-
furche schliesst sich nur unvollkommen zur Harnröhre, es bleibt Hypospadie
zurück, eine weitere Folge unterbliebener Verwachsungsprocesse ist das Aus-
bleiben der Vereinigung der Geschlechtsfalten, so dass ein kurzer sinus uro-
genitalis zurückbleibt, der eine Scheide vortäuschen kann. Auch bleibt hiebei
*=) JoH. Müller, Bildungsgeschichte der Genitalien. Düsseldorf 1830.
23*
356 XJESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
mitunter der normale Descensus testiculorum aus, so dass Kryptorchismus
besteht. Bei weiblichem Geschlecht kann der Geschlechtshöcker zu der
Grösse eines Penis auswachsen, und mehr oder weniger Verwachsung der
Geschlechtsfalten eintreten, so dass Atresie der Scheide entstellt. Auch kann
eine abnorme Dislocation der Eierstöcke stattfinden in der Art, dass dieselben
statt ins kleine Becken nach der Leistengegend hin sich dislociren und in die
grossen Labien gelangen.
Von inneren Missbildungen sind zu erwähnen bei männlichen Indi-
viduen die Persistenz und weitere Ausbildung der MtJLLER' sehen, und bei
weiblichen diejenige der WoLFP'schen Gänge, Obliterationen und abnorme
Einsenkungen der Samenleiter, Fehlen der Samenbläschen u. s. w.
Der Veranlassungen zu Untersuchungen über Zwitterbildungen gibt
es mehrere.
1. Die erste Veranlassung ergibt der Umstand, dass Personen, welche
nach der Beschaffenheit ihrer äusseren Genitalien über die Natur ihres Ge-
schlechtes Zweifel zulassen, im bürgerlichen Leben die Rolle bald von männ-
lichen, bald von weiblichen Individuen spielten, sieb um Geld untersuchen
Hessen, vielen Aerzten, selbst medicinischen Facultäten sich vorstellten und
auch mancherlei Abenteuer hatten,
Ein älterer Fall eines solchen Zwitters ist derjenige der Marie Devrier, *) welche
schliesslich als Carl Dürge lebte, und vielfach von Aerzten untersucht worden ist, und bald
für ein männliches, bald für ein weibliches Individuum gehalten wurde, und schliesslich
bei der Section sich als ein wahrer Zwitter erwies **). Ein neueres ähnliches Beispiel ist der
Fall Hohmann***), den wir selbst zweimal zu untersuchen Gelegenheit hatten, das erste
Mal als Catharina, das zweite Mal als Carl Hohmann. Der Nachweis durch die Obduction
steht noch aus. Beide Zwitter nahmen schliesslich das männliche Geschlecht an, um civil-
rechtlichen Conflicten zu entgehen. Gerade das nicht zu bezweifelnde, wenn auch seltene
Vorkommen von wahren Zwittern beweist die Nothwendigkeit gewisser civilrechtlicher Be-
stimmungen bezüglich der Geschlechtsbestimmung.
Bei der Hohmann fanden sich einerseits weibliches Becken, weibliche Brüste, An-
deutung von Nymphen, sicher constatirte periodische Blutungen, geschlechtlicher Verkehr
mit Männern, andererseits männlicher Habitus, tiefe Stimme, Bartwuchs, 5 cm langes
hypospadisches Glied, im rechten Hodensack ein Hoden mit Nebenhoden und Samenstrang,
Ejaculation von spermatozoenhaltigem Sperma, Geschlechtsverkehr mit Weibern.
2. Eine weitere Veranlassung zu Untersuchungen über Zwitterbildung
geben Fälle, in welchen unrichtig geheirathet und wegen unmöglicher Coha-
bitation Ehescheidung verlangt worden ist, wie z. B. in dem von Dohrn f) mit-
getheilten Falle.
Ein 28jähriges Individuum, als Mädchen getauft und erzogen, heirathet; wird nach einigen
Tagen auf Antrag des Mannes untersucht, weil die Cohabitation unmöglich. Es fand sich
die Clitoris in Form eines penis defantilis, nicht perforirt, von der unten tief eingekerbten
Eichel bis nahe zur Harnröhrenmündung im vestibulum, in diesem eine obere kleinere
Oeffnung, die Harnröhrenmündung, die untere in einen 2 cm tiefen Blindsack endend, in
den Labien jederseits ein runder, weicher, empfindlicher, bohnengrosser Körper mit einer
Nebenmasse und mehreren über das Schambein gehenden Strängen (atrophischer Hoden,
Nebenhoden und Samenstrang) und Nymphen. Durch das rectum nichts von Uterus und
Ovarien zu finden. Starker Knochenbau, weiblicher Gesichtsausdruck, undeutliche Bart-,
bildung und flache Brüste. Augenscheinlich handelte es sich hier um einen männlichen
Scheinzwitter, der als weibliches Individuum geheirathet hatte.
Einen ganz ähnlichen, sehr belehrenden Fall theilt Ettmüller ff) mit, welcher zugleich
beweist, wie sehr die mit solchen Missbildungen Behafteten geneigt sind, dieselben geheim
zu halten. Dahin gehört auch der von Tourtual f f f ) mitgetheilte Fall. Manche hielier ge-
hörige Fälle sind gewiss gar nicht bekannt geworden, indem man die Missbildung verkannte,
*) Marxens, Beschreibung und Abbildung von Maria Dorothea Devrier. Leipzig, 1802.
**) Mayer, Caspers Wochenschr. 1835.
***) ScHULTZE, Der Hermaphrodit Catharina Hohmann, Virchows Archiv, 1868. XLIII.
S. 329. — Friedrich, Der Hermaphrodit. Cath. Hohmann, Jb. 1869. XL. S. 1.
f) Archiv für Gynäkologie, XI. 1877. S. 208.
ff) Frau Caroline P. als Mann erkannt. Vierteljahrschr. XVI. 1872. S. 91.
f f f ) Ein als Weib verehelichter Androgynus vor dem kirchlichen Forum. Vierteil ahrschr.^,
X. 1856. S. 18. '
GESCHLECHTS VE PtHÄLTNISSE. 357
die Publicität scheute und die Männer sich begnügten. Unfruchtbare und unglückliche
Ehen waren Folge davon. Steinmann*) berichtet ein Vorkommniss der Art:
Die 20jährige Tochter eines Landmannes heirathete den Sohn eines reichen west-
fälischen Schulzen, bald nachher kränkelte sie, besuchte Bäder, consultirte klinische Au-
toritäten, war geistig und körperlich gebrochen, starb nach etwa 10 Jahren, blieb kinderlos.
Ihre Leiden wurden als hysterische Innervationsstörung bezeichnet. Es handelte sich höchst
wahrscheinlich um einen männlichen Scheinzwitter. Die Hebamme theilte mit, dass bei der
Geburt eine auffallende Missbildung der Geschlechtstheile bestand, und dass sie das Kind
für einen Zwitter hielt. Hinc illae lacrymae.
3. Zuweilen haben Zwitter auch Geschlechtsdelicte begangen und sind
deshalb in Untersuchung gekommen, durch welche sie erst als männliche
Zwitter erkannt wurden, während sie im bürgerlichen Leben die Rolle weib-
licher Individuen spielten. Einen illustrirenden Fall der Art hat Martini *")
mitgetheilt.
Eine Hebamme M., 47 Jahre alt, wurde angeschuldigt, mit der 19jährigen, im 8. Monat
schwangeren H., unter dem Vorwande, es müsse eine Querlage eingerichtet werden, un-
züchtige Handlungen vorgenommen zu haben. Dabei will die H. eine immissio penis ge-
fühlt haben. Ferner soll sie. als gute Hebamme .bekannt, noch mit anderen jungen Frauen
und Mädchen unzüchtige Handlungen vorgenommen haben. Die Untersuchung der M.
ergab weibliches Aussehen, breite Hüften, die Schamhaare bildeten einen nach oben ab-
gegrenzten Kranz, im linken grossen Labium nach Eeposition eines Leistenbruches ein
Hode mit Nebenhoden fühlbar, im rechten Labium gleichfalls ein Hode, die Nymphen nur
schwach angedeutet. Die Clitoris von der Grösse einer Vogelkirsche. Unter ihr die
Mündung der Harnröhre und unter dieser ein enger, mit Schleimhaut überzogener
Canal, der blind endigte. Die M. wurde für einen Mann mit verkümmerten äusseren Ge-
schlechtstheilen erklärt, als Hebamme abgesetzt, mit einer Freiheitsstrafe belegt, vom König
von Sachsen aber begnadigt. — Am 22. Juni 1894 wurde in Kopenhagen Wilhelm Möller
zum Tode verurtheilt. Er hatte als „Vorsteherin" eines Knabenasyls in Kopenhagen, Knaben,
mit denen er Unzucht getrieben, ermordet. Erst im Laufe der Untersuchung hat sich
herausgestellt, dass Möller ein Mann ist.
4. Ein Beispiel, wo bei einem vermeintlichen Zwitter die Rechte eines
Dritten in Frage kamen, ist der von Barry *''"'•) mitgetheilte Fall, wo bei einem
in Salisbury, Connecticut, stattgefundenen Wahlkampf im Jahre 1843 die
Stimmberechtigung eines vermeintlichen Zwitters in Frage kam.
Der Betreffende, Sny dam, war ein Mensch von 23 Jahren. Barry fand einen mons ve-
neris mit gewöhnlichem Haarwuchs, einen unperforirten Penis von 2%" Länge, Scrotum
wenig entwickelt, in demselben- rechterseits ein Hoden mit Samenstrang fühlbar, die Harn-
röhrenmündung hinter der Wurzel des Gliedes. Gutachten: Snydam ist ein männliches In-
dividuum. Neuer Wahltag, das Stimmrecht von Snydam abermals bestritten. Nochmalige
Untersuchung von Barry mit zwei anderen Collegen, welche seiner Ansicht beitraten. Das
Stimmrecht von Snydam nicht weiter beanstandet. — Wenige Tage nachher erfährt Barry,
dass Snydam regelmässig menstruire. Bei der nun stattgefundenen dritten Untersuchung
ergab sich vorwiegend weiblicher Typus, wohlgebildete Brüste, aus der Harnröhrenmündung
alle 4 Wochen blutiger Ausfluss. — Nun wird Snydam für einen weiblichen Zwitter erklärt,
und der im Scrotum befindliche vermeintliche Hode für ein durch den Leistencanal herab-
gestiegenes Ovarium gehalten.
Die Diagnose der Geschlechtsverhältnisse bei Zwittern ist, wie schon
aus den bereits angeführten Fällen zur Genüge hervorgeht, eine sehr miss-
liche Sache, weil die Geschlechtsbestimmung an Lebenden, um welche es sich
in forensischen Fällen allein handelt, immer nur auf unvollkommene Unter-
suchungen sich stützen kann, und nur an Leichen durch Section das Ge-
schlecht mit mehr oder weniger Sicherheit bestimmbar ist, weshalb solche
bei vermeintlichen Zwittern nicht unterlassen werden sollte, wenn irgendwie
rechtliche Verhältnisse in Frage stehen.
Trotz dieser schwierigen Verhältnisse tritt aber den oben angeführten
gesetzlichen Bestimmungen zu Folge mitunter die Nothwendigkeit ein, ein
entscheidendes gutachtliches Urtheil über das anzunehmende Geschlecht ab-
zugeben, was selbstverständlich nur der gerichtlichen Medicin zufallen kann.
") Hermaphroditen. Deutsche med. Wochenschr. 1882. Nr. 50. S. 682.
*") Vierteljhrschr. XIX. 1861. S. 303. Ein männlicher Scheinzwitter.
**'^) American Journ. of med. sc. 1847. Juli.
358 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
Man wird in solchen Fällen ausser einer möglichst genauen Localuntersuchung
noch alle andern mit den Geschlechtsverhältnissen in Beziehung stehenden
körperlichen und psychischen Zustände in Betracht zu ziehen haben, wobei
aber erfahr ungsgemäss gerade diese Zustände keineswegs immer dem beste-
henden Geschlechte entsprechen, wodurch die Schwierigkeit der Beurthei-
lung noch wesentlich erschwert wird.
Bei allen Untersuchungen über Zwitterbildung kann es sich zunächst
nur darum handeln, die Gegenwart der das Geschlecht bestimmenden Ge-
schlechtsdrüsen zu constatiren, also die Gegenwart von Hoden oder Eier-
stöcken, oder beider zugleich, worauf die Unterscheidung von wahren und
falschen Zwittern beruht. Erstere sind viel seltener als letztere, so dass
meistens nur die Geschlechtsbestimmung bei Scheinzwittern in Frage kommt,
und unter diesen prävaliren die männlichen Scheinzwitter.
Die Auffindung der Hoden hat keine Schwierigkeiten, wenn sie im
Scrotum vorhanden sind, doch muss der hier fühlbare Körper noch einen
Nebenhoden erkennen lassen und weiterhin auch ein vas deferens im Samen-
strange. Das trifft nun aber selbst bei männlichen Individuen keineswegs
immer zu, indem der Hode verkümmert sein oder Kryptorchismus bestehen
kann. Die Eierstöcke sind ihrer Lage wegen auch nur mit einiger Sicher-
heit nicht zu erkennen, und kommen bei denselben Dislocationen nicht selten
vor, so dass man sie schon in einer der Geschlechtsfalten gefunden hat.
Die Localuntersuchung gibt daher häufig nicht die gewünschte Auskunft.
Da nun ein entscheidendes ärztliches Gutachten erst nach zurückgelegtem
18. Lebensjahre, also nach eingetretener Geschlechtsreife abgegeben werden
muss, so sind zur Geschlechtsbestimmung auch noch die specifischen Abson-
derungen der verschiedenen Geschlechtsdrüsen zu berücksichtigen, also einer-
seits die Absonderung von spermatozoenhaltigem Sperma, andererseits die
periodischen menstrualen Blutungen. Und in der That, wenn bei äusserer
Zwitterbildung die Absonderung von Sperma mit Gehalt an Spermatozoen
constatirt werden kann, was jedoch auch noch eine ejaculatio seminis voraus-
setzt, so kann an der Gegenwart wenigstens eines absondernden Hoden nicht
gezweifelt werden und ist dadurch männliches Geschlecht indicirt. Die Un-
möglichkeit der Constatirung einer solchen Absonderung ist jedoch noch
durchaus kein Beweis der Nichtexistenz hodenartiger Gebilde, da die Hoden
mangelhaft ausgebildet und verkümmert sein können, so dass die Hodenab-
sonderung durch Bildungsfehler der Geschlechtsgänge, namentlich der vasa
deferentia, welche mitunter ganz fehlten oder blind endigten oder an einem
anderen Organe mündeten, nicht in die Harnröhre gelangen kann. Noch
weniger diagnostische Bedeutung haben menstruale Blutungen, da solche bei
mehreren entschieden weiblichen Individuen (Fälle von Crechio*) und
Hofmann "^*) fehlten, und andererseits bei entschieden männlichen Zwittern
als pseudomenstruale Blutungen vorkamen (Fälle von Dohrn, Leopold*""")
TouRTUAL u. A.). Die Absonderungen der Geschlechtsdrüsen sind daher,
wenn sie auch bestünden, in manchen Fällen gar nicht constatirbar, oder, was
die Blutungen anbetrifft, zum Beweise des Vorhandenseins von Eierstöcken
nicht verwendbar.
Da nun die ganze körperliche und psychische Entwicklung des Menschen
mit den Geschlechtsverhältnissen in einem gewissen Zusammenhang steht,
so hat man zur Geschlechtsbestimmung bei Zwitterbildung auch die dem
männlichen und weiblichen Geschlecht zukömmlichen Eigenthümlichkeiten bei
jener Entwicklung in Betracht gezogen und so den ganzen Habitus des
*) Sopra un caso di appareaze virili in una donna. Napoli 1865.
**) Wiener medic. Jahrb. HL 1877. S. 293.
***) Arch. für GynäkoL XL 1877. S. 357. Ueber eine vollständige männliche Zwitter-
bildung.
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 359
Menschen, namentlich den Knochenbau, den Haarwuchs, die Beschaffenheit
des Beckens und der Brüste, des Kehlkopfs und der Stimme, die sexualen
Neigungen und Triebe ins Auge gefasst und gewisse Eigenthümlichkeiten
hervorgehoben, welche aber insgesammt einen grösseren diagnostischen Werth
nicht haben, weil alle die angeführten Eigenthümlichkeiten nicht ohne Aus-
nahmen sind.
So -werden grobknochige weibliche Individuen, sogenannte Mannweiber,
häufig genug angetroffen und diesen gegenüber zartgebaute schwächliche
männliche Individuen. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Bartwuchs. Als
besonders charakteristisch für weibliche Individuen hat man die Behaarung
der Genitalien angegeben, bei welchen die Schamhaare auf dem mons
veneris einen Kranz bilden sollen, während bei männlichen Individuen der
Haarwuchs nach aufwärts längs der weissen Linie sich erstrecke, was aber
nach B. Schultze") mancherlei Ausnahmen erleidet, indem bei 140 männ-
lichen Individuen 34 Mal eine kreisförmige und bei 100 weiblichen 5 Mal
eine aufsteigende Behaarung bestand. Was Grösse des Kehlkopfes und Tiefe
der Stimme betrifft, so ist bekannt, dass mitunter weibliche Individuen einen
grossen vorstehenden Kehlkopf mit tiefer rauher Stimme haben, während bei
Männern eine Castratenstimme keine Seltenheit ist, und ebenso kommt es
auch bei weiblichen und männlichen Zwittern umgekehrt vor, so dass darnach
das Geschlecht nicht zu entscheiden ist. Ebensowenig lässt sich aus der
Beckenenge und Beckenweite auf das Geschlecht bei Zwittern ein Schluss
ziehen, da sich hier die widersprechendsten Verhältnisse zeigten, einerseits
bei erwiesenen weiblichen Zwittern ein ausgesprochenes männliches Becken,
wie in den von Crechio und Hofmann mitgetheilten Fällen, andererseits
bei männlichen Zwittern ein weibliches Becken, wie in den von Dohrn,
Martini, Leopold u. A. angeführten Fällen. Bezüglich der Brüste zeigten
sich zwar bei mehreren weiblichen Zwittern jene weiblich ausgebildet
(ViRCHOw^), in anderen Fällen dagegen nicht, und ist auch bei männlichen
Zwittern weibliche Bildung der Brüste beobachtet worden.
Was die psychischen Verhältnisse betrifft mit den sexuellen Neigungen
und Trieben, so zeigen sich auch hier die grössten Verschiedenheiten, die
keineswegs mit dem Bestände männlicher oder weiblicher oder doppelter
Geschlechtsdrüsen in besondere Beziehung zu bringen sind. Es kommen
hiebei mehrere Umstände in Betracht. Namentlich ist die bei der Zwitter-
bildung so gewöhnlich bestehende mangelhafte Ausbildung der Geschlechts-
drüsen, zumal wenn es doppelte sind, von Bedeutung, so dass der geschlecht-
liche Einfluss dieser auf Charakter und sexuelle Neigungen bei den Zwittern
kein dem Geschlecht entsprechender und determinirender ist, und daher aus
Charaktereigenschaften und sexuellen Neigungen durchaus nicht auf ein be-
stimmtes Geschlecht geschlossen werden kann. Ferner ist zu berücksichtigen,
dass die so häufig vorkommenden unrichtigen Geschlechtsannahmen bei
Zwittern nach der Geburt, wobei aus leicht ersichtlichen Gründen meistens
weibliches Geschlecht angenommen wird, zu einer ganz verkehrten, dem wirk-
lichen Geschlecht nicht entsprechenden, aber für das Individuum gleichwohl
massgebenden Erziehung führen, so dass dasselbe auch nach zurückgelegtem
18. Altersjahr trotz der Berechtigung hiezu die unrichtige Geschlechtsannahme
nicht ändert, was dann schliesslich zu irrigen Heirathen führt. Ausserdem
ist auch noch mit einem perversen Geschlechtstrieb zu rechnen, der um 'so eher
möglich sein wird, da die Geschlechtsdrüsen so mancherlei Aberrationen von
normalen Verhältnissen darbieten.
Von unrichtigen Heirathen haben wir bereits oben die Fälle von Dohrn und Tour-
TUAL angeführt, denen sich auch noch der Fall der Marie Arsanr**) anreiht, die, 84: Jahre
*) JENAi'sche Zeitschr. IV. S. 312.
*) Tardieu, Annal. d'hygiene p. T. 38.
360 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
alt, lange Jahre verheiratliet war und bei der Obduction erst als Mann erkannt wurde.
Der weibliche Kammerdiener von Crechio hatte wiederholt mit Weibern Umgang gehabt
und sich so zweimal einen Tripper acquirirt. Der weibliche Kutscher von Hofmann hat
ebenfalls mehrmals mit Weibern Umgang gehabt. Die bekannte Rosine Göttlich*), ein
männlicher Zwitter, übte häufig den Coitus bald als Mann, bald als Weib aus u. s. w.
Aus den sexuellen Neigungen und Trieben ist also das Geschlecht auch
nicht mit nur irgend welcher Sicherheit zu erkennen, und wird man daher bei
den eben angegebenen Veranlassungen zu richterlichen Entscheidungen mit
der grössten Vorsicht sich auszusprechen haben, und berücksichtigen, dass an
Lebenden nur in dem Falle männliches Geschlecht mit Sicherheit zu erkennen
ist, wenn Spuren von Absonderung einer spermatozoenhaltigen Flüssigkeit
aufgefunden werden können, wobei es aber dann noch zweifelhaft bleibt, ob
es sich um einen wahren oder männlichen Scheinzwitter handelt. In allen
anderen Fällen ist ein bestimmter Ausspruch abzulehnen, und sind nur Wahr-
scheinlichkeitsschlüsse möglich, mit welchen sich der Richter abzufinden hat.
Uebrigens genügt es in einzelnen Fällen bei unrichtigen Heirathen, zu con-
statiren, das aus Mangel einer Scheide der Coitus nicht in entsprechender
Weise ausgeführt werden kann. Von weiteren Störungen der Zeugungs-
fähigkeit bei Zwittern wird später die Rede sein. Hier handelt es sich nur
um die Geschlechtsbestimmung.
2. Zweifelhafte Zeugungsfälligkeit.
Das Wort „zeugen" wird im gerichtsärztlichen Sprachgebrauche in drei
verchiedenen Bedeutungen gebraucht, welche zur Gewinnung klarer Begriffe
zunächst scharf gegen einander abzugrenzen sind. Als Zeugung im ersten,
weitesten Sinne des Wortes verstehen wir die Ausübung der natürlicherweise
die Erzielung von Nachkommen bezweckenden geschlechtlichen Functionen.
Zur Erzielung von Nachkommen ist erforderlich: die geschlechtliche Ver-
einigung von Mann und Weib, Cohabitatio s. Coitus, und bei diesem Acte
die Einbringung befruchtungsfähigen männlichen Samens in die weibliche
Scheide, weiterhin die Möglichkeit, dass der Same in den weiblichen Fort-
pflanzungsorganen mit einem entwicklungsfähigen Eichen, Ovulum zusammen-
treffen und dieses befruchten könne, sowie endlich, dass das befruchtete Ei
sich im Mutterleibe zu entwickeln vermöge, bis die Frucht imstande ist,
ausserhalb desselben weiter zu gedeihen. Die Reihe dieser nothwendigen
Vorbedingungen kann in mannigfacher Weise sowohl beim Manne wie beim
Weibe gestört sein. Wir unterscheiden demgemäss eine männliche und eine
weibliche Zeugungsunfähigkeit. Zunächst können bei beiden Geschlechtern Hin-
dernisse für das Zustandekommen der geschlechtlichen Vereinigung überhaupt
vorhanden sein; in diesem Falle besteht eine Begattungsunfähigkeit,
impotentia coeundi. Oder aber es kann zwar die potentia coeundi
uneingeschränkt bestehen, dennoch aber die Erzielung von Nachkommen un-
möglich sein. In solchem Falle haben wir es mit einer Zeugungsunfähigkeit
im zweiten, engeren Sinne zu thun. Liegt dieses Unvermögen auf Seiten
des Weibes, so sprechen wir von einer Conceptionsunfähigkeit, Impo-
tentia concipiendi, wenn es nicht zur Befruchtung eines Eichens durch einen
Samenfaden kommen kann; von einen Unvermögen zum Austragen der Frucht,
Impotentia gestandi, wenn zwar die Befruchtung eines Ovulums zustande kommt,
nicht aber die Ausbildung der Frucht bis zur normalen Entwicklungsstufe
vorschreitet, und von einer Gebärunfähigkeit, Impotentia parturiendi,
wenn die normale Ausstossung des reifen Kindes aus dem mütterlichen Orga-
nismus unmöglich wird. Beruht das Ausbleiben der Befruchtung auf einem
Fehler des Mannes, so nennen wir dies impotentia generandi oder Zeugungs-
unfähigkeit im dritten, engsten Sinne des Wortes, insofern der Ausdruck
„Zeugen" speciell für den wesentlichen Antheil des Mannes am Fortpflanzungs-
acte, für die Befruchtung gebraucht wird.
*) Casper, Liman, Handb. L 1881. S. 66.
' GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 361
Die Veranlassuiigenzu Untersuchungen über zweifelhafte Zeugungs-
fähigiieit sind mehrfältig und im Wesentlichen folgende:
1. Wenn als Grund zur Ehescheidung Zeugungsunfähigkeit des einen
oder anderen Ehegatten angegeben wird, indem die meisten Gesetzgebungen
hierin einen Grund zu jener finden, vorausgesetzt, dass die Zeugungsunfähigkeit
nachgewiesen ist.
Preussisches allgemeines Landrecht. Titel H. Theil 2. §. 696. Ein auch
während der Ehe entstandenes gänzliches oder unheilbares Unvermögen zur Leistun» der
ehelichen Pflicht begründet ebenfalls Scheidung.
§. 697. Ein gleiches gilt von unheilbaren körperlichen Gebrechen, welche Ekel und
Abscheu erregen, oder die Erfüllung des Zweckes des Ehestandes gänzlich hindern.
0 esterreichisches bürgerliches Gesetzbuch. §. 60. Das immerwährende
Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten, ist ein Ehehindernis, wenn es schon zur Zeit
des geschlossenen Ehevertrages vorhanden war. Ein blos zeitliches oder ein erst während
der Ehe zugestossenes, selbst unheilbares Unvermögen kann das Band der Ehe nicht
auflösen.
§. 99. Die Vermuthung ist immer für die Giltigkeit der Ehe. Das angeführte Ehe-
hindernis muss also vollständig bewiesen werden, und weder das übereinstimmende Ge-
ständnis beider Ehegatten hat hier die Kraft eines Beweises, noch kann darüber einem
Eide der Ehegatten stattgegeben werden.
§. 100. Insbesondere ist in dem Falle, dass ein vorhergegangenes und immer-
währendes Unvermögen, die eheliche Pflicht zu leisten, behauptet wird, der Beweis durch
Sachverständige, unter Umständen auch durch Hebammen zu führen.
§. 101. Lässt sich mit Zuverlässigkeit nicht bestimmen, ob das Unvermögen ein
immerwährendes oder blos zeitliches sei, so sind die Ehegatten noch durch ein Jahr zu-
sammenzuwohnen verbunden, und hat das Unvermögen diese Zeit hindurch angehalten, so
ist die Ehe für ungiltig zu erklären.
2. Wenn die rechtliche Abstammung eines Kindes wegen an-
geblicher Zeugungsunfähigkeit des einen oder anderen Ehegatten an-
gezweifelt wird.
Oesterreichisches bürgerliches Gesetzbuch. §. 158. Wenn ein Mann be-
hauptet, dass ein von seiner Gattin innerhalb des gesetzlichen Zeitraumes geborenes Kind
nicht das seinige sei, so muss er die eheliche Geburt des Kindes längstens binnen drei
Monaten bestreiten, und gegen den zur Vertheidigung der ehelichen Geburt aufzustellenden
Curator die Unmöglichkeit der von ihm erfolgten Zeugung beweisen.
§. 159. Stirbt der Mann vor dem ihm zur Bestreitung der ehelichen Geburt be-
willigten Zeitraum, so können auch die Erben, denen ein Abbruch an ihren Rechten
geschähe, innerhalb drei Moliaten nach dem Tode des Mannes aus dem angeführten Grunde
die eheliche Geburt eines solchen Kindes bestreiten.
3. Wenn jüngere als 50jährige Personen Kinder adoptiren wollen.
Preussisches allgemeines Landrecht. Tit. IL Theil 2. §. 669. Auch jüngeren
(als 50jährigen) Personen kann es, aber nur unter besonderer landesherrlicher Erlaubnis,
gestattet werden, Kinder zu adoptiren, wenn nach ihrem körperlichen oder Gesundheits-
zustande die Erzeugung natürlicher Kinder von ihnen nicht zu vermuthen ist.
4. Wenn als Folge von Verletzungen, respective Misshandlungen die
Zeugungsfähigkeit verloren gegangen ist, indem unter den Yerletzungsfolgen,
welche mit Zuchthaus bedroht sind, Verlust der Zeugungsfähigkeit an-
geführt ist. ")
5. Wenn bei Schwangerschaftsklagen Zeugungsunfähigkeit besteht, oder
zur Abweisung der Klage vorgeschützt wird.
6. Wenn bei Sittlichkeitsdelicten Zeugungsunfähigkeit als Gegenbeweis
angeführt wird.
Die Veranlassung zu derartigen Untersuchungen geht theils von den
Betreffenden selbst, theils von den Gerichtsbehörden aus. Bei denselben muss
mit grosser Umsicht verfahren werden, um nicht getäuscht zu werden, auch
darf dabei der Anstand nicht verletzt werden.
Zur Beurtheilung der Zeugungsunfähigkeit kommen im Einzelnen in
Betracht:
1. Die Unfähigkeit zur Begattung, impotentia coeundi, Beischlafs-
oder Begattungsunfähigkeit;
*) Deutsches Strafgesetz. §. 224. — Oesterreichisches Strafgesetz. §. 156 a.
362 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
2. die Unfähigkeit zur Zeugung, impotentia generandi, Zeugungs-
unfäliigkeit im engeren Sinne des Wortes;
3. die Unfähigkeit zur Empfängnis, impotentia concipiendi, Conceptions-
unfähigkeit, Unfruchtbarkeit, Sterilität;
4. Die Unfähigkeit, eine Schwangerschaft durchzumachen, impotentia
gestandi.
1. Beischlafsunfähigkeit, Begattungsunfähigkeit, Impo-
tentia coeundi.
Der Act der Begattung besteht in der Hin- und Herbewegung des in
die Scheide des Weibes eingeführten männlichen Gliedes bis zur erfolgten
Ausspritzung der Samenflüssigkeit.
Selbstverständlich ist zur Ausführung dieses Actes, ganz abgesehen von
den Verhältnissen am Genitalapparate, eine gewisse allgemeine körperliche
Rüstigkeit erforderlich, welcher ein Individuum dauernd oder vorübergehend
ermangeln kann. So wird einem an einer schweren acuten Krankheit leiden-
den oder durch langes Siechthum geschwächten Körper die zur Vollziehung
der Begattung erforderliche Muskelkraft fehlen können. Dieser Umstand kann
von bedeutendem forensischen Werte sein, wenn es sich darum handelt, fest-
zustellen, ob ein nach Auflösung einer Ehe durch Tod oder Scheidung ge-
borenes Kind, als von dem Ehemanne gezeugt anzusehen ist.
Im übrigen ist zur Ausführung einer normalen Begattung in erster Linie
die Möglichkeit der Immissio penis in vaginam erforderlich. Da die hierzu
nöthigen Vorbedingungen sowohl beim Manne als auch beim Weibe fehlen
können, so müssen wir eine männliche und eine weibliche Begattungsunfähig-
keit unterscheiden.
a) Männliche Begattungsunfähigkeit.
Die Impotentia coeundi bei männlichen Individuen kann
auf functionellen und anatomischen oder mechanischen Abnor-
mitäten des Gliedes beruhen.
Die functionelle Abnormität besteht in mangelnder Erectionsfähigkeit
des Gliedes, indem bei solcher die Ausführung eines Coitus unmöglich ist.
Diese Erectionsfähigkeit besteht lange vorher, ehe das Individuum geschlechtsreif
und damit zeugungsfähig geworden ist. Der Verlust derselben kann ver-
schiedene Ursachen haben.
Die Haupterfordernisse für die Möglichkeit der Einführung des Penis
in die Scheide sind:
1. die Erectionsfähigkeit des Gliedes,
2. eine zweckentsprechende Form desselben,
3. eine die Immissio penis zulassende Gestaltung der benachbarten
Körpertheile.
Das Wesen der Erection besteht in einer durch erhöhten Blutgehalt
ihrer Schwellkörper bedingten Volumszunahme, Aufrechtsstellung und Steifung
der Ruthe. Diese Veränderung beruht auf einem Reflexvorgange, welcher einen
von den sensiblen Penisnerven ausgehenden Reiz zu dem im Lendentheile des
Rückenmarkes gelegenen „Erectionscentrum" fortleitet und in diesem auf
vasodilatatorische Fasern, die sogenannten „Nervi erigentes", überträgt, durch
deren Vermittlung die gefässerweiternde Wirkung auf die Penisgefässe aus-
gelöst wird. Wie alle gefässerweiternden Apparate, so ist auch das Erections-
centrum dem dominirenden Vasodilatatoren-Centrum in der Medulla oblongata
untergeordnet, von welchem aus abwärts durch das Rückenmark Verbindungs-
fasern zu jenem hinziehen. Die den Erectionsreflex anregende Reizung der
sensiblen Penisnerven kann mechanischer, z. B. masturbatorischer Natur sein.
Unter normalen Verhältnissen aber geht sie von der Psyche des Mannes aus,
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 363
in welcher zufolge des von einem Weibe empfangenen Eindruckes das Ver-
langen nach der geschlechtlichen Vereinigung wach gerufen wird. Dann be-
wirkt die Hinlenkung der Vorstellung auf die Geschlechtssphäre die erfor-
derliche Reizung der Gefühlsnerven des Gliedes. Somit ist die normale Erec-
tion ein complicirter Reflex mit einer sehr langen Leitungsbahn. Sein Ablauf
kann nun an den verschiedensten Stellen dieser Bahn Störungen erleiden.
Erstens kann die Anregung des ganzen Reflexes überhaupt unterbleiben,
wenn von dem betreffenden Weibe kein hinreichend starker Reiz zu geschlecht-
lichem Verlangen auf die Psyche des Mannes ausgeht. Besonders wird das
zutreffen können, wenn das Weib an „körperlichen Gebrechen leidet, welche
Ekel und Abscheu erregen", ein Fall, den auch das preuss. allg. Landrecht
in seinem § 697 als Ehescheidungsgrund gelten lässt, sofern das betreffende
Gebrechen unheilbar ist. Erfahrungsgemäss aber müssen in der gerichts-
ärztlichen Praxis dahingehende Behauptungen stets mit grosser Vorsicht auf-
genommen werden, da es einerseits sehr bequem ist, zwecks Lösung einer
lästig gewordenen Ehe diesen Grund vorzuschützen, und da andererseits bei
vielen Männern der Geschlechtstrieb nicht selten selbst durch alte und häss-
liche Weiber sogar bis zur Verübung von Nothzuchtsattentaten aufgeregt zu
werden vermag.
Zweitens können Störungen im Nervensystem des Mannes die Ursache
für das Ausbleiben der Erection abgeben. In vielen Fällen liegen solche
Störungen zweifellos in den höchst organisirten Theilen des Nervensystems
und sind demgemäss als vorwiegend psychische aufzufassen.
Nur selten beobachtet man gänzliches Fehlen oder ein auffallendes Mindermaass
geschlechtlicher Erregbarkeit bei übrigens körperlich wie geistig völlig normal erscheinen-
den Individuen (kalte Naturen, naturae frigidae); häufig dagegen sieht man es als Theil-
erscheinung einer auch sonst hervortretenden psychischen Minderwertigkeit bei gewissen
Formen des Blödsinns und Schwachsinns, sowie bei sonstigen Psycho- und Neuropathien
verschiedener Art. Die hierhergehörenden psychischen Störungen sind zum grossen Theile
angeboren; ein anderer Theil aber ist sicher erst später erworben, wobei gelegentlich wohl
alle in der Psychopathie überhaupt in Betracht kommenden ätiologischen Momente, nament-
lich Alter, erbliche Belastung, allgemeine schwächende Einflüsse, wie überstandene schwere
Erkrankungen, üeberanstrengungen u. s. w. eine Rolle spielen können. Für den Gerichts-
arzt wichtig ist die Thatsache, dass in manchen Fällen die psychische Störung vorüber-
gehend ist; Schüchternheit, Scham, schlechtes Gewissen nach getriebener Onanie und ähn-
liche psychische Momente können zeitweise infolge sogenannter „psychischer Reflexhemmung"
das Zustandekommen der Erection verhindern. In diesen Fällen von „psychischer Impo-
tenz" kehrt meist bald unter dem Einflüsse der Gewöhnung der normale Zustand zurück.
— Besonders merkwürdig ist die Erscheinung der sogenannten „conträren Sexualempfin-
dung", einer nicht selten bei hochentwickelter Intelligenz beobachteten partiellen Psychose,
bei welcher geschlechtliche Erregbarkeit zwar besteht, jedoch nur durch die Zuneigung zu
Individuen gleichen Geschlechtes geweckt wird, während von einem Weibe ausgehende
sexuelle Reize den Mann entweder kalt lassen oder sogar mit Widerwillen und Ekel erfüllen.
In einer anderen Reihe von Fällen besteht die Ursache für den Mangel
der Erectionsfähigkeit in pathologischen Affectionen tiefer gelegener Abschnitte
der den Reflexbogen bildenden Theile des Nervensystems; denn es liegt auf
der Hand, dass sich der prompte Ablauf des Reflexes nicht vollziehen kann,
wenn seine Bahn an irgend einer Stelle durch functionsuntüchtige Partien
unterbrochen ist. In Betracht kommen hier demgemäss pathologische Pro-
cesse im Gebiete des Hauptvasodilatatoren-Centrums, in der Medulla oblongata
und im Bereiche des Erectionscentrums, sowie in der ganzen Bahn der die
Verbindung aller betheiligten Centren vermittelnden Leitungsfasern.
Endlich kann die fehlende oder mangelhaft ausgebildete Erection auch
in krankhaften Veränderungen des Penis selbst, namentlich in Narbenbildungen
und der Ablagerung entzündlicher Exsudate in die corpora cavernosa be-
gründet sein.
Mitunter kommt es auch vor, dass die impotentia coeundi trotz be-
stehender Erectionsfähigkeit darauf beruht, dass Erections- und Ejaculations-
364 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
Mechanismus so rasch aufeinander folgen, dass die ejaculatio seminis schon
früher erfolgt, noch ehe das Glied in die Scheide gebracht werden kann.
Die Constatirung dieser abnormen Zustände hat ihre besonderen Schwie-
rigkeiten. Um die mangelnde Erectionsfähigkeit festzustellen, hat die ältere
gerichtliche Medicin verschiedene Mittel empfohlen, unter welchen auch
die sogenannten Ehestandsproben eine Rolle spielten, die aber heutzutage
gänzlich verlassen sind. Den bei solchen Untersuchungen einzunehmenden
Standpunkt hat Casper ein für allemal richtig bezeichnet, man kann sich
lediglich darauf beschränken, das Individuum nach allen hier in Betracht
kommenden Verhältnissen zu untersuchen, und, wenn in keiner Weise Abnor-
mitäten gefunden werden, welche eine Erectionsunfähigkeit begründen könnten,
in mehr negativer Weise sich dahin gutachtlich auszusprechen, dass keine
Umstände aufgefunden werden konnten, welche die Annahme einer solchen
Impotenz mit Sicherheit oder mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit
begründen könnten. Die Untersuchung wird in solchen Fällen einerseits auf
die anatomische Beschaffenheit der Genitalien, andererseits auf die allgemeinen
körperlichen und psychischen Zustände zu richten sein, wobei auch noch zu
berücksichtigen ist, ob diese letzteren nur als transitorische, oder mit mehr
oder weniger Sicherheit als bleibende anzusehen sind, da nur im letzteren Falle
diese Impotenz rechtlich zu begründen wäre.
In Ehescheidungsprocessen kommt es zuweilen vor, dass die Klägerin
zum Beweise der Impotenz ihres Mannes auf ihre noch bestehende Jungfrau-
schaft sich beruft, was zu einer Untersuchung nach dieser Richtung hin führen
kann. Hiebei ist darauf zu achten, dass man sich vor der Untersuchung über
die Identität des Untersuchungsobjectes sicher zu stellen sucht. Durch den
Ehescheidungsprocess der Gräfin E s s e x wird der ältere Standpunkt der gericht-
lichen Medicin hinreichend illustrirt.")
Die mechanischen Zustände, welche das Einbringen des Gliedes in
die Scheide und die Ejaculation des Samens in dieselbe verhindern, selbst
unmöglich machen können, bestehen theils in Missbildungen, theils in Krank-
heiten und Verletzungsfolgen. Zu den ersteren gehören Hypo- und Epi-
spadie, Verwachsung des Gliedes mit dem Scrotum, zu den letzteren grössere
oder kleinere Defecte des Gliedes, Krümmungen des erigirten Gliedes, Ge-
schwülste desselben, auch grosse Scrotalbrüche u. s. w. Dass diese verschie-
denen Zustände nicht schlechtweg an und für sich die fragliche Impotenz
begründen können, ist leicht einzusehen, und sind bei der Beurtheilung jener
in Bezug auf letztere Grad und Formen der Missbildungen, Krankheits- und
Verletzungsfolgen wohl zu erwägen, auch ist auf allfällige Simulation Rück-
sicht zu nehmen.
Die am häufigsten vorkommende Missbildung, zu bedeutende Länge der Vorhaut mit
enger Oeffnung derselben, Phimosis, ist erfahrungsgemäss kein Begattungshindernis und
kann zudem leicht operativ beseitigt werden. Die auffälligeren Missbildungen aber, wie
congenitale Verwachsung der Penishaut mit dem Hodensack, höhergradige Hypo- und
Epispadien und verschiedene Formen des Hermaphrodismus können wesentliche Begat-
tungshindernisse abgeben. Das Vorkommen einer die Einführung in die Scheide ver-
eitelnden exorbitanten Grösse des Penis ist bisher nicht einwandsfrei beobachtet worden ;
dagegen kommt, wenngleich selten, ungenügende Grössenentwicklung des Gliedes in sehr
verschiedenen Graden bis zu gänzlichem Fehlen desselben vor. Die Begattungsfähigkeit
ist in solchen Fällen, sowie auch da, wo die Grösse der Penis durch Verletzungen, ulceröse
oder gangränöse Processe und dgl. mehr oder weniger reducirt ist, von dem Grade des
Fehlers und besonders davon abhängig, ob die Erection das Glied bis zu ausreichendem
Maasse vergrössert. Das Fehlen der Eichel bedingt erfahrungsmässig bei sonst erhaltener
genügender Grösse des Gliedrestes nicht Begattungsunfähigkeit.
Die Hypospadie ist in geringeren Graden ausserordentlich häufig,
behindert aber in diesen die potentia coeundi nicht im geringsten, so dass
man niemals nur Hypospadie als Grund einer derartigen Impotenz annehmen
') Casper-Liman, Handb. L 1881. S. 54.
/
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 365
könnte. Nur die höchsten Grade dieser Missbildung, bei welchen an einem
verkümmerten Gliede die Harnröhrenmündung an der Basis desselben zwischen
den Scrotalhälften sich befindet, können eine ejaculatio seminis in vaginam un-
möglich machen und dadurch Zeugungsunfähigkeit begründet werden. Uebrigens
ist hiebei immer zu berücksichtigen, dass zu einer Befruchtung gar nicht ein
tieferes Einbringen des Sperma nothwendig ist, es genügt, wenn die Flüssig-
keit nur an den Eingang der Scheide gebracht wird, indem durch Flimmer-
bewegungen eine Weiterbeförderung derselben möglich ist.
Aehnlich verhält es sich mit der viel selteneren Epispadie, die auch
in verschiedenen Graden vorkommen kann. Bei den höchsten Graden befindet
sich die Harnröhrenmündung unter der Symphyse, und ist die Missbildung
auch mit Spaltung der Bauchhaut und der vorderen Blasenwand (Fissura
vesicae ") verbunden. Diese Missbildung ist öfters mit Zwitterbildung ver-
wechselt worden (Fall Blumhaedt). Bei den höchsten Graden der Epispadie
ist eine ejaculatio seminis nicht wohl möglich, und daher Zeugungsunfähigkeit.
Bergh beschreibt einen Epispadiacus, bei dem die ürethralrinne 1 cm von der Spitze
der Eichel begann, bis an die Abdominalwand ging und unter der Symphyse sich fort-
setzte. Der Penis war dick und kurz. Der Coitus wurde häufig ausgeübt, jedoch ohne
Schwängerung.
Den verkümmerten Gliedern bei Hypo- und Epispadie reihen sich grössere
oder geringere Verluste des Gliedes durch Krankheitszustände oder Ver-
letzungen an. Namentlich gangränöse und geschwürige Zustände können zu
solchen Defecten führen, welche mitunter auch Folge von Amputationen sind.
In Bezug auf Cohabitationsfähigkeit kommt selbstverständlich die Grösse des
Defectes in Betracht, und ist zu berücksichtigen, dass auch verhältnismässig
kleinere Ueberreste des Gliedes durch Schwellung desselben bei der Erection
einen Coitus vermitteln können.
In einem von Gutherz **) mitgetheilten Falle hatte ein 53jähriger Mann in Folge
von Typhus den Penis bis auf einen kleinen Stumpf von 2^2 cm Länge durch Gangrän
verloren. Gleichwohl konnte derselbe den Coitus mit seiner Frau noch ausüben.
Krümmungen des Gliedes nach dieser oder jener Richtung hin, nach
unten, nach oben oder nach den Seiten, wenn sie in höherem Grade bestehen,
können das Eindringen des Gliedes in die Scheide unmöglich machen und
daher eine impotentia coeundi begründen. Diese Krümmungen sind mitunter
schon bei erschlafftem Zustande des Gliedes zu erkennen, oder stellen sich
erst bei der Erection des Gliedes ein. Bei Hypospadie ist das Glied häufig
durch das Frenulum herabgezogen, seitliche Krümmungen sind meistens Folge
von Entzündungsproducten in den cavernösen Körpern oder von Geschwulst-
massen in denselben, welche sich beim schlaffen Zustande des Gliedes con-
statiren lassen. Ich habe mehrere Fälle der Art zu untersuchen Gelegenheit
gehabt, wo die Betreffenden Schwangerschaftsklagen gegenüber Unfähigkeit
zur Cohabitation angegeben haben, wegen bestehender Krümmung des Gliedes
im Zustande der Erection. Dass solche Angaben als glaubwürdig nur dann
angenommen werden können, wenn die Localuntersuchung Veränderungen der
angeführten Art erkennen lässt, versteht sich von selbst.
Auch grosse Scrotalbrüche können eine impotentia coeundi be-
dingen, indem die Haut des Gliedes zur Geschwulstdeckung verwandt wird,
und auf der Bruchgeschwulst kein vorragendes Glied mehr, sondern nur die
Falten der Vorhaut, in deren Mitte die Harnröhrenmündung sich befindet'
gefunden werden. Bei Untersuchungen solcher Individuen darf nicht versäumt
werden, zu untersuchen, ob nicht durch Reposition eines Theiles des Bruch-
inhaltes, die Bruchgeschwulst mehr oder weniger verkleinert werden kann,
denn wenn von dem Betreffenden eine impotentia coeundi wegen einer solchen
*) S. mein Lehrbuch der spec. Chir. 2. Aufl. II. S. 842.
**) Bayr. ärztl. Intelligenzbltt. 1868, 48.
366 .GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
Geschwulst angegeben würde, so läge es in seinem Interesse, dem Arzte sich
zu präsentiren, in einem Momente, wo die Bruchgeschwulst am grössten ist.
Um daher nicht getäuscht zu werden, müssten vorgängige Repositions versuche
gemacht werden. Auch elephantiastische Vergrösserungen der Scrotal-
und Penishaut können die potentia coeundi aufheben.
Einen exquisiten Fall von Elephantiasis scroti hat Hofmann *) beobachtet. Das
Scrotum reichte bis ans Knie und hatte die Grösse von etwa drei Mannsköpfen. Der
Penis war in diesem riesigen Tumor vollständig vergraben, und durch eine excoriirte
Stelle wurde die Mündung der Harnröhre bezeichnet. Der Mann war verheirathet, konnte
aber wegen des Tumors bereits seit mehreren Jahren den Coitus nicht mehr ausüben.
Wird der Gerichtsarzt vor die Frage gestellt, ob ein bestimmtes männ-
liches Individuum begattungsfähig ist oder nicht, so wird er sie leicht ent-
entscheiden können, wenn die Untersuchung das Bestehen eines der
besprochenen Zustände ergibt. Schwierig dagegen kann es sein, festzu-
stellen, ob ein anscheinend normal gebildeter Mann im Vollbesitze der Erec-
tionsfähigkeit ist. Früher hat man verschiedene Methoden zur Prüfung dieser
heiklen Frage vorgeschlagen und angewandt, die alle aus sittlichen Gründen
höchst widerwärtig und zudem unzuverlässig waren. Heute hat sich der
Gerichtsarzt auf den Standpunkt zu stellen, dass a priori jeder gesunde Mann
volle Erectionsfähigkeit besitzt, und dass deren Fehlen nur da angenommen
werden darf, wo die objective Untersuchung nachweisbare Hinderungsgründe
für deren Eintreten ergibt. In den betreffenden Fällen wird daher ein ge-
richtsärztliches Gutachten in der negativen Form abzufassen sein: „die Unter-
suchung habe keinen Grund für die Annahme gegeben, dass das Individuum
der Erectionsfähigkeit ermangle."
h) Weibliche Begattungsunfähigkeit.
Weibliche Begattungsunfähigkeit besteht da, wo die Scheide ausser
Stande ist, das erigirte Glied in sich aufzunehmen. Dieser Zustand kann
seinen Grund haben: 1. in Abnormitäten der Scheide selbst und 2. in Ano-
malien ihrer Umgebung.
Die Impotentia coeundi bei weiblichen Individuen kann also
auch durch functionelle und mechanische Verhältnisse beeinträchtigt oder
ganz unmöglich gemacht werden.
Die functionelle Störung, welche bei weiblichen Individuen Bei-
schlafsunfähigkeit bedingen kann, besteht in einer pathologischen Empfind-
lichkeit bes Scheideneinganges, so dass jeder Versuch zur Erweiterung desselben
nicht blos die heftigsten Schmerzen verursacht, sondern auch reflectorisch
krankhafte Zusammenziehung des constrictor cunni und weiterhin der ge-
sammten Musculatur des Beckenbodens zur Folge hat. Dieser Zustand wurde
von Maeion Sims**) als Vaginismus bezeichnet, und ist schon wiederholt
Gegenstand gynäkologischer Behandlung geworden. Er wird häufiger bei älteren
verheiratheten, als jungverheiratheten Frauenzimmern beobachtet. Der Zu-
stand hat augenscheinlich grosse Aehnlichkeit mit der fissura ani, welche die
Defäcation äusserst schmerzhaft machen kann, und beruht in manchen Fällen
wenigstens auf Zerreissungen, Fissuren in der Schleimhaut des Scheiden-
einganges, welche beim Eindringen des Gliedes in die Scheide auseinander
gerissen werden. Diese Fissuren werden leicht übersehen. Feitsch ***) fand
in einem Falle, bei welchem die Empfindlichkeit ganz ausserordentlich war,
eine kleine Fissur unter der Clitoris.
In allen solchen Fällen ist mit seiner Ursache auch der Vaginismus
heilbar und bedingt der letztere somit nicht dauernde Begattungsunfähigkeit.
*) Lehrbuch 3. Aufl. S. 57."
**) Klinik der Gebärmutterchirurgie. Deutsch von Beigele 1866. S. 24:6.
***) Archiv für Gynäkologie. 1876. S. 547.
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 367
Andererseits aber kann, wie es scheint, der Vaginismus auch auf rein nervösen
oder psychischen Momenten beruhen und einer erfolgreichen Therapie
schwieriger zugängig sein; dafür spricht sein Vorkommen bei nervösen,
hysterischen Personen, welche locale Befunde der genannten Art an den
Genitalien, resp. am Anus, nicht aufweisen.
Zahlreicher sind die mechanischen Hindernisse bei weiblichen Indi-
viduen bezüglich des Coitus. Absehend von Missbildungen, wie sie bei
Zwitterbildungen vorkommen, von welchen schon früher die Kede war, ist
auch Atresia hymenalis und vaginalis als angeborene Missbildung zu er-
wähnen, wovon die erstere operativ gehoben werden kann, sowie auch eine
allfällige, oberflächliche Verwachsung der Labien, die mehrfällig beobachtet
worden ist.
Unter den congenitalen ist am häufigsten eine ausserordentlich feste, fleischige Be-
schaffenheit des Hymens, mitunter zugleich mit sehr enger oder ganz fehlender Hymenal-
öffnung. Ein solcher Zustand kann ein wesentliches Begattungshindernis, aber keinen
Ehescheidungsgrund bilden, da er sehr leicht operativ zu beseitigen ist. Von dieser
„Atresia hymenalis" bis zu vollständigem Fehlen der Scheide kommen die verschiedensten
Grade von angeborener Verengung und Verkürzung des Scheidenschlauches vor.
Ob durch solche Zustände Begattungsunfähigkeit bedingt wird, ist in
jedem einzelnen Falle je nach dem Grade des Fehlers, sowie danach zu be-
urtheilen, ob der letztere operativ geheilt werden kann oder nicht.
Bei vaginaler Atresie wäre bezüglich der Heilbarkeit zu untersuchen,
ob der Verschluss mit Scheidenmangel verbunden ist, indem in letzterem Falle
Heilung ausgeschlossen wäre.
Erworben kommen Zustände von Verengerung und theilweiser Verwachsung
der Scheide durch Verletzungen, namentlich bei Geburten, durch brandige und
geschwürige Zustände in Folge von Verbrennung, Diphtherie, Variola, Noma
u. s. yf. vor. Bei der grossen Verschiedenheit dieser Vorkommnisse kann die
Behinderung der Cohabitation eine sehr verschiedene sein, was immer eine
genaue Untersuchung im Einzelfalle voraussetzt, namentlich auch in Bezug
auf Heilbarkeit.
Von Anomalien in ihrer Umgebung kann die Scheide völlig un-
zugängig gemacht werden durch grosse Labialhernien oder Elephantiasis
labiorum, durch hochgradige Verbildungen, namentlich starke Verengungen
und abnorme Neigung des knöchernen Beckens, sowie durch angeborene oder
erworbene Muskelverkürzungen, welche die erforderliche Spreizung der
Schenkel nicht zulassen.
Ferner können auch Fehler in der Conformation des Beckens, Knochen-
geschwülste oder vaginale Tumoren den Gebrauch der Scheide unmöglich
machen.
Geschwulstbildungen der verschiedensten Art können innerhalb des kleinen Beckens
den für Aufnahme des Ghedes in die Scheide erforderhchen Raum derart beengen oder den
Scheidenschlauch durch Vordrängung nahe an seinem Eingange so abknicken, dass
absolute Beischlafsunfähigkeit die Folge ist.
Besonders häufig kommen Vorfälle der Gebärmutter oder der Scheide
vor. Hiebei kommt es w^esentlich darauf an, ob diese Vorfälle reponirbar sind,
was meistens der Fall ist, und schon spontan in der Rückenlage erfolgt, so
dass ein solcher Zustand nicht eine Beischlafsunfähigkeit begründen könnte.
2) Zeugungsunfähigkeit, Impotentia generandi. Die potentia
generandi ist gebunden an die zwecktüchtige Beschaffenheit der den Samen
bereitenden und der ihn nach aussen leitenden Organe. Selbstverständlich
setzt die potentia generandi eine potentia coeundi voraus. Aber auch bei
der letzteren kann die erstere fehlen. Beischlafsfähigkeit ist daher von
Zeugungsfähigkeit zu unterscheiden. Zeugungsunfähigkeit kann begründet
sein in mangelhafter oder ganz fehlender Samenbereitung und in behin-
derter oder ganz gehinderter Samenleitung. Impotentia generandi ist
368 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
demgemäss vorhanden a) beim Fehlen oder bei Functionsunfähigkeit der Hoden,
sowie h) bei bestimmten Anomalien der Samen-Ausscheidungswege von den
Nebenhoden bis zur äusseren Oeffnung der Harnröhre.
Die Functionsthätigkeit der Hoden ist in erster Linie vom Lebens-
alter des Individuums abhängig.
Eine normale Beschaffenheit des Samens setzt in demselben die Gegen-
wart von Spermatozoen voraus, welche erst zur Zeit der Geschlechtsreife in
jenem auftreten. Eine Hauptbedingung für die Zeugungsfähigkeit ist daher
ein gewisses Alter. In den gemässigten Zonen tritt die Geschlechtsreife
gewöhnlich im 15. und 16. Lebensjahre ein, doch zeigen sich hierin grosse
individuelle Verschiedenheiten, so dass die Zahl der Jahre nicht massgebend
sein kann bei Untersuchungen über Geschlechtsreife zur Diagnose derselben.
Man muss vielmehr in solchen Fällen auf erkennbare Zeichen der eingetretenen
Reife sehen, wobei Körpergrösse und Körperbildung, die Stimme, der Bart-
wuchs und die Behaarung der Genitalien in Betracht kommen. Selbstver-
ständlich wird man ganz besonders auch die Gegenwart der Hoden im Scrotum,
ihre Form und Grösse, berücksichtigen.
Doch giebt die Constatirung dieser Veränderungen allein keinen bindenden Beweis für
wirklich vorhandene Geschlechtsreife, wie Fälle beweisen, in denen sich in den Hoden von
Jünglingen mit bereits wohlausgeprägtem männlichen Habitus, stark entwickelten Scham-
haaren etc. bei der Section noch keine Spermatozoen vorfanden. Da das Bestehen der
Zeugungsfähigkeit in einwandsfreier Weise allein durch den Nachweis von Spermatozoen
erbracht werden kann, und da sich bald, nachdem die Hoden in die Periode ihrer Activität
eingetreten sind, Pollutionen einzustellen pflegen, so wird der Gerichtsarzt in fraglichen
Fällen nach Spermaflecken in der Wäsche des betreffenden Individuums zu fahnden und
solche auf Spermatozoen zu untersuchen haben.
In manchen Fällen wird man über einen Wahrscheinlichkeitsschluss
nicht hinausgehen können.
Wir haben kürzlich einen noch nicht ganz 16 Jahre alten Jüngling zu untersuchen ge-
habt, der unter der Anklage einer angeblichen Nothzucht stand, wobei namentlich die Möglich-
keit einer Schwängerung in Frage kam. Der Habitus des übrigens gross gewachsenen Menschen
war noch derjenige eines Knaben. Von Bartwuchs zeigte sich kerne Spur, die Stimme
war noch nicht gebrochen, an den Genitalien hat noch keine Behaarung stattgefunden,
die Beschaffenheit der Hoden im Scrotum durchaus normal und von Samenergiessung habe
sich noch nicht eine Spur gezeigt. Das Glied war wohlgebildet und etwas gross. Wir
sprachen uns dahin aus, dass wir das Individuum zwar für durchaus beischlafsfähig halten,
dass wir aber dessen Zeugungsfähigkeit wegen nicht erwiesener Samenbereitung be-
zweifeln müssen.
Was das Alter betrifft, bis zu welchem die potentia generandi verbleibt,
so sind hier der Zahl der Jahre nach genauere Grenzen nicht zu ziehen,
indem man, wie aus den Untersuchungen von Duplay und Dieu hervorgeht,
noch bis zu 90 Jahren Spermatozoen in der Flüssigkeit der Hoden gefunden
hat. Ohne Zweifel schwindet die Erectionsfähigkeit des Gliedes früher als
die Gegenwart von Spermatozoen in der Hodenüüssigkeit, so dass aus dieser
noch nicht auf eine potentia coeundi geschlossen werden könnte. Bei der Frage
nach der Zeugungsfähigkeit eines Greises ist daher in erster Linie nicht
dessen Lebensalter, sondern sein allgemeiner Kräftezustand zu berücksichtigen.
Angeborenes gänzliches Fehlen eines oder beider Hoden ist eine seltene Missbildung
und kommt zumeist, aber nicht ausschliesslich, zusammen mit anderweitigen Entwicklungs-
fehlern der Harn- und Geschlechtsorgane, gewöhnlich zugleich bei mangelhafter Ausbildung
des gesammten specifisch-männlichen Habitus vor. Impotentia generandi besteht natui-
gemäss nur beim Fehlen beider Hoden, da ein functionstüchtiger Testikel zur ßefruchtungs-
fähigkeit genügt; übrigens beobachtet man bei einseitiger Anorchidie nicht selten eine aus-
gleichende Hypertrophie der einen vorhandenen Drüse. In sehr vereinzelten Fällen ist an-
geborene Impotentia generandi durch eine congenitale Hodenatrophie bedingt, derart, dass
ein oder beide Hoden zwar vorhanden sind, aber keine Spermatozoen liefern, indem das
Organ allein aus dem bindegewebigen Stroma besteht und der specifischen Samenbildungs-
zellen entbehrt. In diesen Fällen sind meist, wenngleich nicht immer, auch die übrigen
Theile der Genitalien auf einer knabenhaften Entwicklungsstufe zurückgeblieben, und ist
häufig die ganze Körperbildung schwächlich und infantil. Das theilweise Stehen bleibesa
des Organismus auf einer frühen Entwicklungsstufe macht sich dabei manchmal schon
' GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 369
darin deutlich geltend, dass einer oder beide Hoden auf dem Wege aus der Bauchhöhle
in den Hodensack Halt gemacht, dass der „Descensus testiculorum" nicht gehörig zustande
gekommen ist. Jedoch ist die normale Lage der Testikel im Scrotum für ihre Functions-
fähigkeit nicht durchaus erforderlich, so dass aus bestehendem Kryptorchismus keineswegs
von vornherein auf Impotentia generandi geschlossen werden darf. Der Geschlechtstrieb
kann, trotz aller Missbildungen der Generationsorgane erhalten, und die Begattungsfähigkeit
selbst mit Ejaculation einer spermatozoenfreien Flüssigkeit unbehindert sein.
Erworbenes gänzliches Fehlen eines oder beider Hoden hat für die Zeugungsfähigkeit
naturgemäss dieselben Folgen wie der angeborene Fehler. Die Castration wird namentlich
bei malignen Hodentumoi'en, bei Carcinomen und Sarcomen, gelegentlich auch bei Tuber-
culose des Testikels ausgeführt. Neuerdings hat man die Operation auch zwecks Heilung
hochgradiger Prostata-Hypertrophie ausgeführt, in allerletzter Zeit aber an Stelle dieses
Eingriffes die überaus einfach und leicht zu bewerkstelligende Exstirpation je eines Stückes
der aus den Samensträngen isolirten Vasa deferentia gesetzt. Auch sie bedingt gänzliche
Azoospermie und somit impotentia generandi.
Verlust der Hoden durch Castration hebt also die Zeugungs-
fähigkeit auf, doch kann sich hier die Frage erheben, wie lange bei Castraten
in den Samenbläschen spermatozoenhaltige Samenflüssigkeit noch verbleibt,
und wie lange daher nach einer Castration die Möglichkeit einer Schwänge-
rung noch fortbesteht, zumal bei Castraten die potentia coeundi immer noch
fortbesteht. Die Beurtheilung solcher Fälle wird selten vorkommen, weil nur
kurze Zeit nach einer Castration wohl kaum je ein Coitus ausgeübt werden
wird, und bezüglich einer späteren Schwängerung durch einen Castraten bis
jetzt keine Thatsachen vorliegen.
Die Exstirpation der Vasa deferentia ist ein viel geringerer, in wenigen Tagen aus-
heilender Eingriff, nach welchem erfahrungsgemäss der Geschlechtstrieb vielfach unver-
mindert besteht und frühzeitig bethätigt wird. Somit ist es als durchaus möglich
anzusehen, dass ein derartig operirter Mann bei den ersten Cohabitationen nach dem Ein-
griffe noch befruchten könne.
Das Fehlen der Hoden im Scrotum wegen Kryptorchie ist keineswegs
dem Verluste derselben gleichzustellen, obschon allerdings die Kryptorchie
häufig mit Atrophirung der Hoden verbunden ist, allein es sind Fälle bekannt,
in welchen Testiconden in der Ehe mehrfach Kinder erzeugt haben (Tayloe),
und sind auch in der Samenflüssigkeit solcher Individuen Spermatozoen ge-
funden worden (Beigel), so dass aus dem Kryptorchismus allein noch durch-
aus nicht auf Zeugungsuniähigkeit geschlossen werden könnte.
Indessen gehören die Hoden gerade zu denjenigen drüsigen Organen,
welche den verschiedenartigsten Degenerationen ausgesetzt sind und die
Functionsfähigkeit derselben beeinträchtigen können. Eine dadurch bedingte
Zeugungsunfähigkeit kann aber nur dann angenommen werden, wenn bei
diesem Doppelorgan beide Hoden ergriffen sind.
Erworbene Functionsunfähigkeit eines oder beider Testikel ist überaus
häufig und in den meisten Fällen ein Folgezustand acuter oder chronischer
Entzündungen, in deren Aetiologie die Gonorrhoe bei weitem die erste Rolle
spielt. In anderen Fällen wird Orchitis durch Syphilis oder durch primäre
oder metastatische Tuberculose bedingt, oder sie beruht auf metastatischer
Ansiedelung anderer Entzündungserreger, wie es z. B. bei acutem Gelenks-
rheumatismus oder Parotitis epidemica beobachtet wird. Häufig wird ferner
die Samenbereitung durch Neubildungen des Hodens aufgehoben, besonders
durch Adenome und Cystadenome, durch Carcinome und Sarcome, seltener
durch Fibrome, Myxome und Enchondrome. Weiterhin können die verschieden-
artigsten Traumen destruirend auf den Testikel einwirken, wie Quetschungen,
Hieb-, Stich- oder Schnittwunden etc. Selbstverständlich besteht Impotentia
generandi auch in allen diesen Fällen nur da, wo das gesammte samen-
bereitende Gewebe beider Keimdrüsen lunctionsunfähig geworden ist. Häufig
kommt sodann Atrophie der Hoden auf Grund allgemeiner Ernährungsstörung
des gesammten Organismus vor, bei schweren Cachexien nach langandauern-
den Krankheiten oder bei chronischen Intoxicationen, namentlich durch Alkohol
und Morphium, sowie auch infolge der schwächenden Einflüsse übertriebener
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin, 24
370 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
geschlechtlicher Ausschweifungen, besonders nach frühzeitig begonnener und
excessiv ausgeübter Masturbation. Es bleibe jedoch nicht unerwähnt, dass
die Widerstandsfähigkeit gegenüber derartigen Einflüssen individuell häufig
überraschend gross ist. Endlich kann auch lange einwirkender mechanischer
Druck das Hodengewebe zur Atrophie bringen, was gelegentlich durch Neo-
plasmen der Umgebung, bei grossen Scrotalhernien, Elephantiasis scroti, Hydro-
und Varicocele- u. dgl. Affectionen mehr in Betracht kommt.
Dagegen hat eine andere Beschaffenheit des Samens, welche auch bei
scheinbar normal gebildeten Hoden vorkommen kann, grössere forensische Be-
deutung, nämlich die sogenannte Azoospermie, bei welcher in der Samen-
flüssigkeit die Spermatozoen fehlen und andere zellige Gebilde von ver-
schiedenem Charakter mit den bekannten krystallinischen Gebilden vorhanden
sind. Derartige Fälle sind selten. Conrad '") hat hierüber eine beachtens-
werthe Mittheilung gemacht. Nicht zu verwechseln ist diese auf mangel-
hafter Spermatozoenbildung beruhende Azoospermie, welche männliche Steri-
lität begründet, mit der auf entzündlichen Zuständen der Samenleiter be-
ruhenden, wobei die Samenentleerung behindert oder wenigstens vorübergehend
sistirt ist und verschiedene Entzündungsproducte in den Ejaculationsflüssig-
keiten sich befinden. Uebrigens kann eine transitorische Unterbrechung der
Spermatozoenbildung auch bei grossen Schwächezuständen, bei auszehrenden
Krankheiten vorkommen, wie das auch nur ganz vorübergehend bei Excessen
in Venere geschehen kann. Dass solche Untersuchungen zu forensischen
Zwecken nicht wohl angestellt werden können, ist leicht ersichtlich, und muss
man sich daher vorkommenden Falles damit begnügen, auf die im Ganzen
selten unter besonderen Verhältnissen vorgenommenen Untersuchungen von
Anderen sich zu beziehen und die Thatsache der Möglichkeit des Vorkommens
einer solchen Azoospermie zu berücksichtigen, so dass männliche und weib-
liche Sterilität miteinander concurriren können.
Ein anderer Zustand, welcher Impotentia generandi bedingen kann, ist
die sogenannte Aspermatie, welche darin besteht, dass der Mechanismus
der Ejaculation behindert ist. Dazu können namentlich Unwegsamkeit der
Harnröhre, Verengungen derselben diesseits der einmündenden ductus eja-
culatorii, Ausmündung der Harnröhre an der Basis des Gliedes, wie bei den
höchsten Graden der Hypospadie, auch Phimosenbildung höheren Grades
führen. Die Samenentleerung ist hiebei nicht ausgeschlossen, allein sie erfoJgt
nicht mehr als Ejaculation, wodurch das tiefere Eindringen der Samenflüssig-
keit in die Scheide mehr oder weniger behindert ist. Dass übrigens ein solches
tieferes Eindringen des Sperma zur Generation nicht nothwendig ist, und dass
es in manchen Fällen wenigstens genügt, wenn dasselbe nur in den Scheiden-
eingang gelangt, indem dann Flimmerbewegungen und Selbstbewegungen der
Spermatozoen eine weitere Bewegung derselben bedingen kann, ist schon
oben angegeben worden. Bei Harnröhrenverengungen sowohl als bei Phimosen
erfolgen die Entleerungen der Samenflüssigkeit nach aussen nur allmälig und
hängt daher das Gelangen derselben in die Scheide wesentlich von dem län-
geren oder kürzeren Verweilen des Gliedes nach erfolgter Samenergiessung
in der Scheide ab. Bei Phimosen sammeln sich Harn und Samenflüssigkeit
zuerst im Präputialsack an und gelangen erst nach und nach nach aussen.
Ein jüngerer Mann vom Lande consultirte mich wegen einer Phimose, die so be-
deutend war, dass man nur eine Sonde in die Oeffnung bringen konnte. Ich wunderte
mich, dass er das beschwerhche Harnen, er war über 23 Jahre alt, solange ertragen habe,
und rieth ihm sofortige Operation an. Da gestand er, dass er eigentlich nicht wegen einer
solchen Hilfe gekommen sei, sondern aus einem ganz andern Grunde. Er habe eine Be-
kanntschaft, mit welcher er schon öfters geschlechtlichen Umgang gehabt habe und welche
er zu heirathen beabsichtige, diese Bekanntschaft sei nun schwanger und behaupte, dass
die Schwangerschaft von ihm herrühre, was er kaum glauben könne, da er mit seiner Miss-
*) Correspondenzblatt f. Schweizer-Aerzte. 1878. Nr. 22. S. 680.
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 371
bildung am Gliede wohl nicht zeugungsfähig sei, und darüber wünschte er von mir Aus-
kunft, indem er davon die Heirath abhängig machte. Nachdem ich mich über sein
Benehmen beim Harnen und beim Coitus orientirt hatte, erklärte ich ihm, dass eine Schwän-
gerung von seiner Seite sehr wohl möglich gewesen sei.
3. Conceptionsunfähigkeit, Impotentia concipiendi. Von
Conceptionsunfähigkeit, sprechen wir dann, wenn bei einem weiblichen In-
dividuum die Befruchtung eines Eichens, und somit das Zustandekommen
einer Schwangerschaft, unmöglich ist. Die Fälle, in welchen sie Gegenstand
gerichtsärztlicher Erörterung werden kann, sind aus dem Abschnitte „Zeugungs-
unfähigkeit" zu ersehen. Die Grundbedingungen für das Zustandekommen
einer Conception sind: 1. das Vorhandensein befruchtungsfähiger Ovula und
2. die Möglichkeit, dass ein solches im weiblichen Genitaltractus vom Ovarium
bis zur Uterushöhle mit einem Samenfaden zusammentreffen kann. Demgemäss
theilen sich die Ursachen der Conceptionsunfähigkeit in zwei Gruppen, deren
erste Störungen am Ovarium umfasst, während die zweite es mit Anomalien des
dem Zusammentreffen von Ovulum und Spermazelle dienenden Canalsystems zu
thun hat. Wie bei männlichen Individuen spielt auch bei weiblichen das Alter
bezüglich der Conceptionsfähigkeit eine wichtige Rolle, und ist der Eintritt dieser
Fähigkeit, nämlich der Geschlechtsreife, durch eine besondere Erscheinung
auffällig markirt, nämlich durch die Menstruation. Wie beim männlichen
Geschlecht ist die Conceptionsfähigkeit unabhängig von der potentia coe-
undi, welche mit anderen Verhältnissen in Zusammenhang steht. Der Ein-
tritt der Menstruation fällt in den mitteleuropäischen Ländern durchschnittlich
auf das 15. — 16. Altersjahr, doch kommen hierin mancherlei Verschieden-
heiten vor, namentlich in der Art, dass in einzelnen, freilich Ausnahmsfällen,
die Menstruation schon mehrere Jahre früher eintritt, mit entsprechender,
weiter vorgeschrittener körperlicher Bildung, so dass man für Annahme einer
potentia concipiendi nicht bloss auf die Zahl der Jahre, sondern auf die körper-
liche Entwicklung und Ausbildung überhaupt Rücksicht zu nehmen hat. Es
sind Fälle bekannt, wo Schwangerschaften schon im 8., 9., 10., 11. und 12.
Lebensjahre eingetreten sind. Wir selbst haben einen Fall kennen gelernt, in
w^elchem ein Mädchen im 9. Lebensjahre schwanger geworden ist, und in einem
anderen Falle im 14. Lebensjahre. Die Menstruation steht mit der Ovulation
in einem nicht anzuzweifelnden Zusammenhang, der aber immer noch nicht
hinreichend aufgeklärt ist, und nur das ist für forensische Zwecke bestimmt an-
zunehmen, dass weitaus in den meisten Fällen Schwangerschaft erst eintritt,
nachdem menstruale Blutungen vorhergegangen sind. Die Fälle, in w^elchen
Schwängerung ohne vorhergegangene Menstruation eingetreten sein soll, wie
z. B. in den von Casper und Löwy mitgetheilten Fällen, gehören immerhin
zu den Seltenheiten, und ebenso sind es Raritäten, wenn nach aufgehörter
Menstruation nochmals Schwangerschaft eingetreten sein soll, wovon gleich-
falls mehrere Fälle berichtet sind. Das Aufhören der Menstruation findet wie
der erste Eintritt derselben zu verschiedenen Zeiten statt, gewöhnlich zwischen
dem 45. und 50. Lebensjahre, doch kennt man auch Fälle, wo sie schon im
37. und erst im 55. Lebensjahre aufhörte. Bei der Schwierigkeit, über den
Bestand oder Nichtbestand menstrualer Blutungen, die so ausserordentlich
verschieden sein können, mit Sicherheit Aufschluss zu erhalten, wird man ausser-
ordentlich vorsichtig sein müssen, in gerichtlichen Fällen so seltene Vorkomm-
nisse als sicher erwiesene Thatsachen zu verwenden, und gehören die meisten
hieher gehörigen Gerichtsfälle nicht der heutigen gerichtlichen Medicin an.
Obschon die Geschlechtsreife durch die Menstruation indicirt wird, so
ist dieselbe doch keineswegs von letzterer abhängig, da bekanntlich in Folge
von gewissen Blutkrankheiten, die unter dem Namen Chlorose bekannt
sind, auch bei vollkommen entwickelter Körperbildung die Menstruation fehlen
und mit derselben Impotentia concipiendi verbunden sein kann. Diese Impotenz
könnte jedoch in vielen Fällen nicht als eine unheilbare oder bleibeifde foren-
24*
372 GESCHLECHTSVEEHÄLTNISSE.
sisch verwerthet werden, da die Erfahrung lehrt, dass solche Blutkrankheiten
durch stärkende Curen früher oder später gehoben werden können, und dann
Schwangerschaft eintritt.
Indessen gibt es noch eine Menge anderer pathologischer Zustände,
welche nicht allgemeiner, sondern localer Natur sind und sich auf die
weiblichen Genitalien speciell beziehen, welche Sterilität bedingen können;
doch ist die diagnostische Feststellung derselben wegen der ünzugänglichkeit
der inneren Geschlechtstheile mit Schwierigkeiten verbunden, so dass bestimmte
gerichtlich-medicinische Aufklärungen nicht immer gegeben werden können.
Selten kommt angeboren theilweiser Mangel oder blinde Endigung der
Scheide vor, zuweilen mit Mangel noch anderer Theile der inneren Geni-
talien, wobei Beischlafsfähigkeit, aber Unmöglichkeit der Conception besteht,
HoFMANK hat bei der Section einer alten, verheirathet gewesenen Frau die Scheide
mit einer Länge von 5—6 cm, aber blind endigend gefunden. Statt des Uterus fanden sich
einige pyramidenförmig angeordnete Faserzüge im Lig. latum, die Tuben fehlten, die Ovarien
waren vielfach eingekerbt u. s. w.
Naturgemäss ist das Vorhandensein befruchtungsfähiger Ovula an die
Gegenwart normal leistungsfähiger Eierstöcke gebunden. Völliges Fehlen der
Ovarien kommt angeboren nur bei sehr hochgradigen Missbildungen auch der
übrigen Genitaltheile, erworben heutzutage nach ausgeführter Ovariectomie
ziemlich häufig vor, und bedingt selbstverständlich absolute Conceptions-
unfähigkeit. Fehlen eines Ovariums ist für die Conceptionsfähigkeit belanglos,
solange die vorhandene zweite Keimdrüse functionirt. Durch Ovarialerkran-
kungen wird die Conceptionsfähigkeit immer erst dann aufgehoben, wenn alle
keimbereitenden Organe functionsunfähig geworden sind. Häufig aber erhält
sich auch bei weit vorgeschrittenen pathologischen Veränderungen im Ovarium
doch noch ein Rest normalen Gewebes mit gesunden GRAAF'schen Follikeln
und Eiern, so dass man mit der Annahme einer unbedingten Conceptionsunfähig-
keit bei Eierstockaffectionen ungemein vorsichtig sein muss.
Die zweite Gruppe ätiologischer Momente der Conceptionsunfähigkeit
umfasst alle Veränderungen des weiblichen Canalsystems, welche das Zu-
sammentreffen eines beim Begattungsacte in letzterem abgelagerten Samen-
fadens mit einem aus dem Ovarium losgelösten Eichen unmöglich machen.
Die hierher gehörigen Störungen sind zum Theil angeborene Missbildungen: mangel-
hafte oder fehlerhafte Entwicklung des Uterus oder der FALLOPi'schen Tuben; die Be-
gattungsfähigkeit kann dabei, falls nur die Scheide genügend entwickelt ist, unbeeinträchtigt
sein. In einer anderen Reihe von Fällen sind die der Conceptionsunfähigkeit zu Grunde
liegenden Veränderungen Folgezustände von entzündlichen Processen in den Schleim-
häuten des Uterus und der Eileiter oder peritonitischer Affectionen in der Umgebung der
Ostia abdominalia tubarum.
In der Aetiologie aller hierhergehörender Entzündungen spielt der
Gonococcus Neisseri bei weitem die erste Rolle. Während derartige Erkran-
kungen der Tuben therapeutischer Beeinflussung meist nicht zugänglich, ja
intra vitam in der Mehrzahl der Fälle kaum präcise diagnosticirbar sind, ist
in einer grossen Anzahl von Fällen die Conceptionsunfähigkeit heilbar, wenn
sie auf krankhaften Zuständen des der Therapie erreichbaren Uterus beruht.
Pathologische Zustände des Uterus, denen als Folge Conceptions-
unfähigkeit mit mehr oder weniger Begründung zugeschrieben werden kann,
sind mehrfältig und bestehen theils in Unwegsamkeit des Cervicalkanales,
theils in abnormen Absonderungen der Uteruschleimhaut, in Lage- und
Richtungsveränderungen des Uterus, oder auch in Geschwulstbildungen des
Uterus.
Unwegsamkeit des Cervicalkanales, sei es durch Enge des Canales oder
durch Obturatipn desselben mit zähen Schleimmassen wird häufig als Ursache
von Sterilität angesehen, wegen behindertem Durchgang der an den Vaginal-
partien befindlichen Spermatozoen trotz allfälliger Aspiration von Seiten des
Uterus. Die günstigen Erfolge mechanischer Dilation des Cervicalkanales
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 378
lassen kaum daran zweifeln, dass mitunter Unwegsamkeit desselben weibliche
Sterilität bedingt, allein der Nachweis ist kaum mit einiger Sicherheit zu
erbringen.
Dass abnorme Absonderungen der Uterinschleimhaut in Folge katarrha-
lischer oder anderer Entzündungen derselben auf das Leben der Spermatozoen
ungünstig einwirken können, ist anzunehmen, da alkalischer Uterinschleim
lähmend auf die Bew^egungen dieser Gebilde einwirkt, was aber gleichfalls
nicht leicht nachweisbar ist.
Einen hemmenden Einfiuss auf die Conceptionsfähigkeit hat man auch viel-
fältig den Lage- und Richtungsveränderungen des Uterus zugeschrieben, aber
nachgewiesen ist derselbe nicht, und bestehen eine Reihe von Beobachtungen,
bei welchen Vorfälle und verschiedene Flexionen und Versionen des Uterus
den Eintritt von Schwangerschaften nicht verhindert haben, ja schon in einer
Leistenhernie ist ein gravider Uterus gefunden worden. Wir selbst waren
Zeuge, wo bei einer solchen Bruchgeschwulst, die den schwangeren Uterus ent-
hielt, der Kaiserschnitt gemacht wurde. *) Wenn übrigens solche Vor-
kommnisse auch beweisen, dass derartige Zustände des Uterus eine
Schwangerschaft nicht ausschliessen, so hat man andererseits auch eine
grössere Reihe von Beobachtungen, wo bei sterilen Frauen solche Abnormi-
täten der Gebärmutter gefunden wurden, so dass auch nicht in Abrede
zu stellen ist, dass solche Zustände von Einfluss auf das Zustandekommen
einer Schw^angerschaft sein können, und man daher in gerichtlichen Fällen
stets genau die Verhältnisse des vorliegenden Falles zu untersuchen hat, um
wenigstens zu einem motivirten Wahrscheinlichkeitsschluss zu gelangen.
Geschwulstbildungen in den Uteruswandungen, wie Myome, Fibrome,
Carcinome u. s. w., haben keineswegs immer Sterilität zur Folge gehabt, doch
kommen sehr der Sitz dieser Geschwülste, ob peripher oder interstitiell oder
submucös, und die Grösse derselben in Betracht.
Abnormitäten der Tuben, angeborene und erworbene, sind keine Selten-
heiten. Ausser angeborenem Mangel und Verschluss der Tuben hat man
Veränderungen in Folge acuter und chronischer Salpingitis gefunden, als
Verdickungen der Wandungen mit Stenose des einen oder anderen Ostiums,
selbst Verschluss derselben, ferner Blutansammlungen, Eiteransammlungen
u. s. w. Dass die Diagnose hier grosse Schwierigkeiten hat, ist kaum zu er-
wähnen, und ausserdem ist zu berücksichtigen, dass es ein Doppelorgan ist,
und einseitige Erkrankung die Conceptionsfähigkeit nicht ausschliessen kann.
Dasselbe ist zu berücksichtigen bei den so häufigen Erkrankungen der
Ovarien, auch abgesehen von angeborenen Defecten, die bei Zwitterbildungen
vorhanden sein können. Die häufigste Art der Erkrankung ist Cystenbildung,
die jedoch meistens nur einseitig ist. Aber auch bei dieser, zumal wenn der
Tumor noch nicht eine bedeutendere Grösse hat, ist die Eireifung keineswegs
ausgeschlossen.
Dass unter solchen Verhältnissen und namentlich mit Berücksich-
tigung der Duplicität des Organes in Verbindung mit den diagnostischen
Schwierigkeiten eine weibliche Sterilität nicht leicht nachweisbar ist, ergibt
sich von selbst. So führen schliesslich diese Erörterungen dahin, dass bei weib-
lichen Individuen allerdings sehr häufig durch abnorme Zustände der Genitalien
Anlass zu Conceptionsunfähigkeit gegeben sein kann, und dass das bei männ-
lichen Individuen in geringerem Grade der Fall ist, so dass man einiger-
massen berechtigt ist, bei Untersuchungen über Sterilität einer Ehe die
Ursachen hievon häufiger bei w^eiblichen als bei männlichen Individuen zu
suchen, dass aber bei beiden Geschlechtern bei der Schwierigkeit der Diagnose
der die Sterilität bedingenden Ursachen weitaus in der Mehrzahl der Fälle
*) Mein Lehrbuch der Chirurgie, 2. Aufl. IL 1862. S. 314.
374 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
die Untersuchuügsresultate der Aerzte nur zu mehr oder weniger zu begrün-
denden Wahrscheinlichkeitsschlüssen berechtigen können.
Schliesslich bleibe nicht unerwähnt, dass beim Weibe trotz bestehender
Begattungs- und Conceptionslahigkeit dennoch die. Fortpflanzungsfähigkeit
fehlen kann. Dies beruht entweder auf einer Impotentia gestandi oder
aber auf einer Impotentia parturiendi.
4. Impotentia gestandi ist die Unfähigkeit des Weibes, ihre
Leibesfrucht „auszutragen", bis diese im Stande ist, ausserhalb des mütter-
lichen Organismus weiterzuleben.
Die Ursachen der vorzeitigen Unterbrechung der Schwangerschaft bestehen zumeist
in letzter Linie darin, dass die Frucht in Folge mangelhafter oder unterbrochener Zufuhr
an Nahrung und Sauerstoff abstirbt, worauf sie vom Organismus ausge&tossen wird. Weit-
aus am häufigsten wird dies durch syphilitische Erkrankung der Frucht veranlasst, welche
sowohl vom Vater wie von der Mutter herrühren kann; in anderen Fällen kommt dieselbe
Störung zustande durch Blutergüsse in die Placenta, durch entzündliche Erkrankungen im
Gebiete der Gebärmutter oder des den Fötus ernährenden Gefässapparates oder auch durch
Allgemeinerkrankungen der Mutter, in Folge deren das Blut derselben zu nahrungs- und
sauerstoffarm für Erhaltung und Wachsthum des Fötus wird. In selteneren Fällen erreicht
die Schwangerschaft dadurch vorzeitig ihr Ende, dass die Gebärmutter bei noch lebender
Frucht zu Contractionen angeregt wurde, was in Folge mechanischer und thermischer
Reize — letzterer unter anderen auch bei hochfieberhaften Erkrankungen der Mutter —
geschehen kann.
Die Unfähigkeit weiblicher Individuen, eine Schwangerschaft durch-
zumachen, kommt hauptsächlich in doppelter Weise vor, einmal so, dass
fast regelmässig nach stattgehabter Conception abortirt wird, und zwar, ohne
dass nachweisbar veranlassende Ursachen bestanden hätten, so dass eine hoch-
gradige Disposition zu Abortus angenommen werden muss, und dann in der
Weise, dass die Schwangerschaft bis zu den letzten Monaten speciell bis oder
kurze Zeit nach dem Eintritt der Lebensfähigkeit der Kinder dauert und nun
durch Eintritt der Geburt unterbrochen wird, so dass die Kinder entweder noch
gar nicht lebensfähig oder aber so lebensschwach geboren werden, dass sie
nur kürzere Zeit am Leben zu erhalten sind. Dass durch solche Vorgänge eine
Ehe kinderlos werden muss, ist leicht einzusehen. Indessen könnte dieses
Vorkommnis doch nicht als Grund zur Ehescheidung angenommen werden, da
vom medicinischen Standpunkt aus durchaus nicht behauptet werden könnte,
dass nicht früher oder später doch die rechtzeitige Geburt eines Kindes er-
folgen könnte.
Impotentia parturiendi ist die Unfähigkeit der Mutter, die bis zu voller Reife
gediehene Frucht zu gebären; ein solches Unvermögen kann in sehr seltenen Fällen auf
einem Mangel der zur Geburtsarbeit erforderlichen allgemeinen Körperkräfte beruhen;
zumeist wird es durch mechanische Hindernisse, bei angeborenen oder erworbenen Miss-
bildungen zumeist der knöchernen, seltener der weichen Beckentheile (Geschwülste, Narben-
bildungen oder dergl.), bedingt.
3. Zweifelhafte Juiigfrauschaft.
Abgesehen von Nothzuchtsfällen können Untersuchungen über zweifel-
hafte Jungfrauschaft dadurch nothwendig werden, dass verleumderische An-
gaben über Verlust der Jungfrauschaft auf Klage der Betreffenden zu straf-
rechtlicher Verfolgung Anlass geben können, und nur auf den gerichtsärzt-
lichen Nachweis bestehender Virginität eine Verleumdungsklage angestrengt
werden kann. Nachstehende gesetzliche Bestimmungen, welche sich in den
meisten neueren Strafgesetzen befinden, berechtigen zu solchen Klagen,
Deutsches Strafgesetzbuch § 186. Wer in Beziehung auf einen Andern eine
Thatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der
öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird, wenn nicht diese Thatsache
erweislich wahr ist, wegen Beleidigung mit Geldstrafe bis zu sechshundert Mark oder
mit Haft oder mit Gefängniss bis zu einem Jahre u. s. w. bestraft.
§ 187. Wer wider besseres Wissen in Beziehung auf einen Anderen eine unwahre
Thatsache behauptet oder verbreitet, welche denselben verächtlich zu machen oder in der
öffentlichen Meinung herabzuwürdigen geeignet ist, wird wegen verleumderischer
Beleidigung mit Gefängniss bis zu zwei Jahren u, s. w. bestraft.
/ GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 375
Derartige Fälle sind zwar nicht sehr häufig, weil die betreffenden
Frauenzimmer, über welche derartige Verleumdungen ausgesprochen werden,
nicht immer ein gutes Gewissen haben, und daher nicht gerne solchen Unter-
suchungen sich unterwerfen, indessen kommen solche Fälle doch mitunter vor,
und haben Aerzte die Yerpliichtung, einschlägige Untersuchungen auszuführen
und eventuell Gutachten darüber auszustellen, damit geklagt werden kann.
In letzter Zeit bin ich in kurzen Zwischenräumen dreimal um solche Untersuchungen
angegangen worden. In einem Falle fährte mir ein Mann yom Lande seine Tochter, welche
16 Jahre alt war, zu, mit dem Ersuchen, sie zu untersuchen, indem in seiner Ortschaft
verleumderische Gerüchte über geschlechtliche'n Umgang derselben, deren Urheber er kenne,
ausgestreut worden seien, und er beabsichtige, eine Verleumdungsklage dagegen anzu-
strengen. Ich nahm die Untersuchung vor, und fand eine vollständig unversehrte, normal
gebildete Scheidenklappe, so dass ich ein entsprechendes Gutachten ausstellen konnte.
In einem anderen Falle kam ein 17jähriges Mädchen, auch vom Lande, ohne alle Be-
gleitung zu mir, mit dem Ansuchen, sie zu untersuchen, da in ihrer Ortschaft bezüglich ihrer
Jungfrauschaft verleumderische Gerüchte ausgestreut worden seien, gegen welche sie, die
nocli niemals fleischlichen Umgang gehabt habe, klagend auftreten werde. Die Unter-
suchung ergab vollkommene Virginität, und ich stellte ein entsprechendes Gutachten aus.
In einem dritten Falle endlich kam eine 21jährige Person mit ihrer Schwester zu
mir, aus dem Canton Freiburg, und zwar im Auftrage ihres bereits zur Klage bestellten
Anwaltes, welcher sie zur Untersuchung hieher sandte. Ich fand bei derselben ebenfalls
vollkommen unversehrten und wohl gebildeten Hymen und stellte ein entsprechendes Gut-
achten aus.
Aus diesen mitgetheilten Fällen ergibt sich die Qualität der Unter-
suchungsobjecte, welche insgesammt jüngere, geschlechtsreife weibliche
Individuen waren, denen an ihrer Geschlechtsehre sehr gelegen war.
Solche Untersuchungen müssen stets mit Vorsicht, um nicht selbst Ver-
letzungen zu machen, auf einem gynäkologischen Tisch, womöglich unter Mit-
hilfe einer zweiten Person, zum Auseinanderhalten der grossen Labien, aus-
geführt werden. Zur Untersuchung selbst finde ich am geeignetsten einen
S-förmig gekrümmten Catheder, der eventuell auch gleich zum Entleeren
der Harnblase gebraucht werden kann. Dass gute Beleuchtung zur Be-
sichtigung nothwendig ist, versteht sich von selbst.
Das wichtigste Gebilde nun, welches zur Feststellung der physischen
Virginität besonders in .Augenschein genommen und untersucht werden muss,
ist die sogenannte Scheidenklappe, eine vorspringende Schleimhautfalte, der
Hymen, welcher den untersten Theil der Scheide, den introitus vaginae, mehr
oder weniger verengt. Bei Kindern bildet diese Scheidenklappe gewöhnlich
einen Ring (ringförmiger Hymen) mit etwas excentrisch nach oben gelegener
Oefinung, durch welche ohne Zerreissung eine Sonde oder besser der vorhin
genannte Catheder eingeführt werden kann. Werden die Labien gegen-
einandergedrückt, so tritt diese Schleimhautfalte als ein scheinbar röhren-
förmiges Gebilde hervor, welche Form aber nicht auf einer besonderen
Formation der Klappe beruht. Bei den der Geschlechtsreife näher stehenden
weiblichen Individuen zeigt der Hymen eine mehr halbmondförmige Gestalt,
welche nicht so bei noch wenig entwickelten Kindern gefunden wird.
Dieser Hymen zeigt aber noch weitere Verschiedenheiten in der Art,
dass die Scheidenklappe bald dünn, bald dicker, wulstiger erscheint. Der
Rand der Oeffnung ist in den meisten Fällen ohne Einkerbungen oder
Vorragungen. Er kann am besten bei auseinandergezogenen Labien dadurch
in Sicht gebracht werden, dass man dieselben auf die eingeführte Catheder-
spitze bringt und mehr oder weniger spannt. In anderen Fällen ist der
Rand mehr oder weniger eingekerbt, gefranzt oder gelappt, welche Forma-
tionen deswegen von grosser forensischer Wichtigkeit sind, weil sie zu Ver-
wechslungen mit traumatischen Eimlssen Anlass geben können. Die Ent-
scheidung ist keineswegs immer ganz leicht, man muss hiebei berücksichtigen,
dass bei traumatischen Lacerationen symmetrische Verhältnisse sozusagen
immer fehlen, und dass bei diesen an der einen oder anderen Einkerbung
376 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
Spuren von Narbensubstanz aufgefunden werden können. Noch andere
Bildungen, wie der siebförmige, brückenförmige, mehrfach durchlöcherte
Hymen u. s. w. sind seltener und kommen daher weniger in Betracht.
Man wird ferner ausser der Scheidenklappe auch noch die Weite der
Scheide und ihre Dehnsamkeit zu untersuchen haben, was mit dem erwähnten
Catheder, oder bei weiterer Entwicklung der Geschlechtstheile mit dem kleinen
Finger geschehen kann.
Findet man in solchen Fällen eine gänzliche Unversehrtheit des Hymen,
so kann man behaupten, dass die Untersuchung der Genitalien keine Er-
scheinungen dargeboten hat, aus welchen auf einen schon stattgehabten fleisch-
lichen Umgang geschlossen werden könnte. Denn es ist erfahrungsgemäss,
dass eine immissio penis in die Scheide von Seiten eines erwachsenen
männlichen Individuums nicht wohl geschehen kann, ohne dass an irgend einer
Stelle der freie Rand der Scheidenklappe mehr oder weniger eingerissen
würde, was indessen bei grosser Schlaffheit und Dehnsamkeit der Genitalien
eines weiter entwickelten weiblichen Individuums nicht für eine Unmöglichkeit
erklärt werden könnte, hat man ja schon nach überstandenen Geburten den
Hymen noch unverletzt gefunden.
Auf der anderen Seite dürfte aber auch aus der Gegenwart von Ver-
letzungsspuren noch nicht geschlossen werden, dass eine Defloration, d. h.
Verlust der Virginität durch Coitus stattgefunden hat, da hymenale Ver-
letzungen auch auf andere Weise hervorgebracht werden können, worauf
daher bei solchen Untersuchungen Rücksicht zu nehmen ist. Masturbation
ist für die meisten Fälle auszuschliessen, da hiebei in der Regel nur Fric-
tionen stattfinden, und durch allfälliges Einbringen von Fingern nur
Dehnungen der hymenalen Oeffnung hervorgebracht werden, aber keine
Einrisse, welche der Schmerzhaftigkeit wegen vermieden werden. Dagegen
kommen Verletzungen durch mechanische Insulte der Genitalien, durch Stoss
oder Fall vor, wobei in der Regel noch andere Verletzungen in der Umgegend
vorhanden sind, welche aufklären.
Ich selbst hatte einen Fall der Art zu untersuchen Gelegenheit gehabt, der ein
ISjähriges Mädchen betraf, welches auf dem Stamme einer Tanne reitend beim Herunter-
rollen desselben von anderen Baumstämmen schwer an den Genitalien verletzt wurde,
indem ein kurzer vorstehender Baumast in die Scheide drang und diese perforirte. Da
Niemand bei dem Vorfalle anwesend war, so dachte man anfänglich an eine schwere Noth-
züchtigung, was aber sofort durch genauere Untersuchimg der Verletzungsverhältnisse
aufgeklärt wurde. Auch kam es vor, wovon mir gleichfalls ein Fall bekannt ist, dass bei
einem 18jährigen Mädchen, durch ungeschickte Untersuchung von einer Hebamme zur
Constatirung einer vermeintlichen Lageveränderung des Uterus, der Hymen eingerissen wurde
und dies Blutung zur Folge hatte.
4. Geschlechtsdelicte.
Die Geschlechtsdelicte als Vergehen und Verbrechen sind sehr häufig,
und gehen, bei uns wenigstens selten -Assisenverhandlungen vorüber, bei
welchen nicht Fälle von Sittlichkeitsvergehen oder -verbrechen vorkommen.
Je nach den Vorgängen, welche bei dieser Art von Gesetzesübertretungen
strafrechtlich in Betracht kommen, sind Beischlafshandlungen, un-
züchtige Handlungen und widernatürliche Unzucht zu unter-
scheiden.
a) Bei Schlafshandlungen.
1. Nothzucht. In allen Strafgesetzen, die hier in Betracht kommen,
sind Beischlafshandlungen, die gegen den Willen oder das Wissen der be-
treffenden Personen versucht oder ausgeführt werden, mit verhältnismässig
hoher Strafe belegt. Gemeinhin fasst man solche Vorgänge unter dem Namen
Nothzucht zusammen, obschon nicht alle der Neuzeit angehörenden
Strafgesetze dieses Ausdrucks sich bedienen. Derselbe ist aber so allgemein
eingebürgert und gebräuchlich und durch keinen anderen Ausdruck gleich-
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 377
werthig zu ersetzen, dass er in der Gerichtspraxis kaum entbehrt oder um-
gangen werden kann. Zur Orientirung in dieser Angelegenheit führen wir
folgende strafrechtliche Bestimmungen an.
Deutsches Strafgesetz. §. 177. Mit Zuchthaus wird bestraft, wer durch Gewalt
oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben eine Frauensperson
zur Duldung des ausserehelichen Beischlafs nöthigt, oder wer eine Frauensperson zum
ausserehelicGen Beischlaf missbraucht, nachdem er sie zu diesem Zwecke in einem willen-
losen oder bewusstlosen Zustand versetzt hat.
§. 17G. Mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren wird bestraft, wer eine in einem willen-
losen oder bewusstlosen Zustande befindliche oder geisteskranke Frauensperson zum ausser-
ehelichen Beischlafe missbraucht.
§. 178. Ist durch eine der in den §§. 176 und 177 bezeichneten Handlungen der
Tod der verletzten Person verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe nicht unter
10 Jahren oder lebenslängliche Zuchthausstrafe ein.
Oesterreichisches Strafgesetzbuch. §. 125. Wer eine Frauensperson durch
gefährliche Drohung, wirklich ausgeübte Gewaltthätigkeit oder arglistige Betäubung ihrer
Sinne ausser Stand setzt, ihm Widerstand zu thun, und sie in diesem Zustande zu ausser-
ehelichem Beischlafe missbraucht, begeht das Verbrechen der Nothzucht.
§. 126. Die Strafe der Nothzucht ist schwerer Kerker zwischen 5 und 10 Jahren.
Hat die Gewaltthätigkeit einen wichtigen Nachtheil der Beleidigten an ihrer Gesundheit
oder gar am Leben zur Folge gehabt, so soll die Strafe auf eine Dauer zwischen 10 und
20 Jahren verlängert werden. Hat das Verbrechen den Tod der Beleidigten verursacht,
so tritt lebenslanger schwerer Kerker ein.
Der österreichische Strafgesetz-Entwurf. Die Bestimmungen sind ganz
ähnlich denjenigen im deutschen Strafgesetz.
Man ersieht aus diesen Bestimmungen, dass die Strafen gegen diese
Art der Beischlafshandlungen sehr hohe sind, und dass daher bei dem ge-
richtlich-medicinischen Nachweis derselben sehr sorgfältig zu Werke gegangen
werden muss, um so mehr, als erfahrungsgemäss aus Gewinnsucht oder anderen
nichtswürdigen Motiven nicht selten fälschlich Nothzüchtigung angegeben wird.
Im Uebrigen ist die Bestrafung dieses Verbrechens in der neueren Zeit gegen-
über derjenigen zur Zeit der Carolina viel geringer geworden. Dass Nothzucht
aber immer noch als ein Verbrechen angesehen und bestraft wird, ist gewiss
berechtigt, wenn man bedenkt, dass eine wirklich stattgehabte Nothzüchtigung
das weibliche Individuum nicht nur ihrer physischen Virginität beraubt, son-
dern auch der Schwängerung und Infection aussetzt.
Bei einer Beischlafshandlung in physiologischem Sinne wird voraus-
gesetzt immissio penis in vaginam und ejaculatio seminis in dieselbe.
Die gerichtlich-medicinischen Aufgaben zur Feststellung der thatsäch-
lichen Verhältnisse bei der Nothzüchtigung sind nun:
1. Nachweis einer stattgehabten Beischlafshandlung,
2. Nachweis der zur Ausführung derselben gegen Willen oder Wissen
der betreffenden Person angewandten Mittel und endlich
3. Nachweis allfälliger nachtheiliger Folgen.
ad 1. Bei dem Nachweis einer stattgehabten Beischlafshandlung
zu strafrechtlichen Zwecken ist es durchaus nicht nothwendig, ein stuprum
consumatum nachzuweisen, denn schon der Versuch dazu, das stuprum atten-
tatum, ist strafbar. Auch ist man schon längst davon abgegangen, bei einer
solchen Handlung zum Beweise derselben eine immissio seminis in vaginam
zu verlangen, denn dieser Nachweis wäre in den wenigsten Fällen zu erbringen,
ja nach deutschen Reichsgerichtsentscheidungen der neueren Zeit genügt für
den Versuch einer Beischlafshandlung schon das blosse Andrängen des Gliedes
gegen den Scheideneingang.
Natürlich wird man bei solchen Untersuchungen immer so viel als
möglich darauf bedacht sein, eine immissio penis in vaginam durch allfällig
vorhandene Verletzungen am Scheideneingang, resp. am Hymen, zu consta-
tiren und Spuren von einer ejaculatio seminis zu entdecken, im Scheidenschleim
oder an den Kleidungsstücken, resp. dem Hemd des genothzüchtigten Indi-
378 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
viduums. Die Auffindung von Samenflüssigkeit im Scheidenschleim der betreffen-
den Person würde eine so rasche Untersuchung voraussetzen, wie sie in
richterlichen Fällen kaum möglich wäre, und kommt daher gewöhnlich nicht
vor. Nur in einem mir bekannt gewordenen Falle, wo das missbrauchte
Mädchen sogleich von einem herbeigerufenen Arzte untersucht werden konnte,
fand derselbe Spermatozoen im Genitalschleim. Selbst das Hemd, welches die
betreffende Person während des Vorfalles getragen hat, kann nicht immer zur
Untersuchung erhalten werden, weil die Untersuchung solcher Vorkommnisse
öfters so spät geschieht, dass das Hemd schon gewaschen ist.
Es muss daher als Regel gelten, dass in Nothzuchtsfällen nicht zuerst
nach allen Richtungen hin Abhörungen vorgenommen und erst schliesslich
Sachverständige zugezogen werden, sondern dass diese sobald als möglich zu
Untersuchungen beizuziehen sind. Namentlich ist das noch besonders wichtig
wegen allfällig vorhandener Verletzungen, die weitaus in der Mehrzahl der
Fälle, namentlich diejenigen der Scheidenklappe, nicht bedeutend sind und
sehr rasch, schon nach vierzehn Tagen bis drei Wochen vernarben, so dass
man wohl die Gegenwart von Narben constatiren, aber nicht mehr genauer
angeben kann, wann die Verletzungen entstanden sind, was selbstverständlich
sehr fatal ist, weil unter solchen Verhältnissen die Behauptung, dass die Be-
treffende schon früher deflorirt gewesen sei, nicht mit Sicherheit zurückgewiesen
w^erden könnte.
Zur Constatirung allfällig vorhandener Verletzungen verfährt man in
gleicher Weise, wie schon oben angeführt worden ist, bei der zweifelhaften
Jungfrauschaft. Dabei sind die Persönlichkeiten zu berücksichtigen, welche
zur Untersuchung kommen, und dabei sind zu unterscheiden verheirathete
Frauen, welche missbraucht worden sind, bei welchen nur zu untersuchen
ist, ob von ihrer Vergewaltigung Verletzungsspuren am Körper vorhanden
sind. Freilich sollte in solchen Fällen auch der stuprator untersucht werden.
In einem Falle behauptete eine verheirathete Frau, welche bei einer Assisenver-
handlung wegen Schändung als Zeugin geladen war, dass der auf der Anklagebank sitzende
sie auch einmal im Walde, als sie Holz sammelte, habe missbrauchen wollen, sie habe sich
aber gewehrt und ihn in den rechten Arm gebissen, man solle nur nachsehen, die Narben
werden sich wohl noch finden. Vom Präsidenten aufgefordert, die Sitzung war nicht
öffentlich, gleich nachzusehen, ob sich das so verhalte, Hess ich dem Betreffenden den Rock
abziehen, schlug den Hemdärmel hinauf und konnte den Geschworenen eine sehr deut-
liche Narbe von Zähnen des Ober- und Unterkiefers zeigen, welche in der Längenrichtung
des Armes lagen.
Das grösste Contingent von Persönlichkeiten, welche zur Untersuchung
kommen, liefern Kinder von wenigen Jahren an bis zur beginnenden Geschlechts-
reife. Bei diesen sind die Geschlechtstheile in der Regel noch so wenig aus-
gebildet, und ist die hymenale Oeffnung so klein, dass von einer immissio
penis gar keine Rede sein kann, und die Betreffenden das Glied nur gegen
den Scheideneingang anstossen, oder an den Genitalien das Glied reiben, bis
eine ejaculatio seminis stattfindet, worüber man von den Kindern selbst die
entsprechende Auskunft erhalten kann, indem sie angeben, der Betreffende
sei auf ihnen gelegen, habe gegen ihre Geschlechtstheile gestossen, es habe
ihnen keine Schmerzen verursacht, auch hätten sie kein Blut bemerkt, wohl
aber seien sie nass geworden. In solchen Fällen findet man gewöhnlich
keine Verletzungen am Hymen, nur höchstens mehr oder weniger Röthung
der äussern Genitalien, das Kind klagt auch wohl über einige Schmerzen
beim Wasserlassen und Gehen. Ist man im Besitz des Hemdes des Kindes,
das es zur Zeit des Vorfalles getragen, so können an demselben Spuren von
Samenflecken gefunden werden, die näher in Bezug auf Spermatozoen zu
untersuchen sind.
Sind die Kinder etwas älter, über 10 und mehr Jahre alt, dann kann
der Versuch des Eindringens des Gliedes mehr oder weniger gelingen, und
findet man in Folge dessen den Rand der hymenalen Oeffnung mehr oder
f GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 379
weniger eingerissen an einer einzelnen oder an mehreren Stellen, häufiger,
nach unseren Fällen, am oberen Umfang der Oeftnung als am unteren.
Bei einem 12jährigen Mädchen, dessen Genitahen noch ganz einen infantilen Cha-
rakter hatten, das sich in einer Anstalt befand, und das von einem dort angestellten
Arbeiter monatelang zu unzüchtigen Handlungen, namentlich durch Fingereinführungen
missbraucht und schliesshch von demselben stuprirt wurde, fand ich keine Zerreissung
der hymenalen Oeffnung, aber eine solche Weite und Dehnsamkeit derselben, dass ich be-
quem, ohne Schmerzen zu erregen, den Zeigefinger in die Scheide führen konnte. Das
Mädchen gab an, bei diesen Fingermanipulationen niemals Schmerzen empfunden zu haben.
Der Hymen war etwas fleischig, es muss daher nach und nach durch die häufigen schmerz-
los ausgeführten Fingermanipulationen eine solche Erweiterung des Scheideneinganges
herbeigeführt worden sein, dass das Glied, ohne hymenale Verletzungen zu bewirken, in die
Scheide eingeführt werden konnte. Das Mädchen gab an, als ich den Zeigefinger in die
Scheide eingeführt hatte, dass der Betreffende ebenso tief mit seinem Gliede eingedrungen
sei. Ich erklärte unter diesen Umständen eine stattgehabte immissio penis nicht nur für
möglich, sondern für sehr wahrscheinhch, und der wegen Nothzucht in Untersuchungshaft
befindliche Angeschuldigte gab zu, mit dem Mädchen den Coitus ausgeführt zu haben.
Es ist also nach diesem Falle möglich, dass auch infantile weibliche
Genitalien durch fortgesetzte Erweiterungsversuche so dilatirt werden können,
dass eine immissio penis, ohne Lacerationen zu bewirken, geschehen kann.
Dass bei ausgewachsenen Individuen bei weiter hymenaler Oeffnung und
Schlauheit der Scheide etwas der Art vorkommen kann, ist schon früher
angegeben worden.
Eine dritte Kategorie von Personen, welche in Nothzuchtsfällen zur
Untersuchung kommen können, sind ausgewachsene weibliche Individuen, bei
welchen mit verhältnismässig geringer Gewaltanwendung ein erigirtes Glied
in die Scheide gebracht werden kann, freilich nicht ohne mehr oder weniger
Einrisse in dem Rande der hymenalen Oeffnung zu bewirken, wobei mehr
oder weniger Blutung stattfindet. In solchen Fällen kann man sagen, dass
eine Beischlafshandlung stattgefunden hat, und zwar, wenn die Einrisse noch
frisch sind, vor ganz kurzer Zeit.
In einzelnen Fällen wird vom Richter auch noch die Frage gestellt, ob
sich aus der Beschaffenheit der Genitalien ergibt, dass nicht nur eine ein-
malige Beischlafshandlung stattgefunden hat oder ob der Coitus schon mehr-
mals muss ausgeübt worden sein. Man könnte hier daran denken, dass bei
mehrmals ausgeübtem Coitus der Hymen immerhin mehrfach eingerissen und
die Scheide erweitert sein müsste. Allein in dieser Beziehung könnte man
sich täuschen, wollte man, auf solche Zustände gestützt, auf einen mehrfach
ausgeübten Coitus schliessen, denn schon beim ersten Mal kann der Hymen
mehrfach eingerissen sein, und die Erweiterung der Scheide erfolgt keineswegs
so rasch, denn bedeutende Verletzungen des Hymens und merkbare Erwei-
terung der Scheide treten erst nach stattgehabten Geburten ein. Erst nach
diesen findet man die carunculae myrtiformes als Ueberreste des Hymens.
ad 2). Was die Mittel anbetrifft, welche zur Ausführung einer Bei-
schlafshandlung gegen den Willen oder ohne Wissen der betreffenden Person
in Anwendung gekommen sind, so ist als erstes anzuführen die physische
Vergewaltigung, mit oder ohne Drohung. Die Häufigkeit dieses Vor-
kommnisses wird bewiesen dadurch, dass die meisten Fälle von Nothzucht
Kinderbetreffen, und die Vergewaltigung ausgewachsener, weiblicher Individuen
geradezu eine Seltenheit ist. Alle statistischen Angaben hierüber, wie wir sie
von Casper-Liman, Tardieu u. A. kennen, und womit auch unsere eigenen
zahlreichen Erfahrungen übereinstimmen, bestätigen dieses Verhältniss und ist
ja leicht einzusehen, dass Kinder durch Drohungen sich leicht einschüchtern
lassen, zumal wenn ihnen noch Anderes zur Willfährigkeit vorgespiegelt wird,
und dass von irgend einer erfolgreichen Gegenwehr keine Rede sein kann.
Unter 406 von Casper-Liman *) angeführten Fällen waren von 2V2— 3 Jahren 8, von
3—8 Jahren 64, von 7— lO Jahren 161, von 11—12 Jahren 59, von 13—14 Jahren 60,
k
*) Handb. 7. Aufl. 1881. S. 104.
380 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE,
von 15 — 18 Jahren 35, von 19 — 25 Jahren 14, von 30 Jahren 1, von 32 Jahren 1, von
35 Jahren 1, von 47 Jahren 1, von 68 Jahren 1. Also mehr als TO^/o unter 12 Jahren und.
mehr als 24'^/^, unter 14 Jahren.
Bei dieser Besprechung der Vergewaltigung weiblicher Individuen zur
Ausführung einer Beischlafshandlung ist immer auch die Frage erörtert worden,
ob ein erwachsenes normal gebildetes Frauenzimmer von einem einzelnen
Manne genothzüchtigt werden könne. Diese Frage kann weder einfach be-
jaht noch verneint werden, denn es kommt im Einzelfalle immer auf die Ver-
hältnisse an, unter welchen der Gewaltsact versucht oder vorgenommen wurde.
Gewiss ist anzunehmen, dass ein ausgewachsenes, normal gebautes und ge-
sundes Frauenzimmer einem Manne von gewöhnlichen Körperverhältnissen
gegenüber, wenn keine anderen das Leben bedrohenden oder betäubenden
Mittel, als Würgen, Schläge auf den Kopf, Verdeckung des Gesichtes durch
Kleidungsstücke u, s. w. in Anwendung gebracht werden, wohl immer im
Stande sein wird, einen Coitus zu verhindern, wenn es wirklich will. Allein
in manchen Fällen trifft letzteres nicht zu, und in anderen sind grosse körper-
liche Missverhältnisse vorhanden, oder das weibliche Individuum ist wegen
Krankheitszuständen oder wegen besonderer äusserer Verumständungen u, s. w.
nicht widerstandsfähig. Obige Frage kann daher, wie gesagt, weder einfach
bejaht noch verneint werden. Einige Beispiele aus eigener Erfahrung mögen
zur Illustration dienen.
Zwei ausgewachsene, in den zwanziger Jahren befindliche Mädchen vom Lande,
Schwestern, gesund und kräftig gebaut, wurden von einem im selben Hause wohnenden
Metzger geschwängert. Sie machten von ihren Schwangerschaften bei dem Ortspfarrer,
wie vorgeschrieben ist, Anzeige. Dieser versäumte natürlich nicht, den Schwestern Vor-
stellungen zu machen, dass sie sich so haben verführen lassen. Sie entgegneten, es sei
nicht ihre Schuld, man habe sie zum Umgang gezwungen. Sofort machte der Pfarrer
Anzeige an das Untersuchungsrichteramt wegen vorgekommener Nothzüchtigung und
Schwängerung. Die Schwestern wurden citirt und uns zur Untersuchung überwiesen, mit
der Aufgabe, zu begutachten, ob nach der Körperlichkeit der betreffenden Personen die An-
nahme einer Vergewaltigung derselben anzunehmen sei. Der Betreffende, dessen Unter-
suchung ich auch verlangte, konnte mir nicht vorgestellt werden, da er aus guten Gründen
verschwunden war. Kach Constatirung der oben angegebenen körperlichen Verhältnisse der
Schwestern und des sehr einfachen stattgehabten Vorganges gab ich mein Gutachten dahin
ab, dass die Körperverhältnisse der betreffenden Personen die Annahme einer physischen
Vergewaltigung derselben durch einen einzelnen, wenn auch kräftigen Mann nicht als
glaubwürdig angenommen werden könne. Aus den Abhörungen der Schwestern führe ich
an, dass die eine unter Anderm sagte: „ich wehrte mich, so gut ich konnte und schrie auch,
aber nicht laut," Die andere sagte: „Anfänglich war es mir nicht recht, ich liess es
aber schliesslich geschehen, ich schrie zuweilen nur im Anfang." Diese Aussagen be-
dürfen keines Commentars.
In einem anderen Falle hatte ein junger Arbeiter, Spengler seines Berufes, in einem
Hause, in welchem augenblicklich Niemand als eine 20jährige Tochter war, die an chro-
nischer Polyarthritis litt, so dass sie weder Arme noch Beine, ohne Schmerzen zu empfinden,
bewegen konnte und auf einem Stuhle sass, nachdem seine Anträge zurückgewiesen wurden
und er die Unbehilflichkeit der Betreffenden bemerkte, diese gewaltsam genommen, auf ein
Piuhebett gelegt und trotz aller Protestationen missbraucht. Ich hatte die Person zu unter-
suchen und fand frische Einrisse im Hymen und den Bestand des genannten Krankheits-
zustandes und gab demgemäss mein Gutachten ab.
Man wird daher in solchen Fällen stets genau zu untersuchen haben,
wie sich die Sache verhalten hat, und ist womöglich auch immer der angebliche
Stuprator in Augenschein zu nehmen, um seine Körperlichkeit kennen zu
lernen, sowie auch Grösse und Form seines Gliedes, resp. der Eichel, und am
allfällige Verletzungsspuren von stattgefundener Gegenwehr aufzufinden. Solche
Untersuchungen müssen umsomehr mit Umsicht gemacht werden, als so häufig
Nothzüchtigungen zur Entschuldigung geschlechtlicher Vergehen, eingetretener
Schwangerschaften oder aus anderen Motiven behauptet werden.
Ausser der physischen Vergewaltigung kommt noch eine Reihe anderer
Vorgänge in Betracht, welche zu einer Beischlafshandlung ohne Wissen
der betreffenden Person führen können, wohin der Coitus in der Trunkenheit,
in der Schlaftrunkenheit, in einer Narkose oder in einem hypnotisirten Zu-
stande gehören.
f GESCHLECHTSVERHÄLTiNLSSE. 381
Dass der Beischlaf mit einer in höherem Grade betrunkenen Person
ausgeführt werden kann, ohne dass dieselbe nachher eine Erinnerung davon
hat, ist nicht zu bez^Yeifeln. In Kindsmordfällen begegnet man sehr häufig
von Seiten der Angeklagten der Behauptung, dass sie sich eines stattgefun-
denen Umganges nicht bewusst sei, sich nicht erinnern könne. Dass in
manchen Fällen diese Angabe nur eine Entschuldigung ist für Nichtbeachtung
der gefolgten Schwangerschaft, ist ebenso sicher, als dass in einzelnen Fällen
die Verhältnisse so bestanden, dass an eine Vortäuschung eines derartigen
Zustandes nicht gedacht werden kann. Einen derartigen Fall habe ich schon
bei der unbewussten Schwangerschaft mitgetheilt. Es versteht sich von
selbst, dass eine solche Angabe von Seiten der betreffenden Personen nur dann
als glaubwürdig angenommen werden könnte, wenn sich mit mehr oder weniger
Sicherheit nachweisen lässt, dass die Betreffende in einem bewusstlosen Zu-
stande sich befunden hat, so dass sie der Einzelheiten des Vorganges sich gar
nicht mehr erinnern kann.
Dass narkotische oder bewusstlos machende Mittel, wie Morphium,
Chloroform, Aether, Chloralhydrat, Bromäthyl u. s. w. zur Ausführung einer
Beischlafshandlung benützt werden können, ist selbstverständlich und bedarf
es nicht der Anführung einzelner Fälle, um hiefür den Beweis zu leisten.
Da namentlich bei Ausübung der Zahnheilkunde häufig Gelegenheit gegeben
ist, vor Operationen bewusstlose Zustände herbeizuführen, wird es immer zweck-
mässig sein, um Nachreden zu entgehen, diese Unempfindlichmachung nicht
ohne Zeugen vorzunehmen.
Auch der Hypnotismus kann unter Umständen einen schlafähnlichen
Zustand herbeiführen, welcher zur Ausführung eines für die betreffende Person
unbewussten Coitus benutzt werden könnte. Doch setzt die Herbeiführung
derartiger Zustände von hypnotischem Schlaf nach unseren Erfahrungen we-
nigstens besondere, meist hysterische Individuen, sogenannte Medien, voraus, so
dass durch Hypnotismus nicht so leicht ein Zustand herbeizuführen ist, welcher
eine unbewusste Nothzüchtigung ermöglichen könnte. Es müsste daher in
solchen Fällen nicht blos der Hypnotiseur, sondern auch sein Medium in ge-
naue Untersuchung genommen werden.
Dem Hypnotismus schliessen sich der natürliche Schlaf und die
Schlaftrunkenheit an. Heutzutage kann nicht mehr die Frage ge-
stellt werden, ob eine nicht deflorirte Person im natürlichen, wenn auch festen
Schlafe genothzüchtigt werden kann, ohne davon etwas zu bemerken, so dass
also eine unbewusste Nothzüchtigung stattgefunden hätte. Wohl ist es
möglich, dass bei einer in festem Schlaf befindlichen Frauensperson, die nicht
deflorirt ist, der Versuch zu einer Nothzüchtigung gemacht werden könnte,
dass aber der ganze Act auszuführen wäre, ohne dass die betreffende Person
etwas davon bemerkte und nicht etwachte, davon kann keine Rede sein.
Eher könnte etwas der Art bei verheiratheten Frauen vorkommen, bei
welchen das Eindringen des Gliedes schmerzlos geschehen kann, zumal wenn
dabei noch im Zustande der Schlaftrunkenheit die Frau daran denken
könnte, dass es sich bei diesem Vorgange um ihren Ehemann handle, wovon
schon mehrere Geschichten erzählt und selbst poetisch behandelt worden sind.
Allein selbst bei Frauen, wenn an den Ehemann wegen dessen Abwesenheit
nicht gedacht werden kann, wird es nicht wohl vorkommen, dass sie von
einem Anderen ohne ihr Wissen beschlafen werden können. Jedenfalls
würden derartige Angaben der Glaubwürdigkeit entbehren. Ich kann folgenden
einschlägigen Fall anführen.
Ein verheiratheter Arbeiter gestattete einem ihm befreundeten Arbeiter, der augen-
blicklich kein Unterkommen hatte, bei ihm im gleichen Zimmer, in welchem er mit seiner
Frau schlief, auf einem Ruhebett zu übernachten. Des Morgens früh musste der Mann fort
und Hess seine Frau schlafend in dem zweischläfrigen Bett zurück, und auch der Arbeiter
blieb auf dem Ruhebett schlafend zurück. Nach einiger Zeit erhob sich dieser und wollte
382 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
sich, zu der noch festschlafenden Frau, ins Bett legen. Er deckte sie ab, brachte ihre
Beine auseinander, zwischen denselben knieend, und wollte den Coitus ausüben, da wachte
die Frau auf, sträubte sich mit allen Kräften gegen den auf ihr liegenden Angreifer, der-
selbe suchte sie zu bewältigen und scheint es bis zur ejaculatio seminis gebracht zu haben,
denn die Frau gab nachher an, nass gewesen zu sein. Schliesslich entfernte sich der Ar-
beiter, es wurde eine Anzeige gemacht und in Folge dessen eine Anklage auf Nothzucht
erhoben. In Folge des heftigen Kampfes, welchen die Frau mit dem Angreifer hatte, klagte
dieselbe über Schmerzen in beiden Hüftgelenken, und ich wurde richterlich beauftragt, die
Frau zu untersuchen und zu constatiren, ob sich an derselben Spuren der stattgehabten
Vergewaltigung vorfinden, und ob die von ihr beklagten Schmerzen in den Hüftgelenken
als Folge des Vorfalles zu betrachten seien. Ich musste die Schmerzen in den Becken-
gelenken als traumatische Folgen der heftigen Beckenbewegungen der Frau betrachten und
bezeichnete sie als Folgen der heftigen Gegenwehr. Andere Verletzungsspuren fanden sich
keine. Vom Schwurgericht wurde der Arbeiter wegen verübter Nothzucht verurtheilt.
ad 3. Die Folgen stattgehabter NothzüchtiguDg können sehr verschiedene
sein, bald ganz unbedeutende, namentlich bei Kindern, mitunter aber auch
sehr bedeutende, ja unter Umständen tödtliche.
Wenn bei einer Nothzüchtigung eine immissio penis in vaginam statt-
gefunden hat, was ein geschlechtsreifes oder wenigstens der Geschlechtsreife
nahestehendes Individuum voraussetzt, so ist die erste nachtheilige Folge
für das Individuum die Defloration, d. h. Verlust des Zeichens der phy-
sischen Yirginität der Betreffenden, welcher Verlust zeitlebens ein blei-
bender ist.
Eine weitere mögliche Folge, welche auch ein geschlechtsreifes Indi-
viduum voraussetzt, ist die Schwängerung. Zwar hat der erste Coitus
weitaus in der Mehrzahl der Fälle keine Conception zur Folge, aber aus-
nahmslos ist diese Erfahrung keineswegs, und mir selbst sind zwei Fälle be-
kannt, in welchen einer Nothzüchtigung Schwangerschaft gefolgt ist. Es
werden daher unter solchen Verhältnissen, d. h. wenn der Fall nicht Kinder
betrifft, von den Untersuchungsbeamten gewöhnlich auch in ihren Anschreiben
Fragen in Bezug auf allfällige Schwängerung gestellt.
Weiterhin sind als Folgezustände zu erwähnen Entzündungen der
Genitalien, entweder nur der äusseren oder auch der inneren, doch sind hiebei
sehr verschiedene Vorkommnisse zu unterscheiden, je nach dem Alter der
Individuen, der Art des geschlechtlichen Missbrauches, und je nachdem der
Stuprator an venerischen Aff'ectionen gelitten hat.
Bei kleineren Kindern, bei welchen wegen Enge der Scheide und des Scheideneinganges
eine immissio penis ohne grössere Verletzungen gar nicht möglich ist, bemerkt man nur die
Folgen einer Friction an den äusseren Genitalien des Kindes, als Röthung, Schwellung,
Schmerzhaftigkeit der Labien und des introitus vaginae, wodurch auch das Gehen und
Wasserlassen mehr oder weniger empfindlich werden. Wird das erigirte Glied an den
Genitalien nicht blos gerieben, sondern auch angestossen, wie zum Eindringen, so können
auch Sugillationen an den grossen Labien gefunden werden.
Zerreissungen des Hymens bei älteren Mädchen haben meistens keine
erhebliche entzündliche Keizung zur Folge und verlieren sich bald nach we-
nigen Tagen.
Bei intensiven und wiederholten Frictionen an den äusseren Genitalien
haben wir in einem Falle bei einem Kinde ausgedehntes Eczera an den Labien,
an der Unterbauchgegend und auch an den Nates gefunden, wofür nur eine
mechanische Einwirkung in Anspruch genommen werden konnte.
Sehr häufig findet man bei Kindern, welche wegen Nothzuchtsversuchen
zur Untersuchung kommen, Ausflüsse aus den Genitalien, deren Natur
zweifelhaft sein kann, und es entsteht die Frage, ob der Ausfluss rein als Folge
traumatischer Reizung anzusehen ist, oder ob ein Scheidenkatarrh vorliegt,
oder ob es sich um eine Infection durch Gonococcen handelt.
Traumatische Ausflüsse, welche nicht selten wesentlich durch Unrein-
lichkeit herbeigeführt und unterhalten werden, haben in ihrem Verlaufe nichts
Besonderes, und sind meistens von kürzerer Dauer. Sie hängen mit der
Stärke des mechanischen Insultes zusammen.
[ GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 383
Schleimige und schleimig-eitrige Ausflüsse als Folge von Scheiden-
katarrhen kommen, absehend von Desquamationskatarrhen, welche hin und wieder
bei Neugeborenen beobachtet werden, bei Kindern, namentlich der unteren Volks-
classen, sehr häufig vor, durch Erkältungen wegen mangelhafter Bekleidung
veranlasst und durch Unreinlichkeit unterhalten, welche namentlich bei scro-
phulöser Anlage sich öfters wiederholen, aber mit einer stattgehabten Infec-
tion durch einen Stuprator in keinem Zusammenhang stehen. Die äusseren
Genitalien sind in Folge mangelhafter Reinlichkeit mit Krusten bedeckt, die
Entzündungserscheinungen sind meistens gering.
Anders verhält es sich mit infectiösen eitrigen Ausflüssen. Hier besteht
eine deutlich ausgeprägte Vulvitis und Vaginitis, mitunter auch noch Uret-
hritis und ist der Zustand überhaupt bedeutender, dehnt sich selbst über die
Uterinschleimhaut aus und kann peritonitische Reizung nach sich ziehen.
Die Diagnose ergibt sich hauptsächlich durch die bacteriologische Unter-
suchung, welche in den meisten Fällen Gonococcen bei Behandlung nach der
GEAM'schen Methode erkennen lässt. Der Ausfluss ist eitrig, rahmartig.
Wenn eine solche Aflfection bei einem Kinde nach Vorausgang eines Stup-
rums eingetreten ist, so ist selbstverständlich auch der Stuprator zu unter-
suchen, und zu constatiren, ob derselbe zur Zeit des Vorganges mit einem
Tripper behaftet war. Werden bei diesem auch Gonococcen gefunden, so ist
die Provenienz derselben bei dem inficirten Kinde kaum zweifelhaft. Doch
kann es vorkommen, dass bei dem Stuprator keine Gonococcen gefunden, über-
haupt auch keine Beweise für einen vorausgegangenen Tripper erbracht
werden können, trotz genauester Untersuchung des Harnröhreninhaltes und
des in die Harnröhre gepressten Secretes der Prostata und trotz der Unter-
suchung sogenannter Tripperfäden im Urin. Gleichwohl dürfte daraus noch
nicht geschlossen werden, dass die Infection nicht von dem Stuprator her-
rühren könne, da das Verschwinden der Gonococcen aus pathologischen Secreten
kein seltenes und überhaupt noch nicht hinreichend gekanntes ist.
Ein lljähriges Mädchen, M. G., wurde am 25. Juni 1892, abends, von einem gewissen
Gf. in der Weise missbraucht, dass er dem Mädchen die Kleider aufhob und dasselbe an
seine entblössten Genitalien andrückte, wobei es eine warme Nässe empfand. _ Am 27. Juni
wurde das Kind zu einem Arzle gebracht, nach dessen Zeugniss das Hemd in der Gegend
der Genitalien mit Eiterflecken bedeckt war, und die innere Seite der Oberschenkel, sowie
die grossen Labien und die vulva geröthet und von Eiter und Eiterkrusten beschmutzt
erschienen, der Hymen ebenfalls geröthet und geschwollen, aber nicht verletzt. Am 29. Juni
constatirte der betreffende Arzt Abnahme der Entzündung der äusseren Genitalien, dagegen
klagte das Kind über Schmerzen im Unterleib und hatte 39° T. Arn selben Tage wurde
das Kind in die hiesige Frauenklinik gebracht und von uns am 2. Juli daselbst untersucht.
Die Genitalien hatten noch infantilen Charakter, von krankhaften Veränderungen consta-
tirten wir noch einige weissgelbliche Borken an den grossen Labien, eitriger Ausfluss aus
der Scheide. Die Scheidenklappe noch lebhaft geröthet und geschwollen, ebenso der Scheiden-
eingang, der Hymen unverletzt, geringe Empfindlichkeit der Unterbauchgegend, beim
Wasserlassen etwas brennender Schmerz. Die im hiesigen bacteriologischen Institut durch
Herrn Prof. Tand vorgenommene Untersuchung des eitrigen Ausflusses ergab sehr viele
gonococcenhaltige Eiterkörperchen. Auf unsere Veranlassung wurde nun auch am 8. Juli
der Angeschuldigte untersucht und da fanden sich bei demselben keine Spuren eines vor-
handenen oder dagewesenen Trippers und weder in der Harnröhre noch in den expri-
mirten Prostatasecret wurden von Herrn Tand Gonococcen gefunden. Wir gaben unser
Gutachten dahin ab, dass bei dem Kinde wohl ein Andrücken der Genitalien des An-
geklagten an diejenigen des Mädchens M. G. stattgefunden haben kann, dass aber eine
immissio penis nicht geschah, dass das Kind an einer gonorrhoischen Affection der Genita-
lien leide, deren Anfang mit dem stattgehabten Vorgang am 25. Juni zusammenfällt, dass
aber nach dem Ptesultat der Untersuchung des Angeklagten die Provenienz der inficiren-
den Gonococcen nicht auf diesen bezogen werden könne. Er wurde wegen Versuchs zur
Nothzucht verurtheilt.
Kommen bei Kindern gonorrhoische Affectionen an den Geschlechts-
theilen vor, ohne dass vorher ein nachweisbares Stuprum stattgefunden hat, so
kann aus jenen allein doch keineswegs geschlossen werden, dass ein Stuprum
stattgefunden haben müsse, da zahlreiche Möglichkeiten bestehen, wie noch auf
384 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
andere Weise eine solche Infection hervorgerufen worden sein konnte, nament-
lich durch Zusammenschlafen des inficirten Individuums mit an gonorrhoischen
Ausflüssen behafteten Personen oder durch Gebrauch von Gegenständen, an
welchen sich Ueberreste solcher Ausflüsse befinden, wie am Bettzeug, an
Waschschwämmen u. s. w., wovon mehrere Beispiele bekannt sind.
Seltenere venerische Infectionen bei Nothzächtigungen sind der weiche und harte
Schanker, welche zu erheblichen ülcerationen und Substanzverlusten führen, und auch zu
Verwechslungen mit diphtheritischen Localisationen und mit Noma Anlass geben können.
Der weiche Schanker findet sich gewöhnlich an den Labien, am Scheideneingang
und an der hinteren Commissur. Dieser Sitz hat nichts besonderes Charakteristisches, da
an diesen Stellen auch andere geschwärige Affectionen vorkommen, die nichts Specifisches
haben. Für einen weichen Schanker spricht nicht bloss die längere Dauer der Äffection,
sondern auch das mitunter rasche Umsichgreifen der Schwärung. Der harte Schanker ent-
wickelt sich nur sehr allmälig, so dass die Infection nicht einmal gleich anfänghch erkannt
werden kann.
Während weitaus in den meisten Fällen versuchte und ausgeführte Noth-
zucht nur mit geringen Verletzungen an den Genitalien verbunden ist, kommen
doch auch Fälle vor, in welchen der Vorgang mehr oder weniger bedeutende
Verletzungen, ja selbst den Tod des missbrauchten Individuums zur Folge hat.
Es sind hier zwei Arten von Verletzungen zu unterscheiden, einerseits solche,
welche zum Zwecke der Ausführung der Beischlafshandlung oder zur Ver-
deckung derselben ausgeführt werden, andererseits solche, welche diese Be-
deutung nicht haben können, sondern lediglich zur Steigerung des Wohllust-
gefühls dienen und allein die sogenannten Lustmorde begründen.
Die Verletzungen der ersten Art bestehen theils darin, dass die Genitalien, wenn sie
wie bei Kindern noch zu wenig ausgebildet und zu klein sind, um eine immissio penis
zu gestatten, gewaltsam mit den Fingern ausgedehnt, aufgerissen oder auch aufgeschnitten
werden, theils darin, dass die Luftwege verschlossen werden, um das Schreien zu ver-
hindern, sei es dass die Betreffende gewürgt oder erwürgt werde, oder dass man das
Gesicht mit Kleidungsstücken bedeckt, oder Fremdkörper in den Mund stösst, oder dass
man, wenn der Coitus von hinten versucht wird, das Gesicht auf den Boden, oder im
Bett auf Kissen drückt u. s. w. Von allen diesen Vorkommnissen sind Beispiele bekannt.
Die Lustmorde sind im Ganzen selten. Sie werden im Zusammenhang
mit Beischlafshandlungen ausgeführt, bald unmittelbar vor denselben, bald
während derselben oder nach denselben. Solche Unthaten beruhen auf Aberra-
tionen des Geschlechtstriebes, denen abnorme psychische Zustände zu Grunde
liegen, die aber in den wenigsten Fällen eine Unzurechnungsfähigkeit be-
gründen könnten. Krafft-Ebing hat eine solche Geschlechtsbefriedigung mit
Misshandlung des weiblichen Individuums als Sadismus bezeichnet. Sie mahnt
an einen thierischen Coitus mit rücksichtsloser Behandlung des weiblichen
Individuums. Zur Illustration des Gesagten theile ich folgenden mir vor-
gekommenen Fall von Lustmord mit, der gewiss seinesgleichen sucht
Am 3. Dec. 1890 wurde Morgens nach einem vorausgegangenen grossen Markt-
tage um 4^/2 Uhr in der Nähe von Bern auf einem theilweise durch einen Wald führenden
Wege unterhalb der Böschung des Fussweges eine weibliche Leiche aufgefunden, auf dem
Rücken liegend, mit auseinander gespreizten Beinen, die Knie gebogen, in Coitus-Stellung,
nach dem Bericht des Polizeibeamten, der die Anzeige gemacht hatte. Der Hut und ein
Körbchen lagen neben der Leiche. Die Person wurde als eine Anna Fl. erkannt, geb. 1861.
Die gerichtliche Leichenuntersuchung wurde am 4. Dec. von mir und Dr. Ost ausgeführt.
Die Bekleidung bestand in einem sonntäglichen, hier zu Lande beim Landvolk
üblichen Anzug. Dieser war vollständig in Unordnung, vorn theils aufgerissen, theils auf-
geschnitten und stark durchblutet, namentlich linkerseits. Der Körper hatte eine Länge
von 148 cm, war wohlgebaut und gut genährt. Die Todtenstarre bestand noch allgemein.
Nur wenige Hvide Blutsenkungsflecke an der Rückenfläche des Körpers.
Von Verletzungen fanden sich am Gesicht zwei Bisswunden, eine an der rechten
Wange und eine zweite an der Nase. Diese Bisswunden wurden zur allfälli^en Agno-
scirung des Thäters genau untersucht. Auch befinden sich die ausgeschnittenen Hautstücke
in Weingeist aufbewahrt noch in meinem Besitze. Die Bisswunde, an der rechten Wange
bildete in der Höhe der Basis der Nase ein transversal liegendes Oval, von den oberen und
unteren vorderen Zahnreihen gebildet. Die Zähne perforirten die Haut nicht vollständig,
waren aber an der Rückseite der ausgeschnittenen Hautstücke durch sugillirte Stellen
signalisirt. Der obere Bogen enthielt die Eindrücke von fünf oberen, der untere von
\ GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 385
sechs unteren Zähnen, zwischen welchen kehie Lücken bestanden, so dass das Gebiss der
vorderen Zähne ein vollständiges gewesen sein muss. Die oberen Zahneindrücke ent-
sprachen den vier Schneidezähnen und dem rechten Eckzahn, die unteren den Schneide-
zähnen, dem rechten Eckzahn und dem ersten rechten Prämolarzahn. Die Circumferenz
des oberen und unteren Zahnbogens betrug 9 cm., der Radius des oberen Zahnbogens
1 cm u. s. w. An der Nase bildeten die Zähne des Oberkiefers oberhalb der Nasenspitze
einen Bogen, welcher oberhalb derselben die Nase kranzförmig umgab und mit dem Scheitel
vollkommen der Mitte der Nase entsprach. Die Zähne des Unterkiefers bildeten Eindrücke
am septum narium und an den Nasenflügeln, wobei die Oberlippe etwas verletzt war.
Selbstverständlich konnte hier das Gebiss nicht so vollständig abgedrückt sein wie an der
Wange, doch stimmten die abgenommenen Masse vollständig mit denjenigen der letzteren
überein.
Ausserdem fand sich am Gesicht noch eine 4 cm lange Schnittwunde vom links-
seitigen Mundwinkel nach auf- und auswärts durch die linke Wange gehend und allmälig
seichter werdend. Dass diese Wunde bei ihrer Entstehung noch geblutet hatte, war nicht
ganz sicherzustellen, so dass dieselbe möglicher Weise erst nach Aufgehörthaben der
Circulation beigebracht worden ist.
Weitere Schnittwunden, die geblutet hatten, bestanden an dem untersten Theil des
Halses in transversaler Richtung verlaufend, eine mittlere von 8 cm Länge, eine kleinere
seitlich gelegene 4 cm lange, oberhalb des rechten Endes der vorigen, und eine dritte, gleich-
falls kleinere von 5 cm Länge unterhalb des linksseitigen Endes der mittleren Wunde.
Sämmtliche Wunden durchdrangen die Haut, und die letztgenannte führte bis in die
Thoraxhöhle. Alle diese Wunden waren von Blutgerinnseln umgeben. Doch war durch
die letzte Wunde kein grösseres intrathoracisches Gefäss verletzt. Diese Wunden wurden
ihrer gleichartigen Beschaffenheit nach zu gleicher Zeit beigebracht und sehr wahrschein-
lich in der gleichen Richtung von rechts nach links.
Die linke Brust war vollständig abgeschnitten, resp. amputirt, und lag neben der
Leiche, ohne allen Zusammenhang mit derselben. Der Abschnitt geschah an der Basis der
ziemlich grossen und wohlgeformten Brust. Die Wunde war glatt und eben und zeigte
Spuren stattgehabter Blutung. Die Kleidung war an dieser Stelle stark durchblutet.
Die grossartigste Verletzung bestand in einem Medianschnitt links unterhalb des
linken Sternoclaviculargelenks, welches noch angeschnitten war, beginnend an der linken
Seite des Brustbeines herab, weiterhin über den Bauch an der linken Seite des Nabels
vorbei bis in die Symphysis ossium pubis hinein. Der Schnitt war penetrirend mit Durch-
schneidung sämmtlicher Rippenknorpel und der ganzen Dicke der Bauchwand. Die Schnitt-
flächen waren glatt und eben, und nur an einer Stelle des Thorax waren einzelne Knorpel
zweimal durchschnitten, so dass hier das Messer zweimal angesetzt worden sein musste.
Die Schnittführung ging so tief, dass nicht nur die Höhlenwandungen ganz durchschnitten,
sondern auch mehrere Höhlenorgane verschieden tief angeschnitten waren, und zwar muss
das der Schnittrichtung nach "mit dem ersten Einschnitt geschehen sein. Das Zwerchfell
vrar tief eingeschnitten, der linke Leberlappen 8 cm lang angeschnitten, der linke Vorhof
und die rechte Herzkammer aiifgeschnitten. In der Pylorusgegend erschien der Magen
von den Gedärmen durch den Schnitt abgetrennt, und waren diese mit den Netzen theils
herausgeschnitten, theils herausgerissen und wurden in einzelnen Klumpen gefroren in der
Nähe der Leiche auf dem Boden gefunden. Der Magen war nur aufgeschnitten und leer.
Alle diese Schnittwunden mussten beigebx'acht worden sein, so lange die Circulation
noch fortbestand, denn die Schnittränder und Flächen waren blutig infiltrirt und die Wund-
spalten enthielten Blutgerinnsel. In der Brust-, Bauch- und Beckenhöhle fand sich viel,
theils flüssiges, theils geronnenes Blut,
In der Bauchhöhle waren noch Leber, Magen, Milz und Nieren vorhanden, die unver-
letzte Harnblase enthielt hellen Harn. Die inneren und äusseren Genitalien erschienen
unverletzt, nur der Symphysenschnitt ging etwas in die linke grosse Schamlippe hinein, der
Uterus war leer, in dem von der Scheide abgestreiften Schleime wurden nur vereinzelte
Spermatozoen gefunden.
In unserem Gutachten setzten wir auseinander, dass der Betreffende zur Ausführung
der Bisswunden im Gesicht auf der Person gelegen haben musste, dass die Bisswunde an
der Nase solche Lage und Beschaffenheit hatte, wie wenn der Betreffende die Nase hätte
abbeissen wollen, denn am Septum und an den Nasenflügeln waren die Bisswunden pene-
trirend, während aber das Eindringen der Zähne durch das knöcherne Nasendach unmöglich
gemacht wurde; dass die Brustamputation wohl vor dem Aufschnitt des Thorax geschah,
weil jene sonst schwieriger gewesen wäre, dass diese Amputation und der grosse Median-
schnitt links am Nabel vorbei Gewandtheit in der Schnittführung und einige anatomische
Kenntnis voraussetzen lassen, dass sämmtliche Schnitte, mit Ausnahme desjenigen vom
linken Mundwinkel ausgehend, ausgeführt worden sein mussten, so lange die Circulation
noch fortbestand, dass im Verlauf des Tages ein Coitus stattgefunden haben musste, dass
der Tod durch die grossartige Verwundung und durch Verblutung eintrat u. s. w.
Dass dieser entsetzliche Mord das Publicum in grosse Aufregung versetzte, ist leicht
erklärlich, man dachte an den Bauchaufschlitzer Jack auf Reisen und machte richter-
licherseits alle Anstrengungen zur Entdeckung des Thäters und setzte selbst einen Preis
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 25
386 GESCHLECHTSVEEHÄLTNISSE.
für dieselbe aus, allein umsonst. Bis zur heutigen Stunde ist dieser exquisite Lustmord
noch Geheimnis.
2. Scliändung. Darunter begreift man eine Beischlafshandlung mit
geistesschwachen oder blödsinnigen Personen. Nicht alle Strafgesetze ge-
brauchen diese Bezeichnung, wohl aber wird von allen dieser Vorgang straf-
rechtlich berücksichtigt, wie sich aus nachstehenden gesetzlichen Bestim-
mungen ergeben wird, unter welchen wir auch das bernische Strafgesetz
anführen, welches speciell diesen Vorgang als Schändung aufführt.
Bernisches Strafgesetzbuch. § 172. Wer mit einer Blödsinnigen oder ihrer
Verstandeskräfte beraubten Person ohne Gewaltanwendung und ohne Sinnesbetäubung den
Beischlaf vollzieht, wird mit Correctionshaus bis zu vier Jahren bestraft. Der Versuch ist
strafbar.
Hat die Handlung mit einer Person stattgefunden, die zwar nicht blödsinnig ist,
deren geistige Fähigkeiten aber auf einer sehr niedrigen Stufe stehen, so wird der Thäter
mit Gefängnis von 30 - 60 Tagen oder mit Correctionshaus bis zu einem Jahre bestraft.
Das österreichische Strafgesetz gebraucht den Ausdruck Schändung (§ 128)
für ein anderes Geschlechtsvergehen, auf welches wir später zu sprechen kommen und im
deutschen Strafgesetz (§ 176. Nr. 2.) kommt der Ausdruck Schändung nicht vor, und ist
von einem ausserehelichen Beischlaf mit einer geisteskranken Frauensperson die Rede,
welcher mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft wird.
Nach dem bernischen Strafgesetz haben wir eine ganze Reihe von
Untersuchungen zu machen Gelegenheit gehabt, indem gerade blödsinnige
und geistesschwache Personen so häufig geschlechtlich missbraucht werden,
und müssen wir die Unterscheidung blödsinniger und geistesschwacher Per-
sonen wenigstens vom medicinischen Standpunkte aus für wichtig halten, da
man solche Personen eigentlich nicht den geisteskranken und auch nicht den
willenlosen und bewusstlosen gleichstellen, daher auch nicht das Strafmass
dasselbe sein kann.
Die gerichtlich-medicinische Aufgabe besteht in solchen Fällen meistens
und bei blödsinnigen Personen sozusagen immer nicht in einer Untersuchung
der Genitalien in Bezug auf eine stattgehabte Beischlafshandlung, denn meistens
sind es schwangere Personen, um die es sich handelt, indem erst die ein-
getretene Schwangerschaft die Eltern oder Pflegeeltern auf das Vorgefallene
aufmerksam macht und zu einer Untersuchung Anlass gibt, sondern lediglich
um Feststellung des psychischen Zustandes, wobei Blödsinn und die verschie-
denen Grade von Geistesschwäche in Betracht kommen. Bei der Verführung
Blödsinniger ist das Strafmass höher als bei derjenigen nur geistesschwacher
Personen, weshalb die Vertheidigung vor dem Schwurgericht von den Sachver-
ständigen mitunter ausdrücklich eine bestimmte Unterscheidung dieser ver-
schiedenen Zustände verlangt.
Andere zu beantwortende Fragen, die bereits früher besprochen wurden,
sind unter solchen Verhältnissen die, ob der Coitus muthmasslich nur einmal
oder mehrmals ausgeführt worden ist, und ob ein einmaliger stattgehabter
Umgang eine Schwängerung hatte herbeiführen können. Natürlich ist in
solchen Fällen auch immer die Schwangerschaftszeit zu bestimmen, in welcher
sich die betreffende Person befindet, um darnach approximativ die Zeit zu
bestimmen, zu welcher der Vorgang der Schwängerung stattgefunden hat.
3. Blutschande. Auch diese Art von Beischlafshandlungen zwischen
Verwandten in auf- und absteigender Linie wird strafrechtlich verfolgt.
Deutsches Stra tsgesetz. §173. Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und ab-
steigender Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den letzteren
mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.
Der Beischlaf zwischen Verschwägerten auf- und absteigender Linie, sowie zwischen
Geschwistern wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft.
Neben der Gefängnisstrafe kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt
werden.
Oesterr eichisches Strafgesetz. § 134. Blutschande, welche zwischen Ver-
wandten in auf- und absteigender Linie, ihre Verwandtschaft mag von ehelicher oder un-
ehelicher Geburt herrühren, begangen wird. Die Strafe ist Kerker von sechs Monaten bis
zu einem Jahre.
\ ' GESCHLECHTSVERIIÄLTNISSE. 387
Gericlitlich-medicinisch hat man in solchen Fällen zum Nachweis des
Thatbestandes der Blutschande nur zu constatiren, dass eine Beischlafshand-
lung ausgeführt oder auch nur versucht worden ist. '■) Meistens wird zu
solchen Vorgängen dadurch Veranlassung gegeben, dass mehr oder weniger
geschlechtsreife weibliche Individuen wegen Platzmangel mit dem Vater oder
einem Bruder in demselben Bette schlafen. Erst kürzlich ist mir noch der
Fall vorgekommen, dass eine 22jährige Person bei ihrem Vater, der Wittwer
w^ar, im selben Bette schlief und der Blutschande verdächtig war, so dass die
Untersuchung der betreffenden Person vom Richter verlangt wurde.
4. Beischlaf shandlungen mit Mädchen unter einem gewissen
Alter sind nach den meisten Strafgesetzgebungen mit Strafe bedroht.
Doch herrscht hierin nicht vollständige üebereinstimmung, so wird z. B. nach dem
österreichischen Strafgesetz (§. 127) der Beischlaf mit einer Frauensperson, welche
noch nicht das vierzehnte Lebensjahr zurückgelegt hat, der Nothzucht gleich bestraft,
während das deutsche Strafgesetz (§. 175, 3) schon nur für unzüchtige Handlungen
eine Strafe von 10 Jahren Zuchthaus bestimmt. Das bernische Strafgesetz (Art. 170)
bestraft mit 10 Jahren Zuchthaus denjenigen, der mit einem Kind unter zwölf Jahren den
Beischlaf vollzieht.
Dagegen stimmen deutsches Strafgesetz (§. 182) und österreichischer
Strafgesetz-Entwurf (§. 190) darin miteinander ganz überein, dass, wer ein unbeschol-
tenes Mädchen, welches das sechzehnte Lebensjahr noch nicht vollendet hat, zum Beischlaf
verführt, mit Gefängnis bis zu 1 Jahr bestraft wird.
Man ersieht aus diesen strafgesetzlichen Bestimmungen das Bestreben
der Gesetzgebung, die weibliche Geschlechtsehre zu schützen gegen Beischlafs-
handlungen, wenn sie auch nicht mit Gewalt ausgeführt werden und daher
nicht den Strafbestimmungen über Nothzucht unterliegen würden.
Die Mithilfe der gerichtlichen Medicin ist zur Anwendung dieser straf-
rechtlichen Bestimmungen insofern unumgänglich, als vom medicinischen
Standpunkte aus der vorausgegangene Geschlechtsact, d. h. die stattgefundene
Beischlafsbandlung, sei sie nur versucht oder ausgeführt, zu constatiren ist.
Ausserdem kann den medicinischen Sachverständigen auch noch die Auf-
gabe zufallen, zu bestimmen, ob nach dem Grade der körperlichen Entwicklung
des missbrauchten weiblichen Individuums dem Thäter das Alter derselben
bekannt sein konnte, oder ob hier eine Täuschung sehr wohl möglich war,
was einen Milderungsgrund für den Betreffenden zur Folge haben könnte.
Wir hatten kürzlich eine Person zu untersuchen, welche das sechzehnte Jahr noch
nicht zurückgelegt hatte, und von drei Arbeitern missbraucht worden war, welche deshalb
in strafrechtliche Untersuchung kamen. Sie gaben zur Entschuldigung an, dass sie nicht
nach dem Alter der betreffenden Person sich erkundigt hätten, da sie dieselbe nach ihrer
ganzen Körperlichkeit für viel älter hatten halten müssen. Nach meiner Untersuchung
konnte ich die Möglichkeit, ja Wahrscheinlichkeit einer solchen Täuschung zugeben, da die
betreffende Person in dem Grade körperlich ausgebildet war, nach ihren Körperdimen-
sionen und der subcutanen Fettablagerung, nach der Behaarung des Körpers u. s. w.,
dass gewiss jeder Sachkundige einer solchen Täuschung hätte verfallen können.
h) Unzüchtige Handlungen.
Die Strafgesetze geben keinen Begriff von unzüchtigen Handlungen oder
von Unzucht, so dass darunter nichts Anderes verstanden werden kann, als
diejenige Art der Geschlechtsbefriedigung, welche nicht Nothzucht und nicht
widernatürliche Unzucht ist. Die gesetzlichen Bestimmungen hierüber sprechen
sich in folgender Weise aus.
Deutsches Strafgesetz. §. 176. Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird be-
straft, wer
1. mit Gewalt unzüchtige Handlungen an einer Frauensperson vornimmt oder dieselbe
durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib oder Leben zur Duldung unzüch-
tiger Handlungen nöthigt;
2. mit Personen unter vierzehn Jahren unzüchtige Handlungen vornimmt oder
dieselben zur Verübung oder Duldung unzüchtiger Handlungen verleitet.
*) Oesterr. Strafges. §. 134. Entscheid, d. oberst. Gerichts- und Cassationshofes vom
18. Febr. 1876.
25*
388 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. ,
§. 174. Mit Zuclitliaus bis zu fünf Jahren werden bestraft:
1. Vormünder, Geistliche, Lehrer und Erzieher, welche mit ihren Pflegebefohlenen,
Geistliche, Lehrer und Erzieher welche u. s. w., unzüchtige Handlungen vornehmen;
2. Beamte, die mit Personen u. s. w.
3. Beamte, Aerzte oder andere Medicinalpersonen u. s. w.
Sozusagen gleichlautend sind die Bestimmungen im österr. Straf-
gesetz-Entwurf §. 189. Dagegen ist im österr. Strafgesetz der §. 128
anderslautend, nämlich:
Wer einen Knaben oder ein Mädchen unter 14 Jahren oder eine im Zustande der
Wehr- oder Bewusstlosigkeit befindliche Person zur Befriedigung seiner Lüste auf eine
andere als die im §. 107 (Beischlaf) bezeichnete Weise geschlechtlich missbraucht, begeht,
wenn diese Handlung nicht das im §. 129 lit. b. bezeichnete Verbrechen (Unzuclit wider
die Natur") bildet, das Verbrechen der Schändung und soll mit schwerem Kerker von ein
bis zu fünf Jahren u.. s. w. bestraft werden.
Man ersieht aus diesen gesetzlichen Bestimmungen, dass unzüchtige
Handlungen nur dadurch näher bezeichnet werden, dass es sich um Ge-
schlechtsbefriedigungen handelt, welche nicht Beischlaf und nicht wider-
natürliche Unzucht sind, und dass nur das österr. Strafgesetz diese Vorgänge
als Schändung bezeichnet, ferner dass nach dem deutschen Strafgesetz und
dem österr. Strafgesetzentwurf diese Arten von Geschlechtsbefriedigung dann
mit höheren, und zwar sehr hohen Strafen bedacht sind, wenn sie mit Gewalt
oder mit Drohungen für Leib und Leben oder mit Personen unter 14 Jahren
oder, was jedoch die gerichtliche Medicin nicht weiter betrifit, von Personen
ausgeübt werden, welche ihrer socialen Stellung nach über die missbrauchten
Persönlichkeiten einen gewissen Einfluss haben.
Auffallenderweise ist auf das Begehen unzüchtiger Handlungen ohne die
angeführten erschwerenden Umstände, wenn sie zur Kenntnis richterlicher
Behörden gelangen, nicht weiter Rücksicht genommen und keine Strafe an-
gegeben. Nur das bernische Strafgesetz bestimmt in dieser Beziehung im
Art. 162.
Wer öffentlich die Schamhaftigkeit verletzt, wird mit Gefängnis bis zu sechzig Tagen
oder mit Correctionshaus bis zu einem Jahr oder mit Geldbusse bis zu fünfhundert
Franken bestraft.
Die gerichtlich-medicinischen Aufgaben rücksichtlich dieser unzüchtigen
Handlungen sind mehrere, welche aber nur in einer geringeren Zahl von
Fällen aufklärende Untersuchungsergebnisse dem Richter gewähren können.
Die erste Aufgabe ist zunächst die, auf medicinische Untersuchungen gestützt
Beweise beizubringen, dass diese oder jene Art unzüchtiger Handlung statt-
gefunden hat, ferner, wenn ja, ob dabei Gewalt in Anwendung gebracht
worden ist, und endlich ob die unzüchtige Handlung nachtheilige Folgen für
die Körperlichkeit oder Gesundheit des missbrauchten Individuums nach sich
gezogen hat.
Die unzüchtigen Handlungen, welche zu ungehöriger Geschlechtsbefrie-
digung vorgenommen werden, sind ausserordentlich mannigfaltig und grossen
Theils der Art, dass sie keine erkennbaren Spuren zurücklassen, so dass die
medicinische Feststellung derselben eine Unmöglichkeit ist, und daher der
Richter auf anderem Wege sich Aufklärung über das Vorgefallene verschaffen
muss, und der Sachverständige sich eventuell nur über den psychischen Zu-
stand des Betreffenden rücksichtlich seiner Zurechnungsfälligkeit auszu-
sprechen hat.
Manche dieser unzüchtigen Handlungen, welche schon bei den Griechen
und Römern eine gewisse Rolle spielten, und besondere Namen erhielten, wie
das fellare, irrumare, der cunnilingus u. s. w. lassen nur höchst selten er-
kennbare Spuren zurück, als Infectionen an den Lippen und an der Zunge. Auch
die Exhibition, das ist die Schaustellung der männlichen Genitalien, gehört
zu den unzüchtigen Handlungen, welche nur ganz ausnahmsweise zu gerichtlicher
Untersuchung Anlass geben, wie folgender Fall beweist.
\ GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 389
Ich erhielt den Auftrag, einen älteren Schlossermeister Solt. zu untersuchen, ob derselbe
an Hämorrhoiden mit zeitweisen Blutungen leide. Derselbe war nämlich beschuldigt, an
einem Fenster seine Hosen herabgezogen und seine Geschlechtstheile entblösst zu haben,
was von gegenüberwohnenden Personen gesehen und angezeigt worden war. Derselbe, deshalb
abgehört, entschuldigte sich damit, dass er angab, er leide an Hämorrhoiden und zeitweisen
Blutungen, und dass er damals gerade bei einer Fensterreparatur glaubte, dass Blut aus
dem After abgehe und dass er deshalb einen geöffneten Fensterflügel als Spiegel benutzte,
um nachzusehen, und keine Ahnung davon hatte, dass er von einem vis-ä-vis gesehen
werde. Meine Untersuchung ergab, dass die Angabe des Schlossermeisters mit den
Hämorrhoiden ganz richtig war, und dass von einer exhibitionistischen Handlung keine
Rede sein konnte.
Der §. 176 des deutsclien Strafgesetzes spricht zwar nur von un-
züchtigen Handlungen an Frauenspersonen, aber der §. 174 bezieht das Be-
gehen unzüchtiger Handlungen auf verschiedene Personen und namentlich
auch auf minderjährige Schüler oder Zöglinge, und das österreichische
Strafgesetz spricht ganz speciell von Knaben, es ist daher keinem Zweifel
unterworfen, dass auch unzüchtige Handlungen an männlichen Individuen,
w^elche nicht zur widernatürlichen Unzucht gehören, unter jenen Hand-
lungen gemeint sind, und kommen in dieser Beziehung Frictionen der
Genitalien an männlichen Individuen in verschiedenen Stellungen in Betracht,
und ganz besonders auch masturbatorische Handlungen. Alle diese Vorgänge
haben, wie gesagt, nur geringes forensisches Interesse, da hier in der Kegel
medicinisch nichts zu beweisen ist,
Die einzige Art unzüchtiger Handlungen an weiblichen Individuen,
welche häufig genug gerichtsärztliche Untersuchungen veranlassen, die mitunter
werthvolle Aufklärungen geben zur Constatirung einer unzüchtigen Handlung,
sind die Fingermanipulationen an den Genitalien weiblicher Kinder,
welche theils nur in Betastungen oder Pieibungen der äusseren Genitalien
bestehen, theils in mehr oder weniger gewaltsamen Versuchen zum Ein-
bringen eines Fingers in dieselben. Da das letztere ohne Zerreissung des
Hymens nicht wohl möglich ist und diese Verletzung Schmerzen verursacht,
welche die Kinder zum Schreien und zur Gegenwehr veranlassen, so kommen
solche gröbere Verletzungen nicht häufig vor, sind aber schon in excessiver
Weise vorgekommen, so- dass nicht blos der Hymen, sondern auch ein Theil
der Scheide zerrissen w^aren. Meistens findet man nur unbedeutende trau-
matische Effecte, als Röthungen der Vulva, Spuren von Excoriationen durch
Fingernägel, kleine Einrisse im freien Rande des Hymens, aber engen Eingang
in die Scheide. Doch haben wir früher schon einen Fall mitgetheilt, wo
nach und nach durch allmälige Dehnung die hymenale Oeffnung ohne Zer-
reissung so dilatirt wurde, dass der Zeigefinger mit Leichtigkeit eingeführt
werden konnte. Auch ist durch unreine Finger eine Infection möglich. Die
Befunde sind demnach bei solchen unzüchtigen Handlungen sehr verschieden,
und mitunter so unbedeutend, dass nur wenig mit Sicherheit aus ihnen ge-
schlossen werden kann. Indessen wird das Wenige, was man findet, in Ver-
bindung mit den Angaben des missbrauchten Kindes und anderen darauf
bezüglichen Erhebungen den Sachverständigen in den Stand setzen, sich
dahin auszusprechen, dass für einen stattgehabten Beischlafsversuch keine
Thatsachen vorliegen und dass es sich nur um nicht verletzende Finger-
manipulationen handeln kann.
Gröbere Verletzungen, die mit Schmerzen verbunden gewesen sein
mussten, sprechen für Gewaltanwendung bei der Ausführung der unzüchtigen
Handlung.
Nachtheilige Folgen für die Körperlichkeit und Gesundheit der miss-
brauchten Individuen haben unzüchtige Handlungen nur dann, wenn bei dem
Acte schwerere Verletzungen der Genitalien oder eine Infection stattgefunden
hat, was jedoch zu den Ausnahmsfällen gehört.
390 GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE.
c) Widernatürliclie Unzuclit.
Was strafrechtlich unter widernatürlicher Unzucht zur Zeit verstanden
wird, ergibt sich aus nachstehenden gesetzlichen Bestimmungen:
Deutsches Strafgesetzbuch. §. 175. Die widernatürliche Unzucht, welche
zwischen Personen männlichen Geschlechtes oder von Menschen mit Thieren begangen
wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen, auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte
erkannt werden.
Oesterreichischer Strafgesetzentwurf. §.190. Die widernatürliche Unzucht,
welche zwischen Personen des männlichen Geschlechts oder von Menschen mit Thieren
begangen wird, ist mit Gefängnis zu bestrafen.
Oesterreichisches Strafgesetzbuch. §. 129. Als Verbrechen werden auch
nachstehende Arten von Unzucht bestraft: L Unzacht wider die Natur, das ist a) mit
Thieren, b) mit Personen desselben Geschlechts.
§. 170. Die Strafe ist schwerer Kerker von 1 bis zu 5 Jahren. Wer u. s. w.
Man ersieht aus diesen gesetzlichen Bestimmungen wesentliche Ver-
änderungen in der Auffassung der strafrechtlichen Behandlung der sogenannten
widernatürlichen Unzucht, indem diese eine viel eingeschränktere und mildere
geworden ist, denn nach dem österreichischen Strafgesetzentwurf ist die
strafrechtliche Verfolgung der widernatürlichen Unzucht zwischen Personen
des weiblichen Geschlechts ganz aufgegeben und wie im deutschen Straf-
gesetz auf Unzucht zwischen Personen männlichen Geschlechts beschränkt,
und ausserdem ist das Strafmass überhaupt ein viel geringeres geworden.
Dass man die widernatürliche Unzucht zwischen Personen weiblichen
Geschlechts, die sogenannte Tribadie, strafrechtlich nicht mehr als wider-
natürliche aufführt und bestraft, ist gewiss hinreichend begründet. Demnach
sind nur noch zwei Arten widernatürlicher Unzucht zu unterscheiden, nämlich
diejenige zwischen Personen männlichen Geschlechts und diejenige mit
Thieren. Erstere nennt man gemeinhin Päderastie, letztere Sodomie.
A. Wider natürliche Unzucht zwi sehen Personen männlichen
Geschlechts (Päderastie).
Dass männliche Personen miteinander in sehr mannigfaltiger Weise Un-
zucht treiben können, wohin namentlich die gegenseitige Masturbation und
die Reibungen der Genitalien des einen an dem Körper des anderen in ver-
schiedenen Stellungen gehören, ist wohl verständlich, allein das Widernatür-
liche bei dieser Unzucht zwischen Personen des männlichen Geschlechts be-
steht nicht blos in der gleichen Sexualität, sondern auch noch in einer be-
sonderen Art der Ausübung der Geschlechtsbefriedigung, welche ein Analogon
einer Beischlafshandlung darstellt, und darin besteht, dass von der einen
männlichen Persönlichkeit statt der Scheide eines weiblichen Individiums der
After und Mastdarm eines anderen männlichen Individuums zur Geschlechts-
befriedigung benutzt wird. Es ist die anale Geschlechtsbefriedigung
bei einem männlichen Individuum, um welche es sich handelt, und welche ganz
richtig als widernatürliche Geschlechtsbefriedigung aufgefasst wird.
Der anale Coitus kann zwar auch bei weiblichen Individuen ausgeübt
werden und geschieht das auch zuweilen, allein strafrechtlich gehört derselbe
nicht hieher. Es ist strafrechtlich von Wichtigkeit, dass nicht alle Arten von
Geschlechtsbefriedigung zwischen männlichen Individuen als widernatürliche
Unzucht aufgefasst und strenger bestraft werden, denn nur die anale Art des
Coitus bei männlichen Individuen gegenüber dem vaginalen bei weiblichen ge-
hört hieher.
Zur näheren Betrachtung dieser Art von gesetzwidriger Geschlechts-
befriedigung, welche strafrechtlich als widernatürliche aufgefasst wird, ist es
nothwendig, die beiden Arten männlicher Individuen, welche bei diesem Vor-
gange betheiligt sind, näher ins Auge zu fassen, und hat man hiebei die
activen und passiven Päderasten zu unterscheiden.
Bei den activen Päderasten erhebt sich zunächst die Frage nach den
Motiven zur Ausführung eines so schändlichen Lasters, was bei der gericht-
GESCHLECHTSVERIIÄLTNISSE. 391
lich-medicinischen Beurtlieilung des Falles sehr in Betracht kommt, und
worauf die Betreffenden auch näher zu untersuchen sind, denn Aberrationen des
Geschlechtstriebes, welche als perverser, cont rarer Geschlechtstrieb
bezeichnet werden, spielen hier eine wesentliche Rolle. Wir gruppiren die
hier in Betracht kommenden Persönlichkeiten in folgender Weise, wie sie uns
vorgekommen sind.
1. Eine grössere Zahl activer Päderasten sind alte Wollüstlinge, welche
schon viel in Venere geleistet haben und nun ungewöhnlicher Heize bedürfen,
um den noch nicht erloschenen Geschlechtstrieb anzuregen, wozu besonders
eine später zu bezeichnende Abtheilung von passiven Päderasten geeignet ist.
Uebrigens ist in nicht seltenen Fällen eine bereits eingetretene neurasthe-
nische Impotentia coeundi hauptsächlich Grund der Zuwendung zu männ-
lichen Individuen, indem man sich scheut, wegen Unfähigkeit mit weiblichen
Individuen den Coitus auszuüben, vor diesen durch seine Impotenz sich bios-
zustellen. Freilich sind in solchen Fällen die Betreffenden dann auch nicht
fähig, die Rolle von activen Päderasten zu spielen, und besteht dann die
Befriedigung des Geschlechtstriebes nur in masturbatorischen Actionen, die
nicht selten Anlass geben zu Anzeigen von stattgehabter Päderastie.
2. Bei anderen Individuen wirken als Motive zur Vermeidung des va-
ginalen Coitus Furcht vor Schwängerung und venerischer Infection und führen
dann zur analen GescMechtsbefriedigung. Auch kommt es selbst bei jün-
geren Eheleuten zuweilen vor, um einem zu grossen Kindersegen zu begegnen,
dass die anale Geschlechtsbefriedigung in Anwendung gebracht wird. Dass
Personen, welche in Folge ihres Standes zur Abstinenz vom vaginalen Coitus
gezwungen sind, wie die im Cölibat lebenden Geistlichen, ein grösseres Con-
tingent unter den Päderasten ergeben, ist leicht erklärlich. Solche Individuen
bieten weder körperlich noch psychisch Besonderheiten dar.
3. Bei einer dritten Reihe von Persönlichkeiten kommen ganz andere Mo-
tive für die Päderastie in Betracht, nämlich Abnormitäten des Geschlechts-
triebes, welche überhaupt sehr mannigfaltig sind, und nicht blos zu mancherlei
Variationen in der Ausübung des gewöhnlichen Coitus führen, welche Krafft-
Ebing durch verschiedene Namen als Masochismus, Fetischismus, Sadismus
u. s. w. gekennzeichnet hat, sondern auch in ganz perversen, d. h. cOn-
trären Sexualempfindungen (Westphal) bestehen, welche bei beiden
Geschlechtern vorkommen, so dass männliche Individuen nur für männliche
und weibliche Individuen nur für weibliche geschlechtliche Neigungen haben.
Krafft-Ebing hat das als Homosexualität gegenüber der Hetero Sexua-
lität unterschieden.
Von beiden Arten dieser conträren Sexualempfindung sind Fälle bekannt. Doch hat
grössere gerichtlich-medicinische Bedeutung nur die masculine conträre GeBchlechtsempfin-
dung. la vielen Fällen ist diese Abnormität des Geschlechtstriebes wohl angeboren, doch
scheint sie auch gezüchtet vorzukommen. Ein den conträrsexual empfindenden Männern
Angehöriger hat denselben den Namen der Urninge gegeben und hält ihre Zahl für ver-
hältnismässig sehr gross. Zur Charakteristik dieser Classe von Päderasten ist immer die
von Casper *) darüber gemachte Mittheilung sehr beaehtenswerth. Ein merkwürdiger
Fall von conträrer Sexualempfindung bei einem weiblichen Individuum ist der von Birn-
BACHER**) mitgetheilte über öandor Grafen V., recte Sarolta Gräfin V., welche als Mann
geheirathet hatte.
Von besonderen physischen Merkmalen der activen Päderasten kann
eigentlich schon insofern keine Rede sein, als nach der grossen Verschieden-
heit der Motive zur Päderastie Personen der verschiedensten Art in Betracht
kommen, also nicht blos Urninge, und auch der Act selbst keine wenn auch
nur vorübergehende Formveränderungen am Penis zurücklässt. Dagegen ist
*) Zur Lehre von der Päderastie. Klinische Novellen zur gerichtl. Medicin. Berlin,
1863, S. ;-33.
**) Friedreichs Blätter für gerichtl. Medicin. 1891. H. 1. S. 2.
392 GESCHLECHTSVEKHÄLTNISSE.
nicht in Abrede zu stellen, dass bei den verschiedenen Formen und Grössen
des Penis ein verschieden leichtes Eindringen desselben in anum möglich
sein wird und dass dieses bei kleinerem Kaliber der glans und bei mehr
konischer als kugeliger Form derselben verhältnismässig mit weniger Schwierig-
keit geschehen kann. Man wird daher bei Untersuchungen eines Päderasten
auf diese Verhältnisse Rücksicht zu nehmen haben.
Wir können in Bezug auf diese Verhältnisse nur sagen, dass wir bei einzelnen
activen Päderasten, der Classe der Urninge angehörend, allerdings ein kleineres Glied und
eine konische Form der Eichel gefunden haben, so dass wir im Gutachten sagen konnten,
Grösse und Form des Gliedes konnten dem Eindringen desselben in den After kein Hinder-
nis entgegensetzen.
Bei den passiven Päderasten kommen ebenfalls verschiedene Arten
von Persönlichkeiten in Betracht, die forensisch wichtig zu unterscheiden sind.
1. In erster Linie sind Knaben verschiedenen Alters zu nennen, welche
die eigentlichen Objecte für die echten activen Päderasten sind. Und von
dem Missbrauch solcher Individuen kommt auch der Name Päderastie her,
von Tiaiq und l'ppato, Knabenliebe, eine Leidenschaft, welche schon bei den
Griechen und Römern eine grosse Rolle spielte.
Knaben in diesem Alter sind leicht durch Geschenke und Versprechungen anzu-
locken, und werden von den activen Päderasten an verschiedenen Orten gesucht, wie es
gerade die Gelegenheit bietet. Um nicht bei den ersten päderastischen Versuchen grössere
Schmerzen zu verursachen, werden mitunter längere Zeit Ausdehnungsversuche mit den
Fingern oder anderen Gegenständen gemacht, oder es wird auch das erigirte Glied mit
einiger Gewalt eingeführt, und kommt es auch hiebei vor, ähnlich wie bei der Nothzucht,
dass zur Erhöhung des Wollustgefiihles Grausamkeiten durch Beibringung mehr oder
weniger schwerer Verletzungen an den wehrlosen Opfern vorgenommen werden, die mit-
unter beabsichtigt oder unbeabsichtigt den Tod derselben herbeiführen, wovon mehrere
wahrhaft grauenhafte Fälle von Tardieu, Casper, Liman u. A. mitgetheilt worden sind.
2. Eine zweite Reihe der passiven Päderasten gehört der Prostitution
an, und betrifft Männer aber auch Weiber verschiedenen Alters, welche aus
der passiven Päderastie ein Gewerbe machen und auch in Bordellhäusern
grösserer Städte gehalten werden, um dieser Art der Geschlechtsbefriedigung
zu dienen.
Die freien Päderasten treiben sich an abgelegenen Orten herum und suchen sich
durch ihr Benehmen, ihre Kleidung und Beschäftigung mit Nähen, Stricken, Brodiren den
activen Päderasten bemerklich zu machen, welche sogleich die Bedeutung solcher Zeichen
erkennen. Bei solchen gewerbsmässigen Päderasten findet man zuweilen auch obscöne
Tätowirungen an den Hinterbacken, Ferner sind mit solchen Vorgängen mitunter auch
Erpressungen verbunden, indem die Missbrauchten oder deren Helfershelfer mit Anzeigen
drohen, wenn ihnen nicht grössere Summen bezahlt werden, welches Diebsgewerbe nach
Tardieu in Paris als sogenannte Chantage betrieben wird,
3. Endlich ist noch eine dritte Art passiver Päderasten zu erwähnen,
welche in Folge eines gleichfalls perversen Geschlechtstriebes gerne die Rolle
weiblicher Individuen spielen und sich so päderastisch verwenden lassen.
Solche Individuen zeigen ihrer körperlichen Beschaffenheit nach einen weiblichen
Habitus, sind bartlos, tragen mitunter auch lange Kopfhaare, haben ziemlich viel subcu-
tanes Fettgewebe, eine hohe Stimme u. s. w. In psychischer Hinsicht haben sie weibliche
Neigungen und lassen sich wie gesagt mit einer gewissen Liebhaberei als passive Päde-
rasten gebrauchen. Sie lieben den Putz, tragen auch hie und da weibliche Kleidung.
Wegen unzüchtiger Handlungen kamen wir mehrmals in Fall, derartige Persönlichkeiten
zu untersuchen. Mehrere derselben waren in Messbuden engagirt und spielten in den-
selben weibliche B,ollen. Solche Individuen werden übrigens von activen Päderasten nicht
immer blos zu passiver Päderastie verwandt, sondern müssen jenen gegenüber mitunter
auch die Rolle von activen Päderasten spielen.
, Wie bei den activen Päderasten hat sich auch hier die Frage erhoben, ob
bei Personen, welche längere Zeit der passiven Päderastie sich hingegeben
haben, gewisse Veränderungen zurückbleiben, durch welche das Stattgehabt-
haben solcher Vorgänge erkannt werden könnte. Nun hat man allerdings eine
Reihe derartiger Veränderungen angegeben, wie z. B. eine dütenförmige
Einsenkung der Aftergegend, die VerstreichuDg der die Aftermündung strah-
GESCHLECHTSVERHÄLTNISSE. 393
lenförmig umgebenden Hautfalten, Erschlaöung des Sphincters, hahnenkamm-
förmige Wucherungen der Schleimhaut der Aftermündung u. s. w., allein alle
diese Erscheinungen haben nicht die diagnostische Bedeutung, dass aus ihnen
allein auf passive Päderastie geschlossen werden könnte, da derartige Ver-
änderungen auch Folge höheren Alters, erschwerter Defäcation, bestehender
Hämorrhoidalzustände u. s. w. sein können. Was der anus in Bezug auf Di-
latation zu ertragen vermag, beweisen die zu chirurgischen und gynäkologischen
Zwecken mitunter vorgenommenen analen Untersuchungen mit der ganzen
Hand.
Anders verhält es sich freilich in den verhältnismässig selteneren Fällen,
in welchen kurze Zeit nach einem päderastischen Vorgang der Kinede unter-
sucht werden kann, in welchem Falle man möglicherweise noch Spermatazoen-
haltigen Schleim aus dem After erhalten kann, oder man findet noch trau-
matische Eöthung und Empfindlichkeit der Aftermündung, selbst Einrisse oder
Spuren von^ Quetschung. Der Nachweis von Spermatazoen an Hemd oder
Bettzeug ist noch kein Beweis einer immissio penis und ejaculatio seminis
in anum, da der ganze Vorgang sich auch zwischen den Nates oder zwischen
den Schenkeln abspielen konnte.
In späterer Zeit können auch Folgen stattgehabter Infection durch vene-
rische oder syphilitische Geschwüre oder durch Tripper auftreten, und findet
mau an der Aftergegend suspecte Geschwüre, condylomatöse Wucherungen,
gonococcenhaltige Ausflüsse, welche selbstverständlich in diagnostischer Hin-
sicht von grosser Bedeutung sind.
Lähmungen des sphincter ani und in Folge dessen Incontinentia alvi konamt na-
mentlich bei Knaben nicht selten vor. In einem mir vorgekommenen Falle war bei einem
11jährigen Knaben diese Insufficienz des Schliessmuskels des Afters, wodurch Hemd und
Kleidungsstücke des Knaben stets verunreinigt wurden, die erste Erscheinung, welche die
Eltern zu einer Anzeige veranlassten, welche dann weiterhin durch unsere Untersuchung
zu der Thatsache führte, dass dieser Knabe schon seit längerer Zeit als Kinede von einem
Herrn gebraucht worden ist. Der Fall kam vor das Schwurgericht und der Betreffende
wurde verurtheilt.
In manchen anderen Fällen, wo durch Anzeigen Untersuchungen herbei-
geführt werden, findet ma,n häufig weder an den activen noch an den passiven
Päderasten Erscheinungen, welche den untersuchenden Experten in den Stand
setzen, mit nur einiger Sicherheit stattgehabte Päderastie zu beweisen, ob-
schon nach der Beschaffenheit der Individuen und der Indicien, welche zu der
Untersuchung geführt haben, es nicht zweifelhaft sein kann, dass solche Vor-
gänge stattgehabt haben. Man könnte in solchen Fällen zur Unterstützung
der richterlichen Erhebungen nur anführen, dass die Betreffenden ihren körper-
lichen und psychischen Verhältnissen nach nicht als ungeeignet für solche
Vorgänge bezeichnet werden können.
B. Widernatürliche Unzucht von Menschen mit Thieren.
Auch diese Art von Unzucht wird strafrechtlich als widernatürliche auf-
geführt und bestraft. Sie ist gewöhnlich unter dem Namen Sodomie bekannt.
Es verhält sich mit dieser Art Unzucht ähnlich, wie mit der Päderastie. Sie
kam schon im Alterthum vor und wurde früher nach der mosaischen Gesetz-
gebung sehr streng, sogar mit dem Tode bestraft, heutzutage ist die Auf-
fassung eine andere, und wird der Vorgang nur mit Gefängnis bedroht und
eventuell mit Verlust bürgerlicher Ehrenrechte.
Gerichtlich-medicinisch hat dieses Vorkomnis nur geringe Bedeutung,
denn in den meisten derartigen Fällen, die überhaupt selten vor den Richter
kommen, kann der Thatbestand nur durch Zeugenaussagen festgestellt werden,
da selten so frühzeitige medicinische Intervention in Anspruch genommen
wird, dass noch Zeichen eines solchen Vorkommnisses durch medicinische
Untersuchung aufgefunden werden könnten.
394 GESUNDHEITSPFLEGE.
Die meisten vorkommenden Fälle sind solche, wo weibliche Thiere wie,
Stuten, Kühe, Ziegen, Hunde u. s. w. von älteren Knaben oder Männern zur
Geschlechtsbefriedigung benutzt werden. Fast immer sind es Personen,
welche mit diesen Thieren im Stalle oder als Viehhüter zu thun haben. Von
letzteren hatte ich drei Fälle zu begutachten, in denen es sich darum handelte,
ob die Betreffenden, es waren alle drei ältere Knaben von sehr beschränkten
geistigen Fähigkeiten, von welchen der eine im Stalle auf einer Kuh liegend,
die anderen zwei auf offener Weide mit Ziegen Coitus versuchend gesehen
wurden, als zurechnungsfähig betrachtet werden können, was ich in allen drei
Fällen verneinen musste. Bei allfälligen Untersuchungen der Art, wenn sie
frühzeitig gemacht werden können, würde mau untersuchen, ob sich in der
Scheide des gebrauchten Thieres Spermatozoen finden, und an den Genitalien
des Stuprators, z. B. unter der Vorhaut, Haare des betreffenden Thieres.
Zum Beweise der Möglichkeit eines solctien Fundes wird nur der von Kutter *) mit-
getheilte Fall angerufen, welcher allerdings ein solches Vorkommnis, wenn auch mangelhaft
untersucht, illustrirt. Der Fall betraf einen Unterofficier, G. welcher verdächtig war, mit
einer ßappstute im Stalle Sodomie getrieben zu haben. Die Untersuchung konnte etwa
eine Stunde nach dem Vorfall geschehen. Die Schamlefzen und der Scheideneingang des
Thieres sollen geschwollen und an der Schleimhaut des letzteren an mehreren Stellen seichte
1^/2 — 2 Linien lange blutige Einrisse bemerkbar gewesen sein. Ein sparsames, schleimiges,
röthlich gefärbtes Secret aus der Scheide wurde zwar aufbewahrt, aber nicht weiter unter-
sucht. Am Angeschuldigten fand man ausser psychischer Aufregung an der Eichel zwischen
ihr und der Vorhaut in der Uebergangsfalte 5 — 6 feine, schwarze, etwa 3 Linien lange
Härchen, welche mit den dem Hintertheil der Stute durch Ueberstreichen der Haut mit der
Hand entnommenen Härchen bei Untersuchung mit der Lupe die grösste Aehnlichkeit zeigten.
Das Gutachten Kutters ging dahin, dass G. sich der widernatürlichen Unzucht mit der
Rappstute des Bauers M. schuldig gemacht habe.
Eine andere gleichfalls selten zu gerichtsärztlicher Untersuchung Anlass
gebende Art von Sodomie ist die zwischen weiblichen Individuen und männ-
lichen Thieren, welche sozusagen immer Hunde waren, und gehören hieher
die von Schuhmacher, Pf äff, Schaltenstein, Wald u. A. mitgetheilten Fälle,
welche indessen insgesammt bezüglich der Beweisführung manche Einwen-
dungen zulassen.
Ob auch ein päderastischer Act zwischen Mensch und Thier möglich
ist, wobei ersterer die passive, letzteres die active Rolle spielt, ist behauptet
und bestritten worden. Dass bei einem Manne in der Knieellenbogenlage
ein Hund Versuche zu einer Cohabitation machen könnte, ist kaum zu be-
zweifeln, und um mehr könnte es sich ja doch nicht handeln. Wenn aber
so etwas gesehen wird, werden kaum weitere ärztliche Untersuchungen einen
Werth haben können und Zeugenbeweise zur Bestrafung solcher unzüchtiger
Handlungen ausreichen. c. emmert.
Gesundheitspflege. Jede Aenderung in der Thätigkeit, jede Aende-
ruDg in den umgebenden Medien wirkt nach der einen oder anderen Richtung
auf die Oekonomie unseres Organismus ein. Diese Einwirkung, im zweck-
mässigen Momente auf geeignete Störungen der Gesundheit angewendet, kann
letztere wieder herstellen, und es wird nur zu häufig diese Thätigkeit vom
grossen Publikum als einzige Aufgabe des Arztes angesehen. Auf der an-
deren Seite kann aber auch jede solche Einwirkung einen gesunden Organis-
mus krank machen. Die Fälligkeit der Selbstregulirung oder Anpassung ver-
hindert es, dass nicht jede Aenderung der äusseren Verhältnisse mit einer
Erkrankung des Individuums beantwortet wird. Eine nicht minder umfassende
Aufgabe für den Arzt wie die Krankheitsheilung ist das Studium aller schäd-
lichen äusseren Einflüsse, ihre Vermeidung für das einzelne Individuum und
damit die Erhaltung der Gesundheit oder Gesundheitspflege.
Dies entspricht dem Bestreben des Einzelnen, sich selbst zu erhalten, dies
*) Sodomie mit einer Stute. Vierteljahrsschr. f. ger. u. öff. Med. 1865. S. 160.
GESUNDHEITSPFLEGE. 395
entspricht dem Interesse der Gesammtheit, aus deren Productionsgewinne an-
fänglich das Individuum erzogen wird und der das producirende Individuum
erst nach dieser Erziehung, je gesünder und länger es lebt, um so höher
die Erziehungskosten durch Förderung des allgemeinen Wohlstandes zurück-
erstattet. In der Gesundheitspflege tritt der Arzt, befähigt durch seine Kennt-
nisse im Bau und der Function des Körpers, als Berather des Einzelnen und
der Gesammtheit auf. Die Gesammtheit kann ausser dem Staate auch jede
andere Vereinigung einer Mehrheit von Individuen sein, die in ihrem Wohl-
ergehen irgendwie auf die gegenseitige Gesundheit angewiesen sind, wie eine
Familie, ein Hausstand (Gefängnis, Kaserne etc.), ein Gewerbe oder eine
Commune. In allen diesen Organisationen können besondere gemeinsame Ein-
griffe oder liegeln zur Vermeidung von Gesundheitsschädigungen geboten sein.
Zugleich haben diese Organisationen ein Interesse, die eingetretene Gesund-
heitsstörung eines einzelnen Individuums auf einen möglichst leichten Grad
und eine kurze Dauer herabzudrücken und bei ansteckenden Erkrankungen
andere Individuen zu schützen.
Eine Förderung des Gesammtwohles in dieser Richtung wird häufig nur
durch die schwersten Eingrifl'e in die persönliche Freiheit erreichbar sein.
Eine gesetzliche Festlegung der einschlägigen Pflichten und Rechte in der
Organisation einer solchen Gesammtheit und eine Abgrenzung der Personen,
welche sich damit zu befassen haben, wird nöthig. Es behandelt dies das
Seuchen-, Kranken- und Heilwesen, das wühl von allen Seiten als ein
Gebiet für den Arzt anerkannt wird. Schädigungen durch Nahrungs- und
Genussmittel fernzuhalten, ist Sache der Marktpolizei und der Aufklärung
des Einzelnen in der Ernährungslehre. Zu den Nahrungsmitteln, aber
auch zur Reinigung von Wohnung und Kleidung ist die Wasserversor-
gung von höchster Wichtigkeit. Zum Schutze gegen klimatische Schädi-
gungen bedürfen wir Wohnung und Kleidung, die durch Abfallstoffe
und Ausscheidungen neue Speicher von Gesundheitsschädlingen werden
können und auf deren zweckmässigste Befreiung von dergleichen Anhäufungen
besonders Bedacht zu nehmen ist. Um so schlimmer können letztere Schä-
digungen wirken, je enger eine grössere Zahl von Individuen zusammen-
gedrängt ist. Es entstehen daraus die besonderen Aufgaben der Wohnungs-,
Schul- und Gewerbehygiene. Für die Beschäftigung kommt in Betracht,
dass viele Gewerbe nur unter Verwendung gesundheitsschädlicher Stofie oder
unter gesundheitsschädlichem Hantieren mit an und für sich unschädlichen
Stoffen betrieben w^erden können. Hier ist ein Minimum von Schädigung zu
erstreben. Wenn sich die Bewohner zweier Länder gegenseitig im Kriege
kampfunfähig zu machen streben, so ist doch in einer Kriegshygiene
für die Angehörigen der eigenen Xation, wie für die Ueberlebenden der feind-
lichen Nation ein günstiger Gesundheitszustand erstrebenswerth, selbst wenn
man wie in vergangenen Jahrhunderten den unterworfenen Feind nur als
leibeigenen Knecht verwenden will. Die Leichen der Todten müssen ent-
fernt und dabei vielfach Rücksicht auf religiöse und andere Gefühle der
Lebenden genommen werden.
Mit grösserer Berechtigung müssen auch bei allen übrigen Theilaufgaben
der Gesundheitspflege, wie ich sie oben theilweise im grossen Ueberblick
berührte, manche der besten Maassnahmen unterbleiben, um nicht die Ge-
sammtheit mit zu hohen Kosten zu belasten, den allgemeinen W'ohlstand
dadurch herabzudrücken und damit durch schlechtere Lebenshaltung neue
Gesundheitsschädigungen zu Schäften. Bei der Schwierigkeit, zwischen diesen
oft gegensätzlichen Interessen das Richtige zu wählen und die betheiligten
Personen zur Durchführung desselben zu veranlassen, ist eine Popularisirung
der Lehre von der Gesundheitspflege bei allen Verwaltungsbeamten, Technikern,
besonders aber den Trägern der communalen Behörden nothwendig, bei jedem
396 GESUNDHEITSPFLEGE.
Einzelindividuum aber erwünscht, und zwar um so erwünschter, auf eine je
grössere Zahl anderer Individuen es maassgebenden Einfluss besitzt. Ein Ein-
gehen auf die Einzelfragen der Gesundheitspflege ist in diesem Artikel
nicht möglich. Dieselben sind unter den einzelnen Schlagworten zu finden.
Dagegen erscheint hier ein kurzer historischer Rückblick am Platze.
Eine Gesundheitspflege, welche auf alle Bewohner einer Commune oder
eines Landes Bedacht nimmt, ist erst seit einem Jahrhundert denkbar und
seitdem eine ideale Forderung, aber in einer Weise, dass keinem Einzelnen
im Interesse der Gesammtheit das Recht zum Leben benommen wird. Stets
trat in der Geschichte wieder das Bestreben hervor, die Lebenshaltung der
Gesammtheit dadurch zu verbessern, dass man unheilbare Kranke, krüppel-
hafte Kinder und ähnliche beseitigte. Einzelne Personen oder Bevölkerungs-
classen hatten als Bevorzugte wieder besondere Rechte, die Fürsorge für
ihre Gesundheitspflege den übrigen Mitbürgern gegenüber in den Vordergrund
zu schieben. Dazu änderten sich in den Jahrhunderten ständig die Ansichten
über das Wesen und die Ursachen der Krankheiten und auch der Wohlstand
der Menschheit. Dies gibt eine von Geschlecht zu Geschlecht und von Volk
zu Volk verschiedene Stellung zur Gesundheitspflege.
Das älteste Culturvolk, in dessen Medicin und Gesundheitspflege wir einen Einblick
haben, sind die Aegypter. Die geographischen Verhältnisse bedingen hier wie in ganz
Afrika ein Ueberwiegen der Erkrankungen durch makroskopische und mikroskopische
Helminthen, während Europa der Erdtheil der Bacterien- und Coccenkrankheiten ist.
Dazu kam die ägyptische Krankheitslehre, welche die Ursache für jede Krankheit ausserhalb
des Körpers, sei es nun in göttlichen oder naturwissenschaftlichen Ursachen suchte. Der
Aegypter sah, dass diese Ursachen in dem einen Falle Krankheiten hervorbrachten, in dem
anderen nicht. Wir könnten darnach a priori beim Aegypter eine Lehre von der Krankheits-
disposition voraussetzen. Doch kehrt der Aegypter die Verhältnisse völlig um, indem er
die Krankheitsdisposition für den normalen Zustand auffasste und den Mangel dieser
Disposition erst für individuell erworben hielt. Eine Aufgabe der Gesundheitspflege im
alten Pharaonenlande war es also, dem Individuum diese Dispositionslosigkeit zu verschaffen.
Auch für den Gesunden kommen daher zeitweise Abführ- und Brechmittel in Frage,
ausserdem Waschungen und ähnliches. Diese präservative Behandlung hat ihre Ausläufer
bis heute bei unserem Landvolke in Frühjahrsabführcuren und Frühjahrsaderlässen ge-
trieben. In mancher Pachtung mögen die Aegypter praktische Erfolge aufzuweisen gehabt
haben; denn die Mumien beweisen heute noch, dass ihre conservative Behandlung der
Gebisse z. B. Erfolge erzielte, wie sie heute als ideal unerreichbar erscheinen müssen.
Könige und Priester waren den anderen Bewohnern gegenüber höherwertige Personen, auf
deren Gesundheitspflege natürlich auch mehr Gewicht gelegt wurde. Die Diät war theil-
weise bis in Einzelheiten vorgeschrieben in der Weise, dass für den nur geistig arbeitenden
Gelehrten schwer verdauliche Speisen, wie Schweinefleisch und Bohnen, verboten waren.
Die Hautpflege war durch Enthaarungs- und Bädervorschriften für den Priesterstand
strenge geregelt. Auch die Kleidung und die Beschneidung war demselben vorgeschrieben,
wie auch ein massiger Gebrauch des Geschlechtsverkehres (Monogamie). Alles bisher
Aufgeführte können wir als den Ausfluss einer vernünftigen, empirischen Hygiene be-
trachten, die allerdings der Individualität nur geringen Spielraum lässt. Bei dem all-
mähligen Ueberhandnehmen der Zaubermedicin wurde der Krankheitsschutz fast nur
mehr _ durch Zauberschutz zu erreichen gesucht. Die persistirenden Euinen der alten
empirischen Gesundheitspflege erhielten abergläubische-religiöse Auslegung. Amulette
traten in den Vordergrund. Eine Tagewählerei von kaum glaublicher Spitzfindigkeit trat
in volle Geltung und knechtete das Individuum, das sich ihr unterwarf. Auch hievon
sind noch Reste in der modernen Volksmedicin nachweisbar, wie die Tagewählerei für
Haarschneiden oder Aderlass. Die Gesundheitspflege in diesem Stadium war ein buntes
Gemisch hygienischer, aseptischer, symbolischer und abergläubischer Regeln für die höheren
Stände. Die niederen Stände trugen um so härter daran, als sie nur vermehrte und er-
schwerte Arbeit hatten, um den höheren Ständen ein Leben nach diesen Regeln zu er-
möglichen, ohne dass diese höheren Stände einen Genuss von einem Leben der Sclaverei
vielfach übertriebener Gesundheitsregeln haben konnten. Diodor giebt uns eine Darstellung
des täglichen Lebens eines ägyptischen Königs, die allerdings durch keine ägyptischen
Originalberichte beglaubigt ist; darnach war jede Minute in der Tageseintheilung des
ägyptischen Königs so streng und vernünftig festgestellt, als hätte dieselbe ein Arzt
erfunden. Man müsste darnach fast annehmen, das ganze alte Aegypten mit seinen circa
5 bis 7 Millionen Einwohnern habe sich in allen seinen staatlichen Einrichtungen darnach
regieren lassen, um die Gesundheit eines einzelnen Menschen, nämlich des Königs, zu
pflegen und zu erhalten. Die Erhaltung der Gesundheit wird auch im Dinkart der
i
GESUNDHEITSPFLEGE. 397
Zendavesta, dem ältesten Religionsbuche der Perser, als nothwendig für eine gesunde
Seele hingestellt. Es heisst dort § 58: Der Arzt des Körpers ergänzt den Seelenarzt und
der Seelenarzt ergänzt den Arzt für den Körper. Der Arzt für den Körper hat fünf
Aufgaben, die entspringen 1. aus den Sorgen für die Samenflüssigkeit, 2. für richtigen
Geschlechtsverkehr, 3. für den Fötus. 4. für die Geburt und 5. für Erhaltung der körper-
lichen Gesundheit. — In Mesopotamien sind bei den Babylon lern, so viel schon heute
aus den Keilschriften erschlossen ist, strenge Gesetze für die Gesundheitspflege vorhanden,
so vor allem für Waschungen nach dem äusserst lockerem Geschlechtsverkehr. Bei allen
diesen vorhippokratischen Völkern, vor allem einschliesslich der Israeliten, sind die
Regeln für Gesundheitspflege mit religiösen Vorstellungen verquickt, so dass bei hygienisch
völlig veränderten Lebensbedingungen oder bei wissenschaftlicher Weiterentwicklung die
Gesundheitspflege auf einem archaistischen Standpunkte stehen blieb und überhaupt das
Bewusstsein schwinden konnte, dass eigentlich nicht Pieligions Vorschriften, sondern Regeln
der Gesundheitspflege vorliegen. — Weiter nördlich in China und dem modernen Europ a
hat die Gesundheitspflege vielfach auf Abhaltung der Kälteeinwirkung bedacht zu sein.
Das Vordrängen der Sorge um die Kleidung hat einen Formensinn der Mode geschaffen, so
dass der Auswuchs dieser Gesundheitspflege z. B. in den chinesischen Schuhen und den
modernen Corsetten gerade selbst wieder die schwersten Versündigimgen gegen die Ge-
sundheitspflege ausgeboren hat. — In Hellas und Rom wehte ein demokratischer Geist
der Gleichberechtigung für alle Bürger. Darum war auch die Gesundheit aller Bürger
gleich wichtig und es wurde umfangreich für dieselbe gesorgt. Dabei dürfen wir aber
nicht aus dem Auge verlieren, dass nur ein Bruchtheil der Bewohner freie Bürger waren,
während der überwiegende Theil der Bevölkerung aus Sclaven bestand. Für letztere
kommt nur das Interesse ihrer Herren in Betracht, die Arbreitskraft ihres Sclaven möglichst
lange und möglichst ungeschmälert ausnützen zu können. Für die Gesundheitspflege der
Vollbürger wurde in splendider Weise aus öffentlichen Mitteln gesorgt. Freilich war die
Aufgabe der Gesundheitspflege bei allen vorchristlichen Völkern eine um das leichtere,
als alle schwächlichen Kinder durch Abtödten nach der Geburt von einer Last für sich und
andere befreit wurden. Bei den Ueberlebenden wurde das erste Augenmerk auf eine
gesunde Entwicklung des jugendlichen Körpers besonders durch Gymnastik gelegt. Die
Hautpflege durch kalte und warme Bäder nahm von der Jugend bis ins Alter den
breitesten Raum ein. Dass aber hierin das Alterthum nicht ein Üebermaass, sondern wir
Modernen ein Mindermaass einhalten, beweist auch der hohe Wert, der z. B. bei den
Japanern auf ausgiebigsten Gebrauch der Bäder für Gesundheitspflege gelegt wird. Das
Studium dieser Richtung der antiken Gesundheitspflege besonders in Bezug auf Verbilligung
und Verallgemeinerung der Bäderbenützung hat für den Arzt nicht nur theoretisches,
sondern das activste praktische Interesse in der Anwendung auf die Gegenwart. Denn
auch das Mittelalter vor Beginn der abschliessenden ßeligionswirren ist von uns in der
Hautpflege und der Hautreinlichkeit nicht wieder erreicht, und während jene Zeit allmählich
Krankheiten, wie die Lepra, zum Verschwinden bringen konnte, tauchen heute wieder da
und dort neue Lepraherde auf.
Während man sich bis in die Neuzeit in den grössten Coramunen mit
dem verunreinigten Grundwasser behalf, hatte griechisches und römisches
Alterthum selbst in den kleinsten Gemeinwesen für die kostspieligsten Wasser-
leitungsanlagen gesorgt. Die Vorliebe jener alten Völker, ihre Ortschaften an
Abhängen zu gründen, gegenüber nordeuropäischer Gepflogenheit, im Fluss-
thale zu bauen, forderte solche Wasserleitungsanlagen als gebietende Noth-
wendigkeit. Aber schon diese antike Ortschaftswahl, welche Niederungsboden
mit stagnirendem Grundwasser und Ueberschwemmungsbetten von Flussläufen
mied, entsprach viel mehr als unsere modernen Verhältnisse den Forderungen
der Gesundheitspflege. Wenn auch heute nicht mehr ganze Städte aus dem
Flussthal herausverlegt werden können, so kann mit dem Studium der an-
tiken Anlagen auf die Richtung eingewirkt werden, nach der sich manche
Städte vergrössern sollten. In der Verbreiterung der Strassenanlagen und in
der Möglichkeit, durch billige Glasproduction den Wohnungen ein Mehr an
Licht und theilweise selbst Luft zu schaflen, haben wir das Alterthum über-
flügelt, aber erst in einem Zeiträume, der nach wenigen Jahrzehnten zählt.
Die antiken und modernen Wohnungen selbst lassen sich bei den grossen
Umwälzungen in der ganzen Lebensweise nur sehr im allgemeinen im Hin-
blicke auf die Gesundheitspflege vergleichen. Zu beachten ist aber, dass schon
nordafrikanische Städte mit griechischer Cultur und selbst auch schon assy-
rische Häuser auf eine Entfernung der Fäcalien durch Canäle eingerichtet
waren, an denen noch mancher moderne grossstädtische Magistrat Studien
398 GESUNDHEITSPFLEGE.
machen könnte. Während die Ausübung der Heilkunde wie jedes andere
Gewerbe frei war, so wussten sich doch sowohl in Griechenland wie im rö-
mischen Eeiche die einzelnen Communen durch Besoldung die Niederlassung
besonders tüchtiger Aerzte zu sichern. Wenn Galenus Arzt einer Fechterschule
war, so entspricht dies unserem modernen Cassenarzt. Eine Gesundheitspflege
durch Ordnung des Heil-, Kranken- und Seuchenwesens war überall vorhanden,
lag aber im Gegensatz zu unserer modernen Centralisirung der Gesetzgebung
vollständig decentralisirt in den Händen der einzelnen Communen. Bei der
ausgesprochenen Sorge für die körperliche Entwicklung der Kinder und bei
der einem warmen Klima entsprechenden leichten oder mangelnden Beklei-
dung der Kinder ist von einer Schulhygiene keine Rede, obwohl im alten
Aegypten schon Kinder mit vier Jahren in die Schule gingen, um Schreiben
und Lesen zu lernen. Bei jenen Völkern des Orients, von denen wir medi-
cinische Ueberlieferungen in grösserem Maasse besitzen, bestand überall auch
eine ausgebildete und in Anspruch genommene Thierheilkunde. Bei der
Uebertragbarkeit vieler Thierkrankheiten auf den Menschen und der häufigen
Gesundheitsschädlichkeit kranken Fleisches nimmt das einschlägige moderne
Publikum nicht mehr im gleichen wünschenswerten Maasse die Hilfe der Ve-
terinärkunde in Anspruch und sieht selbst mit einer höchst unangebrachten
Geringschätzung auf ihre Vertreter herab. Bei den Alten waren es theils
religiöse Rücksichten auf verehrte Thiere, wie in Aegypten, oder theils auf den
gottähnlichen Menschen, wie im alten Testamente, welche eine Veterinärkunde
förderten. Aber auf die Gründe kann es nicht ankommen; wenn nur über-
haupt eine frühere Nahrungsmittelpolizei ausgiebigeren Gebrauch von der Hilfe
der Thierheilkunde machte, als es heute noch vielfach der Fall ist, so müssten
wir zum mindesten streben, jenen alten Zeiten wieder gleich zu kommen.
Auch die übrige Marktpolizei war im Alterthum vielfach strenge, obwohl wir
über viele Einzelheiten nicht mehr unterrichtet sind. Dass selbst im Mittel-
alter nach den verschiedensten Richtungen noch Wert auf die Erhaltung der
Gesundheit gelegt wurde, ersehen wir daraus, dass wohl das „Regimen sani-
tatis Salernitanum" eines der verbreitetsten Bücher ist, indem es seit 400 Jahren
über 200 Ausgaben erfuhr.
Im Allgemeinen kam aber dieser Zweig der Medicin, die vorhandene
Gesundheit zu erhalten, von Jahrhundert zu Jahrhundert mehr in Verfall.
Allerdings existirt bei den Naturvölkern auch keine Gesundheitspflege als
Wissenschaft, sondern immer nur einzelne zerstreute Lebensregeln, die sich
auf das eine oder andere Specialgebiet beziehen. Vor allem wird von den
Naturvölkern noch die Gesundheitspflege in ihren so wichtigen Beziehungen
zum Geschlechtsverkehr beachtet, so dass z. B. selbst die Beschneidung
als Vorbeugemittel gegen luetische Infection in den verschiedensten wilden
Völkerschaften vorgenommen wird. Im Allgemeinen ist bei uncivilisirten
Völkern eine Gesundheitspflege weniger nothwendig als für civilisirte Ver-
hältnisse. Bei dem geringen Schutze des Lebens des Individuums werden
schwächliche Personen lange vor der Geschlechtsreife ausgemerzt. Sie fallen
durch ihre schwächliche Gesundheit weder der Allgemeinheit selbst zur Last,
noch können sie ihre Schwächlichkeit dadurch auf Nachkommen vererben.
Die überlebenden kräftigen Individuen werden aber mehr und mehr durch
Anpassung widerstandsfähig gegen Gesundheitsschädigungen. Umgekehrt wirkt
aber eine höhere Cultur verweichlichend, und ist Generation um Generation
in steigendem Maasse genöthigt, die Gesundheitspflege in allen ihren einzelnen
Disciplinen auszubilden und anzuwenden und vor allem auch zu popularisiren.
Die Gesundheitspflege muss das Band zwischen Arzt und Laien in Zukunft
bilden.
F. V. OEFELE.
GESUNDHEITSSTÖRUNG. 399
Gesundheitsstörung. Gesetzliche Bestimmungen:
A. 0 esterreichiscLes Strafgesetz: § 152. Wer gegen einen Menschen, zwar
nicht in der Absicht, ihn zu tödten, aber doch in anderer feindseliger Absicht auf eine
solche Art handelt, dass daraus eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit
von mindestens zwanzigtägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung oder eine schwere
Verletzung desselben erfolgte, macht sich des Verbrechens der schweren körperlichen Be-
schädigung schuldig.
§ 153. Dieses Verbrechens macht sich auch derjenige schuldig, der seine leiblichen
Eltern; oder wer einen öffentlichen Beamten, einen Geistlichen, einen Zeugen oder Sach-
verständigen, während sie in der Ausübung ihres Berufes begriffen sind, oder wegen der-
selben vorsätzlich an ihrem Körper beschädigt, wenn auch die Beschädigung nicht die im
§ 152 vorausgesetzte Beschaffenheit hat.
§ 154. Die Strafe des in den §§ 152 und 153 bestimmten Verbrechens ist Kerker
von sechs Monaten bis zu einem Jahre, der aber bei erschwerenden Umständen bis auf
fünf Jahre auszudehnen ist.
§ 155. Wenn jedoch:
a) die obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf
solche Art unternommen wird, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist oder auf
andere Art die Absicht, einen der im § 152 erwähnten schweren Erfolge herbeizuführen,
erwiesen wird, mag es auch nur bei dem Versuche geblieben sein; — oder
h) aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit
von mindestens dreissigtägiger Dauer erfolgte; — oder
c) die Handlung mit besonderen Qualen für den Verletzten verbunden war; — oder
d) der Angriff in verabredeter Verbindung mit Anderen, oder tückischer Weise ge-
schehen, und daraus eine der im § 152 erwähnten Folgen entstanden ist; — oder
e) die schwere Verletzung lebensgefährlich wurde;
— so ist auf schweren und verschärften Kerker zwischen einem und fünf Jahren zu
erkennen. ,
B. Deutsches Strafgesetz: § 223. Wer vorsätzlich einen Andern körperlich
misshandelt, oder an der Gesundheit schädigt, wird wegen Körperverletzung mit
Gefängnis bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bis zu eintausend Mark bestraft.
Ist die Handlung gegen Verwandte aufsteigender Linie begangen, so ist auf Ge-
fängnis nicht unter einem Monat zu erkennen.
§ 223 a) Ist die Körperverletzung mittelst einer Waffe, insbesondere eines Messers
oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges, oder mittelst eines hinterlistigen Ueberfalls,
oder von Mehreren gemeinschaftlich, oder mittelst einer das Leben gefährdenden Behand-
lung begangen, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter zwei Monaten ein.
§ 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte ein wichtiges Glied
des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder
die Zeugungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird, oder in
Siechthum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf
Jahren, oder Gefängnis nicht unter einem Jahre zu erkennen.
§ 225. War eine der vorbezeichneten Folgen beabsichtigt und eingetreten, so ist aut
Zuchthaus von zwei bis zu zehn Jahren zu erkennen.
§ 226. Ist durch die Körperverletzung der Tod des Verletzten verursacht worden,
so ist auf Zuchthaus nicht unter drei Jahren oder Gefängnis nicht unter drei Jahren zu
erkennen.
Die Beurtheilung einer durch rechtswidrige Handlungen
gesetzten Körperbeschädigung erfolgt stets nach gewissen, durch die
strafgesetzlichen Bestimmungen vorgesehenen Normen, deren
Beachtung von Seiten der ärztlichen Sachverständigen im Interesse der
Rechtspflege, sowie im Interesse einer leichteren Verständigung
geboten erscheint.
Nach dem deutschen Strafgesetz geschieht die Classificirung
der aus Körperverletzungen erwachsenden Schäden, wie aus
den vorstehenden bezüglichen Bestimmungen zu ersehen ist, hauptsächlich
mit Zugrundelegung der eventuell bleibenden Folgezustände; für den
französischen Code penal ist ausschliesslich die Dauer der Ge-
sundheitsstörung für die Strafbemessung bestimmend, während in dem
österreichischen Strafgesetzbuch, sowie theilweise auch in dem
Entwurf zu einem neuen österreichischen Strafgesetzbuche
beiden Grundsätzen Rechnung getragen wird.
400 GESUNDHEITSSTÖRUNG.
Unter Gesundheitsstörung im strafrechtlichen Sinne verstehen
wir die krankhafte Beeinflussung des irgend einer Schädigung
unmittelbar vorausgehenden Allgemeinbefindens, wie sie sich
durch die Attribute der Krankheit (als Unwohlsein, Schmerz-
haftigkeit, Schwellungen und Verfärbungen des Integumentes,
Abweichungen der Temperatur und des Pulses von der Norm
u. dgl.) gemeinhin zu äussern pflegt. Obscbon die Dauer der Ge-
sundheitsstörung mit jener der Heilung parallel geht, so sind
nach der Auffassung des Gesetzgebers Gesundheitsstörung und Heilungs-
dauer keineswegs als synonyme Begriffe zu betrachten, nachdem im
österreichischen Straf-Gesetz ein^besonderes Hervorheben der Berufsunfähigkeit,
welche doch nur an das Bestehen einer mit einer Gesundheitsstörung ver-
knüpften organischen Erkrankung gebunden ist, für nöthig befunden wird.
Unter der Voraussetzung, dass die Begriffe Gesundheitsstörung und Heilungs-
dauer identisch wären, müsste die eigene Nominirung der Berufsunfähigkeit
neben der Gesundheitsstörung als Tautologie bezeichnet werden (Herbst,
Commentar).
Mit dieser Auffassung stimmen auch die täglichen Erfahrungen der
Praxis übefein, nach denen ein Verletzter, dessen Hautwunde z. B. am
Kopfe noch nicht complet geschlossen ist, anstandslos für gesund angesprochen
wird; während andernfalls die Gesundheitsstörung die Heilung z, B. bei
länger anhaltender Schmerzhaftigkeit im beschädigten Gliede mitunter auch
überdauern kann.
Zu den Kriterien einer schweren körperlichen Beschädigung
gehört nach den österreichischen Gesetzen nächst einer mit feindseliger
Absicht verbundenen Handlung eine daraus entsprungene Gesund-
heitsstörung von mindestens 20tägiger Dauer (österreichisches
Strafgesetz § 152), deren zeitliche Feststellung unter allen Umständen dem
Gerichtsarzte allein zufällt. Wie wir soeben dargethan haben, decken sich
die Dauer der Gesundheitsstörung und jene der Heilung nicht
immer, es kann vielmehr zuweilen die eine länger währen als die andere.
In analoger Weise braucht auch dasZeitmaass der Gesundheitsstörung
mit dem der Berufsunfähigkeit nicht nothwendig jedesmal
vollkommen zusammen zu treffen, da erfahrungsgemäss bei noch
vorhandener Gesundheitsstörung die Berufsunfähigkeit schon behoben sein
kann, z. B. wenn ein praktischer Arzt mit nicht völlig verheilter Radius-
Fractur oder kurz nach einer reponirten linksseitigen Schulter-Luxation un-
gestört seiner Berufsthätigkeit nachzugehen vermag, ohne dass er schon völlig
gesund wäre.
Trotzdem in der grössten Zahl der Fälle die Coincidenz der Ge-
sundheitsstörung und Berufsunfähigkeit ausser Zweifel steht, muss
mit Piücksicht auf die soeben herangezogene Möglichkeit einer In-
congruenz betreffs der Zeitdauer der beiden auf ein eventuell
unterschiedliches Verhalten derselben eigens aufmerksam gemacht werden.
Für den Nachweis des objectiven Thatbestandes der schweren körperlichen
Beschädigung ist es zwar ganz gleichgiltig, ob die Gesundheitsstörung oder
die Berufsunfähigkeit mindestens 20 Tage gewährt hat, aber gegebenen Falls
kann der Pächter durch ein entsprechendes Auseinanderhalten beider Begriffe
eine höchst erwünschte Directive für die rechtmässige Zuerkennung des aus
der Verletzung erwachsenen Schadens geliefert werden.
Die Entscheidung, ob die Gesundheitsstörung eine blos vor-
übergehende oder aber in Folge des Ausganges der Verletzung in immer-
währendes Siechtum, in eine unheilbare Krankheit oder eine
Geisteszerrüttung ohne Wahrscheinlichkeit der Wieder-
GEWERBEHYGIENE. 401
herstellung eine bleibende ist, untersteht immer dem begutachtenden
Arzte und dürfte kaum je auf erhebliche Schwierigkeiten stossen.
Eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit von
mindestens dreissigtägiger Dauer auf Grund einer an sich leichten
Verletzung involvirt nach § 155 h österreichisches Strafgesetz, den That-
bestand der qualificirten schweren Körperbeschädigung.
C. IPSEN.
Gewerbehygiene. Zu den vielerlei Einwirkungen, die geeignet sind,
die Gesundheit des Menschen zu untergraben, gehört sicherlich auch das Ge-
werbe, wie aus der Morbilitäts- und Mortalitätsstatistik hervorgeht. Schon die
Aerzte des Alterthums schreiben bestimmten Gewerben einen specifischen
schädlichen Einliuss zu, doch sind erst in neuester Zeit die Krankheiten der
Arbeiter Gegenstand eines besonderen Studiums geworden. Die Resultate
hiervon gaben Anlass zu den verschiedensten gesetzlichen Vorschriften für den
Gewerbebetrieb.
Vor allem hat wohl die Arbeitsdauer und das Arbeitsmaass am meisten
Einfluss auf das körperliche und geistige Wohl der arbeitenden Classen und
ferner werden die einzelnen Berufsschädlichkeiten um so stärker wirken, je
widerstandsunfähiger ein Individuum ist.
Auf alle diese Reize reagiren nun manche überhaupt nicht, andere erst
nach längerer Zeit, während wir wiederum bei andern sofortige typische Er-
scheinungen auftreten sehen, sei es nun in Form einer Vergiftung oder einer
Erkrankung der besonders disponirten, resp. den schädlichen Einflüssen am
stärksten ausgesetzten Organe. Es ist somit anzunehmen, dass unter einer
Anzahl von Menschen, die alle den gleichen Schädlichkeiten ausgesetzt sind,
die einen besser dagegen geschützt sind als die andern. Dieser Schutz kann
nun angeboren, also der Vortheil einer kräftigen Constitution sein, oder er ist
erworben, was durch rationellere Lebensführung erreicht wurde, wobei die
Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse dann eine bedeutende Rolle spielen.
Die modernen Wohlfahrtsbestrebungen und Einrichtungen haben also insofern
eine hygienische Bedeutung, als sie geeignet erscheinen, mit der Zeit eine physisch und
moralisch kräftige Arbeiterbevölkerung heranzuziehen. Der Arbeiterschutz ist_ daher
nicht nur vom humanen und moralischen Standpunkt aus geboten, sondern auch im In-
teresse der Volksgesundheit. Je mehr man den Arbeiter veranlasst zu einer gesunden und
ökonomischen Lebensführung, um so bessere Erfolge werden von den öffentlichen und
privaten Einrichtungen zum Wohle der Arbeiter zu erwarten sein.
Untersuchen wir nun den Einfluss der verschiedenen Gewerbe auf die
betreffenden Arbeiter, so ist in erster Linie zu betonen, dass auch hier wieder
viel von der Individualität abhängt, indem ganz bestimmte Krankheiten mit
bestimmten Gewerben nicht untrennbar zusammenhängen, und nur weil die ein-
zelnen Berufsarten verschiedene Anforderungen an körperliche und geistige
Thätigkeit stellen, kann man von Berufskrankheiten sprechen.
Wie schon oben erwähnt, kommt von allen Betriebsgefahren die über-
mässige Arbeitsdauer am meisten in Betracht, denn je complicirter die
Technik und die Maschinen, um so grösser werden die an den Arbeiter ge-
stellten Anforderungen und um so dringender wird die Nothwendigkeit einer
Verkürzung der Arbeitszeit. Ein Uebermaass an Arbeit und Arbeitsdauer ver-
ringert die Widerstandsfähigkeit und ruft öfters functionelle Erkrankungen
hervor. Es wird ausserdem, je länger die Arbeitszeit bemessen ist, eine um
so weniger gesundheitsgemässe Lebensführung der Arbeiter die nothwendige
Folge sein.
Die specifischen Gefahren der Gewerbebetriebe lassen sich ein-
theilen in solche, die durch gewerbliche Gifte, Staubinhalation, Infections-
stoöe, schlechte Luft und sonst noch mancherlei Schädlichkeiten bedingt sind.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 26
402 GEWERBEHYGTENE.
GewerbKclie Vergiftungen sind ermögliclit durch die Verwendung, resp.
Verarbeitung direct giftiger oder unter besonderen Umständen giftig wir-
kender Substanzen, theils in festem, tbeils im flüssigen oder gasförmigem
Zustand. Hierher gehören: Kupfer, Zink, Blei, Quecksilber, Arsenik, Phosphor,
Schwefelwasserstoff, Schwefelkohlenstoff, Chlor und Chlorwasserstoff, Cyan-
wasserstoff. Weiterhin schweflige und salpetrige Säure, Kohlensäure, Kohlen-
oxyd, Benzol und seine Derivate u. a, m.
Metallarbeiter, Buchdrucker, Anstreicher, Spiegelbeleger, Verfertiger
physikalischer Apparate, Berg- und Hüttenarbeiter, Cloakenreiniger und solche,
die sich mit der Herstellung von Farben oder anderen chemischen Producten
beschäftigen, sind obigen Schädlichkeiten besonders unterworfen. Diese ge-
stalten sich hinwiederum verschieden, je nach der Art des Giftes und seiner
Aufnahme, nach der Dauer der Einwirkung und dem Grad der Widerstands-
fähigkeit des ganzen Körpers oder einzelner Organe.
Erkrankungen des Respiration sapparates in Folge von Reizung durch
giftige Substanzen treten hauptsächlich auf bei Grubenarbeitern und solchen,
die den Dämpfen der verschiedenartigen Säuren ausgesetzt sind. Krankheiten
der Verdauungsorgane kommen besonders häufig vor in Betrieben, in denen
Blei, Quecksilber, Arsen, Zink, Schwefelwasserstoff und Schwefelkohlenstoff
Anwendung finden. Die Haut erkrankt vornehmlich bei Arbeitern in Farben-,
Theer-, Leim- und Paraffinfabriken, ferner bei Galvaniseuren, Schmieden und
Wäscherinnen. Das Nervensystem wird durch Beschäftigung mit Anilin,
Kohlenoxyd, Schwefelwasserstoff, Blei, Arsen, Quecksilber etc. geschädigt. Bei
weiblichen Arbeitern kommen alle diese Schädigungen wegen ihres ungünstigen
Einflusses auch auf die Nachkommenschaft noch mehr in Betracht, als bei
Männern.
Staubinhalation. In Betrieben, welche nicht mit specifisch giftigen Stoffen
arbeiten, ist das Personal vielfach gezwungen, eine Luft einzuathmen, die reichlich
anorganischen oder organischen Staub enthält. Diese Staubinhalation bedingt
einen Reizzustand der Athmungsorgane, der schliesslich zu chronischen Ka-
tarrhen führt, so dass der Tuberculose so zu sagen Thür und Thor offen
stehen.
Nicht alle Staubarten sind indessen gleich gefährlich, sondern man darf
mit Recht annehmen, dass die spitzen und scharfkantigen Staubpartikelchen,
wie sie von Metallarbeitern und Steinhauern eingeathmet werden, den grössten
Schaden anrichten, weshalb man auch geradezu von einer Steinhauertuber-
culose spricht. Kohlenstaub ist schon weniger Gefahr bringend, und man
findet in Industriebezirken bei Sectionen oft Lungen, deren Lymphdrüsen und
Parenchym von Kohlenstoff vollgepfropft und schw^arz gefärbt erscheinen, ohne
dass das betreffende Individuum Beschwerden davon hatte. Dem Einathmen
organischen Staubes sind insbesonders ausgesetzt die Bäcker, Müller, Spinner,
Weber, Cigarrenarbeiter, Gerber und Kürschner. Die organischen Staubarten
sind gegenüber dem metallischen und mineralischen Staub die ungefährlicheren.
Von ihnen erscheint dann wiederum der animalische Staub, wie er in Ger-
bereien, Kürschnereien etc. vorkommt, der weniger gesundheitschädliche zu
sein, sofern er nicht etw^a specifische pathogene Pilze enthält, die bei einem
bestehenden Entzündungszustand der Lungen sich einnisten können.
Infectionsstoffe. Die Uebertragung von Infectionsstoffen vom Arbeits-
material auf die Arbeiter ist ermöglicht durch Verarbeitung inficirter Roh-
stoffe, z. B. von Rohhäuten, Wolle u. s. w\ von Thieren, die an Milzbrand
und ähnlichem zu Grunde gingen. Auch sollen in Lumpensortirereien schon
Pocken und andere Infectionskrankheiten verbreitet worden sein. Infections-
übertragung von einem Arbeiter auf den andern ist überhaupt überall möglich,
wo viele Menschen zusammen arbeiten und leben.
GEWERBEHYGIENE. 403
Schlechte Luft finden wir stets da, wo viele Menschen in verhältnis-
mässig engen, geschlossenen Räumen zusammen sind. Diese Luftverschlech-
terung ist nicht allein ein Product der Athmung und Ausdünstung des Körpers,
sondern auch der Gase und Dämpfe, die dem Arbeitsmaterial, den Maschinen,
dem Schmieröl etc. entstammen. Rechnen wir dazu noch die künstliche Be-
leuchtung, sofern sie durch Gel, Petroleum oder Gas bewerkstelligt wird, so
sehen wir eine Menge von Ursachen vereinigt, die geeignet erscheinen, eine
ungesunde Atmosphäre zu erzeugen. Diese Schädlichkeiten kommen noch viel
mehr in den Werkstätten der kleinen Handwerker zum Ausdruck, wofür die
Statistik wiederum die nöthigen Anhaltspunkte giebt. Für die Gesundheit
ist der Aufenthalt in derartigen Räumen insofern ungünstig, als durch die
Einathmung verdorbener Luft der Organismus geschwächt und für allerlei
Krankheiten empfänglich wird.
Sonstige Schädlichkeiten. Rascher Temperaturwechsel, grosse Trocken-
heit oder Feuchtigkeit der Luft haben ebenfalls einen schädlichen Einfluss
auf die Arbeiter in manchen Betrieben. Wir sehen z. B. öfters bei Bier-
brauern, die von den heissen Darrböden alsbald in den Keller sich begeben,
Krankheiten der Nieren und des Gefässsystems (Herzfehler nach Rheumatis-
mus) auftreten, die wir ganz gut auf eine Erkältung zurückführen können.
Dasselbe beobachten wir auch beim Zugspersonal und anderen Leuten, die den
Unbilden der Witterung in hervorragender Weise ausgesetzt sind. Der grosse
Alkoholconsum, den wir bei manchen Berufsclassen ganz besonders verbreitet
finden, mag hier ebenfalls in Betracht kommen. Ueberanstrengung einzelner
Organe, wie z. B. der Augen bei Schleifern, Graveuren, Näherinnen und
Stickerinnen, vielleicht noch verbunden mit mangelhafter oder zu greller Be-
leuchtung, ist gleichfalls unter die Berufsschädlichkeiten zu zählen. Bäcker,
Kellner und andere Leute, die viel und manchmal sogar noch in gezwungener
Haltung stehen müssen, zeigen öfters typische Veränderungen an den unteren
Extremitäten, das sogenannte genu valgum, welches zum guten Theil auf rein
mechanischem Weg entstehen dürfte. Das Arbeiten unter erhöhtem Luft-
druck birgt, bei Befolgung der nöthigen prophylactischen Maassregeln, an sich
keine grossen Gefahren.
Diese Art von Arbeit kommt in neuerer Zeit immer mehr bei Brückenbauten in
Anwendung, wo bei der Herrichtung der Brückenpfeiler das Wasser nicht ausgepumpt,
sondern aus den grossen eisernen Caissons, die nach Art einer Taucherglocke als Funda-
mente in das Flussbett versenkt werden, durch Pressluft ausgetrieben wird. Die Arbeiter,
welche in und unter dem Caisson den Grund wegschaffen und ihn auf diese Art immer
tiefer sinken lassen, müssen mit grosser Vorsicht ein- und ausgeschleusst werden, wie der
technische Ausdruck lautet, d. h. der Luftdruck darf nur ganz allmählig gesteigert, resp.
verringert werden, wenn nicht schwere Folgeerscheinungen auftreten sollen.
Am Schluss der Besprechung über die Schädlichkeiten des Gewerbe-
betriebs mag noch erwähnt sein, dass nicht nur den Arbeitern, sondern auch
den Anwohnern Gefahren drohen durch Ableitung von Gasen, Dämpfen und
flüssigen Nebenproducten in Luft, Wasser und Boden; doch ist dieser Ver-
unreinigung in neuester Zeit durch gesetzliche Verordnung über Unschädlich-
machung solcher Stoffe ein Riegel vorgeschoben.
Die Vorkehrungen, welche theils von gesetzgebender, .theils von medi-
cinischer und technischer Seite getroffen, resp. vorgeschlagen wurden, gehen
nach zwei Richtungen hin, nämlich erstens nach derjenigen der Unfallver-
hütung und zweitens nach der des Betriebsschutzes, also nach der gesund-
heitsgemässen Einrichtung von Werkstätten.
Für die Unfallverhütung kommen hauptsächlich die Errungenschaften
der immer weiter fortgeschrittenen Technik in Betracht, als da sind Schutz-
vorrichtungen an Maschinen und die eventuelle Ausrüstung des Arbeiters
selbst mit Respiratoren, Schutzbrillen etc. Hierher kann man schliesslich
noch die Aufstellung von Verbandkasten für erste Hilfe bei Unfällen rechnen.
26*
404 GEWERBEHYGIENE.
Der Betriebsschutz nimmt Rücksicht auf Lüftung, Heizung, Beleuchtung,
Reinlichkeit und Maassnahmen gegen staubentwickelnde oder giftige Materialien.
Lüftung. In verschiedenen Staaten bestehen Gesetze, die für jeden
Arbeiter einen bestimmten, nach den einzelnen Ländern schwankenden Luft-
cubus vorschreiben. Daneben darf natürlich auch die stetige Erneuerung der
Luft in geschlossenen Räumen nicht unterbleiben. In vielen Fällen geschieht
die Zuführung frischer Luft durch einen unter dem Boden hinziehenden Canal
zwischen Ofen und Mantel, in anderen durch Einpressen frischer Luft oder
durch Absaugen der verbrauchten. Bei allen diesen Einrichtungen muss die
frische Luft auch entsprechend vertheilt werden und die Lüftungseinrichtung
darf nicht von den Arbeitern willkürlich ausser Betrieb gesetzt werden können,
wenn die Ventilation überhaupt ihren Zweck erreichen soll.
Mit den Ventilatoren im engen Zusammenhang stehen die Heizungs-
einrichtungen, da erstere ausser der Erneuerung der Luft auch für eine
möglichst gleich bleibende Temperatur garantiren sollen. Mit Luftheizung
sollte auch Wasserberieselung in geeigneter Weise verbunden sein, oder es
müssen Wassergefässe zur Verdunstung aufgestellt werden, weil allzu trockene
Luft schädlich auf den Organismus einwirkt. Doch ist auch hierbei Maass
zu halten, wenn man nicht ins directe und ebenso schädliche Gegentheil ver-
fallen will.
Beleuchtung. Ein Arbeitsraum, in den neben den Ausdünstungen einer
Menge von Menschen auch noch die Verbrennungsrückstände des Petroleums
und des Gases gelangen, eignet sich viel weniger zum Aufenthalt, als ein
solcher, der durch elektrisches oder Gasglühlicht erhellt wird. Die immer
gebräuchlicher werdende Verwendung der beiden letztgenannten Beleuchtungs-
arten bedeutet einen Fortschritt hinsichtlich der früheren.
Reinlichkeit, besonders in Bezug auf Wände und Fussboden, ist von
grosser Wichtigkeit, da ohne sie der Nutzen einer Ventilation ziemlich illu-
sorisch wird. Der Fussboden soll daher aus einem solchen Material bestehen,
dass er leicht staubfrei zu erhalten ist, auch müssen die Wände öfters ge-
weisst und die Maschinen peinlich sauber gehalten werden, und zwar letzteres
nicht blos aus technischen Gründen. Waschvorrichtungen, Ankleideräume,
sowie sauber gehaltene Aborte für die Arbeiter tragen nicht nur zur Bequem-
lichkeit, sondern auch zum körperlichen Wohlbefinden bei. Sorgt man ausser-
dem noch für ein gutes reines Trinkwasser, so wird dem grossen Alkohol-
verbrauch der Fabriksarbeiter wenigstens einigermaassen entgegengearbeitet.
Schutz gegen Staub entwickelnde oder giftige Materia-
lien kann theils dadurch erreicht werden, dass die Stoffe in feuchtem Zu-
stand zur Verarbeitung gelangen, oder dass man den entstehenden Staub
durch einen starken Luftzug wegführen und in Luftfiltern oder Staubkammern
sich niederschlagen lässt. Respiratoren und Schutzhauben sollten, weil sie
von den Arbeitern oft lästig empfunden und daher manchmal gar nicht be-
nutzt werden, erst in letzter Reihe in Frage kommen.
Was die Verwendung von Giften betrifft, so wäre diese möglichst zu
beschränken und durch ungiftige Stoffe zu ersetzen, wie dies jetzt auch viel-
fach durch Anwendung von Silber statt Quecksilber beim Spiegelbelegen und
von amorphem statt gelbem Phosphor in Zündholzfabriken geschieht. Wo
dies nicht möglich ist, da müsste der entstehende giftige Staub oder die giftigen
Dämpfe in Condensatoren niedergeschlagen und unschädlich gemacht werden.
Als weitere Maassnahme zum Wohle der arbeitenden Classe wäre schliess-
lich der Verwendungsschutz zu erwähnen. Es ist nämlich in vielen Ländern
gesetzlich verboten, in Gewerbebetrieben Kinder unter einem bestimmten
Alter (in Deutschland 13 Jahre) zu beschäftigen. Bei der nächst höheren
Altersclasse ist dann die höchste Dauer der täglichen Arbeitszeit genau fest-
gesetzt. Nachtarbeit und Sonntagsarbeit ist mit Ausnahme bestimmter Ge-
GUTACHTEN. 405
werbe theilweise oder ganz verboten. Ebenso bestehen gesetzliche Verord-
nungen über Frauenarbeit und Schonung während der Schwangerschaft und
geraume Zeit nachher.
In Europa besitzen übrigens jetzt auch schon die meisten Staaten eine
wirkliche Fabriksgesetzgebung, worin für Art und Dauer der Arbeit, sowie
für etwa zu treftende Schutzmaassregeln zu Gunsten der Arbeiter, resp. be-
sonderer Classen derselben ganz bestimmte Vorschriften ertheilt werden.
A. RIFFEL.
Gutachten. Gesetzliche Bestimmungen betreffs der Thä-
tigkeit ärztlicher Sachverständiger bei der Augenschein- und
Befundaufnahme, beim Erstatten von Gutachten und während
der Hauptverhandlung:
A. Oesterreichische Strafprocessorclnung vom 23. Mai 1873:
§ 118. Sind bei einem Augenscheine Sachverständige erforderlich, so soll der Unter-
suchungsrichter in der Regel deren zwei beiziehen.
Die Beiziehung eines Sachverständigen genügt, wenn der Fall von geringerer
Wichtigkeit ist, oder das Warten bis zum Eintreffen eines zweiten Sachverständigen für
den Zweck der Untersuchung bedenklich erscheint.
§ 119. Die Wahl der Sachverständigen steht dem Untersuchungs-
richter zu. Sind solche für ein bestimmtes Fach bei dem Gerichte bleibend angestellt,
so soll er andere nur dann zuziehen, wenn Gefahr am Verzuge haftet, oder wenn jene
durch besondere Verhältnisse abgehalten sind oder in dem einzelnen Falle als bedenklich
erscheinen.
Wenn ein Sachverständiger der an ihn ergangenen Vorladung nicht Folge leistet
oder seine Mitwirkung bei der Vornahme des Augenscheines verweigert, so kann der
Untersuchungsrichter eine Geldstrafe von fünf bis einhundert Gulden gegen ihn verhängen.
§ 120. Personen, welche in einem Untersuchungsfalle als Zeugen nicht vernommen
oder nicht beeidet werden dürfen, oder welche zu dem Beschädigten oder dem Verletzten
in einem der in § 152, Z. 1, *) bezeichneten Verhältnisse stehen, sind bei sonstiger Nichtigkeit
des Actes als. Sachverständige nicht beizuziehen. Von der Wahl der Sachverständigen sind
in der Regel sowohl der Ankläger als der Beschuldigte vor der Vornahme des Augen-
scheines in Kenntnis zu setzen; werden erhebliche Einwendungen vorgebracht und haftet
nicht Gefahr am Verzuge, so sind andere Sachverständige beizaziehen.
§ 121. Diejenigen Sachverständigen, welche vermöge ihrer bleibenden Anstellung
schon im Allgemeinen beeidigt sind, hat der Untersuchungsrichter vor dem Beginne der
Amtshandlung an die Heiligkeit des von ihnen abgelegten Eides zu erinnern.
Andere Sachverständige müssen vor der Vornahme des Augenscheines eidlich ver-
pflichtet werden, dass sie den Gegenstand desselben sorgfältig vmtersuchen, die gemachten
Wahrnehmungen treu und vollständig angeben und den Befund, sowie ihr Gutachten nach
bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln ihrer Wissenschaft oder Kunst abgeben
wollen **).
§ 122. Die Gegenstände des Augenscheines sind von den Sachverständigen in
Gegenwart der Gerichtspersonen zu besichtigen und zu untersuchen, ausser wenn Letztere
aus Rücksichten des sittlichen Anstandes es für angemessen erachten, sich zu entfernen, oder
wenn die erforderlichen Wahrnehmungen, wie bei der Untersuchung von Giften, nur durch
fortgesetzte Beobachtung oder länger dauernde Versuche gemacht werden können.
Bei jeder solchen Entfernung der Gerichtspersonen von dem Orte des Augenscheines
ist aber auf geeignete Weise dafür zu sorgen, dass die Glaubwürdigkeit der von den
Sachverständigen zu pflegenden Erhebungen sichergestellt werde.
Ist von dem Verfahren der Sachverständigen die Zerstörung oder Veränderung eines
von ihnen zu untersuchenden Gegenstandes zu erwarten, so soll ein Theil des letzteren,
insoferne es thunlich erscheint, in gerichtlicher Verwahrung behalten werden.
§ 123. Der Untersuchungsrichter leitet den Augenschein. Er bezeichnet mit mög-
lichster Berücksichtigung der von dem Ankläger und dem Beschuldigten oder dessen Ver-
*) § 152. Von der Verbindlichkeit zur Ablegung eines Zeugnisses sind befreit:
1. Die Verwandten und Verschwägerten des Beschuldigten in auf- und absteigender
Linie, sein Ehegatte und dessen Geschwister, seine Geschwister und deren Ehegatten, die
Geschwister seiner Eltern und Grosseltern, seine Neffen, Nichten, Geschwisterkinder,
Adoptiv- und Pflegeeltern, Adoptiv- oder Pflegekinder, sein Vormund oder Mündel.
**) Die Eidesformel für Sachverständige lautet: „Ich schwöre bei Gott dem All-
mächtigen und Allwissenden einen reinen Eid, dass ich den Befund und mein Gutachten
nach bestem Wissen und Gewissen und nach den Regeln der Wissenschaft (der Kunst, des
Gewerbes) abgeben werde; so wahr mir Gott helfe!"
406 GUTACHTEN.
theidiger gestellten Anträge die Gegenstände, auf welche die Sachverständigen ihre
Beobachtung zu richten haben, und stellt die Fragen, deren Beantwortung er für er-
forderlich hält. Die Sachverständigen können verlangen, dass ihnen aus den Acten oder
durch Vernehmung von Zeugen jene Aufklärungen über von ihnen bestimmt zu be-
zeichnende Punkte gegeben werden, welche sie für das abzugebende Gutachten für er-
forderlich erachten.
Wenn den Sachverständigen zur Abgabe eines gründlichen Gutachtens die Einsicht
der Untersuchungsacten unerlässlich erscheint, können ihnen, soweit nicht besondere Be-
denken dagegen obwalten, auch die Acten selbst mitgetheilt werden.
§ 124. Die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen gemachten Wahr-
nehmungen (Befund) sind von dem Protocollführer sogleich aufzuzeichnen. Das Gutachten
sammt dessen Gründen können sie entweder sofort zu Pf otocoll geben oder sich die Abgabe
eines schriftlichen Gutachtens vorbehalten, wofür eine angemessene Frist zu bestimmen ist.
§ 125. Weichen die Angaben der Sachverständigen über die von ihnen wahr-
genommenen Thatsachen erheblich von einander ab, oder ist ihr Befand dunkel, unbestimmt,
im Widerspruche mit sich selbst oder mit erhobenen Thatumständen, und lassen sich die
Bedenken nicht durch eine nochmalige Vernehmung der Sachverständigen beseitigen, so
ist der Augenschein, sofern es möglich ist, mit Zuziehung derselben oder anderer Sach-
verständiger zu wiederholen.
§ 126. Ergeben sich solche Widersprüche oder Mängel in Bezug auf das Gutachten,
oder zeigt sich, dass es Schlüsse enthält, welche aus den angegebenen Vordersätzen nicht
folgerichtig gezogen sind, und lassen sich die Bedenken nicht durch eine nochmalige Ver-
nehmung der Sachverständigen beseitigen, so ist das Gutachten eines anderen oder mehrerer
anderer Sachverständiger einzuholen.
Sind die Sachverständigen Aerzte oder Chemiker, so kann in solchen Fällen das
Gutachten einer medicinischen Facultät der im Eeichsrathe vertretenen Länder eingeholt
werden. Dasselbe geschieht, wenn die Rathskammer die Einholung eines Facultätsgutachtens
wegen der Wichtigkeit oder Schwierigkeit des Falles nöthig findet.
§ 127. Wenn sich bei einem Todesfalle Verdacht ergiebt, dass derselbe durch ein
Verbrechen oder Vergehen verursacht worden sei, so muss vor der Beerdigung die
Leichenbeschau und Leichenöffnung vorgenommen werden. *)
Ist die Leiche bereits beerdigt, so muss sie zu diesem Behufe wieder ausgegraben
werden, wenn nach den Umständen noch ein erhebliches Ergebnis davon erwartet werden
kann und nicht dringende Gefahr für die Gesundheit der Personen, welche an der Leichen-
beschau theilnehmen müssen, vorhanden ist.
Solche Fälle sind insbesondere, wenn der Tod aus einem der nachstehenden Ver-
schulden eingetreten ist: a) durch unterlassene Verwahrung geladener Schusswaffen-,
*) Nach § 2 der Min.-Vdg. vom 28. Jänner 1855, Nr. 26 RGBL, ist die gerichtliche
Todtenbeschau, d. i. die Leichenbeschau und Leichenöffnung, vor der Beerdigung eines
Verstorbenen bei jedem unnatürlichen Todesfalle vorzunehmen, wenn nicht schon aus den
Umständen mit Gewissheit erhellt, dass derselbe durch keine strafbare Handlung, sondern
durch Zufall oder Selbstentleibung herbeigeführt wurde, und es ist daher nach § 3 unter
der oben angeführten Voraussetzung die Vornahme der gerichtlichen Todtenbeschau ins-
besondere in folgenden Fällen noth wendig:
1. Wenn Jemand kürzere oder längere Zeit nach einer voraus erlittenen äusseren
Gewaltthätigkeit, als z. B. durch Stossen, Hauen, Schlagen u. s. w. mit stumpfen, scharfen,
schneidenden, stechenden, oder durch Gebrauch von Schusswerkzeugen oder durch Fallen
von einer beträchtlichen Höhe u. dgl. gestorben ist.
2. Wenn Jemand nach dem Genüsse einer Speise, eines Getränkes, einer Arznei,
oder auch nur auf den äusserlichen Gebrauch von Salben, Bädern, Waschwässern, Haar-
puder u. dgl. unter plötzlich darauf erfolgten, der Vermuthung einer Vergiftung Raum
gebenden Zufällen gestorben ist.
3. Bei allen todt gefundenen Personen, welche schon äusserlich solche Merkmale an
sich haben, oder unter solchen Umständen todt gefanden werden, dass daraus wahr-
scheinlich wird, dass sie keines natürlichen Todes gestorben sind.
4. Bei wo immer aufgefundenen einzelnen menschlichen Körpertheilen.
5. Bei allen todt gefundenen neugeborenen Kindern und solchen todten Kindern,
bei welchen die Vermuthung nicht unbegründet ist, dass eine gewaltsame Frachtabtreibung
oder eine gewaltsam tödtende Handlung stattgefunden habe.
6. Wenn der Tod nach der Behandlung durch Quacksalber und Afterärzte erfolgte.
7. Wenn der Verdacht einer vorhergegangenen fehlerhaften ärztlichen, wund- oder
geburtsärztlichen Behandlung hervorkommt.
8. Bei allen Todesfällen, welche aus Handlungen oder Unterlassungen hervorgehen,
von denen der Handelnde schon nach ihren natürlichen, für Jedermann leicht erkennbaren
Folgen, oder vermöge besonders bekannt gemachter Vorschriften oder nach seinem Stande,
Amte, Berufe, Gewerbe, seiner Beschäftigung oder überhaupt nach seinen besonderen Ver-
hältnissen einzusehen vermag, dass sie eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder
körperliche Sicherheit von Menschen herbeizuführen oder zu vergrössern geeignet seien.
.GÜTACHTEN. 407
h) durch unvorsichtiges Unterhalten von brennenden Kohlen in verschlossenen Räumen;
c) durch Unvorsichtigkeit bei Schwefelräucherungen und Anwendung von Narkotisirungs-
(Anästhesirungs-) Mitteln; d) durch Ausserachtlassung der besonderen Vorschriften über
Erzeugung, Aufbewahrung, Verschleiss, Transport und Gebrauch von Feuerwerkskörpern,
Knallpräparaten, Zündhütchen, Reib- und Zündhölzchen und allen durch Reibung leicht
entzündbaren Stoffen, Schiesspulver und explodirenden Stoffen (Schiessbaumwolle); e) durch
Nichtbeobachtung der bei dem Betriebe von Bergwerken, Fabriken, Gewerben und anderen
Unternehmungen vorgeschriebenen Vorsichten;/^ durch Unterlassung der Aufstellung der
vorgeschriebenen Warnungszeichen; g) durch den Einsturz eines Gebäudes oder Gerüstes;
li) durch unterlassene oder schlechte Verwahrung eines schädlichen oder bösartigen
Thieres; i) durch den Genuss eines ungesunden, absichtlich verfälschten oder in ge-
sundheitsschädlichen Geschirren bereiteten oder aufbewahrten Nahrungsmittels oder Ge-
tränkes; h) durch Misshandlung bei der häuslichen Zucht; l) durch Unterlassung der
schuldigen Aufsicht bei Kindern oder solchen Personen, die gegen Gefahren sich selbst zu
schützen unvermögend sind; m) durch unvorsichtiges oder schnelles Reiten oder Fahren;
n) durch das Herabfallen von Gegenständen aus Wohnungen, Fenstern, Erkern u. dgl.
oder durch Unterlassung der Befestigung dahin gestellter oder gehängter Gegenstände.
Dasselbe gilt von solchen Fällen, wo Menschen aus den bisher angeführten Ursachen einen
Nachtheil an ihrer Gesundheit erlitten haben und in einiger, bald kürzerer, bald längerer
Zeit darauf sterben; ferner, wenn rücksichtlich eines Verstorbenen Gründe bestehen, zu
vermuthen, dass jene Personen, denen aus natürlicher oder übernommener Pflicht die
Pflege des Krankgewesenen oblag, es ihm während seiner Krankheit an dem nothwendigen
ärztlichen Beistande, wo solcher zu verschaffen war, gänzlich haben mangeln lassen;
endlich bei allen angeblich Selbstentleibten, wenn durch die vorgenommene äussere
Beschau der Leiche nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, dass der Tod durch
Selbstentleibung erfolgte.
Ehe zur Oeffnung der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben
und deren Identität durch Vernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt
haben, ausser Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nöthigenfalls vor der Anerkennung
eine genaue Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der Letztere ganz un-
bekannt, so ist eine genaue Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt
zu machen.
Bei der Leichenbeschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen, dass die
Lage und Beschaffenheit des Leichnams, der Ort, wo, und die Kleidung, worin er gefunden
wurde, genau bemerkt, sowie alles, was nach den Umständen für die Untersuchung von
Bedeutung sein könnte, sorgfältig beachtet Vv^erde. Insbesondere sind Wunden und andere
äussere Spuren erlittener Gewaltthätigkeit nach ihrer Zahl und Beschaffenheit genau zu
verzeichnen, die Mittel und Werkzeuge, durch welche sie wahrscheinlich verursacht wurden,
anzugeben und die etwa vorgefundenen, möglicherweise gebrauchten Werkzeuge mit den
vorhandenen Verletzungen zu vergleichen.
§ 128. Die Leichenbeschau und Leichenöffnung ist durch zwei Aerzte, wovon der
eine auch nur ein Wundarzt sein kann, nach den dafür bestehenden besonderen Vor-
schriften vorzunehmen. (Vergleiche „Anhang zur Strafprocess-Ordnung" §§ 4—24, 26 — 37,
99, 101, 114-116.)
Der Arzt, welcher den Verstorbenen in der seinem Tode allenfalls vorhergegangenen
Krankheit behandelt hat, ist, wenn es zur Aufklärung des Sachverhaltes beitragen und
ohne Verzögerung geschehen kann, zur Gegenwart bei der Leichenbeschau aufzufordern.
§ 129. Das Gutachten hat sich darüber auszusprechen, was in dem
vorliegenden Falle die den eingetretenen Tod zunächst bewirkende Ursache
gewesen und wodurch dieselbe erzeugt worden sei.
Werden Verletzungen wahrgenommen, so ist insbesondere zu erörtern:
1. ob dieselben dem Verstorbenen durch die Handlung eines Anderen
zugefügt wurden, und falls diese Frage bejaht wird,
2. ob diese Handlung
a) schon ihrer allgemeinen Natur wegen,
h) vermöge der eigenthüml ichen persönlichen Beschaffenheit oder
eines besonderen Zustandes des Verletzten,
c) wegen der zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde, oder
d) vermöge zufällig hinzugekommener, j edoch durch sie veranlasster
oder aus ihr entstandener Zwischenursachen den Tod herbeigeführt
habe, und ob endlich
e) der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte ab-
gewendet werden können.
Insoferne sich das Gutachten nicht über alle für die Entscheidung erheblichen Um-
stände verbreitet, sind hierüber von dem Untersuchungsrichter besondere
Fragen an die Sachverständigen zu stellen.
§ 130. Bei Verdacht einer Kindestödtung ist nebst den nach den vorstehenden Vor-
schriften zu pflegenden Erhebungen auch zu erforschen, ob das Kind lebendig geboren sei.
408 GUTACHTEN.
§ 131. Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so sind der Erhebung des That-
bestandes nebst den Aerzten nach Thunlichkeit noch zwei Chemiker beizuziehen. Die
Untersuchung der Gifte selbst aber kann nach Umständen auch von den Chemikern allein
in einem hiezu geeigneten Locale vorgenommen werden. *)
§ 132. Auch bei den körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung des Verletzten
durch zwei Sachverständige vorzunehmen, welche sich nach genauer Beschreibung der
Verletzungen insbesondere auch darüber auszusprechen haben, welche von den vorhandenen
Körperverletzungen oder Gesundheitsstörungen an und für sich oder in ihrem Zusammen-
wirken, unbedingt oder unter den besonderen Umständen des Falles, als leichte, schwere
oder lebensgefährliche anzusehen seien; welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art
gewöhnlich nach sich zu ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden einzelnen Falle
daraus hervorgegangen sind, sowie durch welche Mittel oder Werkzeuge und auf welche
Weise dieselben zugefügt worden seien.
§ 133. Ist die körperliche Besichtigung einer Frauensperson nöthig, so können nach
Umständen auch Geburtshelfer oder in minder wichtigen Fällen Geburtshelferinnen statt
der Aerzte oder Wundärzte damit beauftragt werden.
§ 134'. Entstehen Zweifel darüber, ob der Beschuldigte den Gebrauch seiner Vernunft
besitze oder ob er an einer Geistesstörung leide, wodurch die Zurechnungsfähigkeit des-
selben aufgehoben sein könnte, so ist die Untersuchung des Geistes- und Gemüthszustandes
des Beschuldigten jederzeit durch zwei Aerzte zu veranlassen.
Dieselben haben über das Ergebnis ihrer Beobachtungen Bericht zu erstatten, alle
für die Beurtheilung des Geistes- und Gemüthszustandes des Beschuldigten einflussreichen
Thatsachen zusammenzustellen, sie nach ihrer Bedeutung sowohl einzeln als im Zusammen-
hange zu prüfen und, falls sie eine Geistesstörung als vorhanden betrachten, die Natur
der Krankheit, die Art und den Grad derselben zu bestimmen und sich sowohl nach den
Acten, als nach ihrer eigenen Beobachtung über den Einfluss auszusprechen, welchen die
Krankheit auf die Vorstelhicgen, Triebe und Handlungen des Beschuldigten geäussert habe
und noch äussere, und ob und in welchem Maasse dieser getrübte Geisteszustand zur Zeit
der begangenen That bestanden habe.
§ 221 Auch die Zeugen und Sachverständigen sind hiezu (zur Haupt-
verhandlung) in der Art vorzuladen, dass in der Regel zwischen der Zustellung der
Vorladung und dem Tage, an welchem die Hauptverhandlung vorgenom-
men wird, ein Zeitraum von drei Tagen in der Mitte liegt
§ 247. Zeugen und Sachverständige werden einzeln vorgerufen und in
Anwesenheit des Angeklagten abgehört . . . .
§ 248. ..... Sachverständige haben nach ihrer Vernehmung so lange in
der Sitzung anwesend zu bleiben, als der Vorsitzende sie nicht entlässt
§ 252 Die Gutachten der Sachverständigen dürfen (bei der
Hauptverhandlung) nur in folgenden Fällen vorgelesen werden:
1. wenn die Vernommenen in der Zwischenzeit gestorben sind; wenn ihr Aufenthalt
unbekannt oder ihr persönliches Erscheinen wegen ihres Alters, wegen Krankheit oder
Gebrechlichkeit oder wegen entfernten Aufenthaltes oder aus anderen erheblichen Gründen
füglich hicht bewerkstelligt werden konnte;
2. wenn die in der Hauptverhandlung Vernommenen in wesentlichen Punkten von
ihren früher abgelegten Aussagen abweichen;
3. wenn Zeugen, ohne dazu berechtigt zu sein, oder wenn Mitschuldige die Aus-
sage verweigern; endlich
4. wenn über die Vorlesung Ankläger und Angeklagter einverstanden sind.
Augenscheins- und Befundaufnahmen müssen vorgelesen werden, wenn
nicht beide Theile darauf verzichten.
§ 253. Im Laufe oder am Schlüsse des Beweisverfahrens lässt der Vorsitzende dem
Angeklagten und soweit es nöthig ist, den Zeugen und Sachverständigen diejenigen Gegen-
stände, welche zur Aufklärung des Sachverhaltes dienen können, vorlegen, und fordert
sie auf, sich zu erklären, ob sie dieselben anerkennen.
§ 254. Der Vorsitzende ist ermächtigt, ohne Antrag des Anklägers oder Angeklagten
Zeugen und Sachverständige, von welchen nach dem Gange der Verhandlung Aufklärung
*) Sind Objecte zur Vornahme einer chemischen Untersuchung an einen anderen
Ort zu versenden, so muss 1. jedes Object, z. B. ein Organ, Organtheil, ein Giftstoff, Gift-
träger u. dgl. für sich, von jedem anderen gesondert, in einem eigenen Gefässe verpackt
werden; 2. hiezu sind vor allem Glas- oder Porzellangefässe zu verwenden und durch
zweckmässige äussere Verpackung vor Beschädigung za verwahren; 3. die Gefässe sind
mit einem geriebenen Glas- oder einem gereinigten Korkstöpsel zu verschliessen, und die
Stöpsel mit Siegellack derart luftdicht zu verkitten, dass weder von dem Inhalte etwas nach
aussen, noch von aussen etwas zu dem Inhalte gelangen kann; 4. das zur Verpackung
zu verwendende Material muss vollkommen rein sein, damit der zu untersuchende
Gegenstand nicht dadurch verunreinigt oder vergiftet werde; 5. die Verpackung hat durch
einen Sachverständigen, wo möglich durch einen erfahrenen Chemiker zu geschehen
(Min.-Vdg. vom 2. August 1856, Nr. 145 RGBl.).
GUTACHTEN. 409
über erhebliche Thatsachen zu erwarten ist, im Laufe des Verfahrens vorladen und nöthigen-
falls vorführen zu lassen und zu vernehmen.
Ob eine Beeidigung solcher neuer Zeugen oder Sachverständigen stattfinde, darüber
hat nach deren Abhörung und nach Vernehmung der Parteien der Gerichtshof zu ent-
scheiden.
Der Vorsitzende kann auch neue Gutachten abfordern oder andere Beweis-
mittel herbeischaffen lassen, mit dem Gerichte einen Augenschein vornehmen oder hiezu
ein Mitglied des Gerichtes abordnen, welches darüber Bericht zu erstatten hat.
§ 384. Sachverständige, welche bei einem Gerichte bleibend als solche
bestellt sind und dafür eine Entlohnung beziehen, haben nur den Ersatz der zur Er-
stattung eines Gutachtens nöthig gewesenen und gehörig nachgewiesenen Vorauslagen an-
zusprechen. Andere Sachverständige erhalten ausserdem eine von dem Gerichte
mit Erwägung aller Umstände zu bemessende Gebühr. Soweit hierüber in den bestehen-
den Vorschriften nichts besonderes bestimmt ist, wird die Gebühr zwischen einem
und fünf Gulden, und in dem Falle, wenn zu dem Gutachten besondere wissen-
schaftliche, technische oder künstlerische Kenntnisse oder Fertigkeiten
erforderlich sind, zwischen zwei Gulden und zwanzig Gulden bemessen. Zur Be-
willigung einer diesen Betrag übersteigenden Entlohnung ist die Genehmigung des Gerichts-
hofes zweiter Instanz einzuholen.
Die Grundlage für die Gebühren-Verrechung und Entlohnung der Sach-
verständigen bildet die Minist. -Vdg. vom 17. Februar 1855, Nr. 33 RGB.
(Vergleiche diese.)
B. Deutsche Strafprocess-Ordnung vom 1. Februar 1877 (RGB. S. 253.):
§ 72. Auf Sachverständige finden die Vorschriften des sechsten Abschnittes über
Zeugen entsprechende Anwendung, insoweit nicht in den nachfolgenden Paragraphen ab-
weichende Bestimmungen getroffen sind.
§ 73. Die Auswahl der anzuziehenden Sachverständigen und die Bestimmung ihrer
Anzahl erfolgt durch die Richter. Sind für gewisse Arten von Gutachten Sachverständige
öffentlich bestellt, so sollen nur dann andere Personen gewählt werden, wenn besondere
Umstände es erfordern.*)
§ 74. Ein Sachverständiger kann aus denselben Gründen, welche zur Ablehnung
eines Richters berechtigen, abgelehnt werden, (Nach § 24 u. a. wegen Besorgnis der
Befangenheit).
§ 75. Der zum Sachverständigen Ernannte hat der Ernennung Folge zu leisten, wenn
er zur Erstattung von Gutachten der erforderten Art öffentlich bestellt ist, oder wenn er
die Wissenschaft, die Kunst oder das Gewerbe, deren Kenntnis Voraussetzung der Begut-
achtung ist, öffentlich zum Erwerbe **) ausübt, oder wenn er zur Ausübung derselben
öffentlich bestellt oder ermächtigt ist.
§ 76. Dieselben Gründe, welche einen Zeugen berechtigen, das Zeugnis zu verweigern,
berechtigen einen Sachverständigen zur Verweigerung des Gutachtens.***) Auch aus anderen
Gründen kann ein Sachverständiger von der Verpflichtung zur Erstattung des Gutachtens
entbunden werden.
Die Vernehmung eines öffentlichen Beamten als Sachverständigen findet nicht statt,
wenn die vorgesetzte Behörde des Beamten erklärt, dass die Vernehmung den dienstlichen
Interessen Nachtheile bereiten würde.
§ 77. (Enthält die Strafen wegen Nichterscheinens oder der Weigerung zur Erstattung
des Gutachtens.)
§ 78. Der Richter hat, soweit dies ihm erforderlich erscheint, die Thätigkeit der
Sachverständigen zu leiten.****)
§ 79. Der Sachverständige hat vor Erstattung des Gutachtens einen Eid dahin zu
leisten: „dass er das von ihm erforderte Gutachten unparteiisch und nach bestem Wissen
erstatten werde".
Ist der Sachverständige für die Erstattung von Gutachten der betreffenden Art im
Allgemeinen beeidigt, so genügt die Berufung auf den geleisteten Eid.
*) Als solche besonderen Umstände sind in der Reichs- Justiz-Commission erwähnt:
wenn am Orte, wo der Gerichtsarzt wohnt, sich ein besser geeigneter Specialist befindet;
wenn ein näher wohnender Arzt mit gleicher oder höherer Qualification, als der weiter
wohnende Gerichtsarzt, vorhanden ist; wenn der Gerichtsarzt, zum Gutachten in mehreren
Fällen bestellt, die mehreren Functionen nebeneinander nicht wahrnehmen kann.
**) Aerzte sind verpflichtet, Gutachten zu erstatten.
***) § 51. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind berechtigt: 1. der Verlobte des Be-
schuldigten, 2. der Ehegatte des Beschuldigten, auch wenn die Ehe nicht mehr besteht . . .
2. Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt 3 Aerzte
in Ansehung desjenigen, was ihnen bei Ausübung ihres Berufes anvertraut ist ,
wenn sie nicht von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit entbunden sind.
****) Anwesenheit des Richters ist nicht erforderlich.
410 GUTACHTEN.
§ 80. Dem Sachverständigen kann auf sein Verlangen zur Vorbereitung des Gut-
achtens durch Vernehmung von Zeugen oder des Beschuldigten weitere Aufklärung ver-
schafft werden.
Zu demselben Zweck kann ihm gestattet werden, die Acten einzusehen, der Ver-
nehmung von Zeugen oder des Beschuldigten beizuwohnen und an dieselben unmittelbar
Fragen zu stellen.
§ 81. Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den Geisteszustand des Angeschul-
digten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen anordnen, dass der Angeschul-
digte in eine öffentliche Irrenanstalt gebracht und dort beobachtet werde. *).... Die Ver-
wahrung in der Anstalt darf die Dauer von 6 Wochen nicht übersteigen.
§ 82. Im Vorverfahren hängt es von der Anordnung des Richters ab, ob die Sach-
verständigen ihr Gutachten schriftlich oder mündlich zu erstatten haben,
§ 83. Der Richter kann eine neue Begutachtung durch dieselben oder durch andere
Sachverständige anordnen, wenn er das Gutachten für ungenügend erachtet In
wichtigeren Fällen kann das Gutachten einer Fachbehörde eingeholt werden.
§ 84. Der Sachverständige hat nach Maassgabe der Gebührenordnung Anspruch auf
Entschädigung für Zeitversäumnis, für Erstattung der ihm verursachten Kosten und ausser-
dem auf angemessene Vergütung für seine Mühewaltung.**)
§ 87. Die richterliche Leichenschau wird unter Zuziehung eines Arztes, die Leichen-
öffnung im Beisein des Richters***) von zwei Aerzten, unter welchen sich ein Gerichtsarzt
befinden muss, vorgenommen. Demjenigen Arzte, welcher den Verstorbenen in der dem
Tode unmittelbar vorausgegangenen Krankheit behandelt hat, ist die Leichenöffnung nicht
zu übertragen. Derselbe kann jedoch aufgefordert werden, der Leichenöffnung anzuwohnen,
um aus der Krankheitsgeschichte Aufschlüsse zu geben. Die Zuziehung eines Arztes kann
bei der Leichenschau unterbleiben, wenn sie nach Ermessen des Richters entbehrlich ist.
Behufs der Besichtigung oder Oeffnung einer schon beerdigten Leiche ist ihre Aus-
grabung statthaft.
§ 88. Vor der Leichenöffnung ist, wenn nicht besondere Hindernisse entgegen-
stehen, die Persönlichkeit des Verstorbenen, insbesondere durch Befragung von Personen,
welche_ den Verstorbenen gekannt haben, festzustellen. Ist ein Beschuldigter vorhanden,
so ist ihm die Leiche zur Anerkennung vorzuzeigen.
§ 89. Die Leichenöffnung muss sich, soweit der Zustand der Leiche dies gestattet,
stets auf die Oeffnung der Kopf-, Brust- und Bauchhöhle erstrecken.
§ 90. Bei Oeffnung der Leiche eines neugeborenen Kindes ist die Untersuchung ins-
besondere auch darauf zu richten, ob dasselbe nach oder während der Geburt gelebt habe,
und ob es reif oder wenigstens fähig gewesen sei, das Leben ausserhalb des Mutterleibes
fortzusetzen.
§ 9L Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die Untersuchung der in der
Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen Chemiker oder durch eine
für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzunehmen. Der Richter kann an-
ordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung oder Leitung eines Arztes stattzu-
finden habe.
§ 157. Sind Anhaltspunkte dafür vorhanden, dass jemand eines nicht natürlichen
Todes gestorben ist, oder wird der Leichnam eines Unbekannten gefunden, so sind die
Polizei- und Gemeindebehörden zur sofortigen Anzeige an die Staatsanwaltschaft oder an
den Amtsrichter verpflichtet.
Die Beerdigung darf nur auf Grund einer schriftlichen Genehmigung der Staats-
anwaltschaft oder des Amtsrichters erfolgen.
§ 158. Sobald die Staatsanwaltschaft .... von dem Verdacht einer strafbaren Hand-
lung Kenntnis erhält, hat sie den Sachverhalt zu erforschen.
§ 159. Zu dem .... Zwecke kann die Staatsanwaltschaft von allen öffentlichen Be-
hörden Auskunft verlangen und Ermittelungen jeder Art entweder selbst vornehmen oder
durch die Behörden vornehmen lassen
§ 163. Wenn Gefahr im Verzuge, hat der Amtsrichter die erforderlichen Unter-
suchungshandlungen von Amtswegen vorzunehmen.
§ 193. Findet die Einnahme eines Augenscheines unter Zuziehung von Sachverstän-
digen statt, so kann der Angeschuldigte beantragen, dass die von ihm für die Hauptver-
handlung in Vorschlag zu bringenden Sachverständigen zu dem Termine geladen werden,
und wenn der Richter den Antrag ablehnt, sie selbst laden lassen.
Den_ von dem Angeschuldigten benannten Sachverständigen ist die Theilnahme am
Augenschein und an den erforderlichen Untersuchungen insoweit zu gestatten, als dadurch
die Thätigkeit der vom Richter bestellten Sachverständigen nicht behindert wird.
§ 222. Wenn dem Erscheinen eines Zeugen oder Sachverständigen in der Haupt-
verhandlung für eine längere oder ungewisse Zeit Krankheit oder Gebrechlichkeit oder
*) Die Anstalt bestimmt der Richter. Das Gutachten kann der Director oder ein
Assistenzarzt erstatten.
**) Gebühren-Ordnung vom 30. Juni 1878,
***) Der Richter braucht nicht zuzusehen; seine Anwesenheit genügt.
GÜTACHTEN. 411
andere nicht zu beseitigende Hindernisse entgegenstehen, so kann das Gericht die Ver-
nehmung desselben durch einen beauftragten oder ersuchten Richter anordnen. Die Ver-
nehmung erfolgt, soweit die Beeidigung zulässig ist, eidlich.
Dasselbe gilt, wenn ein Zeuge oder Sachverständiger vernommen werden soll, dessen
Erscheinen wegen zu grosser Entfernung besonders erschwert sein wird.
§ 247. Die vernommenen Zeugen und Sachverständigen dürfen sich nur mit Geneh-
migung oder auf Anweisung des Vorsitzenden von der Gerichtsstelle entfernen ....
§ 248. Urkunden und andere als Beweismittel dienende Schriftstücke werden in der
Hauptverhandlung verlesen
§ 252. Erklärt ein Zeuge oder Sachverständiger, dass er sich einer Thatsache nicht
mehr erinnert, so kann der hierauf bezügliche Theil des Protokolls über seine frühere Ver-
nehmung zur Unterstützung seines Gedächtnisses verlesen werden
§ 255. Die ein Zeugnis oder ein Gutachten enthaltenden Erklärungen öifentlicher
Behörden, desgleichen ärztliche Atteste über Körperverletzungen, welche nicht zu den
schweren gehören, können verlesen werden.
Ist das Gutachten einer collegialen Fachbehörde eingeholt worden, so kann das
Gericht die Behörde ersuchen, eines ihrer Mitglieder mit der Vertretung des Gutachtens
in der Hauptverhandlung zu beauftragen und dem Gerichte zu bezeichnen.
§ 487. Die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe ist aufzuschieben, wenn der Ver-
urtheilte in Geisteskrankheit verfällt.
Dasselbe gilt bei anderen Krankheiten, wenn bei Vollstreckung eine nahe Lebens-
gefahr für den Verurtheilten zu besorgen steht.
Die Straf- Vollstreckung kann auch dann aufgeschoben werden, wenn sich der Ver-
urtheilte in einem körperlichen Zustande befindet, bei welchem eine sofortige Vollstreckung
mit der EinrichtuDg der Strafanstalt unverträglich ist.
§ 493. Ist der Verurtheilte nach Beginn der Strafvollstreckung wegen Krankheit in
eine von der Staatsanstalt getrennte Krankenanstalt gebracht worden, so ist die Dauer
des Aufenthalts in der Krankenanstalt in die Strafzeit einzurechnen, wenn nicht der Ver-
urtheilte mit der Absicht, die Straf- Vollstreckung zu unterbrechen, die Krankheit herbei-
geführt hat.
Die Staatsanwaltschaft hat im letzteren Falle eine Entscheidung des Gerichts her-
beizuführen.
Den Abschluss der Sachverständigen-Thätigkeit bei Gericht bildet die
Erstattung des Gutachtens, welches entweder schriftlich oder mündlich
abgegeben wird. Aus demselben soll der Richter in jedem einzelnen Falle die
feste Unterlage für die Urtheilsfällung gewinnen. Nur eine genaue Kenntnis der
einschlägigen gesetzlichen Bestimmungen über die Beziehungen seiner Aufgabe
zum Strafgesetze kann dem Gerichtsarzte den Erfolg seiner Arbeit sichern,
so dass ein sorgsames Vertiefen in die bezüglichen Gesetzesstellen und ein
richtiges Erfassen ihres Inhaltes für denselben unerlässlich ist. Mit dem Scharfsinn
und der Unparteilichkeit des Urtheils eines Naturforschers, dessen oberstes
Bestreben jederzeit auf eine gerechte Würdigung des Untersuchungsobjectes
nach allen Einzelheiten hin gerichtet ist, und der subjectiven Einflüsterungen
mit unbefangener Stirne Stand zu halten weiss, muss der Gerichtsarzt an die
Ausfertigung seines Gutachtens treten und mit strengster Gewissenhaftigkeit
alle in dem Actenmaterial gesammelten Wahrnehmungen zur Entscheidung
der aufgeworfenen Fragen verwerten. Die Einsichtnahme der Acten ist, wie
eine unbefangene Ueberlegung von selbst ergiebt, somit nicht nur in vielen
Fällen zur Beleuchtung verschiedener offener Punkte erwünscht, sondern
dringlichst geboten, soll die Sicherheit des ärztlichen Urtheils nicht nach-
haltigsten Schaden nehmen; dieselbe wird auch, unserer Erfahrung gemäss,
heute verständigerweise von Seiten des Gerichtes niemals verweigert.
Das Gutachten hat mit Rücksicht darauf, dass es für Nicht-Mediciner
bestimmt ist, vor Allem von jedem drückenden Ballast technischer Fremd-
wörter, wo letztere vermieden werden können, frei zu sein; dieselben lassen
sich allenfalls, wenn es nöthig und z. B. die Wiedergabe im Deutschen nur
durch eine umständliche Umschreibung erreichbar erscheint, zur Verhütung
unliebsamer Missverständnisse in Klammern der deutschen Bezeichnung
anfügen. Das Gutachten des Arztes soll in möglichst einfacher, klarer und
rein sachlicher Darstellung alles für die Aufhellung der Sachlage Wissens-
werte in gedrängter Kürze zusammenfassen und unter jedesmaliger Berufung
412 HAARE.
auf den Befund ein nach dem jeweiligen Stand der Wissensschaft und unserer
Erfahrung gehörig und ausführlich erhärtetes sowie logisch begründetes Urtheil
über den concreten Fall bieten. .
Die Berufung auf Autoritäten und deren Namhaftmachung in dem Gut-
achten, um den Ausführungen desselben den oft mangelnden Nachdruck zu
verleihen, sollen nach Thunlichkeit vermieden werden, ebenso das Heran-
ziehen und Erörtern aller erdenklichen Möglichkeiten, die für den fraglichen
Fall jeder Unterlage entbehren und nur dazu angethan sind, die Verwendbarkeit
des ärztlichen Attestes wesentlich einzuschränken. Freilich lassen sich der Natur
der medicinischen Wissenschaft entsprechend unsere Aussagen nur in Aus-
nahmsfällen mit der Genauigkeit und Sicherheit der sogenannten exacten
Wissenschaften (Mathematik und Astronomie) machen, aber meistentheils erlaubt
ein gewissenhaftes Abwägen der Gesammtheit aller Verhältnisse des Einzelfalles
im Zusammenhalte mit den Lehren der Medicin und den täglichen Erfahrungen
einen für die Ziele der Rechtspflege brauchbaren Ausspruch, während aller-
dings andererseits auch vielfach mit Wahrscheinlichkeits-Diagnosen gerechnet
werden muss und verschiedene Möglichkeiten offen bleiben.
Jedenfalls darf sich der Sachverständige, selbst auf wiederholtes Drängen
hin nicht zu Aussagen verleiten lassen, die sich als nicht gehörig begründet
erweisen und von ihm fallen gelassen oder später gar widerrufen werden
müssen. Die Gediegenheit seines Wissens, gepaart mit grosser Sorgfalt in
der Behandlung einschlägiger Beobachtungen wird den Arzt in seinem eigenen
Interesse und zum Frommen der rechtsuchenden Partei alle Male vor groben
Täuschungen bewahren. Endlich empfiehlt sich noch, in knapper Form das
Ergebnis der Erörterungen zusammenzufassen und den vorstehenden Aus-
führungen in kurzen Sätzen anzuschliessen. c. ipsen.
Haare (forensisch). Die Untersuchung von Haaren kann für den
Gerichtsarzt behufs Beantwortung verschiedener Fragen weittragende Bedeutung
erhalten. Für die Ueberführung eines Mörders z. B. kann es maassgebend
sein, wenn sich nachweisen lässt, dass die an einem bei dem Verdächtigen
vorgefundenen Messer, Beile oder dergl. haftenden Haare von dem Ermordeten
stammen; oder wenn nach einem zwischen dem Mörder und seinem Opfer
stattgehabten Kampfe in der Hand der Leiche Haupt- oder Barthaare des
ersteren gefunden und als zweifellos von ihm herrührend bestimmt werden.
Andererseits kann für die Entlastung eines Beschuldigten diei Feststellung
ausschlaggebend sein, dass die an dem vermutheten Mordwerkzeuge entdeckten
Haare einem Thiere angehört haben. Nach einem Nothzuchtsattentate können
einige bei dem geschändeten Individuum gefundene Schamhaare des Ver-
brechers durch ihre Farbe oder sonstigen Merkmale auf dessen Spur leiten,
und des öfteren sind Sodomiten durch einige an ihren Geschlechtstheilen
hängen gebliebene Haare des gemissbrauchten Thieres entlarvt worden. —
In fast allen Fällen handelt es sich für den Gerichtsarzt um die Beantwortung
dreier Fragen: 1. Gehörten die vorliegenden Haare einem Menschen oder
einem Thiere an? 2. Von welchem Individuum? 3. Von welcher Körperstelle
stammen sie?
Der anatomische Bau der Haare, der selbstverständlich mit Hilfe des Mikroskopes
studirt werden muss, ist bei Menschen und Thieren im wesentlichen gleich. Das voll-
kommen ausgebildete Haar besteht aus drei verschiedenen, deutlich gesonderten Bestand-
theilen, welche, in concentrischen Schichten angeordnet, von aussen nach innen auf ein-
ander folgen als 1. Oberhäutchen, Cuticula, 2. Rindenmasse, Substantia corticalis, und
3. Mark- oder Achsensubstanz, Substantia medullaris. Das Oberhäutchen setzt sich
aus dachziegelförmig übereinander gelagerten, durchsichtigen, feinsten Schüppchen zu-
sammen, deren Spitzen gegen das freie Ende des Haares gerichtet sind, und deren jedes
eine verhornte, kernlose Epithelzelle darstellt. Die Rindensubstanz besteht nur im
Gebiete der Haarwurzel aus weichen, rundlich gestalteten Zellen mit rundem Kern; in der
ganzen übrigen Länge des Haares sind die sie zusammensetzenden Epithelzellen hart ver-
HAARE. 413
hörnt, schmal und langgestreckt, mit einem linienförmigen, dunklen Kerne ausgerüstet und
untereinander ungemein innig und fest verbunden. An einzelnen Stellen fast jeden Haares
finden sich in der Rindensubstanz Luftbläschen, sowie körnige und flüssige Pigment-
einlagerungen, erstere stets intercellular, letztere auch intracellular gelegen. Die Mark-
substanz endlich durchzielit die Mittelachse des Haares; auch sie setzt sich aus einzelnen
Zellen zusammen und enthält zwischen und in. ihnen feinste Luftbläschen, aber kein
Pigment.
So verhält sich, ganz allgemein beschrieben, der Bau eines Haares, und
diese Darstellung gilt gleicherweise für menschliche Haare, wie für die der
verschiedensten Thiere. Nun weisen aber bei einer vergleichenden Unter-
suchung menschliche Haare und Thierhaare glücklicherweise in den Einzeln-
heiten so vielfache und unverkennbare Abweichungen unter einander auf, dass
die Differentialdiagnose, ob Menschen-, ob Thierhaar, fast in jedem P'alle mit
grosser Sicherheit gestellt werden kann. Schon das Oberhäutchen bietet
unterscheidende Merkmale. Beim Menschenhaar tritt die Cuticula ungemein
wenig hervor, und ihre einzelnen Schüppchen sind nur sehr undeutlich oder
gar nicht zu erkennen. Bei den meisten Thierhaaren dagegen fällt das Ober-
häutchen in der Gesammtheit des mikroskopischen Bildes weit mehr ins
Auge, weil ihre Zellen absolut wie relativ grösser sind und deutlicher um-
grenzt erscheinen. Eine Anzahl von Thierhaaren erhält gerade durch die
Eigenart der Cuticula ein höchst charakteristisches Aussehen, wie z. B. die
Schafwolle infolge ihrer ungewöhnlich grossen, wellenförmig umgrenzten
schollenartigen Zellen, oder die Haare der Ratte oder des Fuchses, bei denen
die einzelnen Schüppchen der Cuticula etwas vom Schafte abstehen, wodurch
das Haar ein gezähneltes, sägenblattförmiges Aussehen erhält; ja bei der
Fledermaus sind die abstehenden Cuticulazellen so lang und spitz, dass das
ganze Haar geradezu gefiedert erscheint. Weit wichtiger für die Unter-
scheidung aber sind die beiden anderen Bestandtheile des Haares und
namentlich das Verhalten dieser beiden zu einander. Während bei den Thier-
haaren durchgehends die Marksubstanz wenigstens gleich stark, meistens
sogar weit mächtiger entwickelt ist, als die Substantia corticalis, so dass die
letztere häufig auf eine dünne Scheide um den massigen Markstrang herum
reducirt erscheint, bildet beim Menschen die Rindensubstanz weitaus den
grössten Theil des ganzen Haares, und nimmt der Achsenstrang nur einen
verhältnismässig bescheidenen Raum, etwa 7.5 — V4 der gesammten Haares-
dicke ein. Der letztere stellt überhaupt beim Menschen nicht einen aus-
nahmslos vorhandenen Theil des Haarschaftes dar, sondern ist vielmehr viel-
fach nur theilweise entwickelt und fehlt auch gar nicht so selten gänzlich.
Durchgehends vermisst wird er bei den sogenannten Wollhaaren (Lanugo),
die den Körper des menschlichen Fötus im Mutterleibe bekleiden, und wahr-
scheinlich auch noch in allen Haaren des Neugeborenen. Beim Erwachsenen
steht die Entwicklung der Markmasse in einem gewissen Verhältnis zur Farbe
der Haare, indem sich unter blonden Haaren regelmässig eine grössere Anzahl
solcher findet, bei denen die Markmasse nur theilweise oder gar nicht vor-
handen ist, unter dunklen Haaren dagegen die markhaltigen überwiegen.
Charakteristisch sind weiterhin Unterschiede im mikroskopischen Bau
der Marksubstanz. Sie besitzt ausnahmslos eine zellige Structur, aber diese
ist beim Menschen ausserordentlich undeutlich: die einzelnen Zellgebilde sind
so klein und ohne charakteristische Form, dass der ganze Achsenstrang selbst
unter Anwendung stärkerer Vergrösserungen lediglich ein undeutlich körniges
Aussehen aufweist. Bei den Thierhaaren dagegen erkennt man leicht schon mit
schwachen Systemen deutlich gegen einander abgegrenzt die einzelnen Zell-
gebilde, die bald kugelig oder mehr oval, bald kubisch oder polygonal ge-
staltet sind. Bei vergleichender Untersuchung von Haaren einer grösseren
Reihe verschiedener Thiere beobachtet man eine grosse Mannigfaltigkeit in
dem zelligen Aufbau der Markmasse. Ein geübter Sachverständiger vermag
414 HAARE.
infolgedessen nicht allein die Frage, ob Menschen- oder Thierhaar, mit Sicher-
heit zu entscheiden, sondern auch die bestimmte Thierspecies, von der die
Haare stammen, treffend zu bezeichnen. Eine Vorsichtsmaassregel freilich
darf hierbei nicht vergessen werden. Es kommt, wie vielfach beobachtet ist,
wohl bei jedem Thier vor, dass vereinzelt, unter den normalen verstreut, eine
geringe Anzahl von Haaren sich findet, die von dem gewöhnlichen Typus
irgendwie abweichen. Besteht nun solche Abweichung — wie nicht ganz
selten z. B. bei Hunden — in abnorm geringer oder sonst mangelhafter Ent-
wickelung oder in gänzlichem Fehlen der Marksubstanz, so kann das Haar
einem menschlichen ähnlich sehen. Stets ist zunächst ein solches Haar in
seiner ganzen Länge zu durchmustern, da manchmal auch bei Thieren der
Achsenstrang theilweise unterbrochen oder nur in einem geringen Bruchtheil
des Haarschaftes entwickelt ist. Ferner ist es nach Zusatz von Glycerin, Ter-
pentin oder verdünnter Salpetersäure zu untersuchen, wodurch es aufgehellt
und der Markstrang sehr viel deutlicher gemacht wird. Jedenfalls soll man,
wo daran kein Mangel ist, eine nicht zu geringe Anzahl von Haaren unter-
suchen. Wo nur ein einziges zu Gebote steht, kann man, wenn dieses den
Thiertypus klar erkennen lässt, unbedenklich die thierische Abstammung be-
haupten. Nach Feststellung des Menschentypus dagegen darf man aus nur
einem Haare nur sehr mit Vorsicht seine Schlüsse ziehen; findet sich aber
das gleiche Bild bei mehreren Haaren, und weist keines die Eigenthümlich-
keiten des Thierhaares auf, so ist auch hier die Diagnose „Menschenhaar"
ohne weitere Bedenken gerechtfertigt.
Sind die gefundenen Haare als menschliche sicher erkannt worden, so
tritt an den Gerichtsarzt die zweite Frage heran: welchem Individuum
dieselben angehört haben? Selbstverständlich kann ihre Beantwortung unter
Umständen recht schwierig werden. Keinesfalls ist es möglich, aus der Be-
schaffenheit der Haare einen auch nur annähernd sicheren Schluss auf Alter
oder Geschlecht desjenigen zu machen, dem sie entstammen. Gelöst werden
kann die gestellte Frage nur durch eingehendste Vergleichung der vorgelegten
Haare mit denjenigen der in Betracht kommenden Person, wobei Länge und
Form, welch' letztere bald schlicht gerade, bald mehr oder weniger gekräuselt
ist, ferner Dicke und Farbe, sowie auch das mikroskopische Verhalten in
Betracht kommen. Mit der Farbe muss jedoch vorsichtig verfahren werden;
zwar ist sie unschwer zu erkennen, wenn ganze Haarbüschel vorhanden sind,
aus nur wenigen Exemplaren dagegen kann sie meist nicht mit Sicherheit
festgestellt werden, und das mikroskopische Bild lässt sich zu ihrer Beurthei-
lung überhaupt nicht verwerten. Handelt es sich um die Feststellung der
Identität einer Leiche, so ist zu berücksichtigen, dass sich die Farbe der
Haare im Grabe oft verändert, indem sie bei dunklen meist heller wird, bei
hellblonden dagegen nicht selten dunkelt, und häufig einen auffallend röth-
lichen Ton annimmt, gleichviel welche Farbe ursprünglich bestanden hatte.
Die dritte Frage endlich, welche den Gerichtsarzt beschäftigen kann, ist
diejenige : welcher Körperstelle eines Menschen die vorliegenden Haare
entstammen? Zumeist kommt die Unterscheidung zwischen Kopf-, Bart- und
Schamhaaren in Betracht, doch kann es sich natürlicherweise gelegentlich
auch um Haare aus der Achselhöhle oder um die kleinen Haare handeln,
welche fast den ganzen Körper bekleiden.
E. R. Pfaff *) vermeinte, diese Frage hauptsächlich durch die Berücksichtigung
der Haarwurzeln beantworten zu können, auf Grund der Beobachtung, dass sich deren
Form an den verschiedenen Körperstellen in charakteristischer Weise unterscheide. Diese
Annahme hat sich jedoch nicht als stichhaltig bewährt, zudem hat es der Gerichtsarzt
gerade häufig mit liaaren zu thun, an denen die Wurzelzwiebel ganz fehlt oder stark
beschädigt ist. Ist sie wohlerhalten, so lässt sich aus ihr ein Punkt freilich mit Sicherheit
*J E. R. Pfaff, Das menschliche Haar, IL Aufl. Leipzig 1869.
HAARE. 415
ersehen, ob nämlich das Haar von selbst ausgefallen, oder ob es gewaltsam ausgerissen
ist. Ausgefallene Haare haben eine unten geschlossene, glatte, atrophische Wurzel, aus-
gerissene dagegen zeigen die Zwiebel offen, kolbig, feucht, uneben und oft mit wurzelartigen
Anhängen von verschiedenen Längen, Resten des Haarbalges^ ausgestattet.
Um die Körperstelle, der das Haar entstammt, festzustellen, sind ins
Auge zu fassen: Länge, Stärke und Form des Haares, sowie das gesammte
mikroskopische Bild ; bei letzterem muss besonders das Verhalten des freien
Endes berücksichtigt werden. Ueberschreitet die Länge der Haare ein gewisses
Maass, so wird das sicher ohne weiteres für ihr Abstammen von einem Frauen-
kopfe sprechen ; in anderen Fällen wird die übereinstimmende Länge der vom
Gericht vorgelegten und solcher Haare, die sich nur an einer bestimmten
Körperstelle der in Betracht kommenden Person finden, wichtige Schlüsse zu-
lassen. Einige Vorsicht ist bei der Verwertung der Stärke der Haare geboten.
Wird ihre Dicke am Querschnitte gemessen, so lasse man nicht ausser Acht,
in welcher Entfernung von der Wurzel der Schnitt angelegt wurde, da sich
das Haar von seinem unteren Ende nach der Spitze zu gleichmässig und nicht
unerheblich verjüngt. Zu berücksichtigen ist ferner die Thatsache, dass die
Haare, die beim Kinde überaus zart und fein sind, mit zunehmenden Jahren
bis zum kräftigsten Lebensalter an Stärke gewinnen, um schliesslich mit ein-
tretendem und vorschreitenden Greisenalter wieder dünner zu werden.
lieber die Dickenunterschiede der Haare von verschiedenen Körperstellen hat Hof-
MANJM*) eingehende Studien gemacht, wobei erfand, dass die Barthaare mit 0"14 — O'lb mm
Querdurchmesser die grösste Stärke besitzen; dann folgen in abnehmender Reihe die weib-
lichen Schamhaare, ferner die Augenwimpern, die männlichen Schamhaare, die männ-
lichen und als die feinsten die weiblichen Kopfhaare, welche letzteren nur 006 mm Quei'-
durchmesser aufweisen. Um die Haaresdicke bequem constatiren zu können, ist es am
zweckmässigsten, Mikrotomschnitte durch die in Paraffin eingebetteten Haare unter dem
Mikroskope mittels des Messoculars zu untersuchen.
Besonders wichtige Merkmale bietet oft das freie Ende des Haares dar.
Läuft es dünn und spitz zu, so ist dies ein Beweis dafür, dass das Haar noch
nicht beschnitten worden war; in solchem Falle wird es also entweder von
einem noch jugendlichen Individuum oder von einer Körperstelle stammen,
an die kein Scheermesser zu gelangen pflegt. Endlich lässt sich ferner er-
kennen, ob das Haar erst kürzlich, oder bereits vor längerer Zeit zum letzten
Male beschnitten worden ist. Frischbeschnittene Haare nämlich haben ein
breites, scharfabgeschnittenes Ende. Ist aber seit der letzten Verkürzung
einige Zeit verstrichen, so beobachtet man als Einwirkung der vielfachen
mechanischen Insulte, denen das Haar z. B. infolge der Reibung durch die
Kleider etc. ausgesetzt ist, entweder eine Abschleifung des Haarendes zu
einer runden, kuppenförmigen Endigung, oder aber eine Zerfaserung, die
namentlich bei den Kopfhaaren der Frauen, sowie an Stellen, wo Schweiss
und Körperwärme macerirend wirken, oft so hochgradig ist, dass das Haar
geradezu mit einem mikroskopisch feinen Pinsel endet.
Nur in seltenen Fällen wird der Gerichtsarzt in die Lage kommen,
Haare zur Beantwortung anderer als der erörterten drei Fragen untersuchen
zu müssen. So kann es behufs Feststellung eines gesetzwidrigen Beischlafs
zweckmässig sein, die Schamhaare der Frauensperson auf etwa ihnen an-
haftende Samenfäden zu untersuchen. Pfaff nämlich hat behauptet, dass
sich Spermatozoen, die an den Schamhaaren angetrocknet seien, besonders
lange unversehrt erhalten und noch nachweisbar seien zu einer Zeit, wo sie
in verdächtigen Flecken auf schmutziger Wäsche u. dgl. nicht mehr auf-
zufinden seien; er empfiehlt in solchem Falle, die verdächtigen Haare auf dem
Objectträger mit einigen Tropfen destillirten Wassers, dem ein klein wenig
Salmiakgeist zugesetzt war, zu untersuchen. Ein Zusatz eines für die Fär-
*) E. HoFMANis:, Einiges über Haare in gerichtsärztlicher Beziehung, Prager Viertel-
jahresschrift 1871.
416 HEIZUNG.
bung von Spermatozoen bewährten Anilinfarbstoffes wird das Auffinden der
Samenzellen noch wesentlich erleichtern. — Gelegentlich wird auch die
Eigenthümlichkeit der Haare, bei einer Arsenikvergiftung ihres Trägers sich
reichlich mit Arsen zu imprägniren, gerichtsärztliche Bedeutung gewinnen
können, zumal das Gift in den Haaren unbeschränkt lange Zeit chemisch
nachweisbar bleibt. — Zum Schlüsse möge noch erwähnt werden, dass das
Verhalten der Haare bei manchen Kopfverletzungen eine wichtige forensische
Rolle spielen kann. Z. B. ist es manchmal von höchstem Interesse zu wissen,
unter welchen näheren Umständen eine in dem Schädel eines aufgefundenen
Skelettes bestehende Knochenfissur entstanden ist. Finden sich in dem Sprunge
Haare eingeklemmt, so lässt sich, selbst lange Zeit nachdem die Weichtheile
schon gänzlich verwest sind, mit Sicherheit behaupten, dass die Verletzung
mit einer Durchtrennung der weichen Kopfbedeckungen verknüpft gewesen ist.
WOLTEßSDOEF.
Heizung. Die hygienischen Anforderungen, welche wir an die
zur Versorgung unserer Wohnräume mit Wärme dienenden Vorrichtungen
zu stellen haben, sind folgende:
1. Die Wärme soll im ganzen Räume gleichmässig vertheilt
sein, sowohl in horizontaler, als auch verticaler Richtung. Als ungefähre
Normen für die geeignete Temperatur in Kopf höhe (1-5 w über dem Fuss-
boden) kann man annehmen
für Wohn- und Geschäftsräume 18— 20'^ C
„ Schulen, Auditorien und Versammlungsräume . 16 — 18*^ C
„ Krankenzimmer, je nach der Krankheit . . . 14— 20'^ C
„ "Schlafräume 12—15'' C
„ Werkstätten, Fabrikssäle 12— 18'^ C
„ Corridore, Treppenhäuser u. dgl 12—16" C
In verticaler Richtung ist vom Fussboden bis Kopfhöhe eine Differenz
in der Temperatur von 2—3 Grad erträglich. Da die warme Luft stets nach
der Decke steigt, so ist nicht zu vermeiden, dass in den oberen Schichten
in der Regel eine höhere Temperatur, als in den mittleren und unteren
Schichten herrscht. Eine besonders ungleiche Temperaturvertheilung ist meist
da vorhanden, wo stark erwärmte (überhitzte) Heizkörper sich befinden, oder
sobald bei centralen Luftheizungen die vorgewärmt eingeführte Luft eine zu
hohe Temperatur besitzt. Mangelhafte Ventilationsvorrichtungen, Beleuchtungs-
arten vermögen ebenfalls auf die Wärmevertheilung der Aufenthaltsräume un-
günstig einzuwirken. — In horizontaler Richtung tritt der Mangel einer gleich-
massigen Vertheilung der Wärme zum Theil aus gleichen Gründen hervor.
Es findet eine rasche Abnahme der Lufttemperatur mit der Entfernung vom
Heizkörper da statt, wo derselbe nur durch Wärmestrahlung wirkt. In sehr
grossen Räumen trägt hierzu eine unzweckmässige Vertheilung der Heiz-
körper bei; auch in Räumen mit dünnen, kalten Aussenwänden lassen sich
empfindliche Temperaturunterschiede constatiren.
Bei ungleichartiger Erwärmung des Zimmers kann es vorkommen, dass
unser Körper nur einseitig erwärmt wird, wodurch Störungen in der Wärme-
regulirung des Organismus eintreten können (sog. Erkältungskrankheiten).
Eine zufriedenstellende gleichmässige Wärmevertheilung im Räume wird sich
erzielen lassen durch Bewegung (Circulation) der Luft, wie dies bei den mit
Circulationsvorrichtungen versehenen Heizanlagen der Fall ist.
2. Die erste Forderung führt dazu, weiter zu verlangen, dass die Heiz-
apparate regulirfähig sein sollen, um sich den ausserordentlich grossen
Schwankungen der Aussentemperatur während der Heizperiode anpassen zu
lassen. Heizkörper von sehr grosser Wärmecapacität, die sich schwer an-
wärmen und entwärmen lassen, sind daher für die Wärmeversorgung ungeeignet.
HEIZUNG. 417
Wünschenswert ist eine continuirliche Heizung, d. h. Tag und
Nacht im Betrieb befindliche, um eine vorübergehende Auskühlung der Luft
der Käume zu verhüten. Eine continuirliche Heizung sorgt zugleich für eine
genügende Durchwärmung der Umfassungsflächen, die sonst während der Nacht-
stunden erkalten und so die gleichmässige Durchwärmung des Raumes zu
vereiteln vermögen.
3. Durch die Heizung sollen weder gas- noch staubförmige Ver-
unreinigungen in die Wohnräume gelangen. Von gasförmigen Verbren-
nungsproducten kommen hier Kohlensäure, schweflige Säure (vom Schwefel-
gehalt der Brennstoffe herrührend) und vor allen Dingen das giftige Kohlen-
oxyd in Betracht, Die Verbrennungsgase müssen vollständig nach aussen
fortgeführt werden. Das Eindringen dieser Gase in die Wohnung findet bei
schlecht ziehenden Schornsteinen oder bei frühzeitigem Schlüsse der „Ofen-
klappen" statt. Letztere sind gewöhnlich am Abzugsrohre des Ofens vor
dessen Einmündung in den Schornstein angebracht und haben den Zweck,
nachdem das Brennmaterial verbrannt ist, eine Abstellung des durch die Feuerung
gehenden Luftstromes vornehmen zu können, um die Wärme des Ofens zurück-
zuhalten und für das Zimmer auszunutzen. Schliesst man diese Klappen
bereits vor beendigter Verbrennung, so dringen Rauchgase, Kohlendunst,
darunter das unter dem nunmehrigen Mangel an Sauerstoff entstehende, unvoll-
kommene Verbrennungsproduct der Kohle, nämlich das Kohlenoxyd, in die
Wohnung ein. Dieser sogenannte „Kohlendunst" führt mancherlei Unglücksfälle
herbei. Deshalb ist an manchen Orten die Ofenklappe behördlich verboten,
und man findet bereits allgemein zur Regulirung und Aufspeicherung der Wärme
im Ofen luftdicht schliessende Ofenthüren. — Kohlendunst kann auch bei
schlecht schliessenden Füllschächten von Dauerbrandöfen oder bei den soge-
nannten transportablen Oefen mit zu engem oder ganz fehlendem Rauchabzug
(Carbonnatroüöfen), ferner bei Undichtheiten der Central-Luftheizanlagen, in die
Räume austreten.
Experimentell hat man festgestellt, dass Kohlendunst aus im Glühen befindlichen
eisernen Oefen, und zwar an den glühenden Stellen hindurch passiren kann. Dieser Nachweis
lässt aber noch nicht schliessen, dass hierdurch eine Gefahr für die Bewohner des Raumes ent-
steht. So lange nämlich das Feuer unterhalten wird, besteht fortwährend ein Luftzug in
den Ofen hinein, wodurch ein Austritt Yon Luft in entgegengesetzter Richtung nicht gut
möglich wird. Schliesst man derartige Oefen aber zu früh, so können wohl für kurze
Zeit die Gase die Zimmerluft verunreinigen; die austretenden Rauchgasmengen sind jedoch
zu gering, um eine Schädigung der Gesundheit zu veranlassen.
Versengter Staub, d. h. die durch die Versengung der organischen
Staubpartikelchen erzeugten empyreumatischen Stoffe (darunter bisweilen
Kohlenoxyd), entstehen bei starker Ueberhitzung der Heizkörper und bilden
häufig die Ursache für das Gefühl von Trockenheit (namentlich im Halse),
welches die Bewohner in diesem Falle verspüren. Diese Producte verursachen
auch Kopfweh und Benommenheit. Temperaturen der Heizkörper von 100*^
bis 120^ können bereits zur Bildung solcher empyreumatischer Substanzen
führen. Namentlich hat man die Entstehung derselben an den Caloriferen der
Central-Luftheizungen festgestellt, auf denen es, sobald die zu erhitzende Luft von
stark staubigen Stellen angesaugt wird, zu enormen Staubansammlungen und
zur trockenen Destillation der organischen Bestandtheile des Staubes kommt.
Daher sollen solche Heizflächen höchstens auf 100^ erwärmt werden; man
soll dieselben auch so construiren und anlegen, dass eine Staubanhäufung
möglichst vermieden wird und ihre Reinhaltung eine leichte ist. Dies ist bei
emaillirten, glatten Heizkörpern der Fall; die Caloriferen müssen zudem
leicht zugängig sein.
Unter den staubförmigen Verunreinigungen kommen die von
den Brennmaterialien stammenden in erster Linie in Betracht. Torf, Kohle,
Coaks liefern die grössten Staubmengen. Zur Vermeidung des Uebelstandes
ist es am gerathensten, dort, wo es möglich ist, die Feuerungsöffnungen und
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 27
418
HEIZUNG.
insbesondere die Füllschäclite der Dauerbrandöfen von aussen in die Corridor-
wand zu verlegen.
4. Der Feuchtigkeitsgehalt der Zimmerluft soll durch die Heizung
nicht zu stark vermindert, die Luft also nicht zu trocken werden. Je
niedriger die Temperatur der Aussenluft ist, um so weniger Wasserdampf ent-
hält letztere. Wenn nun eine Luft mit geringem Wassergehalt in das
geheizte Zimmer einströmt, ohne dass sie Gelegenheit hat, auf ihrem Wege
Wasserdampf aufzunehmen, so muss im Räume schliesslich ein sehr bedeu-
tendes „Sättigungsdeficit" entstehen. Eine solche Luft wirkt austrocknend,
d. h. sie entzieht den im Räume befindlichen Objecten eine gewisse Menge
Wasser, die um so grösser werden kann, je mehr die Temperatur der Innenluft
von derjenigen der Aussenluft difterirt. Eine^bei O^C mit Wasserdampf gesättigte
Luft besitzt z. B. nur 4' 6 mm Wasserdampf, bei 20" C kann die Luft
jedoch 17-4 mm aufnehmen. Das Sättigungsdeficit einer 0° betragenden Luft
wird demnach bei der Erwärmung auf 20" C 17-4 — 4*6 = 12"8 mm be-
tragen. Die Luft wird unter dieser Bedingung noch so viel Wasser-
dampf aufnehmen können, bis die Spannung desselben 17 '4 mm beträgt. Eine
solche Luft ist sehr trocken und der Aufenthalt in ihr ein unbehaglicher. —
Ein Sättigungsdeficit von 10 mm und mehr kann, wenn die Luft staubfrei ist,
ganz gut ertragen werden; in staubreicher Luft treten aber bisweilen Reizungen
der Kehlkopfschleimhaut und andere Beschwerden auf. — Zu hoher Feuch-
tigkeitsgehalt der Luft, also eine Luft mit zu geringem Sättigungsdeficit
erregt das Gefühl der Schwüle; sie ist „drückend". Als Grenzen hat man
30 — 70"/o relativen Feuchtigkeitsgehalt, bei Temperaturschwankungen von
10 — 20" C, als geeignet angenommen.
Die Lufttrockenheit sucht man durch Anreichern mit Wasserdampf zu
verhüten. Man bedient sich dazu entweder gewisser Verdampfungsapparate
(Pfannen), die man auf den Heizkörpern anbringt, oder sogenannter Verstäubungs-
vorrichtungen (Brausen), die letztere bei Centralheizanlagen Verwendung finden.
5. Der Betrieb der Heizung soll gefahrlos, einfach und billig sein.
Die Heizung verlangt 1. Heizmaterial; 2. Heizvorrichtungen.
Als Heizmaterial — Brennstoffe — kommen gewöhnlich kohlenstoff-
reiche Substanzen zur Verwendung, deren Bestandtheile, insbesondere Kohlen-
stoff, sich mit Sauerstoff unter Wärmeentwicklung vereinigen, nachdem sie
auf die Entzündungstemperatur, d. h. diejenige Temperatur gebracht sind, bei
der sich aus ihnen brennbare Gase entwickeln. Die folgende Tabelle giebt
a) den Heizwert (calorimetrischen Effect — Wärmemengen in Wärme-Einheiten
ausgedrückt), welchen 1 kg der Brennstoffe bei ihrer Verbrennung liefert,
h) den pyrometrischen Effect, das ist die höchste erreichbare Temperatur, und
c) die zur Verbrennung erforderliche Luftmenge an.
1 Kg. luftrockenes Holz
1 „ Torf
1 „ Braunkohle
1 „ Steinkohle
1 „ Anthracit
1 „ Koks
1 „ Holzkohle
1 „ Presskohle
1 „ Leuchtgas
1 Cbm. Wassergas
1 - Dowsongas
Calorimetr. Effekt
2800-
3000-
2000-
6000-
7500-
7000
10.000-
2360-
1100-
■3900 W.-E.
-5000 ,
-6000 ,
-7500 „
-8000 „
-7800 ,
7034 ,
7000 „
-11.000 „
-2880 „
-1500 .
Pyrometr.
Effekt
1860O C.
1829° „
2211« „
2565« „
2593° „
2574» „
2466» „
Bedarf an
Luft
3.5 Cbm.
3.4
5.0
7.5
8.5
7.9
7.8
11.5
HEIZUNG. 419
Praktisch wird bei den festen Brennstoften von der entwickelten Wärme
je nach dem Heizkörper, der Bedienung desselben u. dgl. m., für den Raum
ausgenützt, bei gewöhnlicher Kaminheizung 10%, Ofenheizung 20—30% (oft
auch mehr), bei Centralheizungen 50 — 757o-
Die Wärmeabgabe seitens der Heizkörperoberfläche ist eine verschiedene.
1 m- Heizfläche giebt an Luft von 20° C in einer Stunde ungefähr ab:
Dickwandige Kachelöfen 500 — 1000 W. E.
Eiserne, glattwandige Oefen 1500—3000 W. E.
„ gerippte Wand 1000-2000 \V. E.
Luftheizöfen, glatte Fläche 1500—3000 W. E.
gerippte „ 1000—1500 W. e!
Warmwasserheizung mit Wassertemperatur 60— 80°C 250 — ööOW.E.ljenachderConstruction
80-100°C 325-650W.E.J des Heizkörpers.
Niederdruck Hochdruck
Dampfheizungen je nach der Construction
der Heizkörper 400—800 W. E. 500—950 W. E.
Zur Erwärmung von 10 chm Raum ist an Heizfläche erforderlich für:
ohne Ventilation mit Ventilation ohne Ventilation mit Ventilation
Geschützt liegende Räume
mit Doppelfenstern . . . S'O — 7-5 m' 60— 7-5 m- 1-2 — 1-5 m- 2-4— 3-0 w^
dto. mit einfachen Fenstern 4-0— 5*0 „ 8-1-0 „ 1-6— 2-0 „ 3-4— 4-0
Weniger geschützte Räume
(Eckzimmer, grosse Fen-
sterflächen, kalter Fuss-
boden) . ' 4-5- 5-5 „ 9—11-25 „ 1-8- 2-2 „ 3-6~4-o „
Sehr esponirte Räume mit
einfachen Fenstern . . . 6-0— 7-25 „ 12-14-5 ,, 2-4- 2-9 „ 4-8—5-8 „
Kachelöfen für eiserne Heizflächen
Der Wärmebedarf der zu beheizenden Räumlichkeiten kann sehr
verschieden sein; er ist abhängig von den W^ärmeverlusten, die durch
Wärmeabgabe an die Umgrenzungsflächen hervorgebracht werden und von
der Grösse des Luftwechsels. Ferner sind hierfür in Abrechnung zu bringen
die von dem Lebensprocess der Menschen und von der Beleuchtung gelieferten
Wärmequantitäten, wobei man für einen Erwachsenen im Ruhezustande
stündlich 100 W.-E., bei der Arbeit 146 W.-E., für ein Kind 24 W.-E. annimmt.
Bezüglich der Wärmeerzeugung durch die Beleuchtung vgl. diese. Ln
Uebrigen berechnet man gewöhnlich den Wärmebedarf eines Raumes pro
Stunde nach der Gleichung W = F (ti — ta ) K, worin W der Wärmeverlust
pro Stunde in Cal., F die Grösse der Fläche in m-, ta Aussentemperatur,
ti Innentemperatur und K eine empirisch gewonnene Mittelzahl für verschie-
dene Wandumgrenzungen (nach einem Ministerialerlass für Preussen vom
7. Mai 1884) bedeutet.
An jeder Heizvorrichtung unterscheidet man 1. den Verbren-
nungsraum, 2. den Heizraum und 3. den Schornstein.
1. Im Verbrennungsraum geht die Verbrennung des Brennmaterials vor sich.
Für feste Brennstoffe ist derselbe durch den Rost in zwei übereinanderliegende Theile
geschieden, den Feuerungsraum und Aschenfall. Letzterer dient oft als Canal für die in
den Feuerungsraum einzuführende Luft. Leicht brennbares Material braucht keinen
Rost; die nöthige Luft kann man durch eine Oeffnung der Ofenthür eintreten lassen.
Für gasförmige Stoffe bestimmte Feuerungsräume sind gewöhnlich so construirt, dass mit
dem Gasstrom ein Luftstrom sich vermengt, analog der Vorrichtung bei dem bekannten
Bunsenbrenner.
2. Der Heizraum giebt die Wärme an die Zimmer ab und richtet sich in seiner
Gestalt nach der Construction des Heizapparates. Man legt ihn zweckmässig als ein System
von Canälen (Rauch- oder Feuer züge) an, durch welche die heissen Rauchgase auf- und
niederströmen, somit erst dann in den Rauchfang gelangen, nachdem sie ihre Wärme an
die Heizflächen in ausgiebiger Weise abgegeben haben. Damit letztere sich wieder leichter
entwärmen und dadurch befriedigende Heizeffecte veranlassen, vergrössert man ihre Ober-
fläche durch Anbringen von „Rippen". Die Ausdehnung des Heizraumes hat jedoch ihre
Grenze, da die Rauchgase immer noch eine Temperatur von 120° C haben müssen, wenn
sie in den Schornstein gelangen, um in diesem einen genügenden „Zug" zu unterhalten.
27-
420 HEIZUNa.
3. Der Schornstein bezweckt nicht nur, die aus dem Heizraum ausströmenden
Verbrennungsproducte ins Freie abzuführen, sondern er soll auch die zur Verbrennung des
Heizmaterials nothwendige Luftmenge ansaugen. Auf die Construction der Schornsteine hat
der Heiztechniker grosse Sorgfalt zu verwenden und nicht nur ihre richtige Lage im
Gebäude, ihren inneren Ausputz ins Auge zu fassen, sondern auch den störenden Ein-
flüssen des Windes, Regens u. dgl. m. durch geeignete Vorrichtungen (Rauchklappen,
Luftsauger) entgegenzutreten.
Die Heizanlagenselbst zerfallen in Local- und Centralheizungen.
Bei der Localheizung befindet sich die Heizvorrichtung in der Regel im
Zimmer selbst, wogegen bei der Centralheizung von einer Stelle aus (Keller
des Hauses) mehrere Zimmer gemeinsam mit Wärme versorgt werden.
Die Localheizung geschieht durch Kamine oder Oefen. Die
Kamine besitzen keinen Heizraum, sondern nur eine offene Feuerstelle die
direct mit dem Schornstein communicirt; sie heizen durch strahlende Wärme
und besitzen den Nachtheil einer geringen (5 — lO^/^) Wärmeausnützung und
der ungleichen Erwärmung des Raumes, lassen auch mitunter Rauchgase in
das Zimmer zurücktreten. Dagegen ventiliren sie den Raum ausgiebig.
Kamine sind daher nur als Luxusheizung und als Ventilationsvorrichtungen
anzusehen. Eine wesentlich bessere Erwärmung führt der GALTON'sche
Kamin herbei, bei dem das die Verbrennungsgase abführende Rauchrohr mit
einem Mantel umgeben ist, in den, wie bei den Heizungen für „Circulation"^,
die Luft unten eintritt, sich erst an dem Rauchrohr erwärmt und dann oben
in das Zimmer austritt.
Als Oefen sind theils Kachelöfen oder eiserne Oefen im Gebrauch.
Die Kachelöfen, auch Massenöfen genannt, speichern die Wärme,
welche durch die wenigstens täglich einmal ausgeführte Heizung erzeugt wird,
in ihrer Steinmasse auf und geben sie allmählich an den Raum ab. Die
Erwärmung des letzteren geht dabei nur langsam vor sich; ausserdem ist die
Regulirbarkeit der Zimmertemperatur eine schwierige. Man wendet sie
daher wohl nur für Privatwohnungen an; für Räume wie Schulen, Kranken-
zimmer und periodisch benutzte Zimmer sind sie nicht empfehlenswert.
Besonders viel benutzte Kachelöfen sind: der russische und schwedische Ofen.
Der erstere ist rechteckig, der letztere zumeist kreisförmig; ihre Höhe reicht bis fast unter
die Zimmerdecke. Der Heizraum des russischen Ofens besteht aus einer Reihe von auf-
und abwärts steigenden Rauchzügen, die aus Backsteinen hergestellt sind. Eine Ausfüllung
der Zwischenräume mit Lehm und Ziegeln soll dem Ofen eine grosse Masse für die Auf-
speicherung der Wärme verleihen. — Der Berliner Ofen gleicht dem Russischen; er
besitzt vertical- und horizontalgehende Züge, ist ohne Rost für Holz- und Press-
kohlenfeuerung, und mit Rost für Kohlenfeuerung eingerichtet. An Stelle des doppelten
Deckelverschlusses (Guschke) an der Einmündung des Rauchrohres in den Fuchs beim
russischen Ofen ist beim Berliner Ofen eine luftdichte Thür angebracht, die verhindern
soll, dass die Wärme durch die nachströmende Luft nach dem Schornstein getrieben werde.
Die Mängel der Kachelöfen hat man durch die Construction des ge-
mischten Ofens zu beseitigen gesucht, bei welchem der Feuerraum und ein
Theil des Heizraumes durch einen gusseisernen Ein- oder Untersatz gebildet
ist, an den sich die Rauchzüge anschliessen. Der eiserne Einsatz hat im
Ofen bisweilen eine freie Aufstellung erhalten und der so gebildete Zwischen-
raum ist unten und oben mit Gitterkacheln versehen, so dass hierdurch eine
Circulation der Luft erzielt wird. Zu dieser Art von Oefen gehört der BöHM'sche
Ventilationsofen, welcher in Wiener und Münchener Krankenhäusern einge-
führt ist.
Die eisernen Oefen, in ihrer einfachsten Form Säulen-, Kanonen-
oder Kasernenöfen genannt, heizen zumeist nur durch Strahlung und ent-
lassen einen grossen Theil der Wärme unv erwertet nach dem Schornstein;
ihre Wandungen werden stets zu stark überhitzt, oft sogar glühend; die Er-
wärmung des Raumes erfolgt zwar sehr schnell, aber ebenso rasch kühlt der
Raum aus, sobald das Feuer erloschen ist. Zudem müssen diese Oefen sehr
häufig beschickt werden, was zu starker Staubentwicklung führt.
HEIZUNG. 421
Diese Mängel wurden nach und nach durch bessere Constructionen zu
beseitigen gesucht. Die augenblicklich gebauten Mäntel-Eeguli r-F ü 1 1 ö f e n
sind das Resultat dieser Bestrebungen.
Die Füllöfen (Schüttöfen genannt) nehmen den Bedarf an Brennmaterial
für 6— 12, oft für 24 Stunden auf einmal auf. Die meisten derselben functioniren
mit Dauerbrand, indem sie während der Heizperiode nur einmal angeheizt
zu werden brauchen, und das frische Brennmaterial auf die noch glimmenden
Reste des vorhandenen aufgeworfen wird. Der Luftzutritt erfolgt behufs
langsam von oben nach unten fortschreitender Verbrennung durch einen Rost,
weshalb nur unten nicht zusammenbackende Kohlen oder Coaks verwendet wer-
den dürfen. Die Füllung des Ofens kann bei manchen Arten derselben ausser-
halb des zu beheizenden Raumes geschehen.
Vielfach besitzt diese Sorte Oefen einen seitlichen Schacht (Schachtöfen), in
welchen das Brennmaterial in grösserer Menge auf einmal eingefüllt wird, nachdem auf dem
Rost das Feuer angezündet worden ist. Das Brennmaterial gleitet entsprechend der Raschheit
des VerbrennungsTorganges, der regulirbar ist, allmählich in den Verbrennungsraum herab.
Der Rost ist beweglich (Schüttelrost) und ermöglicht dadurch eine Auffrischung des Feuers.
Eine besonders vollständige Verbrennung führen die sogenannten „Korbroste" herbei, weil
sie der einströmenden Luft eine grosse Oberfläche darbieten.
Von wesentlicher Bedeutung sind die den eisernen Ofen umgrenzenden
Mäntel, da diese sowohl die strahlende Wärme abhalten als auch eine
schnelle und möglichst gleichmässige Erwärmung des Raumes
herbeiführen. Der Abstand des Mantels vom Ofen soll mindestens 15 und
höchstens 30 cm betragen; bei zu geringem Abstand erhitzt sich nämlich die
zwischen, Mantel und Ofen nach aufwärts sich bewegende Luft zu hoch, bei
zu weitem Abstand findet Einströmung von kalter Luft von oben her in den
Mantel statt, die die Function des Mantels stört. Der Mantel communicirt
nämlich unten und oben mit der Zimmerluft, so dass beim Brennen des
Feuers die zwischen Mantel und Ofen befindliche Luftsäule erwärmt, dadurch
specifisch leichter wird und daher oberhalb des Mantels in das Zimmer aus-
tritt. Da in Folge des Austrittes erwärmter Luft frische, kältere Luft von
unten in den Mantel eintritt, so entsteht in dem Zimmer ein stetig durch
den Mantel „circulirender'' Luftstrom, weshalb man solche Oefen auch
Circulationsöfen genannt hat.
Der Mantel lässt sich ausserdem mit einem Canal (Ventilationscanal)
verbinden, der mit der Aussenluft communicirt; alsdann saugt der angeheizte
Ofen frische Luft aus dem Freien an, die sich erst innerhalb des Mantels
erwärmt, bevor sie ins Zimmer strömt (Ventilationsöfen). Diese Canäle
enthalten eine Klappe, die durch Umstellung nach Belieben den Ventilations-
schacht zu schliessen gestattet, so dass in diesem Falle der Ofen als „Circulations-
öfen" wirkt, oder die Circulation abzusperren und den Ventilationscanal zu
öffnen erlaubt, so dass der Raum zugleich mit warmer frischer Luft versehen
wird (Circulations- und Ventilationsöfen).
Nach diesem Princip sind eine grosse Menge Oefen construirt worden, z. B. der
Meidinger Ofen (Eisenwerk Kaiserslautern), die Oefen von Käuffer & Co. in Mainz, Keidel
in Berlin, der irische Ofen. Der von Gropius und Schmieden in Berliner Krankenhäusern
eingeführte „Barakenofen" besteht aus zwei hohen Mantelöfen, die dicht an einander in
der Mitte des Saales stehen und von denen der eine als Circulationsöfen wirkt, der andere
als Ventilationsofen. Beide Oefen geben ihre Verbrennungsproducte an ein gemeinschaftliches
Abzugsrohr ab, welches concentrisch in einem weiten luftabführenden Canal aus Eisenblech
über das Dach geführt ist.
Es giebt im Handel kleinere transportable eiserne Oefen, die NiESKE'schen Carbon-
öfen, die Kohlenoxyd in die Zimmerluft abgeben und vor denen daher behördlicherseits
gewarnt worden ist.
Die in letzter Zeit in Aufnahme gekommenen Gasöfen bieten den Vortheil ver-
hältnismässig geringer Anlagekosten, des einfachen Betriebes, schneller Regulirfähigkeit ; ihr
Betrieb ist zudem ein reinlicher, denn R.uss und Rauch wird bei ihnen vermieden. Unbe-
dingt muss von ihnen eine Construction gefordert werden, welche die Abfuhr der Heizgase
(nach oben) gewährleistet. Nachtheile dieser Oefen sind die ziemlich hohen Betriebskosten,
422 HEIZUNG.
die Gefahr des Einströmens von Leiiclitgas in die Zimmerhift. Die Ueberhitzung der
^letallfläcben ist bei gut coustruirten Gasöfen ausgeschlossen. Ein solcher ist der Karls-
ruher Schulofen (Warsteiner Hütte), ein cylindrischer Mantelofen, der für Circulation
und Ventilation eingerichtet ist. — E eflectoröfen heizen durch strahlende Wärme und
besitzen meist die Kaminform; sie sind deshalb mit einem Metallschirme (gewelltes Metall)
versehen, -welcher die Wärmestrahlen der im oberen Theil vorhandenen Gasflammen ins
Zimmer reflectirt.
Die Centralheizung bewirkt die gleichzeitige Erwärmung einer
Anzahl von Räumen von einer Stelle aus. Man benützt als Wärmequelle
entweder Luft (Luftheizung), Dampf (Dampfheizung) oder erwärm-
tes Wasser (Wasserheizung).
Bei der Luftheizung wird frische Luft an einem Ofen (Heiz-
apparat, Calorifer), der möglichst tief im Gebäude (Keller) aufgestellt
wird, erwärmt und durch Canäle den einzelnen Räumen zugeführt. Der Heiz-
apparat besteht gewöhnlich aus einem grossen eisernen Schüttofen, der den
eigentlichen Heizkörper erwärmt. Letzterer hat entweder eine kofferförmige
Gestalt, ist mit Rippen versehen, oder mit in Windungen verlaufenden, eben-
falls gerippten Röhren. Durch die Heizkörper strömen die heissen Verbren-
nungsgase des Ofens und geben an sie die Wärme ab, ehe sie an den
Schornstein gelangen. Die Temperatur des Heizkörpers soll nicht 100*^0 über-
schreiten; er soll die W^ärme leicht und schnell abgeben und vor allen Dingen
dicht construirt sein, so dass das Ausströmen von Verbrennungsproducten in
die Heizkammer und von da in die Zimmer ausgeschlossen ist. Ebenso soll er
leicht innerlich und vornehmlich äusserlich zu reinigen sein. — Der Heiz-
körper befindet sich in der Heiz kämm er: es ist diese ein in einem gewissen
Abstände den Heizkörper umgebender gemauerter Raum, der wie die Mäntel
der eisernen Oefen wirken soll. Die Kammer soll so gross sein, dass sich die
Luft, welche durch Canäle aus dem Freien infolge der Temperaturdifferenzen
angesaugt wird, in ihr höchstens auf 80" C erwärmt; sie muss bequem begehbar
und zu reinigen, daher für letztere Zwecke genügend hell sein. Ihre Umfassungs-
Üächen müssen behufs leichter Reinigung glatt sein. — In der Heizkammer
münden alle Canäle für die Heizluft; hier befinden sich ausserdem die zur
Anfeuchtung der Luft nothweudigen Wasserverdunstungsvorrichtungen.
Die Kaltluftcanäle führen frische Luft von Aussen in die Heiz-
kammer. Die Entnahmestelle der fi'ischen Luft soll an einer vor Staub,
üblen Gerüchen u. dgl. m. geschützten Stelle liegen; diese darf ausserdem
nicht zu stark dem Einfluss des Winddruckes ausgesetzt sein. Man lässt die
Luft zunächst in eine Luftkammer eintreten, welche plötzliche Windstösse
abschwächt und in welcher grobe Filter zur Fernhaltung gröberer in der Luft
suspendirter Partikel vorhanden sind. Feinmaschige Filter oder andere Vor-
richtungen, die die frische Luft von Staub zu befreien den Zweck haben,
sind so anzubringen, dass sie der Bewegung der Luft, die nur durch die
Temperaturunterschiede erfolgt, kein Hindernis bieten. — Die Heissluft-
c anale befördern die in den Heizkammern erwärmte frische Luft in die
zu beheizenden Räume. Sie sind in den Innenwänden des Gebäudes
angelegt, dürfen in der horizontalen Lage höchstens eine Länge von 12 m
besitzen, falls nicht maschinelle Kraft zur Bewegung der Luft benutzt werden
soll, und sind immer ansteigend (vertical) ohne viele Knickungen anzulegen.
Für zweckmässige Anordnung von Reinigungsöfi'nungen ist auch hierbei zu
sorgen. Die Geschwindigkeit der Luft in ihnen soll wo möglich 1-2 m pro
Secunde nicht überschreiten und die aus ihnen austretende Luft höchstens
40'^C betragen.
Die Regulirung der Luftzuführung besorgt der Heizer am besten selbst
von der Heizstelle aus, die zu diesem Zwecke mit Thermometern ausgerüstet
sein muss. welche ihm die Temperatur der Luft in den beheizten Räumen
anzeigen (F e r n t h e r m o m e t e r). Um diese Regulirung zu ermöglichen, sind
die Lultzuführungscanäle mit Klappen versehen, die den Austritt erwärmter
HEIZUNG. 423
Luft durch Verringerung oder Vergrösserung des Querschnittes vermindern
oder vermehren.
Jeder Wohnraum besitzt seinen eigenen Heissluftcanal, dessen Oeffnung
im Zimmer ca. 1 bis 2 m über Kopthöhe angebracht ist. Grössere Räume
müssen mehrere derartige Heissluftcanäle enthalten; jeder einzelne der letzteren
soll nicht über 60 cm gross sein; man giebt den Austrittsöffnungen verstell-
bare Schirme, die die ausströmende heisse Luft nach oben leiten, von wo
sie sich dann im Zimmer vertheilt; dadurch wird Zugemjjfindung vermieden.
Regulirungsvorrichtungen zur Bemessung des einzulassenden Luftquantums sind
ausserdem im Räume stets vorhanden.
Um die mit Respirationsfjroducten überladene Luft abzuführen und die
Ventilation zu unterstützen, befinden sich ausserdem in jedem Räume sog.
Abzugs- oder Abfuhrcanäle. Diese liegen in den Innenwandungen des
Gebäudes und führen über Dach; behufs steter Aufwärtsbewegung der Luft-
säule in ihnen werden diese Canäle an stets benutzte Schornsteine gelegt oder
mit Wärmequellen (Lockfeuern, Gasflammen) versehen. Diese Abluft canäle
besitzen in der Regel zwei Mündungen im Zimmer, am besten auf derselben
Seite, wo sich der Zuluftcanal befindet; die eine der Mündung nahe am Fuss-
boden, die andere nahe an der Decke. Nur die erstere soll bei regulärem
Heizbetrieb geöffnet sein. Die obere Oeffnung wird nur dann benutzt, wenn
die Temperatur im Zimmer zu hoch geworden ist; die einströmende warme
Luft kann in diesem Falle direct, ohne im Räume zu circuliren, entweichen.
Alle Canäle müssen mit grösster Sorgfalt hergestellt und namentlich der-
artig verputzt sein, dass sich aus ihnen kein Staub ablöst; ihre Reinigung
soll leicht sich bewerkstelligen lassen.
Zu erwähnen ist noch, dass das Anheizen der Räume in der Weise geschieht, dass
der von Aussen zur Heizkammer führende Ventilationsschacht geschlossen wird: dadurch
tritt eine Circulationsbeizung ein, indem die in den Zimmern vorhandene Luft über die
Caloriferen erwärmt in die Zimmer zurückströmt; erst nach erfolgter Durchwärmung wird der
Frischluftcanal geöffnet. Zur Temperaturregulirung dienen ferner sog. Mi seh canäle, in
denen sich heisse frische Luft mit kalter frischer Luft in solchen Mengen mischen kann,
dass die Mischluft die gewünschte Temperatur besitzt. Die Mischung lässt sich reguliren
und wird vom Heizer je nach Bedürfnis ausgeführt.
Den Luftheizungen ist der Vorwurf gemacht worden, dass sie die Räume
leicht überheizen; schuld daran ist aber meist das unsachgemässe Re-
guliren der Verschlüsse der Heissluftcanäle seitens der Bewohner der Zimmer
oder eine Ueberbürdung des Heizers mit anderen Obliegenheiten, die ihm der
Beobachtung der Heizanlagen entziehen. — Sind die Gebäude den Winden zu
stark ausgesetzt, so können Missstände entstehen, indem die dem Winde zu
stark exponirten Theile des Gebäudes kalt, die entgegengesetzten zu warm
werden.
Die schlechte Luft, die in den mit Luftheizungen versehenen Räumen herrschen soll,
kommt wohl davon, dass entweder geeignete Mischcanäle fehlen, oder die Lüftung nicht
gehörig functionirt oder gebandhabt wird. — „Brenzlichen Geruch" erzeugende Producte
entstehen stets, sobald Staubablagerungen auf den Heizkörpern und den Heissluftcanälen
stattgefunden haben; der Staub erleidet durch die überhitzte Luft oder durch die heissen
Flächen der Heizkörper eine trockene Destillation, die unter Entwicklung von brenzlich
riechenden Producten vor sich geht. — Trockene Luft, über die gerade in den mit Luft-
heizung versehenen Räumen geklagt wird, macht sich nur bei üeberheizung der letzteren
und bei ungenügender Durchfeuchtung der Luft fühlbar. Eine gut construirte und gut be-
diente Luftheizung besitzt alle diese Mängel nicht.
Zu erwähnen ist noch, dass man vielfach die Caloriferen anstatt durch directes Feuer
mittelst Heisswasser- oder Dampfschlangen heitzt, um eine üeberwärmung der Luft zu
vermeiden. Man kann dann von einer Heizstelle aus mehrere Caloriferen erhitzen; bei unter-
brochenem Betrieb solcher Heisswasserluftheizungen ist jedoch ein Einfrieren der Heizung zu
befürchten.
Die Wasserheizung, bei der das erwärmte Wasser die Wärmequelle
vorstellt, besteht im Wesentlichen aus einer Feuerstelle und einer mit Wasser
gefüllten, in sich geschlossenen Rohrleitung; diese letztere geht nämlich von
dem oberen Theil eines mit Wasser gefüllten Kessels, der geheizt ^vird, aus.
424 HEIZUNG.
läuft durch die zu beheizenden Räume hindurch und endet wieder im unteren
Theil des Kessels. Da das warme Wasser speciiisch leichter ist, als das kalte,
so wird bei der Erwärmung des Wassers im Kessel ein Aufsteigen desselben
im Kohrsystem stattfinden. Zugleich kühlt sich aber das Wasser unterwegs (in
den beheizten Räumen) durch Wärmeabgabe mehr und mehr ab und kehrt
daher in abgekühltem Zustand in den Kessel wieder zurück. Den Kessel
stellt man daher im tiefsten Theile des Gebäudes (Keller) auf.
Man unterscheidet bei der Wasserheizung:
1. Warmwasserheizung,
a) mit Mitteldruck (über 100° C im Kessel),
b) mit Niederdruck (ca. 100° im Kessel),
2. Heisswasserheizung,
a) mit Mitteldruck, d, i. etwa 150° C in der Feuerschlange,
h) mit Hochdruck, d. i. etwa 200° C in der Feuerschlange.
Die Warmwasserheizung oder Niederdruckwasserheizung
besitzt ein Rohrsystem, dessen höchster Theil in ein Gefäss (Expansions-
gefäss) mündet; dasselbe communicirt mit der atmosphärischen Luft und bewirkt
daher, dass sich das Wasser im Kessel nicht viel höher als 100° erwärmen
kann. Es dient zugleich zur Aufnahme des überschüssigen Antheiles desjenigen
Wassers, welches durch die bei der Erwärmung entstehende Volumvermehrung
aus dem Röhrensystem verdrängt wird; beim Erkalten wird dieses Wasser an
die Rohrleitung wieder abgegeben. Das vom Kessel aufsteigende erwärmte
Wasser tritt in die Heizkörper ein, die in den zu erwärmenden Räumen stehen,
und von denen aus die Wärmeabgabe erfolgt. Jeder dieser Heizkörper muss
für sich regulirbar sein; sie besitzen daher Hähne oder Ventile, mittelst
welcher die Wasserzuleitung verringert oder ganz ausgeschaltet werden kann.
Man giebt Ihnen verschiedene Constructionen, theils bestehen sie aus guss-
eisernen Rippenröhren, die an den Wänden entlang laufen, oder zu Registern,
Batterien, Elementen vereinigt sind, und in einer Nische Aufstellung finden,
theils sind es flache, schmiedeiserne Kästen oder stehende Röhren (Säulen-
form), deren Zwischenräume das warme Wasser durchfliesst (Wasseröfen). Die
Röhren enthalten einen mit der Zimmerluft communicirenden Luftraum, durch
welchen Luft unten ein- und oben ausströmt, auf diese Weise eine Circulations-
heizung bewirkend. Vorrichtungen an den Heizkörpern gestatten zugleich eine
Ventilation, d. h. Zuführung frischer, eventuell vorher durch sie angewärmter Luft.
Die Niederdruckwasserheizung liefert eine milde gleichmässige und nach-
haltige Wärme und eignet sich für Wohn- und Krankenräume, Schulen und
dgl. m.; sie empfiehlt sich nicht für Räume mit unterbrochenem Heizbetrieb.
Sie ist gut regulirbar und gestattet die Ausschaltung einzelner Räume. Da
die Heizkörper sich nicht hoch erhitzen, ist eine Verunreinigung der Luft mit
brenzlichen Producten ausgeschlossen. Die Anlage selbst ist theuer, der Be-
trieb aber billig. Da das Wasser nur eine niedere Temperatur besitzt, muss
die die Wärme abgebende Wassermasse relativ gross sein und daher die Röhren
weit; dies vertheuert die Anlage.
Wegen der höheren Temperaturen, welche das Wasser der Warmwasserheizung
mit Mitteldruck besitzt, wird diese Anlage, die sonst die gleiche ist, wie Niederdruck-
wasserheizung, billiger. Die höhere Temperatur bei ex'sterer erzielt man dadurch, dass man an
der Mündung der Rohrleitung im Expansionsgefäss ein Doppelventil anbringt mit einer
dem erlaubten Druck entsprechenden Belastung. Das Wasser aus der Leitung tritt daher
ins Expansionsgefäss beim Entstehen des üeberdruckes aus ; beim Erkalten öffnet sich das
Ausflussventil in Folge der im Rohrsystem geäusserten Saugwirkung.
Die Centralheizung von Liebau (Magdeburg) ist eine Warmwasserheizung, deren
Heizkessel im Küchenherd untergebracht ist, so dass die Herdfeuerung zugleich die Wohn-
räume mitheizt.
Die Heisswasserheizung, PERKiN'sches Heizsystem, besitzt
statt des Wasserkessels meist spiralförmig gewundene Röhren (Heiz- oder
HEIZUNG. 425
Feuerschlange), in denen das Wasser erwärmt wird. Dieses Wasser wird eben-
falls, wie bei der Warmwasserheizung, behufs Wärmeabgabe in die einzelnen
Räume und von da zur Feuerung zurückgeleitet. Der Druck im System beträgt
3 bis 4 Atmosphären; die Anlage muss aber einen Probedruck von 150 Atmo-
sphären aushalten können. Das Rohrsystem besteht aus engen Röhren; an Stelle
des offenen Expansionsgefässes bei der Warmwasserheizung tritt ein mit be-
sonderem Ventil belastetes Rohr; das Ventil öffnet sich erst bei 10 bis 15 Atmo-
sphärendruck und lässt dabei das Wasser in ein Reservoir treten; die Ex-
pansionseinrichtung besteht mitunter aus erweiterten zum Theil mit Luft
gefüllten Röhren.
Die Länge jedes einzelnen Systems darf 180 m nicht übersteigen. Umfangreiche
Gebäude bedürfen daher mehrerer Systeme.
Die Heizkörper bestehen ebenfalls aus spiralförmig aufgerollten Röhren, die aber
wegen der hohen Temperatur des in ihnen circulirenden Wassers umkleidet sein müssen.
Die Heisswasserheizungsanlage ist billig, das System gestattet rasche Anheizung, kühlt sich
aber auch rasch wieder ab.
In Verbindung mit einer Luftheizung hat die Heisswasserheizung Anwendung für
Schulen und Krankenhäuser gefunden, allein wird sie dafür nicht empfohlen. Explosionen,
die stattgefunden hatten, betrafen in der Regel die Heizschlange (Kessel.)
Die Dampfheizung unterscheidet sich von der Wasserheizung im Princip
dadurch, dass Wasserdampf in einer Rohrleitung als Wärmequelle von einer
Feuerstelle aus den zu beheizenden Räumen zugeführt wird. Die Wärme-
abgabe seitens des Wasserdampfes erfolgt in Heizkörpern; hierbei condensirt
sich der Dampf zu Wasser und kann nunmehr, eventuell in den Kessel zu-
rück, abgeleitet werden. Dieses System gestattet Anlagen von unbeschränkter
Ausdehnung und empfiehlt sich besonders da, wo man bereits zu anderen
Zwecken eines grösseren Dampfkessels bedarf.
Der Kessel befindet sich gewöhnlich entfernt von dem zu beheizenden Gebäude;
von ihm aus wird der Dampf durch schmiedeeiserne Röhren in die Wohnräume geführt.
Man giebt ihm nicht mehr wie l^/a bis 2 Atmosphären Spannung (110—120" C) und rechnet
wegen der geringen Wärmecapacität des Dampfes, die eine grosse Dampfmenge zur Be-
heizung erforderlich machen würde, weniger auf die von diesem abgegebene Wärme, also auf
die Entwärmung des Dampfes, als vielmehr auf die bei seiner Condensation freiwerdende,
beträchtliche Wärmequantität.
In das Rohrsystem sind sog. Compensatoren eingeschaltet, die aus Kupfer be-
stehen und Ü-Form besitzen. Diese bezwecken, der Ausdehnung, beziehungsweise Zusammen-
ziehung der eisernen Röhren bei der Erwärmung oder beim Erkalten Spielraum zu bieten.
Das Hauptrohr führt den Dampf zuerst zum höchsten Punkt; von da leiten
ihn Abzweigungen durch die Heizkörper abwärts. Fliesst das Condensationswasser gegen die
Pachtung des Dampfes, so entstehen unangenehme knatternde Geräusche in den Röhren
und Heizkörpern; man legt daher für das Condensationswasser eigene Leitungen an. Der
üebertritt desselben wird durch selbstthätig wirkende Ventile, die ein Ausströmen von
Dampf verhindern, vermittelt.
Die Heizkörper der Dampfheizung unterscheiden sich wenig von den bei
der Warmwasserheizung üblichen, oft sind es guss- oder schmiedeeiserne
Register, oft Rippenkörper mit Schutzmäntel, oft benützt man mit Wasser
gefüllte Oefen, deren Inhalt durch den Dampf erhitzt wird. Vielfach legt
man wegen der Geräusche die Heizkörper nicht in die Wohnräume selbst,
sondern verbindet die Dampfheizung mit einer Luftheizung, in der bei dieser
erwähnten Art.
In neuerer Zeit gewinnt die Niederdruckdampfheizung, auch
Wasserdunstheizung genannt, (von Bechem und Post, Rietschel und
Henneberg, Käuffer & Co.) immer mehr an Bedeutung; sie lässt sich zudem
an kleineren Gebäuden mit Vortheil verwenden.
Der Kessel dieser Heizung ist mit einem etwas über 10 m langen, oben offenen
Wasserstandrohr versehen, so dass der in jenem entwickelte Dampf nur wenig über den Atmo-
sphärendruck (Ol— 0-3 Atmosphärenüberdruck) steht. Im Kessel ist ein Heizkasten, der
von oben mit Feuerungsmaterial beschickt wird und den Wasserinhalt des Kessels zum
Verdampfen bringt. Der Luftzutritt zur Feuerung erfolgt durch einen Canal. dessen Oeffnung
durch einen Deckel selbstthätig mittels sinnreicher Vorrichtung verkleinert oder vergrössert
werden kann. Steigt in Folge geringeren Wärme- und Dampfverbrauchs in den Zimmern
426 HYPNOTISMÜS.
der Dampfdruck im Kessel, so sinkt der Deckel herab und der Luftzutritt, somit auch die
Verbrennung, wird geringer. Im entgegengesetzten Falle hebt der Regulator automatisch
den Deckel, wodurch die Luftzufuhr und die Verbrennung intensiver wird. — Die auto-
matisch wirkenden Regulirungsvorrichtungen haben je nach dem System ver.schiedene Con-
struction. Die übrige Anordnung und die Heizapparate sind ähnlich wie bei der Dampfheizung.
Es ist noch zu erwähnen, dass namentlich die in Krankenhäusern viel-
fach beliebte Fussbodenheizung daher ihre Bezeichnung hat, dass die
Heizkörper irgend eines Heizsystems in gemauerten Gängen unter die Fuss-
böden verlegt sind. Die Verdeckung dieser Gänge geschieht mittelst durch-
löcherter Eisenplatten u. dgl. b. proskauer.
HypnotismUS (forensisch). Wenngleich die Erforschung der an einem
Hypnotisirten zu beobachtenden Erscheinungen und insbesondere der psychi-
schen Ausnahmezustände in den letzten Jahren das rege Interesse berufener
Autoren gefunden, welche mit grosser Entschiedenheit für die wissenschaftliche
Berechtigung des Hypnotismus eintreten, so dass der frühere Standpunkt
allgemeiner Ablehnung bereits ziemlich verlassen ist, so ist doch bei der
forensischen Beurtheilung der Tragweite des Hypnotismus seitens der Gerichts-
ärzte und Richter die grösste Vorsicht nöthig; diese ist nicht blos in Rück-
sicht auf die Eigenart der hypnotischen Erscheinungen als solche schon, son-
dern deshalb geboten, weil in jenen Fällen, in welchen der Hypnotismus von
forensischer Bedeutung werden kann, die sogenannten Medien sehr häufig
Individuen sind, welche in ihrer psychischen Constitution erheblich von der
Norm abweichen, z. B. Hysterische, deren krankhafte Neigung zu Erfindungen,
Uebertreibungen und selbst Wahnvorstellungen einerseits und deren sexuelle
Eigenthümlichkeiten andererseits allgemein bekannt sind.
Indem wir die Symptomatologie der Hypnose im Speciellen als bekannt voraussetzen
und auf den bezüglichen Artikel verweisen, genügt es hier für die forensische Betrachtung
des Hypnotismus mit Umgehung der zahlreichen ünterabtheilungen, welche Liebeault,
Bernheim, Gilles de la Tourette, Binet, Fere angaben, daran zu erinnern, dass die Aus-
dehnung der durch Hypnose hervorgerufenen Functionsstörungen in hohem Grade variabel
ist, sowohl für die centrifugalen wie die centripetalen Bahnen des Nervensystems. Die
Tiefengrade der Hypnose schwanken von Somnolenz, in welcher der Hypnotische noch mit
Anstrengung den Suggestionen widerstehen kann, leichtem Schlaf (Hypotaxie, charme). in
welchem der Beeinflusste die Augen nicht mehr öffnen und einem Theil der Suggestionen
bis allen gehorchen muss, ohne Amnesie, bis zur vollentwickelten Lethargie, einem Zustand
völliger Erschlaffung, in welchem die Sinne keinen Eindruck mehr aufnehmen. Dazwischen
liegt der somnambule Zustand, in welchem das Sinnesleben hochgradig gesteigert ist, mit
einem dem Wachbewusstsein ähnlichen Bewusstsein, vermöge dessen Suggestionen von
Aussen schnell und leicht percipirt und zur Idee verarbeitet werden, so dass in dem Som-
nambulen beliebig Suggestionen erzeugt und Sinnesempfindungen hervorgerufen werden
können. Ausser der gesteigerten Suggestibilität wird als weiteres Charakteristicum die
meistens vollständige Amnesie nach dem Erwachen angegeben; im kataleptischen Stadium,
Zustand von Analgesie und Anästhesie, Unbeweglichkeit, passiver Gliederstellung und
körperlicher Starrheit, sind die Sinne noch erregungsfähig und die Suggestion automatischer
Bewegungen wird aufgenommen und ausgeführt.
Hieraus ergiebt sich, dass in der Hypnose Zustände vorkommen, in
welchen, wie Lilienthal ausführt, der Eingeschläferte 1. nicht im Stande
ist, sich gegen verbrecherische Angriffe, welche auf ihn unternommen werden,
zur Wehr zu setzen, 2. durch den Willen des Hypnotiseurs in einer Weise
beeinflusst werden kann, dass er als willenloses Werkzeug in dessen Händen
erscheint. Es handelt sich also um Nöthigung zur Duldung einer Handlung
im Sinne des § 240 d. St.-G.-B., um Beraubung der persönlichen Freiheit,
§ 239 St.-G.-B., im zweiten Falle noch im Zusammenhang mit § 51 d. St.-G.-B.,
in welchem von der für die Strafbarkeit einer Handlung vorausgesetzten freien
Willens-Bestimmung des Thäters die Rede ist (§ 56 öst. St.-G.-B.)
Von den strafbaren, an Hypnotisirten unternommenen Handlungen haben
nur die Sittlichkeitsvergehen — eine Reihe hiehergehöriger Fälle sind in der
französischen Literatur von Brouardel, Ladame, Auban, Tardieu, Devergie
veröffentlicht — gerichtsärztliches Interesse.
HYPNOTISMÜS. 427
Der interessante BROUARDEL'sche Fall betrifft einen Zahnarzt, der geständig ist, eine
Clientin während der Hypnose wiederholt geschlechtlich missbraacht zu haben. Das be-
treffende Mädchen war ein sehr gutes Medium, das ebenso leicht hypnotisirbar, aber auch
in gleicher Weise leicht durch einfaches Anblasen aus tiefer Hypnose zum Erwachen gebracht
werden konnte, so dass es auffällig sein musste, wenn die mit dem Coitus verbundenen
tactilen Reize nicht den gleichen Erfolg hatten. Möglicherweise wurde hierauf auch der
hypnotisirende Zahnarzt aufmerksam; denn er hat sich, wie Brouardel mittheilt, schon
sehr bald nicht mehr mit der Hypnose allein begnügt, sondern dieselbe mit Inhalations-
narkose combinirt.
Bei Besprechung der Sittlichkeitsvergehen drängt sich a limine die Frage
auf, ob Jemand überhaupt gegen seinen Willen hypnotisirt werden kann?
Nach dem heutigen Stand unserer Erfahrungen über Hypnotismus ist dieselbe
dahin zu beantworten, dass dies, wenn auch nur in verhältnismässig seltenen
Fällen, doch immerhin möglich ist, aber ausnahmslos nur bei Personen mit
sehr gesteigerter Disposition zur Hypnose, wie sie aus angeborener oder er-
worbener neuropathischer Constitution und insbesondere als Folgezustand oft
wiederholter hypnotischer Proceduren resultirt.
Keine Schwierigkeiten in der Beurtheilung können die in den vorge-
schritteneren Stadien der Hypnose Befindlichen machen, wo die selbständigen
Willensregungen oder das willkürliche Hervorrufen von Vorstellungen entweder
auf ein Minimum reducirt oder ganz unmöglich ist. Ob die hypnotischen
Somnambulen willen- oder bewusstlos im Sinne des § 176, 2 oder § 177
d. St.-G.-B. (§§ 125, 127 öst. St.-G.-B.) sind, wonach der aussereheliche
Beischlaf mit einer in einem willen- oder bewusstlosen Zustand befindlichen,
bezw. mit einer in einen solchen zu diesem Zweck versetzten Frauensperson
mit Zuchthaus bestraft wird, diese Frage kann unmöglich generell beant-
wortet werden, sondern nur von Fall zu Fall.
Im Uebrigen sei an dieser Stelle bemerkt, dass der Begrifi" „willenlos"
auch von bedeutenden Strafrechtstheoretikern, wie Liszt, Meyer, Opperhoff,
sehr weit interpretirt und Willenslosigkeit schon angenommen wird, wenn
die Missbrauchte ihren Willen nicht äussern, beziehungsweise nicht geltend
machen konnte.
Aus Deutschland ist als ziemlich vereinzelter Fall der im Jahre 1894 vor dem
Münchener Schwurgericht zurAburtheilung gekommene;Process Czynski-Zedlitz zu erwähnen.
Die Deutung dieses Falles, in welchem gerichtsärztlich die Frage actuell wurde, ob man
einer leicht hypnotisirten Person Liebe gegen ihren Willen suggeriren kann, so dass sie
obgleich anscheinend in vollständigem Wachzustand als „willenloses Opfer" die Ausübung
des Beischlafes erdulden muss, hat merkwürdiger Weise Meinungsverschiedenheiten her-
vorgerufen. Während eine Autorität wie Grashey, ferner Preyer und Schrenk-Notzing an-
nehmen, dass die Baronesse Zedlitz, occupirt von einer abnormen, künstlich durch Hypnose
hervorgerufenen und deshalb „pathologischen" Liebe, in den Händen Czynski's ein willen-
loses Opfer war, bestritt Hirth in überzeugender Weise die von Grashey bei der Baro-
nesse angenommene dauernde suggestive Beeinflussung des Willens („suggerirte Abulie''
nach Preyer) und begutachtete, dass ein willenloser Zustand, wie ihn der § 176, 2 St.-
G.-B. voraussetzt, bei der Baronesse nicht vorlag, welchem Gutachten sich auch die Ge-
schworenen in ihrem Wahrspruch anschlössen.
Wir kommen jetzt zur Besprechung der sogenannten hypnotischen
Verbrechen, d. h. Verbrechenshandlungen, welche von einem Menschen
unter dem Einfluss einer hypnotischen (intrahypnotischen) oder posthypnotischen
Suggestion verübt werden.
Während alle Kenner des Hypnotismus über das Factum der Suggesti-
bilität überhaupt einig sind, ja man gewissermaassen als Kern der Hypnose
die Suggestion betrachtet, gehen die Ansichten bezüglich der Frage, ob einem
Hypnotisirten ein Verbrechen mit Erfolg suggerirt werden könne, weit aus-
einander. Gilles de la Foueette, Brouardel, Binswanger und Andere
sprechen sich im Wesentlichen dagegen aus, während Berillon, Liegeois
(welcher 4°/o aller Hypnotisirbaren als empfänglich für Criminalsuggestionen
annimmt), Forel, Moll und Lilienthal die Möglichkeit des hypnotischen
Verbrechens mit Entschiedenheit behaupten und zum Theil eine Stütze für
428 HYPNOTISMUS.
ihre Ansicht in bezüglichen experimentellen Feststellungen erblicken. Die
letzteren werden zwar auch von den erstgenannten Autoren keineswegs ge-
leugnet; indessen wird man nicht ohne weiteres aus denselben auf die
Wirklichkeit Rückschlüsse machen können, da es sich hier sozusagen nur um
Laboratoriumsexperimente handelt, um Scheinverbrechen, welche keinen Kern
des Ernstes in sich tragen.
Wenn Forel in der Hypnose ein braves, unbescholtenes Mädchen zum
Stehlen eines 50 Centimestückes veranlassen kann und einen 70jährigen
Mann zu einer Scheinmordthat, wobei unverkennbare Anzeichen eines tiefen
associirten Affectes zur Beobachtung gekommen sein sollen, Bottey (allerdings
„unter den nöthigen Cautelen") experimentell mit Erfolg die Suggestion des
Selbstmordes versucht hat, wenn ferner Liegeois ein hypnotisirtes Mädchen
in Gegenwart von Gerichtspersonen dahin gebracht, dass es einen vermeintlich
geladenen Revolver auf die eigene Mutter abfeuerte, so haben derartige Ver-
suche — die Berechtigung, sie überhaupt anzustellen, sei ad hoc zugegeben —
doch sicherlich nicht die ihnen von den Experimentatoren vindicirte praktische
Bedeutung, da es genug Hypnotisirte giebt, welche im Stande sind, vermöge
ihres erhaltenen Bewusstseins das objectiv Harmlose und Ungefährliche der
ganzen Experimentanordnung zu überblicken. Selbst nach der Ansicht von
Beenheim und Beaunis sind nicht alle hypnotischen Somnambulen reine
passive Automaten, wie man gewöhnlich annimmt, sondern viele derselben
setzen „bestimmten" suggestiven Befehlen Widerstand entgegen. Die Stärke
des Widerstandes gegen die Realisirung einer Criminalsuggestion hängt eben
nicht allein von der Suggestibilität des Objectes überhaupt ab, sondern die
gesammte Charakteranlage und psychische Energie eines Individuums, der
Entwicklungsgrad seiner ethischen und moralischen Begriffe stellt hier zwei-
fellos einen hervorragenden Factor dar. Forensisch wird man höch-
stens die Möglichkeit zugeben können, dass sittlich defecte
Menschen durch wiederholte eindringende Hypnotisirung zu
einem ernsten Verbrechen veranlasst werden können. Jeden-
falls muss man ausschliessen, dass die Stärke der sogenannten hypnotischen
Erziehung oder „Dressur" (d. h. lange Zeit fortgesetzte hypnotisirende Ein-
wirkungen) die ethische Reaction einer normalen Persönlichkeit gegenüber
einer intra-, beziehungsweise posthypnotischen Criminalsuggestion in einer
Weise zum Verschwinden bringen kann, dass von Aufhebung der freien Willens-
bestimmungen im Sinne des § 51 d. St.-G.-B. (§ 56 öst. St.-G.-B.) die Rede ist.
FoREL sieht die grösste Gefahr der posthypnotischen Suggestion
darin, dass der Hypnotiseur gleichzeitig mit der criminellen Suggestion die
Eingebung machen kann, dass die Versuchsperson an ihren freien Willens -
entschluss glaubt, dass ihr also der zwangs massige Charakter der ihr in
der Hypnose befohlenen Verbrechenshandlung auch nach dem Erwachen aus
derselben nicht mehr zum Bewusstsein kommt. Nach unserer Ansicht sind
dies theoretisch construirte „Fälle" ohne praktische Bedeutung, da nach der
ganzen Sachlage der Beweis für einen solchen supponirten Thatbestand nicht
zu erbringen sein wird.
Der Process Eyrand-Bompard hat uns gezeigt, wie weit man bei der Begutactitung
in foro kommen kann, wenn man bei der Erklärung einer incriminirten Handlung stets
nach suggestiver Beeinflussung sucht. Bernheim und Liegeois haben den offenbar lange
überlegten und bis in das Detail vorbereiteten Raubmord der Gabrielle Bompard an dem
Gerichtsvollzieher Gouffe auf suggestive Beeinflussung durch Eyrand, den mitschuldigen
Geliebten der Bompard, zurückgeführt; weil die Bompard sich experimentell als ein sehr
gutes Medium erwiesen hat. Man sollte erwarten, dass ein in so hohem Grade ethisch
defectes Individuum wie die Bompard wahrlich nicht erst suggestive Beeinflussung zur
Begehung einer Strafhandlung nöthig hat, und Brouardel hat mit vollem Recht sich für
die Zurechnungsfähigkeit der IBompard ausgesprochen.
Ueberdies hat es sich nicht einmal um hypnotisch erzeugte, sondern
nur um sog. „Wach"-Suggestionen gehandelt, einer Bezeichnung, unter
HYPNOTISMUS. 429
welcher Forel jene Fälle zusammenfasst, in denen man bei sehr suggestiblen
Personen in vollem Wachsein erfolgreich die Suggestion anwenden und dabei
alle Erscheinungen der Hypnose oder der posthypnotischen Suggestion hervor-
rufen kann. Bis jetzt sind analoge einwandfreie Fälle aus der forensischen
Literatur nicht bekannt und man wird mit grosser Sicherheit annehmen
können, dass solche auch kaum bekannt werden; ebensowenig verdienen die
„Fascination" Preyer's und die von Delboeuf und Beauni-s „condition prime",
„veille somnambulique" benannten Zwischenformen zwischen eigentlicher Hyp-
nose und Wachzustand, als deren Charakteristicum man anführt, dass der
Hypnotische zwar offene Augen habe, sich wie ein normaler Mensch benimmt^
gar nichts vergisst, kurz sich in einem vollständig wachen Seelenzustand be-
finde, bis auf den einen Punkt, welcher vom Hypnotiseur verboten, resp.
befohlen ist, in foro Berücksichtigung. Derartige „Zustände" sind über-
haupt nach den heutzutage in der Psychopathologie geltenden Gesichtspunkten
undiscutabel, da es unseren Auffassungen über den Mechanismus psychischer
Vorgänge vollständig widerspricht, anzunehmen, dass jemand lediglich in
einem Punkt psychisch abnorm, sonst aber normal ist.
Von dem gleichen Gesichtspunkt, wie forensisch die posthypnotischen Criminal-
suggestionen, ist auch eine Abart derselben, die Termineingebung (Suggestion ä echeance) zu
betrachten, die darin besteht, dass man die Gedanken und Entschlüsse des Hypnotisirten
im Voraus für eine bestimmte Zeit ,, bestellen" kann, wo der Hypnotiseur nicht mehr zu-
gegen ist. In diagnostischer Hinsicht hat man darauf aufmerksam gemacht, dass die ein-
tretende Termineingebung den Charakter des Zwanges, des unwiderstehlichen Triebes, bis
sie ausgeführt sei, an sich trage, Merkmale, welche gewiss nicht geeignet sind, die bei ße-
urtheilung ähnlicher Fälle auftretenden Zweifel zu zerstreuen. Aehnlich verhält es sich
auch mit den zahlreichen anderen Varietäten der posthypnotischen Suggestion.
Verschiedene Autoren haben den retroactiven Hallucinationen (suggerirte Erinnerung
an nie Erlebtes, Paramnesie) eine besondere forensische Bedeutung beigelegt. Nach Moll,
Lilienthal können diese suggerirten Erinnerungsfälschungen dazu verwendet werden,
Zeugenaussagen vor Gericht zu fälschen, man kann mit ihrer Hilfe die betreffenden Zeugen
glauben machen, dass sie gewisse Scenen, eventuell auch Verbrechen gesehen haben, so dass
sie im Brustton der Ueberlegung bezügliche Aussagen machen. Wenn indessen selbst ein so
eifriger Verfechter des Hypnotisraus wie Moll berichtet, dass nach seinen Erfahrungen
„hypnotisirte Personen ganz ebenso lügen, als wenn sie wach wären, und die raffinirtesten
Lügengewebe in der HyjDnose. erzeugt werden können", so giebt er damit auch zu, dass
nicht blos die retroactiven, sondern auch die sogenannten positiven und negativen Hallu-
cinationen Hypnotisirter an ihrer Bedeutung in foro wesentlich verlieren müssen, ja häufig
vollständig belanglos werden. Die Frage nach der Tragweite derartiger psychischer Vor-
gänge in gerichtsärztlicher Beziehung könnte unseres Ermessens nur dann actuell werden,
wenn diese gleichzeitig noch mit anderen unverkennbaren geistigen Störungen einhergehen,
z. B. mit Auffälligkeiten im Reden und Thun auch in Bezug auf Dinge, die ausserhalb
eines inhaltlichen Zusammenhanges mit der betreffenden Suggestion stehen.
Die Erinnerungstäuschungen durch Suggestion im Wachzustand
(nach Forel Bearbeitung der Parteien durch Anwälte, Beeinflussung durch
Suggestivfragen seitens der Untersuchungsrichter) mit den hypnotisch
erzeugten retroactiven Hallucinationen auf die gleiche Stufe zu stellen, haben
als Erste Bernheim und Dessoir unternommen, und zwar nicht mit Glück.
Eine genaue Abgrenzung des Begriffes der hypnotischen Suggestibilität von
dem der „gewöhnlichen" muss man für absolut nothwendig halten; hinter
einer solchen Verallgemeinerung des Begriffes „Suggeriren" verbergen sich
in foro mit den spärlichen „unbewussten" Unwahrheiten recht bald zahlreiche
bewusste. Zu welch ungeheuerlichen Consequenzen die forensische Anerken-
nung solcher vag definirter Zustände für die Criminal Justiz führen muss,
liegt ohne weitere Ausführung klar zu Tage.
Unsere zusammenfassende Ansicht über die Zurechnungsfähigkeit Hypno-
tischer geht dahin, dass nur in den wenigen Fällen, welche mit tiefer gehen-
den Bewusstseinsstörungen einhergehen, vom Fehlen des strafrechtlichen
Unterscheidungsvermögens gesprochen werden kann. Auch Binswanger hält
es für unrichtig, alle Arten des Hypnotismus in Bezug auf die strafrechtliche
Beurtheilung unter den Schutz des § 51 d. St.-G. (§56 öst. St.-G.-B.) zu
430 HYPNOTISMUS.
stellen, da ja sehr häufig der Hypnotisirte frei von Bewusstseinsstörungen und
gewissermaassen nur willenlos ist. Wie oben besprochen, kommt ja gerade in
Folge des erhaltenen Bewusstseins auch in der Hypnose die Individualität
einer Persönlichkeit zum Ausdruck. Aus einer bestehenden posthypnotischen
Amnesie auf intrahypnotische Bewusstlosigkeit zu schliessen, geht, abgesehen
von dem schwierigen Nachweis thatsächlicher Amnesie, ebenfalls zu weit.
Man kann nur, wie auch Foeel zugiebt, von einer wahrscheinlichen Ver-
schleierung des Bewusstseins sprechen, ohne jedoch damit über die Erheb-
lichkeit der eventuell constatirten Alteration bestimmte Anhaltspunkte zu ge-
winnen. Dem Vorschlag Lilienthal's zu folgen, der im Gegensatz zu dem
Somnambulen den Lethargischen allein als bewusstlos im juristischen Sinn
bezeichnet, ist vom ärztlichen Standpunkt aus kaum möglich. Eine solche
Systematisirung ist hier ebensowenig durchführbar, wie in der gerichtlichen
Psychopathologie; auch hier greift man zur Beurtheilung des Seelenlebens
nicht ein bestimmtes Zustandsbild heraus, sondern man fasst den Gesammt-
zustand, die ganze psychische Persönlichkeit ins Auge.
Mehrfach hat man bereits die Frage discutirt, ob und inwieweit beim
gerichtlichen Verfahren eine praktische Verwertung des Hypnotismus ermög-
licht sei. Wenn Lilienthal die bezüglichen juristischen Gesichtspunkte dahin
zusammenfasst, dass unter den heutigen Verhältnissen zu bestimmten Zwecken
und unter gewissen Bedingungen eine Hypnotisation vor Gericht zulässig ist,
so ist von medicinischer Seite zu betonen, dass etwaige Versuche zunächst
an dem Verhalten des nicht geständigen Verbrechers scheitern würden, welcher,
wenn nicht gerade zufällig zu den Wenigen gegen ihren Willen hypnotisir-
baren Personen gehörig, schwerlich die Bedingungen zum Zustandekommen
der Hypnose erfüllen wird. Neben verschiedenen Bedenken anderer Art
rechtfertigen auch die Erfahrungen über die Glaubwürdigkeit Hypnotisirter
den von Lilienthal und du Peel vertheidigten Vorschlag der Vernehmung
eines hypnotisirten Delinquenten in keiner Weise.
Es bedarf wohl nicht weiterer Erörterungen, dass ein erfolgreicher
Hypnotisirungsversuch vor Gericht als Beweis für die hypnotische Natur
einer Verbrechenshandlung nicht gelten und retrospectiv für die Beurtheilung
des Geisteszustandes eines Angeklagten zur Zeit der Begehung der That
nicht maassgebend werden kann, wie dies Liegeois und du Peel glauben,
indem sie von der Ansicht ausgehen, dass ein hypnotisches Verbrechen auch
wieder auf hypnotischem Wege zu entdecken sei.
Nach obigen Bemerkungen über die Verwertbarkeit des Hypnotismus
im gerichtlichen Untersuchungsverfahren erscheint es überflüssig, auf die
Frage der Simulation näher einzugehen. So wichtig die Simulation für den
experimentellen Hypnotismus ist, so irrelevant ist sie für den Hypnotismus inforo.
Es erübrigt uns noch kurz der civilrechtlichen Beziehungen des
Hypnotismus zu gedenken. Fälle von rechtserheblichen Folgen hypnotischer
Zustände im Givilprocessverfahren sind unseres Wissens noch nicht zur Cogni-
tion gelangt, womit natürlich deren Möglichkeit (Testamentserschieichung,
Erhebung von Unterschriften u. s. w.) nicht von der Hand gewiesen sein soll.
Grund zu Befürchtungen, dass bei weiterer Verbreitung der Kenntniss des
Hypnotismus die Hypnose sehr häufig von Menschen, welche sich ihren civil-
rechtlichen Verpflichtungen entziehen wollen, als Einrede dem Gläubiger gegen-
über oder als Anfechtungsgrund verwerthet wird, ist schon deshalb nicht vor-
handen, weil im Civilprocess ein Jeder beweisen muss, was er behauptet, ein
in der Vergangenheit liegender hypnotischer Zustand aber nachträglich schwer
nachzuweisen ist. Da für die ärztliche Sachverständigenthätigkeit im Givil-
processverfahren die gleichen Gesichtspunkte maassgebend sind, wie sie im
Obigen bei Besprechung der Zurechnungsfähigkeit Hypnotisirter erwähnt wur-
den, genügt es, wenn wir zur Orientirung über die in Betracht kommenden
juristischen Begriffe auf die lesenswerte Arbeit von Beutivegni hinweisen.
IDENTITÄTSBESTIMMüNG.
431
Was endlich die medicinalpolitische Seite des Hypnotismus
betrifft, so wird allgemein zugestanden, dass aus der Hypnose gesundheitliche
Nachtheile von zum Theil sehr ernster Natur und längerer Dauer resultiren
können. (Hysterie nach Binswanger, Convulsionen, Katalepsie, Neurasthenie
u. s. w.; im Falle Salomon ist bekanntlich der Tod in der Hypnose ein-
getreten.) Selbst zugegeben, dass derartige Folgen nur durch mangelhafte
Technik des Hypnotiseurs und speciell durch unvollständiges Desuggestioniren
veranlasst sind, so ergiebt sich doch schon hieraus ohne weitere Berück-
sichtigung anderer Gefahren die Nothwendigkeit, dass man die Suggestion zu
Heilzwecken ausschliesslich psychologisch geschulten Aerzten gestatten soll
(eine Forderung, die allerdings mit der deutschen Gewerbeordnung nicht in
Einklang zu bringen ist) und ferner, dass die öffentlichen Schaustellungen von
hypnotischen Somnambulen als grober Unfug strengstens zu verbieten sind.
In einer Anzahl deutscher Staaten, in Oesterreich, Dänemark, in der Schweiz
und in Belgien ist dies bereits geschehen. In Russland dürfen die Aerzte
nach einer Verfügung des Reichsmedicinal-Conseil nur unter Zuziehung
anderer Aerzte und nach vorheriger Anmeldung bei der Ortsbehörde zu
therapeutischen Zwecken hypnotisiren. e. sciiäffek.
Identitätsbestimmung.
Gesetzliche Vorschriften: § 127 öst. St.-P.-O. bestimmt u. A.: Ehe zur
Oeffnnng der Leiche geschritten wird, ist dieselbe genau zu beschreiben und deren
Identität durch Vernehmung von Personen, die den Verstorbenen gekannt haben, ausser
Zweifel zu setzen. Diesen Personen ist nöthigenfalls vor der Anerkennung eine genaue
Beschreibung des Verstorbenen abzufordern. Ist aber der Letztere unbekannt, so ist eine
genaue Beschreibung der Leiche durch öffentliche Blätter bekannt zu machen. Bei der
Leichenschau hat der Untersuchungsrichter darauf zu sehen, dass die Lage und Beschaffen-
heit des Leichnams, der Ort wo, und die Kleidung, worin er gefunden wurde, genau be-
merkt, sowie Alles, was nach den Umständen für die Untersuchung von Bedeutung sein
könnte, sorgfältig beobachtet werde.
§ 11 der österr. Vorschrift für die Vornahme der gerichtlichen
Todtenbeschau (Verordnung d. Minist, d. Innern u. der Justiz vom 28. Jänner 1855)
ist mit § 127 d. St.-P.-O. fast wörtlich gleichlautend. Sie enthält aber ausserdem noch
folgende auf die Feststellung der Identität bezügliche Stellen:
§ 15 bestimmt die Anerkennung der Identität im ObductionsprotocoUe. Es geschieht
dies vor Beginn jeder gerichtlichen Leichenöffnung durch einen besonderen Vermerk des
Untersuchungsrichters im Eingange.
§ 31. Hierauf wird zur Untersuchung und Beschreibung der Kleidungsstücke ge-
schritten, welche schon deshalb von besonderer Wichtigkeit ist, weil sie nebst der der
übrigen vorgefundenen Effecten bei Unbekannten zur Constatirung der Identität der Person
Aufschlüsse giebt.
§ 32. Die Beschreibung der Kleidungsstücke kann in derselben Ordnung, wie sie am
Leibe getragen werden, geschehen, und es müssen der Stoff, seine Färbung, der Schnitt,
das Futter, die vorhandenen Taschen und ihr Inhalt, die alte und abgenützte oder noch
neue und brauchbare Beschaffenheit derselben berücksichtigt werden. Bei Stücken, die
gewöhnlich mit Merkzeichen versehen sind, ist diesen nachzuforschen, die vorgefundenen
so viel als möglich ähnlich mit Bemerkung ihrer Farbe und Art im Protokolle anzugeben;
wo sie aber fehlen, ist auch dieser Umstand anzuführen.
§ 48. Bei Unbekannten hat die äussere Besichtigung mit der Personalbeschreibung
zu beginnen, in welche die Grösse mit genauer Angabe des Maasses, das Geschlecht, das
beiläufige Alter, die Körperbeschaffenheit überhaupt, die Farbe der Haare und Augen, die
Form des Gesichtes, die Bildung der Stirne, der Nase, der Lippen und des Mundes, die
Art des allenfalls vorhandenen Bartes, die Beschaffenheit der Zähne, andere auffallende
Kennzeichen: als Narben, Warzen, Muttermäler, durchstochene Ohrläppchen, Missbildung
u. s. w. aufzunehmen sind.
§§ 49—57 enthalten noch eine Reihe von aufzunehmenden Identitätsbefunden der
einzelnen Körpertheile.
Das deutsche (preussische) Ptegulativ vom 13. Februar 1875 bestimmt: §10.
Die Obducenten sind verpflichtet, in den Fällen, in denen ihnen dies erforderlich scheint,
den Richter rechtzeitig zu ersuchen, dass vor der Obduction ihnen Gelegenheit gegeben
werde, die Kleidungsstücke, welche der Verstorbene bei seinem Auffinden getragen, zu
besichtigen.
§ 13. Demgemäss sind betreffend den Körper im Allgemeinen, soweit die Besichtigung
solches ermöglicht, zu ermitteln und anzugeben: 1. Alter, Geschlecht, Körperbau, allge-
432 IDENTITlTSBESTIMMUNG.
meiner Ernährungszustand, etwa vorhandene Krankheitsresiduen, z. B. sogenannte Fuss-
geschwüre, besondere Abnormitäten (z. B. Maler, Narben, Tätowirungen, Ueberzahl oder
Mangel an Gliedmassen) .... betreffend die einzelnen Theile ist Folgendes festzustellen:
Bei Leichen unbekannter Personen die Farbe und sonstige Beschaffenheit der Haare
(Kopf und Bart), sowie die Farbe der Augen.
Die Eechtspflege ist nicht allzu selten vor die Aufgabe gestellt, die
Identität von unbekannten Menschen bestimmen zu müssen, und. bedarf hiezu
häufig der sachkundigen Mitwirkung des Arztes. Keineswegs beschränkt sich
aber diese Aufgabe nur auf die Feststellung der Identität von Leichen, son-
dern sie erstreckt sich auch auf lebende Personen. Im Grossen und Ganzen
sind aber in jedem Falle dieselben Grundsätze geltend und kommen die
gleichen Methoden zur Anwendung; nur ist am Lebenden blos die äussere
Untersuchung ausführbar, während bei unbekannten Leichen auch Beobach-
tungsergebnisse an inneren Organen für diesen Zweck verwertet werden
können. Wir werden daher die Aufgaben und Methoden der Identitäts-
bestimmung bei lebenden Personen und an Leichen unter Einem erörtern.
A. Aufgaben der Identitätsbestimmung,
Die Sicherstellung unbekannter Personen hat folgende Ziele: Bestimmung
des Alters, des Geschlechtes, der Körperbeschaffenheit und etwa vorhandener
besonderer Kennzeichen.
1. Das Alter, Sowohl bei Lebenden wie bei Leichen wird das beiläufige
Alter häufig abgeschätzt, und es ist etwas anderes als eine solche annäherungs-
weise Schätzung auch vom Gesetze nicht verlangt (vgl. öst. Vorschrift § 48),
noch immer möglich. Sie erfolgt meist auf Grund gesammelter Erfahrungen
des Beobachters nach allgemeinen äusseren Merkmalen: der Körpergrösse,
dem Ernährungszustand, dem Haar- und Bartwuchs, der Haarfarbe, den Zähnen,
der Beschaffenheit der Haut und der Körperhaltung, wobei allerdings wesent-
liche Täuschungen vorkommen können. Oft haben junge Leute Glatzen oder
früh ergraute Haare, schlechte Zähne, mangelnden Fettpolster, welke, schlaffe,
runzelige Haut, selbst gebückte Haltung und umgekehrt. Namentlich ist die
Schätzung des Alters bei Leichen wegen des fehlenden Turgor vitalis oder
der Fäulnisveränderungen oft schwierig; es wird meist zu hoch geschätzt.
Je unsicherer eine solche Abschätzung häufig ist, umso wünschens-
werther und wichtiger sind objective Merkmale des wirklichen Alters. Zum
Theile sehr sichere Anhaltspunkte für die Altersbestimmung bieten die Ent-
wicklungsvorgänge der Knochen, der Knorpel und mancher Organe.
Die wichtigsten von Oefila, Taylor, Casper, Henle, Langer, Toldt
u. A. festgestellten osteologischen Thatsachen für die Bestimmung des
Lebensalters sind im Nachfolgenden zusammengestellt.
a) Altersbestimmung am Schädel.
Die Knochenentwicklung beginnt an den platten Schädelknochen
schon mit dem Ende des zweiten und zu Anfang des dritten Embryonalmonates.
Zu Ende der achten oder Anfang der neunten Woche ist der Beginn der Ver-
kalkung in der knorpeligen Anlage der Schuppe des Hinterhauptbeines schon
deutlich erkennbar, während die erste knöcherne Anlage der Stirnbeine in
der Regel sogar zwischen die siebente bis achte Embryonalwoche fällt. Die
Scheitelbeine zeigen beginnende Verknöcherung in der zehnten Embryonal-
woche. Um dieselbe Zeit wird auch schon die Verknöcherung des Unter-
kiefers eingeleitet, indem in der nächsten Umgebung des MECKEL'schen
Knorpels zarte Knochenbälkchen auftreten (Toldt), und auch die sechs bis
sieben Knochenkerne, aus denen sich der Oberkiefer entwickelt, werden zu
Beginn des dritten Embryonalmonats angelegt, die Jochbeine um die neunte,
die Nasenbeine in der zwölften W^oche, das Pflugscharbein zu Anfang des
vierten, die Thränenbeine gegen Ende des vierten, die Nasenmuscheln gegen
Ende des siebenten Schw^angerschaftsmonats; die Anlage der ersten Zahn-
IDENTITÄTSBESTIMMÜNG. 433
scherbchen für die mittleren Schneidezähne erfolgt nach Zuckerkandl und
Mauczka im sechsten, die Ossification der Spitzen des ersten Milchmahl-
zahnes und der Eckzähne im siebenten Monate. Im letzten Fötalmonate tritt
die bisherige radiär-faserige Beschaffenheit der Oberfläche an den platten
Schädelknochen mehr zurück, sie sind bis zur Berührung gegen einander ge-
wachsen, die dreieckige Fontanelle verschwindet und die vordere Schläfen-
fontanelle wird ganz schmal, der Paukenring verschmilzt mit der Schläfen-
beinschuppe und die Kronenfläche des zweiten Milchmahlzahnes wird wenig-
stens theilweise gebildet.
Die mittleren Maasse für den Schädel des reifen neugeborenen Kindes betragen nach
Toldt:
Horizontalumfang 335 vun
Längsdurchmesser 105 „
Breitendurchmesser Sß „
Diagonaler Durchmesser 125 „
Der Horizontalumfang des Schädels beträgt beim halbjährigen Kinde 39—40 cm
beim einjährigen 42 — 43 cm. Am Ende des ersten oder in den ersten drei Monaten des
zweiten Lebensjahres erfolgt der Verschluss der grossen Fontanelle; am Ende des zweiten
Jahres hat der Schädel schon einen Umfang bis zu 46 cm erreicht ; von da ab bleibt sein
bisher so rasches Wachsthum wesentlich zurück, Welcker giebt folgende Maasse an:
Am Ende des zweiten Lebensjahres: 418 — 464 7nm
„ dritten „ 425—473 „
„ „ „ fünften , 438-486 „
^ ,, „ sechsten „ 443—493 „
Schädel aus dem dritten bis sechsten Lebensjahr sind durch den Besitz des voll-
ständigen Milchgebisses ausgezeichnet; bis in das vierte Jahr hinein sind die Zähne gewöhn-
lich intact und selbst an der Krone der Schneidezähne ist nur eine massige Abschleifung
zu bemerken. Im siebenten Lebensjahre erfolgt der Durchbruch des ersten bleibenden
Mahlzahnes, in dem Zeitraum vom achten bis vierzehnten Lebensjahre brechen der Reihe
nach alle bleibenden Zähne durch.
Die Zahnentwicklung und der Zahnwechsel geben folgende Anhaltspunkte für
die Altersbestimmung:
Die medialen unteren Schneidezähne brechen durch im 6. — 7. Monat
„ „ oberen „ „ „ „ 7. „
„ „ seitlichen „ „ „ „ 8.-9. „
Der erste Milchmahlzahn bricht durch im 1. Drittel des 2. Jahres.
Der Eckzahn um die Mitte des 2. Jahres.
Der zweite Milchmahlzahn gegen das Ende des 2. oder Anfang des 3. Jahres.
Das Dauergebiss entwickelt sich folgendermaassen :
Der erste Mahlzahn bricht durch im 6. od. 7. Jahre
Der mediale Schneidezahn „ 7. od. 8. „
Der laterale „ „ 9. „
Der vordere Backenzahn „ 10.— 11. „
Der Eckzahn „ 11.— 12.
Der hintere Backenzahn „ 11. — 13. „
Der zweite Mahlzahn „ 12. — 13. „
Der Weisheitszahn „ 18. — 24. „
In dieser Zeit des Durchbruches der Dauerzähne (8.-14. Lebensjahr) schwankt der
Horizontalumfang des Schädels in der Regel zwischen 46—50 cm. Die Sattellehne des
Keilbeines ist häufig bis ins 12. oder 13. Jahr hinein noch nicht vollständig verknöchert;
die Spheno-occipitalfuge schliesst sich zwischen dem 16.— 20. Jahre; in dieser Zeit beträgt
der Schädelumfang b0—b2cm.
In der Zeit vom 24.— 40. Lebensjahre ändern sich die Verhältnisse am Schädel nur
so wenig, dass kaum irgend welche Anhaltspunkte für die Altersbestimmung gewonnen
werden können; nur die fortschreitende Abnützung und auch schon meist das Schadhaft-
werden der Zähne bieten einige Anhaltspunkte für approximative Schätzungen. Vom 40. Jahre
aufwärts findet man schon, und zwar je älter über desto grössere Strecken verbreitet die
senilen Nahtsynostosen. Nach Zuckerkandl können sich solche zwischen Pfeil- und Kranznaht
auch schon im 20., an der Kranznaht um das 27. Lebensjahr entwickeln. Im Greisenalter
stellen sich die typischen Veränderungen der senilen Involution ein, die_ in Atrophie und
Osteoporose bestehen. Die Knochensubstanz schwindet, so dass an vielen Stellen des
Schädelskelettes wirkliche Luken entstehen oder der Knochen wenigstens papierblattdünn
wird. Hervorragend ist dies der Fall am Oberkiefer, am Dach der Orbita, dem harten
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene ii. Ger. Med. 28
434 IDENTITÄTSBESTIMMÜNG.
Gaumen, dem Pflugscharbein, den Orbitalflächen des Jochbeines und den angrenzenden
Theilen des grossen Keilbeinflügels. Allerdings kann diese Altersatrophie in einzelnen
Fällen auch sehr verspätet auftreten oder ganz fehlen nnd sogar ersetzt sein durch eine
senile Sclerose der Knochen. Sehr bemerkenswert sind die Altersveränderungen der Kiefer
durch den Ausfall der Zähne, den Schvrand der Zahnfächerfortsätze und die dadurch herbei-
geführte charakteristische Formveränderung des Unterkiefers, die in Verschmälerung, Ver-
grösserung des Winkels und Verlängerung besteht.
J) Altersbes timmung an Rumpf- und Ex tremitätenkno eben.
Die für forensische Zwecke zumeist ausschliesslich in Betracht gezogenen
entwicklungsgeschichtlichen Thatsachen an Rumpf- und Extremitätenknochen,
welche Altersbestimmungen gestatten, sind kurz folgende:
An diesen Skelettheilen werden die ersten Knochenkerne in der lü. Embryonal"
woche angelegt. Die Verkalkung der Wirbelknochen beginnt in den Bogenstielen der
oberen Halswirbel und schreitet von da nach abwärts fort; in der 12. Woche folgt je ein
Verkalkiingspunkt in den Wirbelkörpern der Brust- und Lendenwirbel und der beiden
letzten Halswirbel, während die Knochenkerne in den* Körpern der oberen Halswirbel
erst im fünften Monate angelegt werden; im sechsten Monat tritt der oberste Verkalkungs-
punkt im Körper des Epistropheus auf, welcher entwicklungsgeschichtlich das Aequivalent
des fehlenden Körpers des Atlas darstellt. Im dritten Lebensjahre beginnt die Verschmel-
zung der Wirbelbogen mit dem Körper; sie schreitet nur langsam vor und ist im fünften
Jahre noch nicht vollendet; zuletzt verschmilzt der Körper des Epistropheus mit dem Zahn;
Reste der Fuge erhalten sich hier noch bis ins achte Jahr hinein. Zwischen dem 10. — 12.
Lebensjahr entwickeln sich die Epiphysenplatten der Wirbelkörper, deren Verschmelzung
mit den Körpern zwischen dem 22.-24. Jahre erfolgt. Im Kreuzbein und Steissbein er-
folgt die Entwicklung der Knochenanlagen und die Verschmelzung der einzelnen Theile
nach dem Typus und annähernd in denselben Zeiten, wie bei den übrigen Wirbeln. Beim
Steissbein verschmelzen jedoch nach dem Ablauf der Wachsthumsperiode die einzelnen
Wirbel ganz oder zum Theile miteinander; es geschieht dies meist zwischen dem
30. — 40. Lebensjahr.
An den Rippen, welche in der 9. Entwicklungswoche zu verknöchern beginnen,
entwickelt sich erst mit dem 4.-5. Lebensjahr ein deutliches knöchernes Rippenköpfchen;
im 10. — 11. Jahre entwickeln sich kleine Epiphysenscheibchen, welche am Tuberculum gegen
das 19., am Köpfchen erst gegen das 24. Lebensjahr zur Verschnielzung gelangen. Wenig
eignet sich das Brustbein wegen seines vielfach wechselnden Entwicklungsganges für Alters-
bestimmungen.
Das Hüftbein des Erwachsenen ist bekanntlich aus der Verschmelzung von drei
Knochen, dem Darmbein, dem Sitzbein und dem Schambein hervorgegangen. Die ersten
Verknöcherungsherde dieser Knochen entstehen schon im 3. — 5. Embryonalmonat. Zur
Zeit der Geburtsreife sind von den 3 Theilen des Hüftbeines die zur Bildung der Gelenk-
pfanne zusammentretenden Körper noch durch eine breite Knorpelfuge von einander ge-
trennt. Im sechsten Lebensjahr ist diese nur noch sehr dünn; sie verschwindet voll-
kommen in der Zeit vom 8.-12. Jahr. Um die Zeit der Geschlechtsreife entwickeln sich
im Knorpelüberzug der Darmbeine, Sitzknorren und Sitzstachel accessorische Verknöcherungs-
herde in Form von aufliegenden Platten, welche zwischen dem 20. — 25. Lebensjahr all-
mälig mit ihrer Unterlage verschmelzen.
Sehr grosse Beachtung bei der Altersbestimmung finden seit langer Zeit die
Knochenkerne in den Epiphysen der langen Röhrenknochen und in den Fusswurzel-
knochen, insonderheit die Kerne in der distalen Epiphyse des Femur, und an dem proxi-
malen Ende des Schienbeines und des Oberarmbeines, ferner die Kerne des Fersenbeines,
Sprungbeines und Würfelbeines. Der erstgenannte Knochenkern im unteren Knorpelansatz
des Oberschenkels wird in der Regel nicht vor der 36. Schwangerschaftswoche angelegt,
gilt daher als ein nicht unwichtiges Reifezeichen des Neugeborenen ; Toldt fand ihn aller-
dings auch schon bei nicht ganz 40 cm langen Früchten des achten Monates und Liman,
V. Hofmann u. A. bezeugen, dass er bei völlig reifen Neugebornen manchmal auch fehlen
könne. Gleichwohl hat er eine grosse Bedeutung für die Beurtheilung des Fruchtalters,
bezw. der Fruchtreife. Nach übereinstimmenden Beobachtungen vieler Anatomen, wie
Meckel, Barkow, Hartmann, Hecker, Toldt u. A. entsteht er nur äusserst selten im achten,
öfter im neunten Embryonalmonat und ist während des zehnten Monats zwischen 2-5 — 5 mm,
an reifen Neugeborenen bis zu 7 mm im Durchmesser haltend. Knochenkerne im Fersen-
bein und Sprungbein entwickeln sich gegen die Mitte des siebenten Monates; ersterer
misst beim ausgetragenen Kinde 9-5— 13 0 mm im sagittalen Durchmesser, letzterer
7— 10 mm, das Würfelbein erhält in der Regel kurz vor der Geburtsreife einen Ver-
knöcherungspunkt.
Zwischen dem 16.— 20. Jahre verschwinden sämmtliche Epiphysenfugen, indem die
Epiphysen mit den Diaphysen verschmelzen, so insbesondere die Epiphyse des Oberarmes,
des unteren Endes von Elle und Speiche, die Epiphysen des Oberschenkels, Schienbeines
und Wadenbeines, der Mittelhand- und Mittelfussknochen und der Phalangen. Neuerdings
hat Wachholz die Epiphysenverschmelzung am Humerus genauer verfolgt und gefunden.
IDENTITÄTSBESTIMMÜKG. 435
dass ein beachtenswerter Unterschied im Geschlechte besteht, indem der vollständige
Schwund dieser Knorpelfugen bei Frauen zwischen 17 und 18 bei Männern zwischen 20
und 21 Jahren eintritt. Noch einige Zeit nach der Verwachsung ist die Epiphyse durch
lockeres Gefüge und hellere Farbe differenzirt und von der Diaphyse durch eine feine
Knochenleiste getrennt.
Bezüglich der allgemeinen Eigenschaften der Knochen, welche durch
das Alter bedingt sind, ist zu bemerken, dass die embryonalen und jugend-
lichen Knochen porös, oft von feinen Furchen durchzogen und rauh oder
mattglänzend sind, Sie sind im feuchten Zustande biegsam, getrocknet spröde
und brüchig. Erst mit der allmähligen Entwicklung einer compacten Rinde
bekommen sie jene grosse Härte, Festigkeit und Starre, welche die Knochen
des reifen Menschen auszeichnet. Im Greisenalter tritt auch bei den Knochen
des Stammes und der Extremitäten seniler Schwund und höhere Brüchigkeit
(senile Osteoporose), manchmal auch eine Erweichung auf (senile Osteoma-
lacie). An den Gelenkknorpeln ist nicht selten eine gleichmässige oder
auch ungleichmässige Abnützung, mitunter auch eine umschriebene oder
diffuse Hypertrophie im Alter zu bemerken. Nach Weichselbaüm können
sich durch senilen Knorpelschwund selbst umschriebene Defecte, „Knorpel-
geschwüre", bilden.
c) Anderweitige Altersbestimmungen.
Die Entwicklungsgeschichte hat uns noch eine Reihe anderer Thatsachen
kennen gelernt, die zur Bestimmung des Alters eines Individuums verwertet
werden können:
Im dritten Embryonalmonat beginnt sich die Placenta zu entwickeln, im vierten
zeigen sich die ersten Spuren der Haare und Nägel, letztere sind noch häutig; im fünften
erscheint das Meconium im Darm und scheidet sich bereits Galle ab; im sechsten bedeckt
sich der Körper mit käsiger Schmiere und fängt die Bildung des Fettgewebes an; gegen
Ende dieses Monats ist die Lösung der Lidnaht vollendet und mit dem Ende des siebenten
Monates verschwindet allmählich die Pupillarmembran. Im achten und neunten Monate
entwickeln sich die Ohr- und Nasenknorpel und verhornen die Finger- und Zehennägel.
Beim reifen männlichen Kinde sind die Hoden von der Bauchhöhle durch den Leisten-
canal in den Hodensack herabgetreten, beim weiblichen ist die Schamspalte geschlossen
und werden die kleinen Schamlippen, die bisher aus der Schamspalte hervorgeragt hatten,
vollkommen bedeckt.
Nach der Geburt gehen auffallende und wichtige Veränderungen in den Kreislauf-
organen vor sich; der fötale Kreislauf hört auf, seine Wege veröden. Die Nabelarterien
schliessen sich zuerst, in der Regel schon in den ersten Wochen und werden als solide
Stränge zu den seitlichen Aufhängebändern der Harnblase, die Nabelvene folgt in der
dritten bis vierten Woche. Gegen Ende des zweiten Monates ist meist der Verschluss des fötalen
Arterienganges (Ductus arteriosus Botalli) vollendet, was neuerdings von Haberda bestätigt
wurde; endlich am Ende des dritten Monates oder noch später erfolgt der Verschluss des
ovalen Fensters der Vorhofscheidewand. Die Doppelspitze des fötalen Herzens verschwindet
durch die geringere Inanspruchnahme des rechten Herzens bei der Lungenathmung und
es entwickelt sich schon in den ersten Lebenswochen die physiologische Arbeitshypertrophie
des linken Ventrikels, die mit der Alterszunahme immer deutlicher wird.
Die bei uns meist in das 14. bis 16. Lebensjahr fallende Geschlechtsreife ist durch
untrügliche Merkmale bei beiden Geschlechtern gekennzeichnet, wie Behaarung der äusseren
Geschlechtstheile, Prominenz des Kehlkopfes und Production von Sperma, das die bisher
kleinen, schlaffen und leeren Saraenbläschen füllt, beim Jüngling; Entwicklung der Brust-
drüsen, der Eierstöcke und des infantilen Uterus zu functionirenden oder functionsfähigen
Organen beim Mädchen. Eintritt, Fortgang und Dauer der Ovulation sind an den narbigen
Veränderungen der Eierstockkapsel genau zu erkennen. Ebenso ist an den Rückbildungs-
erscheinungen der inneren Geschlechtsorgane das Senium des Weibes leicht zu bestimmen.
Mit einigen Einschränkungen und Vorsichten können endlich selbst
pathologische Veränderungen, die sich fast nur in gewissen Lebensaltern
vorfinden, für approximative Altersbestimmungen verwendet werden, wie arthri-
tische Ablagerungen in den Gelenken, Endarteriitis und Verkalkung der
Gefässe, Hypertrophie der Vorstehdrüse u. A.
2. Das Gesclilecht Die Bestimmung des Geschlechtes ist bei
lebenden Menschen nur ganz ausnahmsweise schwierig, es kann nur bei
Zwittern zweifelhaft sein. Im Allgemeinen gilt dies auch für die Geschlechts-
28*
436 IDENTITÄTSBESTIMMÜNG.
bestimmung an Leichnamen. Die Fälle sind im Ganzen doch ziemlich selten,
wo die Fäulnis so weit vorgeschritten ist, dass die äusseren Genitalien zer-
stört und die Besichtigung der Leiche allein die Sicherstellung des Geschlechtes
nicht mehr gestattet; aber die Fälle kommen vor. Das Geschlecht kann aber
auch durch andere Einflüsse als durch Fäulnis unkenntlich werden, wie durch
Verkohlung von Leichnamen oder durch Annagen derselben von verschiedenen
Thieren. v. Hofmann hat bei den Opfern des Eingtheaterbrandes bezügliche
Erfahrungen im grösseren Umfange zu machen Gelegenheit gehabt, und ich
selbst habe vier ermordete Personen obducirt, welche zur Verdeckung der
Unthat auf einen Holzstoss gelegt, mit Petroleum und Spiritus übergössen und
in Brand gesteckt worden sind. Eine derselben war bis zur vollständigen
Unkenntlichkeit verkohlt. Bei angeschwemmten Wasserleichen oder bei längere
Zeit an der Luft gelegenen Leichen, sowie bei spät exhumirten ist jedoch
sehr häufig das Geschlecht nicht mehr erkennbar. In diesen Fällen, sowie
bei der Untersuchung aufgefundener menschlicher Knochen, sind wir, wenn
es sich um unbekannte Personen handelt, genöthigt, das Geschlecht durch
besonders darauf gerichtete Untersuchungen festzustellen, um eine spätere
Identificirung zu ermöglichen.
a) Bestimmung des Geschlechtes an Weichtheilen.
Nicht selten fehlen nur die äusseren Geschlechtstheile, während die inneren wenigstens
theilweise noch erhalten sind, so dass die Feststellung des Geschlechtes verhältnismässig
leicht erfolgt. Wegen der geschützten Lage der inneren Genitalien im Becken, sowie durch
ihren Bau sind sie zum Theile sehr widerstandsfähig gegen zerstörende Einwirkungen, wie
Hitze und Fäulnis. Der Uterus bleibt ungemein lange erhalten. Unter allen Organen
des menschlichen Körpers widersteht er, wie schon Casper nachgewiesen hat, am längsten
der Fäulnis. Auch die Ovarien bleiben sehr lange Zeit erhalten. Aehnlich verhält sich
die Prostata und der Schnepfenkopf (Uterus masculinus), desgleichen nach meinen
Erfahrungen die Harnblase und die dahinter liegenden Samenbläschen und nach v. Hofmann
auch Reste der Corpora cavernosa, welche der weiblichen Harnröhre bekanntlich fehlen.
Auch äussere Befunde können mitunter die Geschlechtsbestimmung mehr weniger
sichern, so der Habitus, welcher in typischer Entwicklung allerdings bei den Geschlechtern
verschieden ist, jedoch wegen der vielfachen Uebergänge doch recht leicht zu Irrungen
Anlass geben kann. Sind die Haare erhalten, so bieten sie oft sichere Anhaltspunkte für
die Geschlechtsbestimmung. Zöpfe kennzeichnen das weibliche Geschlecht, Bartwuchs den
Mann. Auch die Art der Behaarung des Schamberges ist verschieden; beim Mann setzt
sich dieselbe spitz auslaufend gegen den Nabel zu fort, beim Weibe ist sie bogenförmig ab-
gegrenzt; die Bauchdecken sind in der Regel von Haaren frei. Die allerdings beobachteten
Ausnahmen sind im Ganzen selten, doch kommen solche vor, wie namentlich B. Schultze
nachgewiesen hat. Auch die in der Regel das männliche Geschlecht bekundende Behaarung
der Brust kann einmal beim Manne fehlen, andererseits ist sie auch bei weiblichen Indivi-
duen beobachtet worden (v. Hofmann). Der Nachweis von Brustdrüsen ist gleichfalls sehr
wichtig, wenn auch für sich allein nicht absolut entscheidend, da sie bei Mädchen unent-
wickelt, bei älteren Frauen atrophirt sein können und manchesmal auch bei Jünglingen
und Männern vorhanden sind.
h) Geschlechtsbestimmung an Knochen.
Wichtige, in vielen zweifelhaften Fällen endlich einzig entscheidende Anhaltspunkte für
die Geschlechtsbestimmung bieten die Knochen. Dabei ist wohl zu beachten, dass die
Geschlechtscharaktere erst in der Pubertätsperiode zur vollen Entwicklung gelangen und
im Greisenalter in Folge der senilen Knochenatrophie zum Theile wieder verwischt werden.
Im Allgemeinen ist der Knochenbau beim Weibe zarter, das Gesammtskelett ist kleiner,
jeder einzelne Knochen graciler und weniger massig entwickelt wie beim Manne; nament-
lich sind die Mittelstücke der weiblichen Röhrenknochen schlanker, die Gelenksenden der-
selben weniger verdickt. Beim Manne sind die zum Ansatz von Muskeln, Fascien und
Bändern dienenden Leisten und Rauhigkeiten viel stärker ausgeprägt, insbesondere an den
Oberschenkel- und Oberarmknochen; die Nacken- und Schläfenlinien, sowie die Temporal-
leisten des Keilbeines treten beim Manne bedeutend stärker hervor und der Warzenfortsatz
ist bei ihm viel stärker entwickelt. Das männliche Kiefergerüst, besonders die Alveolar-
theile desselben, ist kräftiger ausgebildet; das Gesichtskelett des Mannes erscheint im Ver-
hältnis zum Himschädel lang und breit, das des Weibes verhältnismässig kürzer und
schmäler. Die Schädelbasis ist beim Weibe im Verhältnis zum Schädelgewölbe sowohl in
der geraden, wie in der queren Richtung kleiner, und ist nach Welcker besonders der kurze
Abstand der Warzenfortsätze an weiblichen Schädeln bemerkenswert. Zudem ist der weib-
liche Schädel durch schmälere Stirne, längeres Hinterhaupt, kleinere Aeste und flachere
Winkel des Unterkiefers ausgezeichnet. Dies Alles gilt aber nur für ein typisch entwickeltes
IDENTITÄTSBESTIMMÜNG. 437
Knochensystem und man wird sich im concreten Falle die nicht seltenen Abweichungen
vom Typus immer gegenwärtig zu halten haben.
Sehr entscheidend kann die absolute Grösse und der Rauminhalt des Schädels sein.
Der männliche (ausgewachsene) Schädel ist in allen Durchmessern, namentlich aber im
senkrechten wesentlich grösser als der weibliche. Der Rauminhalt des Hirnantheiles ver-
hält sich zu dem des Weibes im Mittel wie 100:897, indem der mittlere Rauminhalt für
den Mann 1450 cm^, für das Weib 1300 on^ beträgt. Der Horizontalumfang des männ-
lichen Schädels übertrifft den des weiblichen im mittleren Verhältnis von 100 : 966 • er
beträgt beim Manne im Mittel 521 '4, beim Weibe 5036 mm (Welcker).
Am schärfsten treten die Geschlechtsunterschiede am Becken hervor. Das weib-
liche Becken ist in Folge des zarteren Knochenbaues niedriger, aber breiter und weiter als
das männliche. Das Kreuzbein ist beim Weibe breit und kurz, beim Manne viel schmäler
und länger, beim letzteren ragt das Promontorium stark in den Beckenraum hinein- in-
folge dessen ist das männliche Becken in seinem Eingange stumpf dreieckig oder karten-
herzförmig, das weibliche querelliptisch; ersteres nimmt in seinen Dimensionen gegen den
Ausgang zu stark ab, es ist trichterähnlich, während der Beckenraum beim weiblichen
Geschlecht cyhnderähnlich ist. Die Darmbeine sind beim weiblichen Becken stark nach aussen
geneigt (breite Hüfte); die hintere Symphysenfläche ist im flachen Bogen gekrümmt die
Schamfuge niedriger und stärker geneigt, der Schamfugenwinkel weit und kreisbogenförmig
gestaltet, während er beim Manne spitz ist. Die Gelenkpfannen sind beim weiblichen Becken
mehr nach vorne gerichtet und die Sitzknorren stehen weit von einander ab.
Kann man schon aus diesen Merkmalen meist mit grosser Sicherheit das weibliche
vom männlichen Becken unterscheiden, so bieten endlich die Messungen der Beckenhöhle
von schweren pathologischen Veränderungen abgesehen, einen völlig sicheren Anhaltspunkt
für die Geschlechtsbestimmung.
Nach ToLDT können als mittlere Maasse folgende Zahlen gelten:
Im Beckeneingang: Conjugata vera
Querdurchmesser
Schräger Durchmesser
Im Beckenraum: Gerader Durchmesser
Querdurchmesser
Im Beckenausgang: Gerader Durchmesser 90 — 110
Querdurchmesser
3. Die Körperbeschaffenheit. Die wichtigsten körperlichen Eigenschaften,
welche die nachträgliche Sicherstellung einer Person ermöglichen können,
sind: Die Körpergrösse, der Ernährungszustand, die Kopf- und Gesichtsbildung.
a) Die Körpergrösse.
Diese gehört unzweifelhaft zu den wichtigsten individuellen Eigenschaften,
sowohl während der Wachsthumsperiode, wie nach Vollendung der Körper-
entwicklung. Bekannt sind die grossen Schwankungen der Länge eines Menschen
schon während der Entwicklung desselben. Es kann daher die Körperlänge
nur mit grösster Vorsicht für die Altersbestimmungen verwertet werden.
Einjährige Kinder können die Körperlänge von Neugeborenen und fünfjährige
die von einjährigen haben. Mir ist die Körperlänge daher nur ein Ausdruck
der individuellen Wachsthumsverhältnisse, eine für die Identitätsbestimmung
wichtige körperliche Eigenschaft, aber ein sehr unsicherer Ausdruck des Alters
eines Menschen. Auch sind die Messungsergebnisse verschiedener Autoren
wesentlich abweichend, wie sich aus der Vergleichung der nachfolgenden
Ziffernreihen am besten ergibt, ganz abgesehen davon, dass bei dem der
Messung zu Grunde gelegten Material Race und Nationalität unberücksichtigt
geblieben sind und doch sind unzweifelhaft auch die Racen- und selbst inner-
halb eines Volkes die Stammesverschiedenheiten nicht unbeträchtlich.
Unter Zugrundelegung der Angaben Qüetelet's, Zeising's, Liharzik's, Beneke's und
eigener Beobachtungen hat Toldt (v. Maschke's Handbuch der ger. Medicin. III. Bd. S. 559)
folgende Maasse der Gesammtlänge des Skelettes angegeben:
im Laufe des 1. Lebensjahres zwischen 50 und 72 cm
o
■n n V ^- n
q
» n I' "• n
n n n ^- i)
n n T! *-'• n _
n )) !7 "• !7
7.
Weib
Mann
118 mm
113 mm
135 „
127 ,
124 „
120 ,
126 „
114 „
120 ,
109 ,
-110 „
75-
-95 „
110 ,
82 „
68
. 81
78
„ 89
85
. 98
94
. 104
102
. 112
106
„ 116
112
. 121
438
IDENTITÄTSBESTIMMUNG.
im
Laufe
des 9.
„
7!
. 10.
V
n
« 11.
))
„ 12.
„
)!
„ 13.
n
))
„ 14.
V
37
„ 15.
V
n
. 16.
. 18.
Lebensjahre zwischen 117 und 127
123
131
128
136
133
141
138
145
142
150
145
157
148
165
152
167
157
180
153
n
166
beim erwachsenen Mann „
beim „ Weib
Die im "Wiener gerichtlich-medicinischen Institute an einem grossen Kindermateriale
vorgenommenen Messungen der Körpergrössen beweisen noch viel schlagender die ausser-
ordentlich grossen Schwankungen und die Unsicherheit der Altersbestimmung aus der
Länge (v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. 8. Auflage 1895, S. 850).
Alter
Knaben
Zahl
der Be-
obach-
tungen
IJängenmaasse in
Centimetern
Dschn. Maxim.
bis
Mon.
- 9 „
-10 „
-11
-12 „
— IV2 Jahr
9
10
11
1
IV2- 2
2 - 2Vi
21/2- 3
3 - 3V,
3V2- 4
4 - i'l:
4^2- 5
5 - b'h
ö\- 6
898
97 3
100-4
104-3
Für die Körperhöhe in der
280
78
54
61
40
33
27
23
22
11
8
9
48
40
34
22
22
12
20
3
12
3
50-9
53-3
55-4
57-5
57-9
60-8
62
63-5
62-5
65 8
66-8
66-5
70-9
73-4
762
79-8
83
64
61
69
72
67
68
75
72
71
70
72
74
85
83
88
91
102
104
106
99
111
108
Periode
Minim.
35
40
41
50
45
52
56-5
54
53
60
63
56-5
51
49
68
68
Mädchen
Zahl
der Be-
obach-
tungen
77
60
94
93
100
vom 6. bis zum 19.
245
62
60
61
37
20
26
15
15
14
10
7
51
30
34
17
16
7
25
3
9
Längenmaasse in
Centimetern
Dschn.
50-1
537
54-7
57 4
57-7
588
61-6
612
62-2
617
64-7
66-4
69 2
713
75-2
75-3
791
85-6
88-5
96 6
971
93-3
und
Maxim.
Minim,
565
35
68 5
47
63
47
74
50
72
47
75
52
67
56
70
53
69
56
68
54
71
52
70
61
80
54
83
60
86
61
88
58
88
53
95
75
100
72
98
96
108
92
106
84
21. Jahre existiren
zahlreiche Messungen von Schulkindern, die insbesondere aus Anlass der Schulbankfrage
vorgenommen worden sind. Von diesen sind, weil auf grossen Zahlen beruhend, die
Messungen der Frankfurter Commission besonders beachtenswert, welche die Jugend der
Frankfurter öffentlichen Schulen, und zwar 3459 Knaben und 2448 Mädchen umfassen
(Vierteljahrs ehr. f. öff. Gesundheitspflege. IV, p. 300).
Knaben.
Alter
Anzahl
der Gemessenen
Durch-
schnittliche
Minimum
Maximum
Körpergrösse
111-9
100-0
126-2
1173
1030
1345
122-8
104-5
141-4
126-4
104-0
144-5
131-3
114-5
153-9
135-8
111-0
1645
140-6
122-0
178-0
147-0
1290
172-6
152-3
122-8
1720
161-7
137-0
1840
1650
132-4
181-5
1691
145-0
185-0
167-6
146-0
179-0
1718
167-0
178-0
169-1
166-5
172-5
6— 7
7— 8
8— 9
9-10
10—11
11—12
12—13
13—14
14-15
15—16
16-17
17—18
18-19
19-20
20—21
96
349
409
452
438
407
389
388
357
153
66
31
13
5
6
IDENTITÄTSBESTIMMÜNG.
439
Mädchen.
Alter
Anzahl
der Gemessenen
Durch-
schnittliche
Körpergrösse
Minimam
Maximum
6— 7
7— 8
8— 9
9—10
10—11
11—12
12—13
13-14
14—15
15—16
16—17
17-18
18-19
44
304
353
335
345
307
305
233
151
49
16
4
2
115-0
116-3
121-2
1251
129-8
135-7
141-1
1434
150-9
156-6
156-5
161-2
155-5
101-5
99 0
106 0
106-0
112-0
1180
1240
119-0
1220
142-0
151-0
153 8
1540
124-9
1290
139-9
140-1
156 5
154-0
1610
1700
169-0
172-2
166-8
1700
157-0
Auch aus einzelnen aufgefundenen Knochen kann man noch mit
ziemlicher Sicherheit die Körpergrösse des Trägers derselben erschliessen
unter Zugrundelegung der von C. Langer (Das Wachsthum des menschlichen
Skelettes. Wien. Akad. der Wiss. 31. Bd. 1871) ermittelten Zahlen über die
Verhältnisse der Gesammtlänge zur Länge einzelner Knochen.
Es ist enthalten in der Leibeshöhe:
Die Wirbelsäule . . .
Der Schädel
Der Oberschenkelknochen
Das Schienbein . . .
Das Oberarmbein . . .
Der Radius
Die Hand
Der Fuss
beim Neugeborenen:
2-60 mal
4-89 „
5-19 ,
6-20 „
6-12 „
8"34 „
7-95 „
8-62 „
beim Manne:
„ 2-82 mal
„ 7-90 „
„ 3-84 „
„ 4-65 „
„ 500 „
„ 7-06 „
„ 903 „
„ 9-72 „
Eine gewisse Vorsicht und Zurückhaltung wird bei solchen Bestimmungen
naturgemäss immer obwalten müssen, und ist namentlich zu bedenken, wie
aus den vorstehenden Zahlen deutlich zu ersehen ist, dass im Laufe der
Entwicklung, also während der ganzen Wachsthumsperiode, das Verhältnis der
einzelnen Knochen zur Leibeshöhe sich fortwährend ändert. So fällt nach
ToLDT (a. a. 0. S. 566) beim neugeborenen Kinde die Hälfte der Körperlänge
etwa in die Mitte der vorderen Bauchwand oder etwas weniger tiefer, ungefähr
in die Höhe des 3. und 4. Lendenwirbels. In Folge des vorwiegenden
Wachsthums der unteren Extremitäten rückt sie im Laufe der Kinderjahre
immer tiefer herab, bis sie um das 10. Jahr an den oberen Band der
Symphysis ossium pubis zu liegen kommt. Bei der grossen Mehrzahl der
Menschen fällt die Mitte der Körperlänge auch nach Vollendung des
Wachsthums in die Nähe des Symphysenrandes, gewöhnlich um 1—2 cm tiefer
(bei kurzbeinigen Individuen meist etwas über die Symphyse, bei auffallend
langbeinigen beträchtlich unter dieselbe).
Endlich ist bei der Abschätzung der Körperlänge aus den Knochen zu
berücksichtigen, dass die Summe der Höhen aller Zwischenwirbelscheiben
sowohl bei Kindern als bei Erwachsenen annähernd 25'Vo der Gesammthöhe
der Wirbelsäule ausmacht, also gleich ist dem dritten Theile der Gesammt-
höhe aller Wirbelkörper. Nach anatomischen Erfahrungen sind ferner zu
der Gesammtlänge des trockenen Skelettes 3*5 — 5 cm zuzuzählen, um die
Körperlänge während des Lebens zu erhalten.
h) Der Ernährungszustand.
Es ist eine allgemeine Uebung selbst bei der forensischen Untersuchung
bekannter Personen den Ernährungszustand anzugeben; bei unbekannten ist
440 IDENTITÄTSBESTIMMÜNG.
derselbe eine so wichtige körperliche Eigenschaft, dass seine Feststellung bei
Identitätsbestimmungen ganz unerlässlich ist. Bei lebenden Personen oder
frischen Leichen hat dies gar keine Schwierigkeit, anders bei faulen Leichen.
Hier kann es vorkommen, dass durch Hautemphysem und Fäulnisgase eine
mitunter hochgradige (gigantische) Auftreibung des Körpers stattfindet; ein
mageres Individuum scheint dann gut genährt, ein altes, dürres, gerunzeltes
in Folge der Spannung der Haut und der Ausgleichung der Falten jung, ein
muskelschwaches durch Aufblähung der Muskeln sehr kräftig gebaut zu sein.
Ganz besonders ist dies bei Wasserleichen der Fall.
Aber auch das Gegentheil kommt durch postmortale Veränderungen zu Stande. Bei
der Vertrocknung, der sogenannten Mumification der Leichen gehen durch den Wasser-
verlust die Prallheit, Spannung und das Volum der Gewebe um ein bedeutendes Maass
zurück, so zwar dass die Mumie wie ein Zerrbild des lebenden Individuums erscheint.
Die Einschrumpfung namentlich des Gesichtes erzeugt ein greisenhaftes oder abgezehrtes
Aussehen auch ursprünglich gut genährter Individuen. Eine solche ßeduction der Gewebe
bis zur völligen Unkenntlichmachung des Ernährungszustandes kann auch durch Verkohlung
der Leichen herbeigeführt werden.
Beurtheilt wird der Ernährungszustand aus der Beschaffenheit der Haut,
der Menge des Unterhautfettgewebes und des Körperfettes überhaupt, der
Blutmenge im Allgemeinen und dem Blutgehalte der Organe, der Masse und
Beschaffenheit der Muskulatur. Dabei ist wohl zu beachten, dass auch der
Blutgehalt der Gewebe sich postmortal verändert, so dass nach einiger Zeit
in Folge der Wanderung der Körperflüssigkeiten und der postmortalen Aus-
blutung der Leichen die ganze Leiche blutleer geworden ist.
c) Kopf- und Gesichtsbildung.
Kopfform und Gesichtsbildung sind die am meisten hervortretenden
Körpertheile und daher für die Agnoscirung einer unbekannten Person von
grösster Wichtigkeit.
Der Schädel ist in vielen Fällen so charakteristisch gestaltet, dass die Form auch
dem Laien auffällt. Ungewöhnliche Länge oder Kürze, Breite, Schmalheit, auffallende
Höhe (Spitzschädel, Thurmschädel), grosse Assymmetrien, Wasserköpfe, fliehende oder ge-
rade, hohe oder niedere, breite oder schmale Stirne, vorstehende Kiefer (Vorderkauer,
Hundemaul) sind allgemein bekannte, hervortretende Eigenthümlichkeiten der Schädel-
bildung und nicht weniger wichtig für die Identitätsbestimmung, wie eine verkrümmte
Wirbelsäule, ein verkürztes oder krummes Bein, ein flacher oder auffallend stark gewölbter,
tammartig gestalteter Brustkorb (Hühnerbrust).
Besonderes Gewicht ist auf die Haare zu legen. Die Farbe, Dichte, Länge, Stärke'
und Tracht derselben müssen hervorgehoben und beschrieben werden. Was die Haarfarbe
anlangt, so ist allerdings zu beachten, dass sich dieselbe, wie vielfache Beobachtungen ge-
lehrt haben, bei Leichen, die lange Zeit begraben waren, auch ändern kann. So hat
Chevalier in einem Falle gefunden, dass sich weisse Haare in braune verwandelt hatten, und
anderseits wurden braune und dunkle Haare bei jahrelang begrabenen Leichen hellröthlich-
blond (Casper) oder roth (Hauptmann) gefunden. Die Verfärbung der Haare von Leichen
in eine röthliche Nuance scheint überhaupt Eegel zu sein, wie dies aus den Beobachtungen
von Orfila und Lesueur, Sonnenschein, Oesterlen u. A. hervorgeht. Auch die Haare
der ägyptischen Mumien sind fast durchwegs rothbraun (fuchsig, wie alte Perrücken), ebenso
wie die von Leichen aus alten Klostergrüften (Schaffhausen). Beachtenswert ist auch die
nicht zu selten vorkommende künstliche Färbung der Haare. In solchen Fällen wäre die
von Moser bisher allein beobachtete postmortale Ausbleichung der Haare bis zum voll-
ständigen Verschwinden des Pigmentes allerdings sehr natürlich zu erklären. Die Haare
können auch durch Hitzeinwirkung ihre Farbe verändern, wie man beim Brennen zu be-
obachten Gelegenheit hat, und durch Russ kann die ursprüngliche Haarfarbe völlig ver-
deckt werden (v. Hofmann, Beobachtungen an Ringtheaterleichen). Endlich kann es ge-
schehen, dass die Haare durch die Fäulnis zugleich mit der Epidermis verloren gehen
oder durch Reibung abbrechen und nun wie abgeschnitten oder rasirt erscheinen. Diese
namentlich bei Wasserleichen zu beobachtende Veränderung hat schon zu verhängnis-
vollen Fehlschlüssen geführt. Was von den Kopfhaaren gilt, trifft auch für die übrigen
Körperhaare, namentlich die Barthaare zu.
Die Augen sind ein bekanntes Identificirungsobject. Auch hier ist es besonders
die Farbe, welche in Betracht kommt. An lebenden und frischen Leichen ist die Farbe
der Regenbogenhaut leicht festzustellen. Wenn aber die Hornhaut durch Fäulnis getrübt,
die Epithelschichte aufgequollen und gelockert und die Iris blutig imbibirt ist, dann kann
die Feststellung der ursprünglichen Farbe der Augen schwer oder ganz unmöglich sein.
IDENTITÄTSBESTIMMUNG. 441
Die Augen fauler Leichen ersclieinen dem Beobachter in der Regel tiefblau, in manchen
Fällen kann auch die milchige Trübung bis zu dem Grade gediehen sein, dass man ein
staarkrankes Auge vor sich zu haben glaubt.
In der Beschreibung des Gesichtes darf bei unbekannten Personen auch die Nase
nicht fehlen. Dieser Theil des Gesichtes verleiht demselben nicht selten ein besonders
charakteristisches Gepräge. Die schmale, breite, spitze, stumpfe, kurze, aufgeworfene, ein-
gedrückte, platte Nase, sind bekannte Formen. Die Veränderung der Form z. B. durch
Fäulnis oder das Fehlen der Nase entstellen ein Gesicht nicht selten bis zur Unkennt-
lichkeit. Das haben sich auch schon Verbrecher zunutze gemacht, indem sie Leichen, um
deren Agnoscirung unmöglich zu machen, die Nasen abschnitten (Pinkiiam).
Besonders wichtig ist die Beschaffenheit der Zähne. Schon seit alter Zeit ist diesem
Merkmale von den Gericbtsärzten eine besondere Aufmerksamkeit zugewendet worden. Die
Zähne bilden nicht nur bei lebenden Menschen ein mitunter ganz charakteristisches Kenn-
zeichen der Person, sondern sie sind in Folge ihrer Festigkeit und Widerstandsfähigkeit
gegen zerstörende Einwirkungen oft noch bei ganz verfaulten oder sonstwie entstellten
Leichen unverändert erhalten. Caspar und Taylor theilen interessante Fälle von Agno-
scirungen von Leichen mit, bei denen die Beschaffenheit der Zähne oder eines künstlichen
Gebisses eine grosse Holle gespielt hat.
Schon oben ist die Bedeutung der Zahnentwicklung für die Sicherstellung des Alters
unbekannter Personen dargelegt worden. Die physiologischen Vorgänge des Zahndurch-
bruches sowohl der Milchzähne als der Dauerzähne, die Ausbildung der Abnützungsflächen,
der senile Ausfall mit der folgenden Atrophie der Kiefer sind oft wertvolle individuelle
Identitätsmerkmale. Noch mehr sind es pathologische Veränderungen an den Zähnen, wie
abnorme Stellungen, Ueberzahl oder Unterzahl, Abnormitäten" des Zahnschmelzes (Piiffung),
die Caries und der vorzeitige Zahnausfall, plombirte und falsche Zähne, sowie falsche
Gebisse.
Während die Zähne durch die Fäulnis selbst in Jahren nicht wesentlich verändert
werden, können sie durch Hitzeinwirkung Umänderungen von 'solcher Wesenheit erfahren,
dass ihre Verwertbarkeit für die Identitätsbestimmung vermindert wird. Die Zähne werden,
wie zuerst von Küchenmeister, später auch von Hofmann an den Ringtheaterleichen fest-
gestellt worden ist, calcinirt, bekommen Sprünge, und zerbröckeln ungemein leicht, sodass
Caries oder Zahndefect vorgetäuscht werden kann, dabei sind sie blendend weiss, und
es lässt sich vorstellen, dass durch die Flamme vordem „schwarze" Zähne weiss gebrannt
werden können, während umgekehrt bei der Verkohlung auch eine Anschwärzung vordem
ganz weisser Zähne beobachtet worden ist (v. Hofmann Lehrb. 7. Aufl. 1895, s. 864).
d) Besondere Kennzeichen.
Von jeher hat man mit Recht auf das Vorhandensein sinnenfälliger
körperlicher Merkmale bei Personsfeststellungen ein grosses Gewicht gelegt.
In der That sind auffallende Eigenthümlichkeiten, wie ein Höcker, ein Kropf,
ein Mal u. dgl. mehr als etwas Anderes geeignet, eine Person vollkommen
sicherzustellen.
^ Die wichtigsten dieser besonderen Merkmale sind : Verkrümmungen der Wirbelsäule,
der Beine, der Arme, Verbiegungen des Brustkorbes oder der Extremitäten, das Fehlen von
Armen, Beinen, Händen, Füssen, Fingern, Zehen, Versteifungen oder Verrenkungen der Gelenke,
Brüche, Abnormitäten der Kopfbildung (Spitzschädel, Wasserschädel, schiefer Schädel) und
der Behaarung, Missbildungen, wie Hasenscharte und Wolfsrachen, Verstümmelungen, auffällige
pathologische Veränderungen namentlich am Gesichte, den Augen, der Nase, den Ohren und
Lippen, z. B. krebsige Neubildungen, Geschwüre, Ausschläge, syphilitische Defecte. Dazu
kommen noch Kropf, Entwicklung und Beschaffenheit der weiblichen Brustdrüsen und Geni-
talien mit Rücksicht auf die bereits eingetretene Geschlechtsfunction, Schwangerschaftsnarben,
Hernien, pathologische Veränderungen des Penis und der Hoden (Monorchie, Kryptorchie,
fehlendes Präputium), endlich von besonderer Wichtigkeit noch Narben und Tätowirungen,
sowie die Beschaffenheit der Hände.
Bezüglich der Narben und Tätowirungen wird auf die besonderen Abhandlungen an
anderer Stelle verwiesen;*) über die Hände als Identitätszeichen wollen wir hier noch
einige kurze Bemerkungen anfügen.
Die Beschaffenheit der Hände und der Fingernägel gestattet unzweifelhaft oft sogar
ganz sichere Rückschlüsse auf die Beschäftigung und den Stand des Individuums. So ist
die schwielige Hand des Arbeiters und Landmannes auf den ersten Blick zu unterscheiden
von der des Städters mit vorwiegend geistiger Thätigkeit. Gewisse Hantirungen bedingen
theils charakteristische Färbungen der Haut, theils besondere Arten von Schwielenbildungen,
die ganz richtig als professionelle bezeichnet wurden (Hebra, Kaposi, Neumann, Hirt), theils
auch typische narbige Veränderungen. Mit Recht haben Tardieu, Vernois und andere
Gerichtsärzte von diesen gewerblichen Eigenthümlichkeiten der Hände für forensische
Zwecke wiederholt Gebrauch gemacht.
*) Siehe Artikel „Gerichtl. Medicin" S.
442 IDENTITÄTSBESTIMMUNG.
Um zunächst von den gewerblichen Verfärbungen der Hände zu sprechen,
sind die des Müllers, Bäckers, Kalk-, Zink- und Bleiweissarbeiters weiss, des Färbers blau, des
Kohlenarbeiters, Kesselheizers, Schmiedes, Schlossers schwarz, des Mennigarbeiters roth,
des Schweinfurtergrünarbeiters grün gefärbt. Dauernde Verfärbungen findet man ferner
bei den Cichorienarbeitern, deren unbedeckte Hautpartien braun, bei den Ultramarin-
arbeitern, deren Hände blau und bei den Krapparbeitern, wo sie roth sind. Farbige
Nägel und Fingerspitzen haben die Gerber (braunroth), die Kunsttischler (schwarzbraun),
die Tabakarbeiter (braun), die Indigoarbeiter (blau).
Zahlreich sind die mitunter ganz typischen professionellen Schwielen-
bildungen. So finden sich Schwielen in der rechten Hohlhand vorwiegend bei Schmieden,
Schlossern, Tischlern, Zimmerleuten, Gerbern und Lederzurichtern; an den Fingern der
rechten Hand bei Bürstenbindern, Steinklopfern, Schriftsetzern, Schustern, Schneidern,
Uhrmachern, Drechslern und Gerbern; an den Fingern der linken Hand bei Graveuren,
Modellirern, Malern, Schlossern, Drechslern, Korbmachern, Näherinnen, Häklerinnen und
Schneidern (Spitze des Daumens und Zeigefingers zerstochen); an beiden Händen finden
sich Schwielen in typischen Lagen bei Webern und Posamentirern, Hutmachern, Seilern,
Wäscherinnen und Perlmutterarbeitern.
Narben neben Schwielen und meist russiger Verfärbung finden sich bei allen Feuer-
arbeitern, namentlich den Grobschmieden, Zeugschmieden, Schlossern, dann bei den Stein-
brechern, Steinmetzen und Steinklopfern, meist auch bei Maurern. Sie rühren von den
abspringenden Eisen- und Steintheilen her.
B. Mittel zur Identitätsbestimmung.
Um eine Person vollkommen sicherzustellen, dazu bedarf es ausser den
bisher angeführten, rein ärztlichen Untersuchungen und Befundaufnahmen
noch besonderer Behelfe, welche im Folgenden eine kurze Erörterung finden
sollen. Es gehören dahin die Untersuchung der Kleider und Effecten, die
Photographie, Anthropometrie und einige andere besondere Behelfe.
1. Die Kleider und Effecten. Es bedarf kaum einer Auseinandersetzung, wie
wichtig für die Agnoscirung die Untersuchung von Kleidungsstücken und son-
stigen Gegenständen der untersuchten lebenden oder todten Person ist. Ob diese
Arbeit dem Arzte oder dem Untersuchungsrichter zufällt, könnte an sich zweifel-
haft sein; die Regulative für die Vornahme gerichtlicher Leichenöffnungen weisen
die Aufgabe dem Arzte zu (§§ 31 und 32 der österr. Vorschrift und § 10 des.
deutschen Regulativs). In der österr. Vorschrift sind auch sehr genaue und
zutreffende Bestimmungen über die Art des Vorganges hiebei enthalten (vgl.
gesetzliche Bestimmungen am Eingang), worauf hiemit verwiesen wird.
Wie die Kleider sind auch andere Hüllen, welche besonders zur Entwicklung neu-
geborener Kinder verwendet werden, zu behandeln. In zahlreichen Fällen hat der Nach-
weis der Herkunft des Lappens, Tuches u. s. f., worin ein todt aufgefundenes Kind ein-
geschlagen war, zur Entdeckung der Kindesmörderin geführt. Ebenso ist das Bändchen,
mit welchem die Nabelschnur abgebunden ist, wichtig.
Auch bezüglich der sonstigen Gegenstände, der sogenannten Effecten, ist kaum noch
etwas zu bemerken. Es kommen da wesentlich in Betracht: Briefe, Karten, Taschentücher,
Messer, Zeitungsblätter, Münzen, Geldbörsen, Uhren, Ringe, Ohrgehänge und sonstige
Schmuckgegenstände. Bei hochgradig faulen Leichen ist die Auffindung derartiger Dinge
meist noch viel wichtiger, weil eine anderweitige Identificirung schwer oder unmöglich
geworden ist. Die forensische Literatur kennt zahlreiche Beispiele von selbst sehr späten
Agnoscirungen durch diese Untersuchungen. Selbst an Skeletten können sich solche Dinge
finden und die Erkennung nach Jahrzehnten noch ermöglichen. Viele Gegenstände sind
ja fast unzerstörbar, aber selbst die Kleider können je nach der Beschaffenheit des Stoffes
der Zersetzung oft ungewöhnhch lange Zeit widerstehen. Beispiele dieser Art führen
unter Andern Moser und Reinhard an. Selbst bei verkohlten Leichnamen finden sich
diese Gegenstände, sowie auch ganz ansehnliche Kleiderreste wohl erhalten, wie wir aus
den Untersuchungen Zillner's von den Opfern des Ringtheaterbrandes in Wien wissen.
2. Die Photographie. Es giebt wohl kaum ein besseres Mittel für die
Identificirung von Personen als die Photographie. Mit Recht wird davon auch
für forensische Zwecke ein immer ausgedehnterer Gebrauch gemacht. Es
sollte als Regel gelten, jeden unbekannten Verbrecher und jede unbekannte
Leiche zu photographiren. Nichts kann eine spätere Agnoscirung sicherer ge-
währleisten.
Dieser Ueberzeugung verdanken die Ve rbr echer-Albums, welche von den Polizei-
und Gerichtsbehörden grosser Städte zum Theile schon vor mehr als zwei Decennien an-
IDENTITÄTSBESTIMMÜNG. 443
zulegen begonnen worden sind (Paris, Berlin) ihre Entstehung. Das Verbrecheralbum von
Berlin hatte schon zur Zeit der Hygiene-Ausstellung 1883, wo ich dasselbe zum erstenmale
besichtigt habe, einen sehr stattlichen Umfang, dank der unermüdlichen Thätigkeit seines
geistvollen Begründers Hyllesem. Es war in Mitteleuropa damals noch das einzige Unter-
nehmen dieser Art, und war es mit Hilfe dieser Sammlung von Photogrammen aller auch
ein einzigesmal von der Polizeibehörde in Gewahrsam genommenen Menschen sehr leicht
möglich, neu eingelieferte Uebelthäter, die natürlich meist falsche Namen angeben, sicher-
zustellen.
Einen ebenso grossen Wert hat die Photographie für die spätere
Agnoscirung von Leichen. Bei der Aufnahme sollte aber immer der
Arzt mitwirken, wenn er sie schon nicht selbst zu machen im Stande ist,
damit das Wichtige und Charakteristische im Bilde erscheint. *) „Die licht-
empfindliche Platte ist die neue Netzhaut des Forschers", sagt mit Ptecht
Vogel, um den Wert der Photographie für wissenschaftliche Untersuchungen
klarzulegen, und ich füge hinzu eine „objective" Netzhaut, was für die
Zwecke der forensischen Medicin von ganz besonderer Bedeutung ist.
Für die Agnoscirung ist selbstverständlich der Kopf und das Gesicht
die Hauptsache. Nun sind diese aber bei faulen Leichen oft bis zur absoluten
Unkenntlichkeit entstellt. Die photographische Aufnahme so entstellter Ge-
sichtszüge wäre natürlich wertlos. In solchen Fällen empfiehlt es sich, den
Kopf abzutrennen und der Auswässerung im kalten fliessenden Wasser zu
unterziehen, die aufgedunsenen Weichtheile nehmen bei dieser Behandlung
wieder annähernd ihre ursprüngliche Gestalt an, die Fäulnisgase entweichen,
die flüssigen Fäulnisproducte werden fortgeschwemmt und nun ist die Er-
kennung oft wieder möglich geworden. Derartig behandelte Köpfe können
auch wieder mit Vortheil photographirt werden, was ich schon in mehreren
Fällen mit gutem Erfolg ausgeführt habe.
Die Stellung, welche man dem Lebenden oder der Leiche beim Photographiren giebt,
wird wesentlich von dem Zwecke, der erreicht werden soll, abhängen, und scheinen mir
theoretische Erörterungen darüber, ob das volle Antlitz oder das Profil oder Theile (Viertel)
des Profils oder ein Spiegelbild aufgenommen werden soll, wertlos. Genauestes giebt
hierüber Bertillon in seinem classischen Buche _La Photographie justiciaire" an, ferner
macht auch Jeserich darauf bezügliche praktische Angaben.
3. Die Antliropometrie. Alphoxs Beetillon hat in Paris ein nach
ihm „Bertillonage" genanntes Verfahren der Körpermessung unbekannter
Personen eingerichtet, dessen praktischer Wert für Agnoscirungszwecke immer
mehr anerkannt wird, je weitere Kreise sich mit demselben vertraut machen.
Das anthropometrische Verfahren von Beetillon hat die Photographie zur
Vorbedingung. Es wurde zunächst eine Lichtbildersammlung aller auf die
Pariser Polizei-Präfectur gebrachten Personen angelegt. Jeder dorthin Ein-
gelieferte wurde seit Jahren und wird noch heute photographirt. Die
Sammlung hat jetzt 100.000 und mehr Einzelbilder.
Wird nun Jemand neu eingebracht, so muss zunächst festgestellt werden, ob er
schon einmal da war; denn dann ist er sofort agnoscirt. Das Heraussuchen seiner
Photographie aus der Riesensammlung wäre aber ein Ding der Unmöglichkeit und der
Wert grosser Sammlungen von Verbrecherbildern durch die Unmöglichkeit ihrer praktischen
Verwertung fast auf Null herabgesetzt. Zum Zwecke der Ermöglichung raschen Findens
der Photographie hat nun Bertillon ein ganz ingeniöses System der Körpermessung
erdacht, das auf folgenden Grundlagen fusst:
Von jedem Menschen werden gemessen die Körpergrösse, Kopflänge, Kopfbreite,
Länge des Vorderarmes, des Mittel- und kleinen Fingers und des Fusses; endlich wird
bestimmt die Spannweite der Arme, die Höhe der Büste und die Farbe der Augen. Von
jedem Maasse sind 3 Abstufungen gemacht, die für Männer und Frauen empirisch bestimmt,
bei einer für jedes Maass genau festgestellten Ziffer beginnen. Es giebt also grosse, mittel-
") Die Lichtbilder leisten nicht nur für die Feststellung der Person, sondern auch
vieler wichtiger Befunde, wie der Lage und Beschaffenheit von Wunden, der Art der Blut-
besudlung und sonstiger Beschmutzungen, der Lage von Strangfurchen u. dergl. so
wesentliche Dienste, dass solche viel öfter, als es bisher geschieht, von den Gerichtsärzten
hergestellt werden sollten. Die lichtempfindliche Platte ist die absolute Objectivität und
daher imschätzbar für forensische Zwecke.
444 IMMUNITÄT.
grosse und kleine Menschen mit langen, mittellangen und kurzen, breiten, mittelbreiten
und schmalen Schädeln, grosser, mittlerer und kleiner Spannweite der Arme u. s. f.
Nach diesen anthropometrischen Merkmalen sind auch alle Photographien untergetheilt
und es resultiren durch diese fortgesetzte Gruppenbildung schliesslich ganz kleine Gruppen
von Lichtbildern, unter denen sich das des Neugemessenen befinden muss, wenn er schon
einmal in der Anstalt war, oder wo es eingereiht wird, wenn der Angekommene ein
Neuling ist.
Alle Maasse werden nach einheitlichen festgelegten Grundsätzen aufs Sorgfältigste
bestimmt. Die Maassstäbe sind sämmtlich fest (nicht Bandmaass), oder werden mit dem
.Tasterzirkel aufgenommen. *)
4, Anderweitige Behelfe. Ausser der schon oben erwähnten Aus-
wässerung von Leichen und Leichentheilen können bei hochgradiger Fäulnis
mit Erfolg noch andere Reconstructionsversuche gemacht werden, welche mit-
unter ein überraschend günstiges Resultat liefern und der Leiche oder dem
abgeschnittenen Kopfe und Gesichte ein nahezu normales Aussehen wiedergeben,
so dass nach durchgeführter Reconstruction eine Agnoscirung durch Besichtigung
oder mittelst photographischer Aufnahme möglich ist. Sehr guten Erfolg hat
das Einlegen des ausgewässerten Körpers oder Körpertheiles in alkoholische
Sublimat- oder Chlorzinklösung (v. Hofmann) oder die Injection coagulirender
und bleichender Flüssigkeiten, wie sie von Touedes, Wilhelmi und Richaedson
ausgeführt worden ist. Die Injection antiseptischer Flüssigkeiten, wie xVrsen-
lösungen, Sublimatlösungen, Carbolsäure-Glycerin, WicKEESHEiM'sche Flüssigkeit
kann für die Zwecke der Leichenerkennung selbst nach langer Zeit, wie ich
aus eigener Anschauung weiss, bestens empfohlen werden.
Ausser diesen chemischen Proceduren ist ein nicht selten angewendeter
Behelf zur nachträglichen Agnoscirung von Leichen die Abnahme einer
Gipsmaske. Die Gesichtszüge eines Menschen werden, wenn die Modellirung
von fachkundiger Hand geschieht, dadurch in ungemein deutlicher Weise
dauernd erhalten. J. keattee.
Immunität. Unter Immunität verstehen wir eine gewisse Unempfind-
lichkeit des Körpers gegen krankmachende Einflüsse, besonders Ansteckungs-
stoffe. Am bemerkenswertesten ist daher die Immunität gegen Infections-
krankheiten (s, d.).
Wir unterscheiden eine angeborene Immunität, und zwar eine
individuelle und eine Arten- und Rassenimmunität; und eine
erworbene Immunität, und zwar eine natürlich erworbene und
eine künstlich erworbene.
1, Die angeborene Immunität.
Die angeborene individuelle Immunität ist eine allgemein
bekannte Erscheinung, die wir bei jeder grösseren Epidemie oder stark auf-
tretenden endemischen Krankheit beobachten können. Wir wissen, dass
einzelne Individuen gegen bestimmte Infectionskrankheiten, wie Masern oder
Scharlach, Pocken, Typhus, Cholera, Diphtherie, Tuberkulose u. s. w. völlig
widerstandsfähig, also immun sind, selbst wenn sie sich der grössten An-
steckungsgefahr aussetzen. Der Körper dieser Individuen ist eben nicht
disponirt für gewisse Infectionskrankheiten. Es ist für diese Erscheinung
eine ganze Reihe von Immunitätstheorien aufgestellt worden, die wir
später besprechen wollen. Ganz besonders auffallend ist die angeborene
Arten- und Rassenimmunität, welche sich darin äussert, dass von
einzelnen Infectionskrankheiten nur Menschen, von anderen nur Thiere er-
griffen werden, und zwar hier oftmals wieder nur ganz bestimmte Thierarten.
*) Es muss als Regel gelten, dass bei allen Messungen, die vom Gerichtsarzte vor-
genommen werden, ausser wenn es sich um die Bestimmung von Umfangen handelt,
niemals Bandmaass, sondern stets ein fester Maassstab oder der Tasterzirkel in Anwendung
zu ziehen ist.
IMMUNITÄT. 445
So sind z. B. die Thiere immun gegen die für den Menschen so infectiösen Krank-
heiten: Syphilis, Scharlach, Masern; andererseits ist z. B. wieder der Mensch immun gegen
die den Mäusen so verderbliche Mäuseseuche ii. s. w. Ferner sind einzelne Thierarten
immun gegen Krankheiten, denen andere Thierarten sicher erliegen. Gegen Milzbrand,
der für so viele Thierarten verderblich ist, sind z. B. Ratten, Tauben und Hühner immun,
letztere sind auch immun gegen Tetanus, Kaninchen gegen Rotz, Hunde gegen Tuber-
kulose, obwohl sie bei ihrem Umherschnuppern und Laufen über staubigen Erdboden wohl
genug Tuberkelbacillen einathmen.
Was die Rassenimmunität betrifft, so wissen wir z. B. von Thieren,
dass Feldmäuse für Rotz und Tuberkulose empfänglich sind, weisse Mäuse
nicht, wogegen wiederum die letzteren einer Infection mit dem Micrococcus
tetragenus erliegen, der den grauen Mäusen vollkommen unschädlich ist.
Von Menschenrassen sind z. B. die Neger immun gegen das gelbe Fieber,
für welches die weisse Rasse sehr empfänglich ist, dagegen sind erstere
wieder stärker disponirt für Tuberkulose, Pocken und andere Krankheiten.
2. Die erworbene Immunität.
Natürlich erworbene Immunität gegen eine Krankheit nennen wir
eine solche, die durch das einmalige Ueberstehen der betreffenden Krankheit
hervorgerufen ist, und durch welche ein gewisser, allerdings nicht absolut
sicherer Schutz gegen eine zweite Erkrankung der nämlichen Art gewährt
wird. Die Dauer, welche ein solcher Schutz gegen eine erneute Infection
hat, ist bei den verschiedenen Krankheiten sehr verschieden. Die am längsten
währende natürlich erworbene Immunität hat man nach dem Ueberstehen
gewisser exanthematischer Krankheiten beobachtet, wie Pocken, Scharlach,
Masern. Bei anderen Krankheiten wird nur ein kurze Zeit dauernder Schutz, bei
noch anderen gar keine Immunität beobachtet, und einzelne Krankheiten be-
wirken durch einmaliges Ueberstehen sogar eine Disposition für spätere
Wiedererkrankungen.
Da man nun beobachtete, dass auch leichte Erkrankungen einen Schutz
gegen spätere neue Infectionen gewähren, kam man bald dahin, bei leichten
Epidemien die Gesunden direct der Ansteckung auszusetzen, um sie durch
Ueberstehen einer leichten Erkrankung gegen spätere schwere zu schützen.
Es ist dies eine künstlich erworbene Immunität.
In China hatte man beispielsweise schon vor mehr als 3000 Jahren die so verheerend
auftretenden Pocken dadurch zu bekämpfen versucht, dass man die Menschen in ganz
besonderer Weise künstlich mit dem in Pockenschorfen enthaltenen echten Pockengift
impfte, den Verlauf der Infection durch geeignete Maassnahmen milde gestaltete und die
künstlich Inficirten so gegen eine natürliche Infection mit derselben Krankheit immun
machte.
Dieses Verfahren, die sogenannte Variolation, wurde Anfang des 18. Jahrhunderts
nach England verpflanzt, breitete sich über mehrere andere Länder aus und gewann zahl-
reiche Anhänger. Es war auch in gewisser Beziehung erfolgreich, aber doch recht
mangelhaft und gefährlich, da zahlreiche Todesfälle dabei beobachtet wurden. An seine
Stelle trat dann gegen Ende des vorigen Jahrhunderts die von dem englischen Arzt
Jenker entdeckte Impfung mit dem Kuhpockengift, einem für die Menschen harmlosen
Virus, welches eine Krankheit, die Kuhblattern, erzeugt, nach deren Ueberstehen die
Menschen immun gegen die wahren Pocken sind^ und zwar für relativ lange Zeit, circa
12 Jahre. Man nennt dies Verfahren die Vaccination. Diese grosse Entdeckung Jenner's
hat den Anstoss zu neuen, überaus wertvollen Entdeckungen auf dem Gebiete der Schutz-
impfung gegeben, welche wir besonders den epochemachenden Versuchen Pasteur's ver-
danken. Pasteur ging von der Anschauung aus, dass das Kuhpockenvirus ein abgeschwächtes
Pockengift sei und übertrug nun die bei der Pockenschutzimpfung gemachten Erfahrungen
auf andere Infectionskrankheiten. Es gelang ihm und seinen Schülern zunächst bei der
Hühnercholera und beim Milzbrand, später auch beim Schweinerothlauf, beim
Rauschbrand und zuletzt bei der Hundswut h, Thiere durch vorsichtige, stufenweise
vorgenommene Application des abgeschwächten Infectionsmaterials gegen eine spätere, sonst
tödliche Infection mit vollgiftigem Material zu immunisiren.
Die Schutzimpfung muss äusserst vorsichtig ausgeführt werden, und so
darf z. B. nicht auf die Impfung mit dem vollständig abgeschwächten Virus
die Einverleibung des wirksamen Giftes folgen, sondern es müssen noch
446 IMMUNITÄT.
dazwischen Impfungen mit verschieden starkem Material eingeschoben werden.
Pasteuk bediente sich hierfür zweier „Vaccins" von verschiedener Giftigkeit:
des schwächeren „premier vaccin" und des stärkeren „deuxieme vaccin'^
Die Abschwächung des vollvirulenten Materials kann durch verschiedene
Mittel erzielt werden:
1. Mittelst der Passage durch den Körper von weniger empfindlichen
Thieren.
2. Durch Züchtung der Culturen unter dem Einfluss gewisser physi-
kalischer Einwirkungen, wie höhere Wärme, Luftzutritt, Sonnenlicht, Elek-
tricität, höherer Luftdruck u. s. w.
3. Durch Zusatz von Chemikalien, wie Carbolsäure, Jodtrichlorid etc.
Was den praktischen Erfolg dieser Schutzimpfungen betrifft,
so gehen die Meinungen über den Wert derselben noch recht auseinander.
Für den Milzbrand geht die Ansicht der meisten Forscher dahin, dass in
Ländern oder Bezirken, welche regelmässig von Milzbrand stark heimgesucht
werden, die Schutzimpfung nützlich ist.
Beim Schweinerothlauf und bei der Hühnercholera waren die
Erfolge zunächst keine ermuthigenden, so dass von einzelnen Seiten von der
Schutzimpfung abgerathen wurde. Jedoch haben, wenigstens was den Rothlauf
betrifft, die Schutzimpfungen speciell in Ungarn bedeutend zugenommen, und
man ist dort mit dem Erfolg derselben zufrieden.
Beim Rauschbrand lauten die Urtheile übereinstimmend so günstig
für die Schutzimpfung, dass dieselbe als ein wirksames Schutzmittel gegen
diese Seuche anzusehen ist.
Mit das wertvollste, auch auf dem Princip der Anwendung abgeschwächten
Giftes beruhende Verfahren, ist das von Pasteue zur Behandlung der Toll-
wuth empfohlene.
Wird einem Affen nach vorhergegangener Trepanition des Schädels ein Stückchen
Rückenmark eines wuthkranken Hundes unter die Dura mater gebracht, so erkrankt der
Affe nach geraumer Zeit an Tollwuth; wird von diesem Affen ein zweiter, von dem zweiten
ein dritter u. s. w. geimpft, so nimmt die Virulenz des Giftstoffes immer mehr ab. Impft
man nun Hunde mit einem derartig abgeschwächten Impfstoffe, so bleiben dieselben gesund
und erhalten eine Immunität gegen immer stärkere Giftmengen, so dass sie schliesslich
ohne Schaden von tollwuthkranken Hunden gebissen werden können.
Eine noch einfachere Methode der künstlichen Abschwächung des Giftstoffes besteht
darin, dass Eückenmarkstücke mit möglichst virulentem stabilem Giftwert von geimpften
Kaninchen mehrere Tage getrocknet werden, und zwar in einem Gefäss, dessen Boden mit
Stückchen von Kali causticum bedeckt, ist. Je länger die Rückenmarkstücke der Trocknung
ausgesetzt werden, um so schwächer wird das Virus. Dieses stufenweise abgeschwächte
Virus wird nun zur Schutzimpfung von Thieren und auch zur Heilung schon gebissener
Thiere und Menschen benutzt.
Diese bisher besprochene Art der Schutzimpfung wird hervorgebracht
durch Einverleibung der natürlich oder künstlich abgeschwächten Erreger der
betreffenden Krankheit.
Eine andere Art der Schutzimpfung ist die durch die Stoffwechsel-
producte der betreffenden Krankheitserreger, die sogenannten Toxine. Alle
diese Versuche sind aber entweder nur rein theoretische Laboratoriums-
versuche, oder sie dienen zur Entwicklung von Antitoxinen zum Zweck der
Heilung gewisser Infectionskrankheiten, wie die Diphtherie und der
Tetanus.
Ferner ist noch zu erwähnen, dass auch durch die Einverleibung fremder,
nicht specifischer Bacterien, sowie Bacterienproducte und auch anderer
chemischer Stoffe eine gewisse, aber meist schnell vorübergehende Immunität
gegen einzelne Infectionskrankheiten erzeugt werden kann. Einen praktischen
Wert haben diese Immunisirungen jedoch nicht. — Dagegen haben gewisse
Stoffe, die sogenannten Bacterienproteine, die in den Bacterienleibern
enthalten sind und erst durch den Zerfall derselben frei werden, und die zu-
IMMUNITÄT. 447
nächst auch zu Immunisirungs- und Heilzwecken hergestellt Avurden, insoferne
Bedeutung, als sie zu diagnostischen Zwecken herangezogen werden. Die er-
wähnenswertesten unter ihnen sind das Tuberculin und das Mallein.
Es ist natürlich, dass man für eine so auffallende und wichtige Er-
scheinung, wie die Immunität es ist, nach einer Erklärung suchte. Es sind
von den verschiedensten Autoren auch solche Erklärungen gegeben w^orden,
ohne dass es aber bisher gelungen ist, für irgend eine derselben den stricten
Beweis zu erbringen.
Die wichtigsten dieser Hypothesen, von denen einige allerdings nur
noch historischen Wert haben, sind folgende:
1. Die von Pasteur und Klebs aufgestellte Erschöpfungshypo-
these, nach w^elcher bei der ersten Erkrankung des Körpers eine Anzahl von
Stoffen in demselben verzehrt werde, welche für das Wachsthum der be-
treffenden Bacterienart nothwendig seien, so dass die bei einem zweiten An-
griff in den Körper eindringenden Bacterien nicht mehr die zu ihrem Ge-
deihen nöthigen Stoffe vorfinden.
Diese Theorie war nur so lange haltbar, als man noch nicht wusste,
dass Immunität auch durch bacterienfreie Substanzen hervorgerufen werden
kann, die ja eine derartige Erschöpfung nicht bewirken können.
2. Dieser Erschöpfungstheorie gegenüber steht die von Chauveau an-
genommene Retentionshypothese, welche annimmt, dass nach der ersten
Invasion die Stoffwechselproducte der Bacterien im Körper zurückbleiben und
einerseits die weitere Entwicklung der Bacterien verhindern und so die Krank-
heit beendigen, andererseits aber auch den Körper derartig durchsetzen, dass
eine abermalige Invasion derselben Bacterien unmöglich ist. Die Hypothese
stützte sich auf die Thatsache, dass bei gewissen Gährungen, wie die Milch-
säure-, Buttersäure-, Harngährung und die faulige Zersetzung des Darminhalts,
Substanzen entstehen, welche schliesslich die weitere Vermehrung der Micro-
organismen, der Erreger jener Vorgänge, verhindern und theilweise direct
bacterienwidrige, antiseptische Eigenschaften entfalten. Die nämliche Er-
scheinung sollte sich im Körper abspielen und die angehäuften Stoffwechsel-
producte sollten einen dauernden Schutz gegen eine abermalige Entwicklung
der nämlichen Bacterien gewähren.
Gegen diese Hypothese ist daran zu erinnern, dass die erworbene
Immunität oft viele Jahre lang andauern kann, und dass eine solche Halt-
barkeit nicht durch solche leicht lösliche Substanzen, wie die Bacterien-
Stoffw^echselproducte, bedingt sein kann. Es muss sich nach der Ansicht an-
derer Autoren vielmehr um eine haltbare Veränderung des ganzen Körpers
handeln, welche nur durch die Thätigkeit der activen Gewebszellen ver-
mittelt werden kann.
3. Daher wurde von einer Gruppe von Autoren eine dritte Hypothese
aufgestellt, nämlich die Phagocythentheorie, deren Urheber und haupt-
sächlichster Vertreter Metschnikoff ist.
Metschnikoff fand, dass bei unempfänglichen Thierarten virulente, bei
empfänglichen abgeschwächte Milzbrandbacillen von den Leucocythen auf-
genommen — wie er glaubte — gefressen, verdaut werden, während sich die
gleiche Erscheinung bei empfänglichen Thieren und virulenten Bacillen nicht
nachweisen Hess. Aus dieser Erscheinung leitete Metschnikoff folgende
Schlüsse ab:
Die in einem Organismus vorhandene oder nicht vorhandene Immunität
beruht lediglich auf dem vorhandenen oder mangelnden Vermögen der Leuco-
cythen, die Bacterien zu verzehren und dadurch zu vernichten. Diese Eigen-
schaft der Leucocythen kann angeboren oder erworben sein. Die angeborene
Immunität beruht also nach Metschnikoff darauf, dass die Leucocythen
befähigt sind, die eingedrungenen Bacterien rasch in sich aufzunehmen, zu
448 IMMUNITÄT.
vernichten, während bei den empfänglichen Thieren den Leucocythen diese
Eigenschaft fehlt, die Bacterien also frei bleiben und sich vermehren können.
Die erworbene Immunität kommt so zu Stande, dass durch das
einmalige Ueberstehen der Krankheit die Leucocythen, oder nach Metschnikopp
Phagocythen sich daran gewöhnt haben, auch stärkere Giftmengen, viru-
lentere Bacterien unbeschadet aufzunehmen, so dass sie schliesslich das viru-
lenteste Material vertragen. Das müsste geschehen entweder durch allmäh-
liche functionelle Anpassung oder durch eine Art Auslese, bei der
nur die von Hause aus stärksten Phagocythen erhalten bleiben, um ihre
Fähigkeit auf die Tochterzellen zu vererben.
Die Anlockung der Leucocythen erfolgte nach Buchner durch die Pro-
ducte der Bacterienthätigkeit (Chemotaxis). Ein Theil dieser Körper lockt
die Leucocythen an (positive Chemotaxis), ein anderer stösst sie ab
(negative Chemotaxis).
Sobald ein Infectionserreger sich in einem Organismus vermehrt, bildet
er auch anlockende Stoffe, welche bewirken, dass die Phagocythen zum Kampfe
gegen die Bacterien herbeiströmen. Je virulenter aber der Infectionserreger
ist, um so energischer bildet er auch abstossende Stoffe, Gifte, Toxine, durch
welche die Phagocythen in ihrer Thätigkeit gelähmt und zum Verzehren der
Bacterien unfähig gemacht w^erden.
Bei einem künstlich immunisirten Organismus besteht dagegen eine ge-
wisse Angewöhnung der Zellen, welche sie befähigt, die eingedrungenen
Bacterien zu vernichten, bevor dieselben noch zur Bildung grösserer Mengen
Toxin gelangt sind.
Gegen die Phagocythentheorie Metschnikopp's spricht — ab-
gesehen davon, dass diese Hypothese den weissen Blutkörperchen ein über-
natürliches Können zuspricht — der Umstand, dass Immunisirung ja nicht
nur durch Bacterien, sondern auch durch Bacterienproducte und andere Stoffe
erfolgen kann, so dass in diesen Fällen die Gewöhnung der Leucocythen an
die Infection durch das Verzehren der Infectionserreger fortfällt.
4. Eine andere Hypothese stützt sich auf die Arbeiten zahlreicher
Forscher, wie v. Fodor, Nissen, Nüttal, Buchner, Behring u. a., welche
constatirten, dass das zellfreie Blutplasma und Blutserum, sowie auch
defibrinirtes Blut, starke bactericide Eigenschaften besitzt. Diese sogenannte
humorale Hypothese verlegt alle die Eigenschaften, welche nach der
Phagocythentheorie gewissen körperlichen Elementen des Blutes beigemessen
werden, in die Blutflüssigkeit, und schreibt die bactericiden Kräfte gewissen
in Blut gelösten Substanzen, den sogenannten AI ex inen zu. Ueber die
Natur dieser Alexine ist noch zu w^enig bekannt, so dass diese Hypothese
keine genügende Stütze findet.
5. Dagegen hat eine andere Hypothese, welche eine vermittelnde Stellung
zwischen der humoralen und der Phagocythentheorie einnimmt, mehr
Wahrscheinlichkeit für sich. Nach dieser Hypothese sind die Leucocythen aller-
dings an der Vernichtung der Infectionserreger betheiligt, aber nicht, wie die
Phagocythentheorie annimmt, durch das Verzehren der Keime, sondern durch bac-
tericide lösliche Stoffe, welche von ihnen ausgeschieden werden, und durch welche
das Blutplasma seine bactericide Kraft erhält. Eine ganze Keihe interessanter
experimenteller Arbeiten der verschiedensten Forscher stützt diese Theorie.
Eine der beweisendsten Arbeiten ist die Buchner's, welchem es gelang,
durch Einverleibung sterilisirter Weizenkleber- (Aleuronat-) Emulsionen in
die Pleurahöhle von Versuchsthieren stark leucocythenhaltige, bacterienfreie
Exsudate zu erhalten, die ausserordentlich bactericid wirkten, und zwar
stärker als das Blut, respective Blutserum der nämlichen Thiere. Es musste also
die Mehrleistung den Leucocythen zugeschrieben werden. Um nun zu be-
w^eisen, dass diese Mehrleistung aber nicht durch Phagocythose bedingt werde.
INFECTIONSKRANKHEITEN. 449
wurde ein Theil des Exsudates vor Aussaat der Bacterien zum Gefrieren ge-
braclitj wodurch die Leucocythen getödtet, die von denselben producirten
Alexine aber nicht verändert werden. Die Phagocythose war also bei dieser
Versuchsanwendung ausgeschlossen. Es zeigte sich nun bei Anwendung der
gefrorenen und wieder aufgethauten Exsudatprobe dieselbe bactericide Wir-
kung, wie bei den nicht gefrorenen Proben.
Trotzdem diese vermittelnde Hypothese viel für sich hat, ist eine Eini-
gung der verschiedenen Forscher auf diesem Gebiet bisher noch nicht er-
reicht, und besonders Metschnikoff hält fest an der von ihm aufgestellten
Phagocythentheorie.
Wie der Einzelne sich aber auch zu dieser Frage stellen mag, immer
ist so viel sicher, dass die Immunität, kurz gesagt, dadurch zu Stande
kommt, dass im Innern des lebenden Organismus äusserst wirksame Schutz-
kräfte vorhanden sind, über deren Natur und über deren Wirkungsweise wir
uns vorläufig noch nicht vollkommen klar sind. Zu erwähnen ist noch, dass
diese Widerstandsfähigkeit experimentell herabgesetzt und verstärkt werden
kann. Ersteres z. B. durch Störungen des Stoflwechselvorganges, wie Hun-
gern, Dürsten, Ermüden, ungeeignete Ernährung, übermässige
Temperaturerhöhung und -herabsetzung u. s. w., beim Menschen
auch durch psychische Einflüsse, wie Kummer, Aufregungen
u. s. w.; Letzteres durch Vermehrung der im Organismus von Natur aus
vorhandenen Schutzstoffe, wie es die Blutserumtherapie thut, bei welcher
der Organismus gegen eine bestimmte Infectionskrankheit geschützt, immu-
nisirt oder wenigstens widerstandsfähiger gemacht wird, dadurch dass ihm
Blutserum von Thieren einverleibt wird, welche gegen die nämliche Krankheit
stark immun gemacht wurden.
Bemerkenswerthes ist hierin aber erst bei zwei Krankheiten geleistet
worden, bei der Diphtherie und dem Tetanus.
Zu erwähnen sind an dieser Stelle noch die Versuche eines russischen Forschers,
Smirnow, welchem es nach seiner Angabe gelungen ist, die Diphtherie mit Antitoxinen zu
heilen, welche er ohne die Vermittlung des thierischen Organismus aus Diphtherieculturen
in normalem Blutserum durc"h Elektrolyse gewinnt. Smirnow's Versuche sind noch zu
ungenau beschrieben und entbehren bisher jeder Nachprüfung, als dass man aus ihnen
schon jetzt irgend welche Schlüsse ziehen könnte.
A. DRÄEE.
Infectionskrankheiten. Unter Infectionskrankheiten versteht man alle
jene Krankheiten, bei welchen ein von aussen eindringendes, im Körper sich
vermehrendes oder wenigstens erheblich anwachsendes Agens einen schädi-
genden Einfluss auf den Befallenen ausübt, wobei man gewöhnlich die durch
Metazoen (mehrzellige Thiere) verursachten Störungen, als Invasionsk rank-
heiten abzutrennen pflegt.
Es ist nicht berechtigt, dieser Definition noch hinzuzufügen, dass jenes
eindringende Agens ein belebtes sein muss; denn so wahrscheinlich eine
solche Voraussetzung auch ist, so ist die Annahme keineswegs ausgeschlossen,
dass es auch chemische Körper geben kann, welche aus den Bestandtheilen
eines geeigneten Nährbodens einen ihnen selbst gleichenden chemischen Körper
abzuspalten oder umzubilden vermögen und auf diese Weise sich zu verviel-
fältigen im Stande sind, ohne belebt im gewöhnlichen Sinne des Wortes
zu sein.
Die Fähigkeit der Vervielfältigung ist hingegen ein durchaus nothwen-
diges Kriterium für das Agens der Infectionskrankheiten, zum Unterschiede von
denjenigen der Intoxicationskrankheiten. Ebenso entscheidend ist das Kriterium,
dass die Krankheitserregung von aussen hineingetragen sein muss. Es ist darin
die Unterscheidung von Constitutions- und Stoffwechselanomalieen begründet.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 29
450 INFECTIONSKRANKHEITEN.
Die Erforschung der Thatsache, ob dieses Merkmal in dem einzelnen
Falle vorhanden ist, unterliegt oft den grössten Schwierigkeiten, so dass die
Frage, ob eine Krankheit auf Infection zurückzuführen ist oder nicht, vielfach
erst durch den exacten Nachweis des Erregers, insbesondere durch die ex-
perimentelle Wiederholung des Krankheitsprocesses bei Thieren oder auch bei
Menschen entschieden worden ist. Ein classisches Beispiel hiefür ist die bei
weitem wichtigste aller Infectionskrankheiten, die Tuberkulose, welche bis zu
der Entdeckung des Tuberkelbacillus nur bei einem sehr kleinen Theile der
Aerztewelt als solche galt. Andererseits ist von vielen Seiten die parasitäre
Entstehung der Tumoren, insbesondere der malignen, behauptet worden. Auch
hier könnte nur der exacte Nachweis des betreffenden Erregers beweisend sein.
Wenngleich es nicht mehr recht bestritten werden kann, dass einige Tumoren
oder tumorartige Bildungen auf parasitäre Ursachen zurückzuführen sind, so
ist es doch keineswegs bewiesen, dass solche Vorgänge allgemein oder auch
nur einigermaassen häufig vorkommen.
Speciell ist der Befund von Protozoen in Tumoren bisher noch niemals
ernst bewiesen, wenn auch vielleicht in ganz vereinzelten Fällen (Molluscum
contagiosum) wahrscheinlich gemacht; und der Befund von Blastomyceten
Hefearten sicher nicht in dem Umfange vorhanden, wie es von mancher
Seite behauptet worden ist.
Die in früherer Zeit gebräuchlichen Eintheilungen der Infectionskrank-
heiten sind durch die ausserordentlichen neueren Fortschritte auf diesem
Gebiete durchweg hinfällig geworden. Insbesondere gilt dieses von der
Abgrenzung der contagiösen von den miasmatischen Krankheiten.
Es steht fest, dass alle Infectionskrankheiten sich direct von einer Person auf
eine andere übertragen lassen, wenngleich zugegeben werden muss, dass ein
solcher Infectionsmodus bei vielen derselben für gewöhnlich nicht vorkommt.
In klinischer Beziehung kann man acute von chronischen, localisirte von allge-
meinen Infectionen unterscheiden, wobei allerdings zu bemerken ist, dass es
sich hierbei um äussere Erscheinungsformen handelt, welche vielfach in einander
übergehen.
In ätiologischer Beziehung ist nur eine Eintheilung möglich, in erstens
durch thierische, zweitens durch pflanzliche Parasiten, drittens durch Erreger
unbekannter Natur hervorgerufene Infectionskrankheiten.
Von den thierischen Parasiten (wenn wir nach der gebräuchlichen Auffassung die
sogenannten Invasionskrankheiten ausschliessen wollen) kommen alle vier Classen der
Protozoen als Schmarotzer beim Menschen vor. Wesentliche Krankheitserscheinungen hat
man von Angehörigen der Classen der Ciliaten und der Infusorien allerdings bisher nicht
beobachtet. Noch etwas umstritten ist die Bedeutung der Sarcodinen (Amoeben im engeren
Sinne). Genügend gesichert erscheint die pathologische Bedeutung der Sporozoen, wenn-
gleich freilich bisher nur von einer Art, der zu den Acystosporidien gehörigen Haemamoeba
Malariae, erhebliche Störungen, hier allerdings häufig der allerschwersten Art, beobachtet
worden sind.
Aus dem Pflanzenreich kann der Natur der Sache nach nur den chlorophyllfreien
Vertretern eine parasitäre Rolle zukommen. Von diesen können sowohl die Hyphomyceten
(Fadenpilze), als auch die Blastomyceten (Sprosspilze), als auch endlich die Schizomyceten
(Spaltpilze), letztere freilich in unvergleichlich grösserem Umfange als die ersteren, von
pathologischer Bedeutung sein.
Für die dritte Gruppe, der mit unbekannten Erregern, bleibt leider, trotz der
eifrigsten Arbeit der neueren Zeit auf diesem Gebiete, noch eine erhebliche Zahl von
Krankheiten übrig. Besonders auffällig ist es, dass gerade bei denjenigen Infections-
krankheiten, welche diesen Charakter am auffälligsten zeigen und darum schon in den
frühesten Zeiten als solche angesprochen worden sind, den acuten Exanthemen, der Nach-
weis der Erreger noch nicht gelungen ist, obgleich beispielsweise bei den Pocken das Virus
leicht erreichbar und in einer modificirten Form, der Vaccine, auf Thiere leicht über-
tragbar ist. Nachdem man die gelegentlich hierbei vorgefundenen Mikroorganismen schon
vor längerer Zeit als zufällige Begleiterscheinungen erkannt hatte, glaubte man vielfach in
gewissen anderen regelmässig vorkommenden geformten Bestandtheilen parasitäre Bildungen
zu erkennen. Alle bisherigen Versuche, für diese Bildungen bestimmte Eigenschaften in
INFECTIONSKRANKHEITEN. 451
Anspruch zu nehmen, welche sie von überall vorkommenden Gewebs-, speciell Kern-
degenerationsproducten unterscheiden Hessen, müssen für misslungen erklärt werden.
Die Verbreitung einer Infectionskrankheit kann in erster Linie direct
durch die Person des Erkrankten erfolgen. Es ist nur von der Syphilis
bekannt, dass bei dieser die directe Berührung (auch hier nur cum grano
salis geltend) der inficirenden mit der inficirten Partie nothwendig erscheint.
Da eine Austrocknung für die leichte Zerstörbarkeit des wirksamen Agens
ausgeschlossen ist, bleibt nur die Abkühlung als Erklärung übrig. Wo eine
solche nicht erfolgt (Pfeife der Glasbläser), scheint auch eine Infection durch
Vermittlung erfolgen zu können.
Eine ähnliche ausserordentliche Empfindlichkeit scheint der Erreger der
leprösen Erkrankung zu besitzen.
Eine besondere Form der persönlichen Uebertragung ist die durch Vererbung. Von
der Syphilis, als einer Krankheit unbekannten Ursprungs steht dieselbe mit Sicherheit
fest. Dagegen muss es als unbewiesen und auch durchaus unwahrscheinlich hingestellt
werden, dass eine bacterielle Krankheit durch Vererbung im engsten Sinne übertragbar
sei. Wohl kann eine kranke Mutter den Fötus mit ihrer Krankheit inficiren (eine Durch-
wanderung der Placentargefässe durch Bacterien ist möglich und nachgewiesen), aber
dann ist es keine Vererbung im engeren Sinne (durch das Ei, welche auch eine Analogie
in der Uebertragung durch den Vater haben müsste). Durch Vererbung kann dagegen die
grössere oder geringere Empfänglichkeit für eine bestimmte Infectionskrankheit (das
Bestehen einer solchen Prädisposition ist wohl kaum anzuzweifeln) von den Eltern auf die
Kinder übertragen werden, und auf diese Weise dürfte es sich zum Theil erklären, dass
gewisse Infectionskrankheiten, beispielsweise die Tuberkulose, in manchen Familien mit
besonderer Häufigkeit auftreten.
Alle übrigen Infectionsstoffe, so weit unsere Kenntnis derselben reicht,
vertragen eine grössere Pause zwischen der Ablösung von ihrem bisherigen
Nährboden und der Uebertragung auf den neuen Krankheitsherd, wenngleich
bezüglich der Dauer dieser Frist sehr weitgehende Unterschiede vorhanden
sind. Von grösster Empfindlichkeit sind vor Allem die Gonococcen. Von
diesen ist bekannt, dass sie nur höchst selten auf anderem Wege als dem
der directen Berührung übertragen werden. Von besonderer Empfindlichkeit
gegen das Austrocknen ist auch der Influenzabacillus, so dass die Weiter-
verbreitung derselben wahrscheinlich in der Hauptsache nur durch das umher-
geschleuderte Secret beim Husten und Niesen erfolgt .Von grosser epidemio-
logischer Bedeutung ist der geringe Widerstand der Choleraspirillen gegen
das Austrocknen. Die Cholera ist darum niemals auf dem Seewege um das
Cap herum von Indien nach Europa geschleppt worden, weil bacillenhaltiges
Material (besudelte Wäschestücke) bei der langen Dauer einer solchen Reise
auch bei dichtester Einpackung stets genügend austrocknete. Aber auch bei
den im Trockenzustande sich erhaltenden Infectionsstoffen ist es selbstver-
ständlich, dass ihre Conservirung nicht von allzulanger Dauer sein kann. Wie
alle organische Substanz sind sie einer Menge von Schädlichkeiten aus-
gesetzt, unter denen Licht und Luft (Oxydation) nicht qualitativ, aber quanti-
tativ die einflussreichsten sind. Die Folge davon ist, dass von einer wirk-
lichen Ubiquität von Krankheitserregern im Allgemeinen nicht die Rede sein
kann. Auch die Tuberkelbacillen, welche man bei der weiten Verbreitung
der Krankheit und bei der Art und Weise, wie die überwiegende Mehrzahl
der Phthisiker mit ihrem Sputum umzugehen pflegen, an allen Orten der
menschlichen Wohnplätze vermuthen möchte, sind immer nur in der näheren
Umgebung der Kranken, beziehungsweise dort, wo solche in besonderer Häufig-
keit sich aufhalten oder aufgehalten haben, nachweisbar gewesen.
Von einer grossen Gruppe von Infectionsträgern ist es mit mehr oder
weniger grosser Sicherheit bekannt, dass sie auch ausserhalb des menschlichen
oder thierischen Körpers sich nicht nur längere Zeit zu erhalten, sondern
auch sogar zu vermehren vermögen, also neben der parasitischen auch eine
saprophytische Existenz zu führen im Stande sind. Der sichere Beweis für
29*
452 INFECTIONSKRANKHEITEN.
eine solche Thatsaclie ist häufig nur schwer zu erbringen, und so ist es von
einer Reihe von sonst wohlbekannten Mikroorganismen noch durchaus zweifel-
haft, ob sie nur parasitär oder auch saprophytisch in der Natur vorkommen.
Es ist kein ausreichender Beweis für die Möglichkeit einer saprophytären
Existenz, wenn man lebende Individuen abgelöst vom thierischen Körper,
beziehungsweise von abgestossenen Theilen derselben (Schleim, Faeces, Haut-
schuppen, Eiter u. s. w.) vorfindet, denn einmal kann es sich um wirkliche
Dauerformen (Sporen) handeln, welche, in eine besonders widerstandsfähige
Hülle eingekapselt, ohne erkennbaren Stoffwechsel eine lange, oft vieljährige
Existenz zu führen im Stande sind, oder manche Spaltpilze vermögen auch
ohne Bildung besonderer Dauerform sich unter gewissen günstigen Umständen,
unter Bedingungen, welche eine Vermehrung oder auch nur einen Stoff-
wechsel ausschliessen (Eingetrocknetsein, Aufbewahrung unter Eis), sich lange
Zeit lebend und virulent zu erhalten; andererseits ist es ein Beweis gegen die
Möglichkeit einer saprophytären Existenz, wenn der Nachweis derselben bisher
nicht gelungen ist. Wenn man es genau nehmen will, ist ja durch die Mög-
lichkeit, einen Mikroorganismus auf künstlichem Nährboden bei gewöhnlicher
Temperatur zu züchten, der Beweis gegeben, dass derselbe sich auch ausserhalb
des thierischen Organismus weiter zu entwickeln vermag, zumal es vielfach
gelungen ist, relativ einfache Nährböden aufzufinden (eiweissfreie u. s. w.).
Es muss indessen mit allem Nachdruck hervorgehoben werden, dass eine
solche saprophytäre Existenz nur einen sehr bedingten Wert für die Aetiologie
der Infectionskrankheiten besitzt, da es ein Gesetz von, wenn auch nicht ganz
allgemeiner, so doch sehr weitreichender Geltung ist, dass durch ein längeres
saprophytäres Wachsthum die Infectionskraft (Virulenz) der betreffenden Er-
reger immer mehr herabgesetzt wird. Es steht damit die alte Erfahrung im
Einklang, dass eine Neuinfection sich so überwiegend häufig mehr oder
weniger direct auf eine andere Infection zurückführen lässt. So ist es eine
feststehende Thatsache, dass die Choleraspirillen und die Typhusbacillen im
Wasser weiter zu gedeihen im Stande sind, dass die letzteren auch häufig im
Erdboden (Ackererde) gefunden werden können, und doch gelingt es in der
Mehrzahl der Fälle, eine Infection auf eine andere kurz vorhergegangene
zurückzuführen. Wenn man nun noch berücksichtigt, dass es oft nur einem
Zufall oder der besonderen Geschicklichkeit und Gründlichkeit des Requirenten
zu verdanken war, dass ein solcher Zusammenhang aufgedeckt wurde, so ist
die Annahme wohl berechtigt, dass wohl bei allen Cholera-, und bei der über-
wiegenden Mehrzahl der Typhuserkrankungen die Verhältnisse ebenso liegen.
Wenn diese zeitliche Differenz nicht zu erheblich ist, kann allerdings durch
die Möglichkeit der saprophytären Existenz eine erhebliche Steigerung des
Infectionsmaterials erfolgen. Nachweislich geschieht das häufig, wenn Infec-
tionsträger, insbesondere bewegliche, sich im Wasser zu vermehren vermögen.
Der in der Epidemiologie als „explosive" Entwicklung einer Infectionskrank-
heit bezeichnete Vorgang lässt mit ziemlicher Sicherheit darauf schliessen,
dass in dem betreffenden Falle das Wasser die Verbreitung der betreffenden
Epidemie vermittelt hat.
Für eine erhebliche Zahl von Infectionskrankheiten ist es vorläufig bei dem gegen-
wärtigen Stande der Prophylaxe praktisch von sehr geringem Werth, festzustellen, ob der
betreifende Erreger auch saprophytisch zu gedeihen vermag. Wenn man bespielsweise
bedenkt, dass eine exacte Anamnese bei der Tuberkulose so überwiegend häufig einem vor-
hergegangenen längeren und intimeren Verkehr des inficirenden mit dem inficirten Indivi-
duum nachzuweisen im Stande ist, so wird es klar, dass gegenüber der enormen Masse
der sich auf diesem Wege Inficirenden der etwa vorhandene ßest von solchen Kranken,
die saprophytär in der Natur vorkommende Tuberkelbacillen aquiriren, ausser Acht
gelassen werden kann.
Eine besondere Gruppe bilden jene Infectionskrankheiten, welche im
Wesentlichen an andere Thierspecies gebunden sind und nur gelegenlich von
INFECTIONSKRANKHEITEN. 453
diesen auf den Menschen übertragen werden. Es sind der Rotz, der Milz-
brand, die Hundswuth. Es unterliegt zwar keinem Zweifel, dass diese Krank-
heiten auch gelegentlich direct von einem Menschen auf einen anderen über-
tragen werden können, aber andererseits ist es eben so sicher, dass in der
überwiegenden Mehrzahl der Fälle der Mensch die Krankheit von Thieren
acquirirt und dass, wenn es gelänge, jene Thiere auszurotten, man im Stande
wäre, die betreifende Infectionskrankheit aus der Welt zu schaffen.
An diese Gruppe, welche also ihren eigentlichen Wohnsitz ausserhalb des
menschlichen Körpers, aber immer noch im Thierkörper hat, schliessen
sich endlich jene wenigen Infectionskrankheiten an, deren Erreger ihren
gewöhnlichen Aufenthaltsort ausserhalb des Thierkörpers haben. Mit einiger
Sicherheit steht das nur vom Actinomyces fest. Der wiederholt gemachte
Befund von Getreidegrannen im Centrum der primären Krankheitsherde in
Uebereinstimmung mit den entsprechenden Befunden bei pflanzenfressenden
Thieren lassen eine andere Deutung kaum zu, als dass für gewöhnlich auf
Pflanzentheilen wuchernde Mikroorganismen ohne jede Vermittlung eines
thierischen Nährbodens vollwerthige Infectionskraft besitzen können. Etwas
weniger sicher ist es, ob der Erreger der Malaria für gewöhnlich eine sapro-
phytäre Existenz führt. Die Thatsache, dass das Vorkommen dieser Infections-
krankheit an gewisse sumpfige Gegenden gebunden ist, legte von jeher die
Annahme nahe, dass es sich um einen dem Boden, beziehungsweise den
Wasserformationen der betreffenden Gegend anhaftenden, nur gelegentlich
auf den Menschen übertragenen Infectionserreger handelt. Indessen steht der
exacte Beweis für diese Annahme, der Befund der specifischen Erreger
ausserhalb des Menschen, noch aus.
Von grösserem Interesse als dieses saprophytäre Vorkommen von Infec-
tionserregern ausserhalb des thierischen Körpers ist das saprophytäre Vor-
kommen zahlreicher pathogener Mikroorganismen auf der äusseren und inneren
Oberfläche des menschlichen Körpers. Die pyogenen Coccen, der Pneumo-
bacillus Feänkel, der Bacillus Diphtheriae, der Diplobacillus Friedländer,
der Bacillus coli sind die hervorragendsten Vertreter dieser Gruppe. Einzelne
von ihnen sind häufige, manche sogar regelmässige Bewohner der mensch-
lichen Schleimhäute oder der äusseren Hautdecke, ohne dass sie hier eine
erkennbare schädigende Wirkung hervorrufen. Nur theilweise lässt sich diese
auffällige Thatsache damit erklären, dass es sich um nur äusserlich über-
einstimmende, bei unserer Kenntnis der Dinge nicht zu differenzirende, that-
sächlich aber doch differente Arten handelt. Ebenso ist es nur zum Theil
richtig, dass es sich um invirulente, oder wenigstens in ihrer Virulenz er-
heblich abgeschwächte Formen handelt. Der wiederholt gelungene Nachweis,
dass solche saprophytär wuchernde Formen bei Thierversuchen genau die
gleiche virulente Wirkung ausüben können, wie die in pathologischen Herden
vorgefundenen, spricht durchaus gegen eine Verallgemeinerung jener Erklä-
rungen. Endlich ist auch die thatsächlich nachgewiesene natürliche Immunität
mancher Personen gegen gewisse Infectionskrankheiten nur zum Theil als
Erklärungsgrund berechtigt, wie denn schliesslich auch der Schutz des, für
gewöhnlich impermeabeln, Schleimhautepithels beziehungsweise der Epidermis
nicht alles aufzuhellen im Stande ist. Auch wenn man eine Combination aller
dieser Factoren zulässt, wird man im einzelnen Falle nicht umhin können,
auf gewisse andere, noch ziemlich dunkle ätiologische Momente zurück-
zukommen (Erkältung, nervöse Einflüsse u. s. w.).
Die Ausscheidung der Infectionsträger erfolgt ohne Schwierigkeit, wo
es sich um Processe auf der Körperoberfläche handelt. Das Secret der
Hautläsionen, der erkrankten Schleimhäute, einschliesslich ihrer Drüsen und
Adnexe entleert sich auf dem gewöhnlichen Wege und gelangt, sofern es
nicht der Vernichtung anheimfällt, im besten Falle in die Abfallstoffe (im
454 INFECTIONSKRANKHEITEN.
engeren Sinne des Wortes), welche in besonderer Weise beseitigt werden.
Ein anderer Theil wird dagegen, namentlich in ausgetrocknetem Zustande
durch Verstäubung in die Umgebung des Kranken getragen (Wäsche, Betten,
Kleider, Wohnräume). Auch gewisse natürliche Entleerungsformen begün-
stigen ein Ausstreuen des Infectionsmateriales. Besonders erwähnenswerth,
weil noch nicht überall entsprechend gewürdigt, ist das Husten und das
Niesen. Es ist einleuchtend, dass hierbei kleinste Partikelchen des an-
steckenden Secretes oft in ziemlich weite Entfernung vom Kranken fort-
geschleudert werden. Auch die im Innern des Körpers, namentlich in den
Blut- und Lymphbahnen befindlichen Infectionserreger gelangen vielfach an
die Oberfläche, und zwar nicht nur durch durchbrechende Zerstörung, sondern
auch auf dem Wege der natürlichen Abscheidung. Im Urin und auch im
Schweiss hat man wiederholt die Bacterien des betreffenden Krankheitsprocesses
gefunden. In wie weitem Umfange freilich die Ausscheidung von Bacterien
auf diesem Wege erfolgt, müssen erst weitere Beobachtungen lehren. Der
Durchtritt von Bacterien durch die Milchdrüsen (bei intacten Drüsen und
Drüsengängen) erfolgt, wenn überhaupt, keinesfalls so häufig, wie es die An-
gaben mancher Beobachter dargestellt haben.
Noch wesentlich mehr Dunkelheiten giebt es bezüglich der Aufnahme
der Infectionskeime. Am leichtesten verständlich ist die Infection durch
Wunden, wo Lymph- oder auch Blutbahnen blossgelegt sind. Von älteren
Läsionen aus findet eine Resorption von Infectionskeimen nur sehr schwierig
statt. Es liegen hier wohl ähnliche Verhältnisse wie bei Abscessmembranen
vor; es dürfte sich in der Hauptsache um mechanische Absperrungen durch
die dichten neuen Gewebsbildungen handeln. Schwieriger verständlich, aber
durch zahlreiche Beobachtungen sichergestellt, ist die Aufnahme von inficiren-
den Agentien durch die unverletzten Hautdecken. Experimentell hat man sie
durch Einreiben von Bacterienculturen erzielt. Es liegt nahe, hierbei an eine
durch das Reiben hervorgerufene Schädigung des schützenden Epidermislagers
zu denken. Bisweilen mag auch eine Maceration der Oberhaut durch flüssige
Menstrua eine Rolle spielen. Von nicht geringer Bedeutung für manche
Infectionen durch die Haut hindurch dürften die im Epidermislager regel-
mässig aufzufindenden Leukocyten sein. Dieselben beladen' sich sehr gern
mit lose umherliegenden Partikeln, darunter auch Bacterien, und schleppen
dieselben auf ihrer Wanderung weiter umher. Sie mögen wohl bisweilen im
Stande sein, dieselben zu vernichten (aufzuessen, Phagocytose), namentlich
wenn dieselben abgestorben sind, nachweislich gehen sie aber dabei auch sehr
häufig selbst zu Grunde und streuen nunmehr die mitgeschleppten Keime
wieder aus.
Der gewöhnliche Weg der Leukocytenwanderung ist der aus dem Innern
auf die freie Oberfläche; es liegt aber gar kein Grund vor, ausnahmsweise,
namentlich unter pathologischen Verhältnissen, eine retrograde Bewegung an-
zunehmen. In ähnlicher Weise wirken auch andere Wanderzellen, namentlich
bei entzündlichen Zuständen. Besonders an den Endothelien sind ähnliche
Zustände zu beobachten. Damit steht es in Uebereinstimmung, dass alle
solchen Vorgänge, welche in Folge von Stauung eine Erweiterung der Blut-
gefässe und eine Verlangsamung des Blutstromes, hiermit aber auch eine
grössere Durchgängigkeit der Capillaren herbeiführen, besonders leicht zu
infectiösen Processen führen. Endlich ist auch noch folgender Umstand
geeignet, einiges Licht auf den Infectionsvorgang zu werfen: Es ist eine all-
gemein anerkannte Thatsache, dass die Infectionsmöglichkeit gewöhnlich von
einer gewissen Zahl der eindringenden Keime abhängig ist. Das könnte man
damit erklären, dass, beispielsweise wie bei einem Feuergefecht nur ein Bruch-
theil von Geschossen zu treffen pflegt, so auch hier nur ein Bruchtheil der
andringenden Krankheitserreger eine geeignete Eingangspforte zu finden im
INFECTIONSKRANKHEITEN. 455
Stande ist. So richtig diese Auffassung zweifellos ist, so ist sie doch nicht
allein ausreichend, jene Thatsache genügend aufzuklären. Denn in diesem
Falle müsste es gleich sein, ob eine ebenso grosse Zahl von Keimen ent-
weder auf einmal vordringt, oder vereinzelt, beziehungsweise in kleinen Ab-
theilungen in genügend grossen Zwischenräumen eingeschleppt wird. Das
ist aber nicht der Fall. Die einmalige Ueberschüttung mit einer grossen
Zahl von Keimen ist viel wirksamer, ja bisweilen allein wirksam. Eine plau-
sible Erklärung hierfür lässt sich auf folgendem Wege geben: Die pathogenen
Bacterien und vermuthlich auch die anderen Infectionserreger sind giftig,
und zwar bilden sie die Gifte nicht erst in dem von ihnen befallenen Körper,
sondern auch ausserhalb desselben und schleppen einen Theil dieses Giftes
mit sich, entweder als einen ihnen noch anhaftenden Rest ihrer Stoffwechsel-
producte oder auch durch den Zerfall der mitgeschleppten abgestorbenen oder
bald absterbenden in ihren Leibern das Gift enthaltenden Keime. Dieses
Gift nun, dessen Wirkung wie bei jedem anderen von einer gewissen Con-
centration abhängig ist, erscheint wohl geeignet zu sein, den Infectionsvorgang
zu vermitteln, durch Beeinflussung der Gefässnerven, durch Anlockung der
Wanderz eilen (Chemotaxis) oder auch durch directe Nekrotisirung der Schutz-
deckung u. a. m.
Aehnlich liegen die Verhältnisse bei den Schleimhäuten, welche als
Eingangspforte für Infectionserreger von wesentlich grösserer Bedeutung sind,
als die äussere Haut. Das erklärt sich einmal damit, dass der Schleimüber-
zug jener durch seine besondere Beschaffenheit eine viel bessere Haftstelle
der Keime bildet, andererseits für einen erheblichen Theil derselben einen
guten Nährboden abgiebt. Auch die viel reichlichere Durchwanderung der
Schleimhäute durch Leukocyten, welche den zahlreichen ihr anhaftenden
lymphoiden Psyamen entstammen, erscheint -wohl geeignet, diesen Unterschied
aufzuhellen. Ferner kommt auf den Schleimhäuten viel mehr als auf der
äusseren Haut ein Zusammenwirken verschiedener Bacterienarten (eine Misch-
infection) zu Stande. Wie bei der Massenwirkung einer Bacterienart ein
besonderer Erfolg erzielt werden kann, so können andererseits durch Ver-
einigung, beziehungSAveise Ergänzung ihrer Wirkung zwei verschiedene
Bacterienarten zum Ziele gelangen. Eines der bekanntesten Beispiele geben
hierfür die Streptococcen, Während dieselben auf den Schleimhäuten primär
nur selten erheblichere Störung veranlassen, spielen sie bei einer ganzen
Reihe von Infectionskrankheiten eine bedeutende secundäre Rolle. Bei der
Tuberkulose, dem Scharlach, der Diphtherie, dem Typhus u. a. m. gesellt
sich auffallend häufig secundär eine locale oder auch allgemeine Streptococcen-
infection hinzu und vermag nicht selten ihrerseits einen verhängnisvollen Aus-
gang herbeizuführen, nachdem die Primärinfection schon überwunden war.
Ausser diesen allgemein bei den Schleimhäuten vorliegenden Verhältnissen
kommen für die einzelnen von ihnen noch jeweilige Besonderheiten in Betracht.
Am schwierigsten ist die Erklärung der pneumonischen Processe, welche der
Einfachheit wegen mit den Schleimhautinfectionen zusammen betrachtet w^erden
mögen, wenn man berücksichtigt, dass normalerweise die letzten Luftwege
steril gefunden werden, w'ährend sich unter pathologischen Verhältnissen eine
so massenhafte und weitverbreitete Entwicklung von Bacterien ausbilden kann,
wie sie beispielsweise bei der lobären FRÄNKEL-Pneumonie vorhanden sein
kann. Es kann nicht zweifelhaft sein, dass die entzündlichen Processe der
Lunge auf verschiedenem Wege entstehen. Ein Theil derselben ist inter-
stitieller Natur (darunter wohl auch der grössere Theil der primären tuber-
kulösen Affectionen, welche aus dem oberen Luftwege durch die Lymphbahnen
in die Bronchialdrüsen und von dort retrograd in das interstitielle Lungen-
gewebe getragen werden). Für einen anderen Theil ist die Entstehung durch
Aspiration durch die anatomische Formation (lobuläre, peribronchitische
456 INFECTIONSKRANKHEITEN.
Herde) oder auch durch andere Gründe (starke Verbreitung der Streptococcen-
pneumonie durch forcirte Inspiration bei den von Croup befallenen Kindern)
sichergestellt. Für die lobären Erkrankungen wird man nicht umhin können,
ein unter besonderen Umständen erfolgendes rapides Weiterwuchern auf der
Schleimhautoberfläche anzunehmen.
Das Eindringen von Infectionskeimen in die inneren Harnwege erfolgt entweder als
fortgeleitete Erkrankung der äusseren Harnwege oder auch durch instrumentelle Infection
u. a. m. Für manche Fälle lässt sich auch die nachgewiesene gelegentlich eintretende
retrograde ürinströmung als Erklärung verwerthen. Bisweilen erfolgt wohl auch ein directes
Einwandern von Darmbacillen (Bac. coli) aus dem Darm unter gewissen Umständen, welche
ein solches Einwandern gestatten (Circulationsstörungen passiver oder auch activer Natur).
Die Ursache für das häufig zu beobachtende zeitlich oder örtlich ge-
häufte Auftreten von Infectionskrankheiten (Epidemieen und Endemieen) ist
nur zum geringen Theile aufgeklärt. Die Ursachen der Endemieen liegen
sicher auf sehr verschiedenen Gebieten. Die Malaria, das Prototyp einer
endemischen Krankheit, ist zweifellos an gewisse Bodenformationen geknüpft.
Durch Austrocknung von Sümpfen hat man an manchen Stellen das Vor-
kommen von solchen Krankheitsfällen vollständig zu beseitigen vermocht.
Die Lepra dagegen ist deswegen auf einige bestimmte Gegenden beschränkt,
weil ihre Weiterverbreitung nur unter ganz besonderen, selten zu erfüllen-
den Bedingungen erfolgt (nur durch intimen Verkehr bei [^sonstigem un-
hygienischen Verhalten), so dass sie auch keine eigentliche endemische
Krankheit ist, sondern nur als gewöhnliche, aber mit äusserster Langsamkeit
fast nur unter den niederen Ständen sich verbreitende Infectionskrankheit
aufzufassen ist. Das endemische Auftreten der Syphilis (Radesyge, Skierlievo)
erklärt sich durch eine in Folge Zusammenwirkens verschiedener Factoren
veranlasste allgemeinere Verbreitung jener Infectionskrankheit in gewissen
Gegenden. Das endemische Auftreten der Cholera endlich im Gangesdelta
ist auf die Lebensgewohnheiten der Hindu (Waschungen in demselben Ge-
wässer, das auch als Trinkwasser benutzt wird u. a. m.) zurückzuführen.
Das epidemische Auftreten von Infectionskrankheiten muss
auch von Fall zu Fall besonders erklärt werden. Indessen sind hier doch
auch einige allgemeine Gesichtspunkte raaassgebend, die namentlich in neuester
Zeit Gegenstand gründlicherer Untersuchungen geworden sind. So war es
schon von Alters her bekannt, dass das Ueberstehen gewisser Infectionskrank-
heiten mehr weniger Schutz gegen einen zweiten derartigen Anfall verleiht
(Immunität). Bei einer Reihe experimentell erzeugbarer Infectionskrankheiten
hat man nun nachgewiesen, dass sich im Blute (speciell im Serum) der von
einer solchen Krankheit Genesenen gewisse gelöste, vorher nicht vorhanden
gewesene Substanzen gebildet haben, die man vielfach unter dem Namen der
„Antikörper" zusammenzufassen pflegt, von denen je nach der Art der be-
trefi^enden Infection die einen das von den Bacterien als Stofiwechselproduct
gebildete Toxin zu paralysiren im Stande sind (Antitoxine), andere wieder (als
bactericide Stoffe bezeichnet) die eindringenden Bacterien abzutödten geeignet
sind. Auch im Blute von Menschen, welche derartige auf natürlichem Wege
erworbene Krankheiten überstanden haben, hat man derartige Körper, theil-
weise in reichlicher Menge nachgewiesen (Cholera, Typhus). Auf diese Weise
erklärt sich zu einem gewissen Theile das epidemische Auftreten von gewissen
Infectionskrankheiten. Sobald die Immunität eines erheblichen Bruchtheiles
einer Bevölkerung aufgehört hat und nunmehr wirksame Infectionskeime unter
günstigen Bedingungen in dieselbe eingeschleppt werden, entsteht eine Epi-
demie. Eine solche erlischt von selbst, sowie der grösste Theil der infections-
fähigen Personen die Krankheit überstanden hat, damit immunisirt ist. Die
Dauer der Immunität ist sehr verschieden. Während manche Infectionskrank-
heiten meistens nur einmal im Leben überstanden werden, woraus mit einiger
Wahrscheinlichkeit gefolgert werden kann, dass das einmalige Ueberstehei
IRRENPFLEGE. 457
des Leidens einen lebenslänglichen Schutz zu verleihen vermag, ist bei anderen
Affectionen nur eine Immunität von längerer oder kürzerer, stets aber vor-
übergehender Dauer, bei einer dritten Gruppe überhaupt keine nachzuweisen.
Bei Typhus und Cholera scheint ein längerer Schutz gewöhnlich zu sein,
bei der Diphtherie dagegen meistens nur einer von wenigen Wochen. Bei
der Streptococcen-Infection und bei der Influenza giebt es nach den bisherigen
Untersuchungen überhaupt keine Immunität. Wahrscheinlich ist allerdings
auch hier eine vorhanden, aber sie ist von so kurzer Dauer, dass sie schwer
nachzuweisen ist. Eine wenn auch noch so kurz währende Schutzwirkung
erscheint für die Erklärung der so häufigen Selbstheilung solcher Affectionen
kaum entbehrlich. Die schützenden Substanzen werden, wenigstens theilweise,
unzersetzt aus dem Körper ausgeschieden. So sind sie im Harn und auch
in der Milch nachgewiesen worden.
Ein weiteres erklärendes Moment für die örtlichen und zeitlichen Un-
gleichheiten in der Intensität einer Infectionskrankheit ist die schwankende
Virulenz vieler, vielleicht aller Infectionsträger. Man bezeichnet damit die
Fähigkeit desselben, das ihm eigene Gift, oder, falls es mehrere sind, die
Gifte in verschieden grosser Menge oder von verschieden grosser Intensität (wahr-
scheinlich das erstere) zu erzeugen. Es braucht dieses Vermögen keineswegs
mit der leichten Vermehrungsfähigkeit der Mikroorganismen im Körper des
Erkrankten zusammenzufallen, wenn auch die beiden Eigenschaften häufig sich
gleichmässig entwickeln. Obgleich es nun experimentell meistens leicht gelingt,
Virulenzveränderungen herbeizuführen, so sind doch die Bedingungen, unter
welchen sich eine solche in der Natur vollzieht, noch vielfach in Dunkel gehüllt.
Feuchtigkeit und Temperatur hiefür heranzuziehen, liegt sehr nahe; eine
exacte Beweisführung steht aber noch aus. Ebenso sind Versuche, gewisse
Verhältnisse des Bodens, namentlich seines Grundwasserstandes, als Erklärung
heranzuziehen, bisher in einigermaassen überzeugender Weise nicht gelungen
H. BUCHHOLTZ.
Irrenpflege. Eine wohlgeordnete Irrenpflege ist erst eine Errungen-
schaft des 19. Jahrhunderts. Obwohl die Erkenntnis und Behandlung der
Geistesstörungen im classischen Alterthume bereits, auf einer höheren Stufe
der Entwickelung gestanden hatte, als in dem nachfolgenden christlichen Zeit-
alter, so war doch mit dem Niedergange der classischen Cultur und der Ein-
führung des Christenthums die Psychiatrie als Wissenschaft verloren ge-
gangen und das Schicksal der Geisteskranken seitdem ein überaus trauriges
geworden und bis zur Wende des vorigen und dieses Jahrhunderts geblieben.
Als älteste Auffassung finden wir bei den Culturvölkern des vorclassischenAlter-
thums die geistigen Störungen auf Einwirkungen göttlicher und dämonischer Gewalten
7Airückgeführt und zur Versöhnung der strafenden Gottheit oder Besänftigung der bösen
Geister Gebete, Sühnopfer, Gelübde, Geisterbeschwörungen und die Macht der Musik, also
gewissermaassen psychische Heilmittel angewandt, insofern als durch diese die Einbildungs-
kraft angeregt, Hoffnung, Vertrauen und Glaube erweckt, Beruhigung des Gemüths hervor-
gerufen und damit heilsam eingewirkt wurde.
Die Wahl der Mittel und die Form ihrer Anwendung variirten nach den Verschieden-
heiten der religiösen Gebräuche. Später verabreichten die Priester nebenbei wohl auch
materielle Arzneimittel, indes behielt die psychische Heilmethode die Oberhand, und auch
die ersteren waren so indifferenter Natur, dass sie allein durch das mystische Gewand, in
das ihre Verabreichung gehüllt war, also auch nur auf psychischem Wege zu wirken ver-
mochten.
Wenn sonach auch von einer Erkennung der Krankheiten keine Rede sein konnte
und ihre Behandlung unter dem Einflüsse der Mythe und des Aberglaubens stand, so war
sie doch keine grausame, der Menschheit unwürdige, wie Jahrtausende später im christ-
lichen Zeitalter, die Kranken waren vielmehr hier und da als Gottbegnadete der Gegen-
stand heiliger Verehrung.
Nachdem mit dem Fortschreiten der Civilisation dem kindlichen Sinne der alten
Völker der Boden entzogen war, gelangte im classischen Zeitalter in Griechenland
mit dem Emporblühen der Künste und Wissenschaften auch die Erkenntnis und Behand-
lung der Krankheiten zu einer wissenschaftlichen Ausbildung und die Lehre von den
458 IRRENPFLEGE.
Geistesstörungen zur Anerkennung als integrirender Bestandtheil der Arzneiwissenschaft,
welche alle Störungen der körperlichen und geistigen Gesundheit gleichmässig umfasste.
Pythagoras (582 — 504 vor Christus) empfahl seinen Schülern einen sittlichen Lebens-
wandel, Massigkeit, Enthaltsamkeit, Beschäftigung mit der Tonkunst als Art geistiger
Gymnastik, geeignet, die Seele zu stärken und sie vor Verirrung zu bewahren, während
er die Trunkenheit als Gift für die Seele, als den Pfad zum Wahnsinn schilderte. Alkmaeon
von Kroton, sein Schüler, erkannte das Gehirn als Sitz der Seele, ohne mit ihm indess die
Geistesstörungen in Verbindung zu bringen.
Hippokrates (460 — 377 vor Christus) war der Erste, welcher eine rationelle metho-
dische Forschung lehrte und damit den Keim zu der Jahrhunderte späteren wissenschaft-
lichen Begründung der Heilkunde und damit auch der Psychiatrie legte. Er war der Erste,
welcher den Grundsatz von der körperlichen Begründung aller Seelenstörungen aufstellte
und vertrat und sie theils als selbständige Krankheiten, theils als Symptome anderer
körperlicher Krankheiten auffasste, obgleich die Vorstellungen über den Zusammenhang der
Seelenstörungen mit den Organen des Körpers noch sehr unklare waren. Die Behandlung
war in Folge dessen fast ausschliesslich eine somatische, und wenn auch von späteren An-
hängern, besonders Asklepiades von Bithynien (124 vor Christus), eine psychische Behand-
lung, vorzugsweise die Musik, zur Unterstützung empfohlen wurde, so wurde diese doch
im Gegensatze zu früher ausserordentlich vernachlässigt.
Dem letzteren, welcher der griechischen Medicin in Rom Eingang zu verschaffen
wusste, kommt das grosse Verdienst zu, das methodische System einer wissenschaftlichen
Behandlung der Psychiatrie begründet zu haben, das von seinen Nachfolgern zu Beginn
des ersten christlichen Zeitalters, wie Celsus und Aretaeus dem Capadocier im
ersten, Galenus und Soranus von Ephesus im zweiten und Caelius Aurelianus im fünften
Jahrhundert nach Christus weiter gepflegt und ausgebildet wurde.
Mit dem Untergänge der griechischen Cultur und dem Zusammensturze des rö-
mischen Reiches sanken Künste und Wissenschaften immer mehr, und damit ging auch die
Psychiatrie als Wissenschaft allmählig wieder verloren. Plato's Lehre von der Natur der
Seele als eines unkörperlichen und vom Leibe unabhängigen Wesens gewann die Oberhand
und bewirkte die völlige Lostrennung der Psychiatrie von der Arzneiwissenschaft, da ja
hiernach, ebenso wenig wie die gesunde, auch die kranke Seele etwas mit dem Körper ge-
mein haben konnte.
So kam ungefähr vom Jahre 500 nach Christus die Psychiatrie in die Hände der
Priester und Mönche, welche die wissenschaftliche Behandlung vernachlässigten, weil sie
gegen die Störungen der Seele in den religiösen Gebräuchen und in den Reliquien von
Märtyrern genügende Schutz- und Heilmittel zu haben glaubten. Diese waren, so lange
die christliche Lehre noch die ursprüngliche und reine war, einfach und an Zahl gering;
als aber der Glaube an eine grosse Zahl von Heiligen, an die Wunderkräfte von Reliquien,
an gute und böse Dämonen hinzukam und sich mehrte, wurde der Apparat der psychischen
Heilmittel immer complicirter und gerieth zur Zeit des Mittelalters immer mehr in die
Abhängigkeit des krassesten Aberglaubens.
In ihrer Unduldsamkeit gegen Andersgläubige, insbesondere gegen die Heilkunde
treibenden nicht christlichen Zauberer, welche sich dem Teufel ergeben und mit ihm ein
Bündnis geschlossen zu haben vorgaben, stellten sie die Verfolgung dieser Teufelsbanner und
Hexenmeister und ihrer vom Teufel besessenen Heilobjecte, der armen Geisteskranken, als
gottgefällige Weike dar. So entstand der Glaube vom Besessensein, der Dämanomanie,
welche einen grossen, bisweilen förmlich epidemischen Umfang annahm. Hexen und Hexen-
meister wurden gestäupt und verbrannt, jede wissenschaftliche Regung durch das Gespenst
des Scheiterhaufens im Keime erstickt und auf viele Jahrhunderte das Aufleben der Wissen-
schaft unterdrückt, bis durch das Zeitalter der Reformation die Denkfreiheit wieder
gegeben wurde.
Wenn nun auch der Glaube an Dämonen so fest mit dem Volksgeiste verwachsen
war, dass die nun beginnende Aufklärung sich davon nicht ganz frei machen konnte, so
war doch der frühere feste Glaube an die psychischen Wundermittel tief erschüttert, die
Lehre des Aristoteles von dem Zusammenhange und der Abhängigkeit der Seele von dem
Körper gelangte mehr zur Anerkennung, und so fingen nun auch die Aerzte wieder an,
sich mit der Seelenheilkunde zu beschäftigen.
Von einer geordneten Fürsorge für Geisteskranke war indess noch lange keine Rede,
die Sorge für sie erstreckte sich noch Jahrhunderte lang darauf, sie unschädlich zu machen;
Harmlose liess man frei umherlaufen, störender Elemente entledigte man sich dadurch, dass
man sie über die Grenze brachte und hilflos aussetzte oder sie vom Henker mit Ruthen
peitschen, in transportable Käfige, die sogenannten Stocke, oder in die Thürme der Stadt-
mauern (Narrenthürme), in Aussatzhäuser, in Gefängnisse, finstere Keller, Kerker und
Zuchthäuser der traurigsten Art gemeinsam mit Dieben und Mördern setzen liess, in
welchen sie oft, an Ketten geschmiedet, vor Hunger und Misshandlungen in Schmutz und
Unrath umkamen. Vielfach waren die Kranken auch Gegenstand der Belustigung und des
Spottes und wurden wie wilde Thiere der neugierigen Menge zur Schau gestellt und ihren
Rohheiten ausgesetzt.
IRRENPFLEGE. 459
Im Jahre 1573 erlaubte sogar ein englischer Parlamentsbeschluss den Bauern, auf
diejenigen Jagd zu machen, die man Währwölfe nannte, weil sie in ihrem Wahne sich für
wilde Thiere ausgaben und in den Wäldern umherirrten. Einem Kranken in Padua, der
sich für einen Währwolf hielt, aber behauptete, der Pelz sei nach innen gewendet, schnitt
man Arme und Beine ab, um sich davon zu überzeugen, so dass der Kranke verblutete.
Selbst ein französischer König verschmähte es nicht, die Geisteskranken als Währwölfe mit
Schweisshunden zu Tode hetzen zu lassen.
An manchen Orten waren Geisteskranke wohl auch in besonderen „ToUstuben" der
Krankenhäuser untergebracht, doch meist an Ketten und unter so schlechter Behandlung
und mangelhafter Pflege, dass von Heilung wohl nur selten die Rede sein konnte, zumal
der fortwährende Streit um das Wesen der Seele und deren Wechselbeziehung zum Körper
die Beständigkeit und Einheitlichkeit in der Krankenbehandlung verhinderte. Die ersten
Versuche zur Verwahrung von Geisteskranken scheinen 1305 in Schweden (Gründung der
Maison de St. Esprit durch die „Fraternitates" für kranke sieche Wanderer und Irre in
üpsala) und im nächsten Jahrhundert besonders in Spanien (1410 Valencia, 1412 Barcelona,
1425 Saragossa, 1436 Sevilla, 1483 Toledo und 1489 Valladolid), dann in Deutschland
(1533 Hofheim und Merxhausen, 1535 Haina, um 1544 in Esslingen und um 1600 in Frank-
furt a. M.), 1547 in England mit Bethlehem (Bedlam-London) gemacht zu sein; es folgten
1645 in Italien Florenz, um die gleiche Zeit in Frankreich Charenton und 1681 Avignon,
1702 Berlin, 1728 in Polen Warschau, 1736 die Hospitäler Norwegens, dann in England
1741 Springfield mit 97 Acker Land, 1750 Greatford in Lincolnshire mit Familienpflege,
1751 St. Luke bei London als erste Heilanstalt aus der dort schon seit 1718 bestandenen
Bewahranstalt hervorgegangen; später 1743 Würzburg, 1749 Braunschweig, 1764 Rock-
winkel bei Bremen, 1784 Wien (Irrenthurm).
Dieser trotz vereinzelter Ausnahmen im Allgemeinen trostlose Zustand der Irren-
verwahrung dauerte bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts und wurde von einer neuen
für die Geisteskranken segensreichen Aera erst zu Ende des vorigen und zu Anfang des
neunzehnten Jahrhunderts abgelöst, als die Humanität in die „ToUhäuser" eindrang
und der Ruf nach Befreiung der Geisteskranken von ihren Ketten und ihrer Gemeinschaft
mit Zuchthäuslern zur Errichtung besonderer Asyle unter der Leitung sachverständiger
Aerzte führte, die sich nunmehr vor Allem die Heilung der Heilbaren zur vornehmsten
Aufgabe machten.
Auf dem Continente war für die Verbesserung des Loses der Geisteskranken beson-
ders das Beispiel Pinel's entscheidend, der in der Irrenanstalt Bicetre bei Paris während
der stürmischen Tage der Revolution, im Mai 1798, seine friedlichen Reformen damit
begann, 49 Kranken, die seit Jahren, darunter einer .36, ein anderer 45 Jahre angekettet
gewesen waren, die Ketten abzunehmen. Um die That Pinel's hat sich später eine Mythe
gewoben, die ihn als den ersten Schöpfer dieser humanen Reform verherrlicht; gleiche
Reformen sind indess nach Pinel's eigener Anerkennung auch schon vor ihm und nicht
blos in Frankreich angebahnt worden. Speciell sind solche 1786 von Chiarugi in dem
Spitale zu San Bonifacio in Florenz, 1788 von Daquin in Chambery eingeführt und ver-
öffentlicht, unter William Tuke in der 1792 von ihm begründeten und 1796 eröffneten
Anstalt der Quäker, Retreat zu York, allgemein zum Ausdruck gebracht worden. Pinel
behält trotzdem ein unvergängliches Verdienst um die Durchführung dieser Reformen und
um die Verbreitung des irrenärztlichen Grundsatzes von der Heilbarkeit der Geisteskranken,
weil, wie Westphal sagte, „Niemand vor ihm die Kühnheit hatte, von einem so hervor-
ragenden Platze aus in so umfassender, grossartiger und, was die Bedeutung des Mannes
ganz besonders hervortreten lässt, in so bewusster Weise mit der Tradition zu brechen.
Denn es war nicht nur humane Gesinnung, sondern auch tiefste wissenschaftliche Ueber-
zeugung von der Schädlichkeit der Fesselung für die Behandlung und Heilung der Kranken,
welche Pinel leitete, ein Beispiel für das Zusammenfallen der Forderungen der Wissen-
schaft mit denen der Humanität, wie es schöner die Geschichte der Medicin kaum
darbietet."
Da die praktische Durchführung dieses Grundsatzes von der Heilbarkeit
der Kranken aber durch die Verbindung der Irrenhäuser mit anderen Kranken-,
Siechen-, Waisen-, Armen- und Zuchthäusern arg behindert wurde, so war
das Verlangen der Entfernung zunächst wenigstens der heilbaren Geistes-
kranken aus den bisherigen Bewahranstalten erklärlich. Waren der Aus-
führung dieses Vorhabens anfangs auch differirende Ansichten der Verwaltungs-
behörden und mancher nicht sachverständiger Aerzte hinderlich, so führten
doch die sich mehrenden Heilerfolge und die Fortschritte der Irrenheilkunde
angesichts der grossen Erschwerung des Heilregimes durch die Gemeinschaft
der Geisteskranken mit den heterogensten Elementen und durch die Unzu-
länglichkeit der Räumlichkeiten zu der Einsicht von der Unhaltbarkeit der
seitherigen Zustände und der Nothwendigkeit der Errichtung beson-
derer Heilanstalten.
460 IREENPFLEGE.
In Deutschland haben vornehmlich Langermann und Reil das Verdienst, diese neue
Periode des Irrenwesens angebahnt zu haben. Andere, wie Heinroth und Hörn schlössen
sich ihnen an. Reil trug besonders durch seine classische Schrift „Rhapsodien über die
Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen" (Halle 1803), in welcher
er eine packende Schilderung des damaligen schrecklichen Zustandes der Irrenhäuser gab
und für die Berechtigung der psychischen Heilmethode eintrat, sehr erheblich zum Auf-
schwünge der praktischen Psychiatrie bei. Langermann, schon durch seine Dissertation
„De methodo cognoscendi curandique animi morbos stabilienda" (Jena 1797) vortheilhaft
bekannt geworden, erwarb sich einen europäischen Ruf durch die 1805 bewirkte Umwand-
lung des seit 1791 bestandenen Irrenhauses alten Genres zu St. Georgen bei Bayreuth in
eine psychische Heilanstalt für Geisteskranke und durch seine spätere erspriessliche Thä-
tigkeit im preussischen Ministerium, während deren er einen maassgebenden Einfluss auf
die Gestaltung des preussischen Irrenwesens und auf die Gründung der ersten preussischen
Heilanstalten, Siegburg 1825 unter Jacobi und Leubus 1830 unter Martini, ausübte. Voran-
gegangen war bereits als erste Heilanstalt in Deutschland der Sonnenstein in Sachsen 1811
unter Pienitz und Schleswig 1820 unter Jessen; es folgten als erster Neubau einer Heilanstalt
Sachsenberg in Mecklenburg unter Flemming 1830, dann Winnenthal in Württemberg unter
Zeller 1834 u. A.
War nach den geschilderten Verhältnissen die Errichtung dieser ge-
sonderten Heilanstalten zunächst ein Gebot der Noth gewesen, so machten
sich sehr bald grosse Mängel dieser Einrichtung fühlbar, welche in kurzer
Zeit zu dem System der relativ verbundenen Heil- und Pflegeanstalten führten.
Es bestanden diese Mängel hauptsächlich in der Kostspieligkeit und Um-
ständlichkeit der Errichtung und Verwaltung getrennter Heil- und Pflege-
anstalten, sowie der Versetzung der Kranken aus den ersteren in die letzteren,
in dem nachtheiligen Einflüsse auf die Kranken und dem bedrückenden Ge-
fühle für die Angehörigen, welche die Versetzung und damit die offen bekun-
dete Unheilbarkeitserklärung ausüben musste, schliesslich auch in der Benach-
theiligung der wissenschaftlichen Forschung und dem Umstände, dass die
Trennung doch nicht streng und consequent durchgeführt werden konnte,
weil die Grenzbestimmung zwischen Heilbarkeit und Unheilbarkeit ja eine
sehr schwankende war.
Roller und Damerow wurden nunmehr die Führer der Richtung, welche sich gegen
die absolute Trennung richtete ; unter Hinweis auf Hildesheim, wo bereits seit 1827 in zwei
benachbarten, nur durch Gärten getrennten Klöstern eine Heil- und Pflegeanstalt unter
einer gemeinsamen Verwaltung vereinigt waren, traten sie für die relative Vereinigung von,
nach wie vor getrennt zu haltenden, aber räumlich und administrativ eng mit einander
zu verbindenden Heil- und Pflegeanstalten energisch ein. So entstanden die relativ ver-
bundenen Heil- und Pflegeanstalten. Die erste derartige Anstalt war Marsberg
(Westphalen) insofern, als die seit 1814 dort bestandene gemischte Anstalt 1835 in eine
Pflegeanstalt umgewandelt und mit einer in unmittelbarer Nähe neu errichteten Heilanstalt
verbunden wurde. Es folgten lUenau (Baden) 1842 unter Roller und Nietleben (Halle
a/S.) 1844 unter Damerow, welche als nach diesem Principe specieli errichtete Neubauten
nunmehr die Muster für weitere gleiche Bauten wie Erlangen unter Solbrig 1846, Eichberg
unter Snell 1849, Werneck 1855 unter Gudden, Klingenmünster 1858 unter Dieck,
München 1859 unter Solbrig u. A. m. wurden.
Je mehr im Laufe der Zeit die gegen die Berührung von heilbaren mit
unheilbaren Kranken bestehenden Vorurtheile überwunden wurden, gestalteten
sich die Beziehungen zwischen Heil- und Pflegeanstalt immer inniger, die
Trennung bestand mehr in der Idee als in der "Wirklichkeit und, nachdem
selbst ihre hauptsächlichsten Vertreter, Kollee und Damerow, diesen Stand-
punkt nach den mit ihren Anstalten gemachten Erfahrungen zu Ende der
fünfziger Jahre für überwunden erklärt hatten, ging nach und nach die rela-
tive Verbindung in eine absolute Vereinigung über.
Nach diesem Principe der absolut verbundenen Heil- und
Pflegeanstalten sind nunmehr fast alle Anstalten der Gegenwart einge-
richtet; die wenigen gesonderten Heilanstalten, die heute noch existiren, sind
theils bereits in der Umwandlung zu gemischten Heil- und Pflegeanstalten
begriffen, theils stehen sie vor dieser Metamorphose oder sind es überhaupt
nur noch dem Namen nach. Auch die Existenz mancher gesonderter Pflege-
und Siechenanstalten verstösst nicht gegen dieses Princip, da sie nur zur
IRRENPFLEGE. 461
Entlastung gemischter Anstalten behufs Förderung der wichtigsten Heil- und
Lebensinteressen der heilbaren und besserungsfähigen Kranken dienen.
Bedurfte es langer Zeit, ehe sich bezüglich der Unterbringung der Kranken
das Anstaltswesen in der geschilderten Weise entwickelte, und blieben derartige,
nach den erörterten Grundsätzen errichtete Heil- und Pflegeanstalten während der
ersten Jahrzehnte unseres Jahrhunderts noch vereinzelte Ausnahmen in der
zweifelhaften Gesellschaft ihrer alten Genossinnen, so drang auch das von
PiNEL und Anderen gegebene Beispiel bezüglich einer humaneren Behandlung
der Kranken nur sehr langsam durch. An den meisten Orten gehörten
Ketten, Schienen, Leib- und Halsringe, Gürtel, Fuss- und Armbänder von
Eisen, Drehscheiben und Drehräder, Zwangsstühle, Zwangsjacken, Schaukel,
Flaschenzug, Masken, Särge und andere grausame Zwangs- und Marterwerk-
zeuge zum unentbehrlichen Inventarium ; manche Irrenanstalt glich mehr einer
grossen Folterkammer, viele Irrenärzte wetteiferten geradezu in der Entdeckung
von Zwangsapparaten der verschmitztesten Art, und nur in den wenigen besseren
Anstalten hatte man sich in der Benutzung von Zwangsmitteln die von Pinel
und TuKE geübte Keserve aufzuerlegen und sich auf Zwangsjacke, Zwangs-
stuhl und das Anschnallen unruhiger Kranker an die Bettstellen zu beschränken
verstanden.
Den mechanischen Zwang ganz abzuschaffen, versuchten zuerst vom
August 1838 ab Hill und Chaelesv^^orth auf des ersteren Anregung in
Lincoln (Leicester, England), und John Conolly machte sich damit un-
sterblich, dass er in der damals grössten Anstalt Englands Hanwell (Middlesex)
vom 21. September 1839 ab die vollständige Beseitigung aller mechanischen
Zwangsmittel durchführte und die Behandlung der Geisteskranken ohne
mechanischen Zwang zu einem neuen Behandlungssystem, dem seitdem
sogenannten Non-Restraint-System, erhob.
Dieser. Name allein, insofern er nur die Nichtbeschränkung bezeichnet,
charakterisirt allerdings nur einen Theil des Systems, die negative Seite des-
selben, denn die Beseitigung der Zwangsmittel allein machte dieses System
nicht aus, sondern in Gemeinschaft mit ihr der Geist der Humanität, welcher
zugleich mit ihr auch für- die sonstige Behandlung der Kranken maassgebend
wurde. Dieser Geist hatte schon vor Conolly alle guten Irrenärzte beseelt,
und Conolly's System war daher weniger die Veranlassung als die Folge und
die Krönung dieser neuen Richtung, welche, wie Conolly selbst zugiebt,
schon zu der Zeit begonnen hatte, als Pinel, Tuke und Reil ihre humanen
Reformen predigten. Conolly's That bleibt trotzdem ein unvergängliches
Verdienst, weil erst mit der vollständigen Beseitigung aller Zwangsmittel der
schon früher inaugurirte positive Theil des Systems zu seiner vollen Ausbil-
dung und Durchführung gelangen konnte.
Einen langen und harten Kampf kostete es, ehe das neue System sich
die Herrschaft zu sichern vermochte. Denn die grossen Anforderungen,
welche die stricte Durchführung desselben an die Hingabe der Aerzte und an
das Pflegepersonal stellte, waren nur zu sehr geeignet, die Anhänglichkeit an
das Althergebrachte zu unterhalten. Zudem war das Non-Restraint-System
auch eine nicht überall und - sofort zu lösende Geldfrage insofern, als der Ver-
zicht auf alle mechanischen Zwangsmittel nicht nur gleichzeitig den Ersatz
der hier und da noch geübten, mehr oder weniger harten oder menschen-
unwürdigen Behandlungsmethoden durch Güte und Milde involvirte, sondern
auch auf Verbesserung der Lage der Kranken bezüglich ihrer Wohnung,
Kleidung, Lagerung, Wartung, Zerstreuung und Beschäftigung, Unterricht
und Gottesdienst, kurz auf Alles, was der Kranken geistiges und körperliches
Wohlbefinden zu fördern vermochte, gerichtet war, und die Erlangung dessen
eben nicht überall vom blossen Willen des Arztes abhing.
In Deutschland verfocht besonders Brosius das Non-Restraint-System 1858 auf der
Naturforscher-Versammlung zu Carlsruhe, ohne für dessen unbedingte Anwendung in der
462 IRRENPFLEGE.
Majorität Anerkennung zu finden; consequent durchgeführt wurde es zuerst von Ludwig
Meyer in den Jahren 1861 — 1863 auf der Irrenstation des Hamburger Krankenkauses,
wenige Jahre darauf (1867) unter den schwierigsten Verhältnissen von Griesinger und
Westphal in der Berliner Charite, nachdem Griesinger sich bereits 1861 unbedingt für
dasselbe ausgesprochen und es 1864 in Zürich versucht hatte. Andere wie Gudden,
Gramer, Zinn, Koeppe folgten.
Seitdem haben sich die meisten Anstalten diesem Beispiele ange-
schlossen; die Zahl derer, in denen heute noch Zwangsmittel zu finden sind,
ist sehr gering, und von denen, welche „noch eine Therapie der Zwangs-
mittel vertreten," sagte L. Meyer schon 1863, dass „die Basis ihrer An-
schauungen ausserhalb des Gebietes der Medicin liege." Die einst viel um-
strittene Frage ist für die psychiatrische Wissenschaft als abgethan zu be-
trachten.
Die ersten Förderer des Non-Kestraint können nicht genug den ausser-
ordentlich wohlthätigen und heilsamen Einfluss rühmen, welchen dasselbe auf
das ganze Anstaltsleben und das Verhalten ihrer Pflegebefohlenen hatte. Beide
gewannen einen ganz anderen Charakter; die Kranken wurden ruhiger und
fügsamer, milder in ihrer Stimmung und in ihren Sitten; Aufregungszustände,
Zerstörungssucht, Unsauberkeit milderten und verringerten sich, das Ver-
hältnis der Kranken zu ihren Pflegern und Aerzten wurde ein freundlicheres
und vertrauensvolleres, Ruhe und Frieden, Ordnung und Behaglichkeit wurden
die Signatur des Hauses.
Die Folge davon war, dass die Anstalten in ihren Einrichtungen wohn-
licher, in ihrer Umgebung freundlicher, in ihrer Abschliessung nach aussen
freier wurden und dass den Kranken ein grösseres Maass von Freiheit gew^ährt
werden konnte, als man früher für möglich gehalten hatte.
So erweiterte sich durch einen natürlichen Entwicklungsprocess das Non-
Restraint zu einem System der freien Behandlung, bei der das dem
Non-Restraint zu Grunde liegende ^Princip erst zur selbständigen und voll-
kommenen Ausbildung gelangte.
Da mit der fortschreitenden Verbesserung der Lage der Kranken die
Abnahme des gegen die Irrenanstalten bestehenden Vorurtheils des Publikums
Hand in Hand ging, so wurden die Kranken nunmehr in früherem Krank-
heitsstadium und in grösserer Zahl, vor Allem auch in ihren milderen Formen
den Anstalten zugeführt und in den meisten derselben sehr bald ein Zustand
der Ueberfüllung hervorgerufen, welcher, indem er dringend Abhilfe er-
heischte, die weitere Ausbildung und Verwirklichung der freien Verpflegungs-
formen in Verbindung mit den seitdem sogenannten geschlossenen Anstalten
begünstigte und beschleunigte.
Den Uebergang von diesen zu den freien Verpflegungsformen bildete in
baulicher Beziehung das Pavillon System, dessen Ausführung allerdings die
ersten Versuche der freien Verpflegungsformen bereits vorangegangen waren.
Hatte man in der ersten Zeit der Einrichtung besonderer Irrenanstalten jedes
vorhandene grössere Bauwerk, wie Schlösser und Klöster, für ausreichend ge-
halten (Sonnenstein, Siegburg, Leubus), so war man mit dem Fortschritte
der Irrenfürsorge und dem zunehmenden Bedürfnisse an Irrenanstalten zu
Neubauten übergegangen. Die einen wie die anderen bestehen mutatis mu-
tandis aus einem einzigen grossen Massenbau oder aus einer Reihe von mehr
oder weniger kasernenartigen, durch geschlossene Corridore und verdeckte
Veranden oder Wandelgänge eng unter einander verbundenen Gebäude-Com-
plexen, für deren innere bauliche Eintheilung das „Corridorsystem" das ge-
meinsame Charakteristicum ist.
Wie für andere Krankenhäuser in den letzten Decennien das Verlangen
nach grösserer Sonderung der einzelnen Krankheitsgruppen aus hygienischen
und anderen ärztlichen Gründen allgemein zu der Annahme des Pavillon-
oder Blocksystems führte, so w^ar bei den Irrenanstalten für die Wahl des-
IRRENPFLEGE. 463
selben Bausystems neben den gleichen Gründen der Wunsch maassgebend,
schon nach aussen hin durch die Zerlegung der Anstalt in eine grössere An-
zahl frei zwischen Parkanlagen gelegener Pavillons der Anstalt den gefängnis-
oder kasernenartigen Charakter zu nehmen, dadurch schon äusserlich einen
freieren und freundlicheren Eindruck zu machen und auch den Kranken schon
innerhalb der Anstalt mehr Freiheit der Bewegung zu ermöglichen. Von An-
stalten nach diesem System sind angelegt und eröffnet Marburg 1876, Hoerdt-
Stephansfeld 1878, Dalldorf und Saargemünd 1880, Neustadt i. Wpr. 1883,
Kortau 1886, Lauenburg und Troppau 1889, die Universitätsirrenklinik zu
Halle a/S. 1891 und die Anstalt Herzberge zu Lichtenberg-Berlin 1893. Doch auch
diese Anstalten haben vorwiegend noch einen geschlossenen Charakter, wenn-
gleich sie in einzelnen Abtheilungen und besonders in ihren gärtnerischen
und landwirthschaftlichen Betrieben directe Uebergänge zu den freien Ver-
pflegungsformen bilden, welche durch die Colonisirung der Kranken
(Specielleres s. Paetz, Colonisirung der Geisteskranken pp. SpRiNGER-Berlin)
ihren vollen Ausdruck gefunden haben.
Insbesondere war es Geiesinger, welcher im Jahre 1868 in seiner Ab-
handlung über Irrenanstalten und deren Weiterentwickelung in Deutschland
mit seltenem Eifer und hinreissender Beredsamkeit für die Ausbildung der
freien Verpflegungsformen eintrat.
Man kam damals mehr und mehr zu der Ueberzeugung, dass die ge-
schlossenen Anstalten den Zweck, welchen die zeitgemässe Auffassung des
Wesens und der Behandlung der Geisteskranken anstrebte, nur theilweise
oder unvollkommen erfüllten, dass für einen grossen Theil der Geisteskranken
freiere und einfachere und darum auch billigere Verpflegungsformen nicht
nur ausreichten, sondern erspriesslicher seien, und dass es darum ein Un-
recht sei, allen Kranken ohne Unterschied die Freiheit zu entziehen, deren
Beschränkung nur für einen Theil derselben eine Nothwendigkeit ist. Die
Einsperrung und Freiheitsentziehung galt früher für alle oder doch weitaus
die meisten Kranken als allgemeine Regel, anstatt nur für den kleineren
Theil eine Ausnahme zu bilden. Denn abgesehen von dem schädlichen Ein-
flüsse, den die völlige Entziehung der Freiheit auf die meisten Kranken aus-
übt, dürfte jedem Kranken nach allgemeinem Menschenrechte auch dasjenige
Maass von Freiheit zuzugestehen sein, das er ohne Schaden für sich und seine
Mitmenschen zu ertragen vermag.
Diese Erwägungen hatten angesichts der zunehmenden Ueberfüllung der
geschlossenen Anstalten und der grossen Opfer, welche deren Anlage und
Unterhaltung erfordern, den Verwaltungsbehörden und Irrenärzten die Ent-
scheidung der Frage aufgedrängt, in welcher für die Kranken wie für die
Verwaltungen gleich vortheilhaften Weise die Ueberfüllung der Anstalten zu
beheben und solche freieren, einfacheren und dem geistigen me körper-
lichen Wohlbefinden der Kranken zuträglicheren Verpflegungsformen zu be-
schaffen seien.
Für die Gestaltung derselben war ausser der Ueberzeugung von der
Möglichkeit und Nützlichkeit grösserer Freiheitsgewährung an die Kranken
vor allen Dingen auch die Erkenntnis maassgebend, dass eine möglichst aus-
gedehnte und zumal landwirthschaftliche Beschäftigung derselben, wie sie in
dem Rahmen geschlossener Anstalten nicht in dem nöthigen Umfange er-
möglicht werden konnte, eines der vorzüglichsten Hilfsmittel in der Behand-
lung der Kranken bildet.
Nach Vorgängen, die hier und da schon versucht waren und die zum
Theil aus ferner Vergangenheit datiren, war man vor etwas mehr als drei
Decennien im Wesentlichen dahin gekommen, die vorbezeichneten Zwecke
•durch die Colonisirung der Geisteskranken anzustreben und diese haupt-
464 IRREN PFLEGE.
sächlich einerseits in der Form agricoler Irrencolonien, andererseits durch
die sogenannte familiale Irrenpflege zu verwirklichen.
Beide Verpflegungsformen bleiben unter einander verwandt dadurch,
dass bei beiden die Kranken unter ganz freien Verhältnissen ausserhalb der
geschlossenen Anstalten gehalten, dass beide ausschliesslich auf dem platten
Lande betrieben und die Kranken sowohl bei den agricolen Colonien als auch
bei der Familienpflege zu allen Arbeiten und vorzugsweise zu ländlicher Be-
schäftigung herangezogen w^erden. Beide Formen sollen überhaupt weder sich
gegenseitig noch die geschlossenen Anstalten ausschliessen, sondern alle sich
wechselseitig ergänzen und neben einander oder in Verbindung unter einander
je nach den örtlichen Verhältnissen bestehen.
Die wichtigere dieser beiden freien Verpflegungsformen ist unstreitig die
agricole Colonie, nicht blos wiegen ihrer vielen grossen Vorzüge für die
Kranken und die Verwaltung, sondern auch weil sie überall ausführbar und der
grössere Theil aller Geisteskranken für sie geeignet ist, während die für Ein-
richtung der Familienpflege nöthigen Voraussetzungen selten zu finden und nur
ein verhältnismässig kleiner Theil der Kranken für dieselbe verwendbar ist.
Obwohl man in den geschlossenen Anstalten nach Möglichkeit auf die
Beschäftigung der Kranken Bedacht nahm, so war doch das Bedürfnis nach
Errichtung solcher Colonien unabweisbar, weil nicht alle Anstalten in der Lage
waren, den Anforderungen nach Beschäftigung und freier Bewegung ihrer
Kranken genügend zu entsprechen. Es fehlte den meisten Anstalten vor
Allem an der erforderlichen Mannigfaltigkeit der Beschäftigungs- und Be-
triebszweige, welche nur Colonieen bieten können und welche allein die Ver-
wendung der den verschiedensten Krankheitsformen, Bildungsstufen, Gesell-
schafts- und Altersklassen angehörenden Elemente, die Berücksichtigung der
verschiedensten Neigungen, Fähigkeiten, Gewohnheiten und Ansprüche, die
Beschäftigung jedes Kranken in einer seinem geistigen und körperlichen Zu-
stande zuträglichen Weise gestatten. Es fehlte vor Allem den geschlossenen
Anstalten nach deren Einrichtungen die Möglichkeit, den Kranken diejenige
Bewegungsfreiheit zu gewähren, w^elche in Verbindung mit der Beschäftigung
erst den Schwerpunkt und den eigentlichen Werth der Colonieen bildet.
Die Ueberzeugung von dem heilsamen Einflüsse ausgedehnter Freiheits-
gewährung auf die Kranken führte dazu, dieses Princip auch auf An-
stalten zu übertragen und unter der Bezeichnung des Open-door- (Offen-
Thür-) Systems zuerst in Schottland einzuführen. Es geschah dies um die
Mitte der siebziger Jahre in dem Fife- und Kinross- District Asylum, in
weitester Ausdehnung und strengster Durchführung in dem 1875 eröftneten
Barony Parochial Asylum Woodilee, Lenzie bei Glasgow, mehr oder weniger
in allen schottischen Anstalten; auf dem Continente zuerst in bisher noch
nicht wieder erreichter Ausdehnung in Alt-Scherbitz (s. später).
Die ersten agricolen Colonieen wurden in Frankreich in's Leben gerufen. Nach
kleinen Anfängen, die von der Pariser Anstalt Bicetre 1832 auf der Ferme St. Anne und,
nachdem auf deren Terrain 1867 die gleichnamige Anstalt eröffnet war, in dem 1 Jahr
später eröffneten, allerdings mehr geschlossenen Asyl Yille Evrard mit einem schon erheb-
lich grösseren Terrain gemacht waren, wurde 1847 von den Gebrüdern Labitte in Ver-
bindung mit ihrer Privatanstalt in Clermont in dem nahen Dorfe Fitz-James die gleich-
namige Colonie eingerichtet, die sich fortschreitend zu einer ansehnlichen Grösse (ca. 2B0ha)
erweitert hat und seit 1887 verstaatlicht ist. In dem Schweizer Cantone St. Gallen wurde
von der Anstalt St. Pirminsberg aus 1848 eine alpine Sommercolonie auf dem St. Marga-
rethenberge angelegt, welche jeden Sommer von nahe an 20 Kranken bezogen wird. In
Deutschland war es zuerst der Besitzer der Württembergischen Privatanstalt Christophsbad
in Göppingen, Dr. Landerer, welcher im Jahre 1889 den nahe bei der Anstalt gelegenen
„Freihof erwarb und zur Colonie einrichtete, die gegenwärtig 93 ha und 25 Kranke um-
fasst. Es folgte 1864 die Colonie Einum, 1 Stunde von der Anstalt Hildesheim gelegen,
mit jetzt QQ^I^ha eigenem und 11ha gepachtetem Areal und 80 Kranken; 1865 die wei-
marische Colonie Kapellendorf, 1879 wieder aufgehoben und durch die 1880 mit der Anstalt
zu Blankenhain verbundene Colonie ersetzt; 1868 Czadras, 2 ä-vw von der königlich-säch-
IRRENPFLEGE. 465
sischen Anstalt Colditz von Voppel angelegt, 1894 zu einer colonialen Anstalt (s. später)
erweitert, die mit über 400 Kranken belegt ist und ca. 100 /;« bewirthschaftet; 1870 fieck-
witz bei der königlich-sächsischen P^rauenpflege-Anstalt Hubertusburg mit jetzt 124: ha und
ca. 150 Kranken; im gleichen Jahre Albrechtshof bei der EaLENMEYER'schen Privatanstalt
zu Bendorf a./Rh. mit jetzt 86^2 ha und 15 Kranken. Aehnliche coloniale Einrichtungen
von grösserer oder geringerer Ausdehnung vvurden später mit einer Reihe anderer öffent-
licher und privater Anstalten verbunden, von denen ich nur Allenberg, Brieg mit Briegisch-
dorf, Bunzlau mit dem Drüsselvorwerk, Dalldorf, Eichberg mit dem Wachholderhof, Herz-
berge, Hildburghausen mit der Karolinenburg, Uten mit Köthenwald, Kortau, Kreuzburg,
Landsberg, Lauenburg, Lengerich, Merzig mit dem Wiesenhof, Neustadt, PfuUingen mit
Alte-Burg, Plagwitz, Roda, Saargemünd, Sachsenberg, Schleswig, Sonnenstein mit Kuners-
dorf und Jessen, Sorau, Stephansfeld-Hördt etc. nennen will.
Gleichzeitig mit der Entwickelung dieser agricolen Colonien wurde die
andere der genannten freien Verpäegungsformen, die familiale Irren-
p liege, welche schon seit Jahrhunderten in dem belgischen Orte Gheel,
Provinz Antwerpen, als Cultus der heiligen Dymphna betrieben wurde, weiter
ausgebildet. Man versteht unter Familienpflege die Unterbringung von der
öffentlichen Fürsorge anheimgefallenen Geisteskranken, welche nicht unbe-
dingt mehr der Anstaltspflege bedürfen, aber auch nicht in der eigenen
Familie zu leben vermögen oder solche nicht mehr haben, in fremden Fami-
lien. In Gheel widmen sich auf einer Fläche von 11000 ha nahe an 1200
Pflegerfamilien (Nourriciers) von einer Bevölkerung von 12000 Seelen der
Pflege von nahezu rund 1800 Kranken, die ihnen in der grösseren Zahl
direct, in der kleineren nach einer in der „Infirmerie" verbrachten Beobach-
tungszeit zugehen. Der in der Bevölkerung tief eingewurzelte religiöse
Charakter dieses Cultus und die derselben seit vielen Generationen ange-
borene Qualification zur Irrenpflege ermöglichten allein diese Ausdehnung,
die bei Anwendung strengerer Anforderungen an die Krankenpflege erheblich
eingeschränkt werden müsste und daher anderswo, wo die gleichen Voraus-
setzungen fehlen, auch nicht entfernt entsprechenden Umfang angenommen
hat. Für die nicht französisch sprechende belgische Bevölkerung sind ähnliche
Verhältnisse 1884 in Lierneux, Provinz Lüttich, eingerichtet worden, wo
ca. 300 Kranke untergebracht sind. Die an beiden Orten noch nicht ganz
aufgegebene Anwendung ■ von Zwangsmitteln contrastirt zu dem sonstigen
Principe der „freien Behandlung" in unfreundlicher Weise und schränkt seine
Empfehlung erheblich ein.
In Deutschland gingen die ersten Anfänge einer familialen Irrenpflege gegen Ende
des vorigen Jahrhunderts von den Vorfahren des jetzigen Besitzers der Privatanstalt Rock-
winkel bei Bremen, Dr. Engelken, aus; sie wurde später von der Armenpflege der Stadt
Bremen adoptirt und seit 1878 auf Engelken's Vorschläge reformirt. Trotz untergeordneter
Mängel sind die localen Verhältnisse für diese Form der Irrenpflege dort sehr geeignet und
weiter entwickelungsfähig ; ca. 50 Pfiegerfamilien vertheilen sich mit rund 80 Kranken au.f
5 Dörfer.
In grösserer Ausdehnung ist die Familienpflege seit 1888 in Schottland staatlich
organisirt worden in der Weise, dass die über das ganze Land zerstreuten Geisteskranken,
welche sachverständiger Pflege entbehrten, bei Reorganisation des schottischen Irrenwesens
der Obhut des Board of Lunacy überwiesen wurden. Es handelte sich hiernach nicht um
eine Entlastung der Anstalten durch eine neue Form der Versorgung, wie sie die Familien-
pflege sonst bezweckt, sondern in erster Linie um die Ausdehnung der staatlichen Für-
sorge auf diejenigen Kranken, welche derselben bisher entbehrt hatten, wodurch anfänglich
sogar eine Zunahme der Anstaltskranken herbeigeführt wurde. Die nunmehr über zahl-
reiche Dörfer, Flecken und einzelne Höfe, selbst über die kleineren Inseln verbreitete
FamUienpflege umfasst nahe an 3000, gleich ^5 aller Kranken ; am meisten genannt ist das
Dorf Kennoway.
In Deutschland hat sich ausser ENGELKEN-Rockwinkel in erster Linie Wahrendorff-
Ilten seit 1880 um die Einführung der Familienpflege sehr verdient gemacht und auf den
seiner Anstalt benachbarten Dörfern mit, ihm von den Hannover'schen Provinzial-Anstalten
überlassenen Kranken mustergiltige Einrichtungen geschaffen. Es sind gegenwärtig dort
nahe an 150 Kranke in dieser Weise untergebracht. 1885 wurde von der Berliner Anstalt
Dalldorf aus die Familienpflege eingeführt und bis jetzt von dieser und der andern Anstalt
Herzberge auf ca. 250 Kranke ausgedehnt. 1886 folgte die schlesische Anstalt Bunzlau mit
der Unterbringung von — bis jetzt 25 — Kranken in dem Dorfe Looswitz, 1890 Kortau,
1891 Alienberg mit jetzt 47, beziehungsweise 20 Kranken, Eichberg mit 40 Kranken; neuer-
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. ""
466 IREENPFLEGE.
dincrs werden auch von der proYinzialsächsischen Anstalt ücMspringe Versuche in geringer
Aus'dehnung gemacht. In Amerika hat Professor Sanborn die jetzt von Dr. Woodbury
geleitete Familienpflege im Staate Massachusetts eingerichtet; seit einigen Jahren sind
400 Kranke des Seine-Departements in Dun sur Auron bei Bruges-Orleans unter Dr. Marie
in ähnlicher Weise wie in Gheel und Lierneux untergebracht. Nicht überall sind die
Erfahrungen gleich günstige gewesen, und man darf bei aller Anerkennung der erzielten
Erfolge die Erwartungen an die Erweiterungsfähigkeit dieser Verpflegungsform nicht zu
hoch spannen ; sie wird immer nur ein Nothbehelf bleiben, niemals ein Verpflegungs-System
werden, weil nur ein verhältnismässig geringer Theil von Kranken hierfür geeignet und
die für eine einwandsfreie Gestaltung der Familienpflege unerlässlichen Voraussetzungen
selten vorhanden sind.
Auch bei den agricolen Colonien ergaben sich trotz des äusserst wohl-
thätigen Einflusses, welchen deren freie Verhältnisse auf das geistige und
körperliche Wohlbefinden der Kranken ausübten, sehr bald eine Reihe von
Mängeln und UnvoUkommenheiten, welche deren weitere Ausdehnung ein-
schränkten. Es bestanden diese zunächst darin, dass durch ihre Entfernung
von der Mutteranstalt und durch den Mangel eines ständig stationirten Arztes
die Verwaltung und Controle erschwert war, dass in Folge dessen dem öko-
nomischen Verwalter grössere Selbständigkeit über die Beschäftigung der
Kranken eingeräumt werden musste, als ärztlich statthaft erschien, besonders
aber bestanden diese Mängel in dem Fehlen aller Einrichtungen zur Behand-
lung plötzlicher oder vorübergehender psychischer Veränderungen, was bei
der räumlichen Trennung von der Mutteranstalt Verlegenheiten bereitete. Es
konnten deshalb heilbare oder andere Kranke, welche noch einiger Ueber-
wachung oder ärztlicher Behandlung bedurften, auf solchen Colonien nicht
untergebracht werden, selbst wenn die Thätigkeit und Bewegung in deren
freien Verhältnissen noch so wohlthätig und wünschenswerth für sie gewesen
wäre. Es mussten erregbare Kranke, deren Rücktransport in die Mutter-
anstalten Unbequemlichkeiten verursacht hätte, von der Colonie ferngehalten
werden; kurz, es war die Auswahl der Kranken sehr beschränkt und die Vor-
züge der Colonien fast nur ruhigen, harmlosen, unheilbaren und wenigen Recon-
valescenten zugänglich.
In dieser Erkenntnis hatte schon Voppel für Czadras die Herstellung
eines Centralgebäudes — wenn auch erfolglos — angeregt und davon einen
grossen Vortheil für die Erweiterung der Auswahl der Kranken wie einen
Fortschritt in der Entwickelung der Colonie zu grösserer Selbständigkeit
erhofft.
Beinahe war die weitere Lebensfähigkeit der Colonien trotz des grossen
Fortschrittes, den sie in der freieren Gestaltung der Irrenpflege bildeten, in
Frage gestellt, als man der lebhaften Discussion über die Frage, ob Colonien
oder geschlossene Anstalten den Vorzug verdienten, in der preussischen Pro-
vinz Sachsen damit ein Ende machte, dass man hier in der Vereinigung der
Vorzüge beider zu einem neuen Anstaltssysteme einen glücklichen Ausweg
wählte. Es war Koeppe's Verdienst, dass er die nächste Stufe des Fort-
schrittes in der Entwickelung des Irrenwesens darin suchte, eine Verpflegungs-
form zu schaffen, welche die für eine bestimmte Kategorie von Kranken nicht
ganz zu entbehrenden sicheren Anstaltseinrichtungen mit den Vorzügen der
Colonien unter thunlichster Vermeidung der beiderseitigen Mängel vereinigte.
Dieses Ziel angestrebt und zuerst verwirklicht zu haben, bildet den haupt-
sächlichen Werth und das hauptsächlich Neue und Eigenartige in dem Alt-
Scherbitz'er Systeme der „colonialen Irrenanstalt", wie dasselbe
nach des Referenten Vorgange genannt wird.
Das Princip derselben beruht darin, auf dem Terrain eines grösseren Landgutes nach
den neuesten irrenärztlichen und bautechnischen Erfahrungen eine kleinere Centralanstalt
für diejenigen Kranken zu errichten, welche aus Eücksicht auf ihren geistigen oder körper-
lichen Zustand der vorübergehenden oder dauernden Ueberwachung oder Absonderung und
besonderen ärztlichen Behandlung bedürfen, und, räumhch getrennt von der Centralanstalt,
wenn auch in bequemer Nähe und mittelbarer Verbindung mit ihr, die Colonie in der Form
IRRENPFLEGE. 467
zu errichten, dass unter Anlehnung an das vorhandene oder zu errichtende Gutsgehöft
und unter Benutzung der vorhandenen Wohn-, Bauern- oder Arbeitshäuser eine Reihe ein-
facher Landhäuser nach dem Oft'en-Thür-System für diejenigen Kranicen hergestellt werden,
für welche nach der nöthigen Beobachtungszeit in der Centralanstalt aus ärztlichen oder
humanitären Rücksichten der Aufenthalt in den freien colonialen Verhältnissen für nützlich
oder möglich gehalten wird.
Mit einem Aufwände von einer Million Mark wurde das zwischen Halle und Leipzig
bei dem Städtchen Schkeuditz gelegene HOO Hektar grosse, durch landschaftliche und
andere reiche Vorzüge ausgestattete Rittergut Alt-Scherbitz 1875 von der Provinzial- Ver-
waltung angekauft und 1876 unter der Oberleitung des Directors von Nietleben, Koeppe,
mit dem Bau begonnen, nachdem Referent mit den ersten von dort entnommenen Kranken
schon vorher die vorhandenen Gutsgebäude bezogen hatte. Nach Fertigstellung der ersten
Anfänge der Centralanstalt starb Koeppe im Januar 1879, und es ging die Direction an den
Referenten über, welcher nach eigenen Plänen bis zum Jahre 1892 die Anstalt zu ihrer
jetzigen Ausdehnung erweiterte.
Das Neue und Eigenartige von Alt-Scherbitz besteht aber nicht blos in
der Art der Vereinigung einer grossen (bisher der grössten existirenden)
landwirthschaftlichen Colonie mit einer Central-Anstalt und in der grundsätz-
lichen, zum ersten Male auf dem Continent versuchten Durchführung des
Offen-Thür-Systems, das nach dem Z'eugniss schottischer Irrenärzte selbst die
dortige Ausdehnung desselben übertrifft, sondern auch in dem gleichfalls zum
ersten Male durchgeführten grundsätzlichen Verzichte auf Mauern und Gitter
und auf das bisher in Irrenanstalten ausschliesslich zur Anwendung gebrachte
Corridorsystem,, da dieses wegen seiner Unübersichtlichkeit die consequente
Durchführung der genannten freien Einrichtungen, welche die unerlässliche
Voraussetzung des neuen Anstaltssystems bilden mussten, zum Mindesten sehr
erschwert, und beeinträchtigt hätte.
An die Stelle der Corridorbauten, deren Typus auch die nach dem
Pavillonsystem errichteten Anstalten tragen, trat ein noch weiter zergliedertes
Pavillon- und Villensystem mit dem Grundrissprincipe der „Diele", welches
bei Gruppirung aller Ptäume um einen gemeinsamen Mittelraum eine ausser-
ordentlich übersichtliche Anordnung derselben bei grösstmöglicher Ausnützung
der Grundfläche und damit eine Verringerung der Baukosten ermöglicht, die
durch den Verzicht auf Mauern, Gitter, überdachte Verbindungsgänge und
alle specifischen Anstaltseinrichtungen in den colonialen Gebieten noch weiter
sich steigerte. Dadurch ist dieses System auch das billigste geworden, und
es haben sich die Kosten von Alt-Scherbitz trotz opulenter Ausstattung der
Gebäude einschliesslich des grossen Areals, das sich zu einem über die
normale Höhe hinausgehenden Betrage verzinst, erheblich niedriger gestellt,
als alle vor ihm aufgeführten Anstalten ausschliesslich eines solchen Land-
besitzes.
Die administrativen und ärztlichen Erfolge haben sich so ausserordent-
lich günstig gestaltet, dass Alt-Scherbitz mit seinem neuen System mass-
gebend geworden ist für die weitere Gestaltung der Irrenanstaltsbauten, und
dass seitdem die Sachverständigen aller Länder der Erde dieses System als
das nach den heutigen Begriffen vollkommenste, als das allein vorbildliche
und nachahmenswerthe Muster bezeichnet haben. Es sind nach demselben und
vorwiegend nach des Pteferenten Gutachten seitdem auf dem Continente er-
richtet worden Emmendingen-Baden, Gabersee-Bayern, Rybnik-Schlesien,
Dziekanka-Posen, Aplerbeck-Westphalen, Conradstein-Westpreussen, Unter-
göltzsch im Königreich Sachsen, Uchtspringe u. A.; die frühere agricole
Colonie Czadras ist durch Errichtung einer Centralanstalt zu einer colonialen
Anstalt erweitert und damit Voppel's Plan erfüllt worden, wenngleich das
-ZU erleben ihm nicht mehr beschieden war; in Langenhorn bei Hamburg wie
in Salzburg werden gegenwärtig coloniale Anstalten errichtet, für eine ganze
Reihe anderer Länder und Provinzen ist die Errichtung solcher Anstalten
für die nächste Zeit in Aussicht genommen. Da, w^o man neue Anstalten
nach der Lage der Verhältnisse niclit errichten konnte, hat man die vorhan-
30*
468 KINDESMORD.
denen durch Bau offener Pavillons und Villen wie durch Herstellung colo-
nialer Einrichtungen vielfach modernisirt. Es dürfte dieses System als das
denkbar vollkommenste für absehbare Zeit den Abschluss der Anstalts-Ent-
wickelung bilden.
Inder Behandlung der Geisteskranken bildet neben dem uner-
schöpflichen Borne, welchen die freien Einrichtungen und Verhältnisse der
colonialen Anstalten darstellen, die nach rein klinischen Grundsätzen geleitete
Bettbehandlung mit dem Principe ständiger Ueberwachung die wichtigste
Errungenschaft der modernen Therapie. Sie ist zuerst vor mehr als 3 De-
cennien von L. Meyek, später von Guislain, Beosius und Gudden, Scholz,
dem Pteferenten und Andern eingeführt, von dem letzteren die ersten ad hoc
errichteten Ueberwachungshäuser gebaut, nachdem vorher auch an anderen
Orten Ueberwachungs-Abtheilungen bereits in zu anderen Anstaltszwecken
gebauten Krankenabtheilungen eingerichtet worden waren. Unterstützt wird
die Bettbehandlung hauptsächlich durch Diät und sorgfältige Regulirung des
körperlichen Befindens (u. A. sorgsame Vermeidung von Obstipation durch
prophylaktische Darmeingiessungen), durch Bäder und narkotische Medika-
mente, deren massvolle Anwendung sich durchaus segensreich erwiesen hat.
Die staatliche Organisation der Irrenpflege erstreckt sich in
vielen Staaten leider nur auf die heilbaren und gemeingefährlichen unheil-
baren Geisteskranken, und auch für diese ist in vielen Ländern noch nicht
genügend Platz geschaffen. In Preussen haben nach dem Gesetze über die
ausserordentliche Armenlast vom 11. Juli 1891 alle überhaupt der Anstalts-
pflege bedürftigen Kranken, auch Epileptiker und Idioten Anspruch auf
Anstaltsversorgung. In den kleineren Staaten sind die Irrenanstalten direct
den Ministerien unterstellt, in den grösseren nach dem Grundsatze der Decen-
tralisation den einzelnen Landesregierungen, beziehungsweise Provinzial- und
Communal-Verwaltungen, während die klinischen Universitäts-Institute auch
hier von den Ministerien ressortiren. Die Privatanstalten unterstehen der
Aufsicht der Regierungen und Kreisphysiker, beziehungsweise Bezirksärzte.
Noch nicht zur Befriedigung gelöst ist leider die Frage der Unterbringung
der geisteskranken Verbrecher, welche meist noch den öffentlichen Irren-
anstalten zur Last fallen. Die Ansichten darüber schwanken zwischen der
Errichtung besonderer Abtheilungen für geisteskranke Verbrecher an den
Zuchthäusern oder an den Irrenanstalten oder der gemeinsamen Errichtung
besonderer Anstalten für dieselben durch Vereinigung mehrerer Provinzen
oder kleinerer Staaten. Von solchen Special-Asylen sind besonders Auborn
im Staate New- York und Broadmoor in England bekannt; im Anschlüsse an
Strafanstalten wurden Abtheilungen für geisteskranke Verbrecher 1865 in
Bruchsal-Baden, 1876 in Waldheim-Sachsen, 1888 in Moabit-Berlin eingerichtet.
PAETZ.
Kindesmord. Unter Kindesmord versteht man im strafrechtlichen
Sinne die absichtliche Tödtung eines Kindes durch die eigene Mutter während
oder gleich nach der Geburt. Es ist dabei vom Standpunkte des öster-
reichischen Strafgesetzes gleichgiltig, ob der Tod des Kindes infolge directer
Gewalteinwirkung oder aber infolge der Unterlassung des bei der Geburt
nöthigen Beistandes eintritt.
Object des Verbrechens ist das neugeborene oder auch das noch im
Mutterleibe befindliche Kind, sobald einmal der Geburtsakt begonnen hat.
Auch die Tödtung des Kindes kurze Zeit nach der Geburt gehört unter den
Begriff „Kindesmord", wobei das Gesetz entschieden auf die bei der Geburt
auftretende stärkere Gemüthsaufregung der Mutter Rücksicht genommen hat.
Aus demselben Grunde müssen auch jene Fälle als Kindesmord angesehen
werden, in denen zwar der Tod des Kindes erst nach Ablauf der etwaigen
KINDESMORD. 469
psychischen Erregung der Mutter eintritt, jedoch die Handlung, welche den
Tod bewirkt hat, noch während dieses Aufregungsstadiums gesetzt wurde.
Die bei Gebärenden und frisch Entbundenen sich zeigende psychische
Erregung weist wesentliche individuelle Schwankungen auf. In der Regel ist
dieselbe zu der Zeit, wo eine Untersuchung durch Gerichtsärzte erfolgt, bereits
vorüber, so dass diese aus anderweitigen Momenten sich ein Urtheil über eine
etwa vorhanden gewesene psychische Erregung der Entbundenen bilden müssen.
Dabei wird der psychische Zustand der Betreffenden zu anderer Zeit, der
Bildungsgrad, der Verlauf der Geburt, der allgemeine Körperzustand berück-
sichtigt werden müssen. Bei an und für sich nervösen Individuen wird durch
eine protahirte schwere Entbindung eine Steigerung der nervösen Erschei-
nungen sich einstellen können, w^ozu namentlich Schmerzen beim Geburtsakte
wesentlich beitragen können. Individuen aus der gebildeteren Volksklasse
mit ruhigem Temperament wird eher ein gewisser Grad von Selbstüberwindung
und Selbstbeherrschung zugemuthet werden können. Nun kommt aber bei
jenen Müttern, welche hauptsächlich das Contingent von Kindesmörderinnen
bilden, sehr oft auch noch hinzu, dass die Geburten verheimlicht werden,
also unter Umständen vor sich gehen, welche eine stärkere psychische Er-
regung fördern können, und man wird aus den Aussagen der Kindesmör-
derinnen zuweilen Details entnehmen können, die eine abnorme psychische
Erregung bei und nach der Geburt als möglich erscheinen lassen. Die Mög-
lichkeit, dass eine solche bestanden hatte, wird namentlich beim Zusammen-
treffen mehrerer der oben genannten Momente zugegeben werden müssen.
Die Angaben über Gemüthsaufregungen oder die laienhafte Vorstellung über
solche sind gewiss mit ein Hauptgrund, weshalb gar häufig Kindesmörderinnen
trotz der eingestandenen Absicht, das Kind durch ihre That zu tödten, von
den Geschworenen freigesprochen w^erden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass
in sehr vielen Fällen die Angaben von Kindesmörderinnen über ihren psy-
chischen Zustand bei und nach der Geburt nicht auf Wahrheit beruhen be-
ziehungsweise übertrieben sind, w^as insbesondere dann wird angenommen
werden können, wenn sowohl objective Zeichen an Mutter und Kind als auch
Angaben der Mutter selbst für einen normalen und leichten Verlauf der Ge-
burt sprechen.
Gerade beim Kindesmord gibt es Fragen, die zum Theil ausschliesslich
der Beurtheilung seitens des Arztes unterworfen sind, aber auch solche, deren
Beantwortung ärztliche Kenntnisse direct nicht erfordert, jedoch immerhin
Aufschlüsse seitens des Arztes in einem oder dem anderen Punkte wünschens-
werth erscheinen lässt. In derartigen Fällen kommt es auf den Nachweis ver-
schiedener Momente an, welcher haupsächlich nur durch die Section und durch
mit dieser zusammenhängende specielle Untersuchungen erbracht werden kann.
Nachdem es sich beim Kindesmord um eine Tödtung des Kindes während
oder gleich nach der Geburt handelt, so ist die erste Cardinalfrage, welche
mit Bestimmtheit fast ausschliesslich auf Grund objectiver Untersuchung
seitens des Arztes beantwortet werden kann, die nach dem Gelebthaben
des Kindes während und nach der Geburt. Es gibt zuweilen, wenn
das Verbrechen noch während des Lebens des Kindes, das etwa tödtliche
Verletzungen erlitten hat, entdeckt wird, Fälle, in denen allerdings durch
Zeugen bestätigt wird, dass das Kind gelebt hat. Namentlich das Schreien
oder Wimmern solcher Kinder, das zuweilen die That bald eruiren lässt,
bildet ja häufig die erste Ursache zu weiteren Nachforschungen. Dies zeigt
sich beispielsweise nicht selten in jenen Fällen, in denen Neugeborene, um
eine Sturzgeburt zu fingiren, in einen Abort geworfen w^erden. Es wird je-
doch in allen Fällen, in denen ein solches Kind nicht von Aerzten gesehen
worden ist, sich empfehlen, solchen Angaben nicht absolut Glauben zu
schenken, sondern mit allen uns zu Gebote stehenden Mitteln an der Leiche
470 KINDESMORD.
die nöthigen UntersuchuDgen vorzunehmen. Diese bestehen darin, dass man
die Lebensproben, die durch reichliche Erfahrung als forensisch verwertbar
erachtet worden sind, zur Anwendung bringt.
Natürlich wird man sich zunächst nach Möglichkeit darüber auszusprechen
haben, ob das Kind überhaupt lebensfähig war, da es ja auch vorkommen
kann, dass eine Mutter an einem nicht lebensfähigen Kinde eine Handlung
begeht, welche den Tod mindestens beschleunigt.
In diesem Sinne können wir aber nur solche Früchte als nicht lebens-
fähig bezeichnen, welche vermöge abnormer Entwicklung oder aber vermöge
des frühen Stadiums der Entwicklung, in welchem sie geboren wurden, über-
haupt nicht fähig waren, selbständig das Leben ausserhalb des Mutterleibes
fortzuführen.
Lü erster Hinsicht kommen Missbildungen in Betracht, bei denen sich ein
Mangel der Entwickelung oder eine Verbildung oder eine angeborene Erkran-
kung der zum Leben unumgänglich nothwendigen Organe findet. Das gerichts-
ärztliche Urtheil wird in solchen Fällen den Grad der Missbildung und die
Wichtigkeit der Organe, die daran betheiligt sind, zu berücksichtigen haben.
Die Erfahrung wird hier eine grosse Rolle spielen, indem namentlich, wenn
die Missbildung keinen hohen Grad aufweist, die subjective Anschauung des
Gerichtsarztes wesentlich in die Wagschale fällt. Wir würden in einem ge-
gebenen Falle, beispielsweise einen Hemicephalus, der lebend zur Welt ge-
kommen ist, ohne Zweifel als eine Frucht bezeichnen, die nicht fähig war, ihr
Leben ausserhalb des Mutterleibes selbständig fortzusetzen, trotzdem ja gerade
bei dieser Form ein mehrtägiges Leben der Frucht beobachtet worden ist.
Ueberhaupt dürfte in den meisten Fällen, in denen die Tödtung an einer so
missbildeten Frucht vorgenommen wird, das richterliche Urtheil dadurch
wesentlich gemildert werden.
Was das Alter der Frucht in seinem Verhältnisse zur Lebensfähigkeit
derselben betrifft, so ist zu bemerken, dass zwar gelegentlich schon von der 20.
Woche an Früchte lebend geboren werden, wenngleich sie sehr bald absterben.
Die Erfahrung zeigt jedoch, dass als im erwähnten Sinne lebensfähig eine
Frucht erst etwa von der 30. W^oche an angesehen werden kann. Zu dieser
Zeit beträgt die Körperlänge durchschnittlich 40cm. Wie grossen
Schwankungen nun Foeten hinsichtlich ihrer Länge in den verschiedenen
Entwickelungsstadien unterliegen, ist bekannt. Man darf also die Länge
einer Frucht nicht als allein für sich beweisendes Kriterium für ihr
Alter betrachten. In der Eegel kann man Früchte von einer Länge unter
40 cm als nicht lebensfähig bezeichnen, auch wenn sonstige Merkmale dafür
sprechen, dass sie die 30. Woche bereits erreicht haben.
Der Körperlänge kommt entschieden ein hoher Wert für die Altersbestimmung eines
Fötus zu. Dieselbe beträgt im achten Monate 39 — 41 cm. Die Frucht wiegt zu dieser
Zeit etwa 1570 ^r. Die Epidermis ist noch starkgeröthet, das Unterhautfettgewebe mangelhaft
entwickelt. Die Haut ist im Allgemeinen stark mit Wollhaaren bedeckt. Die Wollhaare
im Gesichte schwinden. Die Kopfhaare werden dunkler und sind durchschnittlich 1 cm
lang. Die Nägel sind etwas fester geworden, überragen aber noch nicht die Fingerspitzen.
Bei männlichen Kindern sind die Hoden meistens bereits aus dem Leistencanal ausgetreten
oder wenigstens im Durchpassiren begriffen. Bei weiblichen Kindern überragen die grossen
Labien noch nicht die Nymphen. Die Pupillarmembran ist entweder vollständig geschwunden
oder nur in Resten vorhanden. Das Gehirn besitzt berehs ausgebildete Windungen. Der
Dickdarm enthält reichliches dunkelgrünes Meconium.
Die Untersuchung eines Foetus hinsichtlich der bisher beschriebenen
Merkmale unterliegt im Allgemeinen keinen wesentlichen Schwierigkeiten.
Nur möchte ich, wenngleich dies Vielen überflüssig erscheinen mag, auf Grund
mehrjähriger Erfahrung, die mir beweist, dass hier zuweilen Fehler bei der
bezüglichen Untersuchung unterlaufen, die aber bei einiger Achtsamkeit leicht
umgangen werden können, einiges über die Längenbestimmung und über
die Untersuchung der Pupillarmembran erwähnen. ■
KINDESMORD. 471
Was zunächst die Bestimmung der Länge, bei der es ja manchrcal auf anscheinend
unbedeutende Differenzen ankommt, belrifft, so geht man am zweckmässigsten in der Weise
vor, dass man, bevor der Schädel eröffnet ist, die Frucht auf den Maasstab (Bandmaass
oder fester Maasstab) auflegt und dabei die Höhe des Scheitels analog dem Vorgange bei
der Längebestimmung bei Assentirungen bei dem etwaigen Mangel an Messvorrichtungen
durch Markirung der Senkrechten mittelst einer senkrecht zum Secirtische aufgestellten
Ebene (Tasse u. dergl.) feststellt und das eine Ende des Maasstabes genau entsprechend
dieser Ebene anlegt. Sodann misst man die Länge des Kindes vom Scheitel bis zur Planta
pedis. Ist die Todtenstarre entwickelt, so müssen etwa dadurch gebeugte Körpertheile vor
der Messung gestreckt, oder, wo dies mit Rücksicht auf besondere Umstände des Falles
nicht rathsam erscheint, ohne zu strecken, der Körper des Fötus partienweise mittelst
unmittelbarer Anlegung des Maassstabes an die einzelnen Körperabschnitte gemessen werden.
Noch sei bemerkt, dass unter Umständen besonders durch Extractions-
versuche die Frucht künstlich verlängert werden kann, wie dies gelegentlich
auch infolge von Selbsthilfe Gebärender vorkommen könnte.
Unter Berücksichtigung des in Rede stehenden Stadiums der Entwicklung
der Frucht könnte jedoch diese Eventualität nur bei einem durch einen
höheren Grad von Beckenenge der Mutter oder durch eine pathologische
Vergrösserung des kindlichen Schädels bedingten räumlichen Missverhältnisse
in Betracht kommen.
Die zweite Untersuchung, die Ungeübten zuweilen Schwierigkeiten macht,
ist die Untersuchung der Pupillarmembran.
Man schneidet zu diesem Behufe den enucleirten Bulbus im Aequator mit einem
Messer an, halbirt ihn mit einer Scheere unter Wasser. Die vordere Hälfte wird mit der
Cornea nach abwärts in eine Schale mit Wasser gelegt, die Sklera mit einer Pincette ge-
fasst und schrittweise die Iris mit der Pupillarmembran mittelst des Meisseis einer Meissel-
sonde oder mittelst des Griffes eines Skalpells von der Unterlage abgelöst. Die Anwen-
dung von Nadeln empfiehlt sich für minder Geübte bei dieser Procedur nicht, da, trotzdem
die Pupillarmembran eine ziemliche Resistenzfähigkeit besitzt, dieselbe sonst leicht ein-
reissen könnte.
Die freipräparirte Pupillarmembran wird mit einer Lupe oder mit schwacher Ver-
grösserung eines Mikroskopes untersucht und präsentirt sich als eine dünne Membran mit
radiär verlaufenden Blutgefässen.
Unter Umständen können die Weichtheile bereits in einer Weise ver-
ändert sein, welche die Eigenschaften derselben, die etwa zur Altersbestimmung
eines Fötus verwendet werden können, nicht mehr in ausreichender Weise
erkennen lassen. In solch einem Falle wird man gelegentlich genöthigt sein,
auch die Knochen in der genannten Richtung zu untersuchen. Es seien hier
auf Grund der bekannten, höchst wichtigen und wertvollen Angaben Toldt's
(in Maschka's Handbuch der gerichtl. Medicin, III. pag. 483 ff.) nur jene
Charaktere der Knochen angegeben, welche die letzteren gewöhnlich bereits
zur Zeit der 30. Woche deutlich ausgeprägt aufweisen.
Für unseren Zweck können wir an dieser Stelle die Grenzen ziemlich eng ziehen,
da es sich ja natürlich hier hauptsächlich um solche Merkmale handelt, die beweisen, dass
ein Fötus bereits die 30. Woche erreicht hat, somit um solche, die eben um diese Zeit
aufzutreten pflegen, wobei ich jedoch nur jene Momente hier anführen will, deren Ermitte-
lung leicht und ohne besondere Untersuchungsmethoden geschehen kann. Dahin gehört
der Befund einer deutlich ausgeprägten Rinne unmittelbar hinter dem Jochfortsatze,
welche sich in der Fuge zwischen dem grossen Keilbeinflügel und dem Stirnbein öffnet,
ferner das Vorhandensein von Zahnscherbchen für die zweiten Mahlzähne und die Glättung
der früher allenthalben faserigen Knochen des Schädeldaches an den Höckern des Stirn-
und Scheitelbeines.
Nicht selten kommen menschliche Früchte zur gerichtsärztlichen Unter-
suchuDg, die schon äusserlich Zeichen darbieten, welche darauf hindeuten,
dass die Frucht todtgeboren worden ist. Es sind dies Veränderungen,
deren erste Zeichen bereits w^enige Stunden nach dem Tode auftreten und
die hauptsächlich in einer Maceration der Gewebe sich kundgeben, ein
Vorgang, w^elcher als Necrose mit Verflüssigung ohne Ansiedelung von
Fäulnisbacterien anzusehen ist. Nach allgemeinem Sprachgebrauche nennt
man solche Früchte faultodt, todtfaul, macerirt, und namentlich in früherer
Zeit bezeichnete man sie mit dem Namen Foetus sangidnolentus. Diese
Bezeichnungen sind zum Theile unzweckmässig gewählt, insofern als man
472 KINDESMORD.
geneigt sein könnte, mit der Bezeichnung „faultodt" oder „todtfaul" fälschlicli
den Begriff wirklich vorhandener Fäulnis zu verknüpfen. Die Erfahrung
lehrt nämlich, dass derartige Früchte in der Mehrzahl der Fälle keine Fäulnis-
erscheinungen darbieten, ein Umstand, der besonders auch in dem Mangel
jeglichen Fäulnisgeruches seinen Ausdruck findet. Dies gilt auch für solche
während der Schwangerschaft abgestorbene Früchte, welche erst längere Zeit
nach dem intrauterin erfolgten Tode abgehen.
Wirkliche Fäulnis tritt innerhalb der geschlossenen Eihülle nicht ein,
sondern nur dann, wenn ein Luftzutritt in die Gebärmutter möglich war, was
beispielsweise der Fall sein kann, wenn der Tod intra partum eintritt, die
Geburt verzögert wird und infolge von gewissen Manipulationen Luft in die
Gebärmutter eintritt.
Wenn in höherem Grade macerirte Früchte zur Beobachtung kommen,
an denen Fäulnisveränderungen nicht vorhanden sind, so erscheinen die W^eich-
theile matsch. Die Epidermis ist in grossen Fetzen abgelöst oder leicht
abstreifbar. Das blossgelegte Cornum ist feucht und schlüpfrig und zeigt an
den der Oberhaut beraubten Stellen eine diffuse, ziemlich gleichmässige,
schmutzig-grauröthliche Farbe, erscheint dagegen an den noch von Epidermis
bedeckten Stellen häufig viel blässer, und zwar im allgemeinen umsomehr, je
länger die bereits abgestorbene Frucht im Mutterleibe zurückgehalten
worden war. Der Kopf ist meist in einen schlaffen, schlottrigen Sack um-
gewandelt, in welchem die Knochen des Schädeldaches, oft vollständig aus
ihren Nahtverbindungen gelöst, unregelmässig über- und durcheinander liegen.
Die Schädeldecken sind oft sulzig infiltrirt. Das Gehirn ist in einen grau-
röthlichen, mehr weniger zerfliesslichen Brei umgewandelt, an welchem von
einer Structur einzelner Gehirnabschnitte nichts mehr wahrzunehmen ist.
Ueberhaupt erscheinen die Weichtheile im Inneren blutig imbibirt, und selbst
die Knorpel besitzen eine rothe oder braunrothe Farbe. In der Pleura-, Pri-
cardial- und Peritonealhöhle finden sich meistens blutig seröse Transsudationen.
Die Nabelschnur ist blutig oder auch gallig imbibirt.
Diese Erscheinungen werden um so deutlicher ausgeprägt sein, je länger
die Frucht todt in der Gebärmutterhöhle lag. Bei weiter vorgeschrittener
Maceration lässt sich aber ein Rückschluss auf die Dauer, wie lange die
Frucht todt im Mutterleibe geblieben war, nicht ziehen.
Ist eine macerirte Frucht dem Einflüsse der atmosphärischen Luft aus-
gesetzt, so kann Fäulnis eintreten, mit deren Fortschreiten die Charaktere der
Frucht als einer macerirten immer mehr verschwinden können, so dass es
sehr gewagt wäre, aus der Maceration der Haut allein bei bereits- faulen
menschlichen Früchten einen Schluss auf Todtgeburt zu ziehen.
Noch sei bemerkt, dass gelegentlich auch irrthümlich Verwechselungen
vorgekommen sind, indem durch pathologische Processe bedingte Epidermis-
ablösungen als Macerationserscheinungen angesehen worden sind und umge-
kehrt. Bei genauer Erwägung des äusseren Befundes, eventuell bei gleichzei-
tiger Berücksichtigung des Befundes im Inneren des Körpers werden jedoch
solche Fehler leicht umgangen werden können.
Handelt es sich um intrauterin bei geschlossener Fruchtblase abge-
storbene Früchte, so können die Lungen ein verschiedenes Aussehen dar-
bieten, je nachdem sie eigentlich fötal, also durch Athmung noch gar nicht
verändert sind, oder aber, je nachdem prämortal Athembewegungen ausgeführt
wurden oder nicht. Im ersteren Falle erscheinen die Lungen sehr blass,
grauröthlich gefärbt, während dieselben in letzterem Falle je nach dem Blut-
gehalte eine mehr oder weniger dunkel violette Farbe zeigen.
An frischen Leichen kann der Geübte in der Regel schon äusserlich
lufthaltige Lungen oder Lungenpartien von atelektatischen unterscheiden, und
KINDESMORD. 473
dies um so mehr, je stärker der Luftgelialt ist. Anhaltspunkte hiefür bieten
uns das Volumen, die Farbe und die Consistenz des Organs.
Was zunächst das Volumen der Lungen anbelangt, so ist dasselbe um
so grösser, je vollständiger sie mit Lul't gefüllt sind. Dies sieht man am
besten au Lungen mit partieller Atelektase, in welchem Falle die lufthaltigen
Luügenabschnitte voluminöser sind, also an der Luugenoberfläche stärker
prominiren, während dem gegenüber die atelektatischen Lungenpartien wie
eingesunken, deren Oberfläche glatt erscheint. In je grösserer Menge in
solchen Fällen lufthaltige und atelektatische Lungenabschnitte alterniren, um
so unebener erscheint die Oberfläche des Organs. Das Aufblähen der luft-
haltigen Lunge bringt es auch mit sich, dass die Ränder derselben gegen-
über den unter sehr spitzem Winkel sich verjüngenden Rändern atelektati-
scher Lungen mehr weniger abgestumpft oder abgerundet erscheinen,
unter besonderen Verhältnissen könnten auch bei blosser äusserer Betrachtung der
Lungen atelektatische Herde mit Blutaustritten verwechselt werden, wie ich mich gelegent-
lich in einer üebungsstunde überzeugt habe. Ich demonstrirte u. a. die Lungen eines
neugeborenen, bald nach der Geburt verstorbenen Kindes. Als Todesursache fand man
Erstickung infolge von Verlegung der Bronchien durch Fruchtschleim. Die beiden Unter-
lappen waren vollständig atelektatisch und besassen eine dunkelblaue Farbe. Die übrigen
Lungenlappen waren zum grossen Theile lufthaltig; die Oberfläche derselben vielfach wie
gesprenkelt, in dem inmitten der hellen lufthaltigen Abschnitte kleine, oft kaum steck-
nadelkopfgrosse dunklere Herde in sehr grosser Zahl gefunden wurden. Einige der Theil-
nehmer, die diesen Befund deuten sollten, sahen diese Flecken für Ecchymosen an und
doch waren dieselben nichts anderes als kleinste atelektatische Herde, die man als solche
bei einiger üebung sehr leicht schon an ihrer ebenfalls dunkelblauen Farbe erkennen
konnte. Andererseits wurden bei derselben Gelegenheit und an demselben Präparate
wirkliche, Ecchymosen, die, allerdings in geringer Menge, an der Oberfläche der beiden
vollständig atelektatischen Unterlappen sich vorfanden, übersehen.
Die Farbe luftleerer Lungen hängt wesentlich vom Blutgehalt ab.
Eigentlich fötale Lungen sind anämisch und zeigen blasse Fleischfarbe.
Dieselbe Farbe besitzen auch luftleere Lungen, die nachträglich anämisch
geworden sind. Starb eine Frucht suffocatorisch und unter vorzeitigen Athem-
bewegungen, so ist die Farbe desto dunkler, je blutreicher die Lunge wurde.
Daher zeigen solche Lungen je nach den betreffenden Verhältnissen im Einzel-
falle eine violette bis dunkelblaue Farbe.
Mit dem Beginn des Luftathmens nehmen die Lungen eine hellrothe
Farbe an, die im allgemeinen desto ausgesprochener ist, je vollständiger die
Athmung war; der Grund dessen liegt einerseits in der Entfaltung der Alveolen,
andererseits in dem erhöhten Sauerstoffgehalte des Blutes. Die Farbe der
Lungen für sich allein kann aber niemals Aufschluss über deren etwaigen
Luftgehalt geben.
Von grosser Wichtigkeit ist das gleichmässge Verhalten der mit Luft
gefüllten Alveolen, welche in diesem Falle besonders bei Lupenvergrösserung
deutlich wie „Perlbläschen" hervortreten, ein Befund, der schon für sich allein
zeigt, dass die Luft nicht durch Fäulnis in die betreffenden Lungenpartien
hineingekommen ist. Dieselben präsentiren sich als dicht neben einander
liegende, kleine, hellrothe, kugelige Protuberanzen und entsprechenden durch
die eingedrungene Luft ausgedehnten Alveolen, zwischen denen ein dichtes
Netzwerk injicirter Gefässe verlauft, wodurch die Lungenoberfläche ein mar-
morirtes Aussehen bekommt.
Atelektatische Lungen haben eine gleichmässig derbe und zähe Con-
sistenz; am Durchschnitte entleeren sie schaumlose, seröse oder blutig
seröse Flüssigkeit. Durch Athmen lufthaltig gewordene Lungen fühlen sich
weich, elastisch an, knistern bei stärkerem Luftgehalte deutlich und entleeren
am Durchschnitte feinschaumige seröse Flüssigkeit. Bei sehr geringem Luft-
gehalte können die Luftblasen spärlich sein und infolge dessen übersehen
werden; in einem solchen Falle gelingt es eher, einzelne Luftblasen wahrzu-
nehmen, wenn man die Lungen unter Wasser einschneidet.
474 KINDESMOED.
Mit dem EindriDgen von Luft vermindert sich das specifische Ge-
wicht der Lungen. Darauf basirt die Lungen schwimm probe, welche
auch den Nachweis geringen Luftgehaltes ermöglicht und nach genauer ana-
tomischer Untersuchung der Lungen bei gerichtlichen Sectionen Neugeborener
stets vorzunehmen ist. Der Grad des Luftgehaltes und die Vertheilung der
Luft lässt sich nur dann richtig beurtheilen, wenn man schrittweise vorgeht,
zunächst die gesammten Hals- und Brustorgane, sodann jede Lunge für sich,
jeden einzelnen Lappen ins Wasser bringt und schliesslich jeden Lappen in
möglichst kleine Stücke mit der Scheere über Wasser zerschneidet und die-
selben gleich in's Wasser fallen lässt, wobei namentlich dann, wenn nicht
etwa sämmtliche Stückchen der einzelnen Lappen schwimmen, auf das Ver-
hältnis der lufthaltigen zu den luftleeren Lungenstückchen und auf den Sitz
der lufthaltigen Partien zu achten ist. Bei der Trennung der Lungen vom
Herzen ist auf den Inhalt der Bronchien Eücksicht zu nehmen.
Ergibt die Lungenschwimmprobe ein positives Resultat, so kann
es sich um Luft oder um andere gasförmige Körper handeln. Man wird daher
ausser spontaner Athmung auch andere Möglichkeiten, welche einen Luft-
resp. Gasgehalt der Lungen bedingen können, zu berücksichtigen haben,
nämlich künstliche Athmung und Fäulnis. Erst wenn man diese ausschliessen
kann, ist man berechtigt, spontane Athmung anzunehmen.
Für eine solche Entscheidung kommen zunächst die makroskopischen
Verhältnisse in Betracht. Faule Lungen zeigen je nach dem Grade der
Fäulnis eine mehr oder weniger bedeutende Missfärbung, bedingt durch die
bei der Fäulnis auftretenden Blutveränderungen. An der Oberfläche fauler
Lungen findet man verschieden grosse, subpleural gelagerte Fäulnisblasen, bei
weit vorgeschrittener Fäulnis auch im Innern der Lungen grössere und klei-
nere mit Fäulnisgasen erfüllte Hohlräume. Mit vorschreitender Fäulnis wird
das Lungengewebe immer zerreisslicher und macht sich ein deutlicher Fäul-
nisgeruch bemerkbar. Dagegen, dass etwa ein Luftgehalt blos von Fäulnis
herrührt, spräche der Befund von Perlbläschen, welcher auf einen gleich-
massigeren Luftgehalt der betreffenden Lungenpartien hindeutet, wie er
durch Fäulnis allein nicht zu Stande kommen kann; ein solcher Befund deutet
auf spontane oder künstliche Respiration hin, wobei noch zu bemerken ist,
dass namentlich beim kunstgerechten Lufteinblasen sich neben Perlbläschen
fast regelmässig auch grössere, theils isolirte, theils gruppenförmig beisammen
liegende subpleurale Luftblasen vorfinden (subpleurales Emphysem).
Finden sich an der Oberfläche der Lungen nur vereinzelte subpleurale
Gasblasen, so sticht man dieselben auf und prüft die Lungen hierauf neuer-
dings auf ihre Schwimmfähigkeit. Wenn dieselben nunmehr im Wasser
untersinken, so handelte es sich um Fäulnisblasen.
Faule Lungen lassen sich bei Vornahme der Lungenschwimmprobe auch dadurch
von durch Athmung lufthäiiig gewordenen Lungen differenziren, dass man auf die zunächst
schwimmenden kleinen Stückchen, in welche die einzelnen Lungenlappen zerschnitten
wurden, mit der Hand, eventuell zwischen einem Tuche einen massigen Druck ausübt.
Fäulnisgase entweichen auf diese Weise leicht, dagegen Luft, welche sich in den kleinen
Alveolen gleichmässig vertheilt befindet, nicht. Untersinken daher die betreffenden Lungen-
stückchen nach einem solchen massigen Drucke im Wasser, so kann man schliessen, dass
es sich um einen durch Fäulnis bedingten Gasgehalt gehandelt hat. Schwimmen die be-
treffenden Lungenstückchen auch nach erfolgtem Drucke, so kann man es ausschliessen,
dass etwa der Gasgehalt ausschliesslich von Fäulnis herrührt; es kann sich dann nur
um Lungen handeln, welche durch Athmung lufthaltig geworden sind, die aber nebstdem
allerdings auch schon in Fäulnis übergegangen sein können.
Kunstgerechte Wiederbelebungsversuche (Lufteinblasen, ScHULTZE'sche
Schwingungen) kommen in Fällen von Kindesmord kaum in Betracht; wenn
aber solche gelegentlich vorgenommen werden sollten, werden hierüber schon
die Erhebungen Aufschluss geben. Was speciell die Schultze' sehen Schwin-
gungen betrifft, so kann infolge derselben nur sehr wenig Luft in die
KINDEÖMORD. 475
Lungen todtgeborener Kinder eindringen; auch geschieht dies keineswegs
regelmässig. Bei nicht liunstgerechtem Lufteinblasen von Mund zu Mund
könnte Luft eher in die Verdauungswege als in die Luftwege eindringen.
Dass ein Kind Luft athmet, bevor noch der Kopf geboren ist, könnte
nur unter besonderen Verhältnissen geschehen, unter denen Luft in den
Uterus, bezw. zu den Respirationsöffnungen des Fötus gelangen könnte, wie
u. a. bei intrauterinen Manipulationen während der Geburt, bei Lagever-
änderungen des Körpers in Fällen von Atonie des Uterus.
Hat man gefrorene Leichen neugeborener Kinder zu untersuchen, so
muss man die Lungen, wenn auch sie vereist sind, vor der Vornahme der
Lungenschwimmprobe aufthauen lassen.
Aus einem negativen Eesultate der Lungenschwimmprobe erhellt zunächst
blos, dass die Lungen keine Luft enthalten; keineswegs darf man aber daraus
sofort auf eine Todtgeburt schliessen, da unter verschiedenen Verhältnissen
bei lebend geborenen Kindern der Eintritt von Luft in die Respirationswege
verhindert werden kann. Zunächst setzt ja die Respiration keineswegs in
allen Fällen unmittelbar nach der Geburt ein, namentlich bei noch nicht weit
vorgeschrittener Entwickelung der Früchte, indem beispielsweise abortirte,
selbst in einer Entwicklungsperiode, in welcher Respiration beobachtet wird,
lebend geborene Früchte häufig kurze Zeit nach der Geburt zu Grunde gehen,
ohne geathmet zu haben. Aber auch bei reifen oder nahezu reifen, lebend
geborenen Früchten kann sich der Eintritt der Respirationsbewegungen ver-
zögern, so insbesondere bei Hirndruck infolge von intrameningealen, durch
übermässige Compression des Kopfes bei der Geburt entstandenen Blut-
extravasaten.
Die Respiration von Luft kann ferner dadurch verhindert werden, dass
eine Frucht vollständig oder partiell von Eihäuten umgeben geboren wird,
insbesondere wenn die Respirationsöffnungen durch Eihäute verlegt sind,
ausserdem durch Aspiration grösserer Mengen von Fruchtwasser oder Meco-
nium infolge vorzeitiger Athembewegungen, sowie durch innere Erkrankungen,
welche die Ausdehnung der Lungen hindern.
Auch fremdartige äussere Einflüsse können die Einathmung von Luft
verhindern. Dies könnte beispielsweise geschehen, wenn ein Kind gleich
nach der Geburt, bevor es noch Luft geathmet hat, in eine Flüssigkeit
geräth.
Durch Athmen lufthaltig gewordene Lungen können gelegentlich selbst
bei geschlossener Brusthöhle wieder luftleer werden. So kann bei Sistirung
der Respiration und fortdauerndem Herzschlag Luft aus den Alveolen durch
das circulirende Blut absorbirt werden. Luft kann ferner infolge patho-
logischer Processe der Lungen aus diesen verdrängt werden. Bei fortschrei-
tender Leichenläulnis entwickeln sich Fäulnistranssudate in den Brustfell-
säcken; nehmen dieselben einen grossen Theil der letzteren ein, so können
sie die Lungen comprimiren und auf diese Weise etwa in nicht zu grosser
Menge angesammelte Luft verdrängen.
Man darf somit aus einem negativen Resultate der Lungenschwimmprobe
nicht unbedingt auf Todtgeburt schliessen, wird dann aber aus dem objectiven
Befunde auch keinen Anhaltspunkt gewinnen dafür, dass das betreffende Kind
lebend geboren wurde.
In anderen Fällen wiederum kann man trotz negativen Resultates der
Lungenschwimmprobe mit Sicherheit auf ein extrauterines Gelebthaben eines
Kindes schliessen, insbesondere dann, wenn die Luftw^ege, eventuell auch die
Verdauungswege weit hinab von fremdartigen aspirirten Massen erfüllt sind,
oder wenn sich in der Umgebung etwaiger Verletzungen vitale Reactions-
erscheinungen zeigen, oder endlich mit einer gewissen Einschränkung, wenn
der Magen und ein Theil des Darmes sich lufthaltig erweist.
476 KINDESMORD.
Demgemäss kommt unter Umständen auch der BRESLAu'schen Ma g en-
darm sc li wimmprobe eine hohe Bedeutung als Lebensprobe bei Neu-
geborenen zu. Dieselbe wird zweckmässig in der Weise vorgenommen, dass
man zunächst den Magen vorsichtig herausnimmt und seine Schwimmfähigkeit
im Wasser prüft; sodann wird der Magen aufgeschnitten und bei der Unter-
suchung seines Inhaltes auch auf etwaige Anwesenheit kleinerer, dem Magen-
inhalte anhaftender Luftbläschen geachtet. Hierauf durchschneidet man das
unterste Ileum ganz nahe oberhalb der BAUHiN'schen Klappe, fasst das durch-
trennte obere Ende mit einer Pincette, präparirt nun den ganzen Dünndarm
mit einer Scheere vom Mesenterium ab und prüft diesen Theil des Ver-
dauungstractus wiederum auf seine Schwimmfähigkeit; in gleicher Weise ver-
fährt man schliesslich mit dem Dickdarme.
Die Abpräparirung des Darmes vom Mesenterium hat insbesondere den
Zweck, zu eruiren, welche Abschnitte des Darmes lufthaltig sind, wie tief
etwa die Luft in den Darm eingedrungen ist.
Dass wenig Luft auch erst postmortal in den Magen eines Neugeborenen hinein-
gelangen kann, unterliegt keinem Zweifel. Findet sich aber der Magen von Luft stark
aufgebläht und erweist sich auch ein Theil des Dünndarmes oder gar der grösste Theil
des Darmes lufthaltig, so lässt sich ein postmortales Eingedrungensein der Luft entschieden
ausschliessen.
Zuweilen kommt es vor, dass der obere und untere Theil des Darmes im Wasser
untersinkt, während ein mittlerer Theil schwimmt. Dies könnte man sich daraus erklären,
dass durch einen zufällig auf den Unterleib der Kindesleiche ausgeübten Druck Luft aua
den oberen Darmpartien in tiefere verdrängt worden ist. Es muss deshalb bei der Vor-
nahme der Magendarmsch wimmprobe darauf geachtet werden, dass die einzelnen Abschnitte
des Verdauungstractus bei ihrer Herausnahme keinen irgendwie bedeutenderen Druck er-
fahren; denn durch diesen könnte etwa vorhandene Luft nicht bloss verschoben, sondern
gelegentlich auch vollständig ausgepresst werden.
Natürlich wird speciell die Verwertung des Resultates der Magendarm-
schwimmprobe für die Entscheidung der Frage des Gelebthabens eines Kindes
nach der Geburt durch Fäulnis eine wesentliche Beeinträchtigung erfahren,
da dann eine Unterscheidung zwischen Luft und Fäulnisgasen bei der Ob-
duction unthunlich erscheint.
Erfahrungsgemäss findet insbesondere in jenen Fällen, in denen ein Hin-
dernis für das Eindringen von Luft in die Respirationswege besteht, ein star-
ker Eintritt von Luft in die Verdauungswege hinein statt, weshalb eben unter
besonderen Verhältnissen das positive Resultat der Magendarmschwimmprobe
bei vollständiger Luftleere der Lungen für sich allein den Beweis liefern kann,
dass ein Kind lebend geboren wurde.
Gegebenenfalls wird zu berücksichtigen sein, dass ebenso wie in die
Respirationsorgane in Ausnahmsfällen auch in die Verdauungswege einer
Frucht noch innerhalb der Gebärmutter Luft durch Verschlucken hinein-
gerathen kann.
Da es zum Begrifie des Kindesmordes gehört, dass die absichtliche Töd-
tung des Kindes durch die eigene Mutter während oder gleich nach der Geburt
erfolge, so muss weiterhin nach Möglichkeit die Dauer des Lebens des
Kindes nach der Geburt wenigstens approximativ bestimmt werden. Es
werden somit jene Merkmale besondere Berücksichtigung finden müssen, welche
im allgemeinen für den neugeborenen Zustand des Kindes sprechen.
Die Hautdecken erscheinen bei Neugeborenen in der Regel mit Blut
beschmutzt, und es wird insbesondere das Fehlen von Verletzungen am Kindes-
körper, welche etwa die Quelle für eine Beschmutzung der Körperoberfläche
mit Blut abgeben könnten, dafür sprechen, dass das Blut von der Geburt
herrührt. An der Körperoberfläche Neugeborener findet sich ferner eine bald
geringe, bald bedeutende Menge von Vernix caseosa, insbesondere u. a. in
den Achselhöhlen, in den Inguinalfalten, in den Kniekehlen.
KINDESMORD. 477
Das Vorhandensein dieser äusseren Kennzeichen des neugeborenen Zu-
standes hängt natürlich hauptsächlich auch von der Pflege, welche dem Kinde
nach der Geburt zu Theil geworden ist, ab und speciell davon, ob und wie
sorgfältig das Kind nach der Geburt gereinigt wurde. Die Möglichkeit, dass
eine Mutter ihr neugeborenes Kind sorgfältig reinigt, bevor sie es unter dem
Einflüsse eines durch die Geburt bedingten Aufregungszustandes tödtet, dürfte,
wenn überhaupt, so doch wohl nur in seltenen Ausnahmsfällen und unter
ganz besonderen Verhältnissen zugegeben werden.
Einen beiläufigen Schluss auf die Dauer des Lebens eines Kindes nach
der Geburt gestattet ferner die Beschaffenheit der Nabelschnur. Steht die
Nabelschnur mit der Placenta und mit der Frucht noch in festem Zusammen-
hange, so spricht dies für den neugeborenen Zustand. Unter gewöhnlichen
Verhältnissen beginnt, falls die Nabelschnur nach der Geburt durchtrennt
worden ist, die Vertrocknung des dem Kinde anhaftenden Nabelschnurrestes
bereits am zweiten Tage. Wurde eine solche Vertrocknung nicht etwa durch
einen besonders hohen Feuchtigkeitsgehalt des den Kindeskörper umgebenden
Mediums verhindert oder verzögert, so lässt sich aus der frischen, feuchten
Beschaffenheit eines mit dem Nabel des Kindes fest zusammenhängenden
Nabelschnurrestes ebenfalls der neugeborene Zustand erschliessen. Erscheint
der Nabelschnurrest vertrocknet, so spricht dies nicht unbedingt dagegen,
dass das Kind ein neugeborenes ist, da eine Vertrocknung der Nabelschnur
unter günstigen Verhältnissen auch erst an der Leiche erfolgen kann.
Nach einigen Tagen fällt unter normalen Verhältnissen der am Kindes-
körper haftende Nabelschnurrest einfach ab. Fehlt daher die Nabelschnur an
einem Kindeskörper, so wäre bloss noch darauf zu achten, ob der Defect
nicht etwa darauf zurückzuführen ist, dass die Nabelschnur am Nabel heraus-
gerissen wurde, worüber gegebenenfalls eine sorgfältige Untersuchung des
Nabels und der Nabelgefässe Aufschluss geben könnte.
Vollständig atelektatische Lungen sprechen, wenn ein postmortales Ver-
drängtwerden etwa in den Lungen vorhanden gewesener Luft nicht anzuneh-
men ist und sich nicht aus anderweitigen Befunden bei der Obduction das
Gelebthaben des Kindes nach der Geburt erschliessen lässt, für Todtgeburt
oder für ganz kurz dauerndes extrauterines Leben. Partielle Lungenatelek-
tase schliesst ein längeres Gelebthaben nach der Geburt nicht aus; vollständiger
und gleichmässiger Luftgehalt der Lungen spricht nicht unbedingt für ein
länger dauerndes extrauterines Leben, da schon wenige kräftige Ptespirationen
genügen können, um einen vollständigen Luftgehalt der Lungen herbeizu-
führen.
Luftgehalt des Magens und des ganzen Darmes oder wenigstens des
grössten Theiles desselben sprechen, sobald künstliche Respiration und Fäul-
nis ausgeschlossen werden können, gegen den Tod des Kindes gleich oder
kurze Zeit nach der Geburt.
Der Mageninhalt besteht bei neugeborenen Kindern, bevor dieselben
Nahrung bekommen haben, aus ziemlich zähem, grauem Schleime.
Die Anwesenheit von Meconium im Darme spricht für den neugeborenen
Zustand; dasselbe wird in der Regel im Laufe des ersten Tages entleert;
unter besonderen Verhältnissen, so insbesondere bei Asphyxie, kann jedoch
Meconium auch schon während der Geburt entleert werden, so dass man aus
dem Mangel von Meconium im Darme nicht etwa unbedingt auf ein längeres
Gelebthaben des Kindes nach der Geburt schliessen darf. Meconium ist als
solches keineswegs regelmässig durch blosse makroskopische Untersuchung
zu erkennen, namentlich wenn es eine auffallend helle, bräunliche Farbe
besitzt; dann kann gelegentlich zum Nachweise von Meconium der mikro-
skopische Nachweis nothwendig werden.
478 KINDESMORD.
Unter Umständen kann aus der Beschaffenlieit etwaiger Blutextravasate
im Kindeskörper ein beiläufiger Schluss auf das Alter desselben und daher
auch auf die beiläufige Dauer des extrauterinen Lebens des Kindes gezogen
werden.
Hier zu Lande werden fast alle aufgefundenen Leichen menschlicher
Früchte gerichtlich obducirt. Der Gerichtsarzt muss sich, wie überhaupt bei allen
gerichtsärztlichen Untersuchungen so insbesondere auch bei Obductionen von
Kindesleichen hüten, mit einer gewissen Voreingenommenheit an die Unter-
suchungen heranzutreten und darf nicht etwa im Eifer glauben, überall eine
strafbare Handlung aufdecken zu müssen. Speciell mit Rücksicht auf die
Gefahren, welchen der kindliche Organismus erfahrungsgemäss sehr häufig vor
und während der Geburt unterworfen ist, muss in allen Fällen von vorne-
herein die Möglichkeit eines natürlichen Todes bei der Bestimmung der Todes-
ursache in Erwägung gezogen werden. Allerdings zeigt sich in sehr vielen
Fällen bei der Obduction bald ein objectiver Befund, welcher für einen ge-
waltsamen Tod spricht.
Die natürliche Ursache des intrauterinen Todes einer menschlichen Frucht
kann in Erkrankungen der Mutter, sowie in Erkrankungen des Fötus be-
ziehungsweise der Placenta gelegen sein. Von Erkrankungen der Mutter
wären zu nennen acute Infectionskrankheiten, ferner chronische, mit hoch-
gradigen Circulationsstörungen und Ernährungsstörungen einhergehende Er-
krankungen, insbesondere syphilitische Allgemeininfection, nervöse Zustände,
Erkrankungen der Geschlechtsorgane, pathologische Processe, welche eine
stärkere Raumbeengung des mütterlichen Beckens bewirken. Von abnormen
Veränderungen an der Frucht und ihren Anhängen, sowie an der Placenta
könnten insbesondere Degenerationsvorgänge und Missbildungen der Frucht
und ihrer Hüllen, Torsionen und Knotenbildungen höheren Grades an der
Nabelschnur, sowie Hämorrhagien in der Placenta den intrauterinen Tod der
Frucht bewirken.
Nebstdem können Traumen, welche zufällig den Unterleib von Schwan-
geren treffen, wie beispielsweise Sturz, Schlag oder Stoss gegen den Unter-
leib u. dergl, die Frucht intrauterin zum Absterben bringen. Dabei können
einerseits tödtliche Weichtheilverletzungen, andererseits aber auch tödtliche
Knochenverletzungen entstehen.
Intrauterin abgestorbene Früchte gehen in der Regel spontan nicht so-
fort, sondern erst nach einiger Zeit, zuweilen nach vielen Wochen ab und
werden während dieser Zeit entweder mumificirt oder, was häufiger der Fall
ist, macerirt.
Auch mit den Gefahren, welche dem Kinde während der Geburt
drohen, haben wir bei der gerichtsärztlichen Untersuchung von Kindesleichen
zu rechnen und dies umsomehr in jenen Fällen, in denen die Geburt nicht
von einem Arzte oder einer Hebamme kunstgerecht geleitet wurde, sondern
wo die betreffende Frauensperson allein, vielleicht heimlich geboren hat, und
in denen daher eine Gefahr für das Leben des Kindes nicht rechtzeitig durch
kunstgerechtes Eingreifen abgewendet werden konnte. Darin liegt offenbar der
Grund dafür, dass bei heimlichen Geburten gewiss nicht selten die Kinder
aus natürlicher Ursache während der Geburt zu Grunde gehen.
Der Tod des Kindes kann während der Geburt zunächst infolge vor-
zeitiger Unterbrechung der Placentarrespiration eintreten.
Während des intrauterinen Lebens wird die Ernährung der Frucht durch
Zufuhr von Sauerstoff aus dem mütterlichen Organismus auf dem Wege der
Circulation unter Vermittelung der Placenta bewerkstelligt. Diese Placentar-
respiration kann nun einerseits durch Lösung des Zusammenhanges der Pla-
centa mit der Innenfläche der Gebärmutter, andererseits durch Verschluss der
KINDESMORD. 479
Blutgefässe des mütterlichen Uterus oder der Nabelgefässe des Kindes bei
Dehnung oder Compression der Nabelschnur unterbrochen werden.
Bei vorzeitiger Lösung der Placenta verringert sich die Zufuhr von
Sauerstoff zum Fötus, und zwar in dem Maasse, als eine immer grössere
P'läche des Mutterkuchens sich ablöst und für die Respiration des Fötus un-
brauchbar wird. Die Placentarrespiration wird durch eine energische Wehen-
thätigkeit immer mehr beeinträchtigt, kann unzureichend werden und
schliesslich vollständig sistiren, indem durch die Wehen ein immer grösserer
Theil der Placenta abgelöst werden kann.
Bei jeder Wehe contrahirt sich die Gebärmutter, wobei deren Blutgefässe
temporär comprimirt werden. Da nun der Körper des Fötus gegen Sauer-
stoffarmuth eine gewisse, nicht unbedeutende Widerstandsfähigkeit besitzt, so
wird das Leben desselben durch eine kurz dauernde Compression der Uterus-
gefässe, me sie bei normaler Wehenthätigkeit erfolgt, nicht gefährdet. Handelt
es sich jedoch um einen lang anhaltenden Contractionszustand und wieder-
holen sich die Contractionen rasch, so kann, wie beispielsweise bei Tetanus
uteri, die Placentarrespiration so lange unterbrochen w^erden, dass das Kind
mittlerweile vor Wiederherstellung der Circulation intrauterin abstirbt. Es er-
folgt unter solchen Verhältnissen im Körper des Fötus eine Ueberladung des
Blutes mit Kohlensäure; dadurch wird das Athmungscentrum erregt, und das
Kind aspirirt bei den vorzeitigen Athembewegungen Fruchtwasser, oft auch
Blut und Meconium; infolge der gleichzeitigen Entwicklung des Lungen-
kreislaufes werden die Lungen sehr blutreich. Das Kind wird unter solchen
Verhältnissen asphyktisch und geht, falls sich die Geburt verzögert, an fötaler
Erstickung zu Grunde. In den Bronchien findet sich Fruchtwasser, dessen
charakteristische Bestandtheile durch mikroskopische Untersuchung nachzu-
weisen sind.
Eine weitere Gefahr droht gelegentlich dem Leben der Frucht während
der Geburt aus dem Drucke, welchen der Kopf seitens der Geburts-
wege der Mutter erfährt. Einem massigen Drucke ist der Kopf des
Kindes schon unter normalen Verhältnissen ausgesetzt; der Kopf wird dabei
vorübergehend verkleinert, die Cerebrospinalüüssigkeit wird verdrängt, die
Form des Schädels verändert. Der geringste Effect dieses Druckes ist eine
Verschiebung der einzelnen durch Interstitialmembranen mit einander in Ver-
bindung stehenden Schädelknochen über einander. Diese Modellirung des
kindlichen Kopfes erfolgt typisch in der Weise, dass die beiden Stirnbeine
und das Hinterhauptbein unter die Scheitelbeine und die Scheitelbeine ent-
sprechend der Sagittalnaht gegen einander verschoben werden. Der Grad der
Verschieblichkeit der einzelnen Schädelknochen gegen einander ist je nach
den individuellen Verhältnissen im concreten Falle verschieden und hängt von
der Breite der Interstitialmembranen ab, insoferne als sich mit der Breite der
letzteren die Modellirungsfähigkeit des Kopfes steigert.
Je w^eiter die Frucht in ihrer Entwicklung bereits vorgeschritten ist, und
je protrahirter die Geburt verlauft, um so mehr werden die bedeckenden Weich-
theile des Kopfes gequetscht und gezerrt. Daraus resultiren kleinere und
grössere Blutaustritte unter den w^eichen Schädeldecken, die Kopfgeschwulst,
sowie das Cephalhämatom.
Eine nicht allzu bedeutende Compression des Kopfes verträgt der Kopf des Kindes
in der Regel anstandslos. Bei übermässiger Compression leidet jedoch auch das Gehirn
unter dem auf dasselbe einwirkenden Drucke, namentlich wenn derselbe lange andauert.
Sind dabei die Interstitialmembranen breit und können daher insbesondere die Scheitelbeine
stark gegeneinander verschoben werden, so werden die am Scheitelrande der beiden Gross-
hirnhemisphären von den weichen Hirnhäuten zur harten Hirnhaut ziehenden Venen ge-
zerrt, ja selbst zerissen, woraus dann mehr weniger bedeutende intermeningeale Blutungen
resultiren können, die dann für sich Hirndruck bewirken oder aber einen bereits beste-
henden Hirndruck wesentlich erhöhen können. Selten kommen bei der Compression des
kindlichen Kopfes während der Geburt Zerreissungen der Blutleiter der harten Hirnhaut
480 KINDESMORD.
za Stande. Durch den Hirndruck können vorzeitige Athembewegungen ausgelöst werden
und es kann der Tod durch fötale Erstickung eintreten.
Genügt die gegenseitige Verschiebung der einzelnen Schädelknochen nicht, um einen
durch räumliche "Verhältnisse gesetzten Widerstand zu überwinden, dann können einerseits
bedeutende Formenveränderungen, andererseits ausnahmsweise selbst Continuitätstrennungen
des kindlichen Schädels durch Druck seitens der Geburtswege der Mutter bewirkt werden.
Namentlich kann dies dann geschehen, wenn, sei es durch Beckenenge der Mutter, sei es
durch abnorme Grösse des kindlichen Schädels ein räumliches Missverhältnis geschaffen ist.
Formveränderungen des kindlichen Schädels können insbesondere durch das Promon-
torium oder durch die Symphyse, seltener durch pathologische Knochenvorsprünge an der
Innenfläche des mütterlichen Beckens bewirkt werden. Natürlich ist es hiezu nothwendig,.
dass die Schädelknochen einem äusseren Drucke relativ leicht nachgeben, in welcher Rich-
tung sich jedoch entsprechend der Structur im einzelnen Falle grosse Differenzen ergeben
können, indem das eine Mal schon durch mittleren Fingerdruck Eindrücke an den Schädel-
knochen erzeugt werden können, das andere Mal die Schädelknochen selbst bei sehr starkem
Drucke von aussen nicht nachgeben.
An nachgiebigen Schädelknochen können durch Druck seitens der ge-
nannten Stellen des mütterlichen Beckens Impressionen entstehen. Die-
selben haben ihren Sitz in der Regel an einem Scheitel- oder Stirnbeine, gele-
gentlich auch noch an einer entgegengesetzten Stelle, wenn gleichzeitig von
Promontorium und Symphyse ein stärkerer Druck auf den Kopf des Kindes
ausgeübt wird. Die Impressionen bilden das eine Mal mehr der Fläche nach
ausgebreitete, allmählich abfallende, seichtere Vertiefungen (löffeiförmige Im-
pressionen), das andere Mal schroff abfallende Vertiefungen mit tiefem, am
Querschnitte spitzwinkeligem Grunde (rinnen- oder trichterförmige Im-
pressionen) und sind häufig mit Fissuren in ihrem Bereiche oder an anderen
Stellen des Schädels vergesellschaftet.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass analoge Impressionen auch durch
nach der Geburt einwirkende äussere Gewalten, beispielsweise durch Sturz,
Stoss und Schlag, zu Stande kommen können; ergeben sich jedoch aus dem
objectiven Befunde keine anderweitigen Anhaltspunkte, welche für eine Ent-
stehung der Impressionen nach der Geburt sprechen, wie äussere Verletzungen,
Zertrümmerungen des Schädels, Verletzungen an anderen Körperstellen, so
wird man die Möglichkeit der Entstehung der Impressionen während der Ge-
burt in Betracht zu ziehen haben und dabei nach Möglichkeit die Angaben
über den Geburtsverlauf und das Grössenverhältnis zwischen dem mütter-
lichen Becken und dem kindlichen Kopf beziehungsweise den Grad der Ent-
wickelung der Kopfgeschwulst berücksichtigen müssen.
Impressionen bei kindlichen Schädeln können sich bald wieder aus-
gleichen und setzen oft gar keine Krankheitssymptome; nur selten werden
sie durch gleichzeitige Ruptur grösserer Blutgefässe zur Todesursache.
Sind die Schädelknochen sehr fest, so gelingt es nicht, durch äusseren
Fingerdruck Impressionen an ihnen zu erzeugen, ebensowenig können aber
solche dann durch blossen Druck seitens der Geburtswege der Mutter bei
spontanen Geburten entstehen. Dagegen können in derartigen Fällen bei
spontanen Geburten ausnahmsweise Continuitätstrennungen der Schädel-
knochen, welche in der Regel bloss einfache Fissuren des Stirn- oder Scheitel-
beins sowie der Orbita darstellen, entstehen. Meist ist dies nur bei be-
deutendem räumlichem Missverhältnisse zwischen mütterlichem Becken und kind-
lichem Kopfe der Fall, doch wurde ein solcher Befund auch schon bei nor-
malem räumlichem Verhältnisse in einem Falle von Tetanus uteri constatirt.
Derartige Fissuren verlaufen parallel zu den Ossificationsstrahlen.
In solchen Fällen wird man zu untersuchen haben, ob sich etwa Zeichen
vorfinden, welche nicht so sehr auf eine einmalige plötzliche Gewalteinwir-
kung, als vielmehr auf einen längere Zeit anhaltenden Druck hin-
weisen.
Der natürliche Tod tritt bei Kindern bald nach der Geburt nicht
selten infolge sogenannter angeborener Lebensschwäche {Debüitas
KINDESMORD. 481
ritae congenita) ein. Diese wird man bei dem Mangel einer anderweitigen
nachweisbaren Todesursache namentlich dann annehmen müssen, wenn es sich
um vorzeitig geborene, jedoch lebensfähige oder selbst um nahezu reife, je-
doch sehr schwach entwickelte Früchte handelt; es können dann eben die
lebenswichtigen Organe nicht in einer zum Leben nöthigen Weise func-
tioniren.
Nach der Geburt kann ein Kind ohne Absicht und ohne Ver-
schulden der Mutter gewaltsam ums Leben kommen. Eines der häu-
figeren Vorkommnisse, bei denen dies geschehen kann, bildet die Sturz-
geburt (vergl. S. 299). In solchen Fällen kann eine Gefahr für das Leben
des Kindes einerseits aus den Verletzungen, welche dasselbe, namentlich wenn
der Sturz aus bedeutender Höhe und mit grosser Gewalt erfolgt, erleidet, so-
wie aus der dabei vorkommenden Durchreissung der Nabelschnur erwachsen.
Hochgradige Verletzungen des Kindes könnten besonders bei sehr bedeutender
Fallhöhe und beim Sturz auf eine harte, unebene Unterlage zu Stande kommen. Kament-
lich Schädelfracturen und Impressionen der Schädelknochen könnte dann eine hohe
forensische Bedeutung zukommen, insoferne als derartige Verletzungen sich objectiv in
keiner Richtung von auf andere Weise etwa absichtlich durch stumpfe Gewalt entstandenen
Verletzungen zu unterscheiden brauchen. Nur wenn es sich um weitgehende multiple
Fracturen oder Zertrümmerungen des Schädels handelt, dürfte die Möglichkeit der Entste-
hung derselben bei einer Sturzgeburt nur unter besonderen günstigen Verhältnissen als
möglich zugegeben werden.
Die Nabelschnur kann bei der »Sturzgeburt ein verschiedenes Ver-
halten zeigen. Zunächst kann die Nabelschnur unverletzt bleiben, wenn die
Sturzgeburt unter Verhältnissen erfolgt, unter denen dieselbe keine über-
mässige Zerrung und Dehnung erfährt, sowie in Fällen, in denen bei der
Sturzgeburt die Placenta mit herausgerissen wird. "Wird dagegen die Nabel-
schnur stark gedehnt und gezerrt, so kann sie infolge der plötzlichen Wirkung
des Gewichtes des Kindeskörpers zerreissen. Die Zerreissung erfolgt in der
Regel entfernt von der Insertionsstelle der Nabelschnur am Nabel; die Riss-
enden sind unregelmässig, fetzig, die Gefässe reissen meistens in ungleicher
Höhe.
Eine bei einer Sturzgeburt zerrissene Nabelschnur unterscheidet sich
objectiv nicht von einer solchen, welche von der Mutter mit den Händen
zerrissen wurde.
Die Entscheidung, ob eine Nabelschnur durchrissen oder durchschnitten
wurde, ermöglicht in der Regel die Untersuchung der Durchtrennungsstellen.
Die Trennungsflächen einer durchschnittenen Nabelschnur sind quer oder
schräg, dabei glatt und eben. Wurde die Durchschneidung mit einem stumpfen
oder schartigen Werkzeuge vorgenommen, so können die Ränder der Tren-
nungsflächen in massigem Grade fetzig sein. Wurde die Nabelschnur in
irgend einer Weise durchrissen, so erscheinen die Trennungsflächen unregel-
mässig, fetzig, die einzelnen Bestandtheile der Nabelschnur nicht in einer
und derselben Ebene durchtrennt.
Ist der am Kinde befindliche Rest der Nabelschnur eingetrocknet, so
muss derselbe zunächst vor der Untersuchung in Wasser aufgeweicht werden.
Gelegentlich muss auch die Möglichkeit nachträglich entweder ab-
sichtlich gesetzter oder zufällig zu Stande gekommener Veränderungen am
peripheren Ende eines Nabel schnurrestes in Erwägung gezogen werden.
Einerseits kann es geschehen, dass das periphere Ende des Restes einer
durchrissenen Nabelschnur nachträglich mit einem scharfen Instrumente durch-
schnitten wird, man sonach eine glatte und ebene Trennungsfläche findet,
trotzdem die Nabelschnur ursprünglich durchrissen wurde. Andererseits kann
eine ursprünglich glatte, ebene Trennungsfläche durch vorschreitende Fäulnis
ein unregelmässiges, zerfetztes Aussehen bekommen, oder aber auch dadurch,
dass die Nabelschnur von Thieren, beispielsweise von Ratten, angefressen
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 31
482 KINDESMORD.
wird; diese Möglichkeit wird man aber nur dann zu erwägen haben, wenn
sich auch sonst noch am Kindeskörper andere von Thierbissen herrührende
Verletzungen vorfinden.
In den meisten Fällen, in denen Kindesleichen zur gerichtsärztlichen
Untersuchung kommen, ist die durch trennte Nabelschnur nicht
unterbunden. Trotzdem erfolgt nur selten eine schwerere, geschweige
denn tödtliche Blutung aus der Nabelschnur. Eine solche kann begünstigt
werden durch abnorme Kürze des am Kinde haftenden Nabelschnurrestes,
durch die Art der Durchtrennung der Nabelschnur, indem eher aus einer
durchschnittenen Nabelschnur eine stärkere Blutung erfolgt, sowie durch einen
hohen Blutdruck in den Nabelgefässen, wie ein solcher namentlich dann be-
obachtet wird, w^enn der Lungenkreislauf beispielsweise bei asphyktisch ge-
borenen Kindern nicht zur normalen Entfaltung kommt.
Eine Gefahr kann für das Kind bei der Sturzgeburt auch daraus er-
wachsen, dass dasselbe beim Sturze in eine Flüssigkeit fällt und darin erstickt.
Der Gerichtsarzt wird auf Grund seiner Untersuchung nicht etwa fest-
stellen können, dass thatsächlich eine Sturzgeburt stattgefunden hat; seine
Aufgabe wird vielmehr darin gelegen sein, nach Möglichkeit zu entscheiden,
ob es sich in einem concreten Falle um eine Sturzgeburt gehandelt haben
konnte. Was in dieser Beziehung die Befunde am Kinde betrifft, so könnte
man es bei stark entwickelter Kopfgeschwulst ausschliessen, dass etwa das
ganze Kind plötzlich aus der Mutter hervorgestürzt ist, dagegen müsste in
einem solchen Falle die Möglichkeit, dass die Austreibungsperiode sehr rasch
verlaufen ist, zugegeben werden. An der Mutter können bei einer Sturzgeburt
ausgebreitete Zerreissungen des Perineums, Atonie des Uterus, Prolaps und
Inversion des Uterus vorkommen, und es könnten derartige Befunde die
Glaubwürdigkeit spontaner Angaben der Mutter über eine überstandene
Sturzgeburt erhöhen.
Was die einzelnen Arten des Kindesmordes betrifft, so kehren
manche mit besonderer Häufigkeit immer wieder.
Unter den häufigeren Arten des Kindesmordes sind zunächst zu er-
wähnen Tödtung durch heftige Schläge gegen den Kopf mit stumpfen Gewalten,
wodurch multiple Fracturen und selbst vollständige Zertrümmerungen des
Schädels entstehen können. Bei der Untersuchung derartiger Fälle wird der
Gerichtsarzt natürlich zunächst zu entscheiden haben, ob es sich um intravital
oder postmortal entstandene Verletzungen handelt. Namentlich an faulen
Kindesleichen oder an solchen, welche längere Zeit im Wasser gelegen sind,
kann eine derartige Entscheidung gelegentlich ganz unmöglich werden, so
dass in vielen Fällen durch die Untersuchung nicht mehr festgestellt werden
kann, ob ein Verbrechen vorliegt oder nicht. Bei einfachen Knochensprüngen
wäre die Möglichkeit der Entstehung während der Geburt in Betracht zu
ziehen.
Gelegentlich könnten, wie dies thatsächlich bereits des Oefteren vorge-
kommen ist, angeborene Defecte der Kopfhaut und der Schädelknochen mit
post partum entstandenon Verletzungen verwechselt werden.
Congenitale Hautdefecte können isolirt ohne jede andere Defect-
bildung am Körper vorkommen, haben ihren Sitz hauptsächlich in der behaarten
Kopfliaut, seltener im Gesichte, sind kreisrund oder unregelmässig begrenzt,
können einzeln oder multipel vorkommen und verschieden gross erscheinen.
Auch am behaarten Kopfe sind solche Hautdefecte haarlos; in unmittelbarer
Nachbarschaft der Defecte findet man auch bei einem bereits reifen Kinde in
einer verschieden breiten Zone nur ganz kurze Flaumhaare. Der Rand der
congenitalen Hautdefecte ist glatt und abgerundet und steigt allmählich zum
Niveau der umgebenden normalen Haut auf. An der Leiche kann die Be-
stätigung, dass es sich im concreten Falle um einen angeborenen Hautdefect
KINDESMOPJ). 483
handelt, durch mikroskopische Untersuchung geliefert werden; immerhin ist
die richtige Deutung eines solchen Befundes bei genauer Untersuchung schon
mit freiem Auge möglich.
Angeborene 8paltbildungen und Ossificationsdefecte an
Schädelknochen sind ebenfalls bereits mit Verletzungen verwechselt worden.
Die Spaltbildungen sind an den verschiedenen Schädelknochen randständig,
stellenweise symmetrisch, relativ kurz und oft in grosser Zahl vorhanden.
Die Ränder dieser Spalten sind glatt und abgerundet, die Knochenliicken
mit membranartigen Gebilden ausgefüllt. Ferner kommen namentlich an den
Scheitelbeinen und Stirnbeinen rundliche oder unregelmässig begrenzte Ossi-
ficationsdefecte vor, welche ebenfalls von membranartigen Gebilden aus-
gefüllt sind und in deren Umgebung die Knochen anfallend dünn und durch-
scheinend zu sein pflegen. Zuweilen zeigt sich eine mangelhafte Ossification
blos in der dünnen Beschaffenheit umschriebener Partien der Schädelknochen,
ohne dass wirkliche Lücken im Knochen vorhanden sind.
Finden sich an einem Schädel mit mangelhafter Ossification Verletzungen,
so ist zu bedenken, dass ein solcher Schädel gegen stumpfe Gewalten weniger
widerstandsfähig ist als ein normaler.
Von sonstigen durch stumpfe Gewalt entstehenden Verletzungen, die
gelegentlich bei Kindesmord die Todesursache bilden können, wären noch
Rupturen innnerer Organe, insbesondere Rupturen der Leber und Milz
zu nennen. Doch könnten speciell Milzrupturen durch Gewalteinwirkungen,
wie Stösse und Schläge, kaum isolirt entstehen, ohne dass in der Bauchhöhle
sich noch andere Zeichen einer stattgehabten Gewalteinwirkung fänden. Uebri-
gens können derartige Rupturen auch durch Manualhilfe bei der Geburt zu
Stande kommen. Sollte in einem concreten Falle ein Zweifel obwalten, ob
eine Ruptur der genannten Organe intravital oder, wie dies gelegentlich
ebenfalls geschehen kann, postmortal entstanden ist, und ob dieselbe den Tod
bewirkt hat, so müsste man den Grad der Blutung in die freie Bauchhöhle
und den Blutgehalt des ganzen Körpers berücksichtigen.
Ferner werden Kindesmorde häufig durch gewaltsame Erstickung
in verschiedener Weise ausgeübt.
Beim Bedecken mit weichen Gegenständen (Betten, Tüchern
u. dergl.) oder Einhüllen in solche braucht man äusserlich gar keine
Zeichen einer Gewalteinwirkung zu finden.
In anderen Fällen, so beim Zuhalten von Mund und Xase mit der
Hand, sowie beim Erwürgen und Erdrosseln finden sich äussere Druck-
spuren, welche in den erstgenannten Fällen im Gesichte oder am Halse die
charakteristische Bogenform von Fingernägeln wiedergeben können. Beim
Erwürgen Neugeborener kann man, falls dasselbe durch Umfassen des ganzen
Halses mit der Hand erfolgte, Druckspuren in Form von Abschindungen der
Haut in der ganzen Circumferenz des Halses finden. In den tieferen Schichten
des Halses constatirt man in solchen Fällen mehr oder weniger ausgebreitete
Blutungen, doch ist es von Wichtigkeit zu wissen, dass solche Blutungen
gelegentlich auch als blosser Effect eines spontanen Geburtsactes vorkommen
können. Dies gilt nicht nur von den durch Torsion des Halses zu Stande
kommenden Blutungen in den Kopfnickern (Haematoma musculi sternocleido-
mastoidei), sondern auch von Blutungen in anderen oberflächlichen und tieferen
Halsmuskeln. Dass derartige Blutungen durch directen Druck von aussen
entstanden sind, wird man nur dann annehmen können, wenn an der corre-
spondirenden Stelle einerseits an der äusseren Haut Druckspuren, andererseits
auch im Unterhautzellgewebe Blutaustritte sich vorfinden.
Bei der Frage, ob gewisse Verletzungen am kindlichen Körper etwa
durch Selbsthilfe entstanden sein können, wird man die näheren Umstände
im concreten Falle in Betracht ziehen, namentlich etwaige Anzeichen, welche
31*
484 KLEIDUNG.
für einen leichten oder schweren Verlauf der Geburt sprechen, zu eruiren
trachten müssen. Dass durch rohe und unzweckmässige Selbsthilfe bei der
Geburt gelegentlich selbst ein Kind getödtet werden könnte, kann nicht absolut
ausgeschlossen werden.
Neugeborene Kinder werden auch zuweilen durch Verstopfen des
Bachens mit der Hand oder mit irgend welchen Fremdkörpern getödtet.
In beiden Fällen können Zerreissungen der hinteren oder einer seitlichen
Rachenwand entstehen; erfolgt die Verstopfung des Rachens durch Einführung
fremdartiger Gegenstände, so können sich Reste derselben in der Mund- oder
Rachenhöhle finden.
Auch absichtliche Unterlassung des bei derGeburtnöthigen
Beistandes seitens der Mutter wird im Falle consecutiven Todes des Kindes
als Kindesmord bezeichnet. Dahin gehört die Unterlassung der Unterbindung
der Nabelschnur, Unterlassung der Beseitigung von Respirationshindernissen,
das Nichtbeschützen des Kindes vor äusseren Schädlichkeiten, das Verhungern-
lassen des Kindes. Ob es sich dabei um eine böse Absicht gehandelt hat,
dürfte meist nur aus den Erhebungen sich erschliessen lassen. Das Gegen-
theil d. i. der Ausschluss der Absicht könnte gelegentlich, so beispielsweise
in manchen Fällen von mangelhafter Unterbindung der Nabelschnur auf Grund
des objectiven Befundes möglich sein. p. ditteich.
Kleidung. Um den Körper gegen zu starke Wärmeabgabe zu schützen,
umgeben sich die Menschen, je nach den klimatischen Verhältnissen, unter
denen sie leben, mit mehr oder weniger Kleidung. Zur Kleidung werden
gewöhnlich Stoffe verwendet, welche porös, d. h. zwischen den einzelnen Fasern
mit Zwischenräumen versehen sind; also Gewebe aus vegetabilischen Fasern,
Haaren von Thieren oder Seidenfäden. Nur die Leder- und Gummistoffe sind
ungewebt und dienen hauptsächlich dazu, um einzelne Körpertheile gegen
Nässe zu schützen. Zu den aus vegetabilischen Fasern hergestellten Kleider-
stoffen gehören: Baumwolle, Leinen, Hanf und Jute. Von thierischen Pro-
ducten stammen Wolle und Seide. In neuerer Zeit werden auch häufig ge-
mischte Gewebe zu Kleiderstoffen verarbeitet, besonders erwähnenswert ist
hiervon die Kunst- oder Lumpenwolle (Mungo, Shoddy), welche durch Ver-
mischen neuer Schafwolle mit zerkleinerten Wolllumpen hergestellt wird.
Die erste hygienische Aufgabe nun, die die Kleidung zu erfüllen hat, ist
die Herabsetzung der Wärmeabgabe des Körpers. Bei trocke-
ner Kleidung kommt dieselbe zunächst zu Stande durch die Herabsetzung
der Ausstrahlung. Obwohl nämlich das Strahlungsvermögen der Kleider durch
directe Messungen sogar als etwas grösser als das der Haut festgestellt
worden ist, ist die Wärmeausstrahlung vom bekleideten Körper geringer als
von dem nackten, da ersterer an seiner Oberfläche durchschnittlich nur eine
Temperatur von 21*^ hat. Rabner hat die Wärmeabgabe in den verschie-
denen Schichten der Kleidung bestimmt und dafür folgende Werte gefunden :
für die Haut des unbekleideten Körpers 27—32°,
für die Haut des bekleideten, thätigen Körpers 29—31''.
Bei voller Ruhe, resp. Schlaf oder bei einer Aussentemperatur, die 24*^
übersteigt: 34— 35°.
Bei Bekleidung mit Wollhemd an der Aussenseite desselben: 28'5^.
Bei Bekleidung mit Wollhemd und Leinenhemd an der Aussenseite des
letzteren: 24-8''.
Bei Bekleidung mit Wollhemd, Leinenhemd und Weste an der Aussen-
seite: 22-9^
Bei Bekleidung mit Wollhemd, Leinenhemd, Weste und Rock an der
Aussenseite: 19'4".
KLEIDÜNG. 485
Hieraus ist ersichtlich, dass die Anpassung an klimatische und Witte-
rungsverhältnisse am besten durch eine zweckentsprechende Zahl der Kleidungs-
schichten erfolgt.
Der zweite Factor, der bei der Wärmeabgabe durch die Kleidung in
Frage kommt, ist die schlechte Wärmeleitung derselben. Hauptsächlich ist
es der Luftgehalt des Gewebes und dessen Dicke und viel weniger die Wärme-
leitung des Stoffes selbst, die dabei in Betracht kommt. Das schlechteste
Leitungsvermögen besitzt die Wolle. Die. Luft, gleich 100 gesetzt, beträgt
sie für Wolle 122, für Seide 135, für Baumwolle 188 und für Leinen 287.
Sie nimmt also mit dem grösseren Luftgehalt, resp. mit dem niedrigeren spe-
eifischen Gewichte des Stoffes ab. Auch der leichtere oder schwerere Durch-
tritt der Luft spielt dabei eine Bolle, d. h. je grösser die Poren und also
auch der Luftgehalt, desto schlechter die Wärmeleitung, Dabei ist jedoch
zu beachten, dass ein gewisser Luftwechsel durch die Kleidung hindurch
nothwendig ist, indem eine schwer durchlässige Kleidung Unbehagen verur-
sacht. Bei gleichbleibendem Luftgehalt der Kleidung ist es allein die Dicke
der Stoffe, welche für die Wärmeabgabe in Frage kommt. Die Wirkung der
feuchten Kleidung auf die Wärmeabgabe gestaltet sich wesentlich anders.
Die Feuchtigkeit selbst beruht entweder auf dem nur äusserlich anhaftenden,
die Poren jedoch nicht füllenden, also hygroskopischen Wasser, oder sie be-
steht aus dem flüssigen, in den Poren selbst befindlichen Wasser. Letzteres
kann entweder von aussen in die Kleidung gelangt sein, durch Niederschläge,
oder vom Körper selbst durch eingedrungenen Schweiss, oder endlich, wie
in feuchten Wohnungen z. B. durch condensirten Wasserdampf. Lästig kann
die feuchte Kleidung durch Erhöhung des Gewichtes werden, indem die
baumwollenen oder wollenen Stoffe das Dreifache ihres Gewichts an Wasser
aufzunehmen im Stande sind. Die Wärmeleitung ist bei den feuchten Kleidern
eine erheblich bessere und infolge dessen wird die Wärmeabgabe durch sie
befördert. Die schnelle Absorption des Wassers und die damit verbundene
Verdrängung der Luft aus den Poren, ebenso auch wie die Verdunstung des
Wassers wirken abkühlend. Das in dieser Beziehung für den Menschen am
vortheilhafteste Verhalten zeigt die Wolle; obwohl diese nämlich fähig ist,
die relativ grösste Menge Wasser aufzunehmen, bleiben bei ihr doch die Poren
des Gewebes theilweise lufthaltig und die Nässe wird weniger unangenehm
dadurch empfunden, dass infolge dessen die erhöhte Wärmeabgabe sich nur
allmählich vollzieht. Für Schweiss ist die Wolle durchgängig, im Gegensatz
zu Leinen oder Baumwolle, welche denselben zurückhalten.
Haben wir so gesehen, dass die Kleidung als ersten hygienischen Zweck
die Herabsetzung der Wärmeabgabe hatte, so soll sie zweitens die Wasser-
dampfabgabe des Körpers reguliren. Der Mensch wird durch die Kleidung
in eine trockene Atmosphäre eingehüllt, die sich aber nur dann erhalten kann,
wenn die Kleidung für Luft durchgängig ist, so dass ein regelrechter Luft-
wechsel vor sich gehen kann. W^as nun diese Durchlässigkeit betrifft, so
zeigt im trockenen Zustande die sogenannte Reformbaumwolle das günstigste
Verhalten, während Leinwand z. B. nur sehr wenig durchlässig ist. Dieses
Verhältnis tritt im durchnässten Zustande noch deutlicher hervor; ausser
der Reformbaumwolle und der sogenannten JlGER'schen Normalwolle sind alle
übrigen durchfeuchteten Stoffe fast ganz undurchlässig. Daraus geht hervor,
dass z. B. Leinen oder gewöhnliche Baumwolle nur dann als zweckmässige
Bedeckung des Körpers angesehen werden können, wenn die Haut infolge
einer nur geringen Wasserdampfproduction trocken l3leibt, wie dies z. B. bei
der Bettruhe der Fall ist.
Der dritte hygienische Zweck der Kleidung ist der, dass sie die directe
Bestrahlung des Körpers hindern soll. Hierbei kommt nun hauptsächlich
die Farbe der Bekleidung in Betracht. Je heller die Kleidung, desto geringer
486 KÖRPERÜBÜNG.
das Absorptionsvermögen und desto besser also der Schutz gegen die directen
Wärmestrahlen. Zu erwähnen hierbei sind vielleicht noch die gegen die
Strahlung von Flammen hergerichteten Stoffe, wie die Asbestkleidungsstücke
oder die sogen, imprägnirten Stoffe, d. h, solche, welche gegen die Verbren-
nung mit Ammoniumphosphat, Ammoniumsulfat oder mit Bleiessig oder
Wasserglas oder andern, die schnelle Entzündbarkeit der Stoffe verhindernden
Mitteln getränkt sind.
Sind dies nun die positiven Anforderungen, die wir an eine hygie-
nisch zweckmässige Kleidung zu stellen haben, so bleiben noch gewisse Dinge
übrig, die als schädlich in der Kleidung vermieden werden müssen. Zunächst
ist darauf zu achten, dass die zum Färben der Kleider benutzten Farben un-
giftig sind. Besonders gelten Arsenik, Blei und Kupfer als schädlich. Je
poröser ferner die Stoffe sind, um so leichter geben sie durch Aufnahme von
Staub und Hautsecreten zu üblen Gerüchen Veranlassung, besonders bei durch-
nässter Kleidung können Zersetzungsprocesse stattfinden. Nur eine häufige
Reinigung der Kleider kann gegen diese Uebelstände schützen. Was den
Bacteriengehalt der Kleidung und besonders die Uebertragung von Infections-
erregern durch dieselbe betrifft, so ist ersterer umso grösser, je rauher die
Oberfläche des Stoffes ist; leinene und baumwollene Stoffe sind am ärmsten
an Bacterien. Letztere, d. h. die Uebertragung von Krankheitserregern, wie
besonders diejenigen des Typhus, der Cholera und der Diphtherie durch
Kleider, besonders Leib- und Bettwäsche, wird häufig beobachtet und kann
nur durch mit gründlichem Kochen verbundenes Waschen der betreffenden
Sachen vermieden werden. Schliesslich sei noch hingewiesen auf die Schäd-
lichkeiten, welche durch den fehlerhaften Sitz verschiedener Kleidungsstücke
hervorgerufen werden können. Enge Halsbekleidung, unzweckmässiges Schuh-
werk, Strumpfbänder und Corsets sind hygienisch durchaus verwerflich und
die Kleidung in dieser Beziehung einer vernünftigen Reform dringend be-
dürftig. M. ELSNER.
KÖrperÜbuny. Die Uebung beruht auf der allgemeinen Eigenschaft
der lebendigen Zellen, durch Reize in ihrem Lebensprocess erregt und ge-
steigert zu werden, wobei sie die hierfür erforderlichen Stoffe abgeben, dis-
sociiren, sodann aber in höherem Maasse Ersatzstoffe anziehen und sich aneignen,
assimiliren. Uebersteigt der Stoffverbrauch den gleichzeitigen Ersatz, so tritt
Ermüdung ein; Erholung erfolgt in dem Maasse, wie das Verbrauchte ersetzt
wird, Kräftigung in dem Maasse, wie die Assimilation die Dissociation übersteigt.
Uebung ist die häufige Wiederholung dieser Vorgänge und tritt ein, wenn
die Thätigkeit nicht über massige Grade der Ermüdung fortgesetzt wird und
aus dem Blute und weiter aus der Nahrung genügende Ersatzstoffe geliefert,
die zersetzten Bestandtheile, Ermüdungsstoffe, aber rasch genug fortgeschafft
werden. Dieser von der Anziehungskraft der Zellen zunächst abhängige Er-
satz, ebenso wie die P'ortschaffung der Ermüdungsstoffe wird begünstigt durch
eine vom Nervensystem angeregte Erweiterung der zuführenden Arterien und
vermehrte Herzthätigkeit. Fehlen Ersatz und Abfuhr oder finden sie nicht
in genügendem Maasse statt, so geht die Ermüdung in Erschöpfung über, die
andauernd bleiben oder allmählich ausgeglichen werden kann.
Beispiele von Vervollkommnung durch Uebung zeigen uns ganz hervorragend die
Sinnesorgane, und zwar sowohl in quantitativer wie in qualitativer Beziehung: die Wahr-
nehmung und Unterscheidung von Gerüchen und Geschmacken übertrifft vielfach die
feinsten chemischen Reactionen (Weinprüfung, Tabak etc.); das Auge lernt die kleinsten
Verschiedenheiten der Farben, Formen, Entfernungen und Bewegungen, das Ohr die leisesten
Geräusche wie die feinsten Tonunterschiede auffassen, und die Sinneswahrnehmungen der
Haut lassen sich ebenfalls zu hoher Vollkommenheit ausbilden, wie unter der Leitung der
Sinneswahrnehmungen das Schreiben und Zeichnen, viele Handfertigkeiten, besonders bei
Ausübung der Musik, die Sprach- und Stimmwerkzeuge beim Sprechen und Singen
KÖRPERÜßUNG. 487
Leistungen bieten, die nur in Folge der Gewöhnung aufliören, höchst wunderbar zu er-
scheinen.
In Folge der Uebung werden einerseits die Sinneswahrnehmungen schneller, schärfer
und vollkommener aufgefasst, andererseits die Bewegungsantriebe rascher auf die moto-
rischen Bahnen übergeführt und die Muskeln zu rascheren oder langsameren, kurz- oder
langdauernden, kräftigen oder schwachen, steil- oder langsam an- und abschwellenden oder
in mehr oder weniger raschem Wechsel sich wiederholenden Zusammenziehungen ver-
anlasst.
Die Kraft der Muskeln hängt zunächst von der Zahl und Dicke ihrer
Fasern ab, ihre Straftheit in der Ruhe, ihr Tonus, ihre Festigkeit, Härte und
Leistungsfähigkeit in der Arbeit sind Folgen der durch gute Ernährung
gebildeten Spannkräfte und der unter Nerveneinfluss durch Oxydation von
Kohlenstoft' (und Wasserstoff) erzeugten lebendigen Kraft. Durch Uebung
nimmt der Muskel an Masse, Festigkeit und Spannkraft zu, die durch Nerven-
einfluss jeden Augenblick in lebendige Kraft umgesetzt werden kann. Da
aber Kraft und Schnelligkeit, Beginn und. Aufhören der Zusammenziehung
von den nervösen Bewegungscentren beherrscht werden, so ist jede Muskel-
übuDg zugleich eine Uebung dieser, in denen nicht nur die Bahnen von den
corticalen zu den subcorticalen Centren so zu sagen ausgeschliffen, sondern
auch die Spannkraft der Nerven vermehrt, ihr Zusammenwirken mit ein-
ander wie ihre Herrschaft über die Muskeln gesichert wird.
Der Ausschlag, also die sichtbare Wirkung einer Muskelverkürz ang, hängt zum Theil
von der Länge seiner Fasern ab, die sich um so mehr verkürzen können, je länger sie
sind; zum Theil von der Art ihrer Befestigung an den zu bewegenden Theilen, die vielfach
als Hebel wirken; endlich auch von dem Bau der Gelenke, deren Knochenenden mehr
oder weniger verschieblich an einander liegen, bald durch Knochenhemmung fest beschränkt,
bald durcli Gelenkkapseln und Bänder mehr oder weniger straff verbunden. Saftreichthum
der Bänder nebst einer gewissen Fülle der Synovia vergrössert ohne Zweifel die Leichtigkeit
und Breite der Bewegungen : in der Jugend grösser, wird sie im Alter geringer, kann aber
durch Uebung erhalten, wiederhergestellt und vergrössert werden, wobei auch die Elasti-
cität und Festigkeit der Gelenkbänder zunehmen können. Der grösste Theil von dem, was
man Gelenkigkeit zu nennen pflegt, kommt indessen der Verkürzungsfähigkeit und Elasti-
cität der Muskeln zu, die in der verschiedensten Weise um die Gelenke geordnet, mit
einer gewissen Spannung die Knochenstellungen beherrschen und durch, das Zusammen-
wirken der Antagonisten den Bewegungen Maass und Ziel geben.
Endlich wird durcli die Muskelarbeit auch die Ernährung der Knochen in gewissem
Grade beeinflusst, indem sie durch Uebung stärker und widerstandskräftiger werden.
Die Wirkung der Muskelarbeit geht indessen weit über die zunächst
betheiligten Werkzeuge der Bewegung hinaus; und zwar nicht blos dadurch,
dass zur Feststellung der Ausgangspunkte jeder Bewegung, z. B. der Schulter
bei Armbewegungen, des Beckens und. des Rumpfes bei Beinbewegungen, wie
zur Erhaltung der Körperstellung, des Gleichgewichtes u. s. w. vielfach noch
entfernte Muskelgruppen in Thätigkeit treten müssen, sondern auch dadurch,
dass die Muskelarbeit zahlreiche andere Thätigkeiten des Organismus erregt.
Die Muskelarbeit zieht einerseits Erweiterung der Arterien ihres Gebietes und
dadurch gesteigerten Blutzufluss, andererseits durch wechselnde Zusammendrückung der
Venen, Lymphgefässe und intercellularen Safträume erleichterten Abfluss nach sich, wo-
durch die Zufuhr von Nahrungs- und Brennstoffen und von Sauerstoff ebenso wie die
Abfuhr der Zersetzungs- und Ermüdungsstoffe erleichtert wird. Die Veränderungen im
Kreislaufe und in der Innervation bringen gesteigerte Herz- und Athmungsthätigkeit mit
sich, wodurch Kräftigung und Vergrösserung dieser Organe erzeugt wird; ausgiebige Athem-
bewegungen erleichtern und fördern den Blutrückfiuss, ganz, besonders aus dem Kopfe,
dem Unterleib und den unteren Gliedmaassen. Die gesteigerte Verbrennung von Fett
und Zucker zur Erzeugung der Bewegungskräfte bildet einen Wärmeüberschuss, der durch
Haut und Lunge abzugeben ist; die hiermit verbundene Wasserverdunstung fordert ebenso
wie der Stoffverbrauch in den Muskeln Ersatz, zu dessen Beschaffung Hunger und Durst
anregen und die Verdauungsorgane in erhöhte Thätigkeit treten müssen. Kurz der gesammte
Stoffwechsel erfährt eine der Muskelarbeit mit ihren Folgen entsprechende Steigerung, die
nicht mit der Muskelthätigkeit erlischt, sondern zur Ausgleichung der Ermüdung und zu
vermehrter Bildung von Muskelmasse und Spannkräften sie mehr oder weniger lange
überdauert. In Folge der hiermit verbundenen Vorgänge erzeugt der muskelkräftige
Körper andauernd mehr Wärme, wie die wärmere Haut und das gesteigerte Wärmegefühl
anzeigen, vermag Wärmeverluste besser zu ertragen und vielen feindlichen Einflüssen besser
zu widerstehen, als der muskelschwache, und schon heute darf man als höchst wahrscheinhch
488 KÖRPERÜBÜNG.
bezeichnen, dass in weiterer Folge auch die organischen Schutz- und Abwehrstoffe, die
Phagocythen und Alexine in grösserer Menge und Wirksamkeit gebildet werden.
Vermehrter Saftzufluss und Stoffwechsel in den arbeitenden Organen vermindert
die Blutmenge und organische Thätigkeit in anderen Organen: weder das Gehirn in seinen
nicht unmittelbar betheiligten Gebieten, also namentlich in denjenigen der höheren Denk-
thätigkeiten, noch die Verdauung vermögen gleichzeitig mit grosser Muskelthätigkeit
Erhebliches zu leisten, wie ja auch hohe Geistesanstrengung und volle Verdauungsarbeit
sich gegenseitig beschränken. Durch Ableitung kann aber die Erholung der nicht arbei-
tenden Organe begünstigt werden, während der allgemein gesteigerte Stoffwechsel und
Kreislauf durch raschere und vollständigere Entfernung der Ermüdungsstoffe, wie durch
nachträglich vermehrte und verbesserte Zufuhr ihrer Entwicklung und Kräftesammlung
erheblich zu Gute kommen kann.
Einseitig und überwiegend geübte Organe erlangen mit der Zeit ein üebergewicht
über die weniger geübten: wie man sehr wohl Armmenschen und Beinmenschen unter
den Handwerkern wie unter den Sportkünstlern unterscheiden kann, so sind bekanntlich
seit des Herkules Zeiten die berufsmässigen Athleten nicht durch hervorragende Geistes-
fähigkeiten ausgezeichnet.
Die hygienischen Kör per Übungen haben die gleichmässige
Uebung der gesammten Körpermuskulatur zur Aufgabe, um dadurch die
Gesundheit und Leistungsfähigkeit im Allgemeinen zu heben, ferner um das
häufig einseitig, mit Vernachlässigung des übrigen Körpers überangestrengte
Gehirn zu entlasten, und endlich um den zahlreichen Schädlichkeiten und
Störungen aus mangelnder Muskelthätigkeit oder anderswie unzweckmässiger
Lebensweise entgegenzuwirken. Die Therapie bedient sich ihrer zur Be-
kämpfung gewisser Krankheitsanlagen und Krankheiten, wie z. B. der Schwäche
der Athraungs- und Kreislauforgane, und zur Kräftigung einzelner durch
mangelnden Gebrauch, durch Verletzungen oder Krankheiten geschwächter
oder gelähmter Muskelpartien, sowie endlich zur Beweglichmachuug oder
Festigung versteifter oder schwacher Gelenke.
Die körperliche Erziehung und die gesundheitlichen Körper-
übungen haben kein besseres Mittel als das systematische deutsche
Turnen, w^eil dies allein alle Formen der willkürlichen Bewegungen umfasst,
ganz allmählich von leichteren zu schwereren, von einfachen zu zusammen-
gesetzten Uebungen fortschreitet, neben den Muskeln Lunge und Herz kräftigt,
den ganzen Körper gewandt und geschmeidig, lebenskräftig und lebensmuthig
macht, zu rascher Entschlossenheit und energischem Wollen erzieht. Das
deutsche Turnen ist ganz besonders geeignet zur Erfüllung von J. J. Rous-
SEAu's Forderung: „Der Leib sei kräftig, soll er gehorchen; ein guter Diener
soll stark sein. Je schwächer der Leib ist, desto mehr befiehlt er; je stärker
er ist, um so mehr gehorcht er. Ein schwacher Körper schwächt die Seele."
Das Turnen ist auch ganz vorzüglich geeignet, das durch scharfe Geistes-
arbeit einseitig erregte oder ermüdete Gehirn zu entlasten, indem die cen-
trale Spannung auf die Bewegungsorgane abgeleitet, durch kräftige Athmung und
Herzthätigkeit das Blut erneuert wird und das der kräftigen Anregung organi-
scher Thätigkeiten folgende Wohlgefühl den Geist erfreut und erfrischt. Aller-
dings kann auch das Turnen übertrieben werden, athletische Bestrebungen
anregen und durch überschätzte Muskelarbeit der Geistesarbeit Kräfte ent-
ziehen: aber das ist Missbrauch, der nicht dem Turnen als solchem, sondern
einem falschen Betriebe zur Last fällt. Was ich selbst als Knabe, Jüngling
und Mann erfahren, das bestätigen vorurtheilslose Lehrer und Lehrerinnen:
dass eine zweckmässig geleitete Turnstunde Leib und Seele der Schüler
erfrischt und für weiteren Unterricht empfänglicher und geschickter macht.
Die exakten Versuche der neueren Zeit haben wegen der vielerlei mitwirken-
den Umstände und zahlreichen Fehlerquellen noch keineswegs das Gewicht
dieser tausendfältigen Erfahrungen! Oder will man auch den Schlaf als Er-
müdungsquelle anklagen, weil nach ihm Körper und Geist erst allmählich zu
voller Spannung und Arbeitsfähigkeit sich erheben? Zu intensiv betriebene
Turnübungen, sowohl in Massenübungen an Geräthen, wie in den Körper
KÖRPERÜBÜNG. 489
und Geist scharf beanspruchenden Frei- und Ordnungsübungen können aller-
dings die Kräfte so abnutzen, dass erst nach längerer Ruhe und Stoffauf-
nahrae ihre Herstellung erfolgt; aber das ist eben falscher Gebrauch eines
an sich guten Mittelsl Das Turnen der Schüler und Schülerinnen richtig zu
gestalten, ist Aufgabe der Methodik und Hygiene des Turnens, bei deren
Ausgestaltung die Aerzte, und ganz vorzüglich die Schulärzte energisch mit-
wirken sollten.
Die Jugend- und Volksspiele bilden die natürliche Ergänzung
und Fortsetzung des Turnens, indem sie Kraft und Gewandtheit in Freiheit
und Selbständigkeit üben, wozu sie reiche Auswahl für die verschiedenen Kräfte,
Alter und Geschlechter darbieten. Ueberanstrengung, die durch Wetteifer
leichter herbeigeführt werden kann, als beim geordneten Turnen, erheischt
für die Jugendspiele noch mehr als letzteres eine erfahrene und umsichtige
Leitung und Aufsicht.
Schwächliche oder mit gewissen Fehlern und Krankheitsanlagen behaftete
Kinder und heranwachsende, namentlich Brust- und Herzschwache, an liück-
gratsverbiegungen oder Unterleibsbrüchen leidende, sollten in besonderen
Abtheilungen vereinigt und nur mit genau ausgewählten Uebungen beschäftigt
werden. Bei erheblichen Graden solcher Uebel wie auch zwecks Kräftigung
einzelner mangelhaft entwickelter oder durch Verletzungen, Krankheiten u. dgl.
geschwächter Muskelpartien, so wie zur Heilung von Gelenksteifigkeit tritt die
ärztlich geleitete Massage und Heilgymnastik mit ihren passiven, activen und
duplicirten Bew^egungen, sowie mit Maschinenbehandlung hilfreich ein.
Als Ergänzung und — wenngleich unvollkommener — Ersatz des ge-
meinsamen Turnens bietet sich die Haus- und Zimmergymnastik, die
ohne oder mit ganz einfachen Turngeräthen, wie Hanteln, Stäbe, Bruststärker
a. u. m., allenfalls auch Ringe und Hängereck, eine grosse Menge nützlicher
Bewegungsformen und Muskelübungen lehrt. Neben der allbewährten und
in vielen xVuflagen erschienenen „Zimmergymnastik" von Schreber empfiehlt
sich die ebenfalls bereits vielfach aufgelegte „Hausgymnastik für Gesunde
und Kranke" von An&erstein und Eckler durch mannigfaltige, gut gewählte
und zusammengestellte, in klarer Schrift und vorzüglichen Abbildungen dar-
gestellte Uebungen, mit besonderen Uebungsgruppen für die verschiedenen
Lebensalter, Geschlechter und krankhaften Zustände.
Das militärische Exerciren der Knaben, eine Zeit lang vielfach
dem Turnen gleich oder sogar vorangestellt, gebietet bei Weitem nicht über
die Mannigfaltigkeit der Uebungen, die das Turnen so geeignet zur harmo-
nischen Körperbildung machen, und aus demselben Grunde ist es auch viel
weniger im Stande, die Jugend frisch und froh zu machen. Der Wehrdienst
weiss sehr wohl, warum er seine Zöglinge vor und neben dem Exerciren
und Felddienst turnen lässt und warum er als Recruten Turner, aber nicht
als Knaben Gedrillte wünscht. Dem Tanzen vollends ist nur eine sehr
untergeordnete Bedeutung als Körperübung zuzugestehen, und es wirkt ohnedies
durch mancherlei Einflüsse oft mehr schädlich als nützlich auf die Jugend ein.
Das Fechten, als Ergänzung des Turnens, um den Jüngling kräftig
und w^ehrhaft zu machen, mit Recht geschätzt, ist auch in gesundheitlicher
Beziehung eine vortreffliche Körperübung, wenn es kunstgemäss und beider-
seitig' geübt wird. Besonderen Wert hat das Stossfechten mit seinen leich-
teren und rascheren Bewegungen, mit der ihm besonders nöthigen scharfen
Beobachtung des Gegners und einer Geistesgegenwart, die den Willen augen-
blicklich in die That umzusetzen verlangt. Aber wie alle Wehrübungen sollte
das Fechten dem Jünglinge und Manne vorbehalten werden; Mädchen und
Frauen, deren ganzem Charakter es widerspricht, werden weder an Anmuth
und Würde, noch an anderen Reizen dadurch gewinnen.
490 KÖRPERÜBÜNG.
Fu SS wandern und Bergsteigen, richtig angeordnet und geübt,
sind in ausgezeichneter Weise dazu angethan, nicht nur die gesammte Musku-
latur der unteren Gliedmassen, sondern auch Athmung und Kreislauf zu
stärken, um Leib und Seele zu erfrischen, leistungsfähig und widerstands-
kräftig zu machen. Als Körperübungen lassen sie sich den verschiedensten
Ansprüchen und Kräften anpassen und beanspruchen namentlich als Terrain-
curen mit Recht einen hohen therapeutischen Wert. Im Winter werden sie
durch Eislauf und Schneeschuhlauf in ausgezeichneter Weise ergänzt
und vertreten. Dass diese Körperübungen in freier und kalter Luft vorge-
nommen werden, erhöht natürlich ihren Einfluss auf den gesammten Körper-
haushalt und ihren hj^gienischen Werth.
Das Radfahren, die neueste und von manchen Seiten, sogar von
Aerzten gar überschwänglich als vorzüglichste Körperübung gepriesen, hat vor
den andern den grossen Vorzug der raschen Ortsbewegung und damit einen
unmittelbar praktischen Nutzen voraus, der ihm trotz der theils lächerlichen,
theils beklagenswerthen Auswüchse und Uebertreibungen des Sportthums eine
bedeutende Zukunft sichert.
Um der Gesundheit zuträglich zu sein, verlangt das Radfahren wie alle
stärkeren Körperübungen einen sozusagen physiologischen Betrieb. Das
Rad muss, selbstverständlich auch übrigens gute Construction vorausgesetzt,
dem Fahrer auf den Leib passen, so dass Füsse und Beine mit möglichst
geringer Kraftaufwendung die Triebkurbel in Bewegung setzen können; der
Sitz oder Sattel darf weder den Damm noch die Geschlechtstheile drücken
oder reiben; die Lenkstauge muss so hoch stehen, dass die Hände sie ohne
starke Arm Streckung und namentlich ohne Rückenkrümmung und Rumpfvor-
beugung handhaben können. Denn nur in aufrechter Rumpfhaltung, die in
gleicher Weise der BehauptuDg des Gleichgewichtes und dem guten Aussehen
des Fahrers (wie des Reiters zu Pferde) zu Gute kommt, kann das Rad
gesundheitsgemäss geführt und getrieben werden. Nur in solcher Haltung
ist Voll- und Tiefathm^en mit freier Herzarbeit möglich: gekrümmter Rumpf
hindert die freie Rippenhebung und Zwerchfellsenkung beim Einathmen wie
die Wirkung der Bauchpresse beim Ausathmen; in Folge davon wird die
Luüge nicht vollständig entfaltet, wodurch dem Blutlaufe nicht weniger als
dem Luftwechsel schwere Hindernisse erwachsen, um so schwerer, als die
inspiratorische Begünstigung des Blutrücklaufs zum Herzen gleichzeitig weg-
fällt. Die Erschwerung des Athmens bei gesteigertem Luftbedürfnis zwingt
das Herz zu immer grösseren Anstrengungen, die, wofern nicht das Gefühl
von Brustbeklemmung und Herzklopfen zum Aufhören nöthigt, vorübergehende
oder dauernde Erweiterung der Herzhöhlen, Abreissen von Herzklappen, selbst
gänzliches Versiegen der Herzkraft und plötzlichen Tod durch Herzlähmung
herbeiführen kann und thatsächlich gar nicht selten herbeigeführt hat. Dass
diese Gefahren noch grösser werden, wenn Herz und Lunge nicht völlig gesund
und kräftig sind, braucht nur angedeutet zu werden. Sie drohen aber nicht
nur bei sportmässigem Dauer- und Wettrennen, wobei die Radler dieselbe
Vorbeughalte einzunehmen pflegen, wie die Jockey's, die es unbeschadet thun
dürfen, weil sie nicht so grossen Ansprüchen an Herz und Lungen zu genügen
haben, sondern auch beim Fahren gegen den Wind, bergan u. a. m. Mund-
athmen, das zur Stillung des Lufthangers sich unbewusst einstellt, bringt
durch Einathmen von kalter Luft, Staub, Bacillen etc. noch andere bekannte
Gefahren mit sich. Zu solchen mehr gelegentlichen Schädlichkeiten gehören
ferner Erkältungen, unzeitiges oder unmässiges Trinken u. dgl. m.
Verständig geübtes Radfahren kann wie andere Körperübungen im Freien
ohne Zweifel sehr nützlich sein, wenngleich die Hüft- und Beinmuskulatur sa
überwiegend in Anspruch genommen wird, dass man dem Radfahren eine
ziemliche Einseitigkeit nicht absprechen kann; die Betheiligung der Arme
KÖRPERÜBÜNG. 491
diircli Handhaben der Lenkstange ist sehr unbedeutend; die Erhaltung des
(Gleichgewichtes erfordert mit vorschreitender Uebung immer weniger Muskel-
anstrengung, so dass die Entwicklung der Beinmuskulatur ein entschiedenes
Uebergewiclit bekommt, und ob der Geist bei der unaufhörlich nöthigen Auf-
merksamkeit auf den Weg und das Rad hinreichend oder in ähnlicher Weise
entlastet wird wie beim Wandern und Bergsteigen, dürfte nicht unzweifelhaft
sein. Es wird dem Radfahren nachgerühmt, dass es gegen Stuhlträgheit,
Menstruationsstürungen, Fettansammlung und andere Beschwerden heilsam sei.
Der Arzt wird gut thun, hei der Empfehlung des Radeins vorsichtig zu indi-
vidualisiren und vor Allem nicht zu vergessen, dass kaum eine andere Körper-
übung so leicht zu Uebertreibungen reizt und verführt.
Das kalte Bad, das Brausebad und die kalten Abreibungen regen als
Reflexwirkung Tiefathmen und verstärkte Herzthätigkeit an, was durch Körper-
bewegungen, Kampf mit Strom und Wellen stärker und dauernder gemacht
wird. Schwimmen ist auch deshalb eine vorzügliche Uebung, weil es in
bester Körperhaltung so ziemlich alle Muskeln zu mannigfacher Thätigkeit
bringt. Indem die plötzliche Kälteeinwirkung die Muskeln der Haut und der
äusseren Blutgefässe zu plötzlicher Zusammenziehung bringt, hat sie eine
übende Wirkung auf die Werkzeuge der Wärmeregelung, die bekanntlich den
besten Schutz gegen Erkältungen gewährt. Die dem plötzlichen Kälteeinfluss
nachfolgende Reaction mit gesteigerter Wärmeerzeugung und Wärmeabgabe
regt den gesunden Stoffwechsel mächtig an, was durch das andauernde Wärme-
gefühl nebst vermehrter Esslust sich deutlich kenntlich macht. Meerbäder
haben wiegen ihres höheren Salzgehaltes, wegen der meist niedrigeren Tem-
peratur und der Wellenbewegung stärkere Wirkungen als Süsswasserbäder.
Dass diese Badewirkungen immer noch falsch gedeutet und als unmittelbar
stärkend angesehen werden, während sie doch nur vorhandene Kräfte mobil
machen und erst durch die Anregung organischer Gegen- und Nachwirkungen
stärkend wirken, erfahren viele Schwächliche, Blutarme, Bleichsüchtige, Ner-
vöse etc. zu ihrem grossen Nachtheil oft zu spät. So mächtige Mittel wie
das kalte Bad und besonders das Seebad sollten als Heilmittel nur nach
genauer sachkundiger Vorschrift und bei steter ärztlicher Ueberwachung ge-
braucht werden.
Der Hautreinigung, womit gesteigerte Functionsthätigkeit der Haut ver-
bunden ist, dienen besser als kalte die warmen Bäder, die gleichfalls die
Circulation anregen, die Nerven je nach ihrer Temperatur und Anwendungs-
weise beruhigen, erschlaflen oder erregen. Die ihnen folgende Hauterschlaffung
und Verweichlichung ist durch eine nachfolgende kühle bis kalte Uebergiessung
oder Abbrausung zu verhindern. Als gute Muskelübung müssen auch die
neuerdings mehr und mehr in Aufnahme kommenden warmen Schwimmbäder
angesehen werden, verlangen aber bei kühlem und rauhem Wetter Verhütung
von Erkältungen durch kühle Abbrausung und angemessene Kleidung.
Die mannigfaltigen Körperübungen gehören unzweifelhaft zu den nütz-
lichsten Mitteln der Gesundheitspflege und werden, richtig ausgewählt und
gebraucht, in diätetischer und therapeutischer Hinsicht von wenig andern
Verfahren erreicht oder gar übertreffen. Wer ein guter Arzt sein will, wird
sich auf jede geeignete Weise mit ihnen vertraut machen müssen.
FR. DORNBLÜTH,
Krankenanstalten, Sanatorien, Zufluclitsstcätteii. Sanatorien,
Genesungshäuser, sind solche Anstalten, in welchen die von überstandenen
acuten Erkrankungen noch nicht vollständig genesenen oder ursprünglich an
chronischen Krankheiten, namentlich Tuberkulose, Blutarmuth, nervöser
Schwäche (Neurasthenie) u. s. w. leidende Personen durch vorwiegende
Einwirkung der natürlichen Heilagentien, möglichst reine Luft
492 KRANKENANSTALTEN.
geeignete Ernährung, entsprechende Einwirkung des Sonnenlichts, angemessene
Bäder, Waschungen und Massage, sowie durch psychische Erhokmgs- und Zer-
streuungsmittel bei geregelter passender körperlicher Bewegung unter einer
sachkundigen und individualisirenden ärztlichen Leitung entweder ge-
bessert oder vollständig geheilt werden sollen. Die Sanatorien sind
Schöpfungen der neuen Zeit und der vorherrschend gewordenen hygienisch-
diätetischen Heilkunde, w^elche auf Kräftigung des menschlichen Organis-
mus und seiner Widerstandsfähigkeit gegen Krankheitskeime und äussere
Schädlichkeiten gerichtet ist.
Das erste Sanatorium wurde 1854 von Dr. Brehmer in Görbersdorf (Schlesien) er-
richtet, in einem 561 m hoch gelegenen, von circa 2000 Fuss hohen Bergen rings umgebenen
Thale. Die Berge sind dort bis ins Thal hinab mit den herrlichsten Tannenwaldungen um-
geben und bieten für körperliche Bewegung die verschiedenartigsten Steigungen. Die An-
stalt besteht aus dem Curhanse und fünf Villen, welche 234 mit allem Comfort eingerich-
tete, aufs zweckmässigste zu lüftende Zimmer umfassen. Dr. Brehmer führte selbst die
Direction der ganzen Anstalt mit drei approbirten Assistenzärzten. Ein zweites Sanatorium
wurde 1875 in Görbersdorf errichtet von Dr. Röppler für Lungenkranke, Reconvalescenten
aller Art, leichtere Formen von Nervenleiden, deren Ursache in Blutmangel oder Er-
nährungsstörungen liegt. Nach dem Vorgange von Dr. Brehmer wurden in Deutschland
für bemittelte Stände noch weitere Sanatorien errichtet, in Reiboldsgrün (Sachsen), V\ril-
helmshöhe bei Cassel, Falkenstein, St. Blasien, St. Andreasberg, Hohenhonnef, in Loslau
(Oberschlesien) u. s. w., und bei den günstigen in den genannten Anstalten erzielten
Besserungs- und Heilungsergebnissen sind auch bereits an mehreren Orten sogenannte
Volks-Sanatorien für die Arbeiterbevölkerung errichtet und wird die Errichtung noch wei-
terer derartiger Anstalten geplant. Als Centralstelle der deutschen Volksheilstätten-Be-
wegung ist unter Protectorat der deutschen Kaiserin und Ehrenvorsitz des Fürsten Reichs-
kanzlers ein deutsches Centralcomite in Thätigkeit getreten. Das Sanatorium Hohen-
honnef, welches auf Anregung des verstorbenen Oberbürgermeisters, Geheimraths Bredt mit
einem Ilostenaufwand von 1,200.000 Mark durch eine Actien-Gesellschaft errichtet und 1892
unter Direction des Dr. Meissen, ehemaligen zweiten Arztes des Sanatoriums Falkenstein, in
Betrieb gesetzt wurde, liegt am Südwestabhange des Siebengebirges, inmitten eines
160 Morgen grossen eigenen Waldgebiets, 236 m über Meer, 158 m über dem Rhein bei Honnef.
Nach einer Abhandlung des Dr. Meissen (Centralbl. für allg. Gesundheitspflege, 15. Jahrg.
8. u. 9. Heft) soll die Anstalt eine Heilstätte sein für Lungenleidende, welche während des
ganzen Jahres den Anforderungen der Wissenschaft und der Bequemlichkeit der Kranken
zu dienen habe, ohne den Eindruck eines Krankenhauses hervorzurufen, und ist, wie in der
vorgenannten Abhandlung eingehend geschildert und durch beigefügte Abbildung erläutert
wird, mit allen den Anforderungen der neuen Hygiene und Heilkunde entsprechenden Ein-
richtungen versehen. Der Anstalt steht ein Aufsichtsrath vor und als eigentlich geschäfts-
führendes Organ eine Direction, die aus dem dirigirenden Arzte und dem wirtschaftlichen
Director besteht. Die Direction ist in finanzieller Beziehung dem Aufsichtsrath, bezw. der
Generalversammlung der Actionäre verantwortlich. In der Anstalt ist aber der dirigirende
Arzt die oberste Instanz und hat die oberste Leitung in allen Fragen sanitärer Natur.
Die Bedienung der Kranken, sowie der sehr verwickelte Betrieb des Sanatoriums erfordert
ein ungewöhnlich zahlreiches Personal, durchwegs etwa 70 Personen. Was die bisherigen
Leistungen der Anstalt betrifft, so wurden während eines fünfjährigen Zeitraumes 725
Kranke aufgenommen, von welchen 78 noch in Behandlung befindliche und 11 an ander-
weitigen Krankheiten leidende oder zur Beobachtung aufgenommene Kranke abzuzählen
sind. Die übrigen 642 litten an klinisch festgestellter Lungentuberkulose mit oder ohne
Complicationen in anderen Organen. Es wurden entlassen 90 oder lö^/o als geheilt, 174; oder
27% als annähernd geheilt, 176 als gebessert. Bei den übrigen blieb der Erfolg aus, und
zwar durchwegs, weil das Leiden zu weit vorgeschritten war. Bei der sehr strengen und
sorgfältigen Behandlung aller Auswurfsstoffe sind Uebertragungen der Tuberkulose auf das
Wartepersonal oder andere gesunde Personen nicht vorgekommen. Dr. Meissen schliesst
aus den vorstehenden, möglichst streng und ohne Voreingenommenheit aufgestellten Er-
gebnissen, dass zu einer wirksamen Behandlung der Tuberkulose weder das ferne Hoch-
gebirge noch der sonnige, dabei aber staubige Süden nöthig sei, sondern, dass die Behand-
lung auch ebenso erfolgreich und viel bequemer auf unseren heimischen Bergen, an den
schönen Ufern des Rheins ausgeführt werden könne.
Zu bedauern ist nur, dass bei dem ungewöhnlich kostspieligen Betrieb
die Verpflegungskosten in den heutigen Sanatorien sehr hohe sein müssen und
nur von reichen Kranken auf längere Zeit ertragen werden können. Hoffent-
lich können die für die Bedürfnisse des Mittelstandes und der Arbeiter-
bevölkerung zu errichtenden Genesungshäuser unter Mitwirkung einer discipli-
KRANKENANSTALTEN. 493
nirten Krankenpllegegenossenschaft und einer sachverständig geleiteten eigenen
Landwirtschaft mit billigeren Verpflegungssätzen betrieben werden.
Die für vorwiegend bettlägerige Kranke und acute Krankheiten oder
Verletzungen bestimmten Krankenanstalten (Hospitäler) wurden in den
früheren Jahrhunderten bis über das Mittelalter hinaus von der Geistlichkeit,
den Bischöfen und Klöstern zur Pflege armer, durch Krankheit arbeitsunfähig
gewordener Personen und zur Aufnahme obdachloser Pteisender errichtet
und auch durchgehends von Geistlichen, die auf der damaligen medicinischen
Schule zu Paris, Toledo, Salerno und Bologna ärztlich vorgebildet
waren, geleitet. Es muss anerkannt werden, dass mehrere grössere Ho-
spitäler damaliger Zeit sich eines sehr guten Ptufs und segensreicher Wirk-
samkeit erfreut haben. Nachdem aber infolge der religiös-politischen Um-
wälzungen der letzten Jahrhunderte die geistliche Verwaltung der Kranken-
anstalten beseitigt und durch eine ärztliche Leitung nicht ersetzt war, über-
haupt eine geregelte staatliche oder communale Beaufsichtigung nicht statt-
fand, musste sich der Zustand der Hospitäler und Lazarethe sowohl in Kriegs-
wie Friedenszeiten zunehmend verschlechtern.
In dem 1817 für gebildete Stände herausgegebenen Conversationslexikon von F. A.
Brockhaus in Altenburg, Bd. 4. S. 803, heisst es wörtlich: „Hospitäler sowohl als Ver-
sorgungs- und Krankenhäuser haben ihre Vortheile; aber auch grosse Nachtheile.
Als Vortheile führt man an: das leichtere Unterbringen armer und kranker Personen,
Bequemlichkeit und Wohlfeilheit in ihrer Pflege und Wartung, grössere Folgsamkeit der
Kranken in Rücksicht ihres Verhaltens. Dagegen stehen folgende Nachtheile: die War-
tung und Pflege für die Kranken selbst ist mangelhafter und oberflächlich, die Bequem-
lichkeit derselben geringer, als wo sie vereinzelt sind, die Kosten von gut eingerichteten
und gehaltenen Hospitälern sind verhältnismässig viel zu gross. Der bedeutendste Nach-
theil ist aber der, dass jede Anhäufung vieler, vollends kranker, siecher und alter Per-
sonen in einem engen Räume eine Verderbnis der Luft verursacht und solche Anstalten
nicht nur im wörtlichen Sinne zu Siech häusern, sondern auch zu Brutnestern bös-
artiger und ansteckender Krankheiten macht." Es folgt dann eine Abhandlung über das
damals herrschende bösartige Hospital fi eher. Ferner heisst es in dem officiellen Be-
richt des Dr. Tenon vom Jahre 1788 über den Zustand des grossen Pariser Hospitals
Hotel Dieu: „Die Ueberfüllung mit Kranken aller Art, Mangel an Luft und Reinlichkeit,
sowie ungeeignete Krankenpflege haben die Sterblichkeit des Kranken- und Pflegepersonals
auf einen ungewöhnlich hohen Grad gebracht und könne es in der ganzen Welt keine
lebensgefährlichere Wohnung geben, wie das Hotel Dieu in Paris."
Aehnliche Zustände herrschten aber auch noch während des laufenden
Jahrhunderts in vielen grösseren Krankenanstalten anderer Staaten. In
der Berliner Charite, wo sich während der Jahre 1789 bis 1794 die Zahl der
gestorbenen zur Zahl der aufgenommenen Kranken wie 1:6 verhielt, wurde
erst durch das Kegulativ vom 7. September 1830 die Aufnahme der Kranken
auf den vorhandenen Rauminhalt der Krankenzimmer beschränkt und die
sämmtlichen Directorialgeschäfte einem im Hospitaldienste bewährten
Arzte überwiesen, welche Bestimmung auch jetzt noch nicht in allen
Hospitälern durchgeführt ist. In Preussen wurde aber zur Beseitigung der
im Betriebe der communalen Krankenanstalten bemerkbar gewordenen Uebel-
stände durch Ministerial-Erlass vom 6. April 1866 eine jährliche Revision
angeordnet und für die Befundprotokolle folgende Zusammenstellung der-
jenigen Punkte vorgeschrieben, welche bei den Revisionen der städtischen
Krankenhäuser vorzugsweise zu berücksichtigen sind: I) 1. Revisions-Commissa-
rium (wann und von welcher Behörde?), 2. Revisions-Commissarien (Namen).
II) Lage und Einrichtung. 3. Geographische und topographische Lage (Nach-
barschaft, Hof, Garten'?), 4. Beschreibung des Gebäudes, 5. Trinkwasser und
Brunnen, 6. Anlage der Abtheilungen, 7. Lage der Treppen, Flure und Corridore,
8. Lage der Krankenzimmer, Anzahl, Trennung nach Geschlechtern, Krank-
heitsarten, passante Geisteskranke etc., 9. Erwärmung und Ventilation, 10. Fuss-
böden, Thüren und Fenster, 11. Lagerstellen, 12. Waschapparate, 13. Be-
leuchtung, 14. Zimmer für Krankenwartepersonal, 15. Hauslatrinen, 16. Kammer
494 KRANKENANSTALTEN.
für Brennmaterial, 17. Wäsche- und Kleiderkammer, Beschaffenheit der
Wäsche, 18. Victualienkamraer, 19. Speiseküche, Waschküche, 20. Leichen-
kammer. III) Verwaltung. 21. Die leitende Behörde, 22. Aerztliche Behand-
lung, Namen der Aerzte, Besoldung, 23. Krankenwärter und Wärterinnen,
Besoldung, 24. Hausordnung, 25. Befriedigung des religiösen Bedürfnisses,
26. Verpflegung, Diätformen, 27. Tägliche Verpflegungskosten pro Kopf,
28. Zahl der am Revisionstage vorhandenen Kranken einschliesslich Siechen,
29. Mit welchen Krankheiten behaftet? 30. W^aren dieselben nach Natur ihrer
Leiden zweckmässig untergebracht ? 31. Waren dieselben, ihre Lagerstelle und
Wäsche reinlich gehalten? 32. Beschaffenheit der Speisen und Getränke,
33. Zahl der nach Sjährigera Durchschnitt jährlich behandelten Kranken,
34. Führung des Receptionsbuchs (Aufnahme-Journal), Art der Entlassung,
geheilt, gebessert, ungeheilt, gestorben, 35. Sonstige Bemerkungen und Ver-
besserungsvorschläge.
Da die deutsche Gewerbeordnung von 1869 nicht nur die ganze Heil-
kunde, sondern auch die Errichtung von Privat-Kranken-, Irren- und Entbin-
dungsanstalten für Jedermann, der nicht bereits thatsächlich mit der Orts-
polizei-Behörde in Conflict gerathen, frei gab, richtete der psychiatrische
Verein der Rheinprovinz, welcher eine grössere Anzahl von Klinikern, Univer-
sitätslehrern und praktischen Krankenhausärzten angehört, unterm 5. August
1873 eine Vorstellung an das Reichskanzleramt, in welcher ausgeführt wurde,
dass die von allen nothwendigen Requisiten zum Betriebe von Krankenanstalten
Abstand nehmende Concessionsgewährung zur nächsten Folge haben werde,
dass Krankenhäuser entstünden, die ungünstig gelegen, mangelhaft gebaut und
eingerichtet und ohne ärztliche Leitung seien und mit der Zeit der Zweck
der Krankenhäuser, Förderung des öffentlichen Gesundheitswohles, ins gerade
Gegentheil verkehrt werde.
Die genannte Vorstellung, welche damals an die Landesregierungen ging
zur gutachtlichen Aeusserung über das dort vorliegende thatsächliche Mate-
rial, hatte insofern den gewünschten Erfolg, dass der § 30 in der Gewerbe-
ordnung vom 1. Juli 1883 dahin ergänzt wurde, dass die Concession für
Privat- Krankenanstalten zu versagen ist, wenn nach den vom Unternehmer
einzureichenden Beschreibungen und Plänen die baulichen und sonstigen
technischen Einrichtungen den gesundheitspolizeilichen An-
forderungen nicht entsprechen. Die höhere Verwaltungsbehörde ist also
jetzt gesetzlich verpflichtet, für die Errichtung aller Privat-Kranken-, Irren- und
Entbindungsanstalten die in hygienischer Beziehung erforderlichen Einrich-
tungen, namentlich auch die technische Leitung durch einen zuver-
lässigen approbirten Arzt vorzuschreiben, da diese Leitung als eine
für die gesundheitspolizeilichen Anforderungen unbedingt nothwendige zu be-
trachten ist.
Da sich auch während der letzten Jahre im Betriebe deutscher Kranken-
häuser noch fortdauernde Uebelstände bemerkbar machten, wurde auf einen
betreffenden Bundesrathsbeschluss in den einzelnen deutschen Bundesstaaten
über Anlage, Bau und Einrichtung von öffentlichen und Privat-, Kranken-,
Entbindungs- und Irrenanstalten besondere Polizeiverordnungen er-
lassen, für die Rheinprovinz durch Erlass des Ober-Präsidenten vom
13. October 1897. (Amtsbl. d. Regierung, Cöln. S. 43). Im Sinne der ge-
nannten Verordnung wurden unterschieden: grosse Anstalten mit mehr als
150 Betten, mittlere mit 150—50 Betten und kleine mit weniger als 50 Betten.
Es wurde dann vorgeschrieben: Anlage und Bau. §1, 1. Die Krankenanstalt muss
thunlichst frei und entfernt von Betrieben liegen, welche den Zweck der Anstalt zu beein-
trächtigen geeignet sind; der Baugrund muss in gesundheitlicher Beziehung einwandfrei
sein. 2. Die Frontwände der Anstalt müssen unter einander mindestens 20 m, von anderen
Gebäuden mindestens 10 m entfernt bleiben. 3. Vor den Fenstern der Krankenzimmer muss
mindestens ein solcher Freiraum bleiben, dass die Umfassungswände und Dächer gegenüber-
KRANKENANSTALTEN. 495
liegender Gebäude niclit über eine Luftlinie hinausgehen, welche in der Fussbodenhölie der
Krankenzimmer von der Frontwand bis zum Dach des gegenüberliegenden Gebäudes aus
unter einem Steigungswinkel von ^ö" gezogen wird. 4. Bei Einheitsbauten (Corridor-
system) sind von Gebäuden rings umschlossene Höfe unzulässig. § 2. Fluren und Gänge
müssen mindestens L8U jh, wenn sie zugleich als Tageräume benützt werden, mindestens
2"50 m breit sein; die Gänge sollen in der Regel einseitig angelegt werden; Mittelgänge
nur zulässig, wenn sie reichliches Licht von aussen erhalten und gut lüftbar sind. § d,
1. Die für die Krankenaufnahme bestimmten Räume müssen mindestens 1 m über dem
höchst bekannten Grundwasserstande liegen und in der ganzen Grundfläche gegen das
Eindringen von Bodenfeuchtigkeit gesichert sein. 2. Arbeitsräume fallen nicht unter diese
Vorschrift. 3. Krankenzimmer, welche das Tageslicht nur von einer Seite erhalten, dürfen
nur ausnahmsweise nach Norden liegen. 4. Die Wände im Operations- und Entbindungs-
zimmer sowie in solchen Räumen, in welchen Personen mit ansteckenden Krankheiten
untergebracht werden, sind glatt, bis zur Höhe von 2 w abwaschbar herzustellen. Die
Fussböden müssen wasserdicht sein. § 4, 1. Die Treppen sollen feuersicher und mindestens
1'30 m breit sein, die Stufen von 28 cm Auftrittsbreite höchstens 16 cm Steigung. Die Treppen-
häuser müssen Licht und Luft unmittelbar von aussen erhalten. 2. In grossen Kranken-
häusern (Einheitsbauten) sind mehrere Treppen anzulegen. 3. Die Fussböden aller von
Kranken benützten Räume sind in grossen und mittleren Krankenanstalten wasserdicht
herzustellen. § 5, 1. Die Krankenzimmer, alle von Kranken benützten Nebenräume, Fluren,
Gänge und Treppen müssen mit Fenstern versehen werden. Die Fensterfläche soll in
Krankenzimmern für mehrere Kranke mindestens ^j^ der Bodenfläche, in Einzelzimmern
mindestens 2 m'-* betragen. 2. Die Fenster müssen zum Schutze gegen Sonnenstrahlen mit
Vorhängen versehen sein. § 6, 1. Für jedes Bett ist in Zimmern für mehrere Kranke ein
Luftraum von mindestens 30 m^ bei Tb nt^ Bodenfläche, in Einzelzimmern von mindestens
40 m^ bei 10 m^ Bodenfläche zu fordern. Für jedes Kind bis zu 14 Jahren ein Luftraum von
25 «/" bis 75 bis 10 m^ Bodenfläche. 2. Mehr als 30 Betten dürfen in einem Kranken-
zimmer nicht aufgestellt werden.
Innere Einrichtung. § 7. Für jede Abtheilung eines jeden Krankenhauses muss
mindestens' ein Tageraum für zeitweise nicht bettlägerige in gemeinsamer Pflege be-
findliche Kranke eingerichtet werden, dessen Grösse auf mindestens 2 rn^ für das Kranken-
bett zu bemessen ist. 2. Ausserdem ein mit Gartenanlagen versehener Erholungsplatz mit
mindestens 10 m^ Fläche für jedes Krankenbett. § 8. Für Irrenanstalten, einschliesslich
Anstalten für Epileptische und Idioten, gilt anstatt der Bestimmungen in § 6, Absatz 1,
und § 7 Folgendes: 1. In Anstalten mit mehr als 10 Betten müssen ausnahmslos Tage-
räume und Erholungsplätze vorgesehen werden. Tageräume können durch heizbare, zug-
freie Corridore ersetzt werden. Bei Anstalten, welche Tageräume haben, darf der Luftraum
in den Schlafzimmern für den Kopf nicht unter 20 m^ bei 3 bis 4'ö0 m lichter Höhe be-
tragen; ausserdem 4 m^ Grundfläche für den Kopf. Bei Kindern unter 14 Jahren für den
Kopf 15 m* Luft, in den Tageräumen 3 m^ Grundfläche etc. — 3. Bei Anstalten ohne Tage-
räume 30 m^ Luft für Erwachsene, für Kinder 25 m^ Luftraum. 4. Für bettlägerige Kranke
im Schlafzimmer 30 m^. — Für jeden lauten oder unreinlichen Kranken, wenn er bett-
lägerig, 30 m^ im Schlafzimmer, wenn er nicht bettlägerig, 5 m^ Bodenfläche im Tageraum ;
bei Kindern 25 w ' Luft, beziehungsweise 4 to^ Bodenfläche. § 8. Zur Absonderung störender
Kranker muss an jeder Anstalt mindestens ein, in mittleren und grossen Anstalten für je
30 Pfleglinge je ein Einzelraum vorhanden sein mit mindestens 40 m^ Luftraum. Der
Erholungsplatz soll schattig sein mit mindestens 30 m"^ Fläche. § 9. Allen Krankenzimmern
muss während der Heizperiode frische Luft in einer die Kranken nicht belästigenden
Art zugeführt werden, insbesondere der obere Theil der Fenster, Nebenräume, Fluren, Gänge,
Treppen leicht zu öffnen und mit Luftzugseinrichtungen versehen sein. § 10. Für alle
Krankenzimmer und Nebenräume für Kranke, in grossen und mittleren Anstalten auch
für Fluren und Gänge, muss genügende Lufterwärmung und Erneuerung vorgesehen sein, ohne
Belästigung durch strahlende Wärme, Ueberhitzung an den Heizflächen, ohne Beimengung
von Rauchgasen und Staubentwicklung. § 11, 1. Für jedes Krankenbett täglich 200 Liter
gesundheitlich einwandfreies Wasser. 2. Die Wasserbezugsquelle und Leitung ist gegen jede
Verunreinigung durch Krankheits- oder Abfallsstoffe durch Lage imd Fassung zu sichern.
§ 12, 1. Entwässerung und Entfernung der Abfallsstoffe muss in gesundheitlich unschäd-
licher Weise erfolgen. 2. Fäcalien sind entweder mittelst Abfuhr oder Schwemmung unter
Wahrung der Reinheit der Luft in den Gebäuden und Verhütung jeder Bodenverunreini-
gung zu beseitigen. 3. Abtrittsgruben nur für kleine Anstalten im Abstand von 5 m von
dem Anstaltsgebäude, circa 10 in von jedem Brunnen, dessen Sohle und Umfassungsmauer,
aus Klinkern mit Gementmörtel gemauert, sowie mit einer Schicht fetten Tlions in einer
Stärke von wenigstens 25 cm zu umgeben. 4. Trockene Abfälle und Kehricht in dichten
Gruben oder Behältern zu sammeln und so oft abzuführen, dass keine üeberfüllung der
Behälter eintritt. 5. An steckungs verdächtige Auswurfsstoffe sofort unschädlich zu beseitigen.
§ 13. Aborte von den Krankenzimmern durch Vorraum zu trennen, welcher, wie der Abort
selbst, hell, lüftbar und heizbar sein muss. § 14. In jeder Krankenanstalt bei einer Beleg-
zahl bis zu 30 Betten mindestens ein Baderaum für ein Vollbad; für Kranke mit an-
steckenden Hautkrankheiten in mittleren und grossen Anstalten ein besonderer Baderaum.
496 KRANKENANSTALTEN.
§ 15, 1. In Krankenanstalten, in welchen chirurgische Operationen ausgeführt werden,
bei rnehr als 50 Betten besonderes Operationszimmer einzurichten, welches nach Lage der
Verhältnisse auch für kleine Anstalten verlangt werden kann. 2. In grossen Anstalten für
Operationen an Kranken mit Wundinfectionskrankheiten einen zweiten abgesonderten Opera-
tionsraum. § 16. In Entbindungsanstalten mit mehr als 4 Betten besonderes Entbindungs-
zimmer erforderlich.
Nebengebäude: § 17. Für grosse und mittlere Anstalten Wirtschaftsräume in
besonderen Gebäuden. § 18, 1. Für jede Krankenanstalt eigene ausschliesslich für deren
Insassen bestimmte Waschküche. 2. Inficirte Wäsche darf ohne vorherige Desinfection nicht
ausserhalb der Anstalt gereinigt werden. § 19. Für grosse und mittlere Anstalten geeignete
Desinfectionseinrichtung, wenn öffentliche Desinfectionsanstalt nicht zur Verfügung steht.
§ 20, 1. Zur Unterbringung von Leichen ein besonderer Eaum, welcher lediglich zu dem
Zwecke dient und dem Anblick der Kranken möglichst entzogen ist. 2. Für grosse und
mittlere Anstalten besonderes Leichenhaus und Sectionszimmer.
Unterbringung der Kranken. §21. In allen Anstalten für männliche und weib-
liche Kranke, abgesehen von Kindern unter 10 Jahren, getrennte Räume, in mittleren und
grossen Anstalten getrennte Abtheilungen. § 22. Für Kranke, die an ansteckenden, beson-
ders acuten Krankheiten leiden, in mittleren und grossen Anstalten ein oder mehrere Ab-
sonderungshäuser; in kleinen Anstalten mindestens abgesonderte Räume mit besonderem
Eingang, womöglich in besonderen Stockwerken mit eigener Treppenanlage. Für Irren-
anstalten wenigstens ein Zimmer für ansteckende Kranke. § 23. In grossen und mittleren
Krankenanstalten zur vorübergehenden Unterbringung Geisteskranker ein geeigneter Raum
mit der erforderlichen Einrichtung. § 24. Zur Feststellung von ansteckenden Krankheiten
für grosse und mittlere öffentliche Anstalten eine eigene Beobachtungsstation.
Schluss und Strafbestimmungen. § 25. Auf bestehende Anlagen erstreckt
sich diese Verordnung nicht und soll auch bei einem Umbau oder einer Erweiterung bestehen-
der Anlagen, welche von dem Umbau nicht berührt werden, keine Anwendung finden. Ein
Umbau oder Erweiterungsbau ist aber unzulässig, wenn dadurch in den vorhandenen
Theilen die den vorstehenden Bestimmungen nicht entsprechenden Zustände verschlechtert
werden. § 26. Die Vorschriften der örtlichen Baupolizeiordnung bleiben insoweit in Kraft,
als sie nicht durch die vorstehenden Bestimmungen abgeändert werden. § 27. Von den
Bestimmungen § 1, Abs. 1 — 3, § 3, Abs. 3, § 4, 5, 7, § 8, Abs. 5, § 9, 10, § 11, Abs. 1,
§ 15, 17, 18, Abs. 1, § 19, 20, Abs. 2, § 22, 23, kann der Regierungspräsident; vom § 6. Abs. 1,
der Minister der geistlichen etc. Angelegenheilen im Einverständnis mit dem Minister
des Innern eine Ausnahme gestatten. — Zuwiderhandlungen werden, sofern nach den
bestehenden Gesetzen keine höhere Strafe verwirkt ist, mit Geldstrafe bis 60 M., eventuell
verhältnismässiger Haft bestraft. Daneben bleibt die Polizeibehörde befugt, die Herstellung
vorschriftsmässiger Zustände herbeizuführen.
Durch die vorstehende und den gleichen in den übrigen deutschen
Staaten erlassenen wichtigen und eingreifenden Verordnungen sind alle Com-
munalbehörden und Privatpersonen von den Anforderungen in Kenntnis ge-
setzt, welche seitens der staatlichen Aufsichtsbehörde an die Errichtung
von Krankenanstalten gestellt werden und können vor Beginn des Baues
und der inneren Einrichtung sich darüber schlüssig machen, ob sie im Stande
sein werden, den gestellten Anforderungen zu genügen, um später verlangte
kostspielige Umänderungen zu vermeiden. — Für den Gebrauch bei amtlicher
Revision der Krankenanstalten wird sich ein auf Grund der neuesten Ver-
ordnungen verfasstes Formular nach Muster des bereits mitgetheilten preus-
sischen Ministerial-Erlasses vom 11. April 1866 sehr empfehlen und würde
dann der zuständige Leiter der Anstalt am Schluss der Revision etwaige
Beschwerden zur Entscheidung durch die höhere Verwaltungsbehörde vor-
bringen können.
Was aber den Inhalt der vorgenannten Ober-Präsidialverordnung
betrifft, so wird nach des Referenten Dafürhalten der § 3 dahin abzuändern
sein, dass für alle von Kranken benützten Räume nicht nur in grossen und
mittleren, sondern auch in kleinen Krankenanstalten die Fussböden wasser-
dicht herzustellen sind, da undichte Fussböden überall, namentlich für
Schlafzimmer gesundheitsschädlich einwirken. Ebenso würden im § 5, 2 zum
Schutz gegen Sonnenstrahlen nicht Vorhänge vorzuschreiben, die bekanntlich
schwer vom Staub zu reinigen sind, sondern auch andere geeignete, leicht
zu reinigende Schutzvorrichtungen zu gestatten sein. Schliesslich würden
im § 22 für a 1 1 e Krankenanstalten, welche statutenmässig an übertragbaren
KRANKENANSTALTEN. 497
Krankheiten Leidende aufnehmen, einschliesslich der bezeichneten kleinen
Krankenanstalten wenigstens ein Absonderungsbau oder Isolirbaracken
zu verlangen sein, da namentlich Pocken, Fleck- und Rückfalltyphus, von
welchen Krankheiten namentlich die vagabundirende Bevölkerung so häufig
befallen zu werden pliegt, in einem Einheitsgebäude sich nicht genügend wirk-
sam isoliren lassen und zur Entstehung von Hausepidemien Anlass geben
können. Die auf dem Lande und in kleinen Städten errichteten Kranken-
anstalten, Communal- oder Kreishospitäler, sind durchgehends nur mit 20 bis
50 Betten versehen, gehören also zu den kleinen Krankenanstalten, in welchen
nach Bestimmung des preussischen Sanitätsregulativs von den Ortsbehörden
mit ansteckenden Krankheiten behaftete Reisende so lange unterzubringen
sind, bis der sachverständige Arzt sie selbst und ihre Sachen für nicht mehr
ansteckend erklärt hat.
Recoiivalescenteii-Aiistalteii verfolgen das humane Princip, den von
den schwersten Symptomen einer Krankheit befreiten Patienten oder Kranken,
die eine Operation hinter sich haben, nachdem sie das Spital verlassen und
ehe sie zu ihrer Thätigkeit, in ihre oft hygienisch ungeeigneten Wohnräume,
zu ihrer vielleicht schmalen und unzureichenden Kost zurückkehren, eine
Stätte zu bieten, wo sie unter sorgfältig überwachten hygienischen Bedin-
gungen, bei guter Kost und guter Luft vollständige Genesung finden können.
Da der Staat durch die Erhaltung der Spitäler schon ausreichend belastet ist,
und auch die Räume seiner Krankenanstalten, die ja oft genug überfüllt sind,
nicht zu anderen Zwecken hergeben kann, so bleibt es fast stets der privaten
Wohlthätigkeit überlassen, für die die Klinik oder das Spital eben Verlassen-
den eine vorübergehende Heimstätte zu schaffen. Demgemäss finden wir
Reconvalescenten-Anstalten fast nur in den reichen Ländern, in England und
Amerika zahlreicher als auf dem Continent. Für die Anlagen von Recon-
valescenten-Anstalten gelten die allgemeinen hygienischen Regeln für Bau-
werke, wie die speciellen Erfordernisse für Erbauung und Einrichtung der
Spitäler. Vor allem wird man auf geeignete Lage in staubfreier, ruhiger,
vegetationsreicher Gegend achten, um den Genesenden den so mächtig wir-
kenden Factor frischer reiner Luft zu gewähren.
Die durch Altersschwäche und unheilbare Gebrechen erwerbsunfähig ge-
wordenen, der Familienpflege entbehrenden Personen werden am zweck-
mässigsten nicht in die für heilbare, vorwiegend acute Erkrankungen und
Verletzungen bestimmten Hospitäler, sondern in besondere sogenannte
Invaliden- oder Siechenhäuser untergebracht, für deren Bau und Einrichtung
die in §§ 1, 3, 6, 7, 9, 11, 12, 13 der betreffenden Verordnung enthaltenen
hygienischen Vorschriften ausreichend sein dürften. Invalide, die vorüber-
gehend von acuten Krankheiten befallen werden, können bis nach Ablauf der
acuten Erkrankung der Hospitalspflege wieder überwiesen werden. Da nach
gesetzlicher Einführung der Freizügigkeit und infolge Entwicklung der neuen
Industrie zahlreiche besitzlose Arbeiter in die grösseren Städte einwandern,
ohne sofort Unterkommen mit lohnender Beschäftigung zu finden, machte sich
das Bedürfnis geltend zur Einrichtung von Nachtherbergen (sogenannten
Pennen), welche von Privatpersonen gegen ganz geringfügiges Entgeld ver-
miethet wurden.
Diese Pennen wurden durch Ueberfüllung und hochgradige Unreinlich-
keit, namentlich in den Grossstädten London, Paris, Berlin, die Brutnester
ansteckender Krankheiten und gaben namentlich im Jahre 1880 Anlass zur
damals in den östlichen preussischen Provinzen herrschenden Fleck- und Rück-
falltyphus-Epidemie, welche von Osten auch in die westlichen Provinzen
vordrang. Wie sich Referent damals persönlich überzeugte, war die Berliner
Charite und das städtische Krankenhaus in Magdeburg fast vollständig in
Anspruch genommen durch Typhuskranke, die in den Pennen angesteckt
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. «J^
498 KRANKENPFLEGE.
waren. Es wurde deshalb durch Verordüuug des Berliner Polizei-Präsidiums
vom 31. Jänner 1881 für alle Nachtherbergen (Pennen) vorgeschrieben: Tren-
nung der Geschlechter in der Weise, dass für jedes derselben verschiedene
Herbergen, die durch feste und nicht mit Thüren versehene Wände in allen
Theilen getrennt sind, bestehen müssen. In jedem Schlafraume für jede
Person 3 m^ Flächenraum und 10 m^ Luftraum, für jeden Schlafgast eine be-
sondere Lagerstätte mit Strohsack, Strohkopf, Kissen, wollener Decke. Alle
vier Wochen neues Stroh und frische Bettwäsche. In jedem Schlafraume
Waschgeräth, Wasch- und Trinkwasser, Lüftung durch Offenstehen der Fenster
von 9 bis 11 Uhr, von 2 bis 4 Uhr. Reine Urinkübel in den Schlafräumen,
tägliche Fegung der Fussböden, Scheuerung dieser und der Abtrittssitze
wöchentlich, frische Tünchung der Wä,nde und Decken. Unverzügliche An-
zeige ansteckender Kranker bei dem Polizeirevier.
Das dann in Berlin errichtete städtische Asyl für nächtliche
Obdachlose enthält 49 Schlafsäle zu je 50 Betten, 30 Brause- und 14
Wannenbäder, eine Desinfectionsanstalt mit strömendem Wasserdampf, die
gleichzeitig die Dampfheizung der ganzen Anstalt liefert. Mit der Heizung
ist die Ventilationsanlage verbunden, indem die Zuluft neben den Heizkörpern
einströmt, während die Abluft durch die stellbaren Fensterklappen der Shed-
dächer und durch die Schornsteine entweicht. In diesem Asyl fanden 1892/93
335.436 Personen, 320.764 Männer 14.672 Frauen und Mädchen Aufnahme.
Eine möglichst strenge ärztliche Controle der täglich in derartigen Asylen
wechselnden Bevölkerung in Bezug auf das Vorkommen ansteckender Krank-
heiten scheint zur Verhütung von Epidemien, sowie auch der weiteren Ver-
breitung geschlechtlicher Krankheiten sehr nothwendig zu sein, schwartz.
Krankenpflege. Die Krankenpflege im Allgemeinen hat die Aufgabe,
die Bedingungen zu schaffen, unter welchen krank gewordene Menschen am
schnellsten, sichersten und möglichst schmerzlos von ihren Leiden befreit
werden. In allen Culturstaaten ist die Lösung dieser Aufgabe, soweit sie
die grundlegenden Einrichtungen betrifft, der Gemeinsamkeit, d. i. dem Staate
zugewiesen. Dieser hat demzufolge zu sorgen für die gründliche Ausbildung
des ärztlichen Personals und weist dieselbe als Aufgabe den medicinischen
Facultäten der Hochschulen zu. Es wird auch kein Zweifel sein, dass es
Pflicht des Staates ist, derartige Einrichtungen zu treffen, dass seine Ange-
hörigen der ärztlichen Hilfe nicht entbehren. Der Staat wird also auch dafür
Sorge zu tragen haben, dass eine richtige Vertheilung des ärztlichen Personals
im Lande stattfindet. Diese Aufgabe konnte in früheren Zeiten der Staat,
welcher sich die Anstellung der Aerzte für einzelne ärztliche Bezirke vor-
behalten hatte, verhältnismässig leicht lösen. Nachdem aber in neuerer Zeit
wohl in allen Ländern der Grundsatz der Niederlassungsfreiheit der Aerzte
unbeschränkt geworden ist, ist die Vertheilung des ärztlichen Personals eine
ungleichmässige geworden. Die grosse Mehrzahl der Aerzte strebt der Nieder-
lassung in den Städten zu, und trotzdem der Zudrang zum ärztlichen Berufe
gewaltig zugenommen hat, so bleiben ländliche Bezirke, welche sich einer
grösseren Wohlhabenheit nicht erfreuen, notorisch von Aerzten ungesucht. Die
Pflicht des Staates, für solche Gegenden ärztliche Hilfe zu bestellen, Avird
nicht zu leugnen sein, und wird auch von den Staatsbehörden durch beson-
dere finanzielle Zuwendungen für Aerzte, welche sich an derartig weniger
günstigen Orten niederlassen, erfüllt. Diese Pflicht des Staates tritt besonders
dann hervor, wenn in bestimmten mit Aerzten nicht hinreichend besetzten
Gegenden Epidemien ausgebrochen sind.
Für die grossen Kreise des arbeitenden Volkes ist im deutschen
Reiche für den Fall der Erkrankung durch die Gesetzgebung vom Jahre 1884
gesorgt.
KRANKENPFLEGE. 499
Die Pflicht, für arme Kranke ärztliche Hilfe zu schaffen, ist den Ge-
meinden zugewiesen. Dies geschieht durch die Aufstellung besonderer Armen-
ärzte. Diese übernehmen gegen ein bestimmtes Honorar die Pflicht, die
kranken Armen zu behandeln. In Universitätsstädten wird die Behandlung
der Armen von den Polikliniken übernommen, und hiedurch Kranken-Material
für den Lehrzweck gewonnen.
Unbeschadet dieser Einrichtungen wird vom ärztlichen Stande die
humane Aufgabe hochgehalten und geübt, armen Kranken die ärztliche Hilfe
unentgeltlich zu gewähren.
Wohl in allen Staaten wird es auch für staatliche Pflicht gehalten, für
die Ausbildung von Hebammen zu sorgen; in den meisten Staaten wird auch
die Ausbildung von Badern oder Heilgehifen durch staatliche Mittel gewähr-
leistet.
Für solche Kranke, welche in ihrer Wohnung der nöthigen Pflege ent-
behren, sind vom Staate oder den Gemeinden Krankenanstalten, Hospitäler
geschaffen.
Ausser diesen sind aber für Kranke, welche vermöge ihrer Stellung und
ihres Besitzes höhere Ansprüche an Verpflegung machen, Krankenanstalten
nöthig, welche neben der unter allen Umständen nothwendigen tadellosen
hygienischen Beschaffenheit auch alle Bequemlichkeiten bieten. Diesem Be-
dürfnisse entsprechen die Privatheilanstalten, meistens mit specialistischer
Richtung.
Zur Heilung und Verpflegung von Geisteskranken dienen die Irren-
Heil- und Pflegeanstalten. Auch diese sind entweder öffentlicher Art, dem
Staate, der Provinz oder der einzelnen Gemeinde gehörig, oder Privatunter-
nehmungen.
Die Entbindungsanstalten sind vorwiegend öffentliche Anstalten, selten
privater Natur. Es ist selbstverständlich, dass alle die genannten Anstalten,
welche öffentliche sind, entweder von staatlichen Organen direct geleitet oder
der Beaufsichtigung durch solche unterstellt sind. Aber auch bezüglich der
privaten Anstalten hat sich der Staat das Ptecht der Beaufsichtigung in
höherem oder geringerem Grade überall gewahrt.
Die Krankenpflege im engeren Sinne hat die Aufgabe, dem hilflosen
Kranken alle jene Dienste zu leisten, welche der gesunde Mensch an sich
selber vornimmt, ferner alle ärztlichen Anordnungen auszuführen, alle Krank-
heitserscheinungen, welche während der Abwesenheit des Arztes auftreten,
genau zu beobachten, endlich alle Verhältnisse, welche auf den Kranken ein-
wirken können, so zu gestalten, dass sie dem Kranken nicht schädlich, son-
dern dem Heilzwecke förderlich werden.
Sie beschäftigt sich demnach mit dem Räume, in welchem der Kranke
sich aufzuhalten hat, mit dem Krankenzimmer, mit dessen Lage, seiner Mo-
biliarausrüstung, mit seiner Lüftung und Heizung, mit dem Krankenbette,
mit der Lagerung des Kranken im Bette, mit dem Wechsel desselben, mit
der Ernährung des bettlägerig Kranken; sie hat die natürlichen Verrichtungen
des Kranken im Bette zu ermöglichen. Ferner obliegt ihr die Reinhaltung
des Körpers des Kranken, sowohl des ganzen Körpers wie der einzelnen
Theile, namentlich auch die Pflege der Mundhöhle, die Berücksichtigung der
Theile, welche zum Durchliegen neigen, der Wäschewechsel u. s. w.
Die Krankenpflege soll nicht curiren, sie darf nicht anordnen. Anzu-
ordnen hat nur der Arzt, der Vollzug der Anordnungen obliegt aber der
Pflege. Auf Anordnung des Arztes geschieht demnach die Darreichung der
Arzneien, sowie jedwede anderweitige Anwendung von Heilmitteln. Hierher
gehören: Einathmungen, Einspritzungen, Einträufelungen, Eingiessungen, die
Anwendung von Klystieren und Stuhlzäpfchen, von Senfteigen, Blasenpflastern,
Blutegeln, Schröpfköpfen; ferner Umschläge, Einpinselungen, Einreibungen,
32*
OÖO KRANKENPFLEGE.
die dauernde Anwendung von Kälte oder Wärme; die hydropathischen Pro-
ceduren: Abreibungen, Einpackungen, Uebergiessungen, örtliche nasse Ein-
wicklungen, endlich Bäder. Die Anwendung von subcutanen Einspritzungen,
von Massagen, Gymnastik und Elektricität, wenn sie in die Hände des pfle-
genden Personals gelegt werden soll, erfordert noch ganz besondere Anweisung
von Seiten des Arztes für den Einzelfall.
Eine grosse umfangreiche Aufgabe fällt der Krankenpflege zu bei der
chirurgischen Behandlung der Kranken. Sie wird hier zur Vorbereitung von
Operationen und zur Hilfeleistung bei und nach solchen herbeigezogen. Es
kommt unter anderem namentlich die Wahl des Zimmers, dessen Beleuchtung,
Temperatur, die Zurichtung des Operationstisches, die Desinfection und Sterili-
sation von Instrumenten, Verb and stofi'en und die persönliche Desinfection
u. s. w. in Betracht.
Auch die Vorbereitung zu Verbänden, unter Umständen auch die An-
legung von Verbänden, sowie der Krankentransport fallen in das Bereich der
Aufgaben der Krankenpflege.
Eine Hauptaufgabe der Krankenpflege besteht in der Beobachtung des
Kranken. Hierher gehören die Temperaturmessungen, die Beobachtung der
Athmung, etwaiger Schmerzensäusserungen, des psychischen Verhaltens des
Kranken, seines Kraft ezustandes u. s. w., die Beachtung der normalen und
krankhaften Abscheidungen, das Aufbewahren derselben u. s. w.
Es ist selbstverständlich, dass sich die Pflege der Besonderheit der in
Frage stehenden Krankheit anpassen muss. Der Kreis der Pflegethätigkeit
wird geändert werden, je nach Umständen eingeengt oder erweitert, wenn es
sich um die Pflege von inneren oder chirurgischen, von fiebernden oder fieber-
losen, von acuten oder chronischen Kranken, von Nerven-, Krampf-Kranken,
von Geisteskranken, von kranken Kindern oder Wöchnerinnen handelt. Eine
ganz besondere Schwierigkeit bildet die Pflege von ansteckenden Kranken.
Bei ihr ist stets auch die Gefahr der Uebertragung der Krankheit auf die
pflegende Person oder auf Dritte im Auge zu behalten und jede Handlung
nach diesem Gesichtspunkte zu überlegen und auszuführen. Diese Forderung
setzt auch eine genaue Kenntnis des Princips und der Ausführung sowohl
der Asepsis als der Antisepsis und der Desinfection von Seite des Pflege-
personals voraus.
Endlich gehört noch zur Krankenpflege die Hilfeleistung bei plötzlichen
Unfällen.
Für die Lösung der schwierigen und umfangreichen Aufgaben der
Krankenpflege ist ein gutes und geeignetes Krankenpflegepersonal nothw^endig.
Billroth verlangt von jenen Personen, welche sich der Krankenpflege widmen,
innerste Neigung zum Berufe, Herzensgüte, Verstand, stilles Wesen, verbunden
mit jenem Talente, dessen Eigenthüralichkeit in einer meist unbewussten
Beobachtungsgabe für die Vorgänge in und am Menschen besteht; Wahrheits-
liebe, Ordnungssinn, zuverlässige Treue im Berufe, Folgsamkeit gegenüber
den ärztlichen Anordnungen, Fügsamkeit auch in den einzelnen, zuweilen
recht unbehaglichen Verhältnissen, Verschwiegenheit. Unerlässlich ist der
Besitz eines gesunden Körpers, um die Mühen des Berufes zu ertragen, den
Gefahren desselben Widerstand leisten zu können; Geschicklichkeit der Hände,
Sinn für die grösste Sauberkeit. (Die Forderung der grössten Sauberkeit
erheischt für das Pflegepersonal eine geeignete Tracht, welche leicht gewaschen
und von Ansteckungskeimen befreit werden kann.) Selbstverständlich ist
Anstand und tadellose Sittlichkeit.
Es ist allseitig unbestritten, dass das weibliche Geschlecht für den so
grosse Opfer erfordernden Beruf geeigneter ist als das männliche. Es ist
deshalb die Krankenpflege überwiegend Pflegerinnen anvertraut. Die Kranken-
pflege in Irrenanstalten und in Abtheilungen für Geschlechtskranke wird von
KRANKENPFLEGE. 501
männlichen Wärtern besorgt. Auch gewisse geistliche Orden (barmherzige
Brüder) übernehmen die Pflege männlicher Kranken als ihre Ordensaufgabe.
Werfen wir einen kurzen Blick auf die Geschichteder Kran kenpflege.
Die Krankenpflege in den ältesten Zeiten stand in innigem Zusammenhang mit der
ältesten christlichen Gemeinde. Dieselben Diener und Dienerinnen (Diakonen und Diako-
nissen), welche die Giitervertheilung an die Hilfsbedürftigen überwachten, unterzogen sich
auch der Pflege der Kranken. Später ging die Krankenpflege in die Hände der geistlichen
Orden über. Als solche sind namentlich zu nennen: Die Hospitaliter und Hospitaliterinnen,
die Franziskaner, die Brüder und Schwestern vom hl. Geiste, die Johanniter, die deutschen
Ritter, aus späterer Zeit die Orden der barmherzigen Brüder und der Alexianer, die verschie-
denen Orden der barmherzigen Schwestern von Vincenz Ti Paula, von Karl Borromäus,
von Clemens Drosste-Vischering u. a.
Innerhalb der evangelischen Kirchengemeinschaft kam es erst viel später zur Bildung
von Genossenschaften, nachdem im Jahre 1831 gelegentlich des Ausbruches der Cholera
in Hamburg Amalik Sieveking hiezu den Anstoss gegeben hatte. Im Jahre 1836 wurde
durch Pastor Fliedner in Kaiserswerth das erste Diakonissenhaus, eine barmherzige
Schwesternschaft der evangelischen Kirche ins Leben gerufen. Fast zu gleicher Zeit war in
Berlin ein Verein evangelischer Krankenpflegerinnen, in Hörn bei Hamburg von Dr. Wichern
ein Verband von Diakonen ins Leben gerufen worden. Von König Friedrich Wilhelm IV.
von Preussen wiirde der Johanniter-Orden wieder ins Leben gerufen mit der Aufgabe,
Ordenskrankenhäuser zu errichten, in welchen die Krankenpflege ,,ohne Entgelt in freier
Liebesthätigkeit" geübt werden sollte.
In Berlin ist vor einiger Zeit ein Verein zur Ausbildung jüdischer Krankenpflegerinnen
gebildet worden.
Viel später als die meisten der hier angeführten confessionellen Vereinigungen bilden
sich interconfessionelle Genossenschaften, und zwar ging die Anregung von einer vor-
nehmen Engländerin Miss Florenze Nightingale aus. Diese erwarb sich während des
Krimfeldzuges unsterbliche Verdienste um die Pflege der Verwundeten und Kranken der
britischen Armee. Durch Lehre und Beispiel begeisterte sie gebildete Frauen zur Theil-
nahme an der Krankenpflege. Sie gründete auch die erste Pflegerinnen schule am St. Thomas-
hospital in London.
Nach der Schlacht von Solferino regte der Genfer Bürger Franz Dunant die Grün-
dung von Vereinen zum rothen Kreuz an, zunächst mit dem Zwecke der Krankenpflege
im Kriege und bei Seuchen. Solche Vereine entstanden bald aller Orten und wendeten
ihre Thätigkeit der Krankenpflege auch im Frieden zu. An besonderen Vereinshospitälern
werden Schwestern, ohne confessionelle Beschränkung, zur Krankenpflege ausgebildet, so
in den Hauptstädten der meisten grösseren deutschen Bundesstaaten.
In Wien gelang es den unermüdlichen Anstrengungen des unvergesslichen Billroth,
eine Anstalt zur Ausbildung von Krankenpflegerinnen (Rudolfinen-Haus in Döbling) ins
Leben zu rufen.
An anderen Orten werden auch Pflegerinnen an allgemeinen Krankenhäusern ausge-
bildet, so neuerdings im Hamburg-Eppendorf.
Neben den religiösen und weltlichen Genossenschaften gab es stets
Krankenpfleger und -Pflegerinnen, welche die Krankenpflege als Gew^erbe
übten. Diese verrichten gegen Entgelt von Fall zu Fall Krankenpfleger -
dienste oder sind in Krankenhäusern, Irren-, Siechenanstalten angestellt.
Wenn man an diesen auch nicht selten treffliche Eigenschaften und tüchtige
Leistungen kennen lernt, so ist doch nicht zu verkennen, dass der Mehrzahl
eine geordnete Ausbildung und systematische Erziehung zu ihrem Berufe ab-
geht. Uebrigens ist ihre Zahl durch den Aufschwung, welchen allerseits die
genossenschaftliche Krankenpflege genommen hat, in letzter Zeit in Rückgang
begriften.
Alle Bestrebungen der neueren Zeit gehen dahin, die Krankenpflege über
das Niveau der laienhaften Empirie zu erheben und zu einer in wissenschaft-
licher Grundlage wurzelnden, von sittlichem Ernste getragenen Ergänzung der
ärztlichen Thätigkeit zu gestalten. Zweifellos sind aus diesen Bestrebungen
schon anerkennenswerte Erfolge hervorgegangen; noch grössere aber sind zu
erringen. Es sollte kein aussichtsloses Ideal bleiben, dass in jedem Dorfe
wenigstens eine ausgebildete Pflegerin zur Hilfe bereit sei. Wo die freie
Vereinsthätigkeit nicht ausreicht, werden die gemeindlichen und staatlichen
Organe für die Sache zu interessiren und für die Gewährung der nothwen-
digen Mittel zu gewinnen sein.
502 KRANKENTRANSPORT.
Die Lösung der Aufgaben der Krankenpflege wird durch die fortschrei-
tende Technik in der Herstellung von Instrumenten und Apparaten wesentlich
gefördert. fr. eoth.
Krankentransport (Krankenbeförderung) ist dasjenige Ver-
fahren, mittels dessen an der Gesundheit Beschädigte aus ihrem bisherigen
Aufenthalte an einen für ihren Zustand zweckmässigeren Ort weggeschafft
werden.
Bei umfassendem Bedürfnisse, wie zur Zeit herrschender Seuchen, wo
es gilt, ansteckende Kranke aus der gesunden Bevölkerung auszuscheiden,
oder an Schlachttagen, wo tausende Verwundeter darauf warteü; aus dem
Bereiche der Gefahr unter Dach und Fach gebracht zu werden, gestaltet sich
der Krankentransport zu einer segensreichen Berufsverrichtung, die besondere
Kenntnisse und Fertigkeiten voraussetzt.
Die Anfänge in der Entwicklung des Krankentransports lassen sich bis
in das graue Alterthum zurück verfolgen; für den handelnden Arzt aber und
seine Gehilfen (Heildiener, Samariter etc.) ist es nicht von Belang, diese
Jahrtausende durchlaufende Entwickelung näher kennen zu lernen. Vielmehr
genügt ihnen, zu erfahren, auf welche Weise und namentlich mit welchen
Mitteln der Krankentransport am zweckmässigsten durchgeführt wird.
Der Krankentransport ist theils eine Leistung der sogenannten „ersten
Hilfe", theils eine Vorkehrung, die in den anfänglichen oder späteren Ver-
lauf einer Krankheit oder Verletzung fällt. Da seine Art von dem Wesen
der Verletzung abhängt, so muss ihm logischermaassen die Erkenntnis der
Verletzung des zu Transportirenden vorausgehen. Die Erlangung dieser Er-
kenntnis und die Wahl und Anordnung, sowie, wenn möglich, die Ueber-
wachung der Transportweise ist Sache des Arztes; der Transport selbst aber
ist eine seinen Gehilfen zukommende mechanische Verrichtung. Obwohl nun
bei Abwesenheit des Arztes das Erkenntnisvermögen des Gehilfen aushilfs-
weise an Stelle desjenigen des Arztes zu treten hat, und obschon der Heil-
gehilfe vor dem Transporte selbständig eine Blutstillung, einen Nothver-
band etc. versuchen muss, so würde es doch eine Abschweifung in das Gebiet
der Pathognostik und in das der ersten Hilfe bedeuten, wenn sich die fol-
gende Darstellung nicht ausschliesslich auf die eigentlichen Verrichtungen
des Transports der Kranken beschränken wollte.
Die Förderung von Kranken und Verwundeten geschieht theils durch
die blossen Hände des Mitmenschen, theils durch äussere Hilfsmittel, die die
Menschenhände unterstützen oder für sie eintreten.
Krankentransport mittelst blosser Handfertigkeit.
Die Krankenförderung durch die blosse Handfertigkeit oder Muskel-
fertigkeit ist nicht nur die älteste, sondern auch heute noch die kennens-
werteste Transportweise. Sie bietet den unvergleichlichen Vortheil, dass der
Krankenförderer das Förderungsmittel immer und allenthalben bei sich hat
und ohne Zeitverlust wirken lassen kann. Das ist genügender Anlass, beim
Krankentransport-Unterricht die Ausbildung der Handfertigkeit und die
Uebung der ungerüsteten Hände als den grundlegenden Theil zu betrachten.
Die blosse Handfertigkeit tritt bei der Krankenförderung in zweifacher
Gestalt auf: in der Krankenführung und in der Krankentragung.
Die Kranken führung setzt voraus, dass der zu führende Kranke
ohne sich selbst weiter zu schädigen, gehen kann, also nicht bewusstlos ist,
und nicht, besonders auch nicht an seinen Gehwerkzeugen, schwer verletzt ist.
Zur Krankenführung werden ein oder zwei Führer verwendet. Wie viele
im Einzelfalle wünschenswert oder nöthig sind, bestimmt der Zustand des
Kranken und das verfügliche Personal. Zwei Führer gewähren im Allgemeinen
KRANKENTRANSPORT. 503
eine sicherere und schonungs vollere Förderung für den Kranken. Wenn es
aber bei plötzlich eintretenden zahlreichen Unglücksfällen (auf Schlacht-
feldern etc.) an Personal mangelt, so ist jede Kraftvergeudung zu vermeiden
und zunächst an nur einen Führer zu denken.
Die Krallkenführung durcli einen Führer geschieht folgendermaassen : Der Führer
"eht bei der Verletzung der oberen Gliedmaassen oder des Rumpfes an der gesunden Seite
des Verwundeten, bei Verletzung einer unteren und Unverletztheit der gleichseitigen oberen
Gliedmaassen an der kranken Seite des Beschädigten. Der Kranke aber hängt einen Arm
in denjenigen des Führers ein und lehnt sich an letzteren an; oder der Führer schlägt
einen Arm um den Rücken des Kranken und greift unter die Achselhöhle um die Brust
herum, während der Verletzte den dem Führer zugekehrten Arm um dessen Nacken schlägt
und sich so fest hält, und mit dem freien Arm sich auf eine etwa verfügliche Krücke
oder ähnliches stützt.
Der Führung durch zwei Führer bedürfen Verwundete und Kranke, die zwar eben-
falls noch gehen können, aber hinfälliger als jene sind. Diese zwei Führer gehen zu beiden
Seiten des Verletzten. Der letztere hängt seine beiden Arme in die Arme der Führer ein
oder umschlingt deren Nacken mit seinen Händen. Die äusseren freien Hände der Führer
tragen das Gepäck des Kranken, oder sie erfassen vorn die um den Nacken gelegten Hand-
gelenke des Verletzten; die inneren Hände der Führer aber umfassen den Rücken des Ver-
wundeten oder werden in die nächsten Achselhöhlen des letzteren aufwärts eingesetzt.
Die Krankentragung mittelst blosser Handfertigkeit tritt ein, wenn
die Krankheit oder Verletzung des zu Fördernden ihn am Gehen hindert,
aber nicht so beträchtlich ist, dass besondere künstliche Lagervorrichtungen
nöthig sind. Auf weite Strecken einen Kranken ohne künstliche Mittel, Bahren
u. dgl., zu tragen, dazu reichen die Kräfte zumalnur eines Trägers jedenfalls
nicht aus. Das Tragen mit den Händen geschieht durch 1 oder 2 oder 3 Mann.
Das Tragen durch nur einen Träger wird mit dem Rücken des Trägers oder mit
seinen Armen bewerkstelligt. Soll der Kranke auf dem Rücken getragen werden, was dann
geschehen muss, wenn der Kranke nach Art und Körperstelle (Unterschenkel, Fuss) der
Verletzung nicht beständiger Ueberwachung bedarf, so wird das Aufheben auf den Rücken
sehr erleichtert, wenn der Kranke vorher erhöht gesetzt werden kann. Der Träger stellt
sich dann rücklings vor ihn hin und schwingt ihn sich auf den Rücken. Sitzt aber der
Kranke niedrig, oder ist er auf die Kniee gesunken, so kniet der Träger rücklings ganz
nahe so vor ihn hin, dass er nur mit dem einen, etwas rückwärts geschobenen Beine kniet,
während er den anderen Fuss mehr vorwärts fest auf die Erde aufsetzt. Hat dann der
Kranke seine Arme um den Hals des Trägers geschlungen, und der letztere jenen unter
den Oberschenkeln erfasst, so schwingt er sich mit ihm auf.
Soll der (ohnmächtige) Kranke auf den Armen getragen werden, so kniet der Träger
ganz nahe an dessen Seite so hin, dass er sein gegen die Füsse des Verwundeten gekehrtes
Bein im Knie gebogen auf den Boden aufstellt und mit dem andern Beine neben der Hüfte
des Kranken niederkniet. Nun umschlingt der Träger mit der einen Hand, und zwar mit
Untergriff, die Oberschenkel des Kranken, schlägt den andern Arm um dessen Rücken und
setzt die Hand in der Schulter ein, während der Kranke den dem Träger zugekehrten
Arm um dessen Nacken legt. Nach dieser Umklammerung schwingt der Träger den Kranken
auf das nicht knieende, in Hüfte und Knie gebogene Knie, setzt ihn darauf und richtet
sich mit ihm auf.
Das Tragen durch mehrere Träger muss sich in allen Einzelheiten durch einheit-
liches Handeln, durch gleichzeitige Griffe kennzeichnen. Daher muss der mit der schwierig-
sten Aufgabe betraute Träger für den Vollzug der Einzelvorrichtungen im Unterricht ein-
geübte Befehle ertheilen, z. B. Fasst an! Hebt auf! Träger marsch! Träger halt! Setzt ab!
Bei dieser Art des Tragens, bei dem die Träger einen kurzen Gleichschritt einhalten, nimmt
der Kranke entweder eine sitzende Körperhaltung (mit herabhängenden Unterschenkeln),
oder eine halbliegende Körperhaltung (mit wagerechter Beinlage) ein.
Das Tragen durch zwei Träger bei sitzender Körperhaltung des Kranken ge-
schieht in folgender Weise: Der liegende Kranke ist an Ort und Stelle wenn möglich in
eine sitzende Körperhaltung aufzurichten. Dann kniet auf jede Seite ein Träger so nieder,
wie es beim Tragen durch die Arme eines Trägers angegeben worden ist. Sie bücken sich
gegen den Verwundeten, der seine Arme um ihren Nacken schlingt, und dann greift der
linke Träger mit der rechten Hand und der rechte Träger mit der linken Hand jenem
entgegenkommend unter die Oberschenkel des Kranken, wo sich beide Hände mit Obergriff
fassen, so dass sie nun den sitzenden Mann in die Höhe heben. Mit den äussern freien
Händen erfassen sie die um ihren Nacken gelegten Hände des Kranken oder tragen sie
etwaige Gepäckstücke. Der Volksmund nennt diese Transportvorrichtung „Engeltrage".
Lässt sich auf die Nebenverrichtung der äussern freien Arme verzichten, so sind
sie mit zum Tragen zu verwenden, so dass der Kranke auf vier Händen sitzt. Hierzu
fasst der eine Träger mit seiner rechten das linke Handgelenk des andern und mit der
504 KRANKENTRANSPORT.
linken Hand das rechte Handgelenk des andern mittels Obergriffs; oder jeder erfasst
mit der linken Hand sein eigenes rechtes Handgelenk von oben und dann mit der
rechten Hand das linke Handgelenk des andern, oder umgekehrt. Diese Händeverschlin-
gung wird kurzweg „Handknoten" genannt und setzt voraus, dass der Verunglückte selbst-
ständig und ohne fremde Unterstützung sitzen kann, also vor allem völlig bei Bewusst-
sein ist.
Ist letzteres nicht der Fall, so muss wenigstens für die Unterstützung des Rückens
des sitzenden Kranken gesorgt werden. Die Träger knien in der beschriebenen Weise an
dem Kranken nieder, dann greift der rechtsseitige Träger mit der rechten Hand und der
linke Träger mit der linken Hand unter die Oberschenkel des Kranken, so dass zwei
Hände, verschränkt eingehakt und in den Handgelenken gefasst, den Sitz bilden. Die
anderen Arme der Träger kreuzen sich am Rücken des Kranken, dessen Arme rückwärts
über die Arme der Träger herabhängen.
Noch wirksamer wird die Unterstützung des Rückens beim Tragen durch zwei Träger
und bei sitzender Haltung des Kranken, wenn der eine (hintere) Träger den Kranken von
hinten her unter den Achseln um die Brust fasst, indem er vor dieser die Hände faltet,
und der andere (vordere) Träger zwischen die Beine des Kranken, vom andern Träger
abgewendet, tritt und die Kniekehlen des Kranken mit beiden Unterarmen von aussen ein-
wärts umklammert.
Das Tragen durch zwei Träger bei halbliegender Körperhaltung muss dann ein-
treten, wenn nach Art der Verletzung die Beine nicht herabhängen dürfen, sondern eine
wagerechte Lage einnehmen müssen, also z. B. zusammengeschient sind.
Ist der Kranke bei Bewusstsein, so wird er durch zwei Träger folgendermaassen be-
fördert: Es kniet der eine, dem Oberkörper des Kranken zugewendet, nieder und setzt
letzteren so, wie es für das Tragen durch die Arme eines Trägers beschrieben worden
ist; der andere Träger geht inzwischen mit seinen Unterarmen unter beiden Beinen in der
Kniekehle und am Fussgelenke hin und trägt letztere so. Diese Tragart ist zweckmässig
beim Heben und Tragen von Bett zu Bett, beim Aufladen auf Wagen und Abladen der
Kranken. Eine ähnliche Tragart ist die, dass der letztere (vordere) Träger mit dem Antlitze
gegen die Füsse des Verwundeten gerichtet, neben die gesunde Gliedmaasse desselben kniet
•und mit der dem Verwundeten zugekehrten Hand beide Beine in der Kniekehle oder am
Oberschenkel mittels Obergriffes, mit der anderen Hand aber das Fussgelenk mit Unter-
griff erfasst.
Ist der Kranke ohnmächtig, so muss der hintere Träger, wie er es bei der Tragung
des sitzenden Kranken that, in der beschriebenen Weise mit für die Unterstützung des
Rückens sorgen.
Das Tragen eines Kranken oder Verletzten durch drei Träger ist dann nöthig,
und zwar in sitzender Körperhaltung des Kranken, wenn nur ein Bein schwer verletzt ist,
in halbliegender Haltung, wenn beide Beine verletzt sind oder wenigstens das eine, ver-
letzte Bein an das gesunde angeschient ist.
Bei der sitzenden Körperhaltung hängt das gesunde Bein herab. Die beiden hinteren
Träger fassen den Kranken so, dass sie sich unter seinem Gesässe die inneren Hände
reichen und mit den freien Händen etwaige Gepäckstücke tragen, oder dass sie bei Bewusst-
losigkeit des Verletzten die inneren Arme um den Rücken desselben schlingen und mit
den äusseren unter den Oberschenkeln fassen. Der dritte Träger erfasst dann, neben dem
Kranken stehend, mit beiden Unterarmen das kranke Bein mittels des beschriebenen Ober-
griffs am Knie und mittels Untergriffs am Fussgelenke. Die Körperhaltung ist eine halb-
liegende, wenn beide Beine gebrochen sind oder das kranke an das gesunde befestigt
worden ist; die Rumpfträger tragen hier, wie oben angegeben, der dritte Träger beschäftigt
sich stets mit der gebrochenen Gliedmaasse neben den Beinen marschirend, welche er erfasst
hat mit Ober- und Untergriff' am Knie- und Fussgelenke, oder mit beiden Unterarmen
mittels Untergriffs am Unterschenkel, oder mit einem Arme mittels Obergriffs nahe dem
Fussgelenke.
Darnach ergeben sich für den Bereich der blossen Handfertigkeit über-
sichtlich zusammengestellt folgende Transportweisen:
A. Führung.
I. durch einen Führer
1. mit Armeinhängung 2. mit Rumpf Umfassung
II. durch zwei Führer
1. mit Armeinhängung 2. mit Rumpfumfassung
KRANKENTRANSPORT. 505
B. Tragung.
I. durch einen Träger
1. sitzend, hockend 2. halbliegend
(auf dem Rücken) (auf den Armen)
II. durch zwei Träger
1. sitzend
a) auf 2 Händen h) auf 4 Händen c) mit Rumpfumfassung
(Engeltrage) (Handknoten)
2. halbliegend
a) ohne Rumpfstützung b) mit Rumpfstützung.
III. durch drei Träger
(ein Bein- und zwei Rumpfträger)
1. sitzend
a) ohne Rumpfstützung b) mit Rumpfstützung
2. halbliegend
mit Rumpfstützung.
Krankentransport mit künstlichen Mitteln.
Die geübte Hand bildet die Grundlage aller Krankentransportweisen.
Theils ist sie ein ganz selbständiges Förderungsmittel, wie soeben dargelegt
worden ist, theils bedient sie sich geeigneter künstlicher Mittel zur blossen
Erleichterung ihrer Aufgabe, theils ist sie dort, avo das künstliche Förderungs-
mittel (Bahre, Thierausrüstung, Wagen, Schilf) die Hauptrolle zu übernehmen
■berufen ist, anfangs bei der Lagerung des Kranken selbst und weiterhin bei
der Instandhaltung des Transportlagers immerhin unentbehrlich.
Zu denjenigen künstlichen Förderungsmitteln, die nur als mehr oder
weniger nebensächliche Unterstützungsmittel der menschlichen Hand- oder
Muskelfertigkeit anzusehen sind, gehören in der Hauptsache folgende:
Die Kraxe, eine sattelförmige Sitzgeräthschaft für einen Verletzten,
der hockend auf dem Rücken eines Trägers getragen wird, Sie wird vom
Träger auf das Kreuz genommen und mit Traggurten befestigt. Besonders im
Gebirgs-Krankentrausport ist sie gebräuchlich geworden.
Bei der Krankentragung durch zwei Träger pflegt man den Kranken,
falls der Transport nicht einen ganz kurzen Weg zu nehmen hat, nicht gern
unmittelbar auf die Hände der Träger zu setzen, sondern auf einen zum
Sitzen halbwegs geeigneten oder hergerichteten Gegenstand, den die Hände
der Träger bequem anfassen können. Solche Gegenstände sind z. B. Sitz-
kränze aus Stroh, die die innere Hand jedes Trägers mit Obergriff umfasst,
ferner Tücher oder Gurte oder Strickgetiechte, die auch von einem Rumpf-
träger von hinten her verwendet werden können, endlich Holzstücke oder
besser dicke Stangen, die vermöge ihrer Länge bis zu den Händen der Träger
reichen und von jedem mit beiden Händen erfasst w^erden. Solche Stangen
lassen sich vielleicht in ihrer Mitte auch noch mit einer Sitzvorrichtung aus-
rüsten, so dass dann die äussern Hände der Träger vor sich die Stange er-
fassen, und die inneren mit dem künstlichen Sitze Fühlung halten. Vor der
Anwendung aller solchen Mittel sind sie vorsichtshalber durch Belastung mit
einem gesunden Erwachsenen auf ihre Tragfähigkeit zu prüfen.
Muss ein Kranker oder Verwundeter in wagerechter Lage befördert
werden, so verwendet man eine Bahre, die die Vortheile bietet, dass der
Kranke ein bequemes Lager hat, dass auch der etwa verletzte Körpertheil zweck-
mässig gelagert werden kann, dass ein Verband sich nicht leicht lockert, dass
Blutungen hintangehalten werden, dass die vielleicht vorhandenen Schmerzen
506 KRANKENTRANSPORT.
sich veiTingern, und dass die Träger ungehindert und schnell den Transport
ausführen können.
Eine Bahre zählt zu ihren wesentlichen Eigenschaften: dass sie aus
einer Unterlage (Lager) und aus HoJmen (Tragstangen) bestehe, dass sie eine
gewisse Mindest-Breite und Mindest-Länge besitze und dass ihre Festigkeit
den ihr zuzumuthenden Leistungen gewachsen sei. Nur wünschenswerte
Eigenschaften sind, dass sie Kopflehne und Füsse habe, dass sie leer ein
gewisses Mindestgewicht nicht überschreite und von einem Träger bequem
getragen werden könne, dass ihr Material leicht ersetzt, dass sie in kleinem
Kaume verpackt, dass sie gut gereinigt und gründlich entgiftet werden könne,
und dass ihre Handhabung einfach und leichtverständlich sei. Erst in dritter
Linie stehen die Wünsche: dass sie mit Transportbänden ausgestattet sei,
dass sie als Operationstisch diene, dass sie als mehrstündiges Lager im Trans-
portwagen genüge und dass sie aufgehängt oder auf ein Rädergestell ein-
gefügt werden könne. In dieser Reihenfolge kommen bei der Herstellung
einer Bahre deren Constructions -Eigenschaften in Betracht.
Auf gebahnten Wegen werden gern Räderbahren und in gebirgigem
Gelände Gebirgsbahren verwendet. Ihre hauptsächlichen Constructions-Eigen-
schaften sind die erwähnten; nur treten für jede dieser Bahrenart noch be-
sondere bauliche Eigenthümlichkeiten hinzu.
Die Räderbahre, zu deren Fortbewegung ein Mann (am Kopfende) hinreicht und
nur auf ungünstigeren Wegen zwei Mann nöthig sind, besteht aus einem zweiräderigen
Untergestell mit freischwingenden Druckfedern und aus einem zu diesem Gestelle passenden
Krankenkorbe. Zur Feststellung des Rädergestelles beim Beladen und Entladen dienen je
zwei an beiden Enden des Rädergestells angebrachte hölzerne Fasse oder Stützen, die vor
Beginn der Fahrt in die Höhe geschlagen und mit Riemchen an die Holme geknüpft werden.
Korb oder Trage, die mit den Holmen fest verbunden sind, haben eine stellbare weiche
Kopflehne und unter dieser eine Tasche zur Aufnahme der Habseligkeiten des Kranken.
Das Lager ist doppelte starke Segelleinwand oder Matraze. Zum Schutze gegen das Wetter
hat die Bahre ein Schirmdach und eine Schutzdecke von starker Segelleinwand. Ein Leib-
verdeck, das mit Gurten über den Rumpf des Kranken zusammengezogen wird, schützt vor
seitlichem Herausfallen. Zur Anstemmung der Füsse kann ein Fussbrett angebracht werden.
Die Gebirgsbahre muss so gebaut sein, dass sie in schwierigem Gelände von
einem Träger (etwa 15 Minuten lang) am Rücken, auf gebahnten Gebirgswegen aber von
zwei Trägern mit Holmen fortgebracht werden kann. Die Bahre darf die Arme und den
freien Blick des Trägers nach keiner Richtung hindern. Sie muss einfach, sicher, solid
geballt sein und darf nicht über 25 Pfund wiegen. Sie darf nur wenige und schmale
Flächen haben, damit sich Wasser oder Wind nicht in ihr fangen. Sie muss so kurz sein,
dass sie den Boden nie berühren kann. Durch Hand-, Kopf- und Fussstützen muss die
Lage oder der Sitz des Kranken bergauf und bergab gesichert sein. Sie habe ein wasser-
dichtes Schutzdach gegen Sonne, Regen und Wind. Sie sei zusammenlegbar und leicht
verpackbar, aber in ihren einzelnen Theilen nicht trennbar. Sie sei als vorübergehende
Unterkunft für den Kranken in Wagen, Schiffen etc. verwendbar (Werdnig).
An Stelle der Menschen-Hände hat man neuerdings die Beinmuskeln
des Menschen in den Dienst der Krankenförderung gestellt und das Reitrad
hierzu verwendet.
Die Reit radbahre, wie sie z. B. in den Berliner Unfallstationen bereit gehalten
wird, hat die Form eines fünfrädrigen (HöNio'schen) Reitrades, das durch zwei Personen,
die eine vorn, die andere hinten tretend, bewegt wird. Auf den mit Pneumatikreifen be-
zogenen Rädern ruht eine mit einer Matraze versehene Bahre, die abhebbar ist, um den
Kranken aus jedem Räume fortschaffen zu können. Schützt man die Bahre mit einem all-
seits geschlossenen Verdeck (aus Segeltuch), so entwickelt sich ein Reitrad w a g e n, der
durch seitliche Fenster aus mattgeschliffenem Glas Licht zutreten lässt und durch ver-
deckte Oeffnungen gelüftet werden kann. Während der Nacht wird das Innere des Wagens
mit einer elektrischen Lampe erleuchtet, die durch ein Trockenelement gespeist wird. Auch
dieses Verdeck ist aus demselben Grunde, wie die Bahre, abhebbar.
Es ist bekannt, dass die Menschenkraft mit der Kraft des Trag- oder
Zug-Thieres sich nicht messen kann. Wiewohl freilich muskulöse und ge-
wandte Männer, namentlich Gebirgsbewohner, mehrere Centner weite Strecken
spielend forttragen, so kann man dasselbe einem Durchschnittsmenschen
gegenüber der schonungsvoll fortzubewegenden Körperlast eines Kranken nicht
zumuthen.
KRANKENTRANSPORT. 507
Als Trag- und Zug-Thiere kommen hauptsächlich Maulthiere, Pferde,
Ochsen, Kameele und Elephanten in Betracht, die zum unmittelbaren Kranken-
transport mit besonderen Lagervorrichtungen ausgestattet oder zum mittel-
baren Transport als Zugthiere an Wagen gespannt werden. Dies ist in der
vielfältigsten Weise geschehen, und zwar hat besonders das Maulthier eine
ausgedehnte Verwendung in der Krankenförderung gefunden, wie nur bei-
spielsweise gezeigt werden soll.
Das Maulthier vereinigt allerdings eine Anzahl Eigenschaften in sich, die es unter
gewissen Umständen als vortrefilich geeignet zur Krankenförderung erscheinen lassen. Das
Maulthier kann eine Last von 150 kg ohne Schwierigkeit tragen, täglich 6 bis 7 Meilen
zurücklegen, geht selbst in schwierigem Gebirgsgelände ruhig und sicher und ist sehr ge-
nügsam. Sollen Kranke oder Verletzte auf Maulthieren befördert werden, so kann es ein
einzelner Verletzter nur so, dass er auf dem Maulthiere zweiseitig oder einseitig reitet,
wozu er, vielleicht nur im letzteren Falle, lediglich einer Rückenstütze bedarf oder auf
dem Rücken des Maulthieres liegt. Nur einseitig kann wegen der ungleichen Belastung
kein Kranker am Maulthiere sitzen oder liegen; es müsste denn an der anderen Seite ein
Gesunder Platz nehmen.
Als Lager für liegende Kranke werden Bahren (Litieres), für Sitzende Sessel (Cacolets)
verwendet. Die Bahre ist eisern, mit starkem Segeltuch überspannt und für nur einen
liegenden Kranken über dem Sattel angebracht, so dass sich der Kopftheil am Nacken des
Thieres erhebt, und die beiden Beinlager sich sanft an beiden Hüften des Thieres hinab-
neigen. Für zwei liegende Kranke haben sich die Bahren zu beiden Seiten des Thieres
dicht über dem oberen Ende der Beine, am Sattel befestigt, hinzuziehen, so dass der Kranke
in der Regel mit den Füssen nach vorn und mit dem Kopfe hinterwärts zu liegen kommt.
Sind zwei sitzende Verletzte zu fördern, so geschieht dies in Sesseln aus leichtem Stoffe,
z. B. Weidengeflecht, die an beiden Seiten des Thieres mit Haken am Sattel aufgehängt
werden, und zwar so, dass sich die Verletzten die Rücken zukehren, oder dass sie beide
vorwärtsseben. Der Sessel hat eine Lehne für Kopf und Rücken, zwei Seitenlehnen und
einen herabhängenden Beintheil mit Fussbrett. Für umfänglichere Krankentransporte
kann man ein Maulthier hinter das andere koppeln, so dass nur das erste am Zügel zu
führen ist.
Dieselben Thiere lassen sich an W^agen oder Karren gespannt als Zug-
thiere von Krankenwagen benutzen. Die Wahl der Thiergattung zu ge-
dachtem Zwecke ist von der Landesüblichkeit abhängig. Am meisten ver-
breitet sind die Pferde und Ochsen, die selbst in fernen Colonialgebieten an-
zutreffen sind. So ist z. B. das Verkehrsmittel für Personen und Frachten
im deutschen Südwestafr;ika der Ochsenwagen. 14 bis 20 Ochsen schaffen
da 40 bis 60 Centner in einem Tage 18 bis 45 lim weit fort. Freilich wird
das Maulthier zwar an Kraft, nicht aber in seinem lenksamen, ruhigen und
sicheren Verhalten von den anderen in Frage kommenden Thieren übertroffen.
Der in Mitteleuropa gebräuchliche Krankentransportwagen, kurz-
weg Krankenwagen, ist mit wenigen Ausnahmen auf Pferde eingerichtet.
Der Bau der Krankenwagen hat sich nach den Ansprüchen zu richten, die vor allem
an ein zweckmässiges Lastfuhrwerk gestellt werden und nach denen, die vom Zwecke, d. h. von
der Krankenförderung, erhoben werden. Darnach ist folgendes zu verlangen: Der Wagen
soll solid gebaut sein, unbeladen das Gewicht von 14 und beladen das von 24 Zollcentnern
nicht übersteigen, und von zwei Pferden in beladenem Zustande bequem gezogen werden
können. Er soll sehr lenksam, mit Durchlauf der Vorderräder, Bremse und Radschuh ver-
sehen sein. Die Wagenleitern sollen soweit nach vorn gesetzt werden, dass sie mit den
äussersten Rändern der Vorderräder in einer Linie stehen, damit man die Last mehr auf
die Vorderachse laden kann. Die Waage bringt man so nahe wie möglich an die Vorder-
achse, damit die fortbewegende Kraft der fortzubewegenden Masse möglichst nahe gebracht
wird. Die Pferde sind ganz kurz in die Stränge an eine lange Deichsel zu spannen, um
Pferdekraft zu ersparen. Die untere Seite der Deichselarme ist, da der Wagen überhaupt
gut federn soll, um die Kranken vor Stössen und Schwankungen zu bewahren, mit einem
Federzugbalken zu versehen; dieser besteht aus fünf aufeinander gelegten, verschieden
grossen Langfedern, deren Enden auf der leicht beweglichen Waage hin und her gleiten
können und es zulassen, dass die Waage, die durch einen in ihrer Mitte befindlichen
Zapfen in den Schlitz eines eisernen Fängers eingefügt ist, ziemlich leicht vor- und rück-
wärts bewegt werden kann; nicht nur, dass dieser Federzugbalken zugunsten der Kranken
die Federung des Wagens vergrössert, er erleichtert auch den Anzug und die Fortbewegung
und verhindert das Schlagen der Deichselspitze an Brust und Schulter der Zugthiere. Der
Wagen soll ferner ein festes Dach mit Galerie besitzen. Er soll vorn und an den Seiten
abgeschlossen werden können und mit soliden Vorhängen zum Schutze vor Regen, Wind
508 KRANKENTRANSPORT.
und Sonne ausgestattet sein. Seitlich soll er zur Erleichterung der Beladung zurückschlag-
bare Trittbretter besitzen, hinten aber durch einen soliden Deckel verschliessbar sein. Das
Geleise soll das landesübliche sein. Er muss im Winter, wenigstens bei städtischem Be-
triebe, auf Kuffen gestellt werden können. Die innere Einrichtung des Wagens soll haupt-
sächlich für liegende Kranke, und zwar bei grossstädtischem Betriebe und im Felde nicht
blos auf einen, sondern auf vier in zwei Etagen liegende Kranke berechnet sein, um auch
umfänglicheren Anforderungen zu genügen. Darnach berechnet sich die Zahl der Bahren,
die dem Wagen entnommen für sich zum Transport, aber auch als Lager im Wagen selbst
zu benutzen sind. Der Bau der Wagenbahren hat auf die schmalen Treppen vieler Privat-
häuser Rücksicht zu nehmen; sie sind besser nicht gepolstert und zur Erleichterung gründ-
licher Reinigung mit einem Zinkblechlager versehen. Ausser den Bahren hat der Wagen
Werkzeug für etwaige kleine Ausbesserungen, Labemittel und insbesondere Trinkwasser
(ein Wasserfässchen) mitzuführen.
Auf weitere Entfernungen hat die neuere Zeit die Eisenbahnen in den
Dienst der Krankenförderung gestellt, und zwar zu Friedenszeiten gewöhnlich
nur für einzelne Kranke, im Kriege für grosse Massen Kranker und Ver-
wundeter. Es ist selbstverständlich, dass das höhere Interesse sich den im
Kriege vorkommenden Massentransporten zuwendet.
Die Einrichtungen für solche Massen-Krankentransporte hat man Sani-
tätszüge, Lazarethzüge, Hilfslazarethzüge, Krankenzüge, fahrende Laza-
rethe etc. genannt. Diese Bezeichnungen hat man in einzelnen Staaten mit be-
stimmten an die Verschiedenheit der Einrichtungsweise angelehnten Begriffen
verbunden, so dass z. B. unter Hilfslazarethzug hier etwas anderes verstanden
wird als dort. Und so hat sich ein störender Begriffswirrwarr entwickelt.
Der die Sache am richtigsten bezeichnende Ausdruck ist jedenfalls
„Krankenzug"; und hat man das Bedürfnis, diejenigen Einrichtungen, die
nicht vorgesehen sind, sondern im Falle der Noth durch Fundbehelfe zu
Transporteinrichtungen an Ort und Stelle ins Leben gerufen werden, be-
sonders zu bezeichnen, so werden diese gewiss verständlich genug „Noth-
Krankenzüge" genannt werden dürfen.
Die Auswahl der zur Krankenförderung auf den Schienen geeigneten
Kranken und Verwundeten richtet sich nach den internationalen Bestimmungen
des Genfer Vertrags, nach Art und Grad der Krankheit oder Verwundung,
nach der Entfernung des Abschubortes vom Zielorte und nach der Beschaffen-
heit und Menge des für die Ausführung der Förderung verfüglichen Materials
und Personals.
Unstreitig ist hieb ei dem Zustande des Kranken oder Verwundeten die
grösste Rücksicht zu schenken. Der eine verträgt den Abschub nicht, der
andere ist ihn nicht wert, und eine dritte Gruppe wird durch den Abschub
gemeingefährlich, indem sie in eine bislang gesunde Bevölkerung das Gift
einer Seuche streut. Im allgemeinen empfehle ich für die schwierige Auf-
gabe der Auswahl folgende Gesichtspunkte:
Auszuschliessen vom Eisenbahn-Transport sind vor allem die gesunden
Spiegelfechter; sie sind nicht den Abschub wert und würden Bedürftigeren
den ßaum kürzen; man behalte sie an Ort und Stelle und bringe sie da
nöthigenfalls in eine Heilanstalt, in der active Feldärzte Dienst leisten. Ebenso
sind Leichtverwundete, für die die Wiedergewinnung voller Dienstfähigkeit
spätestens in etwa zwei Wochen erreichbar erscheint, zurückzuhalten; je
weiter der Verwundete von der Heimat entfernt ist, desto weniger darf man
an den Abschub denken; man transportire, wie ich in Wiederholung eines
meiner früheren Vorschläge empfehle, den Leichtverwundeten nur in den
Fällen, wo die Dauer der Hin- und Rückfahrt weniger Zeit beansprucht, als
der vierte Theil der Zeit beträgt, die vom Beginn der Fahrt bis zum Wieder-
eintreffen des Geheilten voraussichtlich vergehen wird. Fern von der Heimat
sind auch Syphilitiker mit den Anfangserscheinungen und Tripperkranke lieber
in besonderen Stationen der Feldheilanstalten zu behandeln als abzuschieben.
Schwer Verwundete, namentlich solche, für die baldiger Eintritt des Todes
KRANKENTRANSPORT. 509
ZU befürchten ist, sind ebenfalls nicht zu transportiren, ebensowenig die an
Hospitalbrand oder an Seuchen Leidenden.
Ist durch diese Ausschliessungen genügend angedeutet, welche Kranke
sich für die Förderung in die Heimat eignen, so möchte ich doch noch er-
gänzend hervorheben, dass jedenfalls alle die Kranken und Verwundeten früh-
zeitig für den Transport auszuwählen sind, die voraussichtlich nach Ablauf
ihrer Krankheit dienstuntauglich bleiben werden. Wie man sich Geistes-
kranken gegenüber zu verhalten hat, darüber sind die Meinungen getheilt;
ihre Förderung ist freilich mit grossen Schwierigkeiten verbunden; und doch
möchte ich die Lästigkeit des Transportes für viel geringer erachten als die-
jenige der Unterkunft eines Irren im Bereiche des Kriegsheeres — eine
Meinung, die gewiss auch betreffs der Geisteskranken der bürgerlichen Ge-
meinden getheilt wird.
An den Bau eines Krankenzuges darf man den Anspruch erheben, dass
schwerer Erkrankte oder Verwundete hier ohne Gefahr und so sorgfältig und
nahezu so ausgiebig wie in einer Krankenanstalt gepflegt werden können, dass
der Krankenzug nicht nur eine Transporteinrichtung, sondern auch ein fahren-
des Lazareth sei, ein, wie man ihn amtlich meist nennt, Lazarethzug sei. Würde
sich ein Heer, wie es für jedes zur Ausbildung des Feldsanitätspersonals nöthig
ist, einen oder mehrere Lazarethzüge schon zu Friedenszeiten beschaffen
wollen, so würde ich für einen solchen Musterzug folgende bauliche Eigen-
schaften vorschlagen:
Der Lazarethzug bestehe für 240 Kranke aus 40 Wagen, und zwar aus 30 Kranken-
wagen für je acht Kranke, 1 Arztwagen, 2 Wagen für Dienstpersonal, 1 Heilnaittelwagen,
1 Küchen-, 2 Vorraths-, 1 Gepäck-, 1 Magazin- und 1 Heizmaterial wagen.
Mit Ausnahme des Gepäck- und des Heizmaterial-Wagens seien alle Wagen nach
dem Durchgangssystem gebaut, an jeder Stirnseite seien ein- oder zweiflügelige, anzukettelnde
Thüren von mindestens 75 cm lichter Breite und von mindestens 190 cm Höhe anzubringen.
Zu gleichem Zwecke gehören zu jedem Wagen eine bewegliche Brücke mit und eine ohne
Verlängerungsklappe, sowie ein l'ö m langes, bei den Krankenwagen niederlegbares Ketten-
geländer.
Der besondere Bau der Krankenwagen eines Lazarethzuges — die im Falle des Bedarfs
hinzugenommenen gewöhnlichen Hilfs-Eisenbahnwagen kommen, wie alle übrigen Improvi-
sationen, nicht in Betracht — darf mit dem Bahndienstbetriebe nicht in Widerspruch
stehen. Zur Krankenverladning sind bequeme Stiegen und lange Puffer nöthig. Die durch
unebene Schienen verursachten Seitenschwankungen der Wagen müssen gemindert werden
können, indem mittels Schraubenkuppelung die Zughaken straff angezogen werden, so dass
die Puffer der stehenden Wagen sich eben berühren. Die Längsstösse werden durch
federnde Puffer und durch Einschaltung von elastischen Zügen in die Zugstangen, ausser-
dem für laufende Wagen durch allmählichen Uebergang in den Stillstand vermieden.
Die senkrechten Stösse werden durch schwache, lange, elastische und empfindliche Trag-
federn abgeschwächt.
Dach, Seitenwände und Fussboden des Krankenwagens seien zweiwandig. Die so
eingeschlossene Luftschicht schützt vor starken Temperaturschwankungen, unterstützt den
Heizzweck und erhöht — was hervorzuheben bis jetzt mit Unrecht unterlassen worden ist
— die Gesammt-Federkraft des Wagens.
Zum Abtritt diene in abgesondertem Räume ein Leibstuhl, der mit Winkeleisen am
Fussboden festgeschraubt ist, und dessen Abfallrohr auf den Bahnkörper mündet ; oder es
werde jedem Krankenwagen ein tragbarer Nachtstuhl überwiesen, der, während er un-
benutzt ist, auf der Plattform am Ende des Wagens steht.
Die unverdeckte Lichtfläche eines Krankenwagens betrage mindestens 1"5 in^ und
werde durch laternen artige Oberlichtfenster, unbewegliche Seitenfenster und umklappbare
Stirnfenster hergestellt. Die Nachtbeleuchtung werde durch Elektricität vermittelt.
Die Lufterneuerung ist im Winter durch die Heizanlage zu bewerkstelligen, im
Sommer durch das Oeffnen der Thüren und Fenster des Wagens. Da hierbei mit frischer
Luft zugleich Staub und Russ einzudringen pflegt, so ist auf Dachlaternen Bedacht zu
nehmen, deren Einrichtungen (Jalousien, Wasserbehälter etc.) der Luftverderbnis wehren.
Zur Heizung des Zuges eignet sich die Dampfheizung oder die örtliche durch um-
mantelte Regulir-Füllöfen, die die äussere freie Luft ansaugen.
Die wichtigste Ausstattung der Krankenwagen besteht in ihren Krankenlagern, von
deren Bau zu verlangen ist, dass sie viel mehr Krankenbetten als Transportbahren ähneln.
Wie diese acht Lager jedes Krankenwagens beschaffen und wie sie insbesondere im Wagen
angebracht werden sollen, das habe ich bereits auf Grund eines eigenen Systems und mit
510 KRANKENTRANSPORT.
Veranschaulichung durch Abbildungen im 17. Bande der 2. Auflage der Real-Encyklopädie
der o-esammten Heilkunde 1889 in ausführlicher Weise dargelegt, und so möge dieser Hinweis
an die Stelle einer Abhandlung treten, deren Länge mit den Grenzen der vorliegenden
Aufgabe in Widerspruch gerathen würde. Nur so viel sei bemerkt, dass die Neuheit meiner
Vorschläge hauptsächlich in der Verbindung einer starren und freien Aufhängung der
Krankenlager besteht.
Wie die Eisenbahnen pflegen auch die Schiffe für die Krankenförderung
auf weite Strecken benutzt zu werden, und wir haben es dann mit Kranken-
schiffen zu thun. Die Vortheile dieser Art der Krankenförderung bestehen
in der Geschwindigkeit und der Gleichmässigkeit der Bewegung, sowie in der
Luftreinheit der Krankenumgebung; Nachtheile sind damit gegeben, dass die
Bewegungen des Schiffes auf hoher See von einem den Kranken störenden
Zittern und Stossen begleitet sind, dass die Maschine ihre nächste Umgebung
überheizt, dass unter Deck die Luft ungünstig ist und der Kranke obendrein
die Seekrankheit bekommen kann. Diese Nachtheile heben sich theilweise
oder ganz auf durch ruhiges Wasser, auf Flüssen, bei genügendem Räume und
ausreichenden Lager-Einrichtungen.
Die Krankenförderung auf See ist theils eine innere, innerhalb eines
und desselben Schiffes, im Seegefecht als erste Hilfe sich vollziehende, theils
eine von Schiff zu Schiff oder von Schiff auf Land oder umgekehrt, als
Krankenzerstreuung sich vollführende.
Die erste Hilfe spielt sich in dem Schiffe ab, wo sie durch die Ver-
letzung veranlasst wird. Hier muss die Förderung oder die Bergung Ver-
wundeter möglichst rasch geschehen, weil diese die Bewegungen der thätigen
Schiffsmannschaft hindern. Die Krankentörderung oder Krankenbergung bewegt
sich in diesen Kriegsschiffen aus den Batterien nach einem bequem zugängigen
und geschützten Raum, und zwar theils wagerecht entlang den verschiedenen
Decken, theils senkrecht von Deck zu Deck und aus den Toppen; für den
Durchgang durch die Luken ist nur ein stuhlartiges Geräth mit Gurten und
stellbarem Fusstheil verwendbar, während für Landungen eine gewöhnliche,
aber möglichst zerlegbare Trage genügt.
Die der Krankenzerstreuung dienenden Schiffe sind zweckmässiger Weise eigens zu
ihrem Zwecke gebaute eiserne Dampfer für je 100 Krankenbetten. Ein solcher Dampfer
sei 60'95 m lang und 9-14 m breit mit drei Decks für je 30 kranke Mannschaften und für
10 Officiere. Die Decks müssen über der Wasserlinie liegen, damit Lüftung und Beseitigung
der Auswurfstoffe auf kürzestem Wege möglich sind. Jedes Deck sei mindestens 2'4 m
hoch und dehne sich so in die Fläche aus, dass auf jeden Kranken 5'5 m^ entfallen. Ma-
schinen und Abtritte liegen hinten von den Krankenräumen. Die Küche befinde sich auf
dem obersten überdeckten Deck. Die Lüftung vermitteln senkrechte Abzugsröhren und wage-
rechte Pforten, obendrein durch Maschinen bewegte Punkhas (E"'ächer), die Nachtbeleuchtung
ist elektrisches Licht und die Frischerhaltung der Nahrungsmittel vermittele eine Kaltluft-
maschine. Die ganze Lazarethausstattung werde in der Last aufbewahrt (Gribbon).
Vom wissenschaftlichen Standpunkte aus gehören in eine Abhandlung
über Krankentransport die geschichtliche Entwicklung mit allen ihren zeit-
weiligen in den verschiedenen Ländern sich abspielenden Rückschritten und
Fortschritten, die fördernden Ansichten hervorragender Fachmänner, die hier
und dort amtlich angenommenen und eingeführten Einrichtungen und die zur
Zeit abgeschlossenen wissenschaftlichen Endergebnisse. Wenn im Voraus-
gehenden von allen diesen Theilen nur der letzte gewürdigt wurde, und wenn
es diesen Zeilen vor allem darauf ankam, durch die Erfahrung begrenzte An-
sprüche an Eigenschaften und Leistungen eines Krankentransportes zu stellen,
so geschah diese Selbstbeschränkung im Hinblick auf das thatsächliche Be-
dürfnis des Arztes. Dieses Bedürfnis aber findet nicht in der Vornahme ent-
wickelungsgeschichtlicher Forschungen und in erschöpfenden Vergleichungen,
sondern in dem erfolgreichen Bestreben, die Gegenwart mit ihrer geistigen
Höhe verstehen zu lernen, seine wahre Befriedigung.
H. FEÖLICH.
KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 511
Kriminal-Anthropologie. Die Kriminal-Anthropologie ist ein neuer
Wissenszweig, welcher die Forschungen der Anthropologie für die Kriminal-
Justiz zu verwerten bestrebt ist. Sie bildet kein abgeschlossenes Wissens-
gebiet, sondern sie will nur bestimmte Resultate der wissenschaftlichen An-
thropologie der Rechtspflege zugänglich machen. Sie hat sich die Aufgabe
gestellt, den Verbrecher in körperlicher und geistiger Hinsicht zu ergründen,
um die Frage zu lösen, ob und auf welche Weise sich derselbe von Nicht-
Verbrechern unterscheiden lasse.
Die kriminal-anthropologischen Forschungen gehen nicht über den Anfang unseres
Jahrhunderts zurück. Die ersten Vorarbeiter in Deutschland waren die Aerzte Grohmann,
Heinrich, Ellinger und Gross, welche das Pathologische grosser Verbrecher-Naturen
erkannt haben. In England stellt Prichard den Begriflf der Moral-Insanity auf, welche
äusserlich eine grosse Aehnlichkeit mit dem Verbrecherthum aufweist. Der namhafte fran-
zösische Irrenarzt Morel beleuchtet die „Degeneresance de la race humaine." Der geist-
volle Maudsley wies mit Schärfe auf das wichtige Grenzgebiet hin, welches die voll-
geistige Gesundheit von der ausgesprochenen geistigen Erkrankung trennt. Als weitere
Forscher sind zu nennen: Legrand du Saull, Brieere du Boismont, Prosper Despine,
Laüvergne, Prosper Lukas, Griesinger, Salbrig und Krafft-Ebing, welche Alle das neue
Wissensgebiet vorzubereiten halfen.
Als der eigentliche Schöpfer der Kriminal-Anthropologie muss aber unbedingt der
geist- und phantasievolle Cesare Lombroso, Professor an der Universität, Gerichts- und Ge-
fängnisarzt in Turin, bezeichnet werden, dessen epochemachendes 1877 zuerst erschienenes
Werk: „Der Verbrecher in anthropologischer, ärztlicher und juristischer Beziehung'^ den
Anstoss zu weiteren umfassenden Forschungen gegeben hat. Lombroso hat in Italien die
sogenannte ,,positive Schule" gegründet, welcher namhafte Juristen und Aerzte beitraten
und welche auch bald angesehene Anhänger in Frankreich gewann.
Die Literatur der Kriminal- Anthropologie ist während der letzten beiden Jahr-
zehnte mächtig angewachsen. Aus Deutschland sind namentlich folgende Autoren zu
nennen: Baer, Binswanger, Flesch, Höldee, Kirn, Knecht, Koch, Kurella, Lappmank,
Mendel, Noel, Naecke, Richter, Sander, Sommer und Wildermüth; aus Oesterreich
Benedikt und Meynert, aus der Schweiz Bleuler und Forel, aus England Havelock,
Ellis, aus Frankreich Fe'rr, Francotta, Laurent, Naynau, Jardes, Sollier und Topinard,
aus Italien Ferri, Gradenigo, Marro und viele Andere, aus Belgien Da.llmagne und Morel.
(Sehr eingehendes Literatur- Verzeichnis findet sich in Naecke's „Verbrechen und
Wahnsinn beim Weibe". Wien u. Leipzig 1894).
Um ein möglichst anschauliches Bild von dem heutigen Stande der
Kriminal-Anthropologie zu entwerfen, werden wir am besten von den Tliesen
des Begründers der neuen Lehre ausgehen und dieselbe alsbald an der Hand
der bisherigen weiteren Forschungen und Erfahrungen kritisch zu beleuchten
suchen.
Der oberste Satz, welchen Lombroso's Verbrecherlehre aufstellt, lautet : „ Der
Verbrecher ist vermöge seiner eigenthümlichen individuellen Gehirnorgani-
sation von Geburt an zum Verbrecher bestimmt, er ist ein geborener Ver-
brecher, Rex nato, Delinquente nato. Er wird durch unerbittlichen Fatalismus
dem Verbrechen in die Arme geführt."
Es besteht also nach dieser Darlegung eine bestimmte Classe von
Menschen, denen die Neigung zum Verbrechen angeboren ist, die
also, ob sie nun wollen oder nicht, Verbrecher werden müssen. Sie sollen
sich durch eine Reihe charakteristischer körperlicher und geistiger Eigen-
schaften von den unbescholtenen Menschen in deutlicher Weise unterscheiden.
Diese Eigenschaften sollen in dem Grade hervortreten, dass sie dem Ver-
brecher ein geradezu specifisches Gepräge verleihen, den Verbrechertypus
(Tipo criminale), der namentlich bei den stets rückfälligen Gewohnheitsver-
brechern sehr ausgesprochen ist.
Es leuchtet auf den ersten Blick ein, dass die Consequenzen dieser
Theorie für unser ganzes sociales Leben im höchsten Grade einschneidend
wirken müssten. Sie würden nichts weniger als einen vollständigen Um-
schwung unserer ganzen Rechtsanschauung herbeiführen. Man könnte alsdann
den Uebelthäter nicht mehr für seine Thaten verantwortlich machen, denn
512 KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE.
die Schuld liegt lediglich in dem VerhäDgnis, dem er von Geburt aus ver-
fallen ist.
Eine so tief eingreifende Lehre bedarf natürlich auch mächtiger Stützen.
Diese findet Lombroso in der Annahme des Atavismus des Verbrecherthums,
sowie in pathologischen Verhältnissen des Verbrechers.
Das Verbrechen ist ein Rückschlag auf den Urzustand des
Menschen, es ist eine atavistische Erscheinung. Bei den Wilden,
die gleichsam ein Abbild der primitiven Menschen der Vorzeit darstellen, tritt
uns das Verbrechen als allgemeine Regel, nicht als Ausnahme, entgegen.
Geschlechtliche Verbrechen, Fruchtabtreibung und Kindesmord, auch Greisen-
mord waren erlaubte Handlungen; Diebstahl galt sogar als Zeichen von Kühn-
heit und Gewandtheit, welche nicht Strafe, sondern Lob verdiente.
Auch die dem Verbrecher ähnlichen Charaktereigenschaften des Kindes
beruhen auf diesem Rückschlage. „Die Keime des moralischen Irrsinns und
damit der Verbrechernatur finden sich, nicht ausnahmsweise, sondern in der
Regel, im ersten Lebensalter des Menschen, so dass ein Kind als ein den
moralischen Sinn entbehrender Mensch das darstellen wird, was der Irrenarzt
einen moralisch Irrsinnigen, wir aber einen Verbrecher nennen." Das Kind
zeigt nämlich Zorn, Rache, Eifersucht und Neid, Lügenhaftigkeit und Ver-
stellungskunst. Es fehlt ihm der moralische Sinn gänzlich. Es unterscheidet
nicht das Gute vom Bösen. Weiter beobachtet man an ihm Mangel von
Zuneigung, Grausamkeit, Trägheit, Hang zum Müssiggang und Eitelkeit, selbst
zur Trunksucht." Widerspricht nun schon die alltägliche Erfahrung dieser
pessimistischen Auffassung des kindlichen Charakters, so scheint es auch
völlig unlogisch, die Gemüthsverfassung des Kindes mit der der Wilden zu ver-
gleichen; handelt es sich doch bei jenem um noch nicht entwickelte sittliche
Begriffe, bei diesen um eine Entartung des ausgebildetem Charakters.
Der Verbrecher ist ein pathologischer Mensch. Sein Typus
entspricht nicht etwa, nach dem üblichen Sprachgebrauche, einer Summe
normaler körperlicher und geistiger Eigenschaften, vielmehr einer Reihe ab-
normer Erscheinungen. Diese Erscheinungen, theils körperlicher, theils gei-
stiger Art, sind nun im wesentlichen folgende:
Der geborene Verbrecher ist im allgemeinen schwererund grösser
als der ehrbare Mensch, aber weniger kräftig. Er hat oft verhältnismässig
lange obere Gliedmassen und nicht selten eine grössere Länge und Dicke
des linken Armes. Das letztere Verhalten soll darin begründet sein, dass
die Zahl der Linkshänder dreimal so gross als bei den Normalen sei; dies
sei eine atavistische Erscheinung. (Diese Annahme ist aber von anderen
Forschern durchaus widerlegt worden!). Dann soll der Verbrecher häufiger
eine helle als eine dunkle Farbe der Haut und der Haare, eine auffallend starke
Behaarung am Kopfe bei gering entwickeltem Barte, verschiedenartige Bil-
dungsfehler der Ohren, Missbildungen im Auge, insbesondere Schielen und
bleibende innere Augenfalte, Entwicklungshemmungen am Gaumen und Zunge,
entstellte Nase, verkümmerte Geschlechtstheile u. a. m. aufweisen. Sind nun
auch thatsächlich alle diese Erscheinungen öfter bei Verbrechern zu beobachten,
so sind sie doch entschieden nicht charakteristisch, denn man kann die
sämmtlichen geschilderten Anomalien gelegentlich auch bei unbescholtenen
Menschen beobachten.
Mit Recht wird der Untersuchung des Schädels des Verbrechers ein
grosses Gewicht beigelegt; gestattet doch dessen Grösse und Gestaltung —
unter gewissen Vorbehalten — einen vorsichtigen Rückschluss auf Grösse und
Gestaltung des Inhaltes desselben, des Gehirns. Nun hat Lombroso durch
zahlreiche eigene Untersuchungen und durch Heranziehung fremder Resultate
die interessante Thatsache festgestellt, dass (neben einer kleineren Zahl abnorm
grosser, wohl hydrocephaler Schädel) durchschnittlich eine auffallend geringe
KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 513
Capacität des Verbrecherschädels nachzuweisen sei. Diese Angabe bedarf
aber einer gewissen Einschränkung, weil dieselbe die Schädelgrösse der ver-
schiedensten Völker Europa's unter einander und mit der der Verbrecher in
Parallele setzt und auf keiner einheitlichen Messmethode beruht. Die zweifel-
losen Einflüsse der Rassen sind hiebei unberücksichtigt geblieben. Immerhin
haben auch andere Autoren, namentlich Feeki, Laurent und Benedikt, be-
stätigt, dass der Umfang des Verbrecherschädels im Durchschnitte wenigstens
etwas kleiner als der der frei lebenden Menschen sei, dass namentlich sein
Stirntheil eine gewisse Einengung zeige. Am meisten gilt das für die
Schädel der Gewohnheitsdiebe.
Wenn dagegen Lombroso weiter angibt, dass bei den Mördern die
brachykephale, bei den Dieben und Fälschern die dolichokephale Schädelform vor-
herrsche, so muss hiergegen eingewandt werden, dass Kurz- und Langköptig-
keit Rassen-Eigenthümlichkeiten sind und nicht zur Unterscheidung für be-
stimmte Arten von Verbrechern dienen können. Es scheint überhaupt kaum
denkbar, dass anthropologische Verschiedenheiten zwischen Dieben oder Fäl-
schern und Mördern bestehen, da doch der sogenannte geborene Verbrecher
zumeist seine Laufbahn als Dieb oder Betrüger beginnt und erst später zum
Mörder fortschreitet.
Ausser den genannten sollen nun weiters nach der positiven Schule
eine ganze Reihe anderer Anomalien für den Verbrecherschädel charakte-
ristisch sein. Ich will die wichtigsten hier aufführen: partielle oder halb-
seitige Asymmetrien, Missbildungen, wie Spitz-, Thurm- und Flachkopf,
vorzeitige Nahtverwachsungen oder umgekehrt Persistenz mancher Schädel-
nähte, wie der Stirnnaht und der queren Hinterhauptnaht (Inkabein), und
Schädel-Impressionen, sattelförmige Vertiefungen namentlich an den Scheitel-
beinen, stark hervortretende Augenbrauenbögen, fliehende Stirne, sehr ver-
grösserte Stirnhöhlen, grosse, weit von einander abstehende Augenhöhlen,
massiv entwickeltes Gesichtsskelet, besonders in der Gegend der Jochbögen,
in die Länge gezogenes Gesicht, voluminöse Entwicklung des Unterkiefers,
Anomalien der Weisheitszähne, Propathie, Auftreten des Schläfenbeinfortsatzes,
starkes Hervortreten der Linea semicircularis am Schläfenbeine, mittlere Hinter-
hauptsgrube, Verschmelzung des Atlas mit dem Hinterhaupt.
Gewiss bietet es ein grosses Interesse, diese verschiedenartigen Ano-
malien an Verbrecherschädeln nachzuweisen; allzu weitgehende Folge-
rungen dürfen aber nicht aus ihnen abgeleitet werden, denn
sie zeigen nicht die geringste Gesetzmässigkeit, sie fehlen bei
vielen Verbrechern völlig, während sie andererseits auch bei Unbescholtenen,
wenn auch seltener, und ebenso häufig, mitunter sogar noch häutiger bei
Irren und Idioten beobachtet werden.
Wenn endlich Autoren, wie Kurella, auf die Verwandtschaft des Ver-
brecherschädels mit dem Affenschädel hingewiesen haben, so ist diese
Anschauung von dem bekannten Anthropologen Ranke völlig widerlegt
worden: „Es fehlt jedes aflenähnliche Merkmal am Menschenschädel."
Ferner sei hier noch erwähnt, dass nicht alle Schädelanomalien angeboren
sein müssen, dass vielmehr manche krank machende Einflüsse, namentlich
Rhachitis, Verbildungen und Asymmetrien des Schädels zu erzeugen vermögen.
Es steht heute fest, dass die Schädelbildung ganz wesentlich von dem Gesammt-
Ernährungszustande im kindlichen Alter abhängt. Durch mangelhafte Er-
nährung können sich bleibende Deformitäten des Schädels von vollständig pa-
thologischem Charakter ausbilden, während sich unter günstigen äusseren
Umständen, namentlich durch körperliche Kräftigung, manche Schädel-Ano-
malien wieder zurückbilden können.
Liegt es nun auch sehr nahe, bei Anomalien des Schädels auch auf
solche des Gehirns zu fahnden, so ist das Resultat doch keineswegs stets
BiW. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. "^^
514 KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE.
ein positives, denn ein anormaler Schädel kann ein voHkommen normales
Gehirn beherbergen mit wohl entwickelter Geistesthätigkeit. Die positive
Schule hat den Fehlschluss gemacht, hier stets ein anormales Gehirn voraus-
zusetzen.
Von Gehirn- Anomalien wurden bei Verbrechern thatsächlich beobachtet:
nicht selten ein etwas niedriges Gehirngewicht, weiter atypische Ver-
hältnisse der Gehirnoberfläche, wie confluirender Windungstypus, Verdoppe-
lung der ersten Stirnwindung (Vierwindungstypus), stärkere Entwicklung
der sogenannten Affenspalte (Fissura parieto-occipitalis), unvollkommene Be-
deckung des Kleinhirns durch die Hinterhauptslappen (Benedikt) u. a. m.
Solche Befunde bilden aber keineswegs dieRegel, es sind viel-
mehr Ausnahmen. Viele Verbrechergehirne sind ganz normal
gebaut. Aus einem kleinen Gehirngewicht allein ist es nicht statthaft, einen
Rucks chluss auf geringere Geistesfähigkeit zu machen; die letztere hängt weit
mehr ab von dem Volumen und der Ausbildung der Gehirnoberfläche, namentlich
von der Entwicklung der Windungen. Man hat schon solche Anomalien bei
sittlich und geistig hochstehenden Menschen gefunden, während andere wieder
völlig mit solchen übereinstimmen, welche man an den Gehirnen mancher
geistig Defecten und namentlich Idioten trifft (Wildeemuth). Endlich muss
man sich wohl hüten, manche durch Syphilis, Trunksucht, Trauma und an-
dere Schädlichkeiten (welche in dem bewegten Leben der Verbrecher eine
grosse Rolle zu spielen pflegen) erworbene anatomische Hirn Veränderungen,
als angeborene Anomalien aufzufassen.
So führt denn die vorurtheilslose Beurtheilung der Gehirnbefunde der
Verbrecher, welche sich nicht auf einzelne Fälle, sondern auf grössere Zahlen
stützt, zu dem von namhaften Autoren bestätigten Ergebnis, dass man bis
heute vergeblich nach charakteristischen Abweichungen im anatomischen Bau
der Gehirne der Kriminellen geforscht hat; ein specifisches Ver-
brechergehirn existirt nicht. „Wie sollte auch" (fragt in treffender
Weise Baee) „ein Gehirn derart beschaffen sein können, dass es alle anderen
Functionen intact Hesse und nur insoweit sich pathologisch verhielte, dass
es zwangsweise zum Verbrechen antriebe?"
Ebensowenig wie die Verbrecher- Anatomie kann die von Lombeoso auf-
gestellte Verbrecher-Physiologie vor der Kritik bestehen. Vor allem
gilt dies von der behaupteten Gefühlsstumpfheit und Unempfindlichkeit gegen
schmerzhafte Eindrücke. Mag vielleicht auch eine solche bei manchen alten
Verbrechern infolge von psychischer Indolenz bestehen, so trifft dies doch
sicher bei der Majorität nicht zu, indem von unparteiischer Seite der Be-
weis erbracht ist, dass sich Verbrecher beim Ertragen von Schmerzen häufig
sehr wehleidig zeigen, sowie vor den allerkleinsten Operationen schon
zurückscheuen. Die von einigen Anhängern der positiven Schule beobachtete
Verschärfung des Gesichts- und Gehörssinnes kann sehr wohl durch lang-
jährige Uebung im Verbrecherhandwerk erreicht sein, während die mitunter
wahrgenommene Herabsetzung des Geruchs- und Geschmacksinnes auf erwor-
bene Ursachen zurückzuführen sein dürfte. Nichts weist also darauf hin,
dass irgend welche sensitive oder Sinneseigenthümlichkeiten den Verbrecher
angeboren seien. Wird endlich noch auf .die Neigung zum Tätowiren ein
besonderer Wert gelegt, so kann auch hier (wie dies u. a. Baee und Lappmann
erwiesen haben) gewiss von keiner endogenen Eigenschaft die Rede sein, es
sind vielmehr rein äusserliche Gründe, wie Nachahmung, Eitelkeit u. dgl. m.,
welche dazu antreiben. Beobachtet man doch diese Neigung nicht minder
häufig auch bei anderen, durchaus ehrbaren Menschenclassen, so namentlich
bei Soldaten und Matrosen!
Wenden wir uns jetzt der bedeutungsvollen Besprechung des geistigen
Zu stand es der Verbrecher zu. Zweifellos beobachten wir hier, worauf schon
KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 515
LOMBROSO aufmerksam gemacht und was von einer Reihe von Autoren Be-
stätigung gefunden hat, bei vielen Gewohnheitsverbrechern, namentlich bei
solchen, welche sich stets wieder Eigenthumsdelicte, namentlich Diebstahl, zu
Schulden kommen lassen, eine gewisse geistige Abstumpfung, eine
gewisse Intelligenz- und Willensschwäche (selbst die geriebenen Taschendiebe
sollen mehr schlau als gescheidt bei ihren Delicten vorgehen), bei anderen
eine nur einseitige psychische Begabung bei sonstiger geistiger Oede, weiter
hochgradigen Egoismus mit Mangel an altruistischen Gefühlen, Neigung zur
Eitelkeit und Prahlsucht mit Arbeitsscheu und totalem Fehlen von Scham-
und Reuegefühlen.
Die Annahme aber, alle diese Eigenschaften für endogene und angeborene
zu halten, beruht auf einer vollkommen unbegründeten Voraussetzung, viel-
mehr sind die meisten derselben erst im Leben erworben. Der Verbrecher
entstammt überwiegend häufig der untersten Classe der menschlichen Gesell-
schaft, in welcher im allgemeinen Intelligenz und Moral auf einer niederen
Stufe stehen. Die geistige Entwicklung derselben kann deshalb nur, me
Naecke sehr richtig bemerkt, mit der der unteren Volksschichten verglichen
werden und wird von dieser keine nennenswerten Unterschiede aufweisen. Der
Gewohnheitsverbrecher hat zudem in der Regel keine oder eine geradezu
schlechte Erziehung erhalten; von Jugend an hat er nur schlechte Vorbilder
vor sich gesehen. Es sind also im wesentlichen äussere Verhältnisse, welche
auf die betreffende Individualität eingewirkt haben. Von einem angeborenen
Verbrechercharakter zu sprechen, wäre also total irrthümlich.
Sehr treffend äussert sich in dieser Hinsicht der erfahrene Baer: „Die
Verbrecherclassen stimmen in ihrer geistigen Entwicklung mit den ihnen
gleichen Volksschichten in den meisten Gemüths- und Geisteseigenschaften
überein, nur treten bei ihnen gewisse Hemmungen und Ausschreitungen in
bestimmter Richtung, in grosser Schärfe und Häufigkeit hervor, so dass man
diese als charakteristische Eigenschaften der Verbrecher ansehen darf.''
Wollten wir aber auch zugeben, obwohl unsere bisherigen Betrachtungen
nicht zu diesem Resultat geführt haben, es bestehe wirklich ein Verbrecher-
typus, w^orunter wir eine Summe anatomischer und biologischer Eigenschaften
zu verstehen hätten, die mit einer gewissen Regelmässigkeit bei den betreffen-
den Individuen beobachtet werden, so kann nicht einmal Lombroso mit seinen
eigenen Zahlen für seine These eintreten; hat er doch selbst nur bei 257o
aller Verbrecher (und zwar bei 36^0 der Mörder und bei 2S^Iq der Diebe)
diesen angeblichen Typus feststellen können, bei Gelegenheitsverbrechern nur
bei 17^0 5 bei Betrügern und Bigamisten gar nur bei 6^0 • Bei so nie-
deren Zahlen kann doch nicht wohl ein Typus geltend gemacht
w^ e r d e n !
Weiter hat nun die positive Schule den Nachweis sogenannter Dege-
n er ationsz eichen als charakteristisch für den geborenen Verbrecher er-
klärt. Man versteht unter Entartungszeichen, Stigmata degenerationis, Ab-
weichungen gewisser Körpertheile von der durchschnittlichen Norm theils in
physiologischer, theils in morphologischer Hinsicht. Die echten Degenerations-
zeichen sollen angeboren und zum Theil atavistischer Natur sein. Nun sind
aber echte Atavismen äusserst selten. Mehr und mehr bricht sich die Ueber-
zeugung Bahn, dass die Mehrheit der früher als Rückschlagsbildungen auf-
gefassten Meriimale mit Unrecht so genannt werden, vielmehr als patho-
logische Erscheinungen aufzufassen sind, die eigenen Erkrankungen oder
solchen ihrer Erzeuger den Ursprung verdanken. Viele der sogenannten Ent-
artungszeichen sind einfache Hemmungsbildungen, durch ungenügende Lebens-
kraft oder Entwicklungsunfähigkeit des Kindes, bedingt durch schlechte Er-
nährung oder Krankheit während des intrauterinen Lebens, oder durch Er-
krankung oder Siechthum während der ersten Lebensjahre (somit Folgen von
33*
516 KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE.
Trunksucht, Tuberkulose oder Syphilis der Eltern oder von durch schädliche
äussere Lebensverhältnisse erworbenem Khachitismus).
Neuerdings haben nun zuverlässige Beobachter festgestellt, dass man die
echten sowohl als die unechten Degenerationszeichen auch bei Nicht-
Verbrechern vorfindet, und zwar nicht allein bei ehrlichen Geisteskranken
und Idioten, sondern auch bei Geistesgesunden. Knecht, Baer und Naecke
haben sich besonders mit dieser Frage beschäftigt. Dem letzteren verdanken
wir als Ergebnis seiner Untersuchungen die Feststellung der Thatsache, dass
unter den Geistesgesunden nur etwa 3«/o völlig frei von Entartungszeiehen
sind. Vereinzelt haben also diese Zeichen keine besondere Bedeutung,
sie gewinnen eine solche nur bei mehrfachem Auftreten. In dieser Hin-
sicht ist es immerhin bemerkenswert, dass, nach Naecke, die Zahl der fest-
zustellenden Stigmata von den Normalen zu den Geisteskranken, Epileptikern,
Idioten und Verbrechern hin zunimmt. Völlig wertlos ist also die Bedeutung
dieser Zeichen nicht. Aber die Anthropologie lehrt doch nur, dass das mehr-
fache Auftreten von Stigmata degenerationis n i c h t mehr bedeutet als einen
bald höheren, bald niederen Grad von Minderwertigkeit sowohl bezüglich
der geistigen als körperlichen Beschaffenheit des Trägers. Sie bedeutet eine
gewisse Veranlagung bald zu Neurosen, bald zu Psychosen, zu geistiger und
moralischer Schwäche, wird dadurch nur mittelbar zum Antrieb zu Verbrechen.
Die Degenerationslehre vermag also auch nicht die These vom geborenen
Verbrecher zu stützen, sie lehrt uns nur, dass es physisch und moralisch
minderwertige Individuen gibt, welche unter begünstigenden äusseren Um-
ständen leichter als vollwertige Menschen auf die Bahn des Verbrechens ge-
leitet werden.
Wir könnten füglich unsere Betrachtungen über die Anthropologie der
Verbrecher hiemit beschliessen, wenn es nicht noch gälte, gegen die kühnste
Hypothese der positiven Schule Stellung zu nehmen. Lombrüso begnügt sich
nämlich nicht, seine geborenen Verbrecher mit zahlreichen Pinselstrichen
freier auszumalen, er lässt sich schliesslich dazu verleiten, sein Bild mit einem
bekannten psychischen Krankheitszustande zu identificiren. Der geborene Ver-
brecher soll, nach seiner heute noch festgehaltenen Darlegung, nicht nur
eine durch Degenerationszeichen charakterisirte, eigenartige psychische und
somatische Erscheinung sein, sondern geradezu das Bild der Moral- Insanity
darstellen. Da nun auch, nach seiner Anschauung, der Epileptiker an Moral-
Insanity leide, so seien angeborenes Verbrecherthum, Epilepsie und Moral-
Insanity identische Begriffe!
Die ganz überwiegende Majorität der sachverständigen Beobachter hat
über diese absolut haltlose Hypothese rückhaltlos den Stab gebrochen.
Sittlicher Schwach- oder Blödsinn ist ein Zustand von Gehirnschwäche,
welcher mehr in moralischer als in intellectueller Schwäche sich äussert und
die Betroffenen, weil sie eben kein sittliches Bewusstsein besitzen, leicht und
gleichsam instinctiv zu unmoralischem, unter Umständen verbrecherischem
Handeln antreiben kann. Dieser Zustand ist nach heutiger psychiatrischer
Auffassung in der Regel keine selbständige Erkrankung, pflegt vielmehr unter
sehr verschiedenartigen Umständen, als Begleiter mannigfaltiger Störungen
aufzutreten, und muss namentlich nicht nothwendig angeboren, kann
auch erst in späteren Lebensjahren erworben sein. Es liegt nun nahe, dass
sich unter den degenerirten Gewohnheitsverbrechern ebensowohl solche mit
angeborener als mit erworbener geistiger Entartung befinden können. Die
Elemente der angeborenen Moral-Insanity treten mitunter bei von Geburt an
minderwertigen Gewohnheitsverbrechern hervor. Unter den an erworbenem
sittlichen Schwachsinn Leidenden spielen die in der Strafanstalt befindlichen
chronischen Alkoholisten die erste Rolle, an diese reihen sich Epileptiker
und Kopfverletzte an. So wird es uns denn nicht wundern, dass sich unter
KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE. 517
diesen psychischen Schwächlingen auch einzelne finden, welche indirect
das charakteristische Bild der Moral-Insanity aufweisen. Diese bilden aber
nur Ausnahmen, welche durchaus keine Verallgemeinerung gestatten. We i t -
aus die Mehrzahl der Gewohnheitsverbrecher zeigt nicht dieses
Krankheitsbild.
Noch viel weniger dürfte der psychische Zustand mit der Moral-Insa-
nity und indirect also mit dem chronischen Verbrecherthum identificirt werden;
alle wissenschaftliche Erfahrung und die primitivste humanitäre Krankheits-
auffassung widerspricht diesem absurden Dogma.
Nachdem nunmehr auch diese Stütze gefallen, dürfte die Lehre vom
geborenen Verbrecher als vollkommen widerlegt zu betrachten sein.
Fassen wir die Ergebnisse unserer Erörterungen in Kürze zusammen,
so führt uns die anthropologische Ergründung der Verbrecher zu folgenden
Schlüssen:
1. Das Verbreche rthum beruht nicht auf Atavismus, nicht auf
einem Rückschlag in den Urzustand des Menschen, nicht auf einen Rückfall
in den Geisteszustand der Kindheit.
2. Ein charakteristischer Verbrechertypus existirt nicht,
wohl aber (neben der überwiegenden Zahl vollkommen geistig und körperlich
normaler Menschen) finden sich bei Verbrechern öfters mancherlei Abwei-
chungen, namentlich psychische Minderwertigkeit, und intellectuelle und
moralische Abstumpfung bald mit, bald ohne somatische Degenerationszeichen.
Alle diese Abweichungen sind aber nicht einheitlich, vielmehr unter
einander so verschiedener Art, dass sie durchaus keinem Typus entsprechen.
3. Wir können auch nicht von einem geborenen Verbrecher
reden, denn nur ein kleiner Theil der thatsächlich vorhandenen Anomalien
ist angeboren, der grössere Theil erst im Leben erworben, und zwar durch
pathologische Zustände in der Kindheit (namentlich Rhachitis), durch aus-
schweifendes Leben (Alkoholismus, Syphilis) und endlich durch die Einflüsse
langjähriger Einsperrung.
4. Das Verbrecherthum als solches ist nicht vererb bar, nur die
degenerative Constitution kann vererbt werden.
5. Der habituelle psychische Zustand des Verbrechers ent-
spricht durchaus nicht dem Krankheitsbilde der Moral-Insa-
nity, nur ausnahmsweise wird neben den verschiedenartigsten anders gestal-
teten psychischen Schwächezuständen dieser Symptomencomplex in Strafan-
stalten beobachtet.
6. Degenerationszeichen haben nur, wenn mehrfach vor-
handen, eine gewisse Bedeutung, sie beweisen aber auch dann nicht
mehr, als eine Minderwertigkeit höheren oder geringeren Grades.
7. Die angeborenen Abweichungen im Bau von Schädel
und Gehirn der Verbrecher entsprechen vollkommen denjenigen, welche
bei ehrbaren Menschen aus psychopathischen Familien und bei Idioten
beobachtet werden.
Hiemit dürften die Grenzen der Kriminal-Anthropologie gezogen sein.
Sie kann nicht den Anspruch erheben, eine selbständige Wissenschaft zu
sein. Ihre bis heute gefestigten Resultate sind mehr negativer als positiver
Natur, sie führen zu dem Ergebnisse, dass der Verbrecher keine cha-
rakteristischen anthropologischen Merkmale zeige, welche
ihn von Nicht-Verbrechern unterscheiden, dass sich dagegen
unter den Verbrechern nicht wenige Menschen befinden, welche
Zeichen der Minderwertigkeit und der Entartung aufweisen.
Wollen wir also überhaupt eine Kriminal-Anthropologie anerkennen, so würden
518 KRIMINAL-ANTHROPOLOGIE.
wir sie wohl am treffendsten als einen Theil der Degenerescenz-
Anthropologie bezeichnen.
Trotz dieser mehr negativen Resultate bleibt es ein ungeschmälertes
Verdienst Lombroso's und seiner Schule, der anthropologischen Erforschung des
Verbrechers die Aufmerksamkeit zugewandt und die hohe Bedeutung der In-
dividualität bei der Strafthat gebührend gewürdigt zu haben. Hiemit ist ein
neues hochwichtiges Element in die gerichtliche Untersuchung eingeführt.
Man wird künftig die ererbte organische Belastung der Angeklagten mehr
als bisher berücksichtigen, sowie (natürlich nach Ausschluss der absolut un-
verantwortlichen ausgesprochen Geistesgestörten) bei zweifelhaften Fällen
Alkoholismus und Syphilis der Eltern, degenerative Zustände, namentlich des
Schädels, inbetracht ziehen, weiter geistigen Hemmungen, sittlicher Ab-
schwächung, gemüthlicher Reizbarkeit, Neurosen, namentlich der Epilepsie
und Hysterie, Kopftraumen u. a. m. die Aufmerksamkeit zuwenden. Man
wird die hochinteressante Verbrecher-Psychologie weiter zu ergründen suchen.
Die anatomischen Untersuchungen der Verbrecher-Gehirne werden zwar nichts
für sie charakteristisches, wohl aber öfters als bisher analoge Bildungen wie
bei Idioten und anderen Defect-Menschen erkennen lassen.
So ist denn wohl zu erwarten, dass auch künftig die An-
thropologie bei Verbrechern — wenn auch nicht im Sinne der posi-
tiven Schule — weiter eifrig] forschen und gewiss noch zu
manchen wissenswerten und praktisch bedeutungsvollen Auf-
klärungen führen werde.
Andere Forschungen der neueren Zeit haben uns darüber aufgeklärt,
dass mindestens von der gleichen Wichtigkeit für die Entstehung des Ver-
brechens wie der anthropologische Factor das „Milieu social", d. h. die
äusseren Lebensbedingungen des Menschen seien.
Hier kommt in erster Linie der hochbedeutsame Einfluss der Er-
ziehung des Menschen inbetracht, welcher namentlich bei ererbter ungün-
stiger Anlage fördernd oder hemmend einzuwirken vermag. Thatsächlich be-
gegnen wir auch, wenn wir das Vorleben der Verbrecher studiren, recht häufig
einer mehr oder weniger grossen Vernachlässigung bis zum vollständigen
Mangel jeder Erziehung; statt deren wirken nur Eindrücke der Rohheit und
Unsittlichkeit auf das empfängliche kindliche Gemüth ein und fordern zur
Nachahmung auf. Verbindet sich nun mit solchen Einflüssen ein angeborener,
geistiger Schwächezustand, so wird dadurch die beste Grundlage zum Ge-
wohnheitsverbrecherthum gelegt.
Weiter macht uns der moderne Verb reche r-Sociologe auf die
Wichtigkeit der socialen Verhältnisse für die Entstehung des Verbrecherthums
aufmerksam, auf deren hochinteressante Forschungen wir an dieser Stelle
leider nicht eingehen können.
Eine unbefangene Prüfung aller neueren Forschungen führt uns zu dem
schliesslichen Ergebnisse, dass die Neigung zum Verbrechen weder bei einer
bestimmten Classe von Menschen direct angeboren, noch allein durch das
Lebensmedium bedingt sei, dass dieselbe vielmehr auf das Zusammen-
wirken einer ganzen Reihe von Einzelfactoren zurückzuführen sei, welche
zum Theil im Individuum (bald angeboren, bald erworben) liegen, zum
Theil in den äusseren Verhältnissen, im Milieu social, begründet sind.
Nur eine gemeinschaftliche Würdigung der individuellen und
socialen Verhältnisse vermag also hier Licht und Klarheit zu
bringen.
KIRN.
KUNSTFEHLER. 519
Kunstfehler (ärztliche). I. Allgemeines.
Die Gesetzgebung macht mit Kecht jede Medicinalperson (Arzt, Impf-
arzt, Wundarzt, Hebamme) für dasjenige Heilverfahren strafrechtlich vei'-
antwortlich, welches durch ihr Verschulden eine Gesundheitsbeschädigung oder
den Tod des behandelten Kranken herbeigeführt hat. Die Vergehungen der
Heilspersonen in dieser Richtung werden als „Kunstfehler" bezeichnet. Man
versteht also darunter im Allgemeinen die fahrlässige Körperbeschädigung oder
fahrlässige Tödtung eines Menschen durch eine Heilsperson.
Alle Culturstaaten haben strafgesetzliche Bestimmungen gegen
die fahrlässigen Verfehlungen überhaupt, mehrere (Oesterreich, Russland)
daneben noch besondere Bestimmungen über die ärztlichen Fahrlässigkeiten,
die Kunstfehler der Aerzte.
Gesetz:liche Bestimmungen:
Oesterreich. Strfg. § 356. Ein Heilarzt, welcher bei Behandlung eines Kranken
solche Fehler begangen hat, aus welchen Unwissenheit am Tage liegt, macht sich, insoferne
daraus eine schwere körperliche Beschädigung entstanden ist, einer Uebertretnng, und
wenn der Tod des Kranken erfolgte, eines Vergehens schuldig, und es ist ihm deshalb die
Ausübung der Heilkunde so lange zu untersagen, bis er in einer neuen Prüfung die Nach-
holung der mangelnden Kenntnisse dargethan hat.
§ 357. Dieselbe Bestrafung soll auch gegen einen Wundarzt Anwendung finden, der
die im vorhergehenden Paragraphe erwähnten Folgen durch ungeschickte Operationen eines
Kranken herbeigeführt hat.
§ 358. Wenn ein Heil- oder Wundarzt einen Kranken übernommen hat und nach der
Hand denselben zum wirklichen Nachtheile seiner Gesundheit wesentlich vernachlässigt zu
haben überführt werden kann, so ist ihm für diese Uebertretung eine Geldstrafe von 50
bis 200 fl. aufzuerlegen. Ist daraus eine schwere Verletzung oder gar der Tod des Kranken
erfolgt, so ist die Vorschrift des § 335 (Vergehen gegen die Sicherheit des Lebens und
fahrlässige Tödtung) in Anwendung zu bringen.
Deutsches Reich. Strfg. B. § 222. Wer durch Fahrlässigkeit den Tod eines
Menschen verursacht, wird mit Gefängnis bis zu drei Jahren bestraft. War der Thäter
zu der Aufmerksamkeit, welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes
oder Gewerbes verpflichtet, so kann die Strafe auf drei Jahre Gefängnis erhöht werden.
§ 230. Wer durch Fahrlässigkeit die Körperverletzung eines Andern verursacht, wird
mit Geldstrafe bis zu 200 Thalern oder mit Gefängnis Jais zu zwei Jahren bestraft. War
der Thäter zu der Aufmerksamkeit, die er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes,
Bernfes oder Gewerbes besonders verpflichtet, so kann die Strafe auf drei Jahre Gefängnis
erhöht werden.
§ 232. Die Verfolgung leichter, vorsätzlicher, sowie aller durch Fahrlässigkeit ver-
ursachter Körperverletzungen tritt nur auf Antrag ein, insoferne nicht die Körperverletzung
mit Uebertretung einer Amts-, Berufs- oder Gewerbspflicht begangen worden ist.
Frankreich. Code penal. §§ 319, 320.
Italien. Strfg. §§ 554, 555.
Russland. Strfg. §§ 870, 871, 872, 873, 877.
Die gesetzlichen Bestimmungen verschiedener Staaten sind, wie sich aus
dem Wortlaut derselben ergiebt, wesentlich von einander abweichend. Wäh-
rend das österreichische Strafgesetz von den ärztlichen Kunstfehlern handelt,
ist von diesem Delict im deutschen Strafgesetzbuch und in dem (jetzt aller-
dings zurückgezogenen) österreichischen Strafgesetzentwurf (§§ 236, 244, 245,
246) gar nicht besonders die Rede, sondern die ärztlichen Kunstfehler fallen
hier unter die allgemeinen Bestimmungen über fahrlässige Tödtung und
Körperbeschädigung. Im deutschen Strafgesetz ist der Aerzte besondere
Erwähnung gethan nur in den §§238 (wissentlich unrichtige Ausstellung
eines Zeugnisses zum Gebrauch einer Behörde oder Versicherungsgesellschaft)
und 300 (unbefugte Mittheilung von Privatgeheimnissen). Auf demselben
Standpunkt steht auch die französiche und italienische Gesetzgebung, während
das russische Strafgesetz ähnlich dem österreichischen eine besondere Straf-
520 KÜNSTFEHLER.
kategorie von Kunstfehlern der Aerzte, Operateure, Feldscherer und Hebammen
aufgestellt hat.
Ein sehr ins Gewicht fallender Unterschied zwischen österreichischem
und deutschem Gesetze besteht darin, dass ersteres nur dann einen Kunst-
fehler annimmt, wenn der angerichtete Schaden wenigstens eine schwere
Körperverletzung ist, während letzteres sowie der österreichische Strafgesetz-
Entwurf jede, auch die leichte, fahrlässige Körperbeschädigung, deren sich
ein Arzt schuldig macht, bestrafen.
Mit Recht sagt der Strafrechtslehrer Professor Berner: „Zu missbilligen ist die
Bestimmung, wonach selbst bei leichten Körperverletzungen von Seiten eines Arztes ohne
Antrag der Verletzten der Staatsanwalt sich in Bewegung setzen soll. Wenn der Verletzte
selbst aus Gründen der Hochachtung für den sonst gewissenhaften Arzt, aus Gründen der
Dankbarkeit gegen ihn wegen früher geleisteter Dienste keine Verfolgung wünscht, so ist
das an die Verfolgung einer leichten, bloss fahrlässigen Verletzung gebundene öffentliche
Interesse nicht stark genug, um die Verfolgung zu rechtfertigen."
Eine besondere Härte des Gesetzes liegt in der Verschärfung der Strafe
bis zu drei Jahren Gefängnis, wenn „der Thäter zu der Aufmerksamkeit,
welche er aus den Augen setzte, vermöge seines Amtes, Berufes oder Gewerbes
besonders verpflichtet war." Diese Verpflichtung trifft natürlich bei dem
graduirten Arzte immer zu, sie trifft aber nicht zu bei dem unbefugten Heil-
künstler, beim Kurpfuscher. Richtet der Kurpfuscher einen Schaden an,
so kommt er viel besser weg, als der befugte Heilarzt; er kann einen Kunst-
fehler überhaupt nicht begehen, da er der ärztlichen Kunst bar ist, und ist
als Laie, auch wenn er Kranke behandelt, zu einer besonderen Aufmerk-
samkeit nicht verpflichtet.
IL Arten der Kuiistfehler.
Auf allen Gebieten der in so viele Specialzweige getheilten Heilkunde
können Fahrlässigkeiten vorkommen und es können somit in jedem Einzel-
fache der Medicin Kunstfehler begangen werden. Alle Zweige der Heilkunst
lassen sich jedoch ungezwungen in die drei Hauptgebiete der inneren Medicin,
der Chirurgie und der Geburtshilfe einreihen. Dementsprechend könnten wir
die Kunstfehler sachgemäss in medicinische, chirurgische und geburtshilfliche
untertheilen. Zweckdienlicher dürfte es jedoch sein, nach dem Vorgange von
Oesterlen die fahrlässigen Handlungen und Unterlassungen der Heilspersonen
selbst als Eintheilungsprincip zu Grunde zu legen und die häufigsten Ver-
schuldungen der Aerzte von diesem Gesichtspunkte aus zu betrachten,
1. Verweigerung der ärztlichen Hilfe und Vernachlässi-
gung eines Kranken. Im § 358 österreichisches Strafgesetz-B. ist der-
jenige Arzt mit Strafe bedroht, welcher einen von ihm „übernommenen"
Kranken zum Schaden desselben vernachlässigt zu haben überwiesen wird.
Gewiss kommen solche Vernachlässigungen vor, oft aber kann hiebei auch
eine falsche Anwendung des Gesetzes stattfinden. Zunächst ist festzustellen,
dass der Begriff in „Behandlung übernommen" keineswegs scharf genug um-
schrieben ist. Ist ein in ambulatorischer Behandlung stehender Kranker vom
Arzte „übernommen"? oder ein Kranker, welcher den Arzt einmal rufen lässt
und ihn nicht auffordert wieder zu kommen? Das ist wohl zu verneinen. Nur
eine nachgewiesene Abmachung kann den Arzt im Sinne des Gesetzes ver-
pflichten. Anders verhält es sich mit seiner moralischen Verpflichtung, welche
aber nicht Grundlage der Judicatur sein kann.
In Deutschland ist der ärztliche Berufszwang zugleich mit der Freige-
bung des ärztlichen Gewerbes aufgehoben, beziehungsweise nur auf den Fall
eingeschränkt worden, wenn der Arzt ;,bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr
oder Noth von der Polizeibehörde zur Hilfe aufgefordert, keine Folge leistet, ob-
gleich er ohne erhebliche eigene Gefahr der Aufforderung genügen konnte."
(§ 360, Abs. 10 d. Stf.-G. B). Selbst diese enger gefasste Bestimmung kann
KUNSTFEHLER. 521
noch zu einer ungerechtfertigten Ankhige gegen durch ihre Berufsthätigkeit
ohnehin schwer belastete Aerzte führen.
2. Verkehrte Behandlung aus Irrthum. Hierher gehören alle
auf diagnostischen Irrthümern beruhenden fehlerhaften Behandlungen. So
sind Aneurysmen für Abscesse gehalten und eröffnet worden, ohne dass für
Blutstillung Vorsorge getroffen war, und die Kranken unter der Hand des
Arztes verbluteten. Es wurden Beine amputirt wegen blosser Geschwüre am
Fussrücken, die man für Brand gehalten hat, und nicht erkannte Beinbrüche
wurden in einer Weise behandelt, dass Verkrüppelung die Folge war. In
diese Kategorie der Kunstfehler fallen auch zahlreiche geburtshilfliche Verschul-
digungen. Eine falsche Diagnose führt fast nothwendig zu einem verkehrten
und ungerechtfertigten Eingriff", der eine schwere Beschädigung oder den Tod
der Gebärenden oder des Kindes zur Folge hat.
Bei der Beurtheilung dieser Fälle kommt es darauf an, nachzuweisen,
dass es sich um Zustände handelt, welche bei einiger Aufmerksamkeit richtig
hätten erkannt werden müssen; es muss ein sträflicher Irrthum vorliegen.
Oft ist dann noch das unrichtig gewählte Heilverfahren fehlerhaft ausgeführt
worden, so dass nicht einmal „die gemeinen Fertigkeiten'' angewendet wurden.
3. Grobe Fehler in der Behandlung richtig erkannter
Leiden. Die forensische Casuistik ist reich an diesen therapeutischen Kunst-
fehlern. Ein Wundarzt hat eine Schmiercur so energisch angewendet und so
wenig überwacht, dass eine Verwachsung der Kiefer und der Zunge mit den
Rachengebilden eingetreten und der Kranke an Hungertod gestorben ist. Ein
anderer Wundarzt hat einem Mann wegen Krätze concentrirte Carbolsäure
einreiben lassen, so dass derselbe in kurzer Zeit zu Grunde ging. Dass
Hebammen Kinder im ersten Bade verbrühen, ist leider wiederholt vorge-
kommen.
In der Natur der Sache ist es gelegen, dass die wundärztlichen und
geburtshilflichen Missgriffe viel häufiger beobachtet werden als die bei der
Behandlung innerer Krankheiten. Bei letzteren ist auch der Nachweis des
thatsächlich angerichteten Schadens meist sehr schwer zu erbringen.
Dagegen habe ich die Verurtheilung eines gewerbsmässigen Kurpfuschers durch mein
Gutachten herbeigeführt, der beim Aderlasse die Leute so lange bluten Hess, bis die Blu-
tung von selbst stillstand, was wiederholt erst eintrat, wenn sie in Folge des grossen Blut-
verlustes ohnmächtig hinfielen. Derselbe Bauer bat auch einem Mann, dessen Arm von
Aerzten kunstgerecht amputiert worden war, den Verband abgenommen und den Ampu-
tationsstumpf mit einem Pflaster belegt. Es trat Eiterung auf, und der Mann ist an Blut-
vergiftung gestorben.
4. Unterlassung eines nothwendigen Eingriffes oder Heil-
verfahrens. Das verhältnismässig seltene Vorkommen von Verurtheilungen
wegen ärztlicher und wundärztlicher Unterlassungssünden erklärt sich vor
allem daraus, dass diese Fehler weit weniger in die Augen springen, als ver-
kehrte Handlungen, und ferner daraus, dass nur selten behauptet werden kann,
bei einer anderen Behandlung würde der schlimme Ausgang sicher vermieden
worden sein. Sehr schwer ist namentlich die Begutachtung der Behandlung
innerer Krankheiten. Hier muss den wissenschaftlichen Ueberzeugungen und
den praktischen Erfahrungen jedes einzelnen Arztes ein weiter Spielraum
gewährt werden, und es ist im Wesen vieler innerer Krankheiten und in der
Compliciertheit des menschlichen Organismus begründet, dass mitunter recht
verschiedene Verfahrungsweisen in der Behandlung ein und derselben Krank-
heit zum Ziele führen, und dass jede für vollkommen berechtigt, ja rationell
erklärt werden muss. Selbst die Homöopathie, diese grosse Unterlassungs-
sünde, wie Casper sie ungemein zutreffend nennt, vermag ich nicht so generell
wie er abzuthun als ein permanentes Verbrechen an der Menschheit, sondern
auch hier muss individualisirt werden. Jedenfalls hat das homöopathische
Heilverfahren noch niemals positiv geschadet, was leider von der Allopathie
522 KUNSTFEHLER.
nicht gesagt werden kann. Der allopathische Arzt hat mitunter durch zu
dreiste Verordnung differenter Arzneimittel, der homöopathische durch die
Unwirksamkeit seiner Darreichungen, also durch Unterlassung geschadet. Es
kann eben jeder Arzt, auch der Hydro- und Elektrotherapeut sich eines Kunst-
fehlers schuldig machen, aber es ist keine Behandlungsmethode, weder die
Homöopathie noch das KxEipp'sche Verfahren als solche ein Kunstfehler.
Wenn aber ein Homöopath einem Menschen, dem ein Fremdkörper ins Auge einge-
drungen ist, ohne auch nur einen Versuch zu machen, denselben zu entfernen, so lange
innerlich ( ! ) Belladonna nehmen lässt, bis — das Auge an Panophthalmie zu Grunde gegangen
ist, und Kkeipp einem Augenkranken so lange kaltes Wasser über den Kopf giessen lässt,
bis dieser zwar nicht sehend, aber inoperabel und auf einem Auge blind geworden ist, so
haben sich beide eines Kunstfehlers schuldig gemacht, ebenso wie der schulgerecht gebildete
Arzt, welcher solche Dosen chlorsaures Kali innerlich verordnet, dass der Kranke an der
dadurch erzeugten Vergiftung stirbt, und jede dieser Handlungen beziehungsweise Unter-
lassungen hat wirklich stattgefunden.
Nicht zu selten sind die ärztlichen Unterlassungssünden auf dem Gebiete
der Chirurgie: Bei einer unverkennbaren Arterienblutung unterbleibt die Unter-
bindung, bei einer eingeklemmten Hernie wird der lebensrettende Bruch-
schnitt (Herniotomie) nicht ausgeführt, ein verrenktes Glied wird nicht ein-
gerichtet u. s. f.
Die schwersten Verstösse im Gebiete der Chirurgie und Geburtshilfe
ergeben sich aber aus der Nichtbeachtung der Grundsätze der Antisepsis,
welche heute wohl als ein vollkommen gesichertes Gemeingut aller Aerzte
betrachtet werden müssen. Durch die zielbewusste Fernhaltung oder Ent-
fernung jener Mikroorganismen, welche Wundeiterungen und Blutvergiftung
herbeiführen, sind ungeheuere Fortschritte der Chirurgie und Geburtshilfe
erzielt und ausserordentliche Heilerfolge nicht nur möglich gemacht, sondern
Kegel geworden. Mit der denkbar grössten Sicherheit können heutzutage die
schwierigsten Operationen ausgeführt und sonst meist lebensgefährliche Ein-
griffe ohne Gefahr unternommen, bestehende Lebensgefahren durch rechtzeitig
eingeleitete antiseptische Verfahrungsweisen beseitigt werden. Jeder Arzt hat
die Pflicht, nach diesen „allgemein anerkannten und bekannten Regeln der
Heilkunst" bei der Wundbehandlung und bei operativen Eingriffen zu ver-
fahren; jeder Hebamme ist durch eine besondere Instruction ein genaues
antiseptisches Verfahren bei ihren Hilfeleistungen zur gesetzlichen Pflicht
gemacht.
Bedauerlicherweise sind gerade die Verfehlungen gegen diese Regeln
noch immer recht zahlreich, zumeist allerdings seitens der Hebammen, durch
deren vorschriftswidriges Handeln noch oft genug Menschenleben gefährdet
oder zugrunde gerichtet werden. Es ist ein grosses Verdienst von Nussbaum,
zuerst in eindringlicher Weise auf die Bedeutung der Antiseptik für die
gerichtliche Medicin hingewiesen und mit klarer und scharfer Logik die aus
der Erkenntnis der Gesetze dieser Heilmethode hervorgehende erhöhte Ver-
antwortlichkeit der Heilspersonen dargelegt zu haben. Es ist ein Gebot der
Schutzpflicht des Staates, für jeden Einzelnen gerade diese Vergehungen mit
ihren meist sehr schweren, aber in der Regel leicht nachweisbaren Folgen
mit Nachdruck zu verfolgen. Die Ausserachtlassung dieser wichtigsten und
völlig gesicherten Erkenntnisse der neueren Heilkunde hat, wie zahlreiche
eigene und fremde Erfahrungen lehren, nur zu viele Menschenleben schon
gekostet.
5. Fahrlässige Verbreitung von Krankheiten. Handlungen oder
Unterlassungen von Aerzten können selbstverständlich auch zur Verbreitung
ansteckender Krankheiten führen. So ist beispielsweise durch fahrlässiges
Vorgehen von Aerzten und Hebammen schon mehrmals Syphilis übertragen
worden; besonders ist eine solche Uebertragung wiederholt auch durch die
Impfung zu jener Zeit vorgekommen, als noch häufig humanisirte Lymphe
verwendet oder vom Arm eines Stammimpflings direct abgeimpft wurde. Das
KUNSTFEHLER. 523
deutsche Impfgesetz bedroht im § 17 auch den Impfarzt mit hoher Strafe,
„welcher bei der Ausführung der Impfung fahrlässig handelt." Bei der An-
wendung animaler Lymphe, die jetzt allgemein ist, besteht zwar diese Gefahr
nicht, wohl aber könnte bei fahrlässigem Vorgehen Tuberkulose vom Rinde
auf den Menschen übertragen werden.
Aber auch alle anderen Infectionskrankheiten können durch ärztliche
Fahrlässigkeit verschleppt werden. Es wird dies namentlich dann leicht
möglich sein, wenn die vorgeschriebene Anzeige an die Behörde unterbleibt
und dadurch die Vornahme der Desinfection und die Isolirung des Kranken
verhindert wird. Mit Recht ist dieser Fall in den neueren Strafgesetzen
besonders vorgesehen. So droht das deutsche Strafgesetz (§ 327 deutsches
Str.-G.-B.) empfindliche Strafen an, wenn der Arzt „die zur Verhütung des
Einführens oder Verbreitens einer ansteckenden Krankheit von der zuständigen
Behörde angeordneten Absperrungs- oder Aufsichtsmaassregeln wissentlich
verletzt"; und der österreichische Strafgesetzentwurf enthält gleichfalls zwei
bezügliche Bestimmungen; § 363: „Wer einer ansteckenden Krankheit in einem
Orte oder Gebiete, wo sie noch nicht verbreitet ist, Eingang verschafft, wird
mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis von drei Monaten bis
zu fünf Jahren bestraft. Hat die Handlung eine schwere Körperverletzung
verursacht, so ist auf Zuchthaus bis zu 10 Jahren, und wenn dadurch der
Tod eines Menschen verursacht worden ist, auf Zuchthaus von 5 — 20 Jahren
zu erkennen". — § 365: „Wer den Anordnungen, welche von der Behörde zur
Abwehr oder Tilgung einer ansteckenden Menschenkrankheit erlassen worden
sind, zuwider handelt, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft. Ist
in Folge dessen ein Mensch von der ansteckenden Krankheit ergriffen worden,
so tritt Gefängnis von drei Monaten bis zu drei Jahren ein".
Unter diese Strafbestimmungen würde auch fallen
6. das gewissenlose Experimentiren an Kranken. Darunter
sind keineswegs zu verstehen Versuche, welche an Kranken mit neuen Behand-
lungsmethoden, die theoretisch begründet sind, zum Zwecke der Heilung eines
Leidens angestellt werden, Solche Versuche müssen gemacht werden, ohne
sie wäre ein Fortschritt in der Heilkunde unmöglich. Wohl aber ist es ver-
werflich und strafbar, wenn Kranke zu Versuchen verwendet werden, welche
nicht auf die Heilung ihres Leidens, sondern auf die Feststellung anderer
pathologischer Thatsachen, z. B. die Uebertragbarkeit eines natürlichen oder
künstlich gezüchteten Krankheitsstoffes abzielen, sobald dadurch dem Kranken
ein Nachtheil an seiner Gesundheit oder eine Gefahr erwächst. Ich glaube,
dass es kein Richter zu billigen und kein Gerichtsarzt zu vertheidigen ver-
möchte, wenn zu solchem Zwecke in ärztlicher Behandlung stehenden Kindern
Syphilis inoculirt und in Anstalten befindliche Geisteskranke mit Tripper
behaftet werden, ^xie es thatsächlich geschehen ist. Solche wissenschaftlich
allerdings höchst wertvolle Versuche könnten meines Erachtens vielleicht an
vollsinnigen Gesunden mit ihrer Zustimmung ausgeführt werden, niemals aber
an unmündigen oder entmündigten Kranken, die sich im besonderen Schutze
einer Heilanstalt befinden.
Diese Auffassung ist sowohl von hervorragenden Gorichtsärzten vertreten, wie auch
durch richterliches Urtheil als zutreffend anerkannt worden. So veröffentlichen Briand
und Chaude den Wortlaut eines vom Gerichtshofe zu Lyon gefällten Urtheiles über Aerzte,
welche einen mit Kopfgrind behafteten 10jährigen Knaben behufs Feststellung der Ueber-
tragbarkeit der sogenannten secundären Syphilis mit dieser Krankheit behaftet haben, und
Klusejiann theilt weitere derartige Fälle mit. Casper spricht sich dahin aus, dass für diese
Fälle selbst die Bestimmung des § 229 deutsches Straf-Gesetz Anwendung finden könne:
„Wer vorsätzlich einem anderen Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit
zu zerstören geeignet sind, wird mit Zuchthaus bis zu 10 Jahren bestraft."
7. Vergiftung durch Fahrlässigkeit. Diese leider auch nicht
allzuselten vorkommenden Unglücksfälle ereignen sich entweder durch sorglose
524 KUNSTFEHLER.
und unrichtige ärztliche Verschreibungen oder durch nicht entsprechende
Anordnungen über die Darreichung richtig verordneter Medicamente oder —
dies am häufigsten — durch Verwechslung von Medicamenten in den Apothe-
ken, mitunter durch übereifrige Yerschreibung von in ihren Wirkungen noch
nicht genügend erprobten neuen Heilmitteln, von denen die hochentwickelte
chemische Industrie immer wieder neue auf den Markt wirft. Gewiss kann
und soll keinem Arzt untersagt ^verden, neue Heilmittel an Kranken zu ver-
suchen, ja das Streben nach Vermehrung der therapeutischen Mittel ist voll-
auf gerechtfertigt. Bei genügender Vorsicht sind derartige Versuche wohl
auch immer ungefährlich. Der Arzt muss sich aber gerade in diesen Fällen
seiner vollen Verantwortlichkeit bewusst sein und hat sich zu vergegen-
wärtigen, dass sein Diplom kein Freibrief für gewissenloses Experimentiren
am Krankenbette ist, sondern dass sein geleisteter Eid ihn vielmehr ver-
pflichtet, jederzeit mit der grössten Gewissenhaftigkeit und mit Anwendung
seines ganzen Wissens und Könnens in der Ausübung seines verantwortungs-
vollen Berufes zu Werke zu gehen.
IIL Die Aufgaben des Gericlitsarztes.
Der Beweis eines Kunstfehlers pro foro kann nur durch gerichtsärztlichen
Ausspruch erbracht werden und ist diese Aufgabe des Gerichtsarztes immer
eine sehr peinliche, häufig auch eine ausserordentlich schwierige Sache. Der
Sachverständige hat zu untersuchen, inwieweit der Beschuldigte oder Angeklagte
sich eine Fahrlässigkeit zuschulden kommen liess oder, im Sinne des öster-
reichischen Gesetzes, inwieweit er Fehler begangen hat, aus welchen Un-
wissenheit am Tage liegt, und welche Folgen aus dem fahrlässigen Handeln
oder Unterlassen hervorgegangen sind. So einfach dies zu sein scheint, so
schwierig gestaltet sich die Sache meist im Einzelfalle.
Zunächst entsteht die Frage: Was verstehen wir unter einem Kunst-
fehler im ärztlichen (nicht juridischen) Sinne? Schon in der Beantwortung
dieser Grundfrage ergeben sich erhebliche Schwierigkeiten. Casper hat
folgende Definition eines Kunstfehlers aufgestellt: „Die nach einer ärztlichen
(wundärztlichen, geburtshilflichen) Behandlung erwiesenermassen eingetretene
Gesundheitsbeschädigung oder Tödtung eines Menschen ist dem Arzte zuzu-
rechnen, wenn seine Behandlung ganz und gar abweichend war von dem, w^as
in Lehren und Schriften seiner wissenschaftlich anerkannten Zeitgenossen für
einen solchen oder einen diesem ähnlichen Fall als allgemeine Kunstregel
vorgeschrieben und durch ärztliche Erfahrung der Zeitgenossen als richtig
anerkannt worden ist." Dieser Satz ist mit Recht allgemein zurückgewiesen
worden, so sehr er auch im ersten Augenblicke zutreffend zu sein scheint.
Wenn die Heilkunde eine feststehende Wissenschaft und die Heilkunst stereotyp
wäre, dann würde es leicht sein, ihre Regeln festzustellen. Die medicinische
Wissenschaft ist aber in fortwährender Entwicklung, im unausgesetzten Fort-
schreiten begriffen; sie gestaltet sich vor den Augen der „Zeitgenossen"
wesentlich um. Wir kennen nur verhältnismässig wenig unwandelbare, natur-
gesetzliche Thatsachen und Methoden der praktischen Medicin. Dahin gehört
nach ViRCHOw beispielsweise die Lehre von den Maximaldosen derjenigen
Arzneimittel, die bei bestimmter Gabe tödtlich (als Gifte) wirken; dahin zähle
ich die Lehre von der mechanischen Blutstillung verletzter grosser Blutgefässe.
Ein Arzt, welcher durch Ueberschreitung der wissenschaftlich festgestellten
Maximalgabe eines differenten Arzneikörpers (Giftes) den Tod eines Menschen
bewirkt oder der bei durchschnittener Armarterie sich auf die Verordnung
kalter Umschläge beschränkte und die Compression oder Unterbindung unter-
liesse, so dass der Verletzte trotz der Anwesenheit eines Arztes an Verblutung
zugrunde ginge, hätte einen, man könnte sagen absoluten Kunstfehler
gemacht. Die Beurtheilung dieser ist allerdings leicht. So stehen aber die
Dinge nur selten.
KUNSTFEHLER. 525
Unter der segensreichen Wirkung der Antiseptik und Asepsis werden
heute Operationen ausgeführt an Organen, deren Verletzung vordem für
absolut tödtlich und daher für kunstwidrig galt; noch zeitgenössische Aerzte
würden vor einigen Decennien Exstirpationen des Kehlkopfs, der gesunden
Eierstöcke, einer Niere, Magenresectionen u. dgl. für vollkommen unerlaubte
Eingrilfe erklärt haben. Haben die Heroen der modernen Chirurgie, ein
ßiLLROTH, Lister und Andere, welche solche Operationen zuerst ausgeführt,
Kunstfehler begangen? Und welche Wandlungen sind in der Behandlungsart
innerer Krankheiten vor sich gegangen ! Man denke nur an die Behandlung
der Fieberkranken mit kaltem Wasser und an die Verbannung des Aderlasses
aus der Behandlung der Lungenentzündung. Es hiesse den Fortschritt der
Heilkunde gewaltsam aufhalten wollen, wenn man jedes ärztliche Handeln
dem Urtheile der Zeitgenossen überwiese, ganz abgesehen davon, dass erst
festgestellt werden müsste, wo die Zeitgenossen anfangen und aufhören.
Caspers Definition kann demnach nicht angenommen werden.
ViRCHOw hat die Kunstfehler in ähnlicher Weise definirt als Verstösse
gegen allgemein anerkannte Regeln der Heilkunst. Er wendet sich gegen
die zu allgemeine Fassung der gesetzlichen Bestimmungen und schlägt folgende
Zusätze zu den §§ 222 und 230 Deutsch. StrGB. vor, eine Anregung, die
jedoch unberücksichtigt geblieben ist. „Auf technische Handlungen oder
Unterlassungen, welche approbirte Medicinalpersonen in Ausübung ihres
Berufes begehen, finden diese Bestimmungen nur dann Anwendung, wenn
dabei aus Mangel an gehöriger Aufmerksamkeit oder Vorsicht gegen allgemein
anerkannte Regeln der Heilkunst Verstössen ist" — und — „approbirte
Medicinalpersonen, welche in Ausübung ihres Berufes aus Mangel an gehöriger
Aufmerksamkeit oder Vorsicht und zuwider allgemein anerkannten Regeln
der Heilkunst durch ihre Handlungen oder Unterlassungen die Gesundheit
eines ihrer Behandlung übergebenen Menschen beschädigt haben, sollen . . .
bestraft werden" . . . Mit diesen „allgemein anerkannten Regeln der Heil-
kunst" könnten nach Wald nur diejenigen Erfahrungssätze der Wissenschaft
und Regeln der Kunst gemeint sein, welche einem Systemwechsel nicht
unterliegen, welche als „-Naturgesetze, als axiomartige Wahrheiten" weder
von den verschiedenen Heilmethoden und Schulen, noch von den Anschauungen
der Einzelnen geändert oder verschieden angesehen werden können. Wenn
auch bedauerlicherweise Virchows Vorschläge nicht Gesetzeskraft erlangt
haben, so bilden sie für uns doch als Ausdruck der Auffassung einer höchsten
medicinischen Autorität eine bleibende, wertvolle Unterlage für die gerichts-
ärztliche Beurtheilung von ärztlichen Kunstfehlern, wobei der „Verstoss gegen
allgemein anerkannte Regeln der Heilkunst" nur in dem beschränkten Sinne
eines Verstosses gegen Naturgesetze, gegen Wahrheiten, welche über dem
Wechsel der ärztlichen Anschauungen und unberührt von diesen stehen, auf-
zufassen ist.
Der Verstoss gegen die allgemein anerkannten Regeln der Kunst kann
aber unter Umständen gar nicht strafbar sein, dann nämlich, wenn er unter
einer falschen Voraussetzung begangen worden ist, wenn er veranlasst worden
ist durch einen Irrthum, durch ein Verkennen des Falles. „Ist der Irrthum
zu entschuldigen, dann ist auch die Handlung entschuldbar, welche dem
Irrthum entsprungen ist," sagt zutreffend Oesterlen, „vorausgesetzt, dass in
der Art ihrer Ausführung nicht selbst wieder ein grober Fehler vorgekommen
ist." Wenn ein Wundarzt keinen Versuch macht, eine von ihm erkannte
Verrenkung wieder einzurichten, und der Patient kommt dadurch zu Schaden,
so ist der Arzt sicherlich strafbar. Hat er aber die Verrenkung nicht sicher
erkannt, sondern sie nur für eine Quetschung gehalten, so kann er für die
Unterlassung der Einrichtungsversuche wohl nicht strafbar sein. Es kommt
dann nur darauf an, ob der Fall derart war, dass — nach dem Ausdrucke
526 KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN.
des ehemaligen bayrischen und hannoverschen Strafgesetzbuches — schon „die
gemeinen Kenntnisse und Fertigkeiten" ausgereicht haben würden, den Fall
richtig zu erkennen, was im österreichischen Strafgesetze mit dem „am Tage-
liegen der Unwissenheit" und im deutschen mit „ausser Auge setzen der
Aufmerksamkeit" ausgedrückt ist.
Allein auch damit ist die Aufgabe des Gerichtsarztes noch nicht er-
schöpft und die strafbare Fahrlässigkeit noch nicht für alle Fälle erwiesen.
Es muss auch festgestellt werden, dass der Arzt in der Lage war, von den
gemeinen Kenntnissen und Fertigkeiten Gebrauch zu machen, dass er nicht
durch äussere Umstände, wie Krankheit oder Uebermüdung daran gehindert
war, oder dass er nicht etwa durch die Nothwendigkeit einer schnellen Ent-
schliessung, welche ihm zu ruhiger Prüfung der Umstände nicht Zeit Hess,
zu seinem Fehlgriff verleitet worden ist, kurz — der Arzt muss in der Lage
gewesen sein, frei und dadurch mit voller Verantwortlichkeit zu handeln.
„Freilich," sagt Viechow, „das Publicum und zuweilen auch der Staatsanwalt
gehen nur zu leicht von der Voraussetzung aus, der Arzt dürfe nie krank,
nie ermüdet, nie erschöpft sein. Der Arzt soll zu allen Zeiten bereit sein,
nicht nur die Behandlung eines Kranken zu übernehmen, sondern sie auch
in der exactesten und besten Weise zu führen. Ist es doch in den bekannt
gewordenen Verhandlungen wegen Verletzung des § 200 das gewöhnliche
Verfahren des Staatsanwaltes gewesen, den Aerzten den Beweis zuzuschieben,
dass sie erkrankt oder erschöpft waren, während er seinerseits den Beweis
hätte liefern sollen, dass dieselben weder erkrankt noch erschöpft sein konnten".
Wenn sich der Arzt jedoch durch eigene Schuld in eine Lage gebracht hat,
in der er unfähig war, von seinen Kenntnissen und Fertigkeiten Gebrauch
zu machen, z. B. durch Trunkenheit, so wird sein in diesem Zustande be-
gangener Fehler nur umso strafbarer sein.
Zur Strafbarkeit eines Kunstfehlers gehört endlich noch der Nachweis,
dass ein Schaden angerichtet worden ist. Als solchen verlangt das öster-
reichische Gesetz wenigstens eine schwere Verletzung im Sinne des § 152
StrGB., das deutsche und der österreichische Entwurf erachten jede, auch die
leichteste Verletzung für genügend zum Thatbestande des Kunstfehlers.
Sicherlich muss aber unter allen Umständen ein Nachtheil an der Gesundheit
nachgewiesen werden, und das ist in jedem Falle eine Obliegenheit der
begutachtenden Aerzte.
Unter Berücksichtigung aller für den Thatbestand und forensischen
Nachweis eines Kunstfehlers erforderlichen Momente hat Oesterlen eine
Definition gegeben, welche zwar etwas schwerfällig, aber sachlich vollkommen
entsprechend ist. Er sagt: „Ein Arzt hat sich eines strafbaren Kunstfehlers
schuldig gemacht, wenn er, obgleich er sich in einer Lage befand, welche
ihm die freie Benützung seiner Kenntnisse und Fertigkeiten gestattete, dennoch
einen seiner Behandlung anvertrauten Kranken dadurch beschädigt oder ge-
tödtet hat, dass er in seinem Thun oder Lassen gegen allgemein anerkannte
Kunstregeln verstiess, während er doch den Fall richtig erkannt hatte oder
bei Anwendung der gewöhnlichen Kenntnisse und Fertigkeiten richtig erkannt,
und den Fehler vermieden haben würde". Diesen Satz dem Gutachten über
ärztliche Kunstfehler zugrunde zu legen, wird unter allen Umständen ge-
boten sein. J. KRATTER.
Kurpfuscherei und Geheimmittelwesen. „Kurpfiisciier"oder „Me-
dicinaipfuscher" nennt der gesetzlich approbirte Arzt alle diejenigen
Personen, die sich — ohne dazu durch eine staatliche Anerkennung befugt
zu sein — mit der Behandlung von Kranken behufs deren Heilung befassen.
In Oesterreich enthält dieses Wort einen gesetzmässigen und strafrecht-
lichen Begriff, indem das Oesterreichische Strafgesetzbuch den unbefugten
KÜRPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN. 527
Betrieb des Arztgewerbes unter Strafe stellt, eine Bestimmung, die auch der
jüngst vorgelegte neue Entwurf beibehält.
In letzterem lautet der § 454: „An Geld bis zu 100 fi. wird bestraft: 1. Wer unbe-
fugt ärztliche Verrichtungen gewerbsmässig unternimmt. 2. Wer unbefugt Arzneimittel für
Kranke gewerbsmässig verabfolgt. Bei wiederholter Verurtheilung kann auf Haft oder auf
Geldstrafe bis zu 200 fl. erkannt werden."
Gleiche Bestimmungen galten früher auch in Deutschland, wo eben-
falls die Ausübung ärztlicher Praxis ausschliesslich den staatlich approbirten
Medicinalpersonen zugestanden, jedem anderen dagegen unter Androhung
empfindlicher Strafe verboten war. Seit dem Inkrafttreten der Nord-
deutschen Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 aber ist für das
Gebiet des Deutschen Beiches volle Kurirfreiheit gewährt, und damit in
Deutschland der Begriff des „Kurpfuscherthums" vor dem Gesetze hinfällig
geworden. Seitdem darf sich Jedermann, wer es auch sei, und gleichviel,
welche Ausbildung er genossen oder nicht genossen, mit der Heilung Kranker
beschäftigen, ja diese Beschäftigung zu seinem Berufe und Gewerbe machen.
Grenzen werden dieser Befugnis erst da gesteckt, wo die Paragraphen des
Strafgesetzbuches über Betrug, über Körperverletzung oder über Verbrechen
oder Vergehen wider das Leben in Kraft treten. (Allein den Apothekern ist
die Vornahme ärztlicher Handlungen nach wie vor untersagt. Siehe z. B.
§27 der Oesterreichischen Apothekerordnung, sowie die „Vorschriften be-
treffend Einrichtung und Betrieb der Apotheken im Königreich Preussen'' vom
16. December 1893, § 37). Seitdem befassen sich, wie es bei dem der mensch-
lichen Natur tief innewurzelnden Drange, einerseits vorgefundene Noth zu
lindern, andererseits die eigene Person in den Vordergrund zu drängen und
sich selbst Vortheile zu verschaffen, nicht anders sein kann, schier Unzählige
bald nur gelegentlich, bald aber auch dauernd und gewerbsmässig mit der
Behandlung Leidender. Gross ist unter diesen die Zahl solcher, die mit dem
Baue, den Einrichtungen, Functionen und Störungen des menschlichen Körpers
nur in sehr lückenhafter Weise vertraut sind, ja über alle diese Dinge gerade-
zu verkehrte und grundfalsche Anschauungen besitzen. Es bedarf kaum der
näheren Begründung, dass diese zur Zeit im Deutschen Reiche herrschende
Ordnung des Heilwesens .nach verschiedenen Richtungen hin ernstliche Ge-
fahren in sich birgt. Zweifellos begibt sich erstens der einzelne Patient, der
sich oft mit vollem Vertrauen der Kunst des Laienarztes anvertraut, häufig
in schwere Gefahr für Leib und Leben: unzähligemale wird die für eine ver-
hältnismässig leichte, rasche und sichere Heilung der verschiedenen Leiden
günstige Zeit der Anfangsstadien mit dem zwecklosen Schmieren indifferenter
Pfuschersalben nutzlos vergeudet, gar nicht zu reden von den zahllosen
zweifellos constatirten Fällen, in denen die Behandlung des Pfuschers nicht
allein nicht geholfen, sondern geradezu geschadet und Gesundheit und Leben
vernichtet hat. Und handelt es sich in derartigen Fällen immer noch allein um
das Wohl und Wehe des einzelnen Kranken, so kommt in anderen durch das
Treiben der Kurpfuscher häufig zweitens auch das allgemeine Wohl in die
allerschwerste Gefahr; es ist sicher festgestellt, dass so manche Endemie oder
gar Epidemie von Diphtherie, Pocken, Cholera, Typhus und anderen gefähr-
lichen Infectionskrankheiten mit Leichtigkeit vermieden oder doch ganz er-
heblich gemildert worden wäre, wenn nicht die ersten Fälle derselben in die
Hände unwissender Pfuscher gerathen wären, die nicht imstande waren, die
Grösse der Gefahr zu erkennen, und dieser entsprechend sachgemässe Anord-
nungen zu treffen. Endlich geschieht drittens den berechtigten Interessen
der staatlich approbirten Aerzte durch die ihnen von selten der Kurpfuscherei
erwachsende Concurrenz in unbilliger Weise Schaden. In der That nimmt
das Gesetz den legalen Arzt gegenüber der Thätigkeit nicht approbirter Heil-
beflissener lediglich dadurch in Schutz, dass es die Qualification als Arzt
(d. h. das Recht, sich so nennen zu dürfen) als rechtlich erworbenes und in-
528 KÜEPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN.
tangibles Privilegium anerkennt, und Vorspiegelungen jedes Unberufenen,
mittels deren ein solcher sich die Benennung als Arzt anzumaassen sucht,
verfolgt und unter Strafe stellt, nach Maassgabe des § 147 der Reichsgewerbe-
ordnung, Punkt 3:
„Wer, ohne hierzu approbirt zu sein, sich als Arzt (Wundarzt, Augenarzt, Geburtshelfer,
Zahnarzt, Thierarzt) bezeichnet, oder sich einen ähnlichen Titel beilegt, durch den der
Glauben erweckt wird, der Inhaber desselben sei eine geprüfte Medicinalperson, wird mit
Geldstrafe bis zu 300 Mark und im ünvermögensfalle mit Haft bestraft."
Der damit den Aerzten gewährte Schutz ist gegenüber den erfinderischen,
stets auf neue Kniffe sinnenden Bestrebungen gewerbsmässiger Pfuscher nur
gering, zumal die Frage, ob ein bestimmter Titel, den ein solcher sich bei-
gelegt hat, ein „ärztlicher" sei, nach den Umständen des concreten Rechts-
falles oft sehr streitig sein kann. Gegenüber diesem Mangel an gesetzlichem
Schutze haben sich die Aerzte eine Art von Selbsthilfe zu schaffen gesucht
durch die Gründung ärztlicher Bezirksvereine, welche — neben der Wahr-
nehmung der ärztlichen Standesinteressen in weitestem Umfange — auch un-
ablässig auf die Thätigkeit des Pfuscherthums ein wachsames Auge richten
und sich bemühen, es nach Möglichkeit in Schranken zu halten. Eben diesen
ärztlichen Standesvereinen danken wir vielfach die wertvollsten Kenntnisse
über das Treiben der Kurpfuscher; ist doch in manchen Bezirken — wie z. B. in
gewissen Theilen der Provinz Pommern — infolge ihrer Wachsamkeit und gegen-
seitiger Mittheilung aller diesbezüglichen Beobachtungen fast jeder einzelne
Kurpfuscher sämmtlichen Aerzten des Bezirkes sowohl dem Namen und der
Person nach, wie auch in seiner gesammten Thätigkeit bekannt.
Wenden wir den Vertretern des Kurpfuscherthums im einzelnen unsere
Aufmerksamkeit zu, so können war dieselben zunächst überall in zwei Haupt-
classen unterscheiden: in die gewerbsmässigen und die gelegentlichen. In
beiden Classen finden wir Angehörige aller nur erdenklichen Berufszweige
und Stände, vom unwissenden Schäfer, der nicht seinen Namen schreiben
kann, bis zum gebildeten Lehrer und Geistlichen, ja bis zum vornehmsten
adeligen Junker und -zur hocharistokratischen Gutsherrin. Und beide Classen
von Kurpfuschern treiben überall ihr Wesen, wo Menschen wohnen, auf dem
Lande sowohl wie in den Städten. Die gewerbsmässigen Kurpfurscher haben
vielfach eine überraschend grosse Klientel und verdienen zum Theil erstaun-
liche Summen Geldes. Auf dem Lande schenkt das Publicum mit Vorliebe
einem alten Schäfer sein Vertrauen, der oft seine „Wissenschaft" vom Vater
oder Grossvater überkommen oder „ererbt" hat; an anderen Orten behaupten
alte Frauen entschieden den ersten Platz. Vielfach haben diese Leute nicht
die mindesten Kenntnisse von anatomischen, physiologischen und pathologischen
Dingen; meist würden sie nicht imstande sein, auch nur die Lage von Herz
oder Magen, Leber, Milz oder Niere im Körper richtig zu bezeichnen. Den-
noch sind sie zumeist weit davon entfernt, Betrüger zu sein. Sie selbst sind
felsenfest von der ihnen innewohnenden Kraft, Krankheiten heilen zu können,
überzeugt, obgleich ihre ganze Heilthätigkeit lediglich darin besteht, dass sie unter
geheimnisvollen Maassnahmen, unter denen vielfach Beziehungen zum Monde
eine grosse Rolle spielen, häufig gänzlich sinnlose Worte über den Kranken
hinsprechen. — Hauptsächlich in den Städten ist das Feld der Heilthätigkeit
für eine grosse Anzahl von Personen, die doch wenigstens ein gewisses, wenn
auch oft nur geringes Maass von Kenntnissen in ärztlichen Dingen besitzen.
Zum grossen Theil sind dies Leute, die einmal eine Zeit lang mit wirklichen
Medicinalpersonen in Verkehr gestanden und sich dabei einige Handgriffe,
eine Anzahl schönklingender gelehrter Worte und ein grosses Maass von
Selbstvertrauen angeeignet haben: frühere Diener von Aerzten oder Apothekern,
ehemalige Wärter an Kranken- oder Irrenhäusern, Kliniken und Polikliniken,
Bade- oder Curanstalten u. dgl. m. Eine ähnliche Rolle spielen viele Bar-
biere, Hühneraugenoperateure, Masseure u. s. w. Der Mehrzahl nach sind
KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN. 529
diese alle männlichen Geschlechts, doch liefert auch das Genus femininum
gleichwertige Figuren in Gestalt früherer Wärterinnen, Ptiegefrauen und
namentlich Hebammen. Im Volksmunde führen diese würdigen Damen meist
den Ehrentitel der „klugen" oder „weisen Frau". Auch von allen diesen
Personen sind viele keineswegs bewusste Betrüger. Freilieh aber finden sich
gerade in den Reihen der soeben bezeichneten Classe von Kurpfuschern in
grosser Anzahl auch diejenigen, welche mit wohlbewusster Gewissenlosigkeit
und berechnetem Eigennutz ihr Gewerbe lediglich zur Ausbeutung der Noth
und Unwissenheit meist armer Leidender betreiben. Gerade dieser Sorte von
Heilkünstlern gehören die gefährlichsten Individuen des gesammten Kur-
pfuscherthums an, auf die das Gesetz im Interesse des Allgemeinwohles gar
nicht scharf genug Obacht haben kann.
Aus der zahllosen Menge der gelegentlichen Kurpfurscher soll hier
allein die grosse Zahl der kurirenden „barmherzigen Schwestern" und der
prakticirenden, namentlich oft horaöopathisirenden Lehrer und Geistlichen
hervorgehoben werden. Solche Personen treiben die Kurpfuscherei vieler
Orten in ausgedehntestem Maasse und verdienen deshalb den schärfsten und
schwersten Tadel. Gemäss der ihrem Amte eigenen autoritativen Stellung
und des sie auszeichnenden Bildungsgrades sollten gerade sie das vermittelnde
Glied zwischen Bevölkerung und Arzt sein und dem letzteren auf alle
Weise die Wege ebnen. Statt dessen thun sie mit ihrem Kuriren und
Quacksalbern gerade das Gegentheil, und bedenkt man, dass der Beweggrund
für diese Handlungsweise bei ihnen doch nicht erhoifter Gelderwerb, sondern
im Grunde häufig nichts anderes ist, als eitle Selbstgefälligkeit und Herrsch-
sucht, so muss man jenem lieferenten in der Pommerschen Aerztekammer*)
recht geben, der das Treiben dieser Schwestern, Lehrer und Pastoren als
„die jämmerlichste und unw ürdigste aller Medicinalpfusche-
reien" gebrandmarkt hat.
Die mit dem ungestörten freien Blühen des Kurpfuscherthums zweifel-
los verknüpften Uebelstände und Gefahren haben im Deutschen Ptoiche vom
ersten Tage der jetzt herrschenden Ordnung an ununterbrochen eine lebhafte
Gegenströmung gegen die unbeschränkte Kurirfreiheit wach gehalten und
es bewirkt, dass in weiten Kreisen des Volkes immer von neuem die Wieder-
herstellung des vor 1869 herrschenden Zustandes mit dem strengen Verbote
der Kurpfuscherei gefordert ward. Leicht begreiflicher Weise haben sich auch
zahlreiche Vertreter des ärztlichen Standes dieser Bewegung angeschlossen,
und vielfach ist gerade in den letzten Jahren von selten zahlreicher ärztlicher
Körperschaften die Wiedereinsetzung der Kurpfuschereigesetze dringend ge-
fordert worden. Ueber die Berechtigung dieses Verlangens lässt sich streiten.
Jedenfalls sind die Bestimmungen der Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869
nicht ohne reiflichste Erwägung und triftige Gründe eingeführt worden. Da-
mals waren es hauptsächlich zwei Momente, welche die Annahme jener Be-
stimmungen durchsetzten: einmal die Befürchtung, mit der Verstaatlichung
aller krankheitheilenden Thätigkeit würde ein erstarrender Hauch der Bu-
reaukratie das freie wissenschaftliche Element im ärztlichen Stande lähmen.
Wenngleich wir selbst diesen Grund nicht für stichhaltig halten, da wir
meinen, dass jeder Jünger der Wissenschaft, der einmal die Lust freier For-
schung kennen gelernt hat, nicht so leicht dem todten Schema verfallen werde,
so glauben wir doch, dass jene Befürchtung aus den Kreisen, von denen sie
damals geltend gemacht worden ist, bis zum heutigen Tage kaum gewichen
sein wird. Der zweite damals ausschlaggebende Grund war die Erwägung,
dass sich das Publicum nicht werde zwingen lassen, allein gerade den vom
Staate anerkannten Heilkundigen sein Vertrauen zuzuwenden. Auch dieser
*) Dr. Steinbrück, Stettin. Protokoll der 14. Sitzung der Aerztekammer für die Pro-
vinz Pommern. 18. Dec. 1895.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. ö4
530 KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN.
Grund hat in den seit 1869 verflossenen Jaliren wohl kaum etwas von seiner
Berechtigung eingebüsst. Dazu kommt als drittes nicht zu unterschätzendes
Gegenmoment, dass nach dem Erlasse eines gesetzlichen Verbotes die Kur-
pfuscherei voraussichtlich im Verborgenen nicht weniger kräftig blühen wird
als jetzt, nur dass es dann um vieles schwieriger sein wird, sie zu beachten
und ihre Verderblichkeit nachzuweisen. In den Augen des Volkes wird zu-
dem der Kurpfuscher, wenn er gesetzlich geächtet und verfolgt wird, als
Märtyrer erscheinen und nur um so höher geachtet sein. Diese Erwägungen
bestimmen uns, für die Beibehaltung des nun einmal bestehenden Zustandes
zu plaidiren. Unerlässlich aber erscheint uns die Forderung, dass der Staat
weit aufmerksamer als bisher sein Augenmerk auf die Auswüchse des Kur-
pfuscherthums richten müsse und alle durch dasselbe verschuldeten Gesund-
heitsschädigungen mit unnachsichtlicher Strenge ahnde. Viel häufiger als bis
dato sollten hiergegen die Paragraphen des Strafgesetzbuches über Betrug
(§ 362), über Körperverletzung (§§ 223 bis 232) und über Verbrechen oder
Vergehen wider das Leben (§§ 216 — 222) in Anwendung gebracht werden.
Dass dies in der That möglich ist, haben bereits mehrfache, zu harten Ver-
urtheilungen gewissenloser Kurpfuscher gelangte Gerichtsverhandlungen be-
wiesen. (Z. B. Erkenntnis des Landgerichts in Tübingen vom 12. Juni 1880
Verurtheilung zweier Kurpfuscher zu je 18 Monaten Gefängnis aus § 263
des Strafgesetzbuches.)
Mit dem Kurpfusch erthum in engem Zusammenhange steht das Geheim-
mittelwesen, das vielfach geradezu als ein besonderer Zweig des ersteren
auftritt. Gerade bei der Zubereitung, Verbreitung und Anwendung von Heil-
mitteln geheimnisvoller Zusammensetzung ist es sehr häufig lediglich auf
die gewissenlose eigennützige Ausbeutung der Noth Leidender abgesehen.
In 0 esterreich ist darum der Handel mit Geheimmitteln sowohl den Apo-
thekern als allen übrigen Personen im Principe verboten (Patent vom
26. Nov. 1775 Nr. 6). Im Deutschen Reiche unterscheidet die Gesetz-
gebung zwischen dem Handel mit Geheimmitteln durch die Apotheken und
seitens anderer Personen. Für die Apotheken existiren hinsichtlich dieses
Sonderzweiges von Arzneistoffen keine allgemeinen Bestimmungen; doch
richtet allein in Sachsen die Behörde überhaupt kein Augenmerk darauf.
Bayern und Württemberg suchen den Handel mit Geheimmitteln durch
darauf gelegte hohe Steuern einzudämmen, während er in einigen anderen
Bundesstaaten theils von einer für jedes einzelne Mittel besonders ein-
zuholenden, behördlichen Genehmigung abhängig germcht, theils einfach
gänzlich verboten ist. In Preussen dürfen die Apotheken auf ärztliche Ver-
Schreibung hin jedes Mittel verabfolgen, auch wenn ihnen seine Zusammen-
setzung unbekannt ist, da in diesem Falle allein der Arzt die volle Ver-
antwortung trägt. Im Handverkauf dagegen ist ihnen nur die Abgabe solcher
Mittel gestattet, deren sämmtliche Bestandtheile dem Apotheker bekannt und
in denen keine Stoffe enthalten sind, dei'en freihändiger Verkauf durch die
Medicinalgesetze untersagt ist, oder deren Verkaufspreise die amtliche Arznei-
taxe überschreiten. Alle Mittel von einer dem Apotheker unbekannten Zu-
sammensetzung dagegen sind vom Handverkaufe ausgeschlossen. (Ministerial-
verfügung vom 17. August 1880.)
Was den Handel mit Geheimmitteln ausserhalb der Apotheken an-
betrifit, so verbietet im Deutschen Reiche zunächst die Reichsgewerbeordnung
(im § 56) allen Handel mit Giften und Arzneien im Umherziehen, während
für jeden anderen Verkauf von Geheimmitteln der § 367 des Reichsstraf-
gesetzbuches in Geltung tritt: „Mit Geldstrafe bis zu 150 Mark oder mit Haft
wird bestraft . . 3. wer ohne polizeiliche Erlaubnis Gift oder Arzneien,
soweit der Handel mit denselben nicht freigegeben ist, zubereitet feilhält,
verkauft oder sonst an andere überlässt." Die Ankündigung von Geheim-
KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN. 531
niitteln durch die Presse ist in Oesterreich verboten, während sie im
Deutschen Reiche durch allgemeine Bestimmungen nicht beschränkt, wohl aber
durch Polizeiverordnungen vielfach eingeengt und in manchen Bezirken
gänzlich verboten wird. Die einzelnen diesbezüglichen Bestimmungen weichen
in mannigfachster Weise von einander ab und erfahren zudem sehr ver-
schiedene Auslegung und Ausführung. Zum grossen Theile liegt das daran,
dass bis vor kurzem eine allgemein giltige Definition des Begriffes „Geheim-
mittel" gänzlich fehlte. Für das Königreich Preussen war in dieser Be-
ziehung zunächst ein Revisionsurtheil des Kammergerichts vom 4. December
1890 von Wichtigkeit, welches zum ersten Male eine Begriffsbestimmung
festlegte, indem es erklärte: Ein Geheimmittel ist „ein in Arzneiform in den
menschlichen Körper einzuführendes, staatsseitig nicht anerkanntes oder
speciell genehmigtes Heilmittel gegen Krankheiten, welches unter einem
Namen empfohlen wird, durch welchen seine Natur und Zusammensetzung
nicht ausreichend bezeichnet wird." Den Sinn dieser für die Praxis leider
ungenügenden Definition hat sich jüngst auch das Reichsgericht in einer
Entscheidung angeeignet, und in allerletzter Zeit ist derselbe für Preussen
dui'ch einen Runderlass der Minister der Medicinalangelegenheiten, des Innern
und für Handel und Gewerbe geradezu officiell gemacht worden. In diesem
heisst es: Es soll „von dem Grundsatze ausgegangen werden, dass ein
Heilmittel seiner Eigenschaft als Geheimmittel höchstens dadurch entkleidet
wird, dass seine Bestandtheile und Gewichtsmengen sofort bei der Ankündigune:
in gemeinverständlicher und für Jedermann erkennbarer Weise vollständig und
sachentsprechend zur öffentlichen Kenntnis gebracht werden. Angaben, aus
denen nur ein Sachverständiger ein Urtheil über das Mittel sich bilden kann,
sind als ausreichend nicht zu erachten, insbesondere nicht die Bezeichnung
der Bestandtheile des Mittels in lateinischer Sprache. Hiermit steht im
wesentlichen auch im Einklänge die Rechtsprechung, nach welcher ein
Geheiramittel jedenfalls dann vorliegt, wenn die Bestandtheile und das Mengen-
verhältnis der Zubereitung „nicht ausreichend", „nicht deutlich für das Publi-
cum", „nicht für Jedermann zweifellos" bei der Ankündigung erkennbar
gemacht sind." Das besondere Verfahren der Herstellung eines Mittels darf
Geheimnis des Verfertigers bleiben. In Oesterreich sind Geheimmittel über-
haupt verboten, doch lässt sich der Vertrieb solcher Mittel in wirksamer
Weise nur in den Apotheken überwachen, in welchen ein Verzeichnis aller
fertig verpackten Arzneizubereitungen mit genauer Angabe der Bereitungs-
vorschrift (Zusammensetzung) zur Einsicht des Arztes aufliegen muss. Die-
jenigen dieser sogenannten „Arznei-Specialitäten", welche starkwirkende Arznei-
stoÖ'e enthalten, dürfen nur über ärztliche Verordnung abgegeben werden.
In den Ankündigungen dieser Mittel dürfen Krankheiten, zu deren Heilung
sie dienen sollen, nicht angeführt werden, überhaupt sind marktschreierische
Ankündigungen, Gebrauchsanweisungen etc. verboten.
Trotz dieser gesetzlichen Bestimmungen blüht sowohl in Oesterreich
wie auch im Deutschen Reiche ein überaus lebhafter Handel mit Geheim-
mitteln, sowohl in den Apotheken wie ausserhalb derselben, und alljährlich
Üiessen geradezu horrende Summen meist aus den karggefüllten Taschen
der minderbegüterten Volksclassen in die weiten Gassen gewissenloser Be-
trüger. Ein wie schamloser Betrug und aller Menschlichkeit hohnsprechen-
der Schwindel gerade von diesem Zweige der Kurpfuscherei jahraus jahrein
und zwar grossentheils völlig ungestört getrieben wird, kann man alljährlich
aufs neue aus dem „Jahresberichte über die Fortschritte der Pharmakognosie,
Pharmacie etc." von Dr. Wiggers und Dr. A. Husemann, fortgesetzt von
Dragendorff, jetzt „Jahresbericht über die Fortschritte der Pharmacie, heraus-
gegeben vom Deutschen Apoth. -Verein", ersehen, welcher regelmässig Mittheilun-
gen über alle im verflossenen Jahre bekannt gewordenen und untersuchten Ge-
34*
532 KURPFUSCHEREI UND GEHEIMMITTELWESEN.
heimmittel bringt. Auch die modernen grossen Conversationslexica, nament-
lich diejenigen von Brockhaus und Meyer, geben ihren Lesern unter dem
Stichworte „Geheimmittel" in dankenswerter Weise Aufschluss über die Mehr-
zahl der meistvertriebenen Reclame-Heilmittel hinsichtlich deren Zusammen-
setzung und thatsächlichen Wirksamkeit, sowie auch über die meist enorm
hohe Differenz zwischen dem geforderten Preise und dem wahren Werte der
Präparate.
Was das eigentliche Wesen der einzelnen Geheimmittel selbst betrifft,
so sind diese von der allerverschiedensten Art. Einer kleinen Anzahl von
ihnen kann ein gewisser arzneilicher Wert nicht abgesprochen werden, doch
erfüllen auch diese fast nie alle von ihrem Verfertiger angepriesenen Ver-
sprechungen, und ohne Ausnahme ist ihr Preis unverhältnismässig hoch.
Weitaus die meisten Geheimmittel aber sind gänzlich ohne arzneiliche Wirkung
oder sogar geeignet, dem menschlichen Organismus zu schaden. Alle sollen
in ihrer Wirkung angeblich theils auf allopathischer, theils auf homöopathi-
scher Grundlage beruhen und kommen in den verschiedensten Weisen zur
Anwendung, als innere Medicin in der Form von Mixturen und Tincturen,
tropfen- oder löffelweise zu nehmen, als Pillen, Latwergen u. s. w., oder als
äusserliche Arznei in Form von Spirituosen, ätherischen, balsamischen oder
öligen Waschungen, Einreibungen oder Umschlägen, als Schmiersalben, Zug-
pflaster etc. etc. Einige Fabrikanten wissen ihren Präparaten dadurch einen
iDesonderen Reiz zu verleihen, dass sie ihre Wirksamkeit auf ein besonderes
„Naturheilverfahren" zurückführen; was dieses tiefsinnige Wort im Grunde
eigentlich besagt, hat wohl bisher noch kein Sterblicher ergründet, aber es
wirkt gewaltig ! In einer Zeit, da man die geheimnisvollen Kräfte des Magne-
tismus und der Elektricität ringsum die erstaunlichsten Dinge verrichten
sieht, muss es dem Publicum wohl vernunftgemäss erscheinen, sie auch zur
Heilung aller nur erdenklichen Erkrankungen heranzuziehen: so werden
„magneto- und elektromotorische" oder „elektromagnetische" Gichtbänder,
Piheumatismusketten und Zahnhalsbänder zu hohen Preisen an den Mann
gebracht. Diese Präparate, die bestimmt sind, von dem Kranken unter der
Kleidung auf der Haut getragen zu werden, haben zum Theil eine absolut
sinnlose Zusammensetzung; so bergen einige unter irgend einer schönen Um-
hüllung ein Stück Schwefelfaden oder dergleichen, Dinge, die auch nicht die
mindeste Spur von Magnetismus oder Elektricität zu erregen vermögen. An-
dere bestehen aus zwei zusammengelötheten oder gebundenen Stücken ver-
schiedener Metalle, meist Kupfer und Zink; auch diese Anordnung ist natur-
gemäss nimmer im Stande, einen elektrischen Strom von therapeutischer Wirk-
samkeit zu erzeugen. Dennoch bringen solche Vorrichtungen dem Verfertiger
so viele Mark oder gar Thaler ein, als sie ihn Pfennige gekostet haben, wie
z. B. das berühmte „Voltakreuz", das bekanntlich die leidenden Körper un-
zähliger Narren beiderlei Geschlechtes und jeden Standes schmückt.
Dem mit derartigen Mitteln getriebenen Schwindel sollte von selten der
zuständigen Aufsichtsorgane in Zukunft weit grössere Aufmerksamkeit ge-
Avidmet werden, da er in den breitesten Schichten des Volkes unübersehbaren
Schaden an Gesundheit und Vermögen unzähliger Staatsbürger anrichtet.
Den Unfug gänzlich zu beseitigen, das freilich wird wohl kaum jemals
gelingen! Dazu besitzen die Heilmittel-Fabrikanten und -Krämer zu rührige
Hilfskräfte, einmal in der Scheu Unzähliger, bei gewissen, namentlich durch
eigene Schuld erworbenen Krankheiten die Hilfe des Arztes nachzusuchen,
vor dem sie sich der begangenen Fehltritte schämen, sowie zweitens auch
in dem menschlicherweise ja durchaus verständlichen Bestreben vieler, von
der wissenschaftlichen Medicin als unheilbar erkannter Patienten oder deren
Angehörigen, kein möglicherweise doch noch rettendes Mittel unversucht zu
lassen, zumal die letzte Hoffnung durch die moderne, oft das Urtheil auch
LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES. 533
Verständigerer blendende Reclame täglich aufs neue angefacht wird. Diese
Factoren werden nicht aufhören, wirksam zu sein, solange nicht das Heer
Jener ausgestorben sein wird, von denen es heisst: „Sie werden nicht alle."
Doch gerade deshalb dürfen die Einsichtsvollen nicht nachlassen, unermüdlich
auf das Energischeste gegen diese Hilfsmittel der Volksaussauger zu kämpfen.
Und zwar muss dies in doppelter Weise geschehen: einmal, indem sie immer
wieder, und womöglich von Zeit zu Zeit in Rücksicht auf jedes einzelne der
jüngst angepriesenen Schwindelmittel den Betrogenen die Augen öffnen —
etwa in der Art, wie es seit längerer Zeit das kgl, Polizeipräsidium in
Berlin oder der Ortsgesundheitsrath der Stadt Karlsruhe regelmässig thun —
und zweitens, indem sie durch moralische Beeinflussung das schlummernde
Gewissen der gewaltigen Weltmacht, der Presse, aufrütteln, die trauriger-
weise noch immer den krassesten Betrug auf das Hilfreichste unterstützt, weil
sie aus den den Aermsten und Elendesten des Volkes abgeschwindelten
Summen reiche Procente in die eigenen Gassen ableitet, nicht selten ganz
harmlos in derselben Zeitungsnummer, in der sie in sittlicher Entrüstung
den frevlen Eigennutz eines Fürsten von Monaco geisselt. In allererster
Linie jedoch wäre es erforderlich, dass die zuständigen Behörden auf Grund
der bestehenden gesetzlichen Verordnungen die Anpreisung und den Verkauf
von Geheimmitteln auf das Schärfste überwachten; zur Zeit sind die ein-
schlägigen Bestimmungen bedauerlicherweise vielfach selbst in den maass-
gebenden Kreisen nicht hinreichend bekannt. g. w^oltersdorp.
Lebensfähigkeit des Kindes (forens.). Die Frage, ob ein Kind als
lebensfähig, d. h. als fähig anzusehen ist, sein Leben selbständig ausserhalb
des mütterlichen Organismus fortzusetzen, mag für den Richter in nicht sel-
tenen Fällen eine ziemlich hohe Bedeutung haben. Wir werden daher, trotzdem
die Beantwortung dieser Frage für Fälle vermeintlicher „Kindestödtung"
durch die jetzt in Oesterreich in Kraft bestehende Strafprocessordnung
nicht mehr vorgeschrieben ist, derselben häufig nicht ausweichen können.
Es ist auch gerade vom Standpunkte des Richters nicht recht einzusehen,
aus welchem Grunde di-e Forderung der Beantwortung der Frage nach der
Lebensfähigkeit eines Kindes aus der österreichischen Strafprocessordnung
gestrichen worden ist. Ich halte denn auch die Ablehnung der Beantwortung
einer entsprechenden Frage für überflüssig, mag auch der Gerichtsarzt in
Oesterreich gegenwärtig hiezu berechtigt sein, ganz abgesehen davon, dass
eine Entscheidung in der angedeuteten Richtung nur in seltenen Fällen er-
heblicheren Schwierigkeiten begegnen dürfte.
Allerdings lässt ja der Begriff „Lebensunfähigkeit" eine verschiedene
Deutung zu; ja sie wird in ihrem Wesen von den verschiedenen Gerichts-
ärzten thatsächlich auch verschieden aufgefasst. Wenn beispielsweise die
Section eines neugeborenen reifen Kindes irgendwelche congenitale Erkran-
kungen oder durch die Geburt gesetzte Veränderungen ergibt, die erfah-
rungsgemäss ein längeres Leben des Kindes nach der Geburt nicht zulassen,
so wäre zwar vom rein medicinischen Standpunkte ein solches Kind als
„lebensunfähig" zu bezeichnen; doch ist es sehr fraglich, ob in einem solchen
Falle bei gewaltsamer Tödtung die „Lebensunfähigkeit" als mildernder Um-
stand bei Fällung des Urtheils in Betracht gezogen würde. Es kann meiner
Ansicht nach selbst für den Richter der Begriff „Lebensunfähigkeit" doch
nur dann eine wesentlichere praktische Bedeutung als etwaiger Milderungs-
grund haben, wenn derselbe in erster Linie auf von aussen wahrnehm-
bare Zustände bezogen wird, welche auch schon dem Laien ein extrauterines
Leben des Neugeborenen als kaum möglich oder unmöglich erscheinen lassen.
Zieht man dem Begriffe „Lebensunfähigkeit" vom juridischen Standpunkte
534 LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES.
diese engen Grenzen, dann wird derselbe auch einheitlicher und vom foren-
sischen Standpunkte zweckmässiger gedeutet werden können und nicht so
umstritten sein wie bisher.
Von diesem Gesichtspunkte aus, welchen ich für den praktisch allein
richtigen halten möchte, könnte eine menschliche Frucht in erster Linie nur
einerseits infolge wenig vorgeschrittener, andererseits infolge unvollkommener,
beziehungsweise fehlerhafter Entwickelung als lebensunfähig angesehen werden.
Die Dauer des Lebens nach der Geburt ist gewiss, wenn dieselbe sich
blos auf Tage, gelegentlich vielleicht auf Wochen erstreckt, nicht von einschnei-
dender Bedeutung und es ist meiner Ansicht nach deshalb auch die eventuelle
Frage, „wie lange ein Kind selbständig gelebt haben muss, damit es des Prä-
dicates „lebensfähig" theilhaftig werden könne" (Blumenstock) irrelevant, und
dies umsomehr, als ja die Frage der Lebensunfähigkeit blos in Fällen von Kin-
desmord, sonach in Fällen von Tödtung der Frucht bei oder gleich nach der
Geburt, ventilirt zu werden pflegt. Entschieden entgegentreten muss man
aber dem Vorgange, wie ihn Blumenstock eingehalten hat, wenn er sagt:
„Am Ende gewöhnten wir uns daran, jedes Kind, welches gelebt hat, für
lebensfähig anzuerkennen." Diese Commentirung des Begriffes „Lebens-
fähigkeit" ist geradezu unhaltbar. Soll man etwa Missbildungen höheren
Grades, die post partum deutliche Lebenszeichen von sich geben, die jedoch
erfahrungsgemäss kurze Zeit nach der Geburt vermöge der mangelhaften oder
fehlerhaften Entwickelung regelmässig zu Grunde gehen, als „lebensfähig"
im Sinne des Gesetzes ansehen? Dies muss meiner Ansicht nach ent-
schieden der Auffassung des Juristen widersprechen, und es muss daher auch
befremden, wenn Blumenstock erwähnt, dass sich die Richter mit dem oben
genannten Vorgange bei Beurtheilung der Lebensfähigkeit menschlicher Früchte
seitens der Gerichtsärzte zufriedenstellten.
Dass der Pachter thatsächlich bei dem Begriffe ^.Lebensfähigkeit" das
Hauptgewicht auf die Entwickelung der Frucht legt, scheint, w^enn dies auch
nicht präcise ausgedrückt ist, daraus hervorzugehen, dass auch die neue
Strafprocessordnung in Deutschland ausdrücklich bei der Oeffnung der Leiche
eines neugeborenen Kindes die Untersuchung insbesondere darauf gerichtet
wissen will, ob das Kind reif oder wenigstens fähig war, das
Leben ausserhalb der Mutter fortzusetzen.
An einem dem Grade und der Art der Entwickelung nach lebensunfähigen
Kinde kann ebenso ein Verbrechen begangen werden wie an einem lebens-
fähigen, so lange es eben lebt. Worin läge also dann der Wert der Beant-
wortung der Frage, ob ein Kind, welches getödtet wurde, lebensfähig war
oder nicht? Meiner Ansicht nach, welche sich mit jener Skezeczka's zu
decken scheint und auch von einem grossen Theile der Juristen getheilt
werden dürfte, thatsächlich darin, dass der Richter, sobald es sich um eine
Frucht handelt, welche ihr Leben ausserhalb des mütterlichen Organismus
wegen ihier wenig vorgeschrittenen oder fehlerhaften Entwickelung nicht
fortzusetzen vermag, einen Milderungsgrund für das Strafausmaass bei einem
Verbrechen erblicken kann. Entspricht dies nicht etwa auch der allgemein
menschlichen Anschauung?
Meiner Ansicht nach wird man somit nur dann der Intention des Ge-
setzes Rechnung tragen, wenn man die Lebensfähigkeit zunächst blos hin-
sichtlich der Entwickelung der menschlichen Frucht ins Auge fasst und es
wäre daher nicht unzweckmässig, wenn der Richter in concreten Fällen, in
denen es sich um an Neugeborenen verübte Verbrechen handelt, fragen würde,
ob der Thät er mit Rücksicht auf das äussere Aussehen der Frucht
annehmen durfte oder annehmen konnte, dass dieselbe unter ge-
wöhnlichenVerhältnissen(d. h. ohne Kunsthilfe oder Anwendung etwaiger
therapeutischer Eingriffe) nicht fähig gewesen sei, das Leben ausser-
halb des mütterlichen Organismus fortzusetzen?
LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES. 535
Von dem von mir gekennzeichneten Gesiclitspunkte aus sollten zunächst
nur normal entwickelte Früchte in sehr früher Entwickelungsperiode oder
fehlerhaft entwickelte Früchte als „lebensunfähig" im Sinne des Gesetzes
bezeichnet werden.
Ich kann mich der persönlichen Ueberzeugung nicht verschliessen, dass
mir ein grosser Theil der Richter, entschieden aber nur ein kleiner Theil der
Vertheidiger bei dieser engen Begrenzung des Begriffes „Lebensunfähigkeit"
beistimmen würde, letzteres eben aus dem Grunde, weil Lebensunfähigkeit
gelegentlich als mildernder Umstand in Betracht kommen kann.
Ohne etwa für den einen oder den anderen Theil Partei ergreifen zu
wollen, muss ich jedoch vom rein ärztlichen Standpunkte zugeben, dass es
auch menschliche Früchte gibt, deren Lebensunfähigkeit insbesondere von
medicinischen Laien nicht schon bei blosser äusserer Besichtigung erkannt
werden kann, sondern deren Lebensunfähigkeit sich erst durch die Obduction
mit Bestimmtheit oder mit mehr weniger grosser Wahrscheinlichkeit fest-
stellen lässt. Der Arzt muss auch derartige Fälle in den Bereich seiner
Untersuchung und Begutachtung in der angegebenen Richtung ziehen und
auch menschliche Früchte, welche erst durch die Obduction erkennbare Ano-
malien der EntwickeluDg oder angeborene Erkrankungen aufweisen, die er-
fahrungsgemäss ein längeres Leben der Frucht post partum verhindern, für
lebensunfähig erklären. Fasst man nun aber den Begriff „Lebensunfähigkeit"
vom ärztlichen Standpunkte in diesem weiteren Sinne auf, dann sollte man
auch als Arzt verschiedene Kategorien der „Lebensunfähigkeit" aufstellen und
in erster Linie jene Fälle hervorheben, in denen die Lebensunfähigkeit schon
bei äusserer Betrachtung einer menschlichen Frucht evident oder wahr-
scheinlich erscheint, in zweiter Linie diejenigen Fälle, in denen bei normaler
äusserer Entwickelung die Lebensunfähigkeit erst durch die Obduction als
sicher oder wahrscheinlich erkannt werden kann.
Inwieweit dann im concreten Falle die Lebensunfähigkeit als Mil-
derungsgrund höheren oder niederen Grades bei der strafrechtlichen Qualifi-
cation von Verbrechen in Betracht zu ziehen ist, ist dann einzig und allein
Sache des Richters.
Vom medicinischen Standpunkte aus, der jedoch den Intentionen der
früheren Bestimmung der österreichischen Strafprocessordnuiig nicht vollends
zu entsprechen scheint, werden wir die Lebensunfähigkeit eines Kindes, sei
es bereits auf Grund der äusseren Besichtigung, sei es auf Grund der Obduc-
tion, in vielen Fällen mit Bestimmtheit annehmen oder ausschliessen können;
in einer nicht unbedeutenden Zahl der Fälle wird unser Urtheil unbestimmt
ausfallen.
Lebensunfähigheit kann bedingt sein 1. durch congenitale Bildungs-
anomalien, die bald schon äusserlich erkennbar, bald erst durch die innere
Untersuchung nachweisbar sein können, 2. durch wenig vorgeschrittene Ent-
wickelung, 3. durch angeborene Erkrankungen.
Was zunächst die Bildungsanomalien betrifft, so kommen hier insbeson-
dere solche in Betracht, bei denen es sich um einen mehr oder weniger voll-
ständigen Mangel eines oder mehrerer zum Leben unumgänglich nothwendiger
Organe handelt, oder in denen die normale Functionsfähigkeit solcher Organe
durch besondere angeborene Zustände aufgehoben erscheint.
Dass Doppelmissbildungen bei normaler Entwickelung ihrer
Organe lebensfähig sein können, ist bekannt.
Zuweilen können lebensunfähige Missbildungen lebend geboren werden
und auch einige Zeit leben (Hemicephalus, Cyclopen); in solchen Fällen wird
vom forensischen Standpunkte wesentlich der äussere Eindruck in Betracht
kommen.
In anderen Fällen wird die Lebensunfähigkeit bei Früchten mit nor-
malem äusserem Aussehen erst durch die Obduction festgestellt werden können,
536 LEBENSFÄHIGKEIT DES KINDES.
SO beispielsweise bei congenitalen Zwerchfelldefecten, bei congenitalem Ver-
scWuss des Verdauungstractus an irgend einer Stelle.
Schwierig könnte sich gelegentlich die Beantwortung der in Rede stehen-
den Frage bei Entwickelungsanomalien des Herzens gestalten; in solchen
Fällen dürfte das Urtheil sehr häufig unbestimmt ausfallen.
Was das Stadium der Entwickelung anbelangt, so pflegt man Früchte,
welche vor der 28. bis 30. Woche geboren werden, als lebensunfähig zu be-
zeichnen, trotzdem auch früher zur Welt gekommene Früchte lebend geboren,
ausnahmsw^eise selbst am Leben erhalten werden können.
Nach vollendeter 30. Woche der Entwickelung hat die menschliche Frucht
durchschnittlich eine Länge von 37—38 cm und ein Gewicht von 1500— 2000 f?'.
Die Pupillarmembran ist vollständig verschwunden oder nur in Resten vor-
handen. Bei männlichen Früchten sind die Hoden im Hodensack oder Leisten-
canal, bei weiblichen überragen die kleinen Schamlippen die grossen. Am
Gehirn sind bereits ausgeprägte Windungen zu sehen. Der Dickdarm ent-
hält reichliches Meconium. Im Fersenbein findet sich ein fast 5 mm starker,
im Sprungbein ein 2 — 3 mm starker Knochenkern vor. Die Placenta hat ein
Durchschnittsgewicht von 450 g, die durchschnittliche Länge der Nabelschnur
beträgt 46 cm.
Am Ende des 9. Monates ist das Kind 42—44 cm lang, durchschnittlich
2000 g schwer. Im Sprungbein findet sich ein 5 — 6 mm starker Knochenkern.
Das reife Kind hat eine Durchschnittslänge von 50 cm und ein Durch-
schnittsgewicht von 3000 g. Der Occipitofrontalumfang des Kopfes beträgt
34—35 cm, der quere Kopfdurchmesser etwa 8*5 cm, der gerade 10-5 cm und
der diagonale 12-5 cm. Die Schulterbreite beträgt etwa 12 cm, der Trochan-
terenabstand 10 cm. Die Kopfhaare haben eine Länge von 1'5— 2 cm. Nase
und Ohren fühlen sich knorpelig an. Die Hoden liegen im Hodensack, bei
weiblichen Individuen ist die Schamspalte geschlossen.
Die hornigen Nägel überragen die Fingerkuppen und erreichen jene der
Zehen. In der unteren Epiphyse des Oberschenkelknochens befindet sich ein
durchschnittlich 5 mm starker Knochenkern. Das Gewicht der Placenta be-
trägt durchschnittlich 500 g, die Nabelschnurlänge 50 cm.
Ein einwandfreier Schluss hinsichtlich des Alters eines Neugeborenen
wird innerhalb gewisser Grenzen niemals aus einem einzigen Merkmale ge-
zogen werden können, da jedes einzelne derselben viel zu grossen Schwan-
kungen unterliegt. Dies gilt selbst von der Länge, dem Gewichte des Kindes
und von der Entwickelung der Knochenkerne, an welch letzteren man übrigens
noch die relativ grösste Constanz beobachtet.
Das Gewicht des Kindes schwankt je nach der allgemeinen Entwickelung;
handelt es sich um faule Kindesleichen, so wird man insbesondere auch mit
einer etwaigen postmortalen Gewichtsabnahme zu rechnen haben.
Von angeborenen Erkrankungen wäre insbesondere die Pneumonia alba
bei congenitaler Syphilis zu nennen. Gewiss dürften auch angeborene i. e.
noch während des intrauterinen Lebens von der Mutter auf die Frucht über-
tragene acute Infectionsprocesse gelegentlich Lebensunfähigkeit bedingen; von
der Art und der Ausbreitung des Infectionsprocesses wird es dann abhängen,
mit welchem Grade von Wahrscheinlichkeit man im concreten Falle Lebens-
unfähigkeit des Kindes vom rein medicinischen Standpunkte annehmen kann.
Der Gerichtsarzt würde in Fällen, in denen die Lebensunfähigkeit
einer neugeborenen menschlichen Frucht in Frage kommt, für strafrechtliche
Zwecke am besten in der Weise vorgehen, dass er zunächst im allgemeinen
anführt, ob eine Frucht mit Bestimmtheit oder mit Wahrscheinlichkeit als
lebensunfähig bezeichnet werden kann, worin die Lebensunfähigkeit ihre Ur-
sache hatte und insbesondere, ob dieselbe schon bei blosser äusserer Betrach-
tung angenommen werden durfte und konnte oder nicht.
. LEICHENERSCHEINUNGEN. 537
Inwieweit die die Lebensunfähigkeit im Einzelfalle bedingenden angebo-
renen Zustände als etwaiger Milderungsgrund für das Strafausmaass bei an
lebensunfähigen Früchten verübten Verbrechen in Betracht kommen können,
ist Sache der richterlichen Entscheidung. p. dittrich.
Leichenerscheinungen. Gesetzliche Bestimmungen über die Todten-
beschan. Oesterreich. Provisorische Instruction für Leichenbeschauer. Erlass des Staats-
ministeriums vom 6. März 1861 verfügt die obligatorische Vornahme der Todtenbeschau.
Das Begräbnis erfolgt ausnahmslos erst nach vorgenommener Beschau auf Grund eines
vom Todtenbeschauer ausgestellten Beschauscheines. Der Todtenbeschauer ist in der Regel
ein Arzt, kann aber in abgelegenen Gemeinden auch ein Laie sein. Er hat die Aus-
stellung eines Todtenscheines in folgenden Fällen zu verweigern, woraufhin entweder
die gerichtliche oder sanitätspolizeiliche Beschau oder Leichenöffnung verfügt wird:
rt) bei Verdacht von Scheintod;
b) bei wahrgenommenen Zeichen einer verübten äusseren Gewaltthätigkeit ;
c) bei einer offenkundigen Vergiftung oder Verdacht einer solchen;
d) wenn Jemand unter Behandlung von Kurpfuschern stirbt;
e) wenn bei Neugeborenen eine Abtreibung der Leibesfrucht vorausgesetzt werden kann;
/) wenn überhaupt eine Verheimlichung der Geburt stattgefunden hat;
g) wenn Unmündige aus Mangel der nöthigen Aufsicht ums Leben kommen;
h) wenn dem Verstorbenen der nöthige ärztliche Beistand oder die geeignete Pflege
vorenthalten oder ihm die nöthigen Lebensbedürfnisse entzogen worden sind;
i) bei allen plötzlichen Todesfällen;
k) bei allen todtgefundenen Personen ohne Unterschied, ob sie bekannt sind
oder nicht;
l) in allen Fällen, wo Jemand verunglückt;
m) endlich bei erwiesenem oder muthmaasslichem Selbstmord.
Das deutsche Reich hat kein einheitlich geregeltes Leichenwesen. In den meisten
Staaten ist allerdings eine obligatorische Leichenbeschau eingeführt, im grössten deutschen
Staate, in Preussen, jedoch noch nicht. Dort ist dies Sache der autonomen Gemeinden,
welche die Todtenbeschau im eigenen Wirkungskreise zum Theile sehr gut geregelt haben.
So Berlin schon seit dem Jahre 1835. Demnach darf keine Leiche beerdigt werden, ohne
dass zuvor von einem Arzte der Todtenschein ausgestellt wäre. Die Ausstellung der
Todtenscheine erfolgt durch den behandelnden Arzt, oder wenn Jemand ohne ärztliche Be-
handlung starb, durch einen zur Leichenschau herbeigeholten Arzt, bei Unbemittelten durch
die Armenärzte, in besonderen Nothfällen durch die Bezirksphysiker. Die Leichen unehe-
licher Kinder müssen, wenn letztere todt geboren wurden oder binnen 24 Stunden starben,
stets durch die Bezirksphysiker besichtigt werden.
In allen Fällen, wo der "Verdacht entsteht, dass die Schuld eines Anderen den Eintritt
des Todes verursacht habe, wird seitens des Revieres oder des Leichen-Commissariates der
königl. Staatsanwaltschaft sofort Bericht erstattet, welche entweder die Beerdigung gestattet
oder gerichtliche Leichenschau oder Obduction verfügt. Im Uebrigen ist das Beerdigungs-
wesen geregelt durch die Polizei-Verordnung vom 16. August 1872 mit der durch das Ge-
setz über die Beurkundung des Personenstandes nothwendig gewordenen Abänderung vom
20. Mai 1875.
In Baiern ist mit oberpolizeilicher Verfügung vom 20. November 1885 die Leichen-
schau und das Beerdigungswesen neu geregelt und erstere obligatorisch gemacht worden.
Die Leichenbeschau ist von bestellten Beschauärzten oder ärztlichen Hilfspersonen, im
Nothfalle auch von durch den Bezirksarzt unterwiesenen Laien vorzunehmen.
Sachsen hat die eigenartige Einrichtung der sog. Leichenfrau, welche auch den
Beschaudienst versieht und verpflichtet ist, in folgenden Fällen einen Arzt, wenn ein solcher
noch nicht beigezogen war, herbeizurufen:
a) wenn es sich um eine Schwangere handelt;
b) wenn die Vermuthung eines gewaltsamen Todes vorliegt (Gift, Verletzung, Er-
drosselung, Erstickung, Betäubung, Einathmung schädlicher Dünste, Ertrinken, Erfrieren);
c) wenn der Tod durch Schlagfluss oder Blutsturz erfolgt ist;
d) wenn die verstorbene Person an Krämpfen, Fallsucht u. dgl. gelitten hat;
e) wenn der Tod bei anscheinend ganz Gesunden plötzlich eingetreten ist;
/) bei Verdacht des Scheintodes; und
g) bei Leichen Neugeborener, an welchen Spuren von Gewaltthätigkeit wahrgenommen
oder welche scheintodt geboren wurden. (Gesetz vom 20. Juli 1850 sammt Ausführungs-
verordnung vom selben Datum, abgeändert durch Ministerialverordnung vom 27. Mai 1882.)
In Württemberg ist die Leichenbeschau obligatorisch eingeführt durch königl.
Verordnung vom 24. Jänner 1882 und darf der Leichenbeschaudienst nach § 2 dieser Ver-
ordnung nur Männern von unbescholtenem Rufe übertragen werden. Die Leichenbe-
schauer sind meist Aerzte oder Wundärzte, mitunter auch Laien, welche sich einer Prüfung
beim Oberamtsphysikate unterzogen haben. Die Dienstanweisung für die Leichen-
538 LEICHENERSCHEINÜNGEN.
beschauer vom 3. Februar 1882 enihält die sehr zweckmässige Bestimmung der zwei-
maligen Beschau jeder Leiche, sowie besonders eingehende und sachliche Anleitung zur
sicheren Feststellung des Todes, zur Vornahme von Wiederbelebungsversuchen und zur
Feststellung gewaltsamer Todesarten (Verletzungen, Erstickung, Vergiftung, Selbstmord).
In diesen Fällen muss die Anzeige beim Ortsvorsteher erfolgen, welcher dieselbe der Ge-
richtsbehörde übermittelt.
In Baden und Hessen besteht gleichfalls die obligatorische Leichenbeschau. Sie ist
in Baden durch Ministerialverordnung vom 16. December 1875 nach ähnlichen Grundsätzen
geregelt wie in Württemberg, und für Hessen durch Ministerialerlass vom 18. Februar 1841.
Die Todtenbescliau (Leichenschau) hat einen dreifachen Zweck;
1. den wirklich eingetretenen Tod festzustellen, und dadurch zu verhüten,
dass Jemand scheintodt begraben werde;
2. gewaltsame Todesarten aufzudecken;
3. ansteckende Krankheiten zur Kenntnis der Sanitätsbehörde zu bringen.
Zur Erfüllung dieser Aufgaben ist nicht nur eine genaue Kenntnis der
Zeichen des eingetretenen Todes erforderlich, sondern auch Vertrautheit in
der Erkennung vitaler und postmortaler Veränderungen; es ist auch er-
forderlich die Befähigung zur diagnostischen Verwertung äusserer Leichen-
befunde, sowie zur Vornahme von Wiederbelebungsversuchen bei Scheintodten,
welche in den meisten Todtenbeschauordnungen den Leichenbeschauern zur
Pflicht gemacht ist.
Die Gesammtheit dieser Aufgaben ganz und voll zu erfüllen, ist nur ein
Arzt befähigt. Mit Recht geht daher das Bestreben allgemein dahin, die
Todtenbeschau nur durch Aerzte vornehmen zu lassen; nur da, wo Aerzte
allzu schwer erreichbar sind, soll dieses Amt Laien übertragen werden.
In der Regel findet nur eine einmalige Beschau möglichst kurze Zeit
nach dem Eintritt des Todes statt. Einige Beschauordnungen verfügen jedoch
noch eine Nachschau am zweiten Tage, so Baiern, wenn eine nichtärztliche
Beschau stattgefunden hat, Württemberg und Baden.
A. Die ersten Veränderungen der Leichen.
(Leichenerscheinungen im engeren Sinne.)
Tod ist der dauernde Stillstand der Herzbewegung und der Athmung.
Selten hören diese beiden Thätigkeiten ganz gleichzeitig auf; in der Regel
überdauert eine die andere um eine meist nur kurz bemessene Zeit, so dass
entweder Herzstillstand oder Athmungsstillstand das primäre ist. Man kann
deshalb mit Recht von zwei Arten des Sterbens sprechen und die erste (pri-
märer Herzstillstand) als Herztod, die zweite (primärer Athmungsstillstand)
als Lungentod bezeichnen. Die erste Form ist die gewöhnliche bei vielen
schweren Erkrankungen, wo schon klinisch bedrohliche Erscheinungen der
Herzschwäche das Herannahen des Todes verkünden; Beispiele für die letztere
liefern die Erstickungen, bei welchen nach dem Sistiren der Athmung die
Herzbewegung noch 3, 5 bis 8 Minuten, bei Neugeborenen auch viel länger,
selbst mehrere Stunden, im Gange bleiben kann.
Stillstand des Herzens und der Athmung ist aber nicht gleichbedeutend
mit sofortigem Absterben aller Zellen und Organe. Vielmehr bleiben einzelne
physiologische Thätigkeiten noch über den Tod hinaus erhalten. So die
elektro- musculäre Erregbarkeit, welche erst 2 — 3 Stunden nach
dem Tode erlischt, die Bewegungen der Flimmerzellen und Spermatozoen,
welche gleichfalls noch viele Stunden andauern, und die Erregbarkeit der Iris
durch pupillenverengende und pupillenerweiternde Medicamente, welche na-
mentlich an Enthaupteten untersucht und sichergestellt worden ist. Es ist
dahin endlich auch die sehr lange Zeit erhaltene Fähigkeit der Gewebe zu
rechnen, Sauerstoff aus dem Blute aufzunehmen (postmortale Sauerstoff-
zeh rung), und die gleichlaufende Fähigkeit des Blutes, atmosphärischen
Sauerstoff zu binden, wo dieser zutreten kann. Auf diesen weit über den Tod
LEICHENERSCHEINUNGEN, 539
hinaus erstreckten physiologischen Thätigkeiten fussen einige besondere Leichen-
erscheinungen, von denen noch im Weiteren die Ilede sein wird.
Für das gewöhnliche Auge sind aber diese erhaltenen einzelnen Lebens-
thätigkeiten nicht bemerkbar. Dagegen hat das Aufhören der Athmung und
der Blutbewegung unmittelbare, in der Regel auch dem Laien auffällige Er-
scheinungen im Gefolge, welche als Kennzeichen des eingetretenen
Todes bezeichnet werden. Es sind dies: Stillstand der Bewegungen
des Brustkorbes, Ausfall des Herzstosses und Pulses, Erschlaffung
der Muskulatur, wodurch beim Herannahen des Todes am Gesichte jener
erschreckende Ausdruck des Verfalles zu Stande kommt, der als facies hippo-
kratica schon den ältesten Aerzten für ein untrügliches Zeichen des unab-
wendbaren Endes galt, Abplattung der M^uskeln, deren Gleichgewichts-
tigur nach dem Erlöschen des vitalen Tonus einzig vom physikalischen Factor
der Schwere, bezw. des Druckes bestimmt wird, endlich Erblassen der
Haut infolge der Entleerung des Blutes aus den Hautcapillaren. Diese
Erscheinung setzt bei beginnender Erlahmung der Herzkraft schon in der
Agonie ein. Das Erbleichen, die Leichenblässe, ist eine bekannte, nie fehlende
Begleiterscheinung des eintretenden Todes.
Die bisher geschilderten Erscheinungen sind gewissermaassen die Sym-
ptome des Sterbens; sie können daher sachgemäss als Kennzeichen des
Todes oder auch als physiologische Leichenerscheinungen den
weiteren (physikalischen und chemischen) Veränderungen gegenübergestellt
werden.
Sobald der Tod endgiltig eingetreten ist, setzen an Stelle der physio-
logischen Vorgänge zunächst rein physikalische ein. Diese physikalischen
Leichenerscheinungen sind: L Die Erkaltung, 2. die Vertrocknung, 3. die
Blutsenkung, 4. die Erstarrung.
1. Das. Erkalten der Leichen ist die nächste natürliche Folge des Auf-
hörens der Wärmebildung. In den meisten Fällen sinkt die Temperatur schon
in der Agonie (subnormale, agonale Temperatur) und fällt postmortal ständig
bis zum völligen Ausgleich mit der Temperatur der Umgebung. Die Aus-
kaltung ist in ihrem zeitlichen Ablaufe abhängig von dem Alter, der Körper-
beschaftenheit und der Todesart, sowie von den äusseren Factoren der Be-
kleidung, Umhüllung und Temperatur des umgebenden Mediums.
Demgemäss erkalten Kinder, Greise und schlechtgenährte, herabgekommene Per-
sonen rascher, als Erwachsene, nach erschöpfenden Krankheiten (Tuberkulose, Carcinom,
Kachexie) Verstorbene früher, als plötzlich Verstorbene, — nackte oder schlecht bekleidete,
in kalten Räumen, im Freien oder im Wasser liegende Leichname schneller, als bekleidete,
umhüllte und in warmen Zimmern aufgebahrte.
Nicht immer entspricht das Verhalten der postmortalen Temperatur diesen natür-
lichen physikalischen Voraussetzungen. In manchen Fällen kommt es nämlich zu post-
mortalen Steigungen der Temperatur. Bekannt ist das Hinaufschnellen der
Körperwärme im Sterben bei gewissen Todesarten (Tetanus, Erstickungen); diese agonale
Temperatursteigerung hält dann in der Regel längere Zeit nach dem Tode an, ja kann
thatsächlich noch zunehmen. Die Ursache dieser interessanten Erscheinung — es sind
Sterbe-Temperaturen von 44'75'' C. und postmortale Steigerungen bis 45'37° C beob-
achtet worden — erklärten Billroth und A. Fick aus vermehrter Muskelarbeit, Huppert
aus der durch Gerinnung des Muskeleiweisses freiwerdenden Wärme, was Tamassia und
Schlemmer auf Grund von Thierexperimenten bestritten.
Der postmortale Temperaturabfall kann zur Bestimmung der Zeit,
welche vom Eintritte desTodes bis zur Auffindung derLeiche
verstrichen ist, verwendet werden unter Zugrundelegung nachfolgender Be-
obachtungsthatsachen. Im Eis oder Schnee erkalten Leichen schon in einer
halben bis einer Stunde vollkommen, im Wasser erhalten sie dessen Tem-
peratur etwa in anderthalb bis zwei Stunden; bei Leichen, welche in ge-
schlossenen Bäumen liegen, beträgt die Abkühlung in der Stunde annähernd
1° C. bei einer durchschnittlichen Anfangstemperatur von 37° — 36*5° C.
WiLKiE, BuRMAN bestimmten die stündliche Abkühlung im Mittel mit l^j" F
540 LEICHENERSCHEINUNGEN.
= O'SSO" C, Y. Maschka wenigstens für die ersten Stunden mit 1'112^C.
Besonders stark ist der anfängliche Temperaturabfall nach agonaler und post-
mortaler Steigerung, in welchen Fällen er in der ersten Stunde bis 2"5*' C
betragen kann (v. Maschka).
2. Die Vertrocknung. Von der Oberfläche des Körpers wird sowohl
während des Lebens wie nach dem Tode beständig Wasser abgegeben, von
feuchten, wunden, epidermislosen Stellen aus natürlich mehr als von normaler
Haut. Im Leben erfolgt ein ständiger Ersatz durch immer neue Zufuhr von
Flüssigkeit, die Verdunstungsfläche bleibt feucht, an der Leiche, wo kein
Ersatz stattfinden kann, vertrocknet sie, sie wird häufig lederartig hart und
erscheint gelb bis dunkelbraun, mitunter selbst schwarz verfärbt. Solche
lederartige Vertrocknungen kommen zu Stande nach Hautabschürfungen, Ver-
brennungen, Verbrühungen, Frottirungen, Einwirkung von Sinapismen, an
geschundenen Strangfurchen, an den fratten (wunden) Stellen der Säuglinge,
vornehmlich am Halse, wo sie Strangfurchen imitiren können, an den Leisten-
und Achselfalten, um Genitalien und After. Eine besondere Beachtung als
normale Leichenerscheinungen verdienen die Vertrocknungen an den
Augen und Lippen. Wenn die Lidspalten nicht vollkommen geschlossen
sind, was in der Regel nicht der Fall ist, so bilden sich zuerst neben dem
äusseren, später neben dem inneren Rande der Hornhaut dreieckige
Vertrocknungsflecke der (unbedeckten) Bindehaut des Augapfels,
welche anfangs gelblich, später dunkler gefärbt sind. Ausserdem wird der
ganze Augapfel durch Wasserabgabe schlaff, die Hornhaut verliert ihre Span-
nung, sie faltet sich, wird trübe und undurchsichtig.
Larcher und Siebenhaar wollten gerade in diesen Flecken ein sicheres Kennzeichen
des Todes erblicken, während Casper-Liman, t. Maschka und v. Hofmann demselben keine
besondere Bedeutung beimessen. Nach meinen Erfahrungen sind zur Zeit, wenn dieses
Phänomen auftritt, jedenfalls auch schon andere, ganz sichere Zeichen des eingetretenen
Todes, wie Todtenflecke und Leichenstarre, vorhanden, da es sich nie vor Ablauf von drei,
oft erst sechs bis zwölf Stunden nach dem Tode zeigt, nicht selten auch gar nicht zur Ent-
wicklung kommt.
Der rothe Saum der Lippen Neugeborener, welcher nach Luschka aus
zwei morphologisch verschiedenen Zonen, einer inneren „Pars villosa" und einer äusseren
„Pars glabra" besteht, beginnt regelmässig schon wenige Stunden nach dem Tode von
innen her, von der Pars villosa aus, zu vertrocknen. Die Eintrocknung kann schliesslich
bis zu 2 mm in die Tiefe reichen und einen lederartig harten, braunschwarzen Brandschorf
oder' Aetzschorf vortäuschen.
3. Die Blutsenkungen. Sobald das Blut nicht mehr activ bewegt wird,
beginnt es, dem Gesetze der Schwere folgend, passiv nach den tiefer gelegenen
Körperpartien abzufliessen, es senkt sich. Der Effect dieser Senkung ist die
Ansammlung des flüssigen Blutes in den tiefgelegenen Theilen der Organe,
die Bildung von Hypostasen. Man unterscheidet die Hypostasen der Haut
oder. äusseren Hypostasen als sogenannte „Todtenflecke" von den inneren,
den Hypostasen im engeren Sinne oder eigentlichen Blutsenkungen.
a) Todtenflecke sind ein untrügliches und auch nie fehlendes Kenn-
zeichen des Todes. Sie treten zuerst und zwar schon drei bis vier Stunden nach
dem Tode in Form von kleinen rundlichen oder streifenförmigen zerstreuten
Flecken auf, welchö allmählich zusammenfliessen und dann ausgebreitete, bei
gewöhnlicher Rückenlage über Nacken, Schultern, Rücken, Gesäss, Oberschenkel
und Oberarme ausgedehnte blaurothe und violette Verfärbungen der Haut
darstellen, welche von der Umgebung nicht scharf abgegrenzt sind, sondern
allmählich abgetönt in die bleiche, blutleere Haut der vordem Körperpartien
übergehen. Von Blutunterlaufungen, mit denen sie verwechselt werden
könnten, unterscheiden sie sich durch ihre Ausdehnung, die unbestimmte Ab-
grenzung und vor allem dadurch, dass beim Einschneiden wohl Blutpunkte
in der Lederhaut, von den durchschnittenen gefüllten Hautcapillaren herrührend,
auftreten, aber das Unterhautzellgewebe vollkommen blass ist und in seinen
Maschen kein Blut enthält.
LEICHENERSCHEINUNGEN. 541
Etwa 10 bis 14 Stunden nach dem Tode besitzen die Todtenflecke ihre grösste Aus-
dehnung. Ausnahmsweise treten die Senkungsflecke sehr früh — schon 1 bis Vj^ Stunden
nach dem Ableben — oder auffallend verspätet, erst nach 4, 6, lü und selbst nach 15 Stun-
den auf. Es ist daher eine gewisse Vorsicht geboten bei der Beurtheilung der Zeit, welche
vom Eintritt des Todes verstrichen ist. Die Ursache dieser Abweichungen lässt sich in der
Regel leicht feststellen. Bei allen Todesarten, wo das Blut flüssig bleibt, das sind die
plötzlichen, und wo reichlich Blut vorhanden ist, beobachtet man rasches Auftreten, grosse
Ausbreitung und dunkle Färbung der Todtenflecke; bei blutarmen, kachektischen, wasser-
süchtigen Menschen und bei solchen Todesarten, wo starke Gerinnungen auftreten, kommt
es zu Verzögerungen ihrer Entwicklung. Ein Beispiel dafür ist der Verblutungstod, wobei
sich oft sehr verspätet nur spärliche und helle Todtenflecke entwickeln. Auch die um-
gebende Temperatur beeinflusst ihre Entstehung und Ausbreitung in dem Sinne, dass höhere
Temperaturen fördernd, niedrige hemmend wirken.
Je länger die Leichen liegen, umso intensiver werden die Todtenflecke,
und es kann bei gleichzeitig fortschreitender Fäulnis der Druck der Blutsäule
auf die Capillarwände schliesslich so gross werden, dass es hie und da zu
Zerreissungen derselben kommt. Das Blut tritt dann in die Umgebung, d. i.
in den Papillarkörper aus. Bei sehr blutreichen und in wärmeren Räumen
gelegenen Leichen kann man mitunter schon nach 24 Stunden zahlreiche
derartige postmortale Blutaustretungen in Form von zerstreuten oder
auch gruppirten, hirsekorn- bis linsengrossen, schwarzen oder blauschwarzen
Flecken finden, deren Verwechslung mit Ecchymosen naheliegend ist.
Für die forensische Medicin sind vor allem die Lage und die Farbe
der Todtenflecke von Bedeutung; erstere, weil sie die Stellung der Leiche
nach dem Tode anzeigt, letztere, weil sie mitunter Schlüsse auf die Todesart
gestattet. So sind bei Erhängten die Todtenflecke an den Beinen, Vorder-
armen und Händen als den tiefsten Körperstellen am stärksten entwickelt,
bei Wasserleichen umgekehrt am Kopfe, dem Halse, der Brust, den Schultern
und Oberarmen, bei am Bauche gelegenen Leichen sind sie vorne vorhanden
und fehlen hinten. Wird die ursprüngliche Stellung der Leiche vorzeitig
verändert, dann senkt sich auch das Blut neuerdings im Sinne der geänderten
Lage, und es entstehen neue Flecke; doch verschwinden stark entwickelte
Todtenflecke nie mehi' vollständig, sie blassen nur bei nachträglicher Ver-
lagerung der Leiche etwas- ab; kleine, schwach entwickelte können dadurch
wohl auch ganz zum Schwinden gebracht werden.
An Hautstellen, welche einem Drucke ausgesetzt sind, kommen die Todtenflecke
schwach oder gar nicht zur Entwicklung, so an den Schulterblättern und dem Gesässe bei
gewöhnlicher Rückenlage, am Halse durch Hemdkrägen, an den Beinen durch Strumpf-
bänder, aber auch an verschiedenen anderen Körperstellen durch Druck enganliegender
Kleider, deren Faltungen oft abgeprägt sind. Bei seitlicher Lage des Körpers oder eines
Körpertheiles kommt es zu intensiver einseitiger Entwicklung der äusseren Hypostasen.
Recht häufig ist dies am Kopfe der Fall. Die daraus hervorgehende einseitige, livide Ver-
färbung der Ohr- und Wangengegend und die düstere hypostatische Verfärbung der Binde-
haut sind schon wiederholt verkannt und für Effecte von Gewalteinwirkungen gehalten
worden, w^ie streifige Leichenverfärbungen am Halse, die bei kleinen Kindern schon durch
die natürlichen Hautfaltungen entstehen können, für Strangfurchen erklärt wurden.
Die Farbe der Todtenflecke ist mehr weniger gesättigt bläulichroth
oder violett und selbst bis dunkelblau; sie ist bedingt durch die Farbe des
Leichenblutes, welche in der Regel hypervenös ist. Hat das Leichenblut eine
andere Farbe, wie z, B. bei der Kohlenoxydgasvergiftung, dann erscheinen
auch die Todtenflecke hellroth. Diese Farbe erhalten sie auch durch Kälte
und stärkere Durchfeuchtung der Haut infolge der dadurch ermöglichten
postmortalen SauerstoÖaufnahme von der Haut aus und der herabgesetzten
oder aufgehobenen Sauerstoffzehrung der Gewebe (Falk). Rauchgrau bis
braun sind die Todtenflecke bei Vergiftungen mit methämoglobinbildenden
Giften (z. B. chlorsaures Kali). Die Farbe der Senkungsflecke wird immer
dunkler und geht bei vorschreitender Fäulnis bald, oft schon in 24 Stunden,
in die grüne Verwesungsfarbe über. Im Weiteren wandern die flüssigen An-
theile des Blutes bald auch durch die Gefässwände hindurch und sammeln
542 LEICHENERSCHEINDNGEN.
sich unter der Epidermis, diese abhebend, als Blasen an. Die Fäulnisblasen
bersten, ihr Inhalt entleert sich nach aussen; der Process der postmortalen
Ausblutung hat begonnen.
b) Innere Hypostasen bilden sich nach demselben Gesetze der
Schwere, indem das Blut in die tiefer gelegenen Theile der Organe abfliesst
und sich daselbst in fortwährend zunehmendem Maasse ansammelt. Diese
inneren Senkungshyperämien sind umso beachtenswerter, als sie pathologische
Processe vortäuschen können. Am Kopfe finden wir sie bei der gewöhnlichen
Rückenlage der Leichen zunächst als stärkere Durchfeuchtung (Leichenödem)
der hinteren Kopfschwarte und des darunter befindlichen Zellgewebes. Bei
stark abhängiger Lage des Kopfes kann es, wie schon Engel gezeigt hat,
auch hier zur postmortalen Ecchymosenbildung kommen, oder es vergrössern
sich intravitale kleine Ecchymosen durch hypostatische Nachblutung recht
beträchtlich. Einen Fall, wo diese Hypostase für einen traumatischen Effect
gehalten wurde, habe ich erst jüngst übergutachtet. Die hypostatische Ueber-
füllung der Piagefässe ist schon oft für Gehirnhyperämie und Meningitis ge-
halten worden; wie auch die natürliche, stets vorhandene, strotzende Erfüllung
der Venen in der Pia mater des Rückenmarks wiederholt für eine Gonge stions-
erscheinung erklärt worden ist. Weniger leicht kann die auch stets vorhan-
dene Erfüllung der grossen venösen Sammelgefässe am Schädelgrunde, besonders
in den hinteren Schädelgruben, Anlass zu Verkennungen geben.
Am Halse finden sie sich als mehr weniger intensive Einspritzung und maximale
Erweiterung der Bhitgefässe der hinteren Rachen-, Kehlkopf- und Speiseröhrenschleimhaut,
sowie als forensisch besonders beachtenswerte blutige Durchfeuchtung des lockeren Zell-
gewebes in den seitlichen Theilen des Halses sowohl unter der Haut, wie zwischen den
Muskeln. (Mögliche Verwechslung mit Würgespuren!) Gleich wichtig sind die Blutsen-
kungen in den Lungen, welche bis zum Luftleerwerden der hinteren und unteren Lungen-
abschnitte gedeihen können und Lungenödem, selbst Lungenentzündung vorzutäuschen
vermögen. Wie in den Hohlräumen der Lungen sammelt sich die wandernde Blutflüssig-
keit, die Gefässwände passirend, bald aucli in den Brusthöhlen als Fä,ulnistranssudat
an. Dasselbe geschieht in der Bauchhöhle, wo sich diese Leichenerscheinung im Becken
und den Hypochondrien zeigt und im Zusammenhalte mit einer starken cadaverösen Sen-
kungsinjection der Darmgefässe schon für ein Entzündungsproduct erklärt worden ist.
Ausser diesen Blutsenkungen an den Gedärmen, welche bis zur Erfüllung des Darm-
lumens mit einem blutigen Inhalte gedeihen können, sind noch beachtenswert: die
Hypostasen des Magens, welche durch die Wirkung des sauren Magensaftes sehr bald
braune und schwarze Färbungen (Bildung von Methämoglobin und Säurehämatin) annehmen.
Die dadurch hervorgerufene cadaveröse Melanose der Magenschleimhaut und schliess-
lich der ganzen Magenwand ist schon mit Vergiftungen, namenthch mit Schwefelsäurever-
giftung verwechselt worden.
4. Die Erstarrung der Leichen, die sogenannte Todtenstarre {rigor
mortis), ist eine allgemeine und allgemein bekannte Leichenerscheinung,
welche wegen ihres ausnahmslosen Vorkommens mit Recht auch als unfehl-
bares Kennzeichen des Todes anzusehen ist. Sie entsteht bei Leichen aller
Altersclassen und Todesarten, doch sind in Bezug auf die Zeit des Eintrittes
und der Dauer, sowie hinsichtlich ihrer Stärke sehr wesentliche Schwankun-
gen bemerkbar. Nur bei macerirten und unreifen Früchten vor dem siebenten
Entwicklungsmonate fehlt sie, wie es scheint, vollständig, kommt jedoch bei
älteren Früchten, selbst in der Geburt abgestorbenen, als intrauterine
Leichenstarre (Feis, Lange, v. STEiNBtrcHEL) vor. Ob sie auch bei
acuter parenchymatöser Degeneration der Musculatur (Sepsis, Phosphor-,
Schwämmevergiftung u. s. w.) ganz fehlen kann, wie v. Hofmann angibt, muss
ich nach meinen Erfahrungen bezweifeln, wohl aber ist sie in diesen Fällen
naturgemäss in der Regel schwach entwickelt und von kurzer Dauer.
Bei Leichen Erwachsener beginnt sie durchschnittlich zwei bis drei Stun-
den nach dem Tode, bei Kindern viel früher, nicht selten schon nach 10 Minuten
bis V4 Stunde; dafür dauert sie bei diesen auch viel kürzer an, in der Regel
nur acht bis zehn, selten 24 und nur ganz ausnahmsweise (bei starker Kälte)
LEICHENERSCHEINÜNGEN. 543
36 bis 48 Stunden. Bei Erwachsenen dagegen beträgt ihre Dauer bei einer
mittleren Temperatur von 10*^ C. 50 bis 60, ja selbst bis zu 75 und 90 Stunden.
Die Dauer der Starre hängt vorwiegend von zwei Bedingungen ab,
von der Stärke derMusculatur und von der Temperatur; sie schwankt
im gleichen Sinne mit diesen, d. h. sie dauert um so länger, je kräftiger die
Masculatur und je kühler der Kaum ist, in dem der Leichnam liegt und um-
gekehrt. Aus diesem Gesetze erklären sich fast alle zur Beobachtung gelan-
genden Schwankungen der Dauer und der damit parallel verlaufenden Stärke
der Leichenstarre, Avelche an die gleichen Bedingungen geknüpft ist. Daher
kommt es und wird verständlich, dass die Todtenstarre bei plötzlich Ver-
storbenen stärker und andauernder ist, als bei Leichen schwer erkrankt ge-
wesener Menschen, während sie schwächer entwickelt ist und rascher schwindet
bei Kindern, Greisen, Marantischen, Hydropischen und an Infectionskrank-
heiten Verstorbenen, sowie bei starker Fäulnis. In diesen Fällen kann sie
auch bei Erwachsenen schon nach 20 Stunden und selbst noch früher gelöst
sein. Die Gesammtdauer ist dann auf wenige Stunden beschränkt; die kurze
und schwache Todtenstarre kann der Beobachtung leicht ganz entgehen. Wenn
sie schon allenthalben gelöst ist, besteht sie oft noch stundenlang an den
Unterschenkeln und Füssen; das Sprunggelenk bleibt am längsten festgestellt.
Der Gang der Starre ist fast immer gleich; sie beginnt am Unterkiefer und
Nacken, verbreitet sich von da über den Rumpf nach abwärts, entwickelt sich dann an den
Armen und zuletzt an den Beinen. Vier bis sechs Stunden nach dem Beginne, also durch-
schnittlich 6, 8 bis 14 Stunden nach dem Tode, ist sie bereits allgemein. Besonders früher
Eintritt und rasche Entwicklung wurde bei acuten Erkrankungen des Gehirnes und Rücken-
markes, nach Strychninvergiftung und an Krämpfen Gestorbenen beobachtet. Ab und
zu kommen auch Abweichungen vom gewöhnlichen Gange vor; an die Stelle des absteigen-
den tritt der aufsteigende Typus mit früherer Erstarrung der unteren Extremitäten. Die
Lösung erfolgt in derselben Reihe wie die Erstarrung, weshalb beim absteigenden Typus am
spätesten die Sprunggelenke, beim aufsteigenden zuletzt das Kopf- und Kiefergelenk be-
weglich werden. Nach Pellagani soll ersterer bei kräftigen, letzterer bei herabgekommenen
Menschen Regel sein.
Mitunter — es sind das allerdings sehr seltene Fälle — setzt die Todtenstarre un-
mittelbar im Momente des Todes ein, so dass Bewegungen und Stellungen des Lebenden
durch augenblickliche Erstarrung der Musculatur nach dem Tode festgehalten werden.
Du Bois-Reymond führte dafür die heute allgemein üblich gewordene Bezeichnung kata-
leptische Todtenstarre ein. v. Maschka, und lange Zeit auch v. Hofmann bestritten
ein solches Vorkommen überhaupt, indem sie die eigenthümlichen Stellungen von Leichen,
welche gewissermaassen todtenstarr gewordene, gewollte Bewegungsvorgänge darstellen,
wie das Laden des Gewehres, Schiessen, Sturmlaufen, Springen, Essen, Trinken u. s. w.,
durch zufälliges Festhalten der im Augenblicke des Todes eingenommenen Stellung
erklärten. Bleibt der Arm nach dem Tode zufällig am Gewehrlauf liegen, oder der Löffel,
der Trinkbecher in der Hand, indem diese selbst von einem daneben befindlichen Gegen-
stande gestützt und am Herabgleiten gehindert wird, und erstarrt später der Körper, so
scheint der Todtstarre noch das Gewehr laden, essen oder trinken zu wollen. In grösserer
Zahl sind solche Beobachtungen an erschossenen Soldaten des deutsch-französischen
Krieges, ab und zu auch an Leichen von Selbstmördern und Verunglückten gemacht
worden. Es unterliegt keinem Zweifel, dass viele Fälle sogenannter kataleptischer Todten-
starre in dieser Weise, d. h. als postmortale Erstarrung in einer zufällig fixirten Stellung
zu erklären sind. Anderseits geht aus den Thierversuchen von Falck, Schroff jun.,
A. Paltauf und aus meinen eigenen Beobachtungen an elektrisch getödteten Thieren (vgl.
Kratter, der Tod durch Elektricität), sowie aus zwei interessanten Beobachtungen Schle-
singer's an Menschen, wo bei Tod im Krampfanfalle der unmittelbare üebergang der
Krampfstellung in die Todtenstarre direct beobachtet worden ist, unzweifelhaft hervor,
dass auch eine wahre kataleptische Todtenstarre als seltene und ausnahmsweise Leichen-
erscheinung thatsächlich vorkommt.
Auch das Herz, dieser wichtigste Muskel des Körpers, unterliegt der
Todtenstarre. Oft findet man dasselbe bei den Leichenöffnungen zusammen-
gezogen und fest, d. h. todtenstarr, oft auch schlaff, wie einen halbleeren
Beutel, wenn die Leichenstarre schon gelöst ist. Sie ist dem erörterten Gesetze
entsprechend auch viel schwächer entwickelt und löst sich rascher bei paren-
chymatöser Entartung des Herzfleisches, als wenn dieses gesund und kräftig
ist. Diese einfache Leichenerscheinung wurde und wird zum Theil noch
544 LEICHENERSCHEINÜNGEN.
heute fälschlich als anatomischer Beweis für systolischen oder diastolischen
Herzstillstand angesehen.
Strassmann's Versuche haben unzweifelhaft dargethan, dass es bei gar keiner Todes-
art zu einem systolischen Herzstillstand kommt; er fand vielmehr selbst nach Strychnin-
vergiftung das Herz weich und in diastolischer Stellung. Erst nach Eintritt der Todten-
starre ändert sich dies; der linke Ventrikel zieht sich zusammen und entleert (postmortal)
einen grossen Theil seines Inhaltes. Die Todtenstarre am Herzen führt also eine Aenderung
seiner Gleichgewichtsfigur und eine active Blutbewegung in der Leiche herbei. Durch die
Zusammenziehung der Ringmuskulatur der grossen Gefässe — auch die glatten Muskeln
unterliegen der Todtenstarre — wird diese postmortale Blutbewegung noch mehr befördert.
Deswegen enthalten die grossen Schlagadern meist nur wenig Blut, während die Venen,
welchen agonal und postmortal durch die Zusammenziehung der Capillaren Blut zugeführt
wird, von diesem strotzen.
Die Erstarrung der glatten Muskeln bewirktauch die so oft bei
allen möglichen gewaltsamen und natürlichen Todesarten zu beobachtende
Leichenerscheinung der Gänsehaut, mitunter auch Bewegungen und Ent-
leerungen von gasigem und breiigem Darminhalt. Auch die Ausstossung von
Leibesfrüchten — die sogenannten Sarggeburten — hat man als Wirkung der
Todtenstarre der schwangeren Gebärmutter betrachtet, was jedoch sicher nicht
der Fall ist. Die Sarggeburt ist vielmehr eine Folge späterer Vorgänge,
nämlich der Fäulnis, und eine Wirkung der hiebei stattfindenden, mitunter
stürmischen und massenhaften Gasentwicklung. Dagegen ist das Zusammen-
gezogensein des Hodensackes und des Penis eine Wirkung der Todtenstarre.
Während die Todtenstarre des Herzens und der glatten Muskelfasern
postmortale Bewegungen des Inhaltes von Hohlorganen hervorrufen kann,
werden, soweit bis jetzt verlässliche Beobachtungen vorliegen, durch die
Leichenstarre der willkürlichen Muskeln keine Bewegungen hervorgebracht.
Der Grund dieser zunächst befremdenden Erscheinung liegt in der gleich-
zeitigen Erstarrung der Antagonisten, wodurch die Wirkung der Zusammen-
ziehung jeder Muskelgruppe paralysirt wird, Es scheint daher auch, dass die
so häufig zu findende Beugung der Finger, sowie das ab und zu beobachtete
Festhalten eines Gegenstandes (Waffe u. a.) einfach aus der Erstarrung der
zufällig gebeugten Finger oder geschlossenen Hand, nicht aber als postmortale
Bewegung durch das Uebergewdcht der Beuger zu erklären sind.
Unter Berücksichtigung der geschilderten Einflüsse kann das Verhalten
der Todtenstarre immerhin zur Beurtheilung der Zeit, welche vom Tode an
verstrichen ist, wertvolle Anhaltspunkte bieten. Da Wärme dieselbe abkürzt.
Kälte sie aber verlängert, hört bei Leichen, welche sehr kalt liegen, und bei
gefrorenen Leichen die Möglichkeit einer Zeitbestimmung vollkommen auf.
Solange die Leiche gefroren ist, bleibt die Starre erhalten und kann nach
V. HoFMANN selbst das Aufthauen kurze Zeit überdauern.
Die Ursache der Todtenstarre war schon vor Jahrhunderten
Gegenstand wissenschaftlicher Erörterungen (Paulus Zacchias). Im Laufe
der Zeiten sind mannigfache Theorien hierüber aufgestellt worden. Nysten
(1811) betrachtete sie als letzte Lebensäusserung der Muskelfasern, bezog sie
also auf die physiologische Contractilität, Sommer (1833) schrieb sie der
physikalischen Contractilität der todten Muskeln zu, Beclard und Treviranus
leiten sie von der Gerinnung des Blutes her, Stannius vom Absterben des
Muskelnervs. Nach ihm stellt sie die vom Nerveneinfluss befreite, reine Ela-
sticität des den Tod des Nerven überlebenden Muskels dar. Eiselsberg hat
dem entgegen durch Versuche dargethan, dass der Einfluss des Nervensystems
den Eintritt der Leichenstarre beschleunige. Am meisten Geltung hat sich
die Theorie von BrIjcke, die durch Versuche von Kussmaul, KtJHNE u. a.
bestätigt wurde, erworben. Nach ihm ist die Todtenstarre bedingt durch Ge-
rinnung des Muskeleiweisses, des Myosins. Die Erstarrung ist begleitet,
vielleicht eingeleitet und unterhalten von einem Umschlagen der alkalischen
in die saure ßeaction. Nencki und Marie Ekunina haben nachgewiesen,
LEICHENERSCHEINUNGEN. 545
dass die Muskeln, die Leber und Lungen kurz nach dem Tode die dem ganzen
lebenden Körper mit Ausnahme dös Magens und Dickdarms zukommende al-
kalische Reaction verlieren und einige Zeit sauer reagiren. Die Leichen-
säuerung geht als saure Fäulnis oder besser saure Gährung der eigentlichen
(ammoniakalischen) Fäulnis voraus. Sie ist die erste chemische Leichen -
erscheinung und möglicherweise Ursache der Eiweissgerinnung und der
Todtenstarre.
B. Die späteren Leichenveränderiingen.
(Die Leichenzersetzung.)
Die Zersetzung der Leichen ist ein sehr complicirter, in seinen Einzel-
heiten noch lange nicht völlig bekannter Vorgang. Gleichwohl sind eine
grosse Zahl von Thatsachen beobachtet und erforscht worden, so dass w4r
uns über die Bedingungen und das Wesen der hierbei ablaufenden Processe
doch ziemlich klare Vorstellungen machen können. Der Hauptsache nach sind
es chemische Vorgänge, u. zw. fortgesetzte Spaltungen der hoch zusammen-
gesetzten organischen Moleküle, ein Abbau derselben zu immer einfacheren
Verbindungen. Als Endglieder erscheinen dann die sehr einfachen, seit langer
Zeit bekannten Wasserstoff- oder Sauerstoöverbindungen der die organischen
Moleküle zusammensetzenden wenigen Grundstofle: Ammoniak, Kohlenwasser-
stoffe, Schwefelwasserstoff in dem ersten, Salpetersäure, Kohlensäure, Schwefel-
säure, Phosphorsäure im zweiten Falle. Justüs v. Liebig hat nach diesen
Endproducten schon erkannt, dass die Leichenzersetzung, rein chemisch auf-
gefasst, kein einheitlicher Vorgang ist, sondern dass zwei chemisch ver-
schiedene Processe neben einander laufen. Der mit der Bildung einfacher,
flüchtiger Wasserstoffverbindungen abschliessende ist ein der trockenen De-
stillation analoger Reductionsvorgang, Fäulnis genannt, der zur Bildung von
Sauerstoffendgliedern führende eine Oxydation oder Verbrennung, welche als
Verwesung bezeichnet wird.
Ob sich Fäulnis entwickelt oder Verwesung, hängt vorwiegend von
äusseren Bedingungen ab. Fäulnis kommt zu Stande bei Sauerstoffmangel
und unbeschränktem Wasservorrath, aus welchem immer neue Mengen von
Wasserstoff abgespalten werden können, Verwesung bei unbeschränkter Sauer-
stoffzufuhr und mangelndem Wasser. Bei dem hohen Wassergehalt der Gewebe
und der grossen Menge der Körperflüssigkeiten sind anfänglich fast ausnahmslos
in den Leichnamen selbst die Bedingungen für die Einleitung und Unterhal-
tung von Fäulnis gegeben. Jede Leichenzersetzung beginnt daher mit Fäulnis.
Im Grabe tritt, wenn das Erdreich trocken und porös, also sehr stark luft-
haltig ist, wie es auf einem guten Friedhof sein soll, bald an die Stelle der
Fäulnis die Verwesung. Der in solchem Erdreich vorhandene Luftgehalt,
welcher nach v. Pettenkofer ein Drittel des Gesammtvolumens betragen
kann, liefert unausgesetzt jene Mengen von Sauerstoff', welche nöthig sind,
um allmählich den Stickstoff' der Körpergewebe zu Salpetersäure, den Kohlen-
stoff zu Kohlensäure, den Schwefel zu Schwefelsäure und den Phosphor zu
Phosphorsäure zu oxydiren.
In Wirklichkeit sind die Bedingungen wohl fast niemals solche, dass
entweder nur Fäulnis oder nur Verwesung zu Stande käme; vielmehr schieben
sich beide Vorgänge so ineinander, dass eine Trennung in der Darstellung
unmöglich ist. Vorwiegend ist immer zuerst die Fäulnis, in den Erdgräbern
später nicht selten die Verwesung oder Vermoderung. Ist der Luftzutritt zu
einer Leiche sehr erschwert oder wird ihr das Wasser entzogen, so kommen
die chemischen Processe zum Stillstande; es entwickeln sich modificirte Pro-
ducte, im ersten Falle Fettwachs, im letzteren Mumien.
Bibl. med. Wissenscliften HygieDe. u. Ger. Med. 35
546 LEICHEN ERSCHEINUNGEN.
Wir haben demnach als spätere Leichenveränderungen zu unterscheiden:
1. Fäulnis und Verwesung, 2. die Fettwachsbildung, 3. die Leichen-
vertrocknung.
1. Fäulnis und Verwesung sind, wie schon oben gezeigt wurde, ganz
wesentlich von äusseren, aber auch von inneren (in der Leiche selbst ge-
legenen) Bedingungen abhängig. Aeussere Verwesungsbedingungen sind: die
Luft, Feuchtigkeit und Wärme, innere: das Alter, die Leibesbe-
schaffenheit und die Todesart.
Reichlicher Luftzutritt fördert, Luftmangel verzögert die Leichenzer-
setzung. Leichen faulen daher am raschesten an der freien Luft, während
die Zersetzung im Wasser und in der Erde verzögert ist. Caspek hat auf
Grund seiner reichen Erfahrungen die Einwirkung der verschiedenen Medien
auf die Leichenzersetzung ziffermässig ausgedrückt, indem er den Satz auf-
stellte: Unter sonst gleichen Bedingungen entspricht in Betreff des Verwesungs-
grades eine Woche (Monat) Aufenthalt der Leiche in freier Luft zwei Wochen
(Monaten) Aufenthalt derselben in Wasser und acht Wochen (Monaten) La-
gerung auf gewöhnliche Weise in der Erde. Immerhin hat man unter Zu-
grundelegung dieses Erfahrungssatzes, der ja nur ein beiläufiges Verhältnis
zum Ausdrucke bringt, einigen Anhaltspunkt zur Beurtheilung der Zeit des
Todes. Ein mittlerer Grad von Feuchtigkeit fördert die Fäulnis am
meisten, ein Uebermaass (Liegen der Leichen im Wasser) verzögert sie, das
Fehlen von Feuchtigkeit (Austrocknung des Leichnams) hebt sie vollkommen
auf. Ganz ähnlich wirkt die Wärme. Hohe und niedrige Temperaturen
hemmen die Fäulnis, erstere durch Austrocknung, letztere durch Frieren. Bei
O'' hört jede Zersetzung auf, gefrorene Leichen bleiben ungemessene Zeit-
räume frisch erhalten. Schon von 5" abwärts ist die Fäulnis ungeheuer ver-
langsamt. Die günstigste Temperatur ist zwischen 10 — 20'' R., wobei jeder
einzelne Grad der Wärmesteigerung sich durch Beschleunigung bemerkbar
macht. Bei 30^ R. kommt es schon in kurzer Zeit zur vollständigen Aus-
trocknung des Fleisches (Kijanicin).
Das Alter beeinflusst die Leichenfäulnis nur insoferne, als der Wasser-
gehalt der Gewebe mit dem Lebensalter wesentlich schwankt. Diese Ver-
wesungsbedingung fällt daher eigentlich zusammen mit der Körperbe-
schaffenheit. Je wasser- und säftereicher die Gewebe und Organe sind,
desto mehr wird die Fäulnis befördert, je trockener, fester, derber, umso mehr
verzögert. Daher die rasche Fäulnis von Neugeborenen und Kindern, von
fetten und blutreichen Personen und die viel langsamere von erwachsenen
mageren und abgezehrten Menschen. Die Todesart ist insoferne von Be-
lang, als plötzlich oder an acuten Krankheiten Verstorbene meist vollsäftig
.sind und daher rasch in P'äulnis übergehen können; an septischen Krankheiten
Verstorbene (allgemeine Sepsis, Pyämie, Puerperalprocess, Peritonitis, Ery-
sipel u. s. w.) faulen besonders rasch, weil im Blute schon während des
Lebens Zersetzungen aufgetreten sind und die überall vorhandenen pathogenen
JBacterien die unmittelbare Fäulnis propagiren.
Je nach ihrer Festigkeit, bezw. dem Wassergehalte einerseits und der
Möglichkeit des Luftzutrittes andererseits läuft die Fäulnis der Organe
zeitlich sehr verschieden ab. Die CASPER'sche Reihenfolge entspricht in der
That annähernd den täglichen Erfahrungen. Nach ihm gehen die Organe in
folgender Ordnung in Fäulnis über: Luftröhre, Gehirn Neugeborener, Magen
und Gedärme, Milz, Netze und Gekröse, Leber, Gehirn Erwachsener, Herz,
Lungen, Nieren, Harnblase, Speiseröhre, Bauchspeicheldrüse, Zwerchfell, Blut-
gefässe, Uterus, Sehnen, Bänder, Knochen.
Eine wesentliche Verzögerung führen die Umhüllungen der Leichen,
Kleider und Särge, herbei, und zwar umso mehr, je dichter sie sind und je
LEICHENERSCHEINÜNGEN. 547
enger sie die Leiche umschliessen. Daher kommt es auch oft zu rein örtlicher
Fäulnishemraung durch enganliegende Strümpfe, Schuhe, Gürtel u. s. w.
Die das Wesen der Fäulnis ausmachenden, fortgesetzten chemischen Spaltungen
■werden durch Spaltpilze, die sog. Fäulnisbacterien bewirkt. Als solche fungiren zu-
nächst die normalen Darmbacterien, in weiterem Verlaufe treten besondere Arten auf.
Bisher wurden folgende Fäulnisbacterien im Blute sichergestellt (Ottolengiii):
Mesentericus vulgatus, Mesentericus fuscus, Mesentericus ruber, Bacillus subtilis, Mikro-
•coccus albus liquefaciens bei beginnender, — Bacillus candicans, Mikrococcus candicans
luteus und aurantiacus, dann ein sternförmiger Coccus bei vorgeschrittener, intensiver Fäul-
nis (48 Stunden p. m. 18—22° C). Strassmann und Strecker haben weiters zwei besondere
Fäulnisbacterien der Spätfäulnis sichergestellt: den Bacillus albus cadaveris und den Ba-
cillus citreus cadaveris, beide sind aerob, ausgesprochen fäulniserregend, verflüssigend, die
Producte des ersten wirken toxisch, während dem zweiten toxische Eigenschaften nicht
zukommen.
An der Leichenzerstörung betheiligen sich aber ausserdem wenigstens in vielen
Fällen auch noch andere Pilze, nämlich Schimmelpilze. Heim fand neben vielen ge-
wöhnlichen Arten eine neue — Endoconidium Megnim. Nach meinen Erfahrungen sind
■die Leichname, welche 2 — 3 Monate nach dem Tode, mitunter auch noch später, ausgehoben
wurden, in der Regel mit einem dichten Rasen von Schimmelpilzen bedeckt. Das Mycel
derselben durchsetzt tief die Lederhaut. Ich schreibe ihnen daher die Rolle der Haut-
zerstörer zu; sie besiedeln die Haut, sobald die Oberhautgebilde zerfallen sind und die
blossliegende, feuchte Lederhaut sich als höchst geeigneter Nährboden darbietet. (Vgl.
Kratter, die Schicksale der Leichen im Erdgrabe). Der Zerfall der Deckgebilde beginnt bei
starker Fäulnis schon in den ersten Tagen, indem die Oberhaut durch die wandernden
Körperflüssigkeiten in Blasen abgehoben wird (Fäulnisblasen), welche einreissen und den
Durchtritt der gesenkten Blutflüssigkeit nach aussen gestatten. Durch den allmählichen
Zerfall der ganzen Oberhaut wird die vollständige postmortale Ausblutung der
Leichname ermöglicht, ein Vorgang, der nach Zillner im Ganzen etwa 2 Monate bean-
sprucht. Nach dieser Zeit ist überhaupt kein Blut mehr in den Organen, daher er-
scheinen alle hochgradig gefaulten Organe blutleer; es besteht Fäulnisanämie. Dieser
•cadaverösen Anämie geht während der Zeit der Blutwanderung die allgemeine Durch-
feuchtung der Gewebe mit den flüssigen Blutbestandtheilen voraus, denen der aus den zer-
fallenen Blutkörperchen ausgetretene, zu alkalischem Methämoglobin gewordene Blut-
farbstoff die schmutzig braunrothe Farbe gibt. In dieser Zeit (die ersten 2 — 4 Wochen) sind
alle Gewebe mehr weniger stark von gefaultem Blute darchtränkt, ein Zustand, der als
faule Imbibition bekannt, in der Wärme oft schon nach 24 Stunden so weit entwickelt
ist, dass die Hautvenen als Netze von federkieldicken dunklen Streifen hervortreten.
Die Gase, welche sich, bei der Fäulnis bilden, bewirken durch ihre Ansammlung im
ünterhautzellgewebe, dessen Maschenräume sie durchsetzen, das Fäulnisemphysem,
w^elches aber auch an inneren Organen durch Ansammlung von Fäulnisgasen unter der
Lungenpleura oder im submucösen Bindegewebe des Magens und der Gedärme, selbst in
den derben Organen, wie Leber, Milz, Nieren und Gehirn, bis zur Schwimmfähigkeit der-
selben sich entwickeln kann. Das faule Hautemphysem bildet sich besonders leicht nach
schweren Verletzungen, in der Umgebung grosser Blutaustritte und bei Wasserleichen,
welche einige Zeit an der Luft liegen.
Unter den Fäulnisgasen kommt dem Schwefelwasserstoff eine besondere Bedeutung
zu. Er bedingt nämlich durch seine Einwirkung auf die eisenhaltigen Zersetzungsproducte
des Blutes unter Bildung von Sulfhämoglobin und Schwefelmethämoglobin jene schwarzen
•und schwarzgrünen Verfärbungen, welche oft schon am zweiten Tage nicht nur an der
Haut, namentlich den Bauchdecken, auftreten, sondern auch an inneren Organen sehr stark
entwickelt sein können. Hier vermögen sie pathologische Veränderungen sowohl zu ver-
decken als vorzutäuschen, wie z. B. die cadaveröse Melanose des Magens. Diese
grünen und schwarzen Verwesungsfärbungen der Organe können sich bei acuter Fäulnis
des Blutes, wobei die Blutkörperchen rasch zerfallen und der Blutfarbstoff frei wird, umso
schneller bilden, als Schwefelwasserstoff (HgS) und das homologe Methylmercaptan (CH3.HS)
als Darmgase schon beim Lebenden vorhanden sind. Bei der Fäulnis bilden sich flüchtige
Schwefelverbindungen, die zuletzt zu HjS werden, auch aus allen schwefelhaltigen Eiweiss-
substanzen. Dieses Gas kann sich bei heftiger Fäulnis durch Reduction sogar aus den
Sulfaten bilden nach folgender Formel : K2SO4 -j- Hg = KgO + 3 HoO + SH2.
Der Chemismus der ammoniakalischen Fäulnis ist heute doch
schon zu einem Theile bekannt. Veranlasst wird die ammoniakalische Fäulnis,
wie es scheint, vorwiegend durch den Bacillus cadaveris albus und Bac. cad.
citreus. Die niedrigen Ammoniakverbindungen bilden sich leicht aus dem
Harnstoff, der unter Aufnahme von Wasser in Ammoniak und Kohlensäure
zerfällt: CO(NH2)2 + 2 HgO = 2 CO2 + 2 NH^, schwer und langsam da-
gegen aus den Eiweissubstanzen.
35*
548 LEICHENERSCHEINUNGEN.
Als Zwischenstufen bilden sich stickstoffhaltige Körper, welche heute
allgemein mit dem gemeinsamen Namen Leichenalkaloide oder Pto-
maine (richtig Ptomatine) bezeichnet werden.
Diese Bezeichnung rührt daher, weil zuerst gelegentlich von forensischen Unter-
suchungen bei Giftmordprocessen auch aus gewöhnlichen, nicht vergifteten Leichen den
Pflanzenalkaloiden ähnliche Körper dargestellt wurden. Nachdem schon Marquart in
Stettin (1865) eine dem Coniin verwandte Base aus menschlichen Eingeweiden dargestellt,
Bense Jones und Dupr6 (1866) das „animalische Chinoidin" entdeckt, Bergmann und
Schmiedeberg in Dorpat (1868) aus faulem Blute das „Sepsin" rein gewonnen, Zülzer und
Sonnenschein (1869) aus faulem Fleisch eine dem Atropin und Hyoscyamin ähnliche Base
abgeschieden hatten, legte am 9. Februar 1873 Francesco Selmi der Academie von Bologna
seine weltberühmt gewordene Abhandlung über Ptomaine (TrT(L[j.a, TiTCüp-axoc, gefallenes Vieh,
Cadaver) vor, in welcher er die Behauptung aufstellte, dass in jeder Leiche, gleichgiltig,
wodurch der Tod erfolgte, alkaloidische Substanzen nachgewiesen werden können, welche
den Gerichtschemiker sehr leicht irre zu führen vermöchten. Er unterschied nach den
Wirkungen ein Leichenconiin und Leichennicotin, strychninähnliche (tetanisirende) Cadaver-
alkaloide, pupillenerweiternde, die Ptomatropine, sowie morphin-, delphinin-, digitalin- und
curaninähnliche Ptomatine.
Die von Selmi, dann von Gautier, Brouardel und Boutmy dargestellten Substanzen
waren Extracte, aber keine chemisch reinen (krystallisirbaren) Körper, keine chemischen
Individuen. Die erste unzweifelhaft chemisch reine Substanz stellte Nencki (1876) aus
fauler Gelatine dar, das Collidin. Die grössten Verdienste um die Reindarstellung dieser
Spaltungsproducte der Fäulnis erwarb sich Brieger. Er hat durch jahrelange Arbeiten eine
»rosse Reihe von theils schon bekannten, theils neu entdeckten stickstoffhaltigen basischen
Körpern als einfachere Zwischenglieder beim Abbaue der hoch zusammengesetzten Eiweiss-
moleküle nachgewiesen.
Wir kennen heute folgende Ptomatine:
a) Gruppe der Amine: (NHa an Alkoholradicale angelagert)
a) primäre Amine.
(Amidbasen): Methylamin (CHg.NHg)
Aethylamin (C2H5.NH2)
Propylamin (C3 H7 . NHg)
Von A. Gautier und / Butylamin (C4H9.NH2)
Mourges aus dem Leber- | Amylamin (CjHu.NHa)
thran erhalten. [ Hexylamin (CgHig.NHs) endlich
IsophenylaethylaminC6H5.C2H4.NH2 (CßHsCH j^gA = Collidin.
ß) secundäre Amine: Dimethylamin (CH3)2.NH
(Imidbasen) Diäthylamin (C2H5)2.NH
y) tertiäre Amine: Trimethylamin (CH3)3.N
(Nitrilbasen)
h) Gruppe der Diamine: Aethylendiamin C2H4.(NH2)2 kommt bei der Fäulnis nicht
vor, wohl aber das isomere Aethylidendiamin.
Tetramethylendiamin NH2.(CH2)*.NH2 = Putrescin,
Pentamethylendiamin NH2.(CH2)^.NH2 = Cadaverin
Dem Cadaverin isomer iCsHi^Ng = Neuridin
^C5Hi4N2 = Saprin.
c) Gruppe des Cholins:
Cholin (CäHijNOa) mit Structur C2H4.0H.N(CH3)30H), von Strecker 1862 in der
Galle des Schweines gefunden, von Wurtz 1868 synthetisch dargestellt, entsteht bei der
Fäulnis reichlich aus dem Zerfall des Protagons und Lecithins.
Betain (Oxyneurin, auch Lycin) = N(CH3)3H0.CH2.C00H kommt im Harn, giftigen
Miesmuscheln, aber auch in Pflanzen vor.
Mydatoxin (CßHigNOa) ist ein wohlcharakterisirtes Leichengift von wahrscheinlich
dem BetaYn ähnlicher Structur.
Neurin (Liebreich 1865, Brieger 1883) = Vinylcholin (Gram) C5H13NO = C2H3.N
(CH3)3 OH = Trimethyl-Vinylammoniumhydrat ist giftig wie Muscarin, bei 5 — 6tägiger
Fäulnis von Pferdefleisch, Rindfleisch und menschlichen Leichen gefunden. (Brieger).
Neuridin C5H14N2 ist eines der häufigsten Fäulnisproducte. Brieger fand es 1884
in faulem Fleisch von Pferden, Rindern, Menschen, Fischen; auch aus faulendem Käse,
Eidotter, Gehirn und Gelatine wird es gewonnen; es ist isomer mit dem Cadaverin und
ungiftig.
Muscarin, der Structur nach eine Ammoniumbase N(CH3)^0H.C2H40H, von Brieger
als Ptomato-Muscarin aus faulen Fischen dargestellt, hat, wie das natürliche im Fliegen-
schwamm vorkommende, eine curareartige Wirkung und ist antagonistisch zum Atropin.
LEICHENERSCHEINUNGEN. 549
d) Andere zum Tlieil der Structur, zum Theil der Formel und Structur nach un-
bekannte Ptomatiue :
Mydin CgHi.NO (Brieger, 1886, ungiftig),
Mydatoxin CallisNOa (BRiEdER 1885) nach Kobert giftig,
Gadinin C7Hi7N02 (Brieger 1885) aus faulen Dorschen und Leim,
Hydrocollidin CgIIisN) (Gautier und Etard 1881)
Parvolin C9H13N) beide giftig.
Mydalein, vielleicht ein Diamin, Ptomatropin, Ptomatocurari n (Brieger 1885),
Ichlhyotoxin (Mosso), Tyrotoxin (Vanghan). Diesen Körpern sind endlich zuzuzählen
die bisher rein dargestellten giftigen Stoffwechselproducte der pathogenen Bacterien, welche
bei an den betreffenden Krankheiten gestorbenen Menschen auch als Fäulnisproducte
vorkommen, wie das Tetanin (C,4H2oNo03) und Tetanotoxin (CjHnN), Anthracin
(CgH^Ni), Erysipelin (CjiHjaNOs), Morbillenptomatin (C3H5N3O), Convulsivin
(C.HjoNOo) und Andere.
Diese Spaltproducte treten aber keineswegs gleichzeitig auf, sondern
folgen bei fortschreitender Fäulnis in der Weise auf einander, dass die einen
verschwinden und andere an ihre Stelle treten. Diese von Brieger nach-
gewiesene Thatsache könnte zu einer rationellen und exacten Bestimmung der
Zeit, welche vom Tode an verstrichen ist, verwendet werden; es Hesse sich
darauf, wie ich schon 1890 gezeigt habe, durch fortgesetzte, systematische
Untersuchungen wohl eine chemische Chronologie der Fäulnis be-
gründen. (Vgl. Krattee, über die Bedeutung der Ptomaine für die ger. Med.
1890.) In den ersten 2 Tagen der Fäulnis ist nämlich nur Cholin vorhanden,
dann entsteht Neuridin, während Cholin allmählich verschwindet (nach sieben-
tägiger Fäulnis), dafür erscheint jetzt Trimethylamin. Das Neuridin ist nach
14 Tagen völlig verschwunden. Erst aus den Producten späterer Fäulnis
wird Cadaverin, Putrescin und Saprin gewonnen. Diese ungiftigen Ptomatine
treten früher auf als die giftigen Cadaveralkaloide, welche erst nach zwei-
bis dreiwöchentlicher Fäulnis (das Mydalein) oder sogar erst nach Monaten (das
Mydin und Mydatoxin) gebildet werden.
Der Zerfall der Gewebe durch die Fäulnis ist auch morphologisch ver-
folgt worden. Die Histologie faulender Gewebe ist durch zahlreiche
Arbeiten sehr gefördert -worden. (Heidenhain, Rindfleisch, Klebs, Falk,
V. Maschka, Tamassia, Zillner, v. Hofmann, Kratter.) Das Ergebnis derselben
ist gleichwohl ziemlich dürftig. Sichergestellt erscheint folgendes: Früh gehen
die Formelemente des Blutes zu Grunde, namentlich die rothen Blutkörperchen.
Sie verändern ihre Form, werden theils aufgebläht, theils eingekerbt, von
opaken Körnchen und Streifen durchsetzt und zerfallen schliesslich unter Ab-
gabe ihres Inhaltes, des Blutrothes.
Tamassia fand, dass der völlige Zerfall am 20. bis 25. Tage vollzogen ist. Nach meinen
Erfahrungen geschieht dies in der Regel viel rascher. Sehr häufig entstehen im faulen
Blute Hämatoidinkrystalle. Fast regelmässig findet man sie bei faultodten Früchten. Sehr
bald treten auch Veränderungen an den Drüsenepithelien und den Muskelfasern, sowohl den
quergestreiften wie den glatten, auf. Diese bei starker Fäulnis schon in den ersten Stunden,
meist allerdings erst nach 24—36 Stunden, zu beobachtenden Veränderungen bestehen aus-
nahmslos in Trübungen des protoplasmatischen Zellinhaltes; es entwickelt sich ein Bild, das
von dem vitalen Process der trüben Schwellung (Virchow) nicht zu unterscheiden ist. Meist
erst nach Wochen entstehen in den Zellen deutliche Körnchen, über deren Wesenheit die
Meinungen noch getheilt sind. Ich erkläre sie für wirkliche Fettkörnchen und betrachte
die postmortale Fettbildung als einen allgemeinen Fäulnisvorgang. Auf dem Wege
des körnigen (fettigen) Zerfalles erfolgt ganz allgemein die Auflösvmg nicht mehr ernähr-
ter, d. i. abgestorbener Zellen, gleichgillig ob die Ausschaltung von der Ernährung örtlich
beschränkt (vital) oder allgemein (postmortal) ist. Bei der Spätfäulnis fast aller Gewebe
und Organe treten dann recht häufig charakteristisch geformte und krystallisirte Fäulnis-
producte auf, Leucin, Tyrosin und Fettsäurekrj^stalle. Muskeln, Bindegewebe und elastische
Fasern sind sehr widerstandsfähig gegen die Fäulnis und können Monate, mitunter Jahre
erhalten bleiben.
Der zeitliche Ablauf dieser Fäulnisveränderungen der Gewebe ist so
schwankend nach äusseren und inneren Verw^esungsbedingungen, nach Bau
und Zustand der Organe, dass eine morphologische Chronologie der
550 LEICHENERSCHEINUNGEN.
Fäulnis wohl nicht zu begründen ist. Da bieten noch die makroskopischen
Veränderungen weit mehr Anhaltspunkte für Zeitbestimmungen, wenngleich
auch ihre Verwertbarkeit nach dem so maassgebenden Ausspruche Orpila's
eine beschränkte ist, der es für eine Unmöglichkeit erklärt, die Zeit des
erfolgten Todes aus den Veränderungen an der Leiche annähernd sicher zu
bestimmen. Gleichwohl müssen, wie oben gezeigt wurde, schon die heutigen
Ergebnisse der Forschung im Gebiete der Bacteriologie und organischen Chemie
als verheissungsvolle Anfänge einer exacten Lösung des grossen forensischen
Bedürfnisses, die Zeit des Todes unbekannter Leichname sicherzustellen, be-
trachtet werden. Auf ihren Bahnen liegt die Zukunft einer besseren Einsichtl
Bei Leichen, die an der Luft oder im gewöhnlichen Erdgrabe liegen^
betheiligen sich auch Insecten, die sogenannten Aasin secten, hervorragend
an der Zerstörung; sie, beziehungsweise ihre Larven befallen in Massen die-
ihnen zugänglichen Leichname und zehren dieselben buchstäblich zum grossen
Theile auf. Es sind mehrere Arten der Dipteren (Curtonevra, Caliphora,
Lucilia, Sarcophaga, Phora und Anthomyca), der Coleopteren (Dermestes,
Corynthes, Silpha, Hister, Saprinus, Rhizophagus), Lepidopteren (Aglossa),
Acarinen (Serrator, Tyroglyphus, Glyciphagus, Uropoda, Trachinotus) und
Anthrenen (Tineola biselliella). Im gewöhnlichen Sprachgebrauch werden zu
den Aasinsecten auch die Arachniden und Myriopoden gerechnet.
Reinhard, Handlirsch und vor allem Megmin haben eine bestimmte Reihenfolge der
Besiedlung nachgewiesen. Zuerst kommen die Calliphoren und Curtonevren, deren Eier
schon mit dem Leichnam ins Grab kommen, dann folgt die Anthomyca und Phora (von
welcher Myriaden lebender Nymphen die Leichen bedecken) und schliesslich die Rhizo-
phagen. Die Eier von letzteren und von Phora werden offenbar in die Erde über den
Gräbern gelegt und die ausgekrochenen Maden suchen ihren Weg zu den Cadavern. Die
den Leichnam zuerst befallenden Dipteren-Gattungen Curtonevra, Calliphora, Lucilia und
Sarcophaga nähren sich ausschliesslich vom Fleisch — sie sind Muskel zehr er, die Cole-
opteren und Lepidopterengattungen Dermestes, Corynthes und Aglossa von Fettsäuren,
sie sind Fettzehre r. Phora, Anthomyca, Silpha und Hister besiedeln die Leiche erst
bei vorgeschrittener Fäulnis, wo die Weichtheile schon in eine schwarze, nach faulem
Käse riechende Masse verwandelt sind, die Acarinen und Anthrenen noch später; letztere
sind ihrer Thätigkeit nach Moderbildner. Demnach unterscheidet Megnin vier Perioden,
die er als Periode sarcophagienne (3 Monate Dauer), Periode dermestienne (3 — 4 Monate),
Periode silphienne (4—8 Monate) und Periode acarienne (6 — 12 Monate) bezeichnet.
Aus meiner eigenen nicht ganz geringen Erfahrung muss ich bemerken, dass diese
Eintheilung höchstens auf eine örtliche Giltigkeit Anspruch erheben kann. In gut ge-
schlossenen Särgen fehlen Insectenlarven wohl auch ganz. So typisch und regelmässig
ist auch die Aufeinanderfolge durchaus nicht immer. Die Zeitfolge der Besiedlung hängt
zudem sehr von den Jahreszeiten ab, die Reifungszeit ein und derselben Larvenart
schwankt je nach Umständen zwischen Wochen und Monaten. Die Gräberfauna kann zu
Zeitbestimmungen für forensische Zwecke gewiss nur ganz ausnahmsweise und mit grösster
Vorsicht herangezogen werden. Das System der entomologischen Chronologie
der Fäulnis von Megnin kann auf AUgemeingiltigkeit und praktische Verwertbarkeit
keinen Anspruch erheben.
Die Zeit, bis zu welcher die Weichtheile durch Fäulnis vollkommen
zerstört werden, schwankt innerhalb sehr weiter Grenzen. Sie ist abhängig
von den oben geschilderten äusseren und inneren Verwesungsbedingungen.
Die Leichen von Neugeborenen, welche oberflächlich verscharrt waren, habe
ich sogar schon in 372 und 4 Monaten bis auf die Knochen zerstört gefunden;
die in gewöhnlicher Weise begrabenen Leichen Erwachsener brauchen im
günstigsten Falle ebenso viele Jahre. Ist das Erdreich nicht genügend porös
und trocken, sondern feucht und schwer durchlässig, so genügen 5, 7 und
mitunter 10 Jahre nicht zum völligen Zerfall der Weichtheile. An der freien
Luft dagegen können sämmtliche Weichgebilde eines Erwachsenen im Laufe
eines Jahres durch Fäulnis zerstört werden; es sind aber Fälle bekannt ge-
worden, wo solche Leichname in 2 — 3 Monaten bis auf die Knochen auf-
gezehrt waren, wenn sie ausser von Maden noch von Ameisen, Würmern^
Tausendfüssern und anderen Thieren befallen wurden.
LEICHENERSCHEINUNGEN. 551
Die Verwesung der Knochen beansprucht, wenn sie frei an der
Luft liegen, einen Zeitraum von 10^15 Jahren; dann sind die meisten Knochen
bis auf geringe Reste zerstört (Miller). Es zerfallen zuerst die Knochen der
Hand- und Fusswurzel, die Wirbel, die Rippen, das Kreuzbein und die
Gelenktheile, zuletzt das Schädeldach, die Hüftbeine und Diaphysen der langen
Röhrenknochen (Toldt). Die Ursache des endlichen Zerfalles ist ein langsam
fortschreitender Verwitterungsprocess, dessen Wesen in einer allmählichen
Zersetzung der organischen Substanz der Knochen, des Osseins, und in end-
licher Lösung der Knochensalze durch die Niederschlagswässer oder das Grund-
wasser (bei Erdleichen) besteht. Namentlich unter dem Einfluss der Kohlen-
säure des Bodens wird der phosphorsaure Kalk der Knochen zum Theil gelöst.
An seine Stelle treten je nach der Beschaffenheit des Bodens Carbonate und
Sulfate von Calcium und Eisen, unter Umständen auch Fluor, Kieselsäure und
Thonerde. Geschieht letzteres in beträchtlichem Maasse, so kommt es zur
Versteinerung, Petrification der Knochen. In den meisten Fällen aber
erfolgt das Gegentheil, das Gewicht der Knochen nimmt ab, die Oberfläche
wild rauh, blättert schichtenweise ab, die porösen und endlich auch die com-
pacten Knochen werden mürbe, brüchig, zerreiblich und zerfallen schliesslich.
Für die forensische Praxis gelten zur Beurth eilung der Verwesungszeit
folgende alten Erfahrungssätze: 1. Knochen, an denen noch mehrfache Reste
von Knorpeln und Weichtheilen haften, in denen das Knochenmark sich noch
in den Markhöhlen befindet, können, wenn nicht besondere Umstände ein-
gewirkt haben, wohl nicht länger als 5 — 10 Jahre in der Erde gelegen sein.
2. Sind die Weichtheile völlig zerstört, von den Knorpeln noch spärliche
Reste vorhanden, die Knochen selbst von Fett durchtränkt, aber in ihrer
Substanz noch nicht merklich verändert, so dürften sie nicht länger als 10
bis 15 Jahre vergraben gewesen sein, 3. Sind die langen Röhrenknochen
in den Mittelstücken und den Endstücken gleichmässig ausgetrocknet und
fettfrei, so können sie 25—30 Jahre gelegen haben; sind sie mürbe und
bröcklig, rauh und porös, so können sie sich vielleicht 100 Jahre und dar-
über in der Erde befunden haben (Mexde).
2. Die Fettwachsbildung. Bei ungenügender oder völlig mangelnder
Sauerstoffzufuhr kommt es zu einer ausserordentlichen Verzögerung oder auch
zum völligen Stillstand im Verwesungsprocesse. Hiebei bildet sich eine weisse
oder grauweisse, schmierige, bröckelige, käse- oder wachsähnliche Masse,
welche an der Luft erhärtet, dann wie Gyps aussieht und beim Anschlagen
tönt. Diese Masse wurde von Fourceot und Thouret, welche sie zuerst bei
der 1787 erfolgenden Räumung der Massengräber auf dem Friedhof der un-
schuldigen Kinder in Paris beobachtet haben, Adipocire (adeps, Fett, cera,
Wachs), Fettwachs (Leichenwachs, Leichenfett) genannt. Erst in
neuerer Zeit ist beobachtet worden, dass Adipocire auch in Einzelgräbern
vorkommen könne (Kratter, Reinhard, Reubold, Küchenmeister u. A.).
Ausserdem bildet sich Fettwachs auch noch bei Leichen, welche lange Zeit
(Monate und Jahre) im Wasser liegen.
Der chemischen Zusammensetzung nach ist das Fettwachs ein
Gemenge von höheren Fettsäuren und Seifen. An Basen sind Kalk, Magnesia^
Kali Und Natron nachgewiesen worden.
Ueber die Bildung des Fett wachs es gehen seit seiner Entdeckung
bis heute die Anschauungen der Forscher auseinander.
Ein Theil derselben sieht im Adipocire nichts anderes, als das der Fäulnis wider-
stehende, vorhandene Körperfett (Thouret, Chevreuil, Wetherell, v. Hofmann, Nencki,
Ludwig, Ermann, Zillner). Andere dagegen nehmen eine Bildung ans den Eiweisssub-
stanzen des Körpers ähnlich der Bildung von Fett ans dem Casein der Milch and beim
Reifen des Käses oder der Fettbildung aus dem Eiweiss der Nahrung und dem Zellproto-
plasma bei der fettigen Degeneration der Organe an. (Fourcroy, Gibbes, Bichat, Taylor,
Casper, Quain, Virchow, Kühne, E. v. Voit, C. Voit, E. Salkowski, Kratter).
552 LEICHENERSCHEINÜNGEN.
Nach dem Ergebnisse der Versuche von K. B. Lehmann, welcher bei
der Muskelfäulnis im Wasser eine Zunahme des Fettsäuregehaltes um 100%
beobachtete, muss die Frage als dahin entschieden betrachtet werden, dass
eine postmortale Fettbildung aus Eiweissubstanzen thatsächlich besteht.
Ein Theil des Fettwachses wird daher oder kann wenigstens auch aus dem
Muskeleiweiss gebildet werden, ein Theil geht aber aus dem vorgebildeten
Fett dadurch hervor, dass dieses in Glycerin und freie Fettsäuren zerfällt
und letztere nach Maassgabe der in der Erde, dem Wasser oder dem Leichnam
selbst vorhandenen Basen in Seifen übergeführt werden.
Ueber die Zeitfolge der Fettwachsbildung habe ich Folgendes
festgestellt:
Die Umbildung erfolgt (im Wasser) in drei Zeitabschnitten. Zuerst ist einfache
Fäulnis mit Transsudation, Imbibition und schliesslicher Ausblutung unter Zerfall der Ober-
hautgebilde vorhanden. Ich habe diesen ersten Zeitabschnitt das Vorstadium oder die
Periode der Fäulnis genannt (1 — 2 Monate). Darauf folgt die Umbildung des ünter-
liautfettgewebes von aussen nach innen zu; sie dauert 3 — 4 Monate. Es ist dies die
Periode der Verseifung der Fettsubstanzen. Zuletzt werden die Muskeln ein-
bezogen, Periode der Verfettung der Eiweissubstanzen (Kratter, Studien über
Adipocire 1880). Der Ablauf dieser dritten Stufe der Fettwachsbildung geht in folgender Weise
vor sich:
1. Niemals beginnt der Process an den Muskeln vor dem Ende des dritten Monates.
2. Er schreitet stets von der Oberfläche gegen die Tiefe zu vor ; die tiefstgelegenen
Muskeln bleiben am längsten erhalten.
3. Die Einbeziehung erfolgt sehr allmählich. Sie ist bei oberflächlich gelegenen
Muskeln (z. B. den Gesichtsmuskeln) schon nach Ablauf eines halben Jahres vollzogen,
bei den tiefstgelegenen (am Gesäss und den Oberschenkeln) nach mehr als einem Jahre
noch nicht beendet. (Kratter, über die Zeitfolge der Fettwachsbildung. 1890.)
Von forensischer Bedeutung ist die lange Erhaltung des Körpers
durch die Leichenwachsbildung, was oft noch eine späte Feststellung der Iden-
tität und der Todesart ermöglicht. An Fettwachsleichen sind ausserdem
wegen des typischen Verlaufes der Bildung Zeitbestimmungen unter Zugrunde-
legung der von mir ermittelten Thatsachen mit viel grösserer Sicherheit aus-
führbar, als bei der einfachen Fäulnis und Verwesung. Die Erstarrung der
im feuchten Zustande schmierigen Fettwachsmasse kann nach hier gemachten
Erfahrungen zur ganz irrthümlichen Auffassung des Zustandes als einer „Kalk-
incrustation" der Leiche führen. (Kkatter, Forensisch wichtige Befunde bei
Wasserleichen, 1887.)
3. Die Vertrocknung der Leichen (Mumification). Ist Luft im Ueber-
schuss (reicher Luftwechsel) und Mangel an Feuchtigkeit vorhanden, so kommt
es ebenfalls zum Stillstand der Fäulnis; die Leichname trocknen aus und wer-
den in Mumien verwandelt. Die Leichenvertrocknung ist nichts anderes, als
die Erstreckung des als gewöhnliche Leichenerscheinung oben geschil-
derten, örtlich beschränkten Vorganges auf die ganze Leiche.
Allgemeine vollständige Austrocknung von Leichen kommt bei uns im
Ganzen nicht häufig vor; in heissen Zonen, im lockeren Sande der Wüste, über
welchem ein heisser trockener Luftstrom weht, wird die Vertrocknung, welche
hier eine Ausnahme ist, zur Regel, weil dort alle Bedingungen für eine rasche
Diffusion der Körperflüssigkeiten nach aussen vorhanden sind, Avelche bei
unseren klimatischen Verhältnissen und unserer Bestattungsart fast immer
fehlen. Doch sahen Fourcrot und Thouret in den Pariser Massengräbern
auch vertrocknete Leichname; Riecke sah in stark salpeterhaltigem Boden
mehrmals, wohl durch intensive Exosmose von der Leiche in die mit Salzen
geschwängerte Umgebung bedingte Leichenvertrocknung. Nach Demaria soll
an vielen Begräbnisstätten Piemonts Austrocknung der Leichen stattfinden.
Häufiger als im Erdgrabe kommt die Leichenvertrocknung in Grüften
und Grabgewölben vor. Daher findet man natürliche Mumien von oft jahr-
hundertelangem Alter in vielen Klostergrüften und Gruftgewölben von Kirchen.
Ab und zu befinden sich Leichname von Verunglückten oder Selbstmördern
LEICHENWESEN. &53
(Fälle von Okfila, Zillxer u. a.) an sehr trockenen und luftigen, schwer
zugänglichen Orten, sodass sie, monate- oder jahrelang verborgen bleibend,
völlig vertrocknen.
Die Mumification eines Leichnams bedingt die Erhaltung der beim Tode vorhanden
gewesenen Veränderungen, so dass oft noch in sehr später Zeit die Feststellung der Todes-
art möglich ist. Das älteste uns überlieferte Beispiel der Conservirung einer Leiche durch
Vertrocknung ist die von Pausanias berichtete Auffindung einss messenischen Kriegers in
dem Dachraume des Heretempels in Elis, an welchem die vielfachen Wunden, denen er im
Kampfe bei der Erstürmung von Elis erlegen war, noch erkennbar gewesen sein sollen,
obwohl die Leiche erst nach Jahren, als man an. die Wiederherstellung des Tempels ging,
gefunden wurde.
ScHAUENSTEiN hat in überzeugender Weise dargelegt, dass die Leichen-
vertrocknung kein einfach physikalischer Vorgang sei, sondern dass dabei
auch chemische Umsetzungen stattfinden müssten. Er hat auf Grund der
Angaben von E. Bischoff über das Gewicht der Trockensubstanzen des mensch-
lichen Körpers und der Gewichtsbestimmungen natürlicher Mumien von
ToussAiNT berechnet, dass die Gewichtsverminderung bei vertrockneten Leichen
keineswegs nur durch den Verlust des Wassergehaltes des Körpers bedingt
sein könne. Ein 70 hg schwerer Körper besitzt wenigstens l^kg Trocken-
substanzen, während das Durchschnittsgewicht der von Toussaint gewogenen
vertrockneten Leichen nur 5 — 6 kg betrug.
Ausser diesen äusseren Einwirkungen leisten auch individuelle Eigen-
schaften der Vertrocknung Vorschub. So vertrocknen recht leicht unreife
Früchte trotz ihres hohen Wassergehaltes wegen der unentwickelten Haut,
welche der Verdunstung keinen Widerstand entgegensetzt, ausserdem die
Leichen magerer, blutarmer, herabgekommener; abgezehrter Menschen. Der
oft wiederholten Behauptung, dass bei Arsenvergiftungen die Leichen mumi-
ficirten, muss ich auf Grund zahlreicher eigener Erfahrungen auf das Be-
stimmteste widersprechen. Selbst rein örtliche Vertrocknungen sind vereinzelte
Ausnahmen.
Zum Schlüsse muss noch bemerkt werden, dass die geschilderten Leichen-
veränderungen der Fäulnis und Verwesung, der Fettwachsbildung und Ver-
trocknung keineswegs in dem Sinne als eigenartige Vorgänge aufzufassen
sind, dass einer den andern ausschliesst. Sie können zwar jeder für sich
an der ganzen Leiche bestehen, aber auch nebeneinander bei ein und derselben
Leiche vorkommen, so dass einzelne Theile vertrocknet, andere verseift und
wieder andere verwest oder verfault sein können. j. kkatter.
Leichenwesen. Zwei Beweggründe haben zu allen Zeiten die Menschen
veranlasst, den entseelten Körpern ihrer verstorbenen Mitmenschen Sorgfalt
und Pflege zu widmen; einmal Rücksichten praktischer Art, fussend auf der
Erfahrung, dass ein sich selbst überlassener Leichnam der Umgebung binnen
Kurzem grosse Unzuträglichkeiten bereitet, sowie zweitens Momente idealer
Xatur, die in religiösen Anschauungen und in dem Gefühle der Pietät gegen-
über dem Andenken der Verstorbenen wurzelten. Dieselben Gesichtspunkte
sind auch heute noch in der ganzen Menschheit giltig und maassgebend und
bilden die Hauptgrundlage aller derjenigen Gebräuche, Sitten und Gewohn-
heiten, Maassregeln und Einrichtungen, welche die Behandlung menschlicher
Leichname betreffen: auf ihnen beruht ausnahmslos das gesammte L e i c h e n -
Wesen.
Die Behandlung der Körper Verstorbener ist in den verschiedenen Völkern und zu
verschiedenen Zeiten den grössten Wandlungen unterlegen gewesen. Den meistbestimmen-
den Einfluss darauf haben überall in erster Linie die religiösen Auffassungen der verschie-
denen Gemeinden ausgeübt. In der Mehrzahl aller einigermaassen gebildeten Völker
lassen sich deutliche Spuren nachweisen, dass dieselben bereits in grauer Vorzeit der Be-
stattung ihrer Todten in religiöser, ceremonieller und rechtlicher Hinsicht grosse Aufmerk-
samkeit zuwendeten. Je klarer ausgeprägt in einem Stamme der Glaube an eine persön-
liche Fortdauer des Individuums nach dem irdischen Tode festwurzelte, umso treuere Für-
554 LEICHENWESEN.
sorge wurde in ihm der bestmöglichen Erhaltung des Körpers gewidmet, wenn man glaubte,
dass derselbe zu der entwichenen Seele in fortdauernder Beziehung bleibe. Das ist der
Grnnd für die sorgsame Einbalsamirung der Leichen und für die Errichtung der die Jahr-
tausende überdauernden Grabkammern der Aegypter; das die Idee der in vielen Völkern
geübten Ausrüstung der Bestatteten mit den mannigfachsten Gebrauchsgegenständen, von
dem in den Mund der Leiche gelegten Obolus der Griechen an, welchen der Verstorbene
als Fährgeld für die üeberfahrt über den Styx an Charon, den unterirdischen Schiffer,
zahlen sollte, bis zu der vollen Ausrüstung gestorbener Helden anderer Völker mit allen
Waffen- und Rüststücken, ja mit dem Rosse oder gar mit Sclaven und Weibern, die eine
volle reichliche Ausstattung für das Leben im Jenseits darstellten. Weit geringere Sorge
wandte man den Todten bei einigen orientalischen Völkern zu, die von dem Gedanken be-
herrscht waren, dass der Leib nichts als eine nichtige und lästige Fessel des lebendigen
Geistes sei, mit dessen Abstreifung jener erst in das ihm eigentlich bestimmte bessere Da-
sein eintrete; diese Völker hegten gegen den Leichnam eine gewisse Scheu und schrieben
ihm zu, dass er das Haus verunreinige; bei dem heissen Klima der von den hierhergehörigen
Volksstämmen bewohnten Länder kann diese Meinung wegen der dort sehr schnell und
intensiv sich entwickelnden Fäulnis der Cadaver nicht verwunderlich erscheinen. Zum
Theil schrieb man die Entstehung der letzteren dem Einflüsse eines mit dem Eintritte des
Todes in den Körper einziehenden bösen Geistes zu. Bei diesen Völkern suchte man sich
der Leichen so schnell wie irgend möglich und zum Theil ohne viel weitere Ceremonien zu
entledigen. (Inder, Perser, Hebräer etc.)
Als Art der Bestattung ist in den frühesten Zeiten des Menschengeschlechtes
höchst wahrscheinlich die einfachste und primitivste in Gebrauch gewesen, indem man den
Leichnam mit irgend einem von der Natur gebotenen Materiale bedeckte, um ihn so dem
Anblicke der üeberlebenden und den rohesten Einflüssen der Aussenwelt, namentlich den
Angriffen der Thiere zu entziehen, sich selbst gegen Belästigungen durch die Producte der
Zersetzung zu schützen, zu gleicher Zeit aber auch als Anknüpfungspunkt für die Gefühle
der Pietät ein bleibendes Andenken an den Verstorbenen zu errichten. Noch heutzutage
werden bei einigen wenig civilisirten Volksstämmen die Leichen einfach mit Stein- oder
Reisighaufen bedeckt. Als Aufbewahrungsart von viel grösserer Sicherheit hat sich dann
schon frühzeitig die Bergung der Leiche in die Erde selbst eingebürgert, wie sie bis auf
unsere Tage her im Grossen und Ganzen bei weitem am meisten unter allen Bestattungs-
modis in Gebrauch geblieben ist. Der eigentlichen Beerdigung nahe verwandt ist die Bei-
setzung in natürlichen oder künstlich angelegten Höhlen und Gruben, von der es zu
jener in den Räumen eigens zu diesem Zwecke errichteter Gebäude nur noch ein Schritt
ist. Vielfach geübt ist ferner die Verbrennung der Leichen, vorzugsweise naturgemäss in
solchen Ländern, die Reichthum und Ueberfluss an Brennholz boten. Noch andere Arten
der Leichenbestattung sind nur bei vereinzelten Volksstämmen in Gebrauch gewesen. So
übergaben einige an den ufern des Indus Ansässige ihre Verstorbenen den Wogen dieses
von ihnen als heilig verehrten Stromes, in der Annahme, er werde sie an den unbekannten
Ort ihrer Bestimmung zu einem ferneren Leben tragen. Die Sitte, die Leichen wilden
Thieren zur Speise zu bieten, wird noch heute von den Parsen geübt. Ihre nahe bei der
Stadt Bombay gelegenen Bestattungsstätten, grosse, des Daches entbehrende, thurmartige
Bauten sind unter dem Namen der „Thürme des Schweigens" in aller Welt bekannt; in
ihnen sorgen zahllose Aasgeier für eine rasche und vollständige Verzehrung aller Weich-
theile der dort niedergelegten Leichname, worauf die nackten Knochen in eigenen Räumen
verwahrt werden.
Im modernen Leichenwesen spielt die eigentliche Beerdigung bei
weitem die Hauptrolle. Ihr Sieg über die Leichenverbrennung in der
ganzen civilisirten Welt ist auf das engste mit der Ausbreitung des Christen-
thums verknüpft, welches ohne Ausnahme in seinen sämmtlichen Parteien,
Secten und Kirchen nie die Feuerbestattung zugelassen hat. Dieses Verbot
wurzelt in dem Dogma von der Auferstehung des Leibes. Erst in der aller-
jüngsten Zeit konnte unter dem Einflüsse der Wandlungen, welche die fort-
schreitende naturwissenschaftliche Erkenntnis auch auf dem Gebiete religiöser
Anschauungen in breiteren Schichten des Volkes zuwege brachte, auch in
christlichen Gemeinden der Gedanke an eine Wiedereinführung der Feuer-
bestattung Kaum gewinnen. So bildet in unseren Tagen der Streit um die
grössere Zweckmässigkeit der Beerdigung oder Verbrennung der Leichen
eine der „brennendsten" Tagesfragen. Aufgabe der Hygiene ist es, auf der
Basis wissenschaftlicher Gründe die Lösung der Frage herbeizuführen.
Sobald der lebende Organismus dem allbesiegenden Tode erlegen ist, stockt — zwar
nicht mit einem Schlage, aber doch schnell und unaufhaltsam — der Ablauf aller jener
physiologischen Vorgänge, deren Summe eben das Leben ausgemacht hatte, wie Athmung
und Kreislauf, Stoff-Aufnahme, -Verarbeitung und -Assimilation, Muskelthätigkeit und Drüsen-
LEICHENWESEN. 555
secretion, und nach kürzester Frist sind alle die fein und künstlich gebauten Organe
ausser Stande, die so lange geleisteten Dienste fernerhin zu verrichten. Aber das organische
Leben kennt keinen Stillstand! Immerdar bestrebt, alle ihm zu Gebote stehenden Stoffe
unablässig zu verwerten, sucht es auch die den Leichnam zusammenbauende Materie
möglichst bald wieder in den unermüdlichen Kreislauf einzufügen, um sie alsbald in der
Erfüllung neuer Aufgaben wieder nutzbringend zu verwerten. Das ist im geordneten Haus-
halte der Natur Sinn und Ziel der bald nach dem Eintritte des Todes in der Leiche be-
ginnenden Zersetzungsvorgänge, durch welche die in theils sehr complicirten chemischen
Körpern gebundenen Grundstoffe in solche Formen einfacherer und einfachster Zusammen-
setzung zerlegt werden, in denen sie wieder tauglich sind, um als Bausteine zu frischen
Schöpfungen Verwendung zu finden. Für den vernunftbegabten denkenden Ueberlebenden
aber ergibt sich aus solcher Erkenntnis der Wege, welche die allsegnende Mutter Natur
zu wandeln gewillt ist, ein untrüglicher Fingerzeig für das eigene Handeln.
Die Hygiene ist diejenige Wissenschaft, welche die Aufgabe hat, in allen
Beziehungen des Lebens nach jeder Richtung hin die dem Leben und der
Gesundheit von Körper und Seele des Menschen zuträglichsten Bedingungen
zu schaffen. Wo es sich für sie um die Frage handelt: Wie sind die Leichen
der Verstorbenen zu behandeln? da muss sie ihren Maassnahmen das Be-
streben zugrundelegen, dem von der Natur beabsichtigten Auflösungsprocesse
die möglich geringsten Hindernisse zu bereiten, welche mit den zu Be-
ginn dieses Artikels angedeuteten berechtigten Interessen der Lebenden ver-
einbar erscheinen. Aus diesem Grunde müssen wir alle auf eine möglichst
vollständige Conservirung der Leichen für lange Zeit abzielenden Vorschläge,
wie sie zu den verschiedensten Zeiten immer aufs neue aufgetaucht und
vielfach auch ausgeführt worden sind, im Principe verwerfen.
Viel erörtert und umstritten ist der Einfluss der in den Leichen sich
abspielenden Zersetzungsvorgänge auf die menschliche Gesundheit. Schon
in alten Zeiten war die Meinung weit verbreitet, dass Processe, die mit der
Emanation so widerwärtig und ekelerregend stinkender Gase einhergehen, der
Gesundheit schwere Nachtheile zu bereiten geeignet sein müssten. Dem
gegenüber fehlte es aber auch zu keiner Zeit an Stimmen, die auf Grund ge-
wisser Erfahrungen die völlige Unschädlichkeit der Leichenzersetzung für den
Menschen behaupteten. Aus diesem schroffen Gegensatze conträrer Meinungen
ergaben sich gar nicht selten folgenschwere Consequenzen für das praktische
Leben, die am schärfsten hervortraten, als die Verfechter der ersten Ansicht
die Forderung aufstellten, man solle mit dem Brauche der Beisetzung und Be-
erdigung der Leichen gänzlich brechen und fortan nur mehr die schnellst-
mögliche Zerstörung derselben mittelst Verbrennung zulassen. Angeregt
durch den hiedurch verursachten Kampf hat sich die Wissenschaft bemüht,
die Stichhaltigkeit jener Anschauung von der Schädlichkeit in Zersetzung be-
griffener Leichen nach allen Richtungen hin eingehendst und erschöpfend zu
prüfen.
Die hiebei gewonnenen Ergebnisse sind in kurzen Zügen folgende. Es
sind zwei Fragen, die hier beantwortet werden müssen, nämlich 1. Welches
sind die Gefahren, die der menschlichen Gesundheit aus der Nähe von Leichen
erwachsen? und 2. Auf welchen Wegen können diese Gefahren an den
Menschen herandringen?
Für die Lösung der ersten Frage kommen drei Punkte in Be-
tracht. Es sind auf ihre Gesundheitsschädlichkeit zu prüfen: a) die gasför-
migen, h) die flüssigen und festen Leichenzersetzungsproducte, und endlich
c) die bei der Zersetzung betheiligten Mikroorganismen.
(Ad a) Unter den gasförmigen Producten der Leichenzersetzung befindet sich eine
ganze Anzahl, die an und für sich zweifellos giftig sind : Kohlensäure, Ammoniak, Schwefel-
wasserstoff, Grubengas, Schwefelammonium; in noch höherem Grade gilt dies höchstwahr-
scheinlich von den complicirt zusammengesetzten Gasen der Eiweissfäulnis, doch sind wir
über deren toxische Eigenschaften im Einzelnen zur Zeit noch zu wenig unterrichtet, als
dass sich darüber Genaueres ausführen liesse.
556 LEICHENWESEN.
(Ad b) Zuverlässigerer Kenntnisse dagegen erfreuen wir uns neuerdings hinsichtlich
des Giftwesens einer Reihe flüssiger oder fester Zersetzungsproducte der Eiweissfäulnis, in
erster Linie auf Grund scharfsinniger Untersuchungen von Brieger und Selmi. Es ist be-
reits gelungen, einen Theil derselben zu isoliren und chemisch zu classificiren, wobei man
fand, dass sie hochconstituirte organische Verbindungen sind, die in ihrem chemischen Bau
den giftigen Pflanzenalkaloi'den nahestehen. Man hat sie darum kurz und treffend „Leichen-
alkaloide" genannt. Zahlreiche experimentelle Prüfungen haben ergeben, dass sie auf
Menschen wie Thiere hochgradig giftig wirken. Ausser diesen auch unter dem Namen
der „Ptomaine" bekannten Fäulnisproducten entstehen in der Leiche des weiteren noch
eine ganze Menge anderer, meist noch recht unvollkommen erforschter giftiger Stoffe.
(Ad c) Betreffs gefahrdrohender Eigenschaften der in der Leiche vegetirenden Mi-
kroorganismen ist es zur Zeit allgemein bekannt, dass die die Fäulnis bedingenden
Bacterienarten als sogenannte facultativ - pathogene Erreger die schwersten Krankheiten
septischen Charakters erzeugen können (septisches Wundinfectionsfieber, puerperale
Septicämie). Ausserdem aber ist auch zu bedenken, dass die Leichen der einer speci-
fischen Infectionskrankheit erlegenen Individuen wenigstens noch eine Zeit lang nach ein-
getretenem Tode die specifischen Infectionserreger in lebendem und in fectionstüch tigern
Zustande beherbergen. Bei fortschreitender Fäulnis freilich werden die specifischen Keime
erfahrungsmässig von den Fäulniserregern überwuchert und abgetödtet. Von frischen
Leichen aus gehört jedoch eine "Weiterübertragung der betreffenden Krankheiten — es
werde nur an Blattern, Cholera, Typhus, Diphtherie, Beulenpest u. a. erinnert — durch-
aus in den Bereich der Möglichkeit.
Für die Beantwortung der vorhin gestellten zweiten Frage: Auf welchen
Wegen können von einer Leiche aus Schädlichkeiten auf den Lebenden ein-
dringen? kommen drei Punkte in Betracht: a) Ueb ertragungen durch die
Luft, h) solche durch Wasser und c) Einbringung entweder bei directer Be-
rührung des Lebenden mit dem Cadaver oder unter Vermittelung von Zwischen-
trägern, wie etwa Kleidungsstücken oder dergl. oder auch von Thieren, unter
denen namentlich die fliegenden Insecten zu beachten sind. Als Eingangs-
X^forten in den lebenden Organismus sind für alle Uebertragungsarten in
Rücksicht zu ziehen erstens die Athemwege — diese vorzugsweise für den
ersten Modus — zweitens das Verdauungsrohr und drittens etwa vorhandene
WundverletzuDgen.
Gesundheitsschädigungen durch üeberführung verderblicher Stoffe vermittels der
Luft sind in reichlichem Maasse möglich, solange sich die Leiche unbedeckt über der Erde
an der freien Atmosphäre befindet. An erster Stelle steht hier die Schädigung durch
emanirende Gase. Während des in geordneten Gemeinwesen, zwischen der Todes- und der
Bestattungsstunde gelegenen Zeitraumes ist jedoch aus dieser Quelle kaum ein Schaden zu
befürchten. Fast immer ist die Zwischenzeit so kurz, dass es in ihr nicht bis zu einem die
Emanation reichlicher Gase bewirkenden Fäulnisgrade kommen kann ; zudem werden die
wirklich austretenden Gase durch die reichlich vorhandene atmosphärische Luft bis zu
einem Maasse verdünnt, in welchem sie nicht mehr toxisch zu wirken vermögen. Nur wo bei
hoher Temperatur eine Leiche in einem sehr engen und nicht ventilirten Räume längere
Zeit mit Lebenden zusammen belassen würde, wären Gesundheitsschädigungen durch
Fäulnisgase denkbar. In zweiter Linie ist die Möglichkeit einer Uebertragung pathogener
Bacterien durch die Luft hindurch zu erwägen. Die Mitwirkung von Fäulniskeimen ist
hierbei mit einiger Sicherheit auszuschliessen. Diese wirken anfangs nur in den tiefsten
Theilen des Leichnams von dem Darmrohre aus und leben zudem ausschliesslich in
reichlich feuchten Substraten. An der trockenen Oberfläche der frischen Leiche können
sie sich deshalb zu der in Betracht kommenden Zeit nicht ansiedeln, und sollten ja einmal
— etwa auf einer nässenden Wundfläche — die erforderlichen Existenzbedingungen geboten
sein, so können sie doch von dem feuchten Boden nicht loskommen, um in die freie Luft
zu gelangen. Als gefährlicher dagegen sind die specifischen Erreger gewisser Infections-
krankheiten anzusehen, namentlich die der exanthematischen Contagien, die von der Körper-
oberfläche nach Eintritt eines gewissen, mit ihrem Fortleben noch verträglichen Austrock-
nungsgrades mit leichten Staubtheilchen von der bewegten Luft aufgenommen und auf
Lebende hinübergetragen, namentlich auch mit der Luft von solchen eingeathmet werden
können. Möglicherweise dürften so auch von Typhus-, Cholera- und Diphtherie-Leichen
und ähnlichen, die mit Fäces und Erbrochenem, resp. Sputis besudelt sind, neue Infectionen
zustande kommen, wenn die betreffenden Massen eintrocknen und verstäubt werden. —
Die Zeit, während welcher ein Leichnam unbeerdigt an der Luft steht, ist es auch vor-
zugsweise, ja fast ausschliesslich, in der Gesundheitsschädigungen nach dem drittgenannten
Uebertragungsmodus erfolgen können; von beerdigten Cadavern aus kann er wohl kaum
jemals wirksam werden. Doch gehört eine üeberschleppung gefahrbringender Zersetzungs-
stoffe auf einen Lebenden infolge directer Berührungen mit dem Leichnam so sehr zu den
ungewöhnlichen Ereignissen des praktischen Lebens, dass ein genaueres Eingehen auf der-
LEICHENWESEN. 557
artige Möglichkeiten hier füglich entbehrlich erscheint. Als Stätten, an denen sie noch am
ehesten sich ereignen können, wären die Präparirsäle der anatomischen und pathologischen
Anstalten zu nennen, diese aber verlangen eben ihre eigene Specialhygiene, auf deren Dar-
legung einzugehen an dieser Stelle nicht angebracht ist.
Iiücksichtlich der bis zu ihrer Bestattung in den Wohnungen zurück-
gehaltenen Leichen jedoch sollte eine viel eingehendere Aufmerksamkeit, als
bisher gemeinhin geschehen ist, auf die gewiss nicht unerheblichen Gefahren
gerichtet werden, die durch ein unvorsichtiges Hantiren mit den bei der Be-
sorgung des Leichnams verwendeten Gebrauchsgegenständen, Kleidungsstücken,
Reinigungsgeräthen u. s. w. verursacht werden können. Besondere Beach-
tung sollte namentlich den aus der Gegenwart aller die Behausung des
Menschen theilenden Thiere erwachsenden Fährlichkeiten gewidmet werden.
Können gelegentlich schon Mäuse und Ratten der Verschleppung von Leichengiften
hilfreiche Dienste leisten, so ist noch weit sorgsamer auf die Rolle zu achten, die dabei die
mit dem Menschen in engster Berührung lebenden eigentlichen Hausthiere, wie Stuben-
vögel, Katzen und Hunde, spielen können. Wie oft beleckt nicht ein treuer Hund die
Leiche eines verstorbenen, ihm lieb gewesenen Hausgenossen, um sich unmittelbar darauf
an die Ueberlebenden zu schmiegen und auch ihnen die Hände oder gar das Gesicht zu
lecken. Noch verhängnisvoller ist in dieser Hinsicht die Lebensweise der fast überall ver-
breiteten fliegenden Insecten, namentlich der gewöhnlichen Stubenfliegen, weil die Schäd-
lichkeit ihrer Gepflogenheiten zumeist noch weit weniger beachtet wird. Das Geschmeiss
schwirrt oft unmittelbar von einer Leiche, häufig, nachdem es ihr in Nase, Mund, Ohren
u. s. w. gekrochen war, im ganzen Zimmer umher, und setzt sich auf alle Gebrauchs-
gegenstände, auf Speisen und Ess- und Trinkgeräthe, sowie auch auf die Kleider, auf
Hände und in die Gesichter der Lebenden. Dass durch alle derartigen Vermittelungen die
Uebertragung septischer Leichengifte und gefährlicher Bacterien ungemein leicht bewirkt
werden kann, bedarf keiner ausführlicheren Auseinandersetzung.
Gegenüber allen diesen in der gemeinhin doch immer nur kurzen Zeit
vor der Bestattung wirksam werdenden schädlichen Einflüssen der Leichen-
zersetzung auf die menschliche Gesundheit ist die hygienische Wichtigkeit
der möglicherweise auch von der beerdigten Leiche ausgehenden Giftwirkungen
unvergleichlich höher anzuschlagen. Als die dieselben verbreitenden Medien
wirken die in der Umgebung der Gräber eingeschlossenen Mengen an Luft
und Wasser. Und somit gelangen wir endlich zu demjenigen Punkte unserer
Besprechung, der den eigentlichen Kernpunkt der gesammten modernen
Leichenhygiene darstellt, indem allein aus ihm heraus die Entscheidung der
heute wichtigsten Frage abgeleitet werden kann, ob beerdigte Leichen aus
dem verschlossenen Grabe heraus für die Gesundheit der Lebenden Schaden
zu stiften im Stande sind oder nicht, eventuell, unter welchen Umständen
solches geschehen, und wiederum unter welchen es vermieden werden kann.
Allein so ist eine befriedigende Klarstellung darüber zu gewinnen, ob jenes
Verlangen nach principieller Verwerfung jeglicher Leichenbeerdigung und nach
der allgemeinen Einführung der Feuerbestattung unter hygienischen Gesichts-
punkten zu Rechte besteht oder als nichtig zu erachten ist.
Wenn wir hier von einer vermittelnden Rolle der Luft sprechen, so muss es sich
naturgemäss zuerst um diejenigen Luftmengen handeln, welche in der Umgebung der Gräber
mittels der in der Erde enthaltenen Poren einen Verkehrsweg zwischen der Leiche und der
Atmosphäre aufrecht erhalten. Fast überall nämlich ist der Boden durch und durch mehr
oder weniger von kleineren oder grösseren Lücken und Poren durchsetzt, die infolge ihrer
Communication mit der Atmosphäre bald nur th eilweise, bald völlig mit Luft angefüllt sind;
diese , Bodenluft" stellt gleichsam eine Fortsetzung der Atmosphäre dar und steht mit ihr
in stetem Verkehr; sie kann sich unter bestimmten Bedingungen über die Bodenoberfläche
erheben und der atmosphärischen Luft beimengen, wie auch umgekehrt Luft aus der
Atmosphäre zur Ergänzung der Bodenluft in die Erde einzutreten vermag. Ein Ausströmen
der Bodenluft in die Atmosphäre findet namenthch statt: 1. bei sinkendem Barometer-
stande, bei dem auch die Bodenluft infolge der Verminderung des auf ihr lastenden Druckes
sich ausdehnt; 2. bei heftigen Winden, wenn solche auf einzelne Theile der Erdoberfläche
pressen, während andere Theile vor dem Winddrucke — etwa durch darauf stehende Ge-
bäude — geschützt sind, und zu gleicher Zeit die ungleich belasteten Bodentheile vermittels
ihrer Poren mit einander communiciren; 3. bei starken Wasserbenetzungen einzelner Boden-
theile, die unter gleichen Verhältnissen infolge des durch das in die Poren eindringende
Wasser ausgeübten Druckes ebenso wirken müssen wie die Windpressung; 4. bei eintreten-
den Temperaturdifferenzen zwischen Bodenluft iind atmosphärischer Luft. Unter dem Ein-
558 LEICHENWESEN.
flusse eines oder mehrerer von diesen Factoren findet eine unablässige Bewegung der
Bodenluft statt. Auf die Intensität derselben haben ausser dem Maasse der treibenden
Kräfte mehrere Momente Einfluss, die in der Gestaltung des Bodens selbst begründet sind.
Auf ein näheres Eingehen auf die recht complicirten Einzelnheiten der bezüglichen Ver-
hältnisse müssen wir hier verzichten. Es sei nur ganz allgemein bemerkt, dass die Be-
wegung der Bodenluft umso lebhafter ist, je geringere Widerstände ihr entgegenwirken,
d. h. namentlich, je zahlreicher und grösser die Poren des Erdreichs sind, und je weniger
von ihnen ganz oder theilweise durch Wasser verlegt sind. Auf den Verlauf der Leichen-
zersetzung haben diese Umstände insofern grossen Einfluss, als für ihn das Maass der
Zufuhr an frischem atmosphärischem Sauerstoff von hoher Bedeutung ist. Praktisch wichtig
ist auch folgender Punkt. Befindet sich im Boden nahe der Erdoberfläche eine infolge
verminderter oder aufgehobener Porosität für Luft nur schwer oder gar nicht durchlässige
Schicht, wie sie z. B. durch festen Lehm- oder Thonboden dauernd, oder durch Wasser-
verstopfung oder gar Eisfüllung der Poren zeitweise dargestellt wird, so kann, unter der
Einwirkung einer an weit entfernter Stelle sich geltend machenden Kraft von einer der
genannten Arten auf weite Strecken hin auch eine horizontale Bewegung der Bodenluft
verursacht werden. Eine praktisch äusserst wichtige Rolle für das Zustandekommen der
treibenden Factoren spielt der Einfluss der auf dem Boden errichteten Häuser. In
letzteren ist die Luft zeitweise erheblich wärmer und daher leichter als die Bodenluft, und
sie schützen die von ihnen bedeckten Flächen vor dem Winddruck sowohl wie vor auf-
fallendem Wasser. Infolgedessen üben sie zu Zeiten geradezu eine energisch ansaugende
Wirkung auf die Bodenluft aus, die sich beim Bestehen einer oberen undurchlässigen
Schicht in dem Boden der Umgebung auf Strecken von überraschend grosser Ausdehnung
hin geltend machen kann; hierzu schafft besonders oft ein kalter Winter die günstigsten
Bedingungen, wenn die stark durchnässte Bodenoberfläche hart gefroren und die Wohnungs-
luft kräftig geheizt ist.
Vermittels dieser Wege nun werden überall da, wo in die Bahn der
strömenden Bodenluft eine in Zersetzung begriffene Leiche eingeschaltet ist,
solche Zersetzungsproducte, die sich der Luft mitzutheilen im Stande sind, aus
der Tiefe des Grabes an die freie Atmosphäre getragen werden können. Von
dieser Möglichkeit erscheinen von vorneherein ausgeschlossen alle nicht flüch-
tigen chemischen Körper in festem und flüssigem Aggregatzustande. Von den
chemischen Endproducten der Leichenzersetzung haben wir es hier demgemäss
allein mit den gasförmigen zu thun. Ueber ihre für die menschliche Gesund-
heit schädlichen Eigenschaften, wie sie sie während des kurzen Aufenthaltes
des Leichnams an der freien Luft geltend machen können, haben wir bereits
gesprochen. In einer davon erheblich abweichenden Weise aber werden sie
sich dann gestalten müssen, wenn sie von einem beerdigten Leichnam aus lange
Zeit hindurch unablässig auf dieselben Individuen einwirken können. Man
denke z. B. an die Bewohner der in einer grossen Stadt in unmittelbarer
Nähe eines Kirchhofes gelegenen Häuser, in die hinein nach dem erörterten
Modus unaufhörlich die Bodenluft des Kirchhofs angesaugt wird. Früher hatte
man über die Schädlichkeit der den Gräbern entströmenden Leichengase weit
und breit zum Theil ungeheuer ernste Anschauungen. Namentlich war der
Glaube fest eingewurzelt, dass sie für die Entstehung bösartiger Krankheiten,
und zwar gerade derjenigen, die wir heutzutage zusammenfassend als Infec-
tionskrankheiten bezeichnen, eine verhängnisvolle Rolle spielten. So sollten
die Blattern, Cholera, Ruhr, die verschiedenen Typhusarten u. a. durch Kirch-
hofdünste geradezu verursacht werden können. Diese Meinung ist nunmehr
sicher als irrthümlich erkannt. Eine moderne Frage ist es dagegen, ob nicht
die dauernden Einwirkungen von Leichengasen die Empfänglichkeit der Indi-
viduen für die Ansteckung mit jenen Erkrankungen erzeugen oder erhöhen,
eine besondere Disposition zu denselben schaffen können? Behufs Klarstellung
dieses Punktes sind in den letztvergangenen Jahrzehnten ausgedehnte For-
schungen statistischer und experimenteller Natur angestellt worden. Es kann
nicht bestritten werden, dass an einzelnen Orten lange Zeit hindurch die
Beobachtung gemacht werden musste, dass in manchen unmittelbar an Kirch-
höfen gelegenen Häusern, in denen jedem Eintretenden ein höchst wider-
wärtiger Modergeruch auffallend wurde, die Bewohner in ungünstigen Gesund-
heitsverhältnissen lebten. Sie hatten vielfach eine schlechte, ungesunde, bleiche
LEICHENWESEN. 559
Gesichtsfarbe, kränkelten dauernd und fielen bei auftretenden Epidemien an
schweren Infectionskrankheiten in auffallender Weise der Ansteckung zum
Opfer; auch püegte unter ihnen die Mortalitätsziffer höher zu sein als sonst
in der Bevölkerung. Trotz dieser unleugbaren Thatsachen haben alle zur
Lösung gedachter Frage angestellten Erhebungen und Untersuchungen keinerlei
positive Anhaltspunkte ergeben, die zu der Annahme berechtigten, dass durch
eine länger andauernde Einwirkung von Kirchhofsausdünstungen direct eine
Disposition zu Infectionskrankheiten erhöht oder geschaffen, oder aber direct
eine unmittelbare Untergrabung der Gesundheit verursacht wird. Es ist
unwiderleglich dargethan worden, dass die bei der Leichenzersetzung gebil-
deten Gase zum grossen Theile durch den Boden selbst, sowie auch durch
die in ihm enthaltene Feuchtigkeit absorbirt werden. Die von ihnen wirklich
in die Atmosphäre austretenden Theile ferner werden durch die atmosphärische
Luft in so hohem Maasse verdünnt, dass sie, wenngleich manchmal durch den
Geruchssinn wahrnehmbar, doch nicht mehr zu praktisch nennenswerten
chemischen Wirkungen fähig und somit auch nicht mehr chemisch nachweis-
bar sind. Das menschliche Geruchsorgan ist eben höchst empfindlich und
vermag gewisse Stoffe noch in erstaunlichen Verdünnungsgraden wahrzu-
nehmen. Eine positive Gesundheitsschädigung vermögen die hier in Betracht
kommenden Stoffe in dieser enormen Verdünnung unter keinen Umständen
zu bewirken. Es ist weiterhin constatirt worden, dass an vielen Orten der
Gehalt der Athemluft an Zersetzungsgasen organischer Materien unendlich viel
reichlicher ist, ohne die geringsten sanitären Nachtheile hervorzurufen, wie
z. B. in der Nähe von Abtrittsgruben, Mist- und Jauchedepots, in den Ab-
deckereien u. s. w., ja dass sich vielfach die Bewohner solcher Stätten einer
vorzüglich guten Gesundheit erfreuen. Die Erklärung für die ungünstigen
sanitären Verhältnisse jener Kirchhofsanwohner ist darin zu suchen, dass die
betreffenden Wohnungen wegen der immerhin lästigen und ekelerregend em-
pfundenen Ausdünstungen von allen Wohlhabenden, die sich bessere Quartiere
leisten können, gemieden und allein von Armen bewohnt werden, die froh
sind, eine möglichst billige Heimstätte zu finden. Solche Leute aber leben
zumeist in durchwegs schlechten hygienischen Verhältnissen, hinsichtlich der
Ernährung, Kleidung etc.; und lediglich dieser Umstand ist der Grund für
ihre Kränklichkeit und geringere Widerstandskraft gegen ansteckende Krank-
heiten. Allein in einer Hinsicht mag die Luft der Kirchhöfe selbst schädlich
werden. Die Bewohner der betreffenden Häuser, die nicht wissen, dass die
Kirchhofgase zumeist eben durch die wärmere Innenluft ihrer Wohnung aus
dem Boden angesaugt wird, glauben, die schlechte Luft könne nicht anders
als von aussen eindringen, und halten deshalb ununterbrochen Fenster und
Thüren möglichst dicht geschlossen. Dadurch wird mit der unvermeidlichen
Erwärmung der Wohnungsluft nur immer intensiver die Gase führende Boden-
luft angesaugt; so athmen die Menschen, ohne sich je die Vorzüge einer gründ-
lichen Lüftung aus der frischen Atmosphäre zu gönnen, unablässig eine relativ
concentrirte verdorbene Luft ein.
Besondere Aufmerksamkeit hat man fernerhin der Frage gewidmet, ob
etwa mit den Gasen auch die in einer Leiche gediehenen Mikroorganismen
durch den Strom der Grundluft aus dem Boden heraus in den Bereich der
Lebenden geführt werden können. Es hat sich herausgestellt, dass dies unter
keinen Umständen möglich ist. Der Strom der Bodenluft ist selbst bei der
grösstmöglichen Bewegung viel zu schwach, als dass er Bacterien selbst von
ganz trockenen Leichentheilen losreissen könnte; zudem bildet eine Boden-
schicht auch von nur geringer Dicke für die durchtretende Luft das beste
und zuverlässigste Bacterienfilter; der Grund dieser für praktische Zwecke
bekanntlich vielfach nutzbar gemachten Thatsache ist ohne weiteres einleuch-
tend. Die Möglichkeit, dass die aus den Gräbern ausströmende Luft zur
560 LEICHENWESEN.
Ansteckungsquelle für Infectionskrankheiten werden könnte, ist somit mit voller
Sicherheit auszuschliessen.
Ein Gegenstand von grossem hygienischem Interesse ist endlich die
Fortführung von Cadaverproducten mittels des in den Boden eingeschlossenen
Wassers.
Die in Form atmosphärischer Niederschläge auf den Erdboden fallenden Wasser-
mengen sickern zum grossen Theile durch dessen Poren in seine Tiefe, bis sie auf eine
infolge minimalen Porengehaltes undurchlässige Schicht auftreffen, über welcher sie sich
sammeln und das „Grundwasser'' bilden. Aus dem Grundwasser deckt der Mensch grossen-
theils und vielerorten ausschliesslich seinen bedeutenden Wasserbedarf. Wo aber in den
Weg der von der Erdoberfläche her in die Tiefe sickernden Wassermengen oder in den
Bereich des Grundwassers selbst in Zersetzung begriffene Leichen gelegt werden, da ist
eine Verunreinigung des Wassers mit absorbirbaren Gasen und löslichen flüssigen und
festen Zersetzungsproducten sowie durch mechanisch beigemengte Trümmerstückchen
organischer Massen unvermeidlich. Das Maass dieser Verunreinigungen wird durch zwei
Factoren bedingt: 1. durch die Menge des Grundwassers und 2. durch die Menge der
verunreinigenden Stoffe. Doch sind dabei noch eine ganze Reihe besonderer Einzelnheiten
in Betracht zu ziehen. So steht der Höhegrad der Wasserverderbnis in Wechselwirkung
mit den Grundluftverhältnissen, je mehr Zersetzungsproducte in die Luft entweichen, um
so weniger bleiben für die Fortführung durchs Wasser zurück. Ist das letztere gezwungen,
nach seiner Imprägnirung mit Zersetzungsstoffen bis zu seiner Entnahmestelle aus dem
Boden kleinere oder grössere Bodenstrecken zu durchfliessen, so wird ihm sein Gehalt an
Verunreinigungen theils durch Absorbtion und Filtration, theils auch infolge fortgesetzter
chemischer Umwandlungen der organischen Massen während der Zurücklegung dieses
Weges, besonders durch Oxydation, zum Theil oder gänzlich wieder entzogen. Das Maass
dieser Wiederreinigung hängt nicht allein von der Dicke der durchsickerten Erdschichten,
sondern auch von gewissen Bedingungen des Bodens selbst, namentlich von dem Grade
seiner Porosität (Wassercapacität, capillare Wasserleitung) ab; vielleicht haben darauf auch
chemische Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Bodensorten, leichtverständlicherweise
ferner die Schnelligkeit der Grundwasserbewegung Einfluss.
Genaue Kenntnisse über die Höhe der durch sich zersetzende Leichen
zustandekommenden Grundwasserverunreinigungen hat man sich durch zahl-
lose Untersuchungen von Wasserproben verschafft, die man aus Brunnen in
der Nähe und in geringerer und weiterer Entfernung von Kirchhöfen unter
Berücksichtigung der Richtung der Bodenwasserströmung entnahm, sowie
endlich' aus solchen, die man auf den Kirchhöfen selbst, zum Theil in unmittel-
barer Umgebung frischer und verschieden alter Gräber angelegt hatte. Alle
diese Untersuchungen haben ergeben, dass das Wasser weit weniger, als man
früher allgemein gedacht hatte, verunreinigt war. Die selbstreinigende Kraft
des Bodens ist überall so gross, dass die Kirchhofswässer nirgends mehr
Zersetzungsproducte enthalten, als sich auch sonst im Grundwasser der Um-
gebung menschlicher Wohnstätten finden. Im Gegentheil sind die Wässer im
allgemeinen reiner als diejenigen vieler Brunnen in der Nähe von Abtritten,
Jauchegruben u. s. w., die oft unbedenklich und ohne Nachtheil von Vielen
gebraucht und getrunken werden. Auch über die thatsächliche Gesundheits-
schädlichkeit der mit organischen Stoffen verunreinigten Wässer haben wir
durch die modernen Forschungsergebnisse durchgehends neue Ansichten ge-
wonnen. Noch vor Kurzem schrieb man dem Genuss solchen Wassers die
schwersten Nachtheile, namentlich wiederum die Entstehung der Infections-
krankheiten zu. Heutzutage wissen wir, dass die faulenden oder fäulnis-
fähigen Substanzen, wie ihre Zerfallsproducte nur in ganz bedeutenden Ver-
dünnungen im Grund- und Brunnenwasser vorkommen; dabei sind diese Stoffe
nichts anderes als dieselben Substanzen, die wir in manchen Speisen, wie in
saurer Milch und namentlich in Käse, in Wildpret, das uns erst recht schmeckt,
wenn es „haut goüt" hat, u. a. in allerconcentrirtester Form ungestraft und
mit Genuss verzehren. Eine krankmachende Wirkung der im Trinkwasser
gelösten organischen Materien gibt es nicht, und alle auf sie zurückgehenden
Bedenken gegen die Anlage von Begräbnisplätzen in der Nähe menschlicher
Wohnungen sind durchaus hinfällig. Eine sanitäre Gefahr solcher Wässer
liegt einzig und allein in dem Umstände, dass ein sehr hoher Gehalt an
LEICHENWESEN. 561
fäulnisfähigen Stoffen das Wasser zu einem Mittel machen kann, pathogene
Fäulnisbacterien oder auch specifische Krankheitskeime eine Zeit lang am
Leben zu erhalten und weiter zu verbreiten. Das ist die Rolle, die unreine
Trinkwässer gelegentlich, z. B. in der Entstehungsgeschichte von Typhus-
epidemien gespielt haben. Was aber endlich die Frage anlangt, ob Bacterien,
seien es die gemeinen Fäulniskeime oder specifische Infectionserreger, mit
dem Grundwasser aus den Leichen der Gräber in die Brunnen gelangen
können, und ob man hieraus einen triftigen Grund gegen das Beerdigen der
Leichen ableiten müsse, so ist auch diese Frage im allgemeinen zu verneinen.
Die specifischen Keime der Infectionskrankheiten finden sich zwar in der Leiche
in der ersten Zeit nach dem Tode in lebendem und vermehrungsfähigem Zu-
stande, und es kann wohl als möglich gelten, dass ein Theil von ihnen mit
dem die Leiche benetzenden Grundwasser fortgespült wird. Da sie aber in
der Leiche selbst in kurzer Frist von den Fäulnisbacterien überwuchert und
abgetödtet werden, so kann dies nur in der allerersten Zeit nach der Beer-
digung geschehen, nach Nägeli längstens sechs bis acht Wochen lang. So-
dann aber bildet der Erdboden auch für durchtretendes Wasser das sicherst
wirkende Bacterienfilter, das wir kennen; also können sie auch in dem ihnen
günstigsten Falle nur eine kurze Strecke weit um die Leiche herum den
Boden inficiren, und endlich ist auch dieser Theil des Bodens zu ihrer Er-
haltung oder gar Vermehrung dadurch sehr wenig geeignet, dass er zugleich
mit seinem Reichthum an organischer Substanz Legionen von Fäulniskeimen
enthält, die sie auch hier in raschem Kampfe unschädlich machen. Dem-
entsprechend ist auch für die selbst in nächster Nähe von infectiösen Leichen
angelegten Brunnen niemals eine Infection des Wassers vom Grabe aus nach-
gewiesen worden. Die unendlich viel zahlreicheren und lebenszäheren Fäulnis-
bacterien dagegen können leichter trotz der Filterwirkung des Bodens das
Erdreich „durchwachsen" und somit auch gelegentlich in einen sehr nahe
gelegenen Brunnen gerathen; doch ist das nicht eine Eigenthümlichkeit des
Kirchhofsbodens und der Kirchhofsbrunnen allein; weit zahlreicher können
die nämlichen Fäulnisbacterien in Brunnen gelangen, die nahe bei einer
Abtrittsgrube oder einem Dunghaufen angelegt sind. Auch sind die von ihnen
für die menschliche Gesundheit zu befürchtenden Gefahren minder gross, als
man vielfach annimmt, da sie zumeist, sobald sie aus dem an ihren Nähr-
stoffen reichen Boden in das freie Wasser des Brunnenkessels gelangen, bald
absterben, weil in ihm selbst bei relativ hoher Verunreinigung ihren Nahrungs-
bedingungen nicht auf die Dauer Genüge geschieht.
Aus allen vorstehenden Erwägungen ergeben sich nun für die Hygiene
des Leichenwesens eine Reihe von praktischen Schlussfolgerungen; unter ihnen
ist zunächst die wichtigste die Erkenntnis, dass es von hygienischem Gesichts-
punkte aus keinen zwingenden Grund gibt, die Leichenbestattung durch Be-
erdigung gänzlich zu verwerfen und etwa durch die Leichenverbrennung zu
ersetzen. Doch ist überall bei der Behandlung der Leichen, auch wenn sie
zur Erde bestattet werden, mit Umsicht darauf zu achten, dass sie nicht in
irgend einer Weise zu einer Quelle der Gefahr oder Belästigung für die lebende
Umgebung werden können.
Leichenhallen. An erster Stelle ist es eine durchaus berechtigte hygie-
nische Forderung, dass jede Leiche sobald wie irgend möglich aus bewohnten
Räumen entfernt werde. Ganz besonders gilt das für diejenigen Classen der
Bevölkerung, welche dichtgedrängt in beschränkten und engen Wohnräumen
hausen, und bei denen ein besonderer Raum für eine mehrtägige Aufbewah-
rung eines Leichnams meist nicht zur Verfügung steht. Freilich sträubt sich
gegen eine sofortige Entfernung des soeben erst verstorbenen Körpers bei den
meisten Menschen das natürliche Gefühl der Liebe und Anhänglichkeit.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. «^O
562 LEICHENWESEN.
Immer ist bei einem Todesfalle in der Familie der Augenblick der Fortschaffung
des Leichnams für die Zurückbleibenden der erschütterndste und aufregendste, und ganz
unwillkürlich drängt ein natürlicher Wunsch dazu, diesen Moment so lange hinauszuschie-
ben wie irgend möglich. Aber bei einer längeren Anwesenheit der Leiche im Hause steigert
der immer wieder aufs neue gewaltig erschütternd wirkende Eindruck, den der unablässig
wiederholte Anblick der kalten todten Hülle hervorbringt, bei vielen seelisch empfindsamen
Naturen den Schmerz oft bis zu einer für die Gesundheit des Gemüthes wie auch des
Leibes geradezu schädlichen Höhe; dagegen wird der Schmerz stiller, sobald jener auf-
regendste Moment einmal überstanden ist; die durch ihn bewirkte Irritation der Gemüther
aber ist am zweiten oder dritten Tage um nichts geringer, als wenn er bereits wenige
Stunden nach erfolgler Katastrophe durchgemacht werden muss.
Dieser Umstand im Verein mit den hygienischen und ästhetischen Be-
denken, welche das enge Nebeneinander eines Leichnams mit Lebenden er-
wecken muss, sprechen entschieden für eine möglichst baldige Fortschaffung
der Leiche aus bewohnten Räumen. Es sollte daher mit allen Kräften dahin
gewirkt werden, dass die in manchen Städten, wie z. B. in München, Arn-
stadt etc. bereits bestehende Ordnung ausnahmslos überall durchgefüürt
würde, nach der jede Leiche bereits wenige Stunden nach sicher festgestelltem
Tode aus der Wohnung entfernt und in ein eigenes Leiclienhaus übergeführt
werden muss.
Ein Haupterfordernis für die Durchführung aller das Leichenwesen
ordnenden Maassregeln ist die Anstellung behördlich autorisirter Persönlich-
keiten behufs sicherer Feststellung des zweifellos eingetretenen Todes. Die
nähere Erörterung aller hierher gehörigen Gesichtspunkte ist einem beson-
deren Capitel vorbehalten worden; es genüge daher, dass wir an dieser Stelle
auf das Speciaicapitel „Todtenbeschau" im vorhergehenden Artikel hinweisen.
Zur Unterbringung der Leichen für die kurze Zwischenzeit bis zur
Stunde der Beerdigung dienen am besten eigene, auf den Begräbnisplätzen
oder doch in deren unmittelbarer Nähe errichtete Baulichkeiten, die „Leichen-
hallen". Sie sollen derart angelegt und eingerichtet sein, dass sie die doppelte
Aufgabe erfüllen, einmal ihrem besonderen Zwecke entsprechend praktisch
zu sein, daneben aber auch zweitens den Gefühlen der Pietät gegen die Ver-
storbenen und der Aesthetik Rechnung zu tragen; eine schöne und würdige
Gestaltung der Leichenhallen selbst und aller ihrer Einrichtungen im ein-
zelnen, welche die Unterbringung' der Leiche daselbst als eine dem Verstor-
benen erwiesene letzte Ehre erscheinen lässt, wird am schnellsten und nach-
haltigsten alle Vorurtheile gegen sie beseitigen helfen. Hinsichtlich der
inneren Einrichtung ist es eine Hauptfrage, ob man alle in der Leichenhalle
aufzubahrenden Todten in einem einzigen gemeinsamen Räume unterbringen
solle, oder ob es vorzuziehen sei, jeder Leiche eine einzelne Zelle anzuweisen;
diese Frage kann nur unter Berücksichtigung der jeweiligen localen Verhält-
nisse, der herrschenden Volksanschauungen und des allgemeinen Geschmackes
beantwortet werden; Momente hygienischer Natur für eine Entscheidung nach
dieser oder jener Seite sprechen dabei nicht mit. Gross ist in breiten Schichten
des Volkes die festeingewurzelte Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden;
obgleich sicher verbürgte Fälle davon nirgends beobachtet worden sind, und
ein solches Vorkommnis bei einer gut ausgeübten Leichenschau auch von
vorneherein ausgeschlossen ist, so erscheint es doch zweckmässig, bei der
Einrichtung der Leichenhallen auf ein etwa mögliches Wiedererwachen eines
dort Aufbewahrten Rücksicht zu nehmen, und die Wohnung eines Hallen-
wärters so anzulegen, dass er auch bei Nacht eine ausreichende Aufsicht aus-
üben kann.
Ein besonderer Fiaum ist für die Vornahme eingehender Leichenuntersuchungen
einzurichten. Dieses „Sektionszimmer" ist derart anzulegen, dass es bei reichlicher, je
nach Bedürfnis regalirbarer Ventilation auch in den heissen Sommermonaten möglichst
kühl erhalten werden kann, dass es die für alle Untersuchungen, sowohl mit blossem
Auge, wie auch mit dem Mikroskope, günstige Beleuchtung durch helles diffuses Tageslicht
bietet, und die Beobachtung allseitiger peinlichster Fieinlichkeit gestattet; zu letzterem
LEICHENWESEN. 563
Zwecke mnss namentlich eine reichlich spendende Wasserleitung vorhanden sein. (Siehe
auch den Specialartikel „Sektionen").
Leichen-Transport. Ein Punkt, der besondere Aufmerksamkeit aus
hygienischen Eücksichten erfordert, ist der Transport von Leichen,
zumal wenn die Bestattung an einem dem Sterbeorte fern gelegenen Platze
erfolgen soll. Als wichtigstes Moment kommt hier in erster Linie die Möglich-
keit in Betracht, dass durch den Transport einer an einer infectiösen Krank-
heit verstorbenen Leiche eine Weiterverschleppung der betreffenden anstecken-
den Krankheit bewirkt werden könnte; als zweiter Gesichtspunkt ist die Be-
fürchtung maassgebend, dass während eines länger dauernden Leichentrans-
portes die Zersetzung des Cadavers bis zu einem Grade vorschreiten möchte,
der durch die nach aussen gelangenden Zersetzungsproducte zu Belästigungen
oder Gesundheitsschädigungen der lebenden Umgebung Veranlassung geben
könnte. In allen Culturländern sind deshalb mehr oder weniger strenge ge-
setzliche Vorschriften, beziehungsweise Einschränkungsmaassregeln, für den
Transport von Leichen festgesetzt worden.
Was zunächst den Transport von Leichen nach den Bestattungsplätzen
des Sterbeortes angeht, so sind die Bestimmungen darüber überall den nächst-
zuständigen Behörden, im Deutschen Reiche den Regierungsbehörden, über-
lassen. Von allgemeinerem Interesse sind die Bestimmungen, welche den
Transport von Leichen über weitere Strecken regeln. Im Deutschen
Reiche stehen seit dem 1. April 1888 folgende Bestimmungen in Kraft:
Der weitere Transport einer Leiche ist gestattet auf Grund eines „Leichen-
passes". Der Leichenpass wird ausgestellt durch diejenige dazu befugte
Behörde oder Dienststelle, in deren Bezirke der Sterbeort oder — im Falle
einer Wiederausgrabung — der seitherige Bestattungsort liegt. Für Leichen-
transporte, welche aus dem Auslande kommen, kann — soweit nicht Verein-
barungen über die Anerkennung der von ausländischen Behörden ausgestellten
Leichenpässe bestehen — die Ausstellung des Leichenpasses durch diejenige
zur Ausstellung von Leichenpässen befugte inländische Behörde oder Dienst-
stelle erfolgen, in deren Bezirke der Transport im Reichsgebiete beginnt.
Auch können die Consulri und diplomatischen Vertreter des Reiches vom
Reichskanzler zur Ausstellung der Leichenpässe ermächtigt werden. Die
hiernach zur Ausstellung der Leichenpässe zuständigen Behörden etc. werden
vom Reichskanzler öffentlich bekannt gemacht.
Der Leichenpass darf nur für solche Leichen ertheilt werden, über welche die nach-
stehenden Ausweise geliefert worden sind:
aj ein beglaubigter Auszug aus dem Sterberegister;
bj ein von einem beamteten Arzte, d. h. von einem Kreisphysikus oder von einem
Chefarzte eines Militärlazareths oder von einem Director einer Universitätsklinik, resp. in
Behinderungsfällen des letzteren von dessen Vertreter ausgestellte Bescheinigung über die
Todesursache, sowie darüber, dass seiner üeberzeugung nach der Beförderung der Leiche
gesundheitliche Bedenken nicht entgegenstehen. — Ist der Verstorbene in der tödtlich
gewordenen Krankheit von einem Arzte behandelt worden, so hat letzteren der Kreis-
physikus vor der Ausstellung der Bescheinigung betreffs der Todesursache anzuhören. —
Handelt es sich um Leichen von Militärpersonen, welche ihr Standquartier nach eingetre-
tener Mobilmachung verlassen hatten, oder welche sich auf einem in Dienst gestellten
Schiffe oder anderen Fahrzeuge der Marine befanden, so werden die Nachweise a) und
bJ durch eine Bescheinigung der zuständigen Militärbehörde oder Dienststelle über, den
Sterbefall unter Angabe der Todesursache und mit der Erklärung ersetzt, dass nach ärzt-
lichem Ermessen der Beförderung der Leiche gesundheitliche Bedenken nicht entgegen-
stehen ;
c) ein Ausweis über die vorschriftsmässig erfolgte Einsargung der Leiche. — Die-
selbe muss in einem hinlänglich widerstandsfähigen Metallsarge luftdicht eingeschlossen,
und letzterer von einer hölzernen Umhüllung dergestalt umgeben sein, dass jede Verschie-
bung des Sarges innerhalb der Umhüllung verhindert wird. — Der Boden des Sarges muss
mit einer mindestens öcm hohen Schicht von Sägemehl, Holzkohlenpulver, Torfmull oder
dergl. bedeckt, und es muss diese Schicht mit ö^/oiger Karbolsäurelösung reichlich besprengt
sein. (1 Theil sogenannter verflüssigter Karbolsäure [Acidum carbolicum liquefactum] ist
in 18 Theilen Wasser unter häufigem Umrühren zu lösen.) — In besonderen Fällen, z. B.
36*
564 LEICHENWESEN.
für einen Transport von längerer Dauer oder in warmer Jahreszeit, kann nach dem Gut-
achten des betreffenden beamteten Arztes eine Behandlung der Leiche mit fäulniswidrigen
Mitteln verlangt werden. Diese Behandlung besteht für gewöhnlich in einer Einwickelung
der Leiche in Tücher, die mit 5°/oiger Karbolsäurelösung getränkt sind. In schweren
Fällen muss ausserdem durch Einbringen von gleicher Karbolsäurelösung in die Brust-
und Bauchhöhle (auf die Leiche des Erwachsenen zusammen mindestens 1 Liter gerechnet)
oder dergleichen für Unschädlichmachung der Leiche gesorgt werden;
d) in den Fällen, in denen Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass jemand eines
nicht natürlichen Todes gestorben ist, oder vrenn es sich um den aufgefundenen Leichnam
eines Unbekannten handelt (§ 157 der Strafpiocessordnung vom 1. Februar 1877): die
seitens der Staatsanwaltschaft oder des Amtsrichters ausgestellte schriftliche Genehmigung
der Beerdigung.
Ausser diesem „Leichenpass" wird gefordert, dass die zu transportirende
Leiche von einer zuverlässigen Person begleitet werde, die bei einem Trans-
porte mit der Eisenbahn, unter Lösung einer Fahrkarte für sich nach ge-
wöhnlicher Weise, denselben Zug zu benutzen hat, in dem die Leiche be-
fördert wird. — Ist der Tod im Verlaufe der Pockenkrankheit oder an
Scharlach, Flecktyphus, Diphtherie, Cholera, Gelbfieber oder Pest erfolgt, so
ist die Beförderung der Leiche mittelst Eisenbahn nur dann zuzulassen, wenn
mindestens ein Jahr nach dem Tode verstrichen ist.
Alle angeführten Bestimmungen, beziehungsweise die zu ihrer Ausfüh-
rung erforderlichen Formulare, gelten in gleicher Weise für den Transport
von Leichen sowohl auf den Eisenbahnen wie auch auf Landwegen. Die Bei-
bringung des Leichenpasses speciell wird für alle Leichentransporte gefordert,
die weiter gehen, als nach dem Bestattungsplatze des Sterbeortes. Allein für
den Transport von Leichen, die bestimmt sind, als Lehrmaterial an anato-
mische und chirurgische Anstalten preussischer Universitäten geschickt zu
werden, wird von dem Verlangen eines Passes abgesehen; für sie bedarf es
auch der sonst vorgeschriebenen Begleitung nicht, wie auch ihre Aufgabe in
einer dichtverschlossenen Kiste für genügend erachtet wird. Sie allein dürfen
auf den Eisenbahnen in einem offenen Güterwagen und zusammen mit anderen
Gütern befördert werden, von denen jedoch Nahrungs- und Genussmittel,
einschliesslich der Rohstoffe, aus welchen Nahrungs- und Genussmittel her-
gestellt werden, ausgeschlossen sind. Für alle übrigen Leichen verlangt das
Eisenbahnbetriebsreglement einen besonderen, bedeckt gebauten Güterwagen,
in dem andere Güter zu gleicher Zeit nicht befördert werden dürfen. Unter
Auslassung einiger weiterer, weniger wesentlicher Einzelbestimmungen aus
dem § 34 jenes Reglements sei hier nur noch angeführt, dass „wer unter
falscher Declaration Leichen zur Beförderung mittels Eisenbahn bringt,
ausser der Nachzahlung der verkürzten Fracht vom Abgangs- bis zum Be-
stimmungsorte das Vierfache dieser Frachtgebühr als Conventionalstrafe zu
entrichten hat." — Bei der Ausstellung von Leichenpässen für Leichentrans-
porte, welche nach dem Auslande gehen, sind ausser den vorstehenden
Bestimmungen eventuell noch besondere, vom Deutschen Reiche mit den be-
treffenden ausländischen Regierungen abgeschlossene Vereinbarungen zu be-
achten, deren Besprechung im einzelnen an dieser Stelle entbehrlich erscheint;
es genüge die Angabe, dass mit Oesterreich-Ungarn und der Schweiz die
Abmachung getroffen ist, dass Leichenpässe, welche von einer zuständigen
Behörde in Deutschland ausgestellt sind, auch in den genannten Ländern als
giltig anerkannt werden und umgekehrt.
(Die hier zusammengefassten Bestimmungen über den Leichentransport im Gebiete
des Deutschen Reiches finden sich an folgenden Stellen: Betriebsreglement für die Eisen-
bahnen Deutschlands vom 11. Mai 1874, § 34. — Bekanntmachung des deutschen Reichs-
kanzlers vom 14. December 1887, betreffend die Abänderungen jenes Reglements. —
Ministerialverfügungen der Ministerien der geistlichen, Unterrichts- und Medicinal-Ange-
legenheiten sowie des Innern vom 7. März 1887; vom 14. Februar 1887; vom 23. Sep-
tember 1888; vom 29. December 1888; vom 14. October 1889; vom 7. Februar 1890; vom
6. October 1891. — Bekanntmachung des Reichskanzlers betreffend Vereinbarung wegen
LEICHENWESEN. 565
Anerkennung der Leichenpässe mit der Schweiz vom 12. Februar 1889; desgl. mit Oester-
reich-Ungarn vom 2. April 1890.)
Aehnliche Bestimmungen über den Transport von Leichen bestehen auch
in Oesterreich.
Exlmmiriing. Unter Umständen wird es nothwendig, eine bereits be-
erdigte Leiche wieder auszugraben. Diese Nothwendigkeit liegt vor, wenn
einer Leiche aus irgend einem Grunde ein anderer als der ursprüngliche
BestattuDgsplatz angewiesen werden soll; sowie, wenn es sich um die nach
der Beerdigung angeordnete gerichtliche Untersuchung einer Leiche handelt.
Hinsichtlich des zweitgenannten Zweckes schreibt das preussische Regulativ
für das Verfahren der Gerichtsärzte bei den medicinisch-gerichtlichen Unter-
suchungen menschlicher Leichname vom 6. Jänner 187.5 in seinem § 4 vor,
dass die Aerzte, wo es sich — zum Zwecke der Ermittelung von Abnormi-
täten und Verletzungen der Knochen, oder mancher, die noch zweifelhaft
gebliebene Identität der Leiche betreffenden Momente, z. B. Farbe und Be-
schaffenheit der Haare, Mangel von Gliedmassen u. s. w., oder von ein-
gedrungenen fremden Körpern, sowie vorhanden gewesener Schwangerschaft
oder vorgekommener Vergiftungen und ähnlichen Befunden — um die Wieder-
ausgrabung einer Leiche handelt, für dieselbe zu stimmen haben, ohne Rück-
sicht auf die seit dem Tode verstrichene Zeit. — Allgemeine gesetzliche Be-
stimmungen betreffs solcher Wiederausgrabungen oder „Exhumirungen" be-
stehen nicht, doch pflegt die den geordneten Betrieb eines Kirchhofs über-
wachende Behörde ihre eigenen Bestimmungen darüber zu erlassen. Die Ge-
sichtspunkte; auf welche die Hygiene bei der Vornahme von Exhumirungen
hinzuweisen hätte, sind kurz zusammengefasst die folgenden: Eine Exhu-
mirung sollte aus ästhetischen und Pietätsrücksichten — die Möglichkeit von
Gesundheitsschädigungen kommt kaum in Betracht — niemals vor den Augen
anderer als der nothwendig betheiligten Personen, nicht vor versammelten
Neugierigen vorgenommen werden; sie darf deshalb niemals in eine Stunde
fallen, zu der auf dem Begräbnisplatze eine andere Beerdigung stattfindet,
oder in der der Kirchhof dem Publikum geöffnet ist. Am besten eignet sich
dazu die Nacht oder doch die späten Abend-, resp. die frühen Morgen-
stunden.
W^ährend der heissen und wärmeren Monate des Jahres sollten Exhu-
mirungen nur dann gestattet sein, wenn deren Ausführung aus dringenden
Gründen keine Verzögerung zulässt; namentlich gilt das naturgemäss von den
gerichtlich geforderten Wiederausgrabungen; alle anderen sollten ausnahms-
los nur während des Winters gestattet werden. Fällt die Exhumirung in
eine Zeit nach der Beerdigung, in welcher erfahrungsmässig zu vermuthen
ist, dass sich die Leiche noch im Zustande der stinkenden Fäulnis befindet,
so ist dafür Sorge zu tragen, dass man durch Aufgiessen von desinficirenden
und desodorisirenden Mitteln den üblen Geruch der Grabeserde zerstören
kann; als solche Mittel sind daher genügende Mengen von Chlorkalklösung
oder Manganlauge schon zu Beginn der Aufgrabung zur Stelle zu halten.
Ob die Beschaffung eines besonderen neuen Sarges oder eines ähnlichen,
eventuell luftdicht abschliessbaren Behältnisses für einen etwa vorzunehmen-
den näheren oder ferneren Transport der auszugrabenden Leiche erforderlich
erscheint oder nicht, ist im Einzelfalle zu entscheiden; der Zweck der Aus-
grabung, sowie die seit dem Tode verstrichene Zeit werden dabei mit zu be-
rücksichtigen sein; selbstverständlich kann es nicht gestattet werden, dass
ein in seinen Holztheilen mit flüssigen Zersetzungsproducten durchtränkter
und von Fäulnisjauche tropfender Sarg auch nur eine kurze Strecke weit fort-
getragen werde. Das geöffnete Grab ist so schnell wie irgend thunlich
wieder zu schliessen, und die Erde^ falls sie Fäulnisgeruch verbreitet, mit
566 LEICHENWESEN.
den oben genannten Mitteln zu desodorisiren, resp. mit frischer Erde in hin-
reichend dicker Schichte zu überdecken.
Leichenverbrenimiig oder Feuerbestattung im Gegensatz zur Beer-
digung, also zur Erdbestattung.
Im Alterthume waren es namentlich die Bewohner von Kleinasien, zeitweise auch
die alten Juden, ferner die Griechen, Römer, Etrusker, sowie auch unsere eigenen ger-
manischen Vorfahren, welche die Leichenverljrennung in ausgedehntem Maasse ausübten.
In der Gegenwart hat sich diese Sitte nur noch bei einigen wenigen Völkern erhalten, so
namentlich unter den Anhängern des Wischnu in einzelnen indischen Stämmen, bei den
Hindos und Sikhs, unter den das Himalaya-Gebirge bewohnenden Stämmen und bei den
Khassia, an der Grenze von Birma. Bei allen genannten Völkern fand resp. findet die
Leichenverbrennung mittels des offenen, aus grossen Mengen leicht brennbaren Holzes
erbauten Scheiterhaufens statt. Dieser Art der Feuerbestattung aber haften sehr erheb-
liche technische Mängel an: erstens wird bei ihr eine fast ungeheuer zu nennende Verschwen-
dung an Brennmaterial getrieben; zweitens bleibt die Verbrennung der Cadaver trotz
dieses Aufwandes fast immer nur recht unvollkommen; ferner wird die Umgebung in
weitem Umkreise durch reichlichen Rauch und sehr übelriechende Verbreunungsdünste be-
lästigt, zudem das Auge des Zuschauers nicht selten durch den hässlichen Anblick des
unter der Hitzeeinwirkung in seinen Gliedern sich bewegenden und krümmenden Leichnams
verletzt; und endlich wird der zurückbleibende Rest des verbrannten Körpers mit der
Asche des Brennmaterials untrennbar vermengt. Zweifelsohne hat eine frühzeitige Er-
kenntnis aller dieser Mängel schon im Alterthume zu einer Beschränkung der Feuer-
bestattung geführt. Wie wir bereits an früherer Stelle sahen, wurde die letztere nament-
lich unter dem Einflüsse des fortschreitenden Christenthums immer mehr durch die Be-
erdigung der Todten verdrängt, so dass sie für die Dauer vieler Jahrhunderte gänzlich
ausser Gebrauch kam.
Aber auch mit der Bestattung der Todten durch Einsenken in den Erd-
boden glaubte man eine Reihe mehr oder minder schwerer Uebelstände ver-
knüpft zu sehen; und es kam die Zeit, da bei vielen die Frucht vor den mit
dem Begraben der Leichen vermeintlich verbundenen Gefahren so gross wurde,
dass, sobald die starre Herrschaft kirchlicher Dogmen auch über Fragen des
rein praktischen Lebens gebrochen war, auch bei den Völkern von vorwiegend
christlichem Bekenntnisse in weiten Kreisen das Verlangen nach einer Rück-
kehr zu der alten Sitte der Feuerbestattung laut wurde. Auf die Gründe,
welche diese Strömung anregten und allmählich zu der Stärke anwachsen
machten, welche ihr gerade in unseren Tagen innewohnt, einzugehen, ist hier,
soweit sie auf religiösem, ästhetischem, poetischem und künstlerischem Ge-
biete liegen, nicht der Platz, denn hier interessirt uns allein die hygienische
Seite der Frage. Wie wenig begründet jedoch ein Theil der gegen die Erd-
bestattung geltend gemachten hygienischen Einwände ist, haben wir bereits
erörtert; wir sahen, dass eine Entstehung oder Weiterverbreitung epidemischer
Krankheiten von einer im Erdboden ruhenden Leiche aus nicht zu befürchten
ist, und dass die bis vor Kurzem als höchst verderblich hingestellte Gefahr
einer Verunreinigung des Kirch hofsbodens und, von ihm aus der Bodenluft
und der benachbarten Atmosphäre, sowie auch des Grundwassers und der aus
ihm gespeisten Brunnen in der That von der modernen Hygiene nicht mehr
anerkannt werden kann, Ebenso hinfällig sind noch einige andere gegen die
Erdbestattung geltend gemachten Gründe. Dahin gehört z. B. die in breiten
Schichten des Volkes festgewurzelte Furcht vor dem Lebendigbegrabenwerden;
bei vernünftiger Ueberlegung kann dieser gegen die Sitte des Beerdigens er-
hobene Einwand kaum als recht ernsthaft genommen werden, denn es ist
schwer einzusehen, welche Annehmlichkeiten vor dem Lebendigbegraben,
werden das Lebendigverbranntwerden haben solle. Durch eine gewissenhaft
gehandhabte, geordnete Leichenschau wird das eine Gespenst so gut wie das
andere den Särgen unserer Verstorbenen ferngehalten. Als einen ferneren
Einwand gegen das Begraben der Todten hört man hie und da die Behaup-
tung aufstellen, dass bei dem tiefen Einsenken der Cadaver in den Erdboden
die sie zusammensetzenden und bei ihrer Zersetzung wieder frei werdenden
Stoffe so fern unter die Erdoberfläche verlegt würden, dass sie von den
LEICHENWESEN. 067
Wurzeln der Pflanzen für gewöhnlich nicht erreicht und somit von der Wieder-
einschaltung in den Kreislauf des organischen Lebens ferngehalten würden.
Diese Annahme beruht auf einem thatsächlichen Irrthum. Nehmen wir die
Sohle der Gräber selbst etwas tiefer als 2 m unter der Erdoberfläche an,
so fällt ihr Niveau doch noch in das Wurzelgebiet vieler Gewächse, und nicht
nur allein der grösseren Bäume. Die feinsten Wurzeln der Pflanzen reichen
ganz ungeheuer viel tiefer in den Erdboden hinab, als die Meisten annehmen
oder zu wissen glauben; erstreckt doch schon ein Weizen- oder Gerstenhalm
seine Wurzeln bis über zwei Meter tief unter die Ackerfläche! Zudem er-
scheint es nicht recht verständlich, warum manche eifrigen Verfechter der
Feuerbestattung gerade diesen Grund gegen die Beerdigung in's Treffen
führen, da sie selbst doch die bei der Verbrennung der Leichen zurück-
bleibenden Aschenreste in Urnen sammeln und mittels dieser, in Gräbern oder
Columbarien beigesetzt, Jahrhunderte lang aufbewahren wollen! Als letzter
Grund gegen die Erdbestattung wird häufig angeführt, dass durch die Kirch-
höfe ein im Verhältnisse zu ihrem Nutzen viel zu grosser und weit besser
verwertbarer Theil fruchtbaren Ackergeländes oder — wo es sich um städtische
Begräbnisplätze handelt — wertvollen Bauterrains brach gelegt werde. Auch
dieser Einwand kann einer unbefangenen Prüfung gegenüber nicht Stand
halten.
Auf dem Lande ist der Grund und Boden nicht so kostbar, dass nicht jede Land-
gemeinde mit verschwindend wenigen Ausnahmen den zur Anlage des kleinen Friedhofs
erforderlichen Platz von ihrem Ackergebiet entbehren könnte. In der unmittelbaren Nähe
grosser Städte dagegen erfüllen die Begräbnisplätze, wenn sie hygienisch richtig angelegt
sind und in geschickter Weise nach Art von Parks praktisch und schön bepflanzt werden,
sogar eine sehr wichtige, hygienische Aufgabe, deren Wert für die körperliche wie seelische
Gesundheit der Stadtbewohner leider noch immer viel zu wenig gewürdigt wird. Für den
im unablässigen, geräuschvollen Getriebe der rasselnden Fuhrwerke und klappernden Ma-
schinen sich abhastenden Städter ist es eine Wohlthat, die gar nicht hoch genug geschätzt
werden kann, wenn er in leicht erreichbarer Nähe seines lärmumtobten Heims eine Stätte
besitzt, an der er zu jeder Zeit erquickende Stille und ein ruhiges Stündlein einsamen
sich in sich selbst Versenkens finden kann. Welcher Ort könnte dazu wohl geeigneter
erscheinen, als der friedliche stille Kirchhof, vorausgesetzt, dass er hygienisch wohlbeschaffen
und ästhetisch richtig angelegt ist. Gegenüber dem daraus für unzählige Stadtbewohner
erwachsenden idealen Nutzen für Leib und Seele wird die Einbusse an Bauterrain vieler-
orten wenigstens auf ein ziemlich geringes Maass praktischen Verlustes zusammensinken.
Bei rationellem Betriebe der Kirchhöfe kann, vorausgesetzt allerdings, dass die Boden-
beschaffenheit des betreffenden Platzes allen hygienischen Anforderungen entspricht, ein
Kirchhof unbedenklich mitten in der Stadt gelegen sein; und so können wir ruhig den
vielleicht manchen auf das höchste überraschenden Satz aufstellen: Manche grosse Stadt
würde hygienisch richtig handeln, wenn sie alte hygienisch unzulängliche Stadttheile nieder-
legte, um die gewonnenen Plätze zur Herrichtung von Bestattungsparken zu verwerten.
In den centralen Theilen solcher Städte freilich, wie London, Paris, Wien und Berlin,
wird der unermesslich hohe Wert von Grund und Boden solche Anlagen nie und nimmer
gestatten; für eine ganze Anzahl anderer grosser Städte aber, wie auch für die mehr
peripher gelegenen Kreise selbst der genannten erscheinen sie als ausführbar und wohl em-
pfehlenswert.
Sehen wir somit, dass die ganze Eeihe der von den Gegnern der Erd-
bestattung gegen dieselbe erhobenen Einwände nicht stichhaltig erscheint, so
müssen wir andererseits doch anerkennen, dass gegenüber der Hinfälligkeit
dieser gewissermaassen negativen Gründe für die Feuerbestattung eine
Anzahl von positiven Momenten existirt, die dem Verlangen nach der
Wiedereinführung der Leichenverbrennung ein keineswegs unerhebliches Maass
von Berechtigung verleiht. Mit der eben erwähnten Einschränkung hinsicht-
lich der Anlage von Begräbnisplätzen in den verkehrsreichen Theilen einer
Metropole sind wir bereits zu einem der schwerstwiegenden Factoren gelangt,
welche die Anhänger der Feuerbestattung für die Nützlichkeit, ja Nothwen-
digkeit ihres Lieblingsplanes geltend zu machen wissen. Um in solchen
Theilen einer Millionenstadt einen Begräbnisplatz anzulegen, dazu ist aller-
dings der Grund und Boden, wo für jeden Quadratfuss geradezu horrende
568 LEICHENWESEN.
Summen gezahlt werden, viel zu theuer. Das ist die Ursache des in London
und Paris, und in neuerer Zeit auch bereits in Berlin bitter empfundenen
Uebeistandes, dass die Friedhöfe in weiter Entfernung von den Wohnungen
der Ueberlebenden gelegen sind, so dass man die Leichen mittels Eisenbahn
an die Stätte ihrer letzten Ruhe befördern muss, und der Besuch eines ge-
liebten Grabes das Opfer einer halben oder ganzen Tagereise erfordert.
Diesem Nothstande kann durch die Einführung der Leichenverbrennung
dauernd und gründlich abgeholfen werden. Die modernen Leichenverbrennungs-
öfen (Crematorien) erfordern zu ihrer Anlage ein so geringes Areal, dass
man sie auch rücksichtlich des theuren Bauplatzes sehr wohl mitten in einer
grossen Stadt anlegen darf. Da bei den neuen vervollkommneten Systemen
jede Belästigung auch der allernächsten Umgebung eines in Betrieb befind-
lichen Leichenverbrennungsofens durchaus ausgeschlossen bleibt, so liegt seiner
Anlegung keinerlei Bedenken im Wege. Die Unterbringung der die zurück-
bleibenden Aschenreste bergenden Urnen erfordert naturgemäss im Vergleiche
zu den Begräbnisplätzen nach altem Modus nur verschwindend geringe Raum-
dimensionen, mag man dieselben nun an parkartigen Stätten dem Schoosse
der Erde anvertrauen oder in eigens errichteten Gebäuden, sogenannten Co-
lumbarien, aufstellen. Müssen wir somit der Wiedereinführung der Feuer-
bestattung in sehr grossen Städten unbedingt ihre Berechtigung zuerkennen,
so gilt dasselbe auch für solche Gemeinden, die in ihrer nächsten Umgebung
keinen für die Anlage eines Kirchhofs geeigneten Boden besitzen, und daher
gezwungen sind, jede Leiche weithin zum nächsten Kirchhofe zu transpor-
tiren. Wenn aber die Anhänger der Leichenverbrennung soweit gehen, dass
sie verlangen, jede Leiche, die einen längeren Transport überstehen solle,
müsse zur Vermeidung hygienischer Unzuträglichkeiten zuvor verascht werden,
so ist das entschieden übertrieben; die tägliche Erfahrung lehrt uns, dass
selbst sehr langwierige und weite Leichenüberführungen, sogar in der warmen
Jahreszeit, bei Beachtung der gesetzlich geforderten Vorsichtsmaassregeln,
ohne jede Gefahr gesundheitlicher Schädigungen oder Belästigungen ausgeführt
werden können. — Auch wo es sich darum handelt, ungewöhnlich grosse
Mengen von Leichen möglichst schnell zu beseitigen, also beim Auftreten
massenmordender Volksseuchen und namentlich nach grossen mörderischen
Schlachten, glaubte man eine Zeit lang von der Leichenverbrennung erheb-
liche Vortheile erwarten zu dürfen. Bei näherer Prüfung der dabei sich er-
gebenden technischen Schwierigkeiten aber hat man diese Hoffnung als irr-
thümlich erkennen müssen. Hätte man z. B. die in der Schlacht von Sedan
gefallenen fast 5000 Menschen- und 1200 Pferdeleichen verbrennen wollen,
so hätte man, selbst wenn man zehn Leichenöfen der von Siemens für der-
artige Nothfälle angegebenen, aus Feldsteinen improvisirbaren Construction
Tag und Nacht in ununterbrochenem Betriebe erhalten hätte, doch nicht
weniger als 30 Tage zur Bewältigung der ungeheuren Masse von Cadavern
gebraucht. In solchen Fällen wird daher auch in Zukunft die Beerdigung
das einfachste und praktischeste Mittel zur Beseitigung der Leichen bleiben.
Gegenüber den wenigen aber zweifellos gewichtigen Momenten, welche
für die Wiedereinführung der Leichenverbrennung sprechen, haben alle von
gegnerischer Seite erhobenen Einwände nicht Kraft genug gehabt, die in
den letzten Jahrzehnten zu Gunsten der Feuerbestattung entstandene mächtige
Strömung völlig zurückzudämmen. Schon ist der erste in Gotha errichtete
Leichenverbrennungsofen längst nicht mehr der einzige in Deutschland in
lebhafter Benutzung befindliche, und fast von Jahr zu Jahr wächst die Zahl
der Crematorien. Unter den von den Gegnern der Leichenverbrennung gel-
tend gemachten Einwänden ist namentlich einer von hoher Wichtigkeit für
das Allgemeinwohl. Es ist die Gefahr vorhanden, dass bei einem Allgemein-
werden der Feuerbestattung der gerichtlichen Untersuchung behufs Aufdeckung
LEICHENWESEN. 569
und Sühnung begangener Verbrechen das zur Zeit mittels der Exhumirung
leicht zugängliche Untersuchungsmaterial in vielen Fällen gänzlich entzogen
werden könnte. Aus diesem Grunde ist das Verlangen durchaus berechtigt,
dass für jede zu veraschende Leiche eine besonders sorgfältige jeden Zweifel
ausschliessende Feststellung der Todesursache zur unumgänglichen Vorbedin-
gung gemacht werde. Mit der gerichtlich-medicinischen Seite dieser Frage
hat sich namentlich Kerschensteiner "") beschäftigt. Er fordert für die ge-
richtliche Genehmigung der facultativen Leichenverbrennung folgende Vor-
sichtsmaasregeln:
1. Einlieferung einer ausführlichen Krankengeschichte durch den behandelnden Arzt
und Nachprüfung dei'selben seitens des die Leichenpolizei überwachenden ärztlichen Be-
amten, sowie für den Fall ausbleibender Beanstandung, Hinterlegung derselben beim zu-
ständigen Gerichte.
2. Ausführung einer vollständigen Section der zu verbrennenden Leiche durch einen
vereidigten, als zuverlässig bewährten pathologischen Anatomen, unter Aufnahme eines
genauen Sectionsprotokolls, sowie wiederum Hinterlegung desselben bei Gericht.
3. Fortlaufende Numerirung und sichere Aufbewahrung der sorgfältig gesammelten
Aschenreste und Hinterlegung einer Probe derselben zu den vorgenannten schriftlichen
Acten bei Geriebt.
Was endlich die praktisch-technische Seite der Leichenverbrennungs-
frage angeht, so wurde, sobald nur das Bedürfnis nach einem die modernen
Anforderungen erfüllenden Leichen Verbrennungsapparate sich geltend machte,
das Streben der Technik in kurzer Zeit von Erfolg gekrönt. Es bestand von
vornherein kein Zweifel darüber, dass man an Stelle der mit so vielen und
lästigen Üebelständen verknüpften Verbrennung der Cadaver auf dem offenen
Scheiterhaufen die Veraschung mittels geschlossener Oefen setzen müsse, in
welchen die Verbrennung, dem menschlichen Anblicke entrückt, ohne jede
Belästigung der Umgebung durch Rauch und übelriechende Verbrennungs-
gase so vollständig vor sich gehen könne, dass von der Leiche nichts anderes
zurückbleibt, als ein ästhetisch in keiner Weise verletzend wirkender geringer
Rest reiner und von den Ueberbleibseln des Feuerungsmaterials säuberlich
gesonderter Asche. Es sind im Laufe der letzten Jahrzehnte eine ganze
Anzahl derartiger Oefen construirt und probirt worden. Das Endergebnis
aller nach dieser Richtung hin gemachten Studien und Versuche liegt heute
in Gestalt des von Siemens construirten Leichenverbrennungsofens
vor, welcher allen an einen solchen Apparat zu stellenden Anforderungen in
höchster Vollkommenheit genügt.
Derselbe besteht aus zwei Hauptbestandtheilen, nämlich erstens dem Gaserzeuger
(Generator) und zweitens dem eigentlichen Verbrennungsapparat mit dem Regenerator, der
Verbrennungskammer oder dem Calcinirraum und der für die Ableitung der fluchtigen
Verbrennungsproducte bestimmten Esse. Der Generator stellt einen von dem eigentlichen
Leichenofen getrennt angelegten Apparat dar, in welchem das aus Holz und Torf, Braun-
kohle und Steinkohle bestehende Feuerungsmaterial verbrannt wird, und aus dem die
hierbei gebildeten entflammbaren Gase durch ein Zuleitungsrohr in den Verbrennungsofen
geführt werden ; die consumirten Brennstoffe werden durch eine eigene Füllvorrichtung in
Zwischenräumen von einigen Stunden stetig ergänzt. Das hier gebildete Gas wird im
„Regenerator", in den es mittels eines mit einer Regulirklappe versehenen Canals eingeleitet
wird, zunächst mit atmosphärischer Luft gemischt, deren Menge gleichfalls durch eine
an dem ihrer Zuleitung dienenden Rohre angebrachte Regulirvorrichtung beliebig vermehrt
oder vermindert werden kann. Das Gasluftgemenge wird entzündet und in brennendem
Zustande durch ein grosses, aus feuerbeständigen Backsteinen erbautes Gitter geführt, wo-
bei die Backsteine bis zur starken Rothgluth erhitzt werden. Von dort gelangen die
heissen Gase durch einen kurzen horizontalen Canal in die für die Verbrennung des Ca-
davers bestimmte eigentliche Verbrennungskammer, aus welcher sie durch den rostartig
durchbrochenen Boden in den Aschenraum und sodann in die Esse entweichen. Der
Leichnam wird mitsammt dem Sarge, sobald das Backsteingitter des Generators bis zur
Rothgluth erwärmt ist, durch eine klappenartige Thür in den Calcinirraum geschoben,
und dort 15 bis 30 Minuten lang dem Strome der durchstreichenden heissen Gase ausge-
*) Kerschensteiner, Gutachten über die Einführung der facultativen Leichenver-
brennung, im Auftrage des Münchener Gesundheitsrathes. Veröffentlichungen des Deutschen
Reichs-Gesundheitsamtes 1 879.
%
570
LEICHENWESEN.
setzt; dabei wird ihm durch Verdunstung fast alles in ihm enthaltene Wasser entzogen
und er selbst stark „vorgewärmt". Während dessen wird der Backsteinrost des Regene-
rators durch die fortgesetzte Durchführung des brennenden Gasluftgemisches bis zur Weiss-
gluth erhitzt. Ist dieser Punkt erreicht, so wird durch Schliessung einer Klappe die Zu-
fuhr neuer Mengen an Verbrennungsgasen aus dem Generator abgeschnitten; es tritt nun
allein noch atmosphärische Luft in den Regenerator, welche sich an den glühenden Back-
steinen auf Weissgluth erhitzt und in diesem Zustande auf den ausgetrockneten und vor-
gewärmten Cadaver im Calcinirraum einströmt. Dabei kommt es zu einer raschen und
vollkommenen Verzehrung aller brennbaren Leichentheile und zugleich zu lebhaften che-
mischen Zersetzungen der nicht verbrennbaren Stoffe, so dass aller im Körper enthaltene
Kohlenstoff in Form von Kohlensäure entweicht, und nur ein geringer Rest reiner Asche
zurückbleibt, der durch den rostförmigen Boden der Verbrennungskammer in den un-
mittelbar darunter gelegenen Aschenraum hinabfällt. Aus diesem kann die Asche durch
eine besondere Klappe bequem gesammelt und entfernt werden. Gewöhnlich wird der
Leichenofen derart eingerichtet, dass der eigentliche Verbrennungsapparat im Souterrain
eines kapellenartigen Gebäudes untergebracht ist; ein derartiges Gebäude nennt man ein
„Crematorium". In der über der Erde gelegenen, meist kirchlich geschmückten Halle,
Fussboden der Ze^iek^/i/ia^le.
lieichenverbrenmingsofen.
wird dann unmittelbar vor der Feuerbestattung die Leichenfeier begangen, nach deren
Beendigung der völlig unberührt bleibende Sarg durch eine Fallthür, über welcher er von
Anfang an aufgebahrt war, in denjenigen Raum des Souterrains versenkt wird, aus dem
er auf Schienen mit Leichtigkeit direct in den Calcinirraum geschoben wird. Auf diese
Weise wird jede das Gefühl der Pietät bei den üeberlebenden verletzende Manipulation mit
der Leiche vermieden. Die Vorwärmung des Apparates dauert etwa fünf Stunden, die
Verbrennung der Leiche selbst vom Augenblick der Einbringung in den Calcinirraum an
höchstens circa zwei Stunden. Der grösste, eine wirklich allgemeine Einführung der
Feuerbestattung erheblich erschwerende Nachtheil dieses Verfahrens ist der, dass es ein-
mal wegen der immerhin kostspieligen Anlage des Crematoriums, zweitens aber auch
wegen des erforderlichen Aufwandes an Brennmaterial, die Kosten einer Erdbestattung
sehr bedeutend übersteigt. Aus diesem Grunde wird die Leichenverbrennung voraussichtlich
auch in Zukunft ein Luxus bleiben, den nur die Wohlhabenderen zu treiben im Stande
sein werden. Naturgemäss vermindern sich die Ausgaben für die einzelne Bestattung,
wenn mehrere Leichen unmittelbar hintereinander verbrannt werden, weil dann die den
grössten Verbrauch an Brennmaterialien erfordernde Vorwärmung des Apparates für die
nach der ersten zu verbrennenden Leichen in Wegfall kommt. Immerhin werden aber
auch dann noch für jede spätere Verbrennung circa 100 hg Braunkohle consumirt.
Kirchhöfe. Haben wir im Vorstehenden gesehen, dass der Bestattung
der Todten in den Schoss der Erde hygienische Bedenken principieller Natur
nicht entgegenstehen, so sind doch bei der Anlegung und beim Betriebe der
Begräbnisplätze gewisse hygienische Gesichtspunkte im Auge zu behalten.
Allgemeine gesetzliche Bestimmungen inbetreff des Kirchhofwesens bestehen
LEICHENWESEN. 571
nicht; in Preussen wie auch sonst im Deutschen Reiche ist die Regelung
aller einschlägigen Dinge den Verwaltungen der Regierungsbezirke übertragen.
Ein Blick auf die hierher gehörigen Verordnungen, Erlässe etc. lässt uns
sehr grosse Unterschiede in den einzelnen Bestimmungen erkennen und lehrt
uns, dass zur Zeit noch ungemein abweichende Anschauungen, die zum Theil
den modernen wissenschaftlichen Erkenntnissen nicht mehr entsprechen, vor-
herrschen und maassgebend sind. Die hygienischen Gesichtspunkte, unter
denen der moderne Hygieniker das Beerdigungswesen beurtheilt, resp. seinen
Betrieb regelt, gruppiren sich gewissermaassen um zwei Kernpunkte. Der
erste beruht auf dem Streben, die Leiche im Grabe sich möglichst schnell
und vollkommen zersetzen zu lassen, und zwar unter thunlichster Beschrän-
kung der stinkenden Fäulnis, vorwiegend durch die mittels sauerstofibedürf-
tiger Schimmelpilze zustande kommende Verwesung, unterstützt von der auf
rein chemischen Oxydationsprocessen beruhenden Vermoderung. Der zweite
Kernpunkt besteht in der Forderung, dass jede durch die beerdigten Leichen
etwa verursachte Unzuträglichkeit hygienischer sowie ästhetischer Natur mit
voller Sicherheit ausgeschlossen bleibe. Aus diesen Gründen ist schon die
Auswahl des für die Anlage eines Friedhofes bestimmten
Platzes von grosser Wichtigkeit. Die bei dieser Wahl mitsprechenden
Rücksichten sind so vielseitig und mannigfach, dass die Bestimmung des
geeigneten Ortes gar nicht selten eine Aufgabe von recht erheblicher
Schwierigkeit darstellt. In erster Linie ist die ganze Beschaffenheit der
Bodenverhältnisse auf dem in Betracht kommenden Terrain eingehend zu
prüfen. Der Boden muss erstens so locker sein, dass er der Aushebung
der Beerdigungsgrube nicht zu grosse (mechanische) Schwierigkeiten ent-
gegensetzt; so ist z. B. harter, fester Felsboden ungeeignet, ebenso ein
solcher, der im Winter infolge tiefgreifender Eisbildung regelmässig so fest
wird, dass er nur mittels Pulver- oder Dynamitsprengung bearbeitet werden
kann. Ein gewisser Grad von Lockerheit des Erdreichs, der bekanntlich
gleichbedeutend ist mit einem reichlichen Porengehalte, ist auch deshalb
erforderlich, damit das nöthige Quantum atmosphärischer Luft zur Leiche
hinabdringen kann, ohne- welches die Schimmelpilze nicht gedeihen können,
welche — im Gegensatze zu den auch unter Abschluss des Sauerstoffes vege-
tirenden Keimen der stinkenden Fäulnis — die Verwesung bewirken und
dessen Gegenwart auch für das Zustandekommen der rein chemischen Oxy-
dationsprocesse, deren Summe die Vermoderung darstellt, unerlässliche Vor-
bedingung ist. Andererseits darf der Boden doch nicht so locker sein, dass
die Ränder der ausgeschachteten Grube von selbst einfallen können oder
doch nachzustürzen drohen, sobald die Leichenträger mit der Last des Sarges
sie betreten müssen. Von sehr erheblicher Wichtigkeit sind ferner die
Bodenwasserverhältnisse. Das Erdreich darf nicht so nass sein, dass
der Wassergehalt die Poren für das Durchtreten reichlicher Luftmengen un-
durchgängig mache, aber auch nicht so trocken, dass in ihm eine Mumi-
ficirung statt der Verwesung der Leichen zu befürchten wäre. Eine besonders
sorgfältige Berücksichtigung erfordert in dieser Hinsicht die Prüfung der
Grundwasserverhältnisse. Liegen die Leichen in einer Bodenschicht,
die bei hohem Grundwasserstande zeitweise gänzlich durchnässt wird, so wird
durch den hohen Feuchtigkeitsgrad die stinkende Fäulnis unterstützt, so dass
sie sogar in dem sonst für Verwesung und Vermoderung allergünstigsten
Boden aus grobem Kiese die Oberhand gewinnen kann. Befinden sich aber
die Cadaver gar dauernd im Grundwasser, so wird entweder der Fäulnis-
process sehr in die Länge gezogen oder gar die Umsetzung in Adipocire
bewirkt. Somit ist ein Boden zu wählen, in welchem die die Gräber ent-
haltende Schicht vor einer Durchtränkung seitens des Grundwassers selbst
bei dessen höchstem Stande sicher bewahrt bleibt. Ja, es ist sogar wünschens-
572 LEICHENWESEN.
wert, dass eine möglichst dicke Schicht relativ trockenen Bodens zwischen
der Tiefe der Grabessohle und dem höchsten Grundwasserspiegel gelegen sei,
damit die durch das Grab hindurchsickernden Mengen atmosphärischer Nieder-
schläge von allen ihnen zugesellten organischen Zersetzungsproducten mittels
Filtration möglichst vollständig wieder gereinigt werden, bevor sie sich mit
dem Grundwasser vereinigen. Man sollte es deshalb niemals versäumen,
bevor ein Platz zur Anlage eines Kirchhofs bestimmt wird, längere Zeit hin-
durch, zu den verschiedensten Jahreszeiten und während der wechselnden
Grundwasserstandsperioden, die Oberfläche des Grundwasserspiegels und ihre
Schwankungen behufs Feststellung seiner geringsten Entfernung von der
Erdoberfläche zu beobachten. Desgleichen ist auch die Mächtigkeit des
Grundwasserstromes, sowie auch die Richtung seines Gefälles in Rücksicht zu
ziehen. Die erstere beansprucht ein gewisses Interesse zwecks annähernder
Schätzung der grösseren oder geringeren Concentration der in das Grund-
wasser aufgenommenen organischen Zerfallsproducte, die natürlich von dem
wechselseitigen Mengenverhältnis des vorhandenen Wasserreichthums und der
Zahl der beerdigten Leichen abhängt. Die Richtung des Grundwassergefälles
ist zu beachten, damit man soviel wie möglich die Erbauung bewohnter
Häuser, sowie die Anlage von Trinkwasserbrunnen an derjenigen Seite des
Begräbnisplatzes vermeiden könne, nach welcher hin die soeben durch die
gräberhaltigen Bodenschichten gesickerten Wassermengen ihren Lauf nehmen.
Denn wenngleich wir gesehen haben, dass eine gesundheitsverderbliche Ver-
giftung des Grundwassers und etwa aus ihm gespeister Brunnen nicht zu
befürchten steht, so ist doch der Gedanke, unser Trinkwasser aus einem
Brunnen schöpfen zu müssen, dessen Inhalt eben erst durch die Gräber eines
Kirchhofs hindurchgeflossen ist, so widerwärtig, dass wir diese Möglichkeit
gerne thunlichst ausgeschlossen wissen. — - Wo die von der Natur gebotene
Auswahl keinen nach den erörterten Gesichtspunkten geeigneten Beerdigungs-
platz aufweist, da wird man die Verhältnisse unter Umständen mit künst-
lichen Mitteln günstig gestalten können. Dazu kommen besonders zwei
Maassnahmen in Betracht: erstens Aufschüttung und zweitens Drai-
nirung. Unter besonderen Verhältnissen wird es sich sogar empfehlen,
beide Hilfsmittel anzuwenden.
Als Material zur ATafschüttung ist womöglich grobkörniger Kies oder grober Sand
zu benutzen, und es ist darauf zu achten, dass die Aufschüttung so ausgeführt wird, dass
nicht etwa das aufgefüllte Erdreich auch wiederum durch Capillaraufsaugung aus dem
feuchten Mutterboden durchnässt wird. Durch Anordnung eines geeigneten Drainage-
systems in den tiefsten Schichten des aufgeschütteten Bodens wird sich dessen Trocken-
haltung leicht bewerkstelligen lassen. Ferner ist bei der Aufschüttung immer von vorne-
herein an die später ausnahmslos eintretende allmähliche Zusammensackung des Füll-
materials zu denken, und die aufgetragene Schicht so mächtig zu machen, dass sie auch
nach deren Beendigung die nöthige Stärke behält. Jede Kirchhofsdrainage, niag sie nun
in natürlichem oder künstlich geschaffenem Terrain angelegt werden, ist derart einzurichten,
dass das aus dem Bereiche der Gräber abfliessende Wasser behufs seiner Wiederreinigung
von organischen Zersetzungsmaterien hinreichende Strecken filtrirenden Erdreichs durch-
sickern muss, bevor es wieder zu Tage treten oder sich mit anderem Wasser mischen kann.
Auch die Oberflächengestaltung des Begräbnisplatzes ist in jedem einzelnen Falle
den besonderen Verhältnissen entsprechend zu berücksichtigen und nöthigenfalls umzu-
gestalten. Ist man gezwungen, einen Begräbnisplatz an einem Orte anzulegen, wo eine
dauernde grosse Trockenheit eher die Mumificirung als eine rasche Zersetzung der Leichen
befürchten liesse, so wird man die Oberfläche so zu gestalten haben, dass möglichst das
ganze Quantum der auffallenden Meteorwässer gezwungen wird, in den Beerdigungsboden
einzusickern, d. h. man wird der Kirchhofsfläche eine leicht muldenförmige, nach der Mitte
zu vertiefte Gestalt verleihen. Häufiger freilich wird man im Gegentheil die Aufgabe haben,
wegen des das günstige Höchstmaass überschreitenden Feuchtigkeitsgehaltes des Bodens
durch eine mehr oder minder starke Oberflächenneigung nach den Rändern hin für ein
möglichst rasches und vollkommenes Abfliessen bei möglichst geringem Einsickern in den
Boden zu sorgen, was man eventuell noch durch Anlegung undurchlässiger Abzugsrinnen,
wasserdichte Pflasterung der Hauptwege u. dergl. m. befördern kann.
LEICHENWESEN. 573
Bedeutsam ist ferner die Lage des Begräbnisplatzes im Verhältnis zu
den bewohnten Stätten. Der Kirchhof soll, wenn irgend möglich, den Woh-
nungen der Lebenden so nahe liegen, dass er bequem und ohne sehr er-
heblichen Zeitverlust erreicht werden kann. Es bestand noch bis vor Kurzem
die Neigung, die Kirchhöfe den bewohnten Stätten möglichst fern zu legen,
um von ihnen die aus der angenommenen "Verderbnis von Luft und Wasser
abgeleiteten Uebelstände und Gefahren mit Sicherheit abzuwenden. Nachdem
wir heutzutage davon überzeugt sind, dass jene vermeintlichen Gefahren für
die in der Nähe eines Kirchhofes Lebenden in der That nur verschwindend
gering sind, dürfen wir die Begräbnisplätze unbedenklich unseren Wohnungen
weit näher anlegen, als lange Zeit hindurch geschehen. Trotzdem pflegt man
auch heute noch die Kirchhöfe in einer gewissen Entfernung von Städten
und Dörfern zu halten, aber die Beweggründe zu dieser Maassnahme sind
ganz andere, als die früheren rein sanitären. Namentlich spricht dabei ein-
mal das Gefühl der Pietät gegen die Verstorbenen mit, das deren letzte Euhe-
stätte gern an einem vor dem geräuschvollen Treiben der in Arbeit und
Genuss hastenden Lebenden geschützten Orte friedlicher Ruhe gelegen weiss,
ferner auch wohl das den meisten Menschen tief inne wurzelnde Gefühl der Scheu
vor dem gewaltigen, geheimnisvollen „Memento mori", das ihnen jeder Kirch-
hof predigt, sowie namentlich der rein praktische Gesichtspunkt, dass man den
Begräbnisplatz am liebsten und besten an einem Orte anlegt, wo man ihn je
nach dem Bedürfnisse ohne grosse Schwierigkeit in jeder wünschenswerten
Richtung erweitern kann. Deshalb achtet man besonders bei der Neuschaffung
städtischer Kirchhöfe auf die Richtung, nach welcher hin die Stadt vorwiegend
Neigung zeigt, sich auszudehnen, damit es vermieden werde, dass eines Tages
die Grenzen der w^achsenden Stadt und des vielleicht ebenfalls erweiterungs-
bedürftigen Friedhofs einander beengend in den Weg treten. Obgleich man
von einer durch die Beerdigungsstätten verursachten Luftvergiftung heute
keinerlei sanitäre Gefahren mehr befürchtet, so legt man doch in Rücksicht
auf das ästhetische Gefühl den Kirchhof am liebsten auf der der vorherr-
schenden Windrichtung abgewandten Seite der Städte oder wohl auch so an.
dass zwischen Stadt oder Dorf und Friedhof ein Stück Wald, ein Flusslauf
oder ein Hügel gelegen ist.
Unter allen Umständen empfiehlt es sich, dem Kirchhofe eine Stelle anzuweisen, wo alle
ans den Gräbern aufsteigenden Zersetznngsgase möglichst schnell mit reichlichsten Mengen
frischer Luft gemischt und derart unschädlich und auch für das empfindlichste Geruchs-
organ nicht mehr wahrnehmbar gemacht werden. Deshalb sind solche Stätten zu bevor-
zugen, die unablässig dem Winde frei zugängig sind, also womöglich ein sich frei erheben-
der Hügel, ein Hochplateau u. dergl.; Stellen, die auch wegen der hohen Entfernung ihres
Bodens von dem Grundwasserspiegel hervorragend geeignet erscheinen. Wo in einer stark
hügeligen oder bergigen Gegend der Kirchhof auf eine stark geneigte Fläche angewiesen
ist, da sind immer noch einzelne besondere Gesichtspunkte zu berücksichtigen. In erster
Linie darf die Neigung des Bergabhanges nicht gar zu steil sein: bei dem unter solchen
Verhältnissen ungemein raschen Abfliessen der atmosphärischen Wässer können die höchst-
gelegenen Theile des Kirchhofs, zumal diese naturgemäss auch dem Grundwasserspiegel
ungewöhnlich fern liegen, allezeit so trocken bleiben, dass die Zersetzung der Leichen
erheblich verzögert wird; andererseits können die in den abhängigen Partien bestatteten
Cadaver in einer dauernd so nassen Erde liegen, dass sie vorwiegend der Fäulnis oder gar
der Adipocirebildung anheimfallen. Allzu stark geneigte Flächen werden deshalb am besten
ganz vermieden, auch aus dem Grunde, weil ungewöhnlich heftige Regengüsse das infolge
der Anlage zahlreicher Gräber stark gelockerte Erdreich loswaschen und den ganzen
Kirchhof zum Abrutschen bringen könnten. Bei weniger starker Flächenneigung wird sich
das Terrain durch theilweise terassenartige Aufschüttungen in den oberen und durch
reichliche Drainirungsanlagen in den abhängigen Partien bis zu geeigneten Verhältnissen
verbessern lassen. Bei der Anlegung von Kirchhöfen in wasserreichen Niederungen, plötz-
lichen gewaltigen Ueberschwemmungen ausgesetzten Flussthälern und ähnlichen Oertlich-
keiten ist von vorneherein dafür Sorge zu tragen^ dass nicht etwa die über die Gräber
hinflutenden Gewässer die letzteren öffnen und Särge und Leichen herauswaschen können.
Was die eigentliche Zusammensetzung des Bodens selbst angeht,
so ist für die Anlegung von Begräbnisplätzen am geeignetsten ein Boden, der
574 LEICHENWESEN.
ein möglichst hohes Porenvolumen mit der grösstmöglichen Weite der ein-
zelnen Poren vereinigt. Dabei überwiegt die Bedeutung der Porenweite die-
jenige des Porenvolums; ein aus sehr feinkörnigen Bestandtheilen zusammen-
gesetzter Boden kann zwar ein weit grösseres Porenvolumen besitzen als ein
grobkörniges Erdreich; je feiner aber die einzelnen Poren, umso grösser
werden infolge des vermehrten Reibungswiderstandes die einem raschen Hin-
durchtreten von Luft und Wasser widerstrebenden Hindernisse, sowie auch
die durch das mittels Capillarattraction aus der Grundwasserschicht dauernd
emporgehobene Wasser bewirkte Verlegung der Poren.
Dementsprechend ist der günstigste Boden ein solcher aus grobkörnigem Kies; der-
selbe gestattet bei seinen sehr zahlreichen und ungemein groben Poren ein sehr schnelles
Hindurchsickern der Meteorwässer und damit ein rasches Austrocknen des Erdreichs, ver-
hindert die capillare Aufsaugung des Grundwassers und gewährleistet durch diese Eigen-
schaften eine dauernde, reichliche Durchlüftung bis in bedeutende Tiefen hinab. Ordnen
wir die verschiedenen übrigen Bodenarten hinsichtlich ihrer nach diesen Gesichtspunkten
beurtheilten Eignung zur Anlegung von Beerdigungsplätzen, so müssen wir gleich hinter den
grobkörnigen Kies die feineren Kiessorten stellen, in allmählich absteigender Reihe bis zum
immer feiner werdenden Sande. Schon viel ungünstiger ist ein mit Sand untermengter
Lehmboden, und sehr ungünstig Thon- und Moorboden, sowie endlich jedes stark humus-
haltige Erdreich. Inwieweit die in einer bestimmten Bodenart enthaltenen chemischen
Bestandtheile verzögernd auf die Leichenzersetzung einzuwirken vermögen, ist zur Zeit noch
nicht in genügendem Maasse erforscht. Dass reichlicher Gehalt eines Bodens an Kochsalz,
Salpeter, Eisen- oder Thonerdesalzen und anderen fäulnishemmenden Bestandtheilen die
Verwesung wenigstens zu verzögern imstande seien, erscheint durchaus wahrscheinlich,
und auf diese Möglichkeit dürfte vorkommenden Falles bei der Auswahl eines Begräbnis-
platzes immerhin Rücksicht zu nehmen sein. In hervorragendem Maasse gilt dies von sehr
humusreichen Bodenarten, weiss man doch, dass sich z. B. in reinem Torfboden ganze
Leichen überraschend lange Zeit sehr wohl erhalten, was wohl nicht allein auf der ver-
hältnismässig grossen Impermeabilität solchen Bodens für Luft, sondern zum grossen Theile
wahrscheinlich auch darauf beruht, dass die grossen Mengen in langsamer aber steter Zer-
setzung begriffenen organischen Materials fast allen hinzutretenden Sauerstoff verzehren,
bevor er an die Leiche herantreten kann. Nicht selten hat man auch die Beobachtung
gemacht, dass ein anfangs der Leichenzersetzung nicht ungünstiger Boden nach wieder-
holter Belegung mit Leichen die Zersetzung nur noch langsam und unvollkommen zuliess.
Diese Erscheinung beruht auf der allmählich zustande gekommenen üeberladung des Bodens
mit humusartigen Bestandtheilen, die ihn in dem eben erörterten Sinne für die rasche
und vollständige Verwesung der Leichen ungeeignet machte. Diese Erfahrung beansprucht,
wo es sich um die Wiederbenutzung alter Begräbnisplätze zu Beerdigungszwecken handelt,
wohl beachtet zu werden.
Ein gewisses hygienisches Interesse muss weiterhin auch der Bepflan-
zung der Friedhöfe zugeschrieben werden. Eine geschickt und geschmackvoll
angelegte Vegetation ist nicht allein deshalb von Wert, weil sie nach ästhe-
tischer Richtung hin wohlthuend einwirkt. Uebrigens hat auch dieses Moment
eine nicht geringe, gewissermaassen mehr ideale, hygienische Bedeutung.
Eine schöne vegetative Ausstattung eines Begräbnisplatzes nimmt ihm durch
das freundliche Gewand, das sie ihm verleiht, viel von dem natürlichen
Grauen, das nun einmal Viele vor der Stätte des Todes empfinden. Kein
anderer, als ein würdiger Blumen- und Pflanzenschmuck, befriedigt so voll-
kommen das unwillkürliche pietätvolle Verlangen eines jeden zarteren Gemüthes,
den verehrten und geliebten Verstorbenen den Ort ihrer letzten Ruhe friedlich
und lieblich zu gestalten. So kann eine geeignete Anpflanzung eines Kirch-
hofes viel dazu beitragen, den Besuch desselben, zumal für die gartenarmen
Bewohner grosser Städte, geradezu zu einer Quelle inneren, Leib und Seele
erquickenden Genusses zu machen. Daneben aber erfüllt sie auch eine Reihe
anderer, nicht minder bedeutsamer Aufgaben mehr praktischen Charakters.
Die zahllosen Wurzeln einer dichten Vegetationsdecke geben dem Boden, umsomehr
natürlich, je mehr auch grössere Bäume und Sträucher betheiligt sind, einen nicht uner-
heblichen Grad erhöhter Festigkeit; dies kann bei einem von Hause aus gar zu lockeren
Boden für die erforderliche Haltbarkeit der Grabesränder einen recht erheblichen prak-
tischen Nutzen gewähren. Derselbe Umstand ist von hohem Werte bei einem auf dem
Abhänge eines stark geneigten Hügels oder Berges angelegten Friedhofe, bei dem die
Pflanzendecke eine höchst wirksame Schutzvorrichtung gegen das Abspülen des Erdreichs
LEICHENWESEN. 575
durch heftige Regengüsse darstellt. Ferner saugen die feinsten Haarwurzeln, als die
Haupternährungsorgane der Gewächse, die zum Theil in sehr beträchtliche Tiefen des
Bodens hinabreichen, die für Erhaltung und Wachsthum der Pflanzen verwertbaren Stoffe
aus den Zersetzungsproducten der Cadaver auf. Damit leiten sie unablässig einen ge-
wissen Theil, und zwar zumeist die bis in die einfachsten Verbindungen zerspaltenen Pro-
ducte ab; so kann es niemals zu einer Anhäufung dieser Stoffe im Erdreiche und zu einer
Uebersättigung des Bodens mit denselben kommen; vielmehr bleibt der letztere ununter-
brochen fähig, neue gleichartige Materien in sich aufzunehmen, wodurch einem Stillstande
in dem weiteren Ablaufe der Zersetzungsvorgänge wirksam vorgebeugt wird. — Auch auf
die Bewegung von Wasser und Luft im Erdboden haben die Pflanzen einen praktisch nicht
unwichtigen Einfluss; ihre Wurzeln saugen ohne ünterlass das in ihrem Bereiche in die
Bodenporen eindringende Wasser auf, worauf es im Innern des Gewächses emporsteigt, um
von den Blätterflächen aus wiederum zu verdunsten; so findet im Bezirke der Wurzeln
eine stete Austrocknung statt, die zur Folge hat, dass die des Wassers beraubten Poren
entweder neues Wasser oder aber, wo solches zur Zeit nicht zur Verfügung steht, atmosphä-
rische Luft aufsaugen; die auf diese Weise erzielte energische Unterstützung der Durch-
lüftung und Durchspülung des Bodens spielt bei den in der Tiefe des Kirchhofes sich
abspielenden Zersetzungen eine wichtige Rolle für die stete Wiederreinigung des Erdreiches
und befördert erklärlicherweise die Verwesungs- und Vermoderungsprocesse selbst in kräf-
tigem Maasse. Die besonders lebhafte Wasserconsumption einiger bestimmter Gewächse
kann man sich vortheilhaft zunutze machen, wenn der Friedhofboden dauernd einen den
wünschenswerten Grad überschreitenden Feuchtigkeitsgehalt aufweist. Am kräftigsten
drainirend von allen bekannten Pflanzen wirkt der Gummibaum (Eucalyptus globulus). Da
dieser leider den harten Winter unseres Klimas nicht erträgt, so kommt er für uns zu
dem gedachten Zwecke nicht eigentlich in Betracht; dagegen verwendet man dazu die
Anpflanzung der Sonnenblume in verschiedenen Arten (Helianthus L.).
Im allgemeinen sollte bei der Anlage der Kirchhofsbepflanzungen als
Hauptgesichtspunkt das Ziel einer schönen, parkartigen Vegetation mit mög-
lichster Mannigfaltigkeit der Gewächse maassgebend sein, womöglich so, dass
zu jeder Jahreszeit, zu der es das Klima überhaupt gestattet, blühende
Pflanzen vorhanden sind. Die Schaffung wenigstens einiger, möglichst dichter,
dem Eindringen von Menschen unzugänglicher Gebüsche verleiht einem Kirch-
hofe den besonderen Reiz der Ansiedlung zahlreicher Singvögel. Wie sehr
durch letztere der hygienische Wert des betreffenden Platzes in dem bereits
erwähnten idealeren Sinne gehoben wird, bedarf nicht der näheren Aus-
führung.
Was weiterhin den eigentlichen Betrieb der Kirchhöfe anbetrifft, so
ist derselbe durch die zustehende Behörde genau zu regeln und durch einen
eigenen Beamten zu überwachen, dem am besten seine Wohnung in unmittel-
barer Nähe des Begräbnisplatzes angewiesen wird. Wo auf dem letzteren eine
Leichenhalle vorhanden ist, wird man die Wohnung des Friedhofsinspectors
zweckmässig derart mit derselben verbinden, dass er sie bequem allezeit über-
wachen kann. Die Benutzung des Kirchhofs muss von Anfang an unter Zu-
grundelegung eines festen Planes geschehen. Zu dem Zwecke ist von ihm
ein genauer Situationsplan anzufertigen, auf dem nicht allein die thatsäch-
lichen Raumverhältnisse getreu wiedergegeben und etwa vorhandene Gebäude,
Brunnen etc. aufgezeichnet werden, sondern auch der Platz für jedes ein-
zelne zukünftige Grab genau vorzusehen und mit seiner laufenden Nummer
zu bezeichnen ist. Der Beamte hat über den gesammten Friedhofsbetrieb
Journal zu führen, speciell über jede Beerdigung Namen und Geschlecht,
Alter, Stand, Wohnort etc. der begrabenen Leiche einzutragen und die Lage
des ihr angewiesenen Grabes, sowie seine Nummer auf dem Situationsplan
dazu zu bemerken. Befinden sich auf dem Kirchhofe erbliche Grabstätten,
Familiengrüfte u. s. w., so sind auch betreffs dieser alle irgend wissenswerten
Angaben, wie die Namen der Benutzungsberechtigten, Zeit und Art der Er-
werbung, Dauer der Berechtigung, geschehene Bestattungen u. dergl. m. sorg-
fältig zu buchen.
Bei einer aus Angehörigen verschiedener Religionsbekenntnisse ge-
mischten Bevölkerung wird es meist gerathen sein, behufs Vermeidung con-
576 LEICHENWESEN.
fessioneller Reibungen schon bei der Anlage des Begräbnisplatzes jeder Reli-
gionsgemeinschaft ihr eigenes Gebiet anzuweisen.
Einer der hygienisch wichtigsten Punkte im Kirchhofsbetriebe betrifft die
Grösse des jedem einzelnen Grabe gewährten Antheiles an dem gesammten
verfügbaren Bodenräume, hinsichtlich dessen sowohl die Tiefe der Gräber, als
auch die für jedes Grab zu berechnende Bodenfläche eine bedeutsame Rolle
spielt. Die für die betreffenden Maassverhältnisse ausschlaggebenden Gesichts-
punkte sind einmal der Wunsch einer möglichst ökonomischen Ausnutzung
der zu Gebote stehenden Platzfläche für die grösste zulässige Anzahl von
Gräbern, und zweitens die einer zu weit gehenden Bodenersparung entgegen-
tretende hygienische Forderung, dass das die Leiche bedeckende Erdreich eine
hinreichend dicke Schicht darstellen muss, um die aus dem Boden in die
atmosphärische Luft entweichenden Zersetzungsgase unschädlich und dem
menschlichen Geruchsorgane nicht mehr wahrnehmbar werden zu lassen; ebenso
muss die zwischen je zwei Gräbern stehenbleibende Erdwand nach allen vier
Seiten des Sarges hin so dick sein, dass gelegentlich der Aushebung eines
neuen Grabes neben einem bereits belegten Grabe erstens keine üblen Ge-
rüche bemerkt werden,, und zweitens nicht etwa die zwischen beiden Gräbern
stehengebliebene Brücke festen Erdreichs einstürzen kann, sobald sie von
Menschen und namentlich von den mit der Last eines gefüllten Sarges be-
schwerten Leichenträgern betreten wird.
Allgemein giltige Bestimmungen lassen sich betreffs dieses Punktes deshalb nicht
aufstellen, weil die verschiedenen Bodenarten in dieser Hinsicht recht unterschiedliche An-
forderungen bedingen. Je zahlreichere und grössere Poren ein Boden besitzt, d. b. im
allgemeinen: je lockerer und trockener er ist, um so eher werden die Ränder des ausge-
schachteten Grabes zum Abstürze neigen, um so leichter und schneller werden die Zer-
setzungsgase durch ihn hin durchzutreten vermögen, und um so dicker werden deshalb die
den Cadaver umhüllenden Erdschichten gewählt werden müssen. Andererseits aber ven-
tiliren durch einen Boden von der gedachten Beschaffenheit weit reichlichere Mengen immer
frischer Luft hindurch, so dass die austretenden Luftmengen um so geringere Concentra-
tionen der Leichengase mit sich führen. Infolge dieser etwas complicirten Verhältnisse
ist es behufs Feststellung der erforderlichen Tiefe der Gräber und der nöthigen Stärke der
zwischen je zwei Gräbern übrigbleibenden Erdwand das Zweckmässigste, für jeden einzelnen
Kirchhof die betrefi"enden Maasse durch eine Reihe vorläufiger Versuche zu ermitteln. Ist
der Boden in einem nur massigen Grade geeignet, ein Abstürzen der Grabränder zuwege
kommen zu lassen, so gelingt es leicht, dem gefnrchteten Uebelstande dadurch vorzu-
beugen, dass man die Grube an ihrem oberen Rande weiter macht und erst allmählich
derart enger werden lässt, dass sie an ihrer Sohle den ihr ursprünglich zugedachten Um-
fang erhält. Doch ist dieses Hilfsmittel nur bei einem Boden von einem immerhin noch
massig festen Gefüge anwendbar. Ist das Erdreich sehr locker, so gewährt es entweder
doch nicht die ausreichende Sicherheit, oder aber, man müsste die Grube mit so flach ab-
fallenden Seitenwänden herstellen, dass sie eine ganz unverhältnismässige Weite erhalten und
vielleicht gar in das Gebiet der benachbarten Gräber übergreifen müsste. Dagegen würden
natürlich die Besitzer der letzteren entschiedenen Einspruch erheben. Um alle auf solche
Weise entstehenden Unzuträglichkeiten zu vermeiden, kann man sich selbst bei ungewöhn-
lich lockeren Bodenarten dadurch helfen, dass man die Grubenwände mittels Bretterwerk
stützt. Sehr praktisch ist dazu eine einfache Vorrichtung, die man auf vielen Kirchhöfen
in Gebrauch sieht. Ein der vorgeschriebenen Flächengrösse des einzelnen Grabes ent-
sprechender, je nach der grösseren oder geringeren Festigkeit des Erdreichs niedriger oder
höher gebauter Rahmen aus starken Holzbrettern, der gewissermaassen einen Kasten ohne
Deckel und Boden darstellt, wird auf den Platz gelegt, auf dem das Grab ausgeschaufelt
werden soll; und nun wird die von ihm umrahmte Erde derart ausgehoben, dass er, die
Ränder der entstehenden Grube knapp berührend, in den Erdboden einsinkt, bis er durch
übergreifende Leisten an seinem oberen Rande am Tiefertreten gehindert wird. — Was die
Tiefe der Gräber anbetrifft, so darf man nicht etwa glauben, um so sicherer alle Unzu-
träglichkeiten zu vermeiden, je tiefer man die Leichen in die Erde bette; wie bereits an
früherer Stelle erörtert wurde, muss man es auf alle Fälle vermeiden, die Cadaver in zu
grosse Nähe über der Grundwasser führenden Schicht oder gar in das Grundwasser selbst
hinein zu verlegen. Die rücksichtlich der Tiefe der Gräber erlassenen Vorschriften der ver-
schiedenen zuständigen Behörden weichen sehr weit von einander ab. Die grösste Tiefe
verlangt die Kirchhofsordnung von Heilbronn mit 8 Fuss = 2*3 Meter, die geringste ge-
statten die Regierungen von Arnsberg und Stralsund mit 5 Fuss (preussisch) := 1-41 Meter;
bei ungünstigen Grundwasserverhältnissen darf im letztgenannten Regierungsbezirk sogar
LEICHENWESEN. 577
eine Gräbertiefe von nur 4 Fuss in Anwendung gebracht werden, in welchem Falle frei-
lich die Aufschüttung eines mindestens 2 Fuss hohen Grabhügels vorgeschrieben wird.
Im allgemeinen darf die an sehr vielen Orten ziemlich übereinstimmend geforderte Tiefe
von 1-85 bis 2 Meter (meist sind 1-88 Meter vorgeschrieben) als durchaus zweckentsprechend
gelten. Es möge hier jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass von Seiten einiger Hygieniker
einer weit geringeren als der bisher üblichen Tiefe der Gräber das Wort geredet wird.
Wenngleich die Angabe FiÜpells, ^) dass man über den nur sehr oberflächlich angelegten
Soldatengräbern auf den böhmischen Schlachtfeldern von 1866 „nirgends auch nur die
leiseste Andeutung eines üblen Geruches" wahrgenommen habe, und dass deshalb Ver-
suche mit 4 Fuss tiefen Gräbern keine ungünstigen Erfolge ergeben würden, von anderer
Seite 2) nicht bestätigt worden ist, so meint doch auch z. B. Schuster,^) „die bis jetzt
übliche Tiefe von sechs Fuss habe keine weitere Stütze für sich als das Herkommen."
Als Vortheile einer weniger tiefen Eingrabung der Leichen nennt er 1. die grössere
Schnelligkeit der Verwesung; 2. die Verminderung der Arbeit; 3. die grössere Entfernung
der Leiche vom Grundwasser. Vielfach gestatten die Kirchhofsordnungen wenigstens
für Kindergräber geringere Tiefen als für diejenigen erwachsener Personen, durch-
schnittlich für Kinder bis zu zehn bis zwölf Jahren circa 1-5 Meter. (Kirchhof der
Werderschen Gemeinde in Berlin für Kinder bis zu zehn Jahren: nur 3 Fuss — 094
Meter; München für solche bis zu sechs Jahren: 0 87 Meter, zwischen sieben und
elf Jahren: 1-16 Meter, unter Vorschrift eines Grabhügels von mindestens 043 Meter Höhe.)
Im Principe ist die Annahme, dass ein Grab um so weniger tief zu sein brauche, je kleiner
die Leiche, wohlberechtigt; denn je geringer die Menge des der Zersetzung anheimfallenden
Materials, um so dünnere Erdschichten genügen natürlich zur Unschädlichmachung der ge-
bildeten Zersetzungsproducte. — Nicht minder verschieden, als rücksichtlich der Tiefe,
sind die von den unterschiedlichen Kirchhofsverwaltungen betreffs der für das Einzelgrab
zu beobachtenden Flächenausdehnung gegebenen Vorschriften. Die Grösse der ver-
langten Bodenflächen schwankt in den verschiedenen Orten resp. Ländern zwischen 2 2 und
7-46 Quadratmetern für das Grab eines Erwachsenen. *) Schuster hält für alle in Be-
tracht kommenden Bodenarten folgende Maasse für die zweckmässigsten : Länge der Grabes-
sohle 200 CAM, Breite derselben 100 cm, Dicke der Zwischenwandungen sowohl nach der
Länge wie nach der Breite 60 cm, somit Gesammtfläche für ein Grab 4-16 Quadratmeter. Da-
bei entspricht natürlich der auf die Stärke der Zwischenwandungen berechnete Raum den
kleinen zwischen je zwei Gräbern gelegenen Wegen. Für Kindergräber sind natürlich
geringere Flächenmaasse ausreichend; auch in diesem Punkte weisen die bestehenden
Verordnungen- grosse Abweichungen auf. Schuster empfiehlt, entgegen der vielerorten
üblichen Scheidung der zu Beerdigenden in drei und mehr Altersklassen, nur zwei solche
aufzustellen, nämlich alle unter zehn Jahre alt Verstorbenen als Kinder, dagegen alle, die
dieses Alter überschritten hatten, als Erwachsene zu behandeln, und je zwei Kinderleichen
in einem für einen Erwachsenen bestimmten Grabe zu bestatten. Der genannte Autor
hält dieses, theilweise z. B. auf den Münchener Kirchhöfen gebräuchliche Verfahren na-
mentlich deshalb für zweckmässig, weil es ermöglicht, lauter Gräber von gleicher Grösse
zu erhalten; das aber gestattet, sämmtliche Gräber in gleichmässigen Reihen anzuordnen,
und gewährleistet somit die denkbar sparsamste Ausnutzung der Gesammtfläche des Be-
gräbnisplatzes. Daneben legt er Gewicht darauf, dass das Benutzen der Gräber der Rei-
henfolge nach auch im Interesse der Salubrität geboten sei, da bei einem solchen Modus
das Erdreich nur in der Umgebung der erst in allerjüngster Zeit bestatteten und daher
meist noch nicht in lebhaftester Zersetzung befindlichen Leichen aufgegraben wird, weshalb
auch die Todtengräber nicht in einem bereits in weiter Ausdehnung mit Fäulnisstoffen
durchsetzten Boden zu arbeiten haben. An manchen Orten wird die ausnahmslose Anord-
nung aller Gräber in gleichmässigen Reihen streng durchgeführt, und von der Friedhofs-
verwaltung zur Zeit immer nur ein einziger, durch die laufende Nummer bestimmter
Platz für jede Einzelbeerdigung gewährt. Es ist nicht zu leugnen, dass darin für die
Angehörigen fest zusammenhaltender Familien eine Härte liegt. Jedenfalls ist die noch
weit verbreitete Sitte, nach der sich die an einem Orte festgewurzelten Familien auf dem
allgemeinen Begräbnisplatze bei dem ersten Todesfalle in ihrem Kreise einen grösseren,
der Kopfzahl der Familienmitglieder entsprechenden Raum für spätere Todesfälle reserviren,
als wohlberechtigt anzuerkennen.
Der für jedes einzelne Grab in Anschlag gebrachte Flächenrauni ist zu-
gleich einer der Hauptfactoren für die bei der Neuanlage eines Friedhofes
unumgängliche Berechnung der erforderlichen Ausdehnung der Gesammtboden-
^) RÜPELL, Ueber die Wahl der Begräbnisplätze. Vierteljahrsschr. f. gerichtl. u. öffentl.
Medicin. N. F. Bd. VIII. Heft 1. S. 36.
^) Dr. Adolf Schuster (München): „Beerdigungswesen" in v. Ziemssen's Hand-
buch der Hygiene u. d. Gewerbekrankheiten, IL Theil. 1. Abtheilung. 1. Hälfte. Seite 344.
^) Am eben angeführten Orte.
*) RiECKE, Ueber den Einfluss der Verwesungsdünste etc. Seite 182 ff.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. "•
578 LEICHENWESEN.
fläche. Ausser ihm sind für diese Aufstellung maassgebend die Bevölkerungs-
zahl (eventuell die Mitgliederzahl der Gemeinde etc.) und die durchschnitt-
liche Sterblichkeitsziifer, sowie endlich der sogenannte „Begräbnisturnus",
d. h. die Zeitdauer, während welcher der einmal mit einem Grabe belegte
Kaum nicht wieder zu einer neuen Beerdigung benutzt werden soll. Die
umsichtige Verwertung aller dieser Momente ist ein aus praktischen Gründen
ungemein wichtiges Erfordernis, da bei einem etwa plötzlich und unerwartet
eintretenden Mangel an Begräbnisstätten eine sehr peinliche Verlegenheit und
unverhältnismässig hohe Kosten erwachsen können. Ist doch die Anlage
eines Begräbnisplatzes eine Aufgabe, die eingehende, nach den verschiedensten
Seiten hin gerichtete Rücksichten, Erwägungen und Vorbereitungen erheischt.
Wenn irgend thunlich, ist auch jeder Kirchhof von vornherein so anzulegen,
dass er auf lange Zeit hinaus jede nöthig werdende Erweiterung gestattet, da
die Kosten einer solchen unter allen Umständen weit hinter denen zurück-
bleiben, welche die Einrichtung eines ganz neuen Friedhofes verursacht. Bei
der Festlegung des Kirchhofsplanes genügt es, wie wir sahen, für jedes Grab
einen Flächenraum von vier Quadratmetern in Anschlag zu bringen, wobei
die zwischen den einzelnen Gräbern gelegenen kleineren Wege bereits mit-
berechnet sind. Zur Anlegung der breiteren Wege ist nach Riecke der achte
Theil von dem für die Belegung mit Gräbern bestimmten Terrain in Anschlag
zu bringen.
An manchen Orten herrscht die Sitte, dass wohlhabende Familien ihre
Verstorbenen in einer von der gewöhnlichen etwas abweichenden Weise be-
statten. So verschmähen manche die eigentliche unmittelbare Eingrabung
der Särge in die Erde und stellen sich darum durch Ausmauerung einer
grossen tiefen Grube eine Art von unterirdischen Leichenkammern
(Grüften) her, deren Decke bei den umfangreicheren durch ein Mauer-
gewölbe mit einer durch Eisen- oder Steinplatten verdeckbaren Einlassöffnung
für die Särge, bei den für nur einen Leichnam bestimmten einfach durch
ebensolche Platten gebildet wird. Aus hygienischen Gründen ist die Bei-
setzung in derartigen Grüften nicht zu empfehlen. Unter allen Umständen
muss streng darauf geachtet werden, dass die Sohle der Gruft selbst beim
höchsten Grundwasserstande von dessen Spiegel niemals erreicht wird. Aber
auch wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann die gedachte Art der Bestattung
der eigentlichen Beerdigung hygienisch nicht gleichwertig erachtet werden.
Zwar pflegt die Zersetzung der Leichen in solchen Grüften meist ebenso schnell
und vollkommen vor sich zu gehen, wie in den gewöhnlichen Gräbern. Sehr viel grösser
als bei letzteren, aber ist die Gefahr einer die Umgebung verpestenden Emanation von
Leichengasen, die eben bei der gewöhnlichen Beerdigung durch die absorbirende Kraft des
Erdreiches und infolge der bereits im Bereiche der Bodenluft stattfindenden starken Ver-
dünnung der übelriechenden Ausscheidungen verhindert wird. In den Grüften pflegt die
eingeschlossene Luft zu stagniren, so dass sie reichlich Zeit gewinnt, sich mit hohen Con-
centrationsgraden der Zersetzungsgase zu beladen; deshalb können sich die geringen, in
die freie Atmosphäre entweichenden Theile dieser Luft in der nächsten Nähe der Gruft
deutlich und belästigend bemerkbar machen. Dieser Uebelstand lässt sich auch durch die
Anbringung von Ventilationsrohren meist nicht vollkommen beseitigen. Das Zweckmässigste
ist es immer noch, die oberen Ränder der die Gruft umschliessenden Mauern um einen
oder mehrere Fuss über das Niveau des Erdbodens emporzuführen, durch sie hin-
durch mittels reichlicher, an allen Seiten der Gruft eingemauerter, siebartig durchbrochener
Gitter eine ausgedehnte Communication zwischen der freien Atmosphäre und der Gruben-
luft herzustellen, und den ganzen die Erdoberfläche überragenden Theil der Grabkammer
mit einem ziemlich hohen Hügel von lockerem Erdreich zu überkleiden So findet unter
dem Einflüsse des Winddruckes, der von allen Seiten her durch die Gitter hindurch
wirken kann, eine Ventilation der Gruft und ausserdem auch eine Filtration der austretenden
Luft durch eine Erdschicht statt.
Eine andere, mancherorten beliebte Abweichung von dem gewöhnlichen
Bestattungsmodus ist die Beisetzung der Leichen in überirdischen
Grüften. Auf vielen Kirchhöfen findet man zahlreiche grössere und kleinere
derartige, meist im Kapellenstyl ausgeführte Gebäude. Oft sieht man die-
LEICHENWESEN. 579
selben, in ununterbrochener Reihe nebeneinander stehend, die ganze Peripherie
des Kirchhofes umgeben, worin vielleicht manche Kirchhofsverwaltung den
Vortheil schätzt, dass damit die Herstellung einer auf ihre Kosten zu er-
bauenden festen Umfriedung des Platzes entbehrlich wird. Diese Anordnung
hat aber den hygienischen Nachtheil, dass die immerhin meist wenigstens
anderthalb Mann hohen Gebäude den Kirchhof in mehr als wünschenswerter
Weise gegen den Wind abschliessen, dessen volle Wirkung zu einer möglichst
raschen Ableitung aller den Gräbern entströmenden Gase so wenig wie mög-
lich ausgeschlossen werden sollte.
Im übrigen ist gegen diese überirdischen Grüfte deshalb weniger einzuwenden als
gegen die vorher besprochenen, weil es ein leichtes ist, sie mittels geeigneter Ventilations-
anlagen dauernd in so ausreichendem Maasse zu lüften, dass eine schädliche Stagnation
der Verwesungsgase mit Sicherheit ausgeschlossen bleibt; durch einige in verschiedenen
Höhen des eingeschlossenen Luftraumes beginnende und über Dach geführte Abzugsrohre
in Verbindung mit einem weiteren Zuleitungsschacht, der — seinerseits über dem Dache
beginnend und nahe dem Erdboden im Innern der Gru.ft endigend — mittels eines automa-
tisch drehbaren Trichters jederzeit den AVind auffängt, kann man alle Leichengase in_ eine
so hochgelegene Schicht der Atmosphäre führen, dass sie niemals belästigend zu wirken
vermögen. Trotzdem bieten auch diese Grüfte einen grossen hygienischen Nachtheil. Die
Familien, welche eine solche für ihre verstorbenen Angehörigen benutzen, haben den sehr
natürlichen "Wunsch, jede Möglichkeit thunlichst auszuschliessen, dass sie bei einem Be-
treten der Grabstätte durch Verwesungsdünste belästigt werden könnten, sei es nun, dass
es sich um eine neue Beisetzung handelt oder dass sie auch sonst von Zeit zu Zeit die
Särge ihrer Lieben besuchen und frisch schmücken möchten. Deshalb pflegen sie auch,
wenn sie der hohen Kosten wegen auf luftdicht schliessende Metallsärge verzichten, doch
ganz besonders starke, auf möglichst genauen Schluss gearbeitete und mit einer luftdicht
verlöthbaren Zinkeinlage versehene Holzsärge zu wählen, die sich thatsächlich fast herme-
tisch abschliessen lassen. In derartigen Särgen aber erleiden die gewöhnlichen Zersetzungs-
vorgänge Modificationen, wie sie hygienisch keineswegs erwünscht sind. Bei dem fast voll-
kommenen Luftabschlass wird das geringe Quantum vorhandenen Sauerstoffs rasch auf-
gezehrt, die ganze Zersetzung verläuft in sehr verlangsamtem Tempo und es nimmt, da
die Entwicklung der die Verwesung verursachenden sauerstoffbedürftigen Schimmelorga-
nismen ausgeschlossen ist, die durch anaerobe Fäulniskeime geleitete Fäulnis überhand,
die, wenn die Leiche von Hause aus ungewöhnlich stark wasserhaltig ist, stellenweise so-
gar der Adipocirebildung Platz machen kann.
Särge. Die Construction der heutzutage bei der Leichenbestattung so
gut wie ausschliesslich gebrauchten Särge ist auch bei der gewöhnlichen
Beerdigung der Leichen von hygienischer Bedeutung. Ihr Zweck ist in den
Augen des Laien ein vorwiegend ästhetischer, nämlich der, dem Verstor-
benen bereits während der kurzen Zeit vpr der Bestattung, namentlich aber
für die Ueberführung zur Stätte seiner letzten Ruhe eine zweckdienliche und
würdige Hülle zu gewähren, und ihn während und nach der eigentlichen
Beerdigung vor der directen Berührung mit der „schmutzigen" Erde zu be-
hüten. Für den Hj'gieniker aber kommt ausserdem auch der Einfluss in
Betracht, welchen der Sarg auf den Verlauf der Leichenzersetzung ausübt.
Die letztere wird, wie wir soeben sahen, um so mehr verzögert und zu
Gunsten der Fäulnis beeinträchtigt, je dichter luftabschliessend der Sarg in-
folge der Eigenart seines Materials und infolge seiner Bauart wirkt. Da-
gegen kann derselbe die Zersetzung beschleunigen und unter Begünstigung
der Verwesung und Vermoderung beeinflussen, w^nn er bei nur unvollkomme-
nem Verschlusse den Zutritt atmosphärischer Luft zur Leiche gestattet.
Gewährleistet er doch dann das Vorhandensein eines grösseren mit sauerstoff-
haltiger Luft gefüllten Raumes in der unmittelbaren Umgebung des Cadavers.
Zugleich gestattet er bei undichtem Verschluss der Bodentheile ein fort-
währendes Absickern der gebildeten flüssigen Zersetzungsproducte, die bei
ihrem weiteren Durchtritt durch das Erdreich im Contacte mit der sehr aus-
gedehnten Berührungsfläche der Bodenluft weit schneller weiter zerlegt
werden, als wenn sie in grösseren und tieferen Lachen um die Leiche
stagniren müssten. Ein den Durchtritt von Flüssigkeiten verhindernder Ver-
schluss ist allein seitens des Sargdeckels von Vortheil, damit nicht bei lang
37*
580 LEICHENWESEN.
andauernden reichlichen atmosphärischen Niederschlägen, die das ganze über
dem Sarge gelegene Erdreich vollständig mit Wasser durchtränkt haben, die
auf ihm lastende Wassersäule durch den Sargdeckel hindurch ihren Weg zur
Leiche finden könne. Deshalb erweist es sich als zweckmässig, den Deckel
aus festen Brettern so zu bauen, dass die oberen Bretter dachziegelartig über
die tieferen hinübergreifen. Sind bei dieser Bauart des Deckels die Seiten-
theile und der Boden des Sarges undicht, so werden, sobald der Boden stark
durchfeuchtet ist, genügende Mengen Wassers zu der Leiche heranzudringen
vermögen, um die Verwesung zu unterhalten, ohne doch ein Uebermaass an
Feuchtigkeit zustande kommen zu lassen, welches wieder die Fäulnis begün-
stigen oder bei langer Dauer gar Adipocirebildung veranlassen könnte. So
ist also ein hölzerner Sarg mit undichten Seiten- und Bodentheilen, dagegen
mit festem, undurchlässigem Dache der praktischeste.
Nägeli, '^) der sich mit dem Studium aller hierhergeliörigen Fragen am eingehendsten
befasst hat, schlägt daher vor, dem Sarg einen übergreifenden Deckel von möglichst hartem
Holze zu geben und die Seitenwände, sowie den Boden mit zahlreichen Bohrlöchern zu
versehen oder gar nur aus Latten mit möglichst grossen Zwischenräumen zu bilden. „Das
Allerbeste wäre es," nach diesem Autor, „vielleicht, wenn der in die Todtengewänder ge-
hüllte Leichnam unmittelbar auf die mütterliche Erde gelegt und nur mit einem gewölbten
Sargdeckel bedeckt würde." Einer allgemeinen Einführung dieser Bestattungsweise dürften
sich wohl dieselben Einwände aus ästhetischen Gründen entgegensetzen, die schon seiner-
zeit zur Wiederaufhebung einer Verordnung Kaiser Josephs H. führten, welche bestimmt
hatte, dass alle Leichen ganz ohne Sarg, nur in einen Sack gehüllt, beerdigt werden
sollten.
Kleidung. Von einigem Einfluss auf die Leichenzersetzung, wenn auch
von weit geringerem als der Sarg, ist die den Leichnam umhüllende Kleidung.
Je dichter und weniger durchlässig für Luft die Stoffe der Leichengewänder
sind, um so mehr vermögen sie infolge des erschwerten Luftzutritts die Zer-
setzungsvorgänge zu verzögern. Wo es Sitte ist, die Verstorbenen mit hohen
engen Schaftstiefeln an den Füssen zu bestatten, beobachtet man häufig, dass
die in den Stiefeln verborgenen Theile der Leiche entweder mumificirt oder
bei Gegenwart reichlicher Feuchtigkeit zu Adipocire verwandelt werden.
Aehnlich können feste Tuchstoffe, zumal Wolle und Baumwolle, wirken, die,
wenn sie mit Wasser durchtränkt sind, für Luft fast undurchgängig werden.
Deshalb sollte man die Leichen nur mit den unentbehrlichsten Kleidungs-
stücken versehen, und auch diese nur aus leichtester, locker gewebter Lein-
wand fertigen.
Massengräber. Wo es sich darum handelt, eine grosse Anzahl von
Leichen mit einem möglichst geringen Kostenaufwand zu bestatten, da hat
man häufig zu der Anlage sogenannter Massengräber seine Zuflucht genommen.
So hat man namentlich auf den für die Beerdigung der Leichen aus den
ärmsten Volksschichten bestimmten Theilen der alten Kirchhöfe von Paris,
London, Rom, Mailand und vieler anderer grosser Städte vielfach umfang-
reiche tiefe Gruben angelegt, in welche man die Leichen meist ohne Särge
nebeneinander legte, bis die ganze Sohle der Grube von Cadavern bedeckt
war. Auf die erste Schicht Leichen legte man eine dünne Decke von Erde,
um auf diese eine zweite Lage von Leichen zu betten, und so weiter, bis die
Grube bis wenige Fuss unter der Erdoberfläche gefüllt war, und dann völlig
zugeschüttet wurde. Derartige Massengräber sollten aus verschiedenen Grün-
den nicht auf den Kirchhöfen geduldet werden. Bei einer so bedeutenden
Anhäufung von Leichen kommen die die Zersetzung begünstigenden Ein-
flüsse des Erdreichs nur den in der äussersten Peripherie der Grube gelegenen
Cadavern zu gute. Die mehr central gelegenen werden so gut wie vollständig
von dem Zutritte aller Luft abgeschlossen und fortwährend von den flüssigen
Zersetzungsproducten des ganzen grossen Fleischhaufens durchtränkt. Infolge-
*) Nägeli, Die niederen Pilze etc. München 1877. Oldenbourg. S. 259.
LEICHENWESEN. 581
dessen tiberwiegt in der Mitte des Massengrabes die Fäulnis, die sogar zu-
meist nach einiger Zeit in Fettwachsbildung übergeht. Auf diese Weise wird
der gesammte Zersetzuugsverlauf ungemein in die Länge gezogen, und werden
auch sonst gerade diejenigen Zustände erzielt, die eine rationelle Kirchhofs-
pflege zu vermeiden bemüht ist. Zu geradezu unerträglichen Folgen aber
führt diese Einrichtung, wenn es einmal nöthig wird, etwa aus forensischen
Gründen, aus dem Massengrabe eine bestimmte Leiche wieder herauszuheben.
In vielen Fällen wird es kaum möglich sein, den gesuchten Leichnam aus
dem faulenden stinkenden Haufen wieder herauszuerkennen, unter allen Um-
ständen aber wird die Aufsuchung eine höchst widerwärtige Aufgabe sein,
deren Ausführung auch die benachbarten Theile des ganzen Kirchhofs durch
unerträglichen Aasgestank belästigen wird. Auf geordneten Kirchhöfen macht
man deshalb von Massengräbern heutzutage fast nirgends mehr Gebrauch.
Unvermeidlich aber ist ihre Benutzung auch jetzt noch auf den Schlacht-
feldern. Doch hat man auch auf diesen in letzter Zeit mancherlei früher
mit ihrer Anlage verknüpfte Uebelstände zu vermeiden gelernt. Nägeli*)
schlägt vor, sie in Zukunft in der folgenden Weise zu gestalten, wobei ein
Hauptaugenmerk darauf gelegt wird, etwaige Uebelstände durch möglichste
Trockenlegung der ganzen Anlage zu vermeiden:
„Auf dem zur Begräbnisstätte ausgewählten Platze wird der Rasen sammt dem
Humus entfernt und ohne tiefer zu graben, die Leichname neben und übereinander darauf
gelegt und dabei womöglich durch Lagen von Kies und Sand, auch durch Reisig von
einander getrennt. Dann wird rings um diese Stätte ein Graben ausgehoben und, nach-
dem zuerst wieder Humus und Rasen bei Seite geschafft wurden, mit dem gewonnenen
Untergrunde der Leichenhaufen bedeckt. Auf den Untergrund kommt dann aller verfüg-
bare Humus und Rasen wenigstens in der Mächtigkeit von 1 Meter. Man hat nun einen
von einem Graben umgebenen Leichenhügel von möglichst trockener Beschaffenheit, in
welchem die Fäulnis bald in Verwesung übergehen wird."
Chemische Mittel zur Beförderung der Verwesung. Um das bei jeder
Leiche zuerst die Zersetzung einleitende Stadium der Fäulnis möglichst ab-
zukürzen und thunlichst bald in dasjenige der Verwesung und Vermoderung
überzuleiten, hat man vielfach den Vorschlag gemacht, die Leiche mit be-
stimmten chemischen Mitteln zu umgeben, die in dem gedachten Sinne wirken
sollten. In Betracht kommen hier alle Chemikalien, die auf die Erhaltung und
Entwicklung der Fäulnispilze feindlich, auf jene der Schimmelpilze da-
gegen günstig einzuwirken vermögen; namentlich sind dies Säuren, wie
Schwefelsäure, Salzsäure, Oxalsäure, Weinsäure u. a., und Salze, unter denen
das gewöhnliche Kochsalz, Chlornatrium an erster Stelle zu nennen ist. Für
gewöhnlich ist die Anwendung derartiger Mittel durchaus entbehrlich; unter
besonderen Umständen dagegen mag sie sich hin und wieder doch empfehlen;
es sei z. B. nur an den gar nicht seltenen Fall erinnert, dass man aus irgend
welchen Gründen genöthigt ist, einem Leichnam, den man erst später an den
endgiltigen Ort seiner letzten Ruhe überführen kann, auf einige Zeit einen
provisorischen Begräbnisplatz anzuweisen; hier hat man natürlich ein Interesse
daran, dass der Cadaver zur Zeit der beabsichtigten Wiederausgrabung und
Ueberführung das Stadium der stinkenden Fäulnis bereits überwunden habe.
Nägeli empfiehlt, entweder Kochsalz oder Weinsäure oder auch diese beiden Sub-
stanzen zugleich zu verwenden. Für den Leichnam eines Erwachsenen, dem er ein durch-
schnittliches Gewicht von 60 Kilogramm zuschreibt, berechnet er 7 Kilogramm Kochsalz
(ohne Säure) oder 1^2 Kilo Weinsäure (ohne Salz), die er theils in die Brust- und Bauch-
liöhle der geöffneten Leiche, theils in die Todtenge wänder zu bringen räth. Wird das
Oeffnen des Leichnams nicht gewünscht, so genüge es auch, denselben nur äusserlich mit
den genannten Substanzen zu umgeben, doch sei alsdann eine etwas grössere Menge er-
forderlich, etwa 10 Kilo Kochsalz oder 2-15 Kilo Weinsäure. Es möge hier auch eines von
Francis Seymoür Haden und E. Hornemann^) gemachten Vorschlages gedacht werden;
*) Nägeli, Die niederen Pilze etc. München, 1877. Olclenbourg. S. 261.
^) Hygienische Abhandlungen. Deutsche Uebersetzung von E. Liebich. Braunschweig
1881. Vieweg und Sohn. Seite 82.
582 LEICHENWESEN.
zwecks Unschädlichmachung aller bei der Leichenzersetzung entstehenden übelriechenden
Producte empfahlen sie, die Leichen im Sarge mit einer dichten Schicht von Kohlenpulver
zu umgeben, welches bekanntlich in höchstem Maasse die Fähigkeit besitzt, riechende
Substanzen durch Absorption zu desodorisiren ; in etwas geringerem Maasse kommt diese
Fähigkeit auch allen lockeren humusreichen Pulvern, z. B. Torfpuder, zu, worauf bekannt-
lich die Construction der geruchlosen Torfpuder-Zimmerclosets beruht. Nach dem Ver-
fahren der genannten Autoren soll der gänzlich unbekleidete Leichnam in einem Sarge
mit undichten Wänden, die also entweder aus Weidenwerk geflochten, aus einzelnen Latten
hergestellt oder mit zahlreichen Bohrlöchern versehen sind, derart in Kohlenpulver gänz-
lich eingebettet werden, dass das letztere ihn allerseits in einer mehrere Zoll dicken Schicht
umgibt. Thatsächlich verläuft bei dieser Anordnung die Zersetzung rasch und völlig ge-
ruchlos (Stenhouse ^). Doch bietet das Verfahren bei der Kirchhofsbestattung keine Vor-
theile, da eben das Erdreich allein schon die Dienste des Kohlenpulvers in ausreichendem
Maasse leistet. Nur wo sich, etwa auf einem Friedhof mit ungewöhnlich lockerem Kies-
boden auch bei der zulässigen tiefsten Eingrabung der Leichen Fäulnisgerüche bemerkbar
machen sollten, wird man sich mit Vortheil des Kohlenpulvers oder einer Torfpuderstreuung
in den Särgen bedienen können; desgleichen kann das Verfahren bei der freien Beisetzung
in Grüften Nutzen gewähren.
Begräbnistui-nus. Eine Frage von grosser praktischer Bedeutung ist
es, wie lange Zeit man verstreichen lassen müsse, bevor man den einmal mit
Leichen beschickten Kirchhof aufs neue zu weiteren Beerdigungen verwenden
dürfe. Den von der Kirchhofsverwaltung bestimmten Zeitraum, welcher
zwischen zwei Beerdigungen an derselben Stelle inne gehalten werden muss,
nennt man den ,, Begräbnisturnus". Hygienisch geurtheilt, muss dieser
Zeitraum so gross sein, dass man bei der Wiederaufgrabung der alten Grab-
stätte nicht allein keine Spur von den Weichtheilen der Leiche mehr findet,
sondern dass auch der Boden keine riechenden Zersetzungsgase mehr aus-
strömen kann und namentlich auch beim Befeuchten durch Wasser nicht mehr
zu stinken beginnt. Der völlige Zerfall der Knochen, die bekanntlich oft
Jahrhunderte lang gut erhalten bleiben, braucht dabei nicht abgewartet zu
werden. Die für eine so vollkommene Zersetzung der beerdigten Leichen
erforderliche Spanne Zeit ist je nach der Bodenbeschaffenheit, nach dem
Feuchtigkeitsgehalte des Erdreichs und der herrschenden Temperatur so un-
gemein verschieden, dass sich für die Festsetzung des Begräbnisturnus keine
allgemein giltigen Regeln aufstellen lassen. Ein vergleichender Blick auf
die bestehenden gesetzlichen Bestimmungen verschiedener Orte, Bezirke etc.
zeigt uns ungeheuer weite Schwankungen in der Dauer des Turnus.
Die kürzeste Dauer, nämlich fünf Jahre, hat das französische Gesetz vom Jahre 181)4
festgesetzt; auf einigen Berliner Kirchhöfen dagegen sind 60 Jahre vorgeschrieben. Inner-
halb dieser Grenzen gibt es die mannigfachsten Abstufungen in dem festgelegten Zeiträume.
(München sechs Jahre; Mailand neun Jahre; Stuttgart zehn Jahre; Regierungsbezirk
Stralsund und desgl. Posen mindestens 16 Jahre, Württemberg 18 Jahre; Aarau 25—30
Jahre; Gotha '60 Jahre u. s. w.)- Aus diesen Zahlen ergibt sich, wie ungeheuer weit früher
die Ansichten betreffs der für die vollkommene Zersetzung eines Leichnams erforderlichen
Zeit auseinandergingen. Heutzutage ist man darüber infolge einer grossen Reihe prak-
tischer Untersuchungen ziemlich gut unterrichtet; namentlich haben dazu die Ergebnisse
von 150 Exhumationen beigetragen, die um das Jahr 1879 im Auftrage der sächsischen
Regierung von den sächsischen Bezirksärzten vorgenommen worden sind. Durch sie
wurde festgestellt, dass in Kies- und Sandboden Kinderleichen spätestens nach vier Jahren,
Leichname von Erwachsenen nach sieben Jahren bis auf die nackten Knochen und auf ge-
ringe Reste amorpher Humussubstanz zerfallen sind; in sehr feinkörnigem Sande wider-
stehen bisweilen nur einige Reste des in der knöchernen Schädelkapsel sehr gut bewahrten
Gehirnes noch längere Zeit. In Lehmboden brauchen Kinderleichen in der Regel fünf Jahre,
solche von Erwachsenen neun Jahre, doch kommt hier nicht ganz selten die Bildung von
Leichenwachs vor, dessen weiterer Zerfall dann längere Zeit beanspruchen kann. Schuster^)
zieht aus diesen Resultaten den Schluss, dass bei einem günstigen Kirchhofsboden in der
Regel ein zehnjähriger Turnus ausreichend und zweckentsprechend sei.
Bei der grossen Verschiedenheit der Zersetzungsdauer je nach den be-
sonderen Verhältnissen jedes einzelnen Kirchhofes dürfte es sich am meisten
empfehlen, jeder einzelnen Friedhofsbehörde die Festsetzung des Begräbnis-
^) Am eben angeführten Orte.
=) 1. c. S. 352.
LEICHENWESEN. 583
turnus nach ihren eigenen im Einvernehmen mit Sachverständigen gewon-
nenen Erfahrungen zu überlassen. Für Kindergräber sollte man überall ge-
ringere Turnusdauern festsetzen als für diejenigen Erwachsener; in München
hat sich die Bestimmung, dass für Gräber von Kindern bis zu zehn Jahren
die Hälfte des für Erwachsene festgesetzten Turnus innegehalten wird, durch-
aus bewährt. Einer zu weiten Ausdehnung der Turnusgrenze stellt sich das
praktische Bedürfnis entgegen, möglichst beschränkte Areale den Kirchhofs-
zwecken opfern zu müssen. Nach der anderen Seite hin sollte nicht allein
auf die Forderung der Bodenhygiene Bedacht genommen werden; wollte man,
wo solches der günstigen Bodenbeschafienheit entsprechend zulässig erschiene,
die Plätze älterer Gräber durchgehends bereits nach fünf oder sechs Jahren
aufs neue zu weiteren Beerdigungen benutzen, so würde man oft das Gefühl
der Pietät, welches mit Liebe an den Gräbern theurer Verstorbener hängt,
bei denjenigen ärmeren Leuten schwer verletzen, die nicht in der pecuniären
Lage sind, sich das Anrecht an der Begräbnisstätte nach Ablauf des ersten
Turnus für die Dauer eines zweiten oder noch mehrerer weiterer zu sichern.
Die nach Ablauf eines Begräbnisturnus auf der alten Begräbnisstätte zu be-
erdigenden Leichen werden am besten in die Zwischenräume zwischen je zwei
alten Gräbern eingebettet, wodurch die Freilegung der Knochen aus letzteren
nach Möglichkeit vermieden wird. Die an manchen Orten eingebürgerte Sitte,
die ausgegrabenen Gebeine in besonderen „Beinhäusern" zu sammeln und
decorativ aufzubauen, ist aus ästhetischen Gründen zu verwerfen. Wo die
Freilegung von Knochen bei einem späteren Turnus unvermeidlich ist, da
sollte die Kirchhofsverwaltung darauf halten, dass sie unter der Sohle der
neuen Gräber wieder in die Erde geborgen werden.
Schliessung von Kirchhöfen. Um die Mitte unseres Jahrhunderts
hat man vielerorten die damals meist inmitten der Städte um die Kirchen
herum gelegenen Begräbnisplätze, die eben daher den Namen der Kirchhöfe
führten, aus sanitären Kücksichten geschlossen. Wie mehrfach erwähnt, schrieb
man damals den beerdigten Leichen die Fähigkeit zu, durch Vergiftung von
Luft, Boden und Trinkwasser die Gesundheit der Lebenden zu gefährden und
die verderblichsten KrankTtieiten, wie Cholera, Typhus, Pocken u. a. zu er-
zeugen. In unseren Tagen geben derartige Befürchtungen nicht mehr die
Veranlassung zur Schliessung benutzter Beerdigungsstätten. Vielmehr liegt
die Ursache zu einer solchen Maassnahme heutzutage zumeist in Collisionen,
welche zwischen dem Kirchhofe und den Interessen des um sich greifenden
Lebens erwachsen, indem der erstere der weiteren Ausdehnung der wachsenden
Stadt, einer vergrösserungsbedürftigen industriellen Anlage oder dergl. hin-
dernd in den Weg tritt. Bisweilen wird die Schliessung auch deshalb noth-
wendig, weil der Kirchhof seine Aufgaben als solcher nur unvollkommen und
gar zu langsam erfüllt. Manche Friedhöfe, die ohne Rücksicht darauf an-
gelegt worden sind, ob ihr Boden eine schnelle und vollkommene Zersetzung
der Leichen zulasse, verwandeln die ihnen übergebenen Leichen gänzlich oder
theilweise in Adipocire (wie der Peterskirchhof in Graz), oder lassen den Zer-
setzungsprocess sich ganz ungeheuer in die Länge ziehen. Manche andere
haben diese ihrem eigentlichen Zwecke zuwiderlaufende Eigenart erst durch
das ein- oder mehrmalige Aufnehmen von Leichen erworben ; indem ihr zu
Beginn der Leichenzersetzung günstiger Boden sich mehr und mehr mit
humusartigen Resten durchsetzte, verlor er seine Durchgängigkeit für Luft
und Wasser und wurde somit für die Dienste als Kirchhofboden untauglich.
Derartige Kirchhöfe sollten ohne Ausnahme geschlossen werden. Eine prak-
tisch sehr wichtige Frage ergibt sich aber sodann bei jeder Kirchhofsschliessung:
Nach wie langer Zeit darf der Platz zu bestimmten anderen Zwecken in Ge-
brauch genommen, speciell wann dürfen Häuser auf ihm erbaut werden?
Naturgemäss darf das erst dann geschehen, wenn alle in ihm beerdigten
584 LEICHENWESEN.
Leichen vollkommen zersetzt sind; man wird also den Friedhof niemals vor
Ablauf mindestens eines vollen Turnus nach der letzten stattgehabten Beerdi-
gung anderweitig verwerten dürfen. Diese Beschränkung erscheint übrigens
auch in Rücksicht auf die Anrechte der Angehörigen der zuletzt Bestatteten
geboten.
Einbalsamirung. Zum Schlüsse sei hier noch in Kürze derjenigen
Methoden der Leichenbestattung gedacht, welche nicht einen möglichst schleu-
nigen und vollständigen Zerfall der Cadaver bezwecken, sondern im Gegen-
theil eine möglichst lange und unversehrte Erhaltung derselben verfolgen.
An Gründen für die Anwendung und an Vorschlägen für die Verwirklichung
sowie auch an thatsächlichen Ausführungen solcher Methoden hat es zu
keinen Zeiten des Culturlebens gefehlt. Die Gründe hiefür lagen jederzeit
einerseits in Momenten religiöser Natur und in den Gefühlen der Pietät gegen
die Person des Verstorbenen, andererseits aber auch in praktischen Rück-
sichten. In Aegypten namentlich, dem Lande, in dem die systematische Con-
servirung der Leichen bekanntlich am längsten betrieben und zur höchsten
Blüthe entwickelt wurde, haben zweifellos die mit der in dem heissen Klima
unvermeidlich sehr schnell und intensiv eintretenden Fäulnis verknüpften
Belästigungen zur Erfindung und Ausbildung der künstlichen Mumifica-
tion mit beigetragen; nicht weniger wahrscheinlich auch die in alten Zeiten
oft gemachte Erfahrung, dass die Fluthen des regelmässig das Land über-
schwemmenden Nils die beerdigten Leichen aus dem Boden herauswuschen
und zu einer Quelle ästhetischer und hygienischer Unzuträglichkeiten machten.
Gleichermaassen hat man bei allen späterhin immer wieder und auch in
modernen Zeiten stets aufs neue auftauchenden Vorschlägen dieser Art eine
möglichst vollständige Vermeidung aller mit der Leichenzersetzung vermeint-
lich verknüpften hygienischen Uebelstände im Auge gehabt. Bei dem modernen
Stande wissenschaftlicher Erkenntnis müssen wir alle diese Bestrebungen, als
von Grund aus auf irrigen Voraussetzungen basirt, entschieden verwerfen.
Wir wissen, dass bei einem rationell betriebenen Beerdigungswesen die in den
Boden bestatteten Leichen keinerlei hygienische oder ästhetische Uebelstände
verursachen.
Andererseits muss es von vornherein als eine Verkehrtheit erscheinen,
die Natur durch künstliche Bollwerke von dem Wandel in den von ihr selbst
geforderten Bahnen abhalten zu wollen. Gegen eine allgemeine Conservirung
der Leichen sprechen auch die mit ihr verbundenen praktischen Folgen der
gar zu weit gehenden Raumbeschränkung; hat man doch berechnet, dass, wenn
die gesammte Menschheit nur dreitausend Jahre lang alle ihre Todten unver-
gänglich aufbewahren würde, jeder Winkel der Erde von einer Mumie einge-
nommen sein und für keinen Lebenden mehr ein Plätzchen übrig bleiben
würde. Für jetzt und alle Zukunft haben daher die auf eine lange Conser-
virung der Leichname abzielenden Bestattungsmethoden nur in besonderen
Ausnahmefällen eine Berechtigung; etwa wenn es sich darum handelt, eine
Leiche für einen weiteren Transport, zumal in heissem Klima, geeignet zu
machen; ferner bei Leichen von Persönlichkeiten, die der allgemeinen Pietät
auch späterer Geschlechter würdig sind, sowie bei solchen, die nach dem
Wunsche des Anthropologen als wertvolles Material für die Forschung in
fernen zukünftigen Jahrtausenden erhalten werden sollen. Nur um dieser
berechtigten Interessen willen halten wir ein näheres Eingehen auf die Me-
thoden der Leichenconservirung für wünschenswert. Trotz aller Fortschritte
der Chemie und Technik können wir in den diesbezüglichen Studien noch
heute bei den alten Aegyptern in die Lehre gehen, deren Einbalsamirungs-
methoden ihre Leichen so lange Jahrtausende hindurch gegen den Zahn der
Zeit geschützt haben, dass wir sie heute fast noch ebenso in ihren Grab-
kammern vorfinden, wie man sie dereinst hineingelegt hat.
LUFT. 585
Im Wesentlichen beruht die künstliche Mumification der Aegypter auf dem Zusammen-
wirken zweier Factoren: auf einer Imprägnirung der ganzen Leiche mit fäulniswidrigen
Stoffen und einer möglichst intensiven Austrocknung aller Weichtheile. Im Einzelnen
waren die ägyptischen Conservirungsmethoden — besonders je nach den für den einzelnen
Todten zu Gebote stehenden Geldmitteln — sehr verschieden, betreffs der angewandten
Materialien sowohl als auch hinsichtlich der auf die Balsamirung verwandten Zeit und
Mühe. Durchgehends aber wurden zuerst die Eingeweide der Bauch- und Brusthöhle,
sowie auch das Gehirn entfernt. Das letztere wurde meist durch Eröffnung der Kopf-
höhle von der Schädelbasis her von Mund- und Nasenhöhle aus zugängig gemacht und
mittels metallener Haken herausgezogen. Die Bauch- und Brusteingeweide entfernte man
theils mit Eröffnung der Bauchhöhle mittels eines in der linken Bauchseite angelegten
Schnittes, theils ohne solche auf eine sehr künstliche Weise durch den After. Sodann wurde
die Leiche zunächst mit Palmwein behandelt, der in die leeren Höhlen gegossen wurde,
darauf wieder getrocknet, und mit sehr verschiedenartigen aromatischen Substanzen, Myrrhen,
Pflanzensäften und Harzen, bei den weniger kostspieligen Methoden auch wohl einfach
mit Asphalt oder Pech angefüllt, und sodann für längere Zeit (bis zu 70 Tagen) in Natron-
lauge gelegt, aus der sie jedoch von Zeit zu Zeit stundenweise herausgehoben wurde, um
abgetrocknet und mit balsamischen Salben eingerieben zu werden. Nach derartiger Vor-
bereitung wurde der Leichnam endgiltig noch einmal möglichst gründlich ausgetrocknet,
vielfach durch Einlagern in heissen trockenen Sand, und schliesslich in einer überaus
kunstvollen Weise in zahlreiche, harzdurchtränkte Binden eingewickelt, deren man bei
vielen Mumien bis zu 20 und mehr Schichten übereinander gefunden hat. Die Mumien
der Könige und anderer besonders vornehmer Aegypter wurden sogar zum Theil oder
gänzlich vergoldet, namentlich das Gesicht mit einer die Züge des Verstorbenen darstellen-
den goldenen Maske bedeckt, oder in mehr oder weniger künstlerischer Weise gemalt und
sonst geschmückt. Die Beisetzung in den Grabgemächern geschah theils mit, theils ohne
Benutzung von Särgen. Will man heutzutage eine Leiche auf eine möglichst lange Zeit
hin vor der Vernichtung schützen, so müssen auch jetzt noch dieselben beiden Factoren
(erstens eine möglichst vollständige Wasserentziehung und zweitens eine Imprägnirung
des ganzen Cadavers mit fäulniswidrigen Substanzen) zur Geltung gebracht werden. Zu
dem Zwecke injicirt man am besten in die eröffnete Halsschlagader (Arteria carotis) der
im übrigen unverletzten Leiche ein bis mehrere Liter einer starken alkoholischen Lösung
von Quecksilbersublimat, Carbolsäure, Formalin oder dergl., und wiederholt diese Injection
im Laufe mehrerer Wochen mehrmals, während der Cadaver an einem kühlen, aber mög-
lichst trockenen Orte aufbewahrt wird. Erst wenn auf diese Weise alle Theile der Leiche
gründlich von den Blutgefässen her mit der antiseptischen Substanz durchsetzt worden
sind, entfernt man die Eingeweide und das Gehirn und füllt die leeren Höhlen mit einer
geeigneten Masse an; hierzu empfiehlt sich z. B. trockenes Kohlenpulver oder auch Gyps-
pulver, welch letzteres namentlich wegen seiner Eigenschaft, alles in der Leiche enthal-
tene Wasser energisch an sich zu ziehen und chemisch zu binden, besonders geeignet
erscheint; zweckmässig kann man auch der Füllmasse noch einen gewissen Gehalt an
fäulniswidrigen Stoffen, wie z. B. Sublimat oder Arsenik zusetzen; schliesslich muss die
so präparirte Leiche auch durch äussere Einwirkung trockener Luft möglichst ihres ganzen
Wassergehaltes beraubt werden. Wird ein derartig vorbereiteter Leichnam in einem luft-
und wasserdicht abgeschlossenen Sarge (zugelötheter Metallsarg) in einem trockenen kühlen
Piaume aufbewahrt, so vermag er der Vernichtung viele Jahrhunderte lang zu widerstehen.
Alle übrigen, zum Theil noch in ganz neuer Zeit gemachten Vorschläge zur Con-
servirung der Leichen können füglich als durchaus entbehrlich angesehen werden. Hierher
gehört namentlich das von Steinbeis ^) in Stuttgart 1874 angegebene Verfahren, die Leichen
zuerst mit einer dünnen Lage von Cement zu incrustiren und dann in einem Cement-
sarge allseitig mit flüssigem Cemente zu umgiessen, nach dessen Erstarrung also jede
Leiche in einem künsthchen Felsblock eingeschlossen bliebe. Ganz ähnliche Vorschläge
enthalten ein Project von Gratry, '•') sowie eine Erfindung von Trübenbach. ^) Vom Stand-
punkte der Hygiene aus sind alle diese Bestattnngsmethoden nur zu bekämpfen.
G. WOLTERSDOEF.
Luft. Das Medium, in dem und von dem auch zum Theil wir leben,
die atmosphärische Luft, wirkt auf den menschlichen Körper ein durch
seine physikalischen und chemischen Eigenschaften. Die Lehre von
ihren physikalischen Erscheinungen und Veränderungen heisst die Meteoro-
logie, bezw. die Klimatologie, d. h. die Witterungslehre und die Lehre
^) Beilage zur allgem. Zeitung, 1874 Nr. 154.
^) Devergie, Nouveau mode d'inhumation dans les cimetieres. Annales d'hygiene
etc. 1876. I. Serie, p. 86.
3) Zeitschrift für Epidemiologie. Bd. 2, Heft 1, S. 49.
586 LUFT.
vom Klima, wobei Witterurig die Summe der physikalischen Erscheinungen
während einer kürzeren Zeitdauer, Klima den durchschnittlichen Charakter
derselben während einer sich über eine Reihe von Jahren erstreckenden Be-
obachtungsdauer bezeichnet.
Die einzelnen in Betracht kommenden, in den Schwankungen ihrer In-
tensität an sich und in ihrem Verhältnisse zu einander verschieden die re-
sultirende Witterung, das Klima bestimmenden Factoren sind: 1. die Tem-
peratur, 2. die Luftfeuchtigkeit, 3. der Luftdruck, 4. die Luftbewegung, 5. die
Niederschläge.
1. Die Temperatur. Zu ihrer Feststellung bedient man sich des
Thermometers, im allgemeinen des einfachen Quecksilberthermometers, dessen
Scala zwischen Gefrier- und Siedepunkt des Wassers in 100*^ eingetheilt ist;
für hohe Kältegrade des Weingeistthermometers, zur selbstthätigen Feststellung
der höchsten und niedrigsten Temperatur der Maximal- und Minimalthermo-
meter verschiedener Construction. Um richtige Resultate zu erhalten, ist es
nöthig, die directe Sonnenbestrahlung des Instruments zu verhindern, sowie
die Strahlung vom Boden, den umgebenden erwärmten festen Gegenständen,
die Abkühlung durch überfliessenden Regen auszuschalten. Die Wärme der
Sonnenstrahlen für sich misst man mit dem Vacuumthermometer (Kugel mit
Russ geschwärzt und in eine luftleere Hülle eingeschlossen).
Die Antheilnahme der Temperatur an der Constituirung der Witterung,
des Klimas an einem bestimmten Orte zu constatiren, dienen fortlaufende
Registrirungen der Temperaturschwankungen. Man stellt zu diesem
Zwecke fest 1. die mittlere Monats- und Jahrestemperatur, 2. die absoluten
und mittleren Extreme, 3. die mittlere Tagesschwankung, 4. die mittlere
Jahresschwankung, 5. die interdiurne Veränderlichkeit.
Nach der Höhe der mittleren Jahrestemperatur unterscheidet man eine
warme Zone (über 20°), eine gemässigte (zwischen 0° und 20°) und eine
kalte (unter 0°). Nach den mehr oder weniger stark ausgesprochenen
Differenzen zwischen extremsten Temperaturen kann man ferner ein conti-
nentales und ein oceanisches Klima unterscheiden. Bei diesem sind die
Unterschiede relativ gering, während sie bei ersterem recht bedeutende Grade
erreichen. Aehnlich steht es mit der mittleren Tagesschwankung, welche
über dem Meere selbst unter dem Aequator sehr gering, inmitten der grossen
Continente bedeutend ist. Ein klarer Himmel, wie er über der Sahara, im
westlichen Tibet zu finden ist, begünstigt nachts die Ausstrahlung in so in-
tensiver Weise, dass Temperaturabfälle bis zu 42° dadurch zustande kommen
können.
Die mittlere Jahresschwankung ist am stärksten inmitten der grossen
Continente, am geringsten in den tropischen See- und Küstengebieten. Sie
beträgt im Aequatorial- oder Seeklima bis 15°, im Uebergangsklima 15 — 20°,
im Landklima 20 — 40°, im excessiven Landklima 40 — 60°.
Die Lufttemperatur übt durch ihre Beeinflussung unseres Wärmehaus-
haltes einen wichtigen Einfluss auf unser Wohlbefinden aus. Der Körper
verliert Wärme durch Leitung, Strahlung und Verdunstung, wogegen die zur
Erwärmung der Speisen, der Athemluft nöthige und die durch Verdunstung
an der Lungenoberfläche in Abgang kommende Wärmemenge in den Hinter-
grund tritt. Da zur Erhaltung der Gesundheit eine möglichst gleichmässige
Erhaltung der Eigenwärme innerhalb sehr enger Grenzen nöthig ist, ist es
klar, dass die Luft durch zu hohe Temperatur, welche eine genügende Wärme-
abfuhr verhindert und Wärmestauung hervorruft, oder durch zu niedrige,
welche Erfrierung bewirkt, oder durch plötzliche Schwankungen derselben,
welche Grund von Erkältungskrankheiten sein können, ernste Gesundheits-
störungen hervorrufen kann. Es sei hier von solchen bezüglich der ersten
Eventualität an den Hitzschlag, eine schwere Allgemeinerkrankung infolge
LUFT. 587
von Wärmestauung, ferner an den Sonnenstich, die Localeinwirkung der
Sonnenstrahlen auf die unbedeclite Haut, erinnert. Eine lang dauernde un-
unterbrochene Einwirkung sehr hoher Aussentemperatur ruft bei dem nicht
akklimatisirten Europäer in den Tropen einen sehr bedenklichen Zustand, die
sog. Tropenanämie hervor.
Neben absolut niedriger Temperatur kann die Bewegung und der Feuch-
tigkeitsgehalt der Luft zu starker Wärmeentziehung führen. Alle starken
Schwankungen der Luftwärme können, wenn sie plötzlich eintreten und da-
durch vielleicht das rechtzeitige und genügend kräftige Einsetzen der wärme-
regulirenden Functionen des Körpers verhindern, wenn sie zudem in ihrer
ungünstigen Einwirkung noch unterstützt werden durch starke Luftbewegung,
grosse Luftfeuchtigkeit, zu Erkältungskrankheiten führen. Das Wesen der-
selben ist noch wenig ergründet; es ist mit Wahrscheinlichkeit anzunehmen,
dass die Einwirkung der angeführten schädigenden Momente eine Herabsetzung
der normalen Widerstandsfähigkeit der Körperbestandtheile gegenüber den
auch im gesunden Körper vorhandenen Kleinwesen herbeiführt, welche letz-
teren die Entfaltung ihrer krankmachenden Kräfte gestattet.
2. Die Luftfeuchtigkeit. Die Menge des in der Luft enthaltenen
Wasserdampfes wechselt je nach der Lufttemperatur, der Luftbewegung, den
localen Verhältnissen innerhalb ziemlich weiter Grenzen. Je höher die Luft-
wärme, desto grösser das Aufnahmevermögen für Wasserdampf, je stiller die
Luft, je günstigere Bedingungen für die Verdunstung von Wasser, desto
leichter ist eine Ansammlung von Wasserdampf in der Atmosphäre ermöglicht.
Man unterscheidet: die absolute Feuchtigkeit, d. h. diejenige Menge
von Wasserdampf, welche, in Gewicht, Volumen oder Tension ausgedrückt,
wirklich in der Luft enthalten ist; die relative Feuchtigkeit, d. h. die
vorhandene Feuchtigkeit, angegeben in Procenten der für die bestehende Tem-
peratur möglichen maximalen Feuchtigkeit; das Sättigungsde fielt, d. i.
die Differenz zwischen maximaler und absoluter Feuchtigkeit; und endlich
den Thaupunkt, d. i. diejenige Temperatur, für welche augenblicklich
die Luft mit Feuchtigkeit gesättigt ist. Die Luftfeuchtigkeit wird bestimmt
durch Wägung, nachdem" der Wasserdampf durch concentrirte Schwefelsäure
oder Calciumchlorid absorbirt ist, oder durch Apparate, welche die Feststellung
des Thaupunktes, die mehr weniger ausgiebige Veränderung der Länge eines
entfetteten Haares (Haarhygrometer) gestatten, am praktischesten durch
das Psychrometer, bei welchem die Differenz zwischen zwei Thermometern,
welche sich im übrigen unter gleichen Bedingungen befinden, auf deren
eines aber infolge der Umhüllung mit feuchten Leinen die Verdunstungskälte
zur Einwirkung kommt, einen Piückschluss auf den Feuchtigkeitsgehalt der
Luft erlaubt. Je geringer der letztere, desto stärkere Verdunstung, desto
grössere Temperaturentziehung, desto grössere Differenz zwischen beiden Ther-
mometern. Eine Tabelle dient zur Feststellung des Feuchtigkeitsgrades. Man
unterscheidet auch für den Feuchtigkeitsgehalt bestimmte Schwankungen, und
zwar für die absolute Feuchtigkeit Tages- und Jahresschwankungen, derart,
dass im allgemeinen der höheren Temperatur auch eine grössere absolute
Feuchtigkeit entspricht; ähnlich erhalten sich die Schwankungen der relativen
Feuchtigkeit und des Sättigungsdeficits.
Die hygienische Bedeutung der Luftfeuchtigkeit liegt nur zum geringen
Theile in ihrem Einflüsse auf die Wasserdampfabgabe des Körpers, da letztere
nur selten zu Gesundheitsstörungen Anlass gibt, viel mehr in ihrer Beein-
tiussung der wärmeregulatorischen Functionen des Körpers und in ihrer Wich-
tigkeit für die mehr oder weniger austrocknende Wirkung der Luft. Ist für
den ersten der beiden Fälle die relative Feuchtigkeit maassgebend, so kommt für
den letzten das Sättigungsdeficit in Betracht. Die Rolle, welche die Luft-
feuchtigkeit für die Wärmeabgabe des Körpers spielt, wurde bereits oben er-
588 LUFT.
wähnt: Kalte, feuchte Luft entzieht lebhaft Wärme, feuchte warme Luft be-
wirkt eine Aufspeicherung derselben. Hygienisch tritt jedenfalls am meisten
die Wichtigkeit der austrocknenden Wirkung der Luft hervor, sie ist einzig
und allein abhängig vom Sättigungsdeficit, und zwar im geraden Verhältnisse.
Austrocknung bewirkt eine starke Schädigung vieler Mikroorganismen, während
sie anderen das Mittel bietet, sich mit dem Staube in die Luft zu erheben
und auf grosse Strecken sich zu verbreiten. Die austrocknende Wirkung der
Luft brauchen wir vielfach im Haushalt, in technischen Betrieben u. s. f.
3. Der Luftdruck. Er wird gemessen durch die Höhe einer Queck-
silbersäule, welche der in Frage stehenden Luftsäule das Gleichgewicht hält,
vermittelst des Quecksilberbarometers, oder durch die Ausgibigkeit der Be-
wegungen, welche die Wandung einer Üachen Dose aus elastischen Metall-
Lamellen unter dem Einflüsse des Luftdrucks ausführt, vermittelst des Aneroid-
barometers. Die Ablesungen an verschiedenen Orten und zu verschiedenen
Zeiten müssen immer auf eine Temperatur von 0° reducirt werden und, wenn
sie zu meterologischen Schlüssen verwertet werden sollen, auf das Meeres-
niveau. Was die zeitliche Vertheilung des Luftdrucks anbelangt, so unter-
scheidet man Tages-, Monats- und Jahresschwankungen, welche vielfach nahe
Beziehungen zu den Temperaturschwankungen erkennen lassen. Die ört-
liche Vertheilung des Luftdrucks zeigen die Isobaren an, in sich zurück-
laufende Linien, welche concentrisch zu einander so angeordnet sind, dass
sie sich desto näher liegen, je schroffer die Druckdifferenz ist. Je höher ein
Ort liegt, desto geringer ist natürlich daselbst der Druck der über ihm be-
findlichen Luftsäule und umgekehrt. Doch sind diese natürlichen Differenzen
niemals so gross als die, welche wir selbst künstlich schaffen, z. B. bei
Taucherarbeiten, in Caissons u, s. f., daher sind jene diesen gegenüber, welche
ja doch auch ertragen werden, kaum von grösserer Bedeutung. In hygienischer
Hinsicht bieten uns daher die letzteren eher Anhaltspunkte für die Erkenntnis
der Einwirkung grosser Druckdifferenzen auf den menschlichen Körper; die
starke Luftdrucksteigerung bewirkt eine Verlangsam ung und Vertiefung der
Athmung, Einwölbung des Trommelfells, eine gewisse Behinderung der Muskel-
arbeit, Zufluss des Blutes zu den inneren Organen. Der in der comprimirten
Luft vermehrt vorhandene Sauerstoff ist ohne bemerkenswerten Einfluss, da
das Hämoglobin schon bei weniger als normalem Druck mit 0 gesättigt ist
und nicht mehr aulnimmt. Nach der Verminderung des Luftdrucks, wie sie
auf hohen Bergen (Himalaya bei einer Höhe 6780 m = 340 imn Hg) und bei
Ballonfahrten (Glaishee constatirte bei 8840 m Höhe 248 mm Hg) beobachtet
wird, bewirkt starke Blutfüllung der Hautgefässe und bis zum Zerreissen
gehende Erweiterung derselben. Hervor wölb ung des Trommelfells, Sauerstoff-
verminderung. Diese ist am bedeutungsvollsten und lässt sich künstlich aus-
gleichen; jedoch geschieht das auch ohne solche Maassregel bis zu einem ge-
wissen Grade durch Beschleunigung des Blutumlaufs und der Athmung. So
kann man auch bei dauerndem Aufenthalte in Höhen bis zu 4000 m völlige
Anpassung des Körpers an die Druckverminderung im allgemeinen erwarten.
Gesundheitlich am bedenklichsten sind plötzliche Uebergänge aus comprimirter
Luft in normale. Es können da Gefässzerreissungen mit Nasen-, Lungen-,
Magenbiutungen entstehen; ja es kann plötzlicher Tod eintreten, indem unter
dem Einflüsse der zu schnellen Druckherabsetzung die Gase des Blutes
Blasen bilden, welche zur Verstopfung der kleinsten Gefässe in lebenswichtigen
Organen führen.
Endlich spielen die Luftdruckschwankungen eine wichtige Rolle bei der
Entstehung der nun zu besprechenden
4. Luftbewegung: Sobald das Gleichgewicht im Luftmeer irgendwo
gestört ist, entsteht Luftbewegung, Wind, welcher die Ausgleichung der
gestörten Druckverhältnisse zu bewirken hat. Man misst die Stärke dieser
LUFT. 589
Bewegung mit Anemometern, welche entweder den Druck des Windes oder
seine Geschwindigkeit aufzeichnen. Die Winde bewegen sich vom Maximum
des Luftdruckes zum Minimum, also senkrecht zu den Isobaren, mit umso
grösserer Geschwindigkeit, je geringer die Entfernung zwischen letzteren, je
grösser also der Druckabfall; auf diesem Wege werden die Lufttheilchen noch
abgelenkt, und zwar durch die Erdumdrehung und durch die Centrifugal-
kraft. So werden aus den zurückgelegten Wegen Spiralen.
In den Tropen zeigen die Winde eine grosse Regelmässigkeit (Passat-
winde), welche auf der andauernden starken Erwärmung beruht, derzufolge
ein Aufsteigen der Luft und Abfliessen in den oberen Schichten nach den
Polen und Zurücktliessen von dort in den unteren Schichten entsteht. Eine
gewisse Regelmässigkeit zeigen auch die Winde am Meeresufer: Es steigen
am Vormittag die Lufttheilchen, welche dicht über dem Lande stark erwärmt
werden, in die Höhe und fliessen in den oberen Schichten nach der See ab,
während in den unteren Schichten eine Bewegung von der See her stattfindet;
umgekehrt aus gleichen Gründen nachts. Man beobachtet also am Vormittag
an der Küste Seewind, gegen Abend und nachts Landwind. — Die Winde
üben einen bemerkenswerten Einfluss auf unser Wohlbefinden aus, indem sie
je nach ihren Eigenschaften die wärmeregulirenden Factoren unseres Körpers
unterstützen oder ihnen entgegenarbeiten. Bei trockener Luft unterstützt die
Luftbewegung die Wärmeabgabe durch Verdunstung und directen Wärme-
transport, macht also auch sehr grosse Hitze erträglich, während warme feuchte
Winde die entgegengesetzte Wirkung haben und kalte feuchte Winde auch
bei massiger Lufttemperatur die Erhaltung der Eigenwärme erschweren. Die
Luftbewegung dient fernerhin der Ventilation, der Reinheit der Athmungsluft,
der Austrocknung von Bodenflächen, Neubauten.
5. Die Niederschläge kommen zu Stande, wenn wärmere Luft-
schichten mit kälteren sich mischen, sich dadurch selbst abkühlen und an
Aufnahmevermögen von Wasserdampf verlieren. Dann condensirt sich der
überschiessende Theil des letzteren, und es kommt zur Bildung von Nebel,
Thau, Reif, Regen, Schnee. Für die Reichlichkeit der Niederschläge sind
maassgebend reichliches" Vorhandensein von Wasser, w^elches zur Verdunstung
kommen kann, hinreichende Wärme zur Bewirkung der letzteren, endlich
die Luftbewegung. Die directe hygienische Bedeutung der Niederschläge ist
nur gering, die indirecte liegt in dem Einflüsse auf den Haushalt der
Natur, welcher nothwendig auf uns zurückwirkt.
Schon aus dem Vorstehenden lässt sich als sicher annehmen, dass die
Witterung, wie sie sich aus den näher gewürdigten meteorologischen Factoren
zusammensetzt, einen beträchtlichen Einfluss auf die menschliche Gesundheit
hat, dass von ihr zum Theil die Entstehung von Krankheiten abhängt. Sta-
tistische Begründung dieses zu vermuthenden Zusammenhanges fehlt jedoch,
da in den meteorologischen Uebersichten nur immer das für einen längeren
Zeitraum gefundene Mittel verzeichnet ist, nicht aber die einzelnen die Ge-
sundheit wirklich beeinflussenden Witterungsschwankungen zu ersehen sind.
Immerhin können wir erkennen, dass einzelne Krankheiten zu bestimmten
Jahreszeiten am häufigsten vorkommen, und es ist dann Sache der näheren
Forschung, festzustellen, ob dieser Umstand auf die Witterungsverhältnisse
zurückzuführen ist, und zwar so, dass einzelne Witterungsfactoren direct den
Körper in krankmachender Weise beeinflussen, oder so, dass sie nur indirect
wirksam sind, indem sie Nahrungs-, Wohnungs- und sonstige äusserliche Ver-
hältnisse beeinflussen. So ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Häutung
von Erkältungskrankheiten im Winter in directem Zusammenhange mit der
kalten, feuchten, an Schwankungen reichen Witterung dieser Jahreszeit steht,
während die zur selben Zeit stattfindende Vermehrung der contagiösen Krank-
heiten nur eine indirecte Folge der Witterung ist, indem diese den Aufent-
590 LUFT. -
halt im Freien erschwert, die Menschen zu engem Zusammenleben in die
Häuser bannt, wo die Uebertragung natürlich leichter erfolgt.
Die einzelnen Klimate, die wir zu unterscheiden haben, sind: das tro-
pische und subtropische, das arktische, das gemässigte Klima, das Küsten-
und das Höhenklima.
1. Das tropische Klima zeichnet sich aus durch eine grosse Eegel-
mässigkeit, während wechselnde Witterung, wie in unserem Klima, fehlt.
Während die Passate wehen, ist trockenes Wetter, mit ihrem Aufhören stellen
sich andauernde intensive Regengüsse ein. Unsere obigen Betrachtungen
ergeben ohne weiteres, wie mannigfach der Einfluss des Klimas sein muss in
hygienischer Hinsicht, Die Zahl der Krankheiten und die der Erkrankungs-
fälle ist sehr hoch. Besonders gefährlich sind Sonnenstich, Hitzschlag,
Anämie, Leberkrankheiten, Malaria, Ruhr, schwere Darmkatarrhe, Cholera
asiatica, Cholera infantum, Tuberkulose, Bronchitis.
2. Das arktische Klima zeigt im Gegensatz zum vorigen aus-
gesprochensten Wechsel der Jahreszeiten, aber im Ganzen günstige Gesund-
heitsverhältnisse.
3. Das gemässigte Klima trägt den Charakter des Wechselnden an
sich mit starker Ausprägung der Jahreszeiten. Innerhalb desselben treten
wieder grosse Verschiedenheiten auf, je nachdem das Klima im Innern
grosser Continente oder an der Küste in Betracht kommt; dort sieht man
schroffe Temperaturdifferenzen, während hier die Extreme mehr gemildert
sind, schroffe Uebergänge seltener beobachtet werden.
Dementsprechend sind auch beträchtliche Verschiedenheiten in der Mor-
bidität und Mortalität zu beobachten. Die schroffen Witterungswechsel des
continentalen Klimas leisten allen Erkältungskrankheiten, der Tuberkulose,
der Cholera infantum Vorschub; während alle diese unter dem Einflüsse des
Küstenklimas eine deutliche Verminderung erfahren.
4. Das Höhenklima zeigt folgende Eigenheiten: Die Temperatur ist ver-
mindert, die absolute Feuchtigkeit sehr gering, die relative dagegen meist hoch,
das Sättigungsdeficit niedrig. Die Luftbewegung ist lebhaft und wirkt trotz
dem niedrigen Sättigungsdeficit austrocknend ; die Regenmenge nimmt mit der
Erhebung zu. Der Luftdruck ist herabgesetzt, die Sauerstoffmenge der Luft
vermindert. Bei der niedrigen Luftschicht, ihrem geringen Wassergehalt und
ihrer Staubfreiheit ist die Erwärmung des Bodens durch die Sonne auch im
Winter beträchtlich.
Die Gesundheitsverhältnisse sind günstig; für manche Krankheiten,
Malaria, Phthise, infectiöse Darmkrankheiten, soll Immunität bestehen. Die
immune Zone für Phthise beginnt in der Höhe über 200 w. Einen grossen
Einfluss auf die gesundheitlichen Verhältnisse übt die Bewaldung aus.
Das chemische Verhalten der Luft spielt eine grosse Rolle für
den menschlichen Organismus, da letztere stetig gewisse, ihm durchaus lebens-
nothwendige gasige Bestandtheile aus der Atmosphäre entnimmt. Die Luft
besteht aus Stickstoff (ISS'^I^), Sauerstoff (20-7%), Wasserdampf (ro^/o),
Kohlensäure (0-47o), einer kleinen Menge Argon, Spuren von Ozon, Wasser-
stoffsuperoxyd, Ammoniak, Salpetersäure, salpetriger Säure.
1. Der Sauerstoff ist überall in der Atmosphäre mit grosser Gleich-
mässigkeit verbreitet; Schwankungen in seiner procentualen Beimischung
sind so gering, dass sie hygienisch bedeutungslos bleiben.
2. Ozon und Wasserstoffsuperoxyd: Dem Ozon, welches als ein
Sauerstoffmolekül mit angelagertem drittem Atom (O3) aufgefasst wird, schreibt
man gewöhnlich eine grosse hygienische Bedeutung zu. Doch ist das, soweit
ein actives Bethätigen derselben gemeint ist, nicht als richtig anzuerkennen,
man wird vielmehr annehmen müssen, dass sein Vorkommen für eine grosse
Reinheit der Luft von organischen Substanzen spricht, da solche das Ozon
LUFT. 59 t
sehr leicht zersetzen. Das ist aber das einzige, was bisher bei allen For-
schungen und Experimenten über die desinficirende Kraft des Ozons und über
seine physiologischen Wirkungen herausgekommen ist. Die Methoden zur
Bestimmung des Ozongehalts sind ungenau (Jodkaliumstärkekleister-Papier,
Tetramethylparaphenylendiarain-Papier). Es entsteht bei Verdunstung von
Wasser, bei elektrischen Entladungen und bei umfangreicheren Oxydations-
processen. Bei den gleichen Processen entsteht auch Wasserstoffsuperoxyd
(HgOg). Es ist ohne hygienische Bedeutung.
3. Die Kohlensäure stammt her von den Oxydationsprocessen im
menschlichen und thierischen Körper, von der Verbrennung von Brennmaterial
und von Fäulnis- und Verwesungsprocessen. Andererseits wird sie verbraucht
durch die reducirende Thätigkeit der grünen Pflanzen, durch die kohlensauren
Salze des Meerwassers. Der Gehalt der Luft an CO^ wird ziemlich gleich-
massig erhalten durch die Luftbewegung, so dass die mittleren Schwankungen
nur 0"3 pro mille betragen. Wo die ventilirende Wirkung der Luftbewegung
fehlt, also in geschlossenen Wohnungen, in Kellern, wo zudem eine reich-
liche Entwicklung von COg stattfindet, da finden leicht grössere Ansammlungen
des Gases statt. Man bestimmt den Kohlensäuregehalt, indem man die zu
prüfende Luft in eine Flasche von bestimmtem Rauminhalt füllt, eine bekannte
Menge von Strontianwasser dazu setzt und nun durch Titriren mit einer
Säure von bekannter Concentration bestimmt, wie viel Strontiurahydrat durch
CO2 gebunden ist. Eine annähernde Bestimmung lässt sich auch machen,
wenn man die zu untersuchende Luft durch mit Phenolphtaleinlösung roth
gefärbte Sodalösung streichen lässt, bis Entfärbung eintritt. Die hygienische
Bedeutung des Kohlensäuregehaltes beruht hauptsächlich darin, dass, wo eine
Vermehrung desselben in bewohnten Ptäumen festgestellt ist, gewöhnlich auch
eine anderweitige Verunreinigung der Luft mit anderen, uns vorläufig noch
unbekannten Substanzen, Erzeugnissen des menschlichen Stoffwechsels, statt-
gefunden hat, welche viel nachtheiliger wirken, als die Kohlensäure an sich,
denn chemisch reine Kohlensäure wird noch in einer Beimischung von Ö^o
vorübergehend, von l^o auf längere Zeit ohne Schaden vertragen, während
sie, w'enn sie der durch menschliche Ausdünstungen u. s. w. verunreinigten Luft
zu mehr als l%o beigemischt ist, schon verderblich wird. Dabei ist aber wohl zu
beachten, dass hier noch nicht die Kohlensäure an sich schädlich wirkt, son-
dern dass ganz andere Factoren dafür in Frage kommen, und dass die Kohlen-
säureansammlung auch auf die Vermehrung jener rückschliessen lässt. So
kommt bei Menschenansammlungen in engen geschlossenen Räumen die Wärme-
stauung infolge des massenhaft entwickelten Wasserdampfes und der erhöhten
Wärme für das alsbald bei manchen Personen sich einstellende Unwohlsein
viel mehr in Betracht als die Kohlensäure.
4. Kohlenoxydgas wird nur gefährlich, wenn es der Athmungsluft
in geschlossenen Räumen in grösserer Menge beigemischt wird-, in die
Atmosphäre tritt es bei vielen technischen Processen in grossen Mengen, er-
fährt aber sogleich eine enorme Verdünnung. Der Nachweis geschieht da-
durch, dass man Luft mit Blut schüttelt und dann das Gemisch spectro-
skopisch untersucht, oder dass man Fliesspapier mit Palladiumchlorür tränkt
und der zu prüfenden Luft aussetzt. Es wird schon bei einem CO-Gehalt
der Luft von 0-01 7o in wenigen Stunden geschwärzt.
Endlich haben wir uns noch mit dem in der Luft suspendirten Staub
zu beschäftigen. Da sind zu unterscheiden: Gröbere Staubpartikel, Russ,
Samenstäubchen und Mikroorganismen. Von diesen können die ersteren zu
stärkeren Belästigungen führen, indem sie die Schleimhäute des Respirations-
tractus reizen und so wohl auch ein Eindringen von Mikroben erleichtern.
Die hygienische Bedeutung des Gehaltes der Luft an Mikroorganismen
ist vielfach überschätzt worden. Einmal ist derselbe nur sehr gering (100 Keime
592 MARKTPOLIZEI.
im Cubikmeter im Mittel), dann sind auch die pathogenen Arten unter ihnen
ausserordentlich selten vertreten, so dass man die Infection durch die freie
atmosphärische Luft als grösste Seltenheit bezeichnen darf. Dazu kommt,
dass gerade die Mehrzahl der pathogenen Mikroben im ausgetrockneten Zu-
stande — und nur so können sie in die Luft aufgewirbelt und mit dem Winde
weiterbefördert werden — schnell abstirbt. spiering.
Marktpolizei. Die Aufgabe der Marktpolizei besteht in der Ueber-
wachung der auf den regelmässigen Märkten (Wochenmärkten) feilgehaltenen
Nahrungsmittel, insbesondere Fleisch, Milch, Butter, Fische, Geflügel etc.
Diese polizeiliche Aufsicht wird von verschiedenen Organen ausgeführt, nämlich
einmal von den Ortspolizeibehörden, dann durch die Kreisthierärzte und
endlich in einigen Bezirken des deutschen Reiches durch staatlich geprüfte
von grösseren Verbänden (Kreisen, Provinzen) angestellte Chemiker. In
Oesterreich giebt es sogenannte Marktcommissäre, denen die gesundheitspoli-
zeiliche Ueberwachung der Marktwaaren obliegt. Dieselben erhalten durch
eigene Curse eine Ausbildung, die sie befähigt, auch selbst einfachere Unter-
suchungen vorzunehmen. Die Untersuchung entnommener Proben wird durch
eigene Chemiker und Mikroskopiker vorgenommen.
Der Wirkungskreis der eigentlichen Polizeiorgane ist durch ein Reichs-
gesetz (Deutsche Gewerbeordnung) und durch örtliche Verfügungen geregelt und
bezieht sich im wesentlichen auf die äussere Ordnung des Marktes, Anweisung
und Ausmessung der Stände, Erhebung der von den Verkäufern zu zahlenden
Gebühren etc.
Dem Thierarzt und Chemiker dagegen liegt die Beaufsichtigung des
Marktes in hygienischer Beziehung ob. Der Thierarzt soll das zum Verkauf
angebotene Fleisch, das lebende Vieh etc. prüfen, ob das Vieh gesund, das
Fleisch frisch und von gesunden Thieren stammt u. s. f. Der Chemiker hat
die Aufgabe, die feilgebotenen Wurst- und Fettwaaren, die Milch, Butter, kurz
alle Nahrungs- und Genussmittel auf Reinheit und Echtheit zu prüfen und
so das kaufende Publicum vor dem Ankauf verdorbener oder verfälschter
Nahrungs- und Genussmittel zu schützen.
Die eigentlichen Polizeiorgane müssen nun auf jedem Markt und während
der ganzen Dauer desselben anwesend sein. Der Thierarzt und der Chemiker
dagegen revidiren nur in angemessenen Zwischenräumen die Märkte ihres
Bezirkes und erstatten dann der betreffenden Ortsbehörde Bericht über die
stattgehabte Revision und das Ergebnis der Untersuchung der etwa ent-
nommenen Proben. Die letztere Aufgabe trijöft nun fast ausschliesslich den
Chemiker, wie überhaupt bei der ganzen Marktpolizei die Thätigkeit des
Chemikers und des Thierarztes in hygienischer Beziehung im Vordergrund
steht. Auch tragen beide die grösste Verantwortung, da einmal jeder etwa
durch Ankauf verdorbenen Fleisches etc. hervorgerufene Krankheitsfall diesen
beiden Organen der Marktpolizei zum Vorwurf gemacht wird, andererseits
aber auch eventuell auf ihren Ausspruch hin erhebliche Vorräthe einfach ver-
nichtet werden. Es wird leider noch nicht genug der Chemiker zur Ueber-
wachung der Märkte herangezogen, obwohl die Thätigkeit desselben im Inter-
esse der öffentlichen Gesundheitspflege, besonders für die arbeitende Classe,
von grösster Bedeutung ist. Auf den Märkten strömen die Verkäufer von
Nahrungs- und Genussmitteln von weither zusammen und bringen häufig
Waaren zum Verkauf, die sie in ihren Heimatsorten nicht absetzen konnten.
Dadurch nun, dass der Chemiker verpflichtet ist, bei seiner Revision des
Marktes von Stand zu Stand zu gehen, und der Verkäufer ihm alles, was er
feil bietet, vorlegen muss, ist er in der Lage, jeden Verstoss gegen die Vor-
schriften der öffentlichen Gesundheitspflege sofort festzustellen. Von allen
dem Chemiker irgend wie verdächtig vorkommenden Verkaufsgegenständen,
MAXIMALDOSEN. 593
sei es nun, dass sie verdorben oder gefälscht seien, muss er eine Probe ent-
nehmen, um sie einer gründlichen chemischen Untersuchung zu unterziehen.
In besonders eclatanten Fällen ist der begleitende Polizeibeamte verpflichtet,
den ganzen Vorrath sofort mit Beschlag zu belegen und so dem Verkaufe zu
entziehen, lieber die am meisten vorkommenden und in hygienischer Be-
ziehung wichtigsten Verfälschungen und die Methoden zur Feststellung der-
selben wird in einem besonderen Artikel gesprochen werden (siehe „Nahrungs-
mittelverfälschung"). Durch die oben kurz beschriebene Art der Marktrevision
durch den amtlichen Chemiker wird es den gewissenlosen Verkäufern schwer,
wenn nicht unmöglich gemacht, verdorbene, resp. verfälschte Nahrungs- und
Genussmittel auf den Markt zu bringen. Von der grössten Bedeutung ist
diese Art der Controle in den dicht bevölkerten Industriecentren und den
grossen Städten. Die Erfahrung hat auch gelehrt, dass durch diese Controle den
Fälschern das Handwerk sehr erschwert wird. Schreiber dieses hat persönlich
Erfahrungen in dieser Hinsicht gemacht, die von allgemeinem Interesse sein
dürften. Der Procentsatz der als verdorben, resp. als verfälscht beanstan-
deten Nahrungs- und Genussmittel ging in seinem Bezirk (grosses Industrie-
gebiet mit sehr dichter Bevölkerung) in drei Jahren von etwa 30% auf 107o
herab. Einzelne Verfälschungen verschwanden in der Zeit ganz, z. B. war
in der ersten Zeit der grösste Theil des auf den Markt gebrachten Schmalzes
verfälscht, während nach etwa drei Jahren keine Verfälschung dieses für die
Arbeiter so wichtigen Nahrungsmittels mehr festgestellt wurde. Diese Er-
fahrung deckte sich mit denen einer ganzen Anzahl Collegen derselben Gegend.
Der Verkehr mit Wurstwaaren wurde durch die beständige und scharfe
Controle auch ein erheblich besserer. Bis zur Einführung der Controle wurden
häutig schlecht zubereitete zum Theil verdorbene oder durch Mehlzusatz stark
verfälschte Wurstwaaren zum Verkauf gestellt. Nachdem dieses Treiben aber
durch den zuständigen Chemiker festgestellt und zur Anzeige gebracht worden
war, trat eine ganz erhebliche Besserung ein. Es wurden auf Veranlassung
der amtlichen Chemiker Polizeiverordnungen über den Verkehr mit Wurst-
waaren erlassen, und war seitdem selten Grund zur Beanstandung vorhanden.
Aehnlich verhielt es sich mit dem Verkehr mit Milch, Butter und den Ersatz-
mitteln der Butter. Aus den angeführten Thatsachen ist die überaus grosse
Bedeutung der Marktcontrole durch staatlich geprüfte und amtlich angestellte
Chemiker klar ersichtlich. Sie ist nicht nur von hygienischer Bedeutung,
indem sie das Publicum vor dem Ankauf verdorbener oder gefälschter Nahrungs-
und Genussmittel schützt, sondern sie ist auch in gewisser Hinsicht von
nationalökonomischer Bedeutung, indem sie den minderbegüterten Arbeiter
vor dem Ankauf der durch Verfälschung minderwertig oder ganz wertlos
gewordenen Waare hütet. (Vergl. Artikel „Nahrungsmittel Verfälschung".)
AD. KREUTZ.
Maximaldosen. (Höchstgaben.) Einen sowohl vom gesundheitlichen als
auch vom medicinal-polizeilichen Standpunkte wichtigen Bestandtheil in den
Pharmakopoen der meisten Culturstaaten bildet die „Maximaid osent ab eile",
eine staatlicherseits festgesetzte Zusammenstellung bestimmter Höchstgaben
stark wirkender Arzneimittel, über welche der Arzt in der Receptverschreibung
nicht hinausgehen darf, ohne durch Hinzufügung eines besonderen, vorge-
schriebenen Zeichens anzudeuten, dass er wohlbewusst und absichtlich eine
ungewöhnlich hohe Dosis verordnet habe. Die Aufstellung der Maximaldosen-
tabelle bezweckt keineswegs eine Einschränkung des Arztes hinsichtlich seines
therapeutischen Handelns, sondern hat lediglich die Verhütung von Gesund-
heitsschädigungen durch irrthümlich oder versehentlich zu hoch verschriebene
Gaben heroischer Mittel im Auge. Demgemäss ist der Arzt allezeit befugt,
die festgesetzte Höchstgabe eines Arzneimittels in beliebigem Maasse zu über-
Bibl. med. Wissenschften. Hygiene u. Ger. Med. öo
594 MAXIMALDOSEN. y
schreiten; nur hat er in diesem Falle dem Apotheker durch Hinzufügung des
vorschriftsmässigen Zeichens kundzugeben, dass er diese Ueberschreitung
beabsichtigt habe und seinerseits verantworte. Fehlt dieses Zeichen auf dem
Recepte, so darf der Apotheker das Medicament nicht verabfolgen, bevor er
sich davon überzeugt hat, dass die Verschreibung der ungewöhnlich hohen
Dosis vonseiten des Arztes nicht etwa irrthümlich erfolgt sei. Der Grundsatz,
welcher, diesem Zwecke der Maximaldosentabelle entsprechend, bei der Auf-
stellung einer solchen als maassgebend anzusehen ist, ist demnach der, dass
die fixirte Höchstgabe nicht so hoch sein darf, dass sie unter gewöhnlichen
Verhältnissen eine Gesundheitsschädigung verursachen kann, andererseits aber
nicht so niedrig, dass die (in der Praxis erfahrungsgemäss oft vorkommende)
Auslassung des vorgeschriebenen Zeichens allzuhäutig Störungen im Apotheken-
betriebe veranlasst. Die erste Maximaldosentabelle erschien als Anhang zur
Pharmakopoea Borussica, Editio IV, Berlin 1829, und enthielt zunächst nur
Maximaldosen für Einzelgaben; erst später wurden zu diesen auch die höchsten
Tagesgaben, die Maximaldosen pro die hinzugefügt. Zur Zeit enthalten alle
Pharmakopoen eine Maximaldosentabelle mit Ausnahme allein der britischen
und französischen. Wenngleich alle diese Tabellen im Grossen und Ganzen
nach den gleichen Gesichtspunkten bearbeitet sind, so weichen sie doch im
Einzelnen vielfach recht erheblich von einander ab. Sehr verschieden gross
ist z. B. schon die Zahl der in dieselben aufgenommenen Arzneimittel, da es
naturgemäss keine feste Grenze zwischen stark wirkenden und weniger diffe-
renten Medicamenten gibt. Mittel, die in noch höherer Einzelgabe als zu
3'0 g zulässig sind, dürften kaum noch zu den heroischen zu zählen und mit
Fug und Recht von der Maximaldosentabelle auszuschliessen sein. *) Dennoch
führt auch die zur Zeit giltige Pharmakopoea Germanica, HI. Ausgabe (giltig
seit dem 1. Jänner 1891) noch höchste Einzeldosen bis zu 4'0 g (Amjlenum
hydratum; Chloralum formamidatum) und 5*0^ Paraldehydum) auf. Die zum
Theil recht erheblichen Abweichungen der in den verschiedenen Pharma-
kopoen für die gleichen Arzneimittel festgesetzten Höchstgaben beruhen zum
Theil auf der Verschiedenheit der Ansichten, welche die unterschiedlichen
Bearbeiter von der Wirkung der betreffenden Mittel hatten, zum Theil aber
auch auf Unterschieden in der Zubereitung, resp. in der durch diese erzielten
geringeren oder grösseren chemischen Reinheit mancher Präparate. — Als
das Zeichen, welches der Arzt bei Ueberschreitungen der Maximaldosen hin-
zufügen soll, war in der ersten preussischen Tabelle das Ausrufungszeichen (!)
vorgeschrieben. Dieses ist noch heute im Arzneibuche für das Deutsche
Reich giltig und auch in die Mehrzahl der ausländischen Pharmakopoen über-
nommen worden. Nur Dänemark und Norwegen verlangen statt dessen, dass
der Arzt alle die Maximaldosen überschreitenden Zahlen erst gewohnter-
maassen in Ziffern, daneben aber zugleich in Buchstabenschrift ausdrücke.
Schweden dagegen schreibt die Hinzufügung des Wörtchens ;;Sic!" vor, und
die Pharmakopoea Helvetica endlich begnügt sich nicht mit dem Ausrufungs-
zeichen allein, sondern fordert ausser ihm auch die Unterstreichung der die
Maximaldose überschreitenden Zahl. Ferner enthält das Arzneibuch für die
Schweiz, während die übrigen sämmtlich Maximaldosen allein für Erwachsene
aufstellen, auch noch eine besondere Tabelle für das Kindesalter bis zum voll-
endeten zweiten Lebensjahre. Logischerweise hätte diese nur dann einen
rechten Zweck, wenn der Arzt verpflichtet wäre, auf jedem Recepte das Alter
des Patienten anzugeben. Dieses Verlangen ist bisher nirgends gestellt
worden, und da auch der Apotheker gemeinhin nicht in der Lage ist, das
Alter der Personen, für welche die von ihm gefertigten Medicamente bestimmt
*) Th. Husemann in der Eeal-Encyklopädie der gesammten Pharmacia von Geissler
und Möller, Wien und Leipzig 1889 (Urbaij und Schwarzekberg), Bd. VI, S. 576.
MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 595
sind, zu controliren, so hat man in allen übrigen Staaten von besonderen
Maximaldosentabellen für Kinder Abstand genommen. Die damit unzweifel-
haft gelassene Lücke bemüht sich die Pharmakopoea Russica dadurch auszu-
füllen, dass sie dem Arzte vorschreibt, dass für Kinder von bestimmten Alters-
classen besonders festgesetzte Bruchtheile der für Erwachsene giltigen Maxi-
maldosen maassgebend sein sollen. ") In allen übrigen Staaten wird es
wohl stillschweigend als selbstverständlich angenommen, dass ein Apotheker,
dem es auffällt, dass der Arzt für ein kleines Kind ein der Maximaldose für
den Erwachsenen sehr nahe kommendes Quantum einer differenten Arzenei
verschrieben hat, ohne die Absichtlichkeit seiner Verordnung ausdrücklich
kundzugeben, aus eigenem Antriebe den Arzt hierauf aufmerksam machen
werde. Das Verfahren, welches der Apotheker einzuschlagen hat, wenn ihm
ein Recept zur Anfertigung übergeben wird, auf dem eine Maximaldose über-
schritten ist, ohne dass das vorgeschriebene Zeichen beigefügt ist, ist in den
meisten Staaten ausführlich vorgeschrieben; so ist z. B. in Preussen der Apo-
theker gemäss einer Ministerialverfügung vom 21. September 1872 (erlassen
gelegentlich der Einführung der Pharmakopoea Germanica) gehalten, in erster
Linie mit dem betreffenden Arzte Rücksprache zu nehmen und, wenn er
diesen nicht aufzufinden vermag, den Kreisphysicus um eine Anweisung anzu-
gehen; den gleichen Weg hat er auch dann einzuschlagen, wenn ihm trotz
der Beifügung des Ausrufungszeichens hinsichtlich der Zulässigkeit der ver-
ordneten Dosis noch Zweifel auftauchen. Eine eigenmächtige Modificirung
der verschriebenen Recepte ist ihm keinesfalls gestattet. Aehnliche Bestim-
mungen sind in den übrigen Staaten maassgebend. Eine übersichtliche
Zusammenstellung aller europäischen Maximaldosentabellen gibt Th. Husemann
am früher angegebenen Orte (siehe Fussnote Seite 594). g. woltersdoef.
IVlilitärgeSUndheitsdienst ist der Inbegriff aller der Verrichtungen,
die darauf abzielen, die bewaffnete Macht eines Volkes gesund, kraftvoll und
schlagfertig zu erhalten.
Dieser Dienst erstreckt sich theils auf die Umgebung des Soldaten, und
zwar auf Licht, Luft, Boden und bauliche Einrichtungen der Soldatenwohnung,
sowie auf seine Bekleidung und Ausrüstung, theils unmittelbar auf den Körper
des Soldaten, und zwar auf die Reinhaltung, Abhärtung und Ernährung des
Soldatenkörpers.
Die wichtigste Unterkunft des Soldaten ist die Kaserne. Damit
diese für das Sonnenlicht und die reine Luft allseitig zugängig sei und auf
einem geeigneten Boden ruhe, sind für ihre äussere Anlage folgende Gesund-
heitsregeln zu beachten: Eine Kaserne liege hoch in freier Gegend vor den
Stadtthoren, etwa 1 km von anderen Wohnungsanlagen entfernt, nicht von
Bergen, Stadtmauern und Fabriken, sondern von Hainen und Gärten umgeben,
womöglich an fliessendem Wasser, jedoch nicht im Ueberschwemmungsgebiete.
Die Platzwahl achte auf die Eigenschaften des Bodens, seine Gestalt, seine
Höhe über dem Meeresspiegel, seine Bewachsung, seine geognostischen Eigen-
schaften, insbesondere die Anordnung der Bodenschichten (in Hohlwegen,
Bahn-Einschnitten erkennbar), die Tiefe, in welcher man das Grundwasser
findet, die physikalische Bodenbeschaffenheit: Bodenfeuchtigkeit, Durchlässig-
keit, Bodentemperatur; chemische Eigenschaften: Gehalt an organischen Stoffen,
*) Bis zum
Ende
des 1.
Jahres = V20— V
2— 3 Jahre
^=
ein Achtel 1:8.
4— 5
— ■
ein Sechstel 1 : 6.
6— 8
zz^
ein Viertel 1:4.
9—11
„
=
ein Drittel 1:3.
12-15
=
die Hälfte 1:2.
16-19
55
=
drei Viertel 3: 4.
38*
596 MILITÄRGESÜNDHEITSDIENST.
quantitative und qualitative Wasseranalyse, meteorologische Eigenschaften;
Krankheiten und Sterblichkeit der Bevölkerung.
Ist der Untergrund feucht (z. B. Lehmboden) und undurchlässig, so
muss er in gehöriger Ausdehnung drainirt werden, oder es werden aushilfs-
weise und ohne Gewähr vollen Erfolgs wasseranziehende Pflanzen, z. B, Sonnen-
blumen, Indianerreis cicacia aquatica, wie dies sich in Festungsgräben bewährt
hat, angepflanzt.
Aufzuschüttender Baugrund darf nur aus Erde, Bauschutt (Steine, Sand,
Mörtel), Sand, Kies und Steinknack, nicht aus Kehricht, Scherben, Blech-
stücken, Blechgeräthen, Gyps, Stroh, Holz, Papier, Dünger, Asche, Kohlen-
staub, Ptuss, Glas, Schlamm u. dgl. bestehen.
Die Baugrundfläche sei so geräumig, dass an den Kasernenbau ein
Uebungsplatz (Marsfeld) stösst, der im Kriegsfalle Baracken und Zelte auf-
nehmen kann. Die Fläche muss besonders gross sein, wenn für die Form
des Kasernenbaues Blocks in Aussicht genommen sind, die gesundheitlich an
erster Stelle stehen, sich aber nicht für jedes Klima zu eignen scheinen. Das
Baumaterial bestehe aus gutgebrannten ZiegelU; trockenen Sandsteinen u. dgl.
Der nöthige Innenraum des Kasernenbaues ist so hoch zu veranschlagen,
dass auf jeden Mann durchschnittlich 20 m^ Luftraum kommen, dass die Wohn-,
Putz- und Schlaf-Räume getrennt sind, und dass auf Nebengelasse, nament-
lich auch auf einen Raum zum Aufhängen nasser Kleider und zum Auf-
bewahren schmutziger Leibwäsche Bedacht genommen ist.
Bei Corridorbauten verlaufe der Corridor nicht zwischen den Zimmer-
reihen, sondern auf der (nördlichen oder westlichen) Seite, und beschränke man
die Zahl der Gestocke, einschliesslich des Erdgestockes, auf drei. Das Dach-
gestock diene der Unterbringung von Vorräthen, doch gewähre es aushilfsweise
und vorübergehend, z. B. bei Durchmärschen, auch Leuten Unterkunft. Zweck-
mässig, wiewohl kostspielig, ist es, Küchen, Kantinen, Speiseräume, das Wasch-
haus, das Bad, die Montirungskammern, Wachzimmer, Geschäftsstuben und
Arreste in besondere Nebengebäude zu verweisen. Zum Theil wird sich
dies fast immer erreichen lassen. Wenn es für die Küche, Kantine, Wasch-
haus und Bad nicht möglich ist, so fasse man für sie das Kellergestock ins
Auge.
Kellerräume eignen sich nicht zur Bewohnung, weil es ihnen in der
Regel an Licht und guter, namentlich wegen des nahen Grundwassers
trockener Luft fehlt. Aehnlich verhalten sich die Casematten (casa matta =
Mordkeller, weil aus ihnen geschossen wurde); sie sind feucht und kalt und
beanlagen erfahrungsgemäss oft zum Wechselfieber. Es sind gewölbte, meist
mit Erdaufschüttung versehene Hohlbaue, welche den Festungsvertheidigern
zum Schutze dienen und möglichst so angelegt sind, dass sie ihre Luft meist
von der Seite der Festungsgräben erhalten; die Wände lasse man in Cement
mauern, mit Steinkohlentheer überstreichen, auch öfter den Boden mit trocke-
nem Sande bestreuen. Die Kellerwohnungen der Kasernen sind nur dann
gesundheitlich nicht nachtheilig, wenn folgende bauliche Bedingungen erfüllt
sind: Die Sohle des Kellers komme mindestens 1 m über den muthmaasslich
höchsten Stand des Grundwassers zu liegen; Kellerwohnungen dürfen nicht
nach Norden liegen, sondern nur nach Süd, Ost und West; sie dürfen nur
in Kasernen angelegt werden, welche entweder an einem freien Platze oder
auf Strassen liegen, auf welchen die gegenüberliegenden Häuser bis zur Trauf-
kante nicht höher sind, als die Strassen selbst breit sind; vor der Keller-
Wohnung ist in der ganzen Länge derselben ein isolirender und ventilirbarer
Luftraum mittels Anlegung von Isolirungsmauern in mindestens 0'25 m Ab-
stand von den Umfassungsmauern herzustellen, dieser Luftzwischenraum muss
bis unter den Fussboden der Kellerwohnung hinabreichen; der Fussboden
der Wohnung muss betonirt sein in einer Dicke von 0"15 w, und darauf erst
MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 597
ist das Balkenlager und die Dielung zu bringen; auch kann man statt des
Betons eine Lehraschicht festrammen und dieselbe zunächst mit Theerdach-
pappe belegen. Die lichte Höhe der Wohnräume hat mindestens 2"6 m zu
betragen, und es muss deren Decke wenigstens zu einem Dritttheile der Höhe
über das umgebende Erdreich zu liegen kommen; die über der Strassenfläche
liegende Fensterliäche hat wenigstens 0"7 m^ zu betragen; die Wohnräume
müssen von innen zu beheizen sein; im Falle durch die Kellerwohnung
Heimschleussen geführt sind, dürfen diese innerhalb dieser Wohnung keine
Oeffnung haben.
Der Fussboden im Innern des Kasernen- Wohnraum es bestehe aus
festem, hartem, undurchlässigem, dicht gefügtem Holze, das nach der Dielung
dreimal und dann zweijährlich einmal mit reinem siedenden Leinöle zu tränken
ist. Das Hauptgewicht ist auf die Undurchlässigkeit des Fussbodens zu legen.
In alten Kasernen mit undichten Fussboden entwickelt man zur Entgiftung
der Zwischendeckenluft zunächst Bromdämpfe und spänt und verkittet die
gereinigten Spalten.
Im französischen Heere sind vom Jahre 1886 an auf Anordnung der Kriegsverwaltung
zahlreiche Versuche unternommen worden, um die Kasernenfussböden undurchlässig zu
machen. Als Imprägnirungsmittel wurden angewendet: Steinkohlentheer, in kaltem oder
warmem Zustande, rein oder vermischt mit Kalkmilch oder hydraulischem Kalk oder
Terpentinöl, ferner Leinöl in kochendem Zustande, Harzöl, Fussbodenlack, rein oder ge-
mischt mit Theer und Petroleum, sodann Wachsfirnis und endlich Carbolinenm. Da von
Seite der Kriegsverwaltung für die Imprägnirungsversuche keine besonderen Directiven
herausgegeben wurden, so war vorauszusehen, dass die mit obigen Mitteln in den verschie-
denen Garnisonen und Kasernen unternommenen Versuche zu ganz verschiedenartigen Er-
gebnissen führten, ja dass selbst die mit einem und demselben Mittel erzielten Resultate
je nach der Anwendungsweise oft ganz entgegengesetzte waren.
Auf Grund sämmtlicher über die Imprägnirungsversuche eingelangten Berichte gab
nun der technische Militär-Sanitä.tsausschuss in Paris folgendes Gutachten in dieser Frage
ab: Die ündur-chlässigmachung der Fassböden in den Mannschaftszimmern ist vom hygieni-
schen Standpunkte zu empfehlen und sollte allgemein eingeführt werden. Das beste und
zugleich billigste Imprägnirungsmittel ist der Steinkohlentheer. Die Anwendangsweise soll
folgende sein: Der Fussboden wird mit Hammerschlag abgerieben und sodann trocken ge-
bürstet, bis sämmtlicher Staub verschwunden ist; sämmtliche Fugen und Sprünge zwischen
und in den Brettern des Fussbodens werden mit Holzleisten ausgefüllt; sodann wird der
kochende Steinkohlentheer mit einem Pinsel derart aufgetragen, dass er in alle Fugen und
Risse des Holzes eindringt und 1 kg Theer auf 10 m^ Fussbodenfläche hinreicht. Das
Zimmer darf erst nach vollständiger Trocknung des Fussbodens betreten werden. Nach
einem halben Jahre ist eine zweite Theerung vorzunehmen; sodann aber genügt es, die
Imprägnirung jährlich einmal zu erneuern. Vor den späteren Theerungen wird der Fuss-
boden nur trocken gebürstet. Die Mauersockel rings um die Zimmer sind ebenfalls bis
zu 0'5 m Höhe zu theeren, nachdem sie zuvor abgekratzt und von dem früheren Anstrich
befreit wurden. Die Imprägnirungen sind entweder während der grossen Manöver vor-
zunehmen, während welcher die Kasernen leer sind, oder aber ist zur Ausführung der-
selben bei den Truppen einstweilen der gedrängte Belag anzunehmen. Die undurchlässig
gemachten Fussboden dürfen weder gewaschen, noch trocken gekehrt werden; es genügt
zu ihrer Reinigung, sie mehrmals wöchentlich mit feuchten Lappen abzuwischen.
Das Füllmaterial des Zwischendeckenraumes muss trocken und frei von
Keimen und stickstoffhaltigen Körpern aller Art sein. Zu empfehlen ist der
vom Architect Nussbaum vorgeschlagene Kalktorf, d. i. mit Kalkmilch getränkter
Torf. Er entspricht nicht nur den gesundheitlichen Anforderungen, sondern
ist auch sehr leicht — 1 m^ wiegt nur 200 kg — und leitet Schall und
Wärme, aber auch die Flamme, an der er nur erglüht, schlecht.
Für die natürliche Beleuchtung einer Kaserne ist soweit zu sorgen, dass
die lichtgebende Gesammtfläche der Fenster eines Wohnraumes mindestens
ein Zwölftel der Grundfläche beträgt. Die künstliche Beleuchtung ist mit
Elektricität herzustellen.
Zugunsten ergiebiger Luft erneu erung (Ventilation) in den Wohn-
räumen einer Kaserne, besonders einer Corridorkaserne, seien die Stuben mehr
lang als tief, und liegen die Thüren den Fenstern gegenüber. Jeder Raum
sei für sich lüftbar, und seine beweglichen Fenster führen unmittelbar ins
598 MILITÄRGESÜNDHEITSDIENST.
Freie. Dies gilt besonders auch für Abtritte, Küchen und Schlachthäuser.
Die natürliche Lüftung durch Fenster und Thüren oder durch Einlassöffnungen
und Auslassschornsteine ist nur bei Temperaturunterschieden zwischen Aussen-
und Stuben-Luft wirksam und für Corridorkasernen selbst im Winter gewöhn-
lich mangelhaft, weil die Luft auf dem ersteren Wege vom Corridor stammt,
also verdorben und ausserdem kalt ist. Die künstliche Lufterneuerung erstrebt
im Winter reine und warme Luft, die sich gleichmässig vertheilt, auf dem
Wege der Heizung.
Die Vorrichtungen für Lufterneuerung gewinnen durch den von der Heizung be-
wirkten Temperatur-Unterschied wesentlich an Wirksamkeit, und man ist heutigen Tages
bemüht, für die Winterszeit die Saugkraft der warmen Heizluft zur Lufterneuerung der
beheizten Räume auszunutzen. Im Allgemeinen unterscheidet man centrale und örtliche,
d. h. für einzelne Räume besonders angelegte Heizeinrichtungen. Die ersteren sind Luft-,
Wasser-, Dampfluft-Heizungen und Vereinigungen dieser Arten. Sie haben eine Anzahl
von Vortheilen vor den örtlichen Einrichtungen voraus, aber auch so viele Nachtheile, dass
für die Kasernen meist noch an der örtlichen Heizung festgehalten wird Die reichlichste
Aussicht, sich Bahn zu brechen, hat von den centralen Heizungen die Luftheizung.
Für die örtlichen Heizanlagen wendet man sich mehr von der reinen Strahlungs-
heizung ab und baut vorwiegend Luftheizungsöfen. Diese sind solche, welche die Zuführung
frischer Luft aus dem Freien, Erwärmung derselben im Räume zwischen dem Innenofen
und dem bis auf den Fussboden herabreichenden Mantel und Austritt derselben ins Zimmer
am oberen Ende des Ofens bezwecken (Ventilationsöfen), oder solche, deren Mantel am
unteren Ende durchbrochen ist, so dass die Luft zwischen dem Zimmer und dem Räume,
der den Ofen vom Mantel trennt, circulirt (Circulationsöfen). Die letztere Art fordert, da
sie vorgewärmte Luft an den Ofen bringt, weniger Heizmaterial, die Luft ist aber freilich
nicht ausschliesslich reine Luft.
Abgesehen von dem Zwecke der Lufterneuerung verwendet man Kachel- und Eisen-
Oefen. Kachelöfen mit luftdichtem Verschlusse sind den eisernen im allgemeinen vorzu-
ziehen. Ofenklappen sind verwerflich.
Es ist ferner vom Stubenzwecke abhängig, ob periodisch (ohne luftdichtschliessende
Thüren oder mit solchen) oder continuirlich, d. h. mit Schüttfeuerung, bei welcher das
Material von einem gedeckten Füllschacht kommt, geheizt werden soll. Inmitten steht die
Regulirfeuerung, bei welcher grössere Mengen des Heizmaterials allmählich von oben zur
Verbrennung gelangen, die Luftabfuhr aber gering ist.
Kamine, wie sie in bürgerlichen Wohnungen Frankreichs, Italiens und Englands
gebräuchlich sind, vermitteln eme lebhafte Lufterneuerung, können aber in Kasernen nicht
in Betracht kommen.
Dass die Stubenwärme 14o R. erreicht, muss durch aufgehängte Thermometer nach-
weisbar sein.
Die Anlagen für die Abfälle, namentlich den menschlichen Koth,
müssen so eingerichtet sein, dass letztere von Haus aus ausserhalb der Kaserne
so gründlich und schnell wie möglich, aber auch geruchlos, den menschlichen
Wohnungen entrückt werden können. Die Abtritte dürfen daher nicht nächst
den Wohnräumen der Soldaten in die Kaserne eingebaut werden, sondern
man errichtet sie abseits und stellt ihre Verbindung mit der Kaserne durch
gedeckte Gänge her. Die Latrinenräume müssen ausgiebig und unmittelbar
ins Freie gelüftet werden können. Abtrittsabfallrohre seien aus undurch-
lässigen Baustoffen hergestellt, spülbar und als Luftrohre über das Dach
hinaus verlängert. Alle zum Schleussensystem führenden Ausgussbecken, auch
die der Küchen, seien mit Wasserverschlüssen versehen, insoweit letztere
nicht an den Nebenschleussen selbst angebracht sind. Abtrittsgruben sind zu
vermeiden. Wenn sie schon vorhanden und nicht zu beseitigen sind, sind
Sohle, Wände und Decke derselben mindestens wasser- und luftdicht gegen
ihre Umgebung abzuschliessen. Besser ist in solchen Fällen für ständige
Behälter mit pneumatischer Leerung oder bewegliche Tonnen zu sorgen.
Die Wasserversorgung der Kaserne erfolgt durch Wasserleitung
(centrale oder örtliche) oder durch Brunnen. Letztere sind jedenfalls auch
neben der Wasserleitung herzustellen. Ihre Herstellung ist, da sie zumeist
das Trinkwasser liefern, mit besonderer Rücksicht auf gesundheitliche An-
sprüche auszuführen. Ein Brunnen soll fern von Gruben und Schleussen und
xMILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 599
SO tief angelegt werden, dass seine Sohle nicht blos im Sickerwasser, sondern
im Grundwasser liegt.
Die Brunnenmauer muss eine Mauerziegellänge dick sein; ausserhalb der Mauer ist,
die 3 obersten Meter, Thon anzurammen, weiter abwärts Kies anzufüllen. Das obere Mauer-
werk ist in Cement zu mauern und mit Granit zu decken, damit die Abfallwässer nicht
durchsickern. Umpflanzungen des Brunnens sind nicht räthlich, weil sich an den Wurzeln
Würmer ansammeln, welche in der kalten Jahreszeit nach der Wärme des Brunnens hin-
ziehen. Die Brunnenröhren müssen zweijährlich einmal gesäubert, ebenso oft muss der
Grund geschlemmt und mit gewaschenem Kiese versehen werden.
Für das Baden sind die Kaserneninsassen auf Zeit der wärmeren Mo-
nate in die Badeanstalt eines nahen Flusses und auf Zeit der kälteren Monate
in die Badeanstalt der Kaserne zu verweisen. Eine solche Kasernenbade-
anstalt, die Spritzbäder ermöglicht, beansprucht für ein Infanterie-Bataillon
einen heizbaren Flächenraum von etwa 50 m 2. Der Abstand von je 2 Brausen
betrage 1 m. Das Verhältnis des Ankleideraums, der vom Baderaum durch
eine feste, zweithürige Wand zu trennen ist, zum Baderaum ist auf 3 : 2 zu
bemessen.
Es ist selbstverständlich, dass an Noth-Unterkünfte, wie Massenquartiere,
Bürgerquartiere, Feldlager und Biwaks nicht die strengen Gesundheitsansprüche
zu erheben sind, wenngleich auch gegenüber diesen vorübergehenden Unter-
künften gewisse Mindestforderungen gestellt werden müssen.
Für Feldlager meide man sumpfige, sowie der üeberschwemmung
durch Flüsse oder Regen oder schmelzenden Schnee ausgesetzte Gegenden,
auch enge Thal er und Schluchten; undurchlässiger Lehmboden ist weniger
zuträglich als Sand- und Kreide-Boden und Boden mit niedrigstehendem Grund-
wasser; Waldbestand ist geeignet, die Nachtheile des Sumpfbodens zu ver-
grössern.
Aehnliche Regeln gelten für die Biwaks oder Freilager; für sie wähle
man einen hoch auf trockenem, abgedachtem Boden gelegenen Platz, fern von
stehenden, sumpfigen Wässern, feuchten Bodeneinsenkungen und Stellen, die
von heftigen Zugwinden bestrichen werden. In der Nähe muss gutes Trink-
wasser, sowie Brennmaterial und Gelegenheit zur Unterbringung der Abfall-
stofle vorhanden sein. Der Biwakirende schlafe nicht auf feuchtem und un-
bedecktem Erdboden und nicht in nassen Kleidern.
Die Behausungen in Feldlagern und Biwaks sind Baracken, Zelte und
Hütten, deren Platzwahl von den für die Kasernen angegebenen Grundsätzen,
soweit möglich, geleitet wird. Ueberdies sind für Baracken bauten zweck-
mässig: Freie Lage mit natürlichem Gefälle, durchlässiger Untergrund,
trockener Boden, Gräben, Drainage, trockenes Baumaterial, keine Erdan-
schüttungen, Dielung des der Unterkellerung entbehrenden Fussbodens oder
wasserdichte Pflasterung, doppelte Brettwände mit Verschalung, dichtes, weit
vorspringendes Dach, Fenstern und Thüren auf jeder Längs- und Giebelseite,
natürliche Lüftung und solche im Dachfirst.
In Zelten sei der Fussboden mit frischem Stroh, Heu, Nadelholzzweigen
u. ä. oder wasserdichten Decken belegt; bei längerer Benützung empfiehlt
sich Brettboden, der wöchentlich einmal freizulegen und zu trocknen ist. Um
jedes Zelt verlaufe ein Graben, der das Wasser in einen Sammelgraben leitet.
Bei Hütten ist besonderer Werth auf Lüftbarkeit (durch entgegengesetzte
Luftlöcher) und Trockenheit, also Anlegung von Abflussgräben zu legen.
Ebenfalls zu den vorübergehenden militärischen Unterkünften zählen
die Transportunterkünfte in Eisenbahnen und Kriegsschiffen. Die Eisen-
bahnen werden für den allgemeinen Volksverkehr gebaut, und so lassen
sich besondere gesundheitliche Bauansprüche an die von Soldaten benützten
Eisenbahnen nicht stellen.
Dasselbe gilt von den Feld-Eisenbahnen, insofern auch ihre Bautechnik
unter den allgemein giltigen technischen Gesichtspunkten steht. Die mili-
600 MILITÄRGESUNDHEITSDIENST.
tärische Gesundheitspflege hat sich deshalb mehr an den Betrieb zu wenden
und denjenigen Gefahren vorzubeugen, die von Seiten des mit dem Menschen-
verkehr untrennbaren Schmutzes und der von ihm verschleppten Seuchen drohen.
Daher müssen zu Kriegszeiten die Bahnvi^agen, wenn irgend möglich, wöchent-
lich -einmal gründlich gereinigt und entgiftet werden. Der Kehricht muss
verbrannt werden. Bei einem auftretenden Seuchenfalle muss der betroffene
Wagen sofort ausgeschaltet und gründlich gereinigt und entgiftet werden. Es
müssen Einrichtungen vorhanden sein, mittels deren das Trinkwasser vor dem
Genüsse gekocht werden kann.
Die Schiffe verlangen eine grössere Beachtung vonseiten des Gesund-
heitsdienstes, da sie den Soldaten in der Regel länger beherbergen als die
Eisenbahnen. Besonders thun dies ausrangirte Schiffe, die hie und da als
Kasernen benützt werden. Dieselben liegen fest vertaut am Lande; im Sommer
sind sie sehr heiss, im Winter lässt sich nur auf Kosten verminderter, ja
aufgehobener Ventilation ein einigermaassen behaglicher Wärmegrad erreichen.
Bei der geringen Höhe der Decks ist eine ausgiebige und gesonderte Ven-
tilation der verschiedenen Räume nöthig; schwierig wird sie immer bei Wind-
stille sein. In gleicher Weise ist auch bei fahrenden Kriegsschiffen für reich-
lichen Luftzutritt und strenge Reinlichkeit, ebenso wie für Trockenheit zu
sorgen. Gesundheitlich verschieden sind die Schiffe, je nachdem sie Holz-
oder Eisenschiffe sind. Beide haben ihre Vortheile und Nachtheile.
Die Holzschiffe leiten die Wärme schlecht und haben infolge dessen innen eine
gleichmässigere Temperatur, während eiserne Schiffe in den Polargegenden wenig Schutz
gewähren und unter den Tropen zu Glühöfen werden. Die Holzschiffe bestehen aber aus
organischem, fäulnisfähigem Stoffe, dazu kommt, dass ihnen Lecke nie fehlen und unreines
Wasser von aussen durchsickert (Bilschwasser); an der inneren Schiffswand eiserner Schiffe
schlagen sich in kalten Nächten die Dämpfe nieder, doch lässt sich hier das Bilschwasser
fast ganz entfernen. Regen- und Spülwasser, Dämpfe, Fett, Kohlenstaub, Asche und Un-
rath von Menschen und Thieren machen das Bilschwasser zu einer dicken, trüben, dunklen
Flüssigkeit, welche nach Schwefelwasserstoff und Fettsäuren riecht und ansteckende Krank-
heiten, besonders Typhus und Gelbfieber, begünstigt. Daher sind Lecke thunlichst zu ver-
lüeiden, der Kielraum ist rein von jedem Zuflüsse zu erhalten, Spülungen und Trocken-
legung haben stattzufinden und die Bilschgase sind abzuführen.
Die Bekleidung hat im Allgemeinen den Zweck, den Körper vor den
Unbilden des Klimas und insbesondere vor nachtheiligen Einflüssen der Luft-
temperatur und der Niederschläge zu schützen. Beim Soldaten kommt noch
der Zweck der Ausrüstung hinzu, der darin besteht, die Lebensbedürfnisse
des marschirenden Soldaten am Körper selbst (in Tornister, Brotbeutel, Koch-
geschirr) unterzubringen und den Körper gegen die feindlichen Angriffe
mittels der Schutzrüstung (Helm, Panzer) zu wappnen.
Wenn die Bekleidung des Soldaten ihren Zweck erfüllen will, muss sie
sich einiger unerlässlicher Eigenschaften erfreuen. Sie muss im Freien ein
schlechter Wärmeleiter sein, wenn die Aussenluft-Temperatur tief unter der
Eigenwärme oder hoch über dieser liegt, besonders aber, wenn Temperatur-
sprünge zu erwarten sind; ferner muss sie wasserdicht und dabei luftdurch-
dringlich sein. Ausserdem kommen als zweckmässige Eigenschaften der Be-
kleidung die Einfachheit, Leichtheit, Dauerhaftigkeit und Bequemlichkeit in
Betracht.
Die Kopfbedeckung des Soldaten ist in der Regel zweifacher Art, je nachdem sie
fürs Haus bestimmt ist, wo eine leichtere, oder für den Felddienst vorgesehen ist, wo eine
schwerere, gerüstete Bedeckung getragen wird. Die letztere ist es, von der verlangt wird,
dass sie neben ihren allgemeinen Bekleidungseigenschaften auch die besitzt, die Augen vor
grellem Lichte zu schirmen. Sie muss blendendes Licht mit einem Stirnschirm und Regen
mit einem beweglichen Nackenschirm abhalten, der Luft durch Oeffnungen, in die freilich
Regen nicht eindringen kann, Zutritt gewähren ; sie darf dem Winde nur eine geringe
Fläche bieten, muss also klein sein, und sie muss allseits festsitzen, ohne schmerzhaft zu
drücken.
Die Halsbinde sei, wenn sie überhaupt nöthig erscheint, niedrig und weich, sowie
mit einem waschbaren und farblosen Stoffe gefüttert.
MILITÄRGESÜNDIIEITSDIENST. 601
Der Mantel soll den Körper vornehmlich gegen Kälte und Wind schützen und
dem durchnässten Soldaten eine trockene und warme Bekleidung bieten. Aus letzterem
Grunde pflegt der Mantel gerollt getragen zu werden; denn wird er dem Regen völlig
preisgegeben, so kann er an Wasser über das Doppelte seines Gewichtes aufnehmen und
so die Marschfähigkeit seines Trägers in Frage stellen. Die Brauchbarkeit des Mantels wird
wesentlich erhöht, wenn er aus einem porös wasserdichten Stoffe hergestellt werden kann.
Der Kragen sei überfallend und so hoch, dass er die Ohren bedecken kann; eine Kapuze
ist wünschenswert, aber nicht nöthig; dagegen empfiehlt es sich, wenigstens das Unterfutter
des Mantelkragens aus wasserdichtem Stoffe zu fertigen, welch letzterer den gerollten
Mantel zum Theil einzuschliessen hätte. Neuerdings bezweifelt man die Nothwendigkeit
des Mantels, dieses schwersten und unbequemsten Kleidungsstückes des Feldsoldateu. Ich
schliesse mich diesem Zweifel an, wenn man sich in den Stand gesetzt sieht, die Waffen-
röcke porös-wasserdicht zu fertigen und jedem Feldsoldaten eine wasserdichte Wolldecke
zur Verfügung zu stellen.
Der Waffenrock soll nach Maassgabe des allgemeinen Kleidungszwecks den Rumpf
schützen, zugleich aber gewissen Ausrüstungsstücken als Anlehnungspunkt dienen. Er
muss allenthalben weit sein, damit er Blutlauf und Athmung nicht beengt, bis zur Mitte
der Oberschenkel herabreichen und mit einem möglichst niedrigen Kragen versehen sein.
Sein Stoff ist Tuch, und es empfiehlt sich ein wasserdichter Stoff für das enganliegende
Uniformskleid nur in dem Falle, dass er zugleich zweifellos luftdurchgängig bleibt. Für
den Hausdienst genügt eine leichte Jacke (Litewka).
Der Hauptzweck des Hemdes liegt in der Aufnahme der Haut-Ausscheidungen,
nicht in der der Hautwärme. Es dient also in erster Linie der Reinlichkeit, wie die
Unterhose, um diesen Zweck zu erfüllen, ist der richtige Stoff für diese Unterkleider
zu wählen. Als solcher kommt Schafwolle, Baumwolle und Leinwand in Betracht; die
Nachtheile, deren jeder dieser Stoffe mehrere nachweisen lässt, treten zurück, wenn für
Hemd und Unterhose ein halbwollener Stoff, ein Baumwollenflanell, der etwa zur Hälfte
aus Schafwolle gewebt ist, benutzt wird.
Die Oberhose ergänzt den Waffenrock; sie sei daher aus Tuch, und nur für den
Hausdienst aus einem leichteren Stoffe (Leinwand) gefertigt. Aufwärts reiche sie bis zur
Magengrube, abwärts bis an die Knie oder Knöchel. Die längeren Hosen sind die ge-
bräiichlicheren, müssen sich aber abwärts verengen, damit sie in den Stiefeln getragen
werden können. Die schon oberhalb des Knies endenden Hosen, wie sie Kinder und
Gebirgsbewohner, aber auch Colonialtruppen tragen, sind, da sie die Kniegelenke frei be-
weglich lassen, für das Fussvolk vorzuziehen. Befestigt werden die Hosen zweckmässiger
durch Hosenträger als durch Bauchgurte.
Als Handschuhe empfehlen sich weite wollene Fingerhandschuhe, die über das
Handgelenk hinaufragen. Wollte man zugunsten der Freiheit des Ellenbogengelenks die
Waffenrockärmel dicht über diesem Gelenke aufhören lassen, so müssen die Handschuhe
ergänzend bis an das Ellenbogengelenk hinaufreichen.
Die äussere Fussbekleidung muss wasserdicht sein, aber nicht luftdicht: sie
muss die Wärme schlecht leiten; sie muss allen Theilen des Fusses dicht, aber nicht
drückend anliegen, also gut passen, zu welchem Zwecke das Maass an jedem der beiden
fest aufgesetzten, völlig belasteten, nackten Füsse zunehmen ist; sie darf ferner die harten
Unebenheiten des Bodens den Fuss nicht empfinden lassen, sie muss geschmeidig und
dauerhaft sein und sich leicht an- und ausziehen lassen. Als äussere Feld- Fussbekleidung
empfehlen sich ein Paar lederne, einbällige, breit- und doppelsolige, im Zehentheile breite
Halbstiefeln, und daneben ein Paar leichte, weite, weiche, durchaus lederne, schnürbare
Knöchelschuhe, die im Hause und nur bei Beschädigungen der Füsse auch auf dem Marsche
getragen werden.
Die innere Fussbekleidung soll die Hautausscheidungen in sich aufnehmen, den Fuss
vor dem Drucke der äusseren Bekleidung schützen und ihn warm und trocken halten.
Der zweckmässigste Stoff ist Halbwolle. Der Form nach sind Strümpfe und Fusslappen
zu unterscheiden, die Strümpfe sind zwar gesundheitlich empfehlenswerter, sie sind aber für
den Feldsoldaten nicht überall zu haben und sind schwer zu ergänzen und auszubessern.
Diese Nachtheile fallen für die Fusslappen weg, so dass es für den Soldaten räthlich ist, sich
zu Friedenszeiten wenigstens zeitweise mit dem Anlegen und Tragen von Fusslappen zu
beschäftigen.
Für die militärische Ausrüstung des einzelnen Soldaten kommt
hauptsächlich, soweit der Gesundheitsdienst hier mitzureden hat, die Trag-
weise in Betracht. Sie gruppirt sich um die Schultern, die Hüften und das
Kreuzbein, so dass die Last in grösstmöglicher Nähe des Schwerpunktes des
Körpers oder wenigstens der Schwerlinie, auf vielen Flächen und auf beiden
Längs-Körperhälften gleichmässig vertheilt zu liegen kommt. Dabei darf sie
keinen schmerzhaften Druck ausüben, Athmung und Blutlauf nicht hemmen
und die Fortbewegung und Hantirung nicht hindern.
602 MILITÄR GESUNDHEITSDIENST.
Die vorzüglichste Nahrung des Soldaten ist dasjenige Gemisch von
Nährmitteln, durch das die Erhaltung des Körpers bei voller Entfaltung seiner
Kraft mit der geringsten Menge der Nährmittel-Bestandtheile erreicht wird.
Die Nahrung muss nahrhaft, leicht verdaulich, dauerhaft, haltbar, schmack-
haft, portativ, theilbar und leicht zurichtbar sein.
Das Fleisch behauptet unter den Feld-Nährmitteln den ersten Platz;
am willkommensten ist das frische Fleisch von Ochsen, die in Herden dem
Kriegsheere zu folgen pflegen. Das nach Schlachten sich reichlich darbietende
Pferdefleisch ist ebenfalls für das Heer nutzbar zu machen; ebenso Hammel-
fleisch, Schweinefleisch, Speck etc., da Pdndfleisch allein bei ausbrechender
Rinderpest versagt. Frisch geschlachtetes Fleisch ist mit Ausnahme des
Schweinefleisches erfahrungsgemäss nicht genussfähig; vielmehr muss es, um
Nachtheilen für die Verdauung zu begegnen und dem Geschmacke zu ent-
sprechen, mindestens 24 Stunden, Kalb- und Hammelfleisch etwa zwei Tage,
Ochsenfleisch drei bis vier Tage alt, und bei herrschender Kälte noch älter
sein. An der Ausgabestelle ist, wenn irgend möglich, das Fleisch feld-
ärztlich zu untersuchen, damit nicht ganz frisches oder fauliges oder von
Seuchen- und schmarotzerkranken Thieren stammendes Fleisch an den Soldaten
gelangt.
Die jetzige Zubereitungsweise des Fleisches im Freien, im Biwak, ist sehr unvoll-
kommen. Der Feldsoldat setzt das Fleisch ohne vorherige Bearbeitung in kaltem Wasser
mit dem Gemüse vereinigt ans offene Feuer. Statt nach l^/a Stunden, nach welcher Zeit
das Fleisch vielleicht gar sein könnte, nimmt er erfahrungsgemäss sein Kochgeschirr wegen
Zeitmangels oder aus Hunger oder Müdigkeit schon etwa nach ^/^ Stunden vom Feuer.
Das Gemüse ist dann gewöhnlich angebrannt, weil es mit dem Fleische vereint sich schwer
umrühren lässt. Das Fleisch aber ist sicher nicht weich und zum grossen Theil nicht
geniessbar.
Dieser stete Misserfolg ist eine Folge davon, dass der Soldat nicht systematisch
kochen lernt, und dass jedem nur ein Kochgeschirr zur Verfügung steht.
Vor allem empfiehlt es sich, so lange nicht für das Fleisch, für die Suppe, für das
Gemüse und für die Ergänzung des verdampften "Wassers je ein besonderes Geschirr zur
Verfügung steht, so dass immer vier Leute eine Kochgemeinschaft bilden würden, wenigstens
das gelieferte Fleisch so ausgiebig wie möglich zu verwerten.
Dazu ist nöthig, dass das Fleisch in grösseren Stücken zuerst geklopft wird, weil es
hierdurch früher weich und zugleich schmackhafter und verdaulicher wird. Nun hat man
es aber im Kriege nicht selten mit altem, magerem und frisch geschlachtetem Vieh zu
thun. In solchen Fällen mag man das Fleisch mit dem Seitengewehre (ein Mann hackt
ungefähr ^j^ kg in 10 Minuten) oder zweckmässiger mit einer Fleischhackmaschine in ganz
kleine Stücke zerkleinern, so dass beim Kochen die Hitze überall hindringen kann.
Das Kochen des Fleisches fordert nun, und das ist ein Vortheil dieser Zubereitung,
kein Fett, und kann mit jeder Fleischsorte, abgesehen von ganz frischgeschlachtetem
Ochsenfleische, vorgenommen werden. Allein das Kochen beansprucht, ohne dass es volle
Ausbeute für die Ernährung vermittelt, die meiste Zeit. Muss doch selbst in den wohl-
eingerichteten Mannschaftsküchen der Kasernen das Schweinefleisch 1 bis l^/g, das Schöpsen-
fleisch IV2 bis 2 und das Rindfleisch 2 bis 2^2 Stunden kochen!
Daher ist das Schmoren des Fleisches vorzuziehen, wobei das Fleisch in kochendem
Fett auf allen Seiten scharf angebraten und dann zugedeckt in Fett und Wasser bei
gelindem Feuer gedünstet wird. Sind die Würfel, in die das Fleisch vorher zerschnitten
wird, klein, so ist das Fleisch in 10 Minuten geniessbar, ist es breiartig zerkleinert, so
braucht dieses Fleischmus nur 5 Minuten zu schmoren.
Das Braten (im Kochgeschirrdeckel) liefert, wie das Schmoren, in viel kürzerer Zeit
als das Kochen, ein verdauliches und wohlschmeckendes Fleisch. Ist, wie gewöhnlich, nur
wenig Zeit verfüglich, und hat man auch kein Fett zur Hand, so ist das Braten am Spiess
die zweckmässigste Zubereitungsweise.
Um die Fleischnahrung des Feldsoldaten für jeden Fall zu sichern,
betreibt man die Herstellung des Dauerfleisches. Schon längst ist die
Gewinnung eines gegen Fäulnis Widerstand leistenden Fleisches durch Räuche-
rung bekannt. Die neueren Herstellungsweisen sind Wärmeentziehung,
Wasserentziehung oder Trocknung, Luftabschluss und die durch chemische
Mittel (Kochsalz etc.).
Neben dem Fleische ist das Brot das wichtigste Feldnährmittel, ja
bisweilen das allein verfügliche. Um das Brot widerstandsfähiger zu machen,
MILITÄRGESUNDHEITSDIENST. 603
empfiehlt es sich, beim Backen nur wenig Wasser zuzusetzen, das Brot selbst,
um Wasser zu entziehen, zu pressen, es luftig (z. B. bei Transporten in
Gitterwagen) unterzubringen, oder Zwieback herzustellen. Jedenfalls bedürfen
die Brotlieferungen militärärztlicher Prüfung.
So unentbehrlich wie Fleisch und Brot ist — um nur noch eines im
weiteren Sinne des Wortes zu gedenken, da hier auf jedes einzelne der zahl-
reichen Feldnährmittel nicht eingegangen werden kann — das Trink-
wasser. Da Wasser auf dem Landwege schwierig zu transportiren ist, so
ist der Wasserbedarf möglichst an Ort und Stelle zu decken. Wasserfund
versprechen in trockenen und sandigen Ebenen die Stellen, auf denen hoch-
geschossenes Gras wächst, Morgennebel und Insectenschwärrae lagern, oder
solche, die am Fusse von Anhöhen oder die tief im Schnittpunkte zweier
längerer Thäler liegen. In Ortschaften, namentlich in denen einer feindlichen
Bevölkerung, ist Erkundigung nach den brauchbarsten Brunnen einzuziehen,
und das Wasser dorther zu entnehmen, wo es die Einwohner schöpfen. Da-
gegen meide man zunächst die Brunnen abschüssiger Strassen, die innerhalb
oder unterhalb der Ortschaft oder die nahe an ärmlichen Wohnstätten,
Fabriken und Dungstellen gelegenen.
Zur Deckung des Wasserbedarfes benütze man, wenn man sich nicht allein auf die
Brunnen verlassen kann, wie in belagerten Festungen, aufgefangenes Regen wasser. Das
Wasser von Quellen ist oft unrein, von Wiesenquellen stets verdächtig; ebenso das von
Bächen und Flüssen, das nur bei raschem Laufe und schlammfreiem Bette geniessbar sein
kann; Schneewasser ist weniger rein als Eiswasser und wird durch Umrühren und Peitschen
lufthaltig; See- und Teichwasser verbessert sich, wenn es dauernden Abfluss und Zufluss
aus Quellen hat, inmitten des Teiches und wo dieser am tiefsten ist, ist das Wasser am
wenigsten verdächtig. Pfützen-, Sumpfwasser und das durch Landwirtschaft und Gewerbe
verunreinigte Wasser ist gewöhnlich reich an organischen Stoffen und darum sehr ver-
dächtig und ungeniessbar.
Bei Quellen, kleinen Flüssen und Bächen kann man das Wasser an mehreren Stellen
aufstauen und die höchsten zum Wasserschöpfen für Genusszwecke, die tieferen für die
Thiere, die tiefsten zum Waschen bestimmen. Dieselbe Anlage der Plätze empfiehlt sich
auch für grössere benutzbare Wasserläufe. Um das Wasser beim Schöpfen unmittelber am
Ufer nicht aufzurühren, empfiehlt es sich, kleine Brücken und Stege ins Wasser hinein zu
bauen. Ist das Wasser durch Regengüsse u. s. w. getrübt, so kann man zur Klärung
desselben bei günstiger Bodenbeschaffenheit die seitliche Filtration benutzen, indem man
kleine Brunnen neben den Fluss gräbt. Ueber dieselben legt man zum Wasserschöpfen
Bretter und sichert die Seitenwände gegen Nachsinken. Bei geeignetem Boden und reinem
Grundwasser können mit Vortheil Ahessynische Bohrbrunnen — auch NoRTHON'sche Senk-
pumpen genannt — verwendet werden (Erfahrungen hierüber vergl. Allg. mil. Ztg. 1874,
Nr. 29/30); auch kann man in feuchten Grund durchlöcherte Kübel eingraben.
Als durchschnittlichen Wasserbedarf für den Mann rechnet man täglich
5 / zum Trinken und Kochen, und 25 / zur Reinigung der Person, der Wohn-
stätte und der Wäsche; zu Gunsten der Gesundheit ist mehr zu gewähren,
wenn der höhere Bedarf gedeckt werden kann. Für ein Lager etc. ist das
Trinkbedürfnis der T)iiere mit in Rechnung zu bringen: ein Schaf oder ein
Schwein säuft täglich etwa 5 /, ein Rind 40 /, ein Pferd 60 /. Auf Kriegs-
schiffen hat man sich mit 4 l Wasser für den Kopf und Tag zu begnügen;
das weiche ist dem harten, leichter faulenden Wasser vorzuziehen.
Die Verwandlung unreinen und verdächtigen Wassers in trinkbares ge-
schieht durch Filtration, Abkochung oder Zusatz von chemischen Stoffen. In
Zweifelfällen ist der physikalischen und chemischen Prüfung des zur Benützung
sich darbietenden Trinkwassers nicht zu entrathen.
Nächst der Unterkunft, Bekleidung und Ernährung ist es die militärische
x\usbildung und Berufsarbeit, die mit gesundheitlichem Schutze zu umgeben
sind. Die dienstliche Beschäftigung soll den Soldaten im Zustande be-
ständiger Schlagfertigkeit erhalten, und dieser Zweck ist es, dem auch alle
ärztlichen Maassnahmen unterzuordnen sind.
Die Friedensarbeit des Soldaten besteht in Uebungen, die seine
körperlichen, sittlichen und intellectuellen Kraftanlagen harmonisch entwickeln,
604 MILITÄRKRANKENDIENST.
damit er die Aufgaben, die ihm der Krieg stellt, nicht nur richtig, sondern
auch gleichsam gewohnheitsgemäss und instinctiv erfüllen kann. Diese
Uebungen beginnen von der einfachen und festen Körpererhaltung, schreiten
zur gleichmässigen und gewandten Körperbewegung fort, um in langen Feld-
märschen und zusammengesetzten Felddienstübungen zu enden. Die gesund-
heitsmässigen Grenzen dieser Ausbildung sind durch vieljährige Erfahrungen
gefunden, so dass der Arzt nur ausnahmsweise Anlass hat, auf ihre Aenderung
einzuwirken.
Die Kriegs arbeit des Soldaten ist im besonderen nicht voraus geregelt
und setzt den Soldaten ausserdem zahllosen Angriffen auf die Gesundheit aus.
Wenn der höchste Zweck des militärischen Berufs, der Kriegszweck, diese
Angriffe fordert, so sind sie im allgemeinen zu dulden, und es ist militär-
ärztlicherseits nur zu erwägen, ob sich der etwa beabsichtigte Gesundheits-
schutz mit dem Kriegszweck verträgt. Im Verneinungsfalle ist jede störende
Geltendmachung gesundheitlicher Ansichten zu unterlassen; denn die Verfol-
gung des Unerreichbaren ist zwecklose und undankbare Arbeit. Das höchste
Ziel des Krieges, der Sieg, ist nun einmal ohne Einsatz von Menschenleben
nicht denkbar! h. frölich.
Militärkrankendienst ist der Inbegriff aller der Aufgaben, die darauf
abzielen, das Vorkommen der Heereskrankheiten im Frieden und im Kriege
festzustellen, ihre Ursachen zu erforschen und zu beseitigen, sowie den er-
krankten Soldaten zu Gunsten ihrer militärischen Ausbildung und der Erhaltung
der Schlagfertigkeit des Heeres die Gesundheit und Dienstfähigkeit theil-
nahmsvoll, gründlich und schnell zurückzugeben. Inter arma Caritas!
Nach dieser Begriffsbestimmung unterscheidet sich der Militärkranken-
dienst vom Civilkrankendienst hauptsächlich durch die Verschiedenheit im
Berufe des Objects. Die Besonderheit des Militärkrankendienstes liegt aber
nicht lediglich in den wenigen eigentlichen Militärberufskrankheiten, sondern
vielmehr in der Gehäuftheit des Vorkommens gewisser Erkrankungen
(Seuchen, Schlachtfeld- Verletzungen), in dem bedrohlichen Einflüsse derselben
auf den Bestand des Heeres, in der Gefahr, die aus diesem Einflüsse für die
Staatsexistenz erwächst, und in der von der Verfassung der Heere mitbe-
stimmten Entscheidung über die erforderlichen Vorbauungs- und Heilmittel.
In diesen Gesichtspunkten findet der Begriff „Heereskrankheit" zwar
nicht festgelegte scharfe Grenzen, aber seine volle Rechtfertigung; und so
zählen die Militärärzte zu den Heereskrankheiten vor allem sämmtliche Seuchen,
mögen sie in der Zeit oder im Räume oder in beiden Beziehungen gehäuft
vorkommen: Pest, Typhus, Ruhr, Cholera, Hirnseuche (oder Genickstarre),
Gelbfieber, gehäufte Gelbsucht, Pocken, Scharbock, Lungensucht (Tuberkulose),
Lungenentzündung, venerische Krankheiten, Krätze; ferner Hitzschlag, Minen-
krankheit; dann ägyptische Augenentzündung und endlich mechanische Ver-
letzungen, an deren Spitze die Schussverletzungen.
In wie hohem Grade schon zu Friedenszeiten die Gesammtheit dieser
Krankheiten und Verletzungen, allen voran Typhus, Lungensucht und Lungen-
entzündung, an dem Bestände der bewaffneten Macht rütteln, in welchem
ziffermässigen Verhältnisse sie dieser alljährlich Verluste zufügen, wie aber
auch dieser dem Heerwesen feindliche Einfluss im Laufe der letzten Jahrzehnte
dieses Jahrhunderts mehr und mehr eingedämmt worden ist, das mag wenig-
stens für die grossstaatlichen Heere die hier folgende Zusammenstellung, in
der ich beiläufig die von mir mit Grund nur vermutheten Zahlen eingeklam-
mert habe, vor Augen führen:
MILITÄRKRANKENDIENST.
605
Staat
dreissiger
Jahre
vierziger
fünfziger
sechsziger
siebziger
achtziger
13,7
(11,0)
9,0
6.5
5,7
4,0
—
28,0
17,5
(14,5)
13,3
7,9
17,5
16,5
(12,0)
9,5
8,3
5,9
(24,0)
19,4
16,0
11,4
9,1
8,2
—
16,2
(13,0)
(11,5)
10,6
9,6
—
38,0
20,5
16,0
14,0
9,7
Deutsches Reich
Österreich-Ungarn
Grossbritannien
Frankreich . .
Italien ....
Russland . . .
Werden den Verlusten an Menschen der Friedensheere die Kriegs Ver-
luste gegenübergestellt, so drängen sich besonders zwei Fragen in den Vorder-
grund: 1. Haben wir uns einer gleich günstigen fortschreitenden Sterblichkeits-
abnahme, wie sie für die Friedensheere festgestellt ist, auch betreffs der Kriegs-
heere zu erfreuen? 2. Auf welche der beiden grossen Verlustursachen, Kriegs-
verletzungen und Seuchen, kommt im Bejahungsfalle der ersten Frage der grös-
sere Antheil für die Abnahme der Sterblichkeit?
Die zeitliche Vergleichung der Kriegsverluste lässt sich leider auf das
Alterthum und Mittelalter, ja selbst auf die neuere Zeit wegen der Unzuver-
lässigkeit der Ueberlieferungen nur mit Vorsicht ausdehnen. An die Stelle
der Thatsachen tritt für diese entschwundenen Zeiten die blos mehr oder
weniger begründete Vermuthung. Besonders bezieht sich dies auf die Ver-
breitung und Verheerung der Seuchen. Zwar steht es schon für Alterthum
und Mittelalter fest, dass Seuchen zu mächtigen Bundesgenossen der damaligen
Kriegsparteien geworden sind. Allein der Umfang der von ihnen verursachten
Verluste wird nirgends ziffermässig berichtet. Selbst die Mittheilungen aus
der neuen Zeit lassen noch viel zu wünschen übrig.
Aehnlich ungenau sind die Berichte über die Häufigkeit der tödtlichen
Kriegsverletzungen, schon weil es, auch noch heutigen Tages, unmöglich ist,
in den Gefechtsverlusten immer streng die Gefallenen von den Vermissten
zu trennen. Nichtsdestoweniger liegen wenigstens annähernd richtige Verlust-
zahlen für fast alle weltgeschichtlichen Kriege vor.
Diese Veriustzahlen sind, soweit sie die Kriege und einzelne Schlachten
des Alterthums betreffen, ungewöhnlich gross. Sie können aber nicht auf-
fallen gegenüber den Umständen, dass das Ziel des Kampfes die gegenseitige
Vernichtung gewesen ist, dass diese Vernichtung auf die Gefangenen fort-
gesetzt worden ist, weil es meist an Mitteln zu ihrer Verpflegung gefehlt hat,
dass das Schlachtgemetzel alle Anwesenden, also bei weniger civilisirten
Völkern auch Frauen und Kinder eingeschlossen hat, und dass endlich für
einen drohenden Zusamraenstoss alles auf einen Wurf gesetzt worden ist.
Während hierin das Mittelalter noch dem Alterthume ähnelt, hat die
in die Neuzeit herein wachsende Vervollkommnung der Waffen die Wirkung
gehabt, dass der schwächere Gegner schneller erlahmt, und so die Kriege
kürzer dauern. Hiermit vereinigt sich der Wegfall der obengenannten Um-
stände, um die Verluste der heutigen Kriege in günstigerem Lichte erscheinen
zu lassen.
Zur Beantwortung der zweiten Frage, die eine Vergleichung der Ver-
luste durch Kriegsverletzungen mit denen durch innere Krankheiten, nament-
lich Seuchen, voraussetzt, gibt eine Zusammenstellung der Verlustziö'ern der
neueren Kriege, wie ich sie S. 362 des 24. Bandes der Eealencyclopädie der
gesammten Heilkunde (2. Aufl.), versucht habe, folgende Thatsachen an die
Hand:
1. Die Kriegssterblichkeit infolge von Krankheiten hat in den neueren Kriegen von
rund 20% bis unter 1% der Heeresstärke geschwankt.
2. Die Sterblichkeit nach Kriegsverletzungen hat in mehreren grösseren Kriegen
übereinstimmend gegen 2% betragen.
606 MILITÄRKRANKENDIENST.
3. Da die Verluste, besonders die infolge von Krankheiten, in grosser Breite schwan-
ken, so lässt sich ein bestimmtes Verhältnis dieser Verluste zu denen nach Kriegsver-
letzungen nicht aufstellen.
4. Es scheint, als ob die Sterblichkeit nach Krankheiten in den neueren Kriegen
sich in höherem Grade günstiger gestalte als die nach Kriegsverletzungen. Das Verhältnis
jener zu dieser schwankt jedoch von 1:04 bis 1:9-3, so dass sich ein an bestimmte Regeln,
gebundenes Verhältnis nicht erkennen lässt.
Was die einzelnen Krankheitsgruppen und Krankheiten betrifft, die das
Heer vorzugsweise beschäftigen, so stehen die Seuchen, jene verschleppbaren
und ansteckenden Krankheiten, die räumlich und zeitlich gehäuft auftreten,
obenan.
Ihre Gehäuftheit vollzieht sich entweder plötzlich oder allmählich, indem
sie sich in beiden Fällen entweder auf den Ursprungsort der Seuche be-
schränkt, oder mehrere und vielleicht viele menschliche Niederlassungen in
ihren Bereich zieht. Dieses zeitliche und räumliche Verhalten liefert einen
klareren Maassstab für die Seucheneintheilung, als es das Festhalten am epi-
demischen und endemischen Wesen der Seuchen vermag. Nur der Begriff
„gehäuft" kann bei denen Anstoss erregen, die sich lieber auf mathematische
Berechnungen als auf blosse Gefühlsabschätzungen verlassen. Allein wie selten
sind wir so glücklich, unsere Beobachtungen mathematisch auszudrücken!
Nichtsdestoweniger ist es zum Zwecke gegenseitigen militärischen Verständ-
nisses zu empfehlen, dass Grenzen, obschon künstliche, für den Begriff"
„gehäuft" gezogen werden, und eine Garnison dann als verseucht angesehen
wird, wenn eine Seuche innerhalb einer Zeiteinheit mindestens einen be-
stimmten Bruchtheil der Garnison befallen hat.
Der militärärztliche Kampf gegen die Seuchen ist an der Stelle am aus-
sichtsvollsten, wo er sich gegen die Seuchenursachen richtet, wo er vor-
beugend geführt wird. Bei der bunten Mannigfaltigkeit der Krankheits-
ursachen muss alles, was erfahrungsgemäss für die Seuchenentstehung ver-
antwortlich gemacht werden kann, der Ausforschung unterworfen werden,
und muss jede gehäufte Krankheit so lange als ansteckend betrachtet werden,
bis das Gegentheil erwiesen ist.
Die vorbeugende Thätigkeit des Militärarztes hat die Aufgabe (vgl.
Hirsch):
1. die Krankheitsursachen an der Entwicklung zu hindern oder die vor-
handenen zu zerstören und die sie begünstigenden Einflüsse zu beseitigen;
2. die Verbreitungswege von Ort zu Ort und von Person zu Person zu
sperren;
3. die persönliche Empfänglichkeit zu tilgen oder die Person möglichst
widerstandsfähig zu machen.
Die Mittel der Vorbeugung sind an erster Stelle, da die meisten Krank-
heitsgifte im Schmutze willkommene Brutstellen finden, Reinlichkeit; dann
die gesundheitsmässige PtCgelung der Unterkunft, Bekleidung, Ernährung
und Beschäftigung, endlich die Entgiftungs-(oder Desinfections-jmittel. Die
letzteren bilden nur eine Ergänzung der ersteren und täuschen, allein ange-
wendet, oft das ihnen entgegengebrachte Vertrauen.
Den Uebergang der vorbauenden Thätigkeit des Militärarztes zur ver-
pflegenden und heilenden Thätigkeit bildet die Krankenförderung
(Krankentransport). Sie ist theils selbst eine Art Vorbauung, insoferne als
sie zur Zeit herrschender Seuchen ansteckende Kranke aus den Reihen des
gesunden Heeres ausscheidet und geeigneten Heilstätten zuführt, theils ist sie
der erste Schritt, die erste Hilfe für die Opfer der Schlachten, die aus ihrem
ungünstigen Aufenthalte heraus unter Dach und Fach gebracht werden müssen.
Unter den Transportmitteln steht die blosse, ungerüstete Menschenhand als unent-
behrliches, einfachstes und vorzüglichstes Mittel obenan. Die übrigen Transportmittel sind
die Bahren und Tragsessel in den verschiedensten Formen — Geräthe, die von Menschen-
händen oder von Thieren getragen werden, dann die Wägen, die von Thieren oder von
MILITÄRKRANKENDIENST. 607
Menschen, von Dampf oder Elektricität bewegt werden, und endlich die Schiffe. Näheres über
militärische Krankentransportweisen habe ich in dem allgemeinen Beitrag ^Krankentransport"
niedergelegt.
Was die Krankenverpflegung betrifft, so handelt es sich haupt-
sächlich um die Krankenunterbringung, für die als regelmässige Unterkunft
das Militärlazaret — als Bestandtheil der Garnison „Garnisonslazaret" genannt
— angesehen werden darf. Die Erfahrung hat gelehrt, dass kleine Garnisons-
lazarete den grossen in sanitärer Beziehung vorzuziehen sind. „Grosse Lazarete
sind Tempel, die dem Fieber und dem Tode errichtet sind." Darum soll die
Krankenzahl eines Lazarets 500 keinesfalls übersteigen.
Das Lazaret liege frei, ausserhalb enger Stadttheile, auf trockenem oder drainirtem
Untergrunde, der aus Sand und Kies und in grösserer Tiefe aus Lehm besteht.
Der Umfang des Lazarets muss so bemessen werden, dass etwa 4% der Garnisons-
stärke Unterkunft finden können, und dass auf jeden Kranken löOm'^ Baufiäche und 40 m^
Aufenthaltsraum entfallen.
Die Bauart ist für ein kleines Lazaret ein einfacher Frontbau; für grosse Lazarete
sind gemischte Bauformen zu empfehlen: für Leichtkranke genügt der Corridorbau, für
Schwerkranke sind Pavillons und für Seuchenkranke Isolirbaracken die geeignetsten Formen.
Die Krankenräume sollen jedenfalls nicht über dem 2. Gestock liegen. Je ein Zimmer
ist auf etwa lü Betten zu berechnen, doch ist auf Zimmer für Einzelne, z. B. Geisteskranke,
Ekel erregende, vorspiegelnde und verhaftete Kranke Bedacht zu nehmen. Der Abstand
der Betten von der Wand betrage 05 fn und zwischen je 2 Betten 1 m. Die Fenster müssen
soviel Lichtfläche ergeben, dass mindestens Töm^ auf den Kranken kommt. Die Dielung
sei wasser- und luftdicht. Die Wände und Decken seien glatt, ohne Vorsprünge und
Winkel, ohne Leimfarbe und ohne Oel gestrichen, nicht tapezirt. Die Einrichtungen für
Lüftung, Heizung, Beleuchtung und Abfall-Beseitigung sind die gemeingiltigen und orts-
gebräuchlichen, soweit sie gesundheitlich erprobt sind.
In der Marine dienen, besonders in den Colonien, die Stations-Hospital-
schiffe zu ständigeren Krankenunterkünften. In den heimischen Gewässern,
z. B. in England, werden für ansteckende Kranke oft ausser Dienst gestellte,
festliegende Schiffe als Lazaretschiffe (Hulks) verwendet. Sie lassen meist
viel zu wünschen übrig, hindern aber die Ausbreitung von Seuchen.
Zu Kriegszeiten wird für Unterkünfte in der Heimat, bezw. im kriegsfreien
Theile derselben, für solche beim kämpfenden Heere und für solche zwischen
diesen beiden Punkten gesorgt. Zur leichteren Verständigung habe ich diese
Heilanstalten zu unterscheiden vorgeschlagen in die „Ersatzlazarete"
der Heimat, weil sie die Garnisonslazarete „ersetzen" und zugleich für die
Ersatztruppen der Heimat verfüglich bleiben, in „St and lazarete", die
zwischen jenen äussersten Punkten liegen, und in „Feld lazarete", die
jetzt schon so genannten für das operirende Heer bereitzuhaltenden Heil-
anstalten.
Wenn es sich darum handelt, lediglich für die Zeit eines Krieges Heil-
anstalten zu errichten, so fasst man leichte eingestockige Baue — Zelte und
Baracken mit ihren Uebergängen: Barackenzelte, Zeltbaracken und die halt-
bareren und widerstandsfähigeren Hausbaracken und Barackenhäuser — ins
Auge. Einen neueren Fortschritt auf diesem Gebiete stellt die transportable
Feldbaracke dar, die wetterbeständig ist, unschwer zu Bahn oder zu Wagen
befördert und sofort und leicht aufgestellt und weggenommen werden kann.
Ausser der Unterkunft gehört zur Kranken Verpflegung noch die Kranken-
bekleidung, die Krankenbeköstigung und die Geldverpflegung der Kranken.
Alle diese Bestandtheile der Krankenverpfleguug sind in sämmtlichen Heeren
durch die Friedens- und Kriegs-Sanitätsordnungen eiugehend geregelt. Sie
auch nur in ihren Grundzügen besprechen zu wollen, würde an dieser Stelle
zu weit führen.
Die den Militärärzten obliegende Krankenheilung hat das Ziel, die
Dienstfähigkeit des Soldaten, sobald sie durch Krankheit unterbrochen wird,
gründlich, schnell und mit den zweckmässigsten Mitteln herzustellen. Je
nach der Unterkunft der Kranken wird ein Truppen- und ein Lazaret-Heil-
dienst unterschieden. Ersterer bezieht sich auf jene Leichtkranken, die ohne
ß08 MILITÄEKEANKENDIENST.
sich und anderen damit zu schaden, in den Unterkünften der Gesunden, in
der Kaserne, verbleiben. Der Lazaret-Heildienst erstreckt sich auf die Kranken
des Lazarets, die als solche mehr oder weniger schwerkrank, oder chronisch
krank oder ansteckungsfähig sind.
Die am kranken Soldaten zur Anwendung gelangenden Heilmittel müssen möglichst
wirksam, einfach, verbreitet, portativ, leicht herstellbar und ergänzbar, besonders auch im
Kriege verfüglich und endlich billig sein.
An der Spitze der militärmedicinischen Heilmittel steht die Handfertigkeit. Der
Druck des blossen Fingers hat nicht selten auf dem Schlachtfelde, z. B. bei Blutungen, die
Bedeutung einer Lebensrettung. Hierher gehört auch das Knetverfahren, mit dem jeder
Arzt und Sanitäts-Unterofficier vertraut sein sollte.
Von ähnlichem Werte ist das "Wasser. Sine aqua nollem esse medicus! Jeder Militär-
arzt sollte, wenn schon nicht ausschliesslich, Hydrotherapeut sein und die Heilanwendung
des Wassers gründlicher als die Eegeln des Receptschreibens beherrschen können.
In der Wahl der Heilmittel ist der Militärarzt so gut wie nicht beschränkt; nur
wird mit Recht vorausgesetzt, dass er die Wahl die billigeren Mittel und die billigeren
Gebrauchsweisen bevorzugt. Die Pharmacopoea pauperum gibt hierfür die Richtschnur.
Die freiwillige Kriegskrankenpflege — schon im Alterthume
vorhanden und zwar meist an Stelle der amtlichen Krankenpflege stehend —
hat erst seit den grossen Kriegen dieses Jahrhunderts, besonders aber seit
der Genfer internationaler Vereinbarung von 1864 Wurzel gefasst. In allen
civilisirten Ländern haben sich nun Vereine vom „Rothen Kreuz" gebildet,
die es sich zur Aufgabe machen, die amtliche Kriegskrankenpflege zu unter-
stützen und ihre hierzu nöthigen Maassnahmen schon zu Friedenszeiten zu
treffen. Die Bestimmungen des Genfer Vertrags sind viel gefeiert und viel
geschmäht worden. Freilich ist der Vertrag ein menschliches Stückwerk, das
zu noch segensreicheren Wirkungen hinaufentwickelt werden kann. Aber
schon in seiner jetzigen Gestalt leistet er unendlich viel, insofern er mitten
in dem unmenschlichen Treiben des Krieges, mit Wort und That unabweisbar
eine christliche Mahnung an das Sittlichkeitsgefühl der Partner richtet.
Was das örtliche und zeitliche Vorkommen der Militärkrankheiten be-
trifft, so ist das allgemeine Verhältnis zwischen Kriegsseuchen einerseits und
Kriegsverletzungen andererseits bereits besprochen worden. Es handelt sich
daher nur noch darum, in Kürze das Auftreten und den Einfluss der einzelnen
Seuchen auf die verschiedenen Heere zu beleuchten.
Die Pest, die Europa das ganze Mittelalter hindurch bis in das vorige Jahrhundert
heimgesucht hat, ist dann mehr und mehr zurückgewichen. Sie fristet ihr Dasein nur
noch im äussersten Südost Europas und in Asien, wo sie die Armuth und Faulheit als Ver-
bündete wirbt. Das Bestreben, ihrem Einbrüche und Fortschritte vorzubeugen, hat im
Jahre 1820 den Beschluss herbeigeführt, in Alexandria einen internationalen Sanitätsrath
einzusetzen. Die Sterblichkeit beläuft sich auf mehr als 50% der Erkrankten.
Der Darmtyphus (enterischer Typhus, Abdominaltyphus, Unterleibstyphus, enteric
fever, fievre typhoide) zählt mit der Lungensucht und der Lungenentzündung zu den
ernstesten Krankheiten der Heere. Im deutschen Heere sind anfangs der Siebzigerjahre
gegen 3000 Erkrankungen an dieser Seuche, anfangs der Achtzigerjahre je rund 2500,
und endlich nur noch 2000 vorgekommen, von denen jährlieh im Durchschnitt von 2 Jahr-
zehnten 350, am Ende der Achtzigerjahre 180 gestorben sind. Die Sterblichkeit ist seit
den Dreissigerjahren von 25-8°/o der Erkrankten bis auf 6% herabgesunken, so dass ihre
Abnahme den Hauptantheil an der natürlichen Sterblichkeit im Heere überhaupt hat. —
Im österreichisch-ungarischen Heere hat der Darmtyphus am Anfange der Siebzigerjahre
ebenfalls mit 3000 Erkrankungen eingesetzt, hat sich dann auf der Höhe von 2000 gehalten,
um in den Achtzigerjahren auf 1500 und endHch auf 1200 zu fallen. Die Sterblichkeit
hat in den gleichen Zeiten 700, 400, 300 und 200 Fälle aufzuweisen. Auch hier verursacht
er hauptsächlich die Abnahme der allgemeinen natürlichen Sterblichkeit, obgleich immer
noch 207o (im Jahre 1870 über 26%) der Behandelten starben. — In Grossbritannien er-
krankten innerhalb der letzten Jahrzehnte im Jahresdurchschnitt nur 0-5 bis l-0°/oo der
Heeresstärke am Typhus; die Sterblichkeit aber belief sich auf über 25% der Erkrankten;
im inländischen Heere starben z. B. 1875 von 91 Erkrankten 27 und in der Flotte 1891
von 206 Erkrankten 56. — Im französischen Heere ist das Fievre typhoide stark verbreitet,
und die Sterblichkeit ziemlich hocli; in den Siebzigerjahren kamen jährlich rund 4000 Er-
krankungen vor, und in den Achtzigerjahren stieg die absolute Zahl, um mit den Neun-
zigerjahren wieder abzunehmen; die Sterblichkeit ist in dieser Zeit beträchtlich herab-
gegangen: von 37% bis auf 16«/o der Erkrankten. Eine Vergleichung dieser Zahlenver-
MILITÄRKRANKENDIENST. 609
hältnisse mit denen des deutschen und österreichischen Heeres gibt Folgendes an die Hand.
Es erkrankten im deutschen Heeie im ös1err.-ung. Heere im französischen Heere
von der Iststärke 1882 10-l%o 10-6%o 35-3'Vnr,
1891 3-7 „ 4-3 „ 78,
Es starben
von der Iststärke 1882 0-55 „ 25. 3-2
1891 0-28, 0-8 „ 1-28;
Im italienischen Heere erkranken jährlich 1000 bis 1500 an Typhus; auch hier ist
die Sterblichkeit erheblich gesunken: 1878 starben noch 377% der ärztlich Behandelten,
1889/90 nur noch 18 G^/o- — Das russische Heer zeigt gegenüber den typhösen Fiebern ein
stark schwankendes Verhalten: 1881 gab es 15.717 typhöse Fieber, 1889 erkrankten 12-2''/co
undj[1890 12-6°/oo der Heeresstärke an Typhus; dagegen starben 1881 nur 12 5% der Er-
krankten.
Der Flecktyphus (Kriegslyphus, Typhus exanthematicus, Lues pannonica, ungarische
Krankheit) ist seit den ältesten Zeiten eine Geissei der Kriegsheere. Noch in dem neuesten
der grösseren Kriege, dem russisch-türkischen 1877/78 — die Verbreitung in früheren
Kriegen ist in meiner Mililärmedicin, Braunschweig 1887, dargelegt — hatten von je 1000
Gestorbenen im Donauheere der Russen 294 und im Kaukasusheere 411 an Flecktyphus
geendet. Allein vom 1. November 1877 bis 31. März 1878 sollen im Kaukasusheere 9402
Flecktyphusfälle mit 3392 Todesfällen vorgekommen sein. In den Friedensheeren pflegt er
nicht gehäuft vorzukommen.
Der Rückfallstyphus (Rückfallsfieber, Recurrens^ Relapsing fever, fievre ä
rechute) kommt hin und wieder gehäuft vor, breitet sich aber in den Heeren nach den
bisherigen Erfahrungen nicht in dem Grade aus, dass er zu den Heeresseuchen im engeren
Sinne gezählt werden könnte.
Die Ruhr ist kein ständiger Gast der Heere, wird aber zu einem gefährlichen
Feinde, wenn sie, wie es nicht selten geschieht, bei Truppen-Zusammenziehungen im Frieden
oder im Schoosse der Kriegsheere ihr Haupt erhebt. Im deutschen Heere kommen im
Jahresdurchschnitte etwa 400 Erkrankungen vor; bisweilen aber wird die Zahl 1000 erreicht
oder überstiegen; die Sterblichkeit beträgt etwa 33% der Erkrankten. — Im österreichisch-
ungarischen Heere kommen jährlich noch nicht 200, selten mehr Ruhrerkrankungen vor;
die Sterblichkeit übersteigt meist 10% der Erkrankten. — Aehnliche Schwankungen zeigt
die Erkrankung an Ruhr in den übrigen Heeren; namentlich aber sind in gemischten
Colonialheeren die weissen Truppen stärker heimgesucht als die farbigen. Das gilt ins-
besondere von den englischen Truppen Indiens. Auch im nordamerikanischen Bürgerkriege
sind fast lOmal so viele Erkrankungen bei den weissen wie bei den farbigen Truppen vor-
gekommen (233.812:25.259); dagegen hatten erstere verhältnismässig viel weniger Todesfälle
(4084:1492) infolge der acuten Ruhr.
Die Cholera befällt die Truppen im Frieden und Kriege, wann und wo sie solche
auf ihren zeitweisen Wanderungen antrifft; nur ist ihr Auftreten im Kriege insofern viel
verhängnisvoller, als sie die Schlagfertigkeit ganzer Heerestheile schwächt oder aufhebt,
und als sie in den Truppen ein Mittel ihrer Verbreitung erhält. In dem Cholera-Jahre 1873
kamen im Gebiete des norddeutschen Bundes 541 Erkrankungen und 218 Todesfälle vor,
so dass die Sterblichkeit über 40% der Erkrankten betragen hat. Im Heere Oesterreichs-
üngarns wurden 1873 2493 Mann von der Cholera ergriffen, und 893, also nur 36% der
Erkrankten, getödtet. Im englischen Heere Ostindiens werden alljährlich 400 bis 800
Choleraerkrankungen, und zwar viel mehr unter den europäischen als unter den eingeborenen
Truppen beobachtet. Von ersteren erkrankten 25%o, von letzteren 10%o der Iststärke
innerhalb von 20 Jahren; das Sterblichkeitsverhältnis war aber nahezu gleich gross. Im
Heere Frankreichs starben 1866 323, im Jahre 1867 797 (einschl. 744 in Algier) an Cholera.
Im Heere Italiens erkrankten im Jahre 1884 478, und zwar 212 mit tödtlichem Ausgange,
1885 93 mit 32 tödtlich endenden Fällen. Im Heere der nordame'rikanischen Freistaaten
erkrankten 317 mit 139 Todesfällen bei den weissen, und 187 mit 91 Todesfällen bei den
farbigen Soldaten.
Die Meningitis cerebro-splnalis (Genickstarre, Hirnseuche) tritt im Ganzen selten
auf, ist aber schon in allen Heeren beobachtet worden. Zwar spricht sich ihr Seuchen-
charakter in dem plötzlichen Vorkommen örtlich gehäufter Erkrankungen und in ihrer
hohen Sterblichkeit aus; allein ein gefährliches Fortschreiten über ganze Länder und Heere
liegt nicht in ihrem Wesen. Wenn im deutschen Heere innerhalb eines Jahres 30 und
mehr Fälle vorkommen, so ist dies schon als eine selten hohe Ziffer zu betrachten; und
dasselbe ist vom österreichischen Heere zu sagen. Im italienischen Heere aber sind Häufig-
keit und Sterblichkeit schon viel beträchtlicher; einzelne Jahre begnügen sich mit 30 Fällen,
anderen genügen nicht 100 Fälle, und die Sterblichkeit übersteigt bisweilen 80% der Be-
handelten.
Das Sumpffieber (Malaria) gefährdet die militärischen Unterkünfte des Friedens
und des Krieges, die in Sumpffieber-Gegenden liegen. Es nimmt mit der wachsenden
Cultur ab, so dass die Heere viel weniger heimgesucht werden als sonst. In den Flotten
dagegen, die im Auslande zahlreiche Berührungspunkte finden, hält sich die Zahl der
Sumpffieber-Erkrankungen höher als im Landheere der entsprechenden Staaten.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. ö9
610 MILITÄRKRANKENDIENST.
Im deutschen Heere erkranken jährlich an Sumpffieber kaum 20%o der Heeres-
stärke; 1882/83 waren es 16-3%o und 1891/92 nur 2-0"/oo. Dagegen erkranken in der
deutschen Flotte unter grossen vom Aufenthalte der Schiffe abhängigen Schwankungen oft
bis 80°/oo der Besatzung. Im österreichisch-ungarischen Heere ist das Sumpffieber entsprechend
der Bodenbeschaffenheit des Landes viel häufiger; 50"/oo Erkrankungen in Verpflegungsstande
des Heeres galten früher schon als eine ausnahmsweise niedere Ziffer; 1882 belief sie sich
auf 133-9%o und 1891 nur noch auf 30'6''/oo; in der Marine bewegt sich die durchschnitt-
liche Erkrankungsziffer um 70°/oo. Im französischen Heere erkrankten 1882 14-8%o der
Heeresgrösse und 1891 3-4%o- Grossbritanniens Heer und Flotte zeigen bei ihrer Verbreitung
fast über die ganze Erde die breitesten Schwankungen in der Erkrankung an Malaria.
Das italienische Heer zählt jährlich im Durchschnitt etwa 50°/oo Erkrankungen; das russische
aber über IOO^/qq.
Das Gelbfieber (Yellow fever, vomito prieto der Mexikaner) hat seine Heimat fast
nur auf der westlichen Halbkugel und kommt deshalb für die europäischen Landheere
weniger in Betracht. Wohl aber können die Truppen, wie es thatsächlich geschehen, die
Krankheit verschleppen und nicht nur ihre eigenen Feldlager zu Pflanzstellen der Seuche
machen, sondern auch die Civilbevölkerung gefährden. In den Siebzigerjahren geschah
es, dass aus Cuba zui-ückkehrende Truppen die Seuche nach Madrid brachten, wo dann
in einem Monate 100 Erkrankungen mit 80 Todesfällen vorkamen. An erster Stelle sind
Schiffsbesatzungen, beim Vorhandensein der erzeugenden und mitwirkenden Ursachen,
gefährdet, dann die Garnisonen in Seestädten und Handel treibenden Flassstädten.
Der Skorbut oder Scharbock kommt häufiger auf Schiffen und in belagerten
Festungen als in Friedens-Garnisonen vor. Seit der Verbesserung der Ernährung hat der
Skorbut in den meisten Heeren und Marinen beträchtlich abgenommen. Im deutschen
Heere kommen jährlieh gegen 70 Erkrankungen an Skorbut vor. Im österreichisch-unga-
rischen Heere ist die Erkranknngsziffer für das Einzeljahr seit 1880 sehr gesunken. Im
genannten Jahre erkrankten noch 5020 Mann, im Jahre 1885 aber nur 458 Mann an Skorbut.
In der englischen Flotte kamen im Jahre 1883 nur 10 Skorbutfälle vor. Etwa so viele
Erkrankungen wie das österreichisch-ungarische Heer zählt das kleinere italienische Heer,
z. B. im Jahre 1880 530 Fälle, d. i. 2-5''/(,o der Heeresgrösse. In Russlands Heere betrug
1873 dieselbe Verhältniszahl 5-30/po.
Die Pocken (Blattern, Variola), die in verflossenen Jahrhunderten ganze Heere ver-
nichteten, kommen Dank der Impfung und V^iederimpfung in den Heeren nur noch ver-
einzelt vor und sind jetzt nur ausnahmsweise und selten tödtlich. Im ersten Drittel des
laufenden Jahrhunderts mögen sich innerhalb des deutschen Bundesheeres wohl gegen 3600
Pockentodesfälle zugetragen haben; jetzt ist die Zahl der Krankheits- und Todesfälle im
deutschen Heere jährlich gleich 0. Im österreichisch-ungarischen Heere überstieg noch im
Jahre 1873 das Erkranken an Pocken die Zahl 4000, von denen 266 starben; neuerdings
ist die Erkrankungszahl auf 46 im Jahre 1892, 34 im Jahre 1893 und 28 im Jahre 1894 mit
0, beziehungsweise je 1 Todesfall gesunken. Das grossbritannische Heer liess z. B. 1883 unter
seinen Lazaretkranken 119 Pockenkranke nachweisen, während sie 10 Jahre vorher die Zahl
200 überstiegen hatten; die englische Flotte hatte 1891 34 Pockenfälle. Im französischen
Heere wurden während der Sechszigerjahre jährlich gegen 60 bis 70 Todesfälle und in
den Achtzigerjahren durchschnittlich noch nicht 20 beobachtet, im Jahre 1890 kam
1 Todesfall bei 102 Erkrankungen vor. Das italienische Heer hat in den Siebzigerjahren
jährlich, mit 1168 Erkrankungsfällen beginnend, schliesslich nur noch 200 bis 300 Er-
krankungen mit 10 bis 30 Todesfällen gehabt; in den Achtzigerjahren aber stieg die Zahl
der jährlichen Erkrankungen nicht bis 200. Im russischen Heere wurden im Jahre 1875
73 Pocken-Todesfälle beobachtet.
Die Lungensvicht (Tuberkulose) gehört mit der Lungenentzündung und dem Darm-
typhus zu den Krankheiten, die zu der Sterblichkeit in den Heeren am meisten beitragen.
Rechnen wir die miliare Tuberkulose und die Lungenblutungen zur Lungensucht, so liess
diese im österreichisch-ungarischen Heere innerhalb der Siebzigerjahre jährlich 1500 Er-
krankungen und 500 Todesfälle, in den achtziger Jahren 1100 Erkrankungen mit kaum
400 Sterbefällen vorzeichnen. — Im deutschen Heere betrugen die Lungensucht-Erkran-
kungen gleichzeitig im Jahresdurchschnitt 1150 und darauf unter breiten Schwankungen
etwa 1200; die Todesfälle sanken von 350 auf 250. — Im englischen Heere erkrankten in
den siebziger Jahren ll'80''/oo der Iststärke an Lungensucht und starben 4*7°/oo der Ist-
stärke; in den Achtzigerjahren sank die Sterblichkeit auf 3-6%o- — Im französischen Heere
erkrankten im Jahresdurchschnitt der Siebzigerjahre wenig über 2''/oo der Iststärke.
1888 stieg das Verhältnis des Erkrankens aut 548''/oo der Kopfstärke, das sind 2783 Er-
krankungen, von denen 599 = l'18'^/oo der Kopfstärke starben und 2184 = 4-30''/oo als dienst-
unbrauchbar entlassen wurden. In den letzten 10 Jahren sind 4"3''/oo des Heeres erkrankt
und l'12"/oo des Heeres gestorben, während gleichzeitig im österreichisch-ungarischen Heere
4'l''/oo erkrankt und l'3"/oo des Heeres gestorben sind, und die entsprechenden Verhältnis-
zahlen für das deutsche Heer 3-2°/oo und 06°/oo gewesen sind. — Im italienischen Heere
kamen von Lungensucht (ausschhesslich chronischer Lungenentzündung und Lungen-
blutung) innerhalb der Siebzigerjahre 508 (im Jahre 1871) bis 266 (im Jahre 1879) Er-
krankungen vor, von denen iährlich im Durchschnitt gegen 40"0''/o der Behandelten starben;
MILITÄRKRANKENDIENST. 611
1884 starben 139 an Tuberkulose und 1889/90 Sdl^/^o der an dieser Krankheit Behandelten.
Im russischen Heere endlich starben 1881 von 1554 Schwindsächtigen 735 und 1882 von
1320 nur 589.
Die Lungenentzündung ist im österreichisch-ungarischen Heere innerhalb der
Siebzigerjahre jährlich mit rund 3000 Erkrankungen vertreten gewesen; auch noch in
der ersten Hälfte der Achtzigerjahre sind jährlich 11 "/«o des Verpflegsstandes an Lungen-
entzündung erkrankt; dann aber ist die Erkrankungsziffer auf etwa 2300 heruntergegangen;
die Zahl der Todestalle betrug 370, noch im Jahre 1884 393 = J.-4'Voo des Verpflegs-
standes, und sank auf 200 herab; ja im Jahre 1894f ereigneten sich bei 1799 Erkran-
kungen nur 142 Todesfälle. Im deutschen Heere haben die Erkrankungen an Lungen-
entzündung in demselben Zeiträume sich von 4600 auf 5000, also nicht so hoch, wie man
bei der Heeresvergrösserung erwarten musste, gesteigert, und die Todesfälle haben im
Jahresdurchschnitt von jedem der beiden Jahrzehnte etwa 270 betragen. Im französischen
Heere erkrankten z. B. im Jahre 1888 3121 an Lungenentzündung und starben 315, also
10"9''/o an dieser Krankheit. Im italienischen Heere starben im Jahre 1884 339 an Lungen-
entzündung, 1889/90 aber 117"/oo der Behandelten. Im russischen Heere sind im Jahre 1889
llö^/uo urid 1890 10-4''/oo des Heeres an Lungenentzündung erkrankt.
Uebergehen wir die zahlreichen leichteren Erkrankungen, die dann und wann, wie
z. B. Gelbsucht, in auifälliger Gehäuftheit vorgekommen sind, ohne dass man sie weder
vermöge ihrer Ursachen noch wegen ihres Einflusses auf das Heer zu den Seuchen rechnen
kann, so bedürfen jedenfalls die venerischen Krankheiten, die in allen Heeren verbreitet
sind und die Dienstfähigkeit des Einzelnen auf Wochen und Monate aufheben, um hier-
durch die militärische Ausbildung vieler zu benachtheiligen, der Berücksichtigung. Das
deutsche Reich zählte in den Siebzigerjahren im Durchschnitt jährlich gegen 14.500 Er-
krankungen an Venerie, also 445°/oo der Iststärke; an Tripper sind so viele erkrankt, wie
an Schanker und Lustseuche zusammen (19 : 10 : 9). In den Achtzigerjahren fiel das Pro-
mille-Verhältnis der venerischen Erkrankungen von 38*2 im Jahre 1882/83, auf etwa 34%o und
dann auf 294 im Jahre 1891/92; in der deutschen Marine aber überstieg das Promille- Ver-
hältnis fortdauernd das doppelte des Landheeres. — Im österreichisch-ungarischen Heere
erkrankten in den Siebzigerjahren, und zwar 1873 die wenigsten (rund 13.400), 1878 die
meisten (rund 24.500), oder im Verhältnis zur Iststärke 56%o bis 81-4°'oo; 1882 waren es
73*77oo und 1891 69'4''/oo- Verglichen mit dem deutschen Heere sind im österreichisch-
ungarischen die Tripper zwar auch weitaus stärker vertreten als Geschwüre und Lust-
seuche; mehr aber verhindern die Geschwüre als die Lustseuche, dass die Tripper die
Höhe erreichen, wie jene beiden anderen Krankheitsarten zusammen (19 : 12 : 10); in den
Achtzigerjahren näherte sich dieses innere Verhältnis wieder dem im deutschen Heere
beobachteten, die Summe der venerischen Erkrankungen betrug indes immer noch über
707oo der Heeresgrösse. In der österreichischen Marine, wo noch 1879 über lOO^oo venerisch
erkrankten, fielen erst 1891 die Venerischen auf nahezu 70"/oo- — I™ englischen Land-
heere haben die einheimischen Truppen annähernd ebenso viele venerische Erkrankungen
aufzuweisen wie die auswärtigen; nur betheiligen sich hier die farbigen Truppen fast durch-
weg in geringem Grade; das Verhältnis der Erkrankungen zur Iststärke beträgt über TO^/oq,
nur ausnahmsweise über SO'/oo- Die absolute Summe der Erkrankungen ist in der Flotte
etwas grösser als im Landheere: 1890 kamen über 8600, 1891 über 8400 Fälle vor; das
innere Verhältnis von Tripper zu primärer und zu secundärer Syphilis war 1890 20:16:
: 6 und 1891 20 : 15 : 7. — Betreffs des französischen Heeres sei an das Jahr 1874, wo
38.837 = 103''/o„ der Iststärke, und an 1878 erinnert, wo 29.020 ^ 65-9%o venerisch
erkrankten; 1882 waren es öO-S^/oo und 1891 39-97on- — Im italienischen Heere war die
Erkrankungsziffer der Siebzigerjahre im Jahresdurchschnitt gegen 16.000, in den Achtziger-
jahren sank sie anfangs, doch ist sie 1890/91 wieder auf 15.809 gestiegen — Im russischen
Heere betrug die Zahl der Syphilitischen im Anfange der Achtzigerjahre durchschnittlich
gegen 36.000, 1889 waren es 9-6''/oo und 1890 10-2%o der Iststärke, während Tripper 1889
bei 20-6«/oo und 1890 bei 22-47o„ vorkam.
Die Zahl der Erkrankungen an Krätze hat sich im Laufe der Zeit mit der Aus-
breitung und Vervollkommnung der Cultur und besonders der Reinlichkeit, mit der Er-
kenntnis der Krankheitsursachen und mit der nun möglich gewordenen sicheren und raschen
Heilung des einzelnen Krankheitsfalles beträchtlich vermindert. Es ist kaum ein Menschen-
alter her, dass diese Hautkrankheit wegen ihrer Gehäuftheit umfangreiche Maassnahmen
erheischte; und noch im Holstein'schen Esecutionszuge 1864 wurden ganze Lazarete für
Krätzekranke eingerichtet und unterhalten, während man jetzt die Krätzekranken bei der
Truppe lässt und sie in wenigen Stunden — in Holstein brauchten wir noch eine und
mehrere Wochen zur Wiederherstellung — zu heilen pflegt. Im deutschen Heere kamen
in den Siebzigerjahren nur noch der zehnte Theil von den in den Sechzigerjahren beob-
achteten Fällen in Behandlung — etwa 14"/o(, der Iststärke. Am Anfange der Achtziger-
jahre gingen gegen 2600 Fälle jährlich zu; und 1881/82 betrug das Verhältnis nur noch
knapp 6<'/o. Im österreichisch-ungarischen Heere belief sich in den Achtzigerjahren die Zahl
der Erkrankungen auf rund 1500, also auf etwa 5%o — so zwar, dass sie seit 1879 jährlich
sich vergrösserte, im Jahre 1894 weist der Zugang 1328 Fälle = 4-8%o der Iststärkenach.
In Italien wurden im Jahre 1879 1018 und im Jahre 1880 1091 Soldaten wegen Krätze
39*
612 MILITÄRKEANKENDIENST.
lazaretkrank. Im russischen Heere aber betrug das Zugangsverhältnis im Jahre 1889 immer
noch lO-T^/oo «i^r Heeresgrösse und im Jahre 1890 ll'2"/oo.
Die Minenkrankheit entsteht durch die beim Verbrennen explodirender Stoffe, wie
Dynamit u. a., sich entwickelnden Gase, die die Minengänge erfüllen, sich bei hoher Luft-
wärme und Windstille langsam verflüchtigen und so die an den Sprengarbeiten Betheiligten
mehr oder weniger vergiften können, wenn sie unterirdische Minen nach erfolgter Sprengung
zu zeitig betreten, oder wenn der mit den Gasen durchsetzte Boden aufgearbeitet wird.
Früher kamen dann und wann derartige Massen Vergiftungen vor; es sei z. B. an die wäh-
rend der Minenübungen 1873 bei Graudenz beobachteten 74 Erkrankungen erinnert, von
denen 6 tödtlich endeten. Neuerdings, wo man mit den Schutzmaassnahmen besser ver-
traut ist, wird ganz selten von solchen Unglücksfällen gehört-
Der Hitzschlag und Sonnenstich (Hitzefieber, Insolation, Coup de chaleur, sun-
stroke) hat von jeher die Heere als ein heimiückischer Feind begleitet, der sich besonders
im Fussvolk seine Opfer sucht. Im deutschen Heere kamen in den Siebzigerjahren
und zwar jährlich im Durchschnitt etwa 100 Fälle von Hitzschlag vor; in den Achtziger-
jahren treffen wir absolut nicht weniger an, obschon sich das Heer vergrössert hatte; die'
Sterblichkeit war bald hoch, bald niedrig, meist bewegte sie sich zwischen 6 und 10% der
Erkrankten. — Im österreichisch-ungarischen Heere schwanken die Erkrankungen und
Sterbefälle ebenfalls in breiten Grenzen; 1884. verzeichnete es 49 mit 3 Todesfällen, 1885
30 mit 2, 1892 127 mit 2, 1893 50 mit 4 und 1894 124 mit 3 Todesfällen; die Sterblichkeit
ist also hier eine verhältnismässig niedere; in der Marine ereigneten sich 1883 37 Erkran-
kungen, und zwar von diesen 30 an Land. — Bei dem 57.000 Mann starken englischen
Heere Indiens kamen 1882 102 Erkrankungen mit 49 Todesfällen unter den Europäern,
die überhaupt öfter als Eingeborene befallen werden, vor. Besonders heftig ist der Hitz-
schlag während des Bürgerkrieges im Unionsheere aufgetreten, in dem 5 Officiere und 308
Mann an dieser Krankheit verendet sind.
Die militärische Augenentzündung (Ophthalmia militaris, egyptische oder an-
steckende Augenentzündung) erregt die allgemeine Aufmerksamkeit der Militärärzte seit
etwa 100 Jahren. Ihre Heimsuchung der Heere hat indes in der neueren Zeit beträchtlich
nachgelassen. In den Sechzigerjahren zählte das preussische Heer jährlich gegen 7000
Fälle oder rund 30%o Erkrankungen; dann sank die Anzahl der Fälle im deutschen Heere
innerhalb der Siebzigerjahre auf 3600 Fälle oder 137oo iind im Anfange der Achtziger-
jahre auf 1800 und noch weniger oder rund 5<'/oo- — Ein ähnliches, wenn auch mehr
zögerndes Sinken wird in dem österreichisch-ungarischen Heere wahrgenommen; hier ;er-
krankten im Jahre 1880 ll^o/oo des Verpflegsstandes, im Jahre 1885 2327 Mann oder 8-8»/oo
und 1894 gelangten 1997 Mann = 7-1 %„ (im Jahre 1891 ebenfalls 7-lo/oo, 1892 7-5%o und 1893
'''■7"/oo) wegen Trachoms und Augenblennorrhoe zur Behandlung. — Wie das napoleonische
Heer im Jahre 1798, so hat auch das englische Heer 1882 beim Feldzuge in Egypten auffällig
an Augenkrankheiten — 87-57oo des englischen Heeres wurden in den knapp zwei Monaten
augenkrank — gelitten. — In den italienischen Militärlazareten machte sich keine
entschiedene Abnahme der granulösen Augenentzündungen bemerklich; im Jahre 1871 kamen
1177 Fälle vor, 1872 1619, 1873 1145, 1874 1466, 1879 4201 und 1880 3283. — Das russi-
sche Heer hat unter den Augenkrankheiten stark zu leiden; noch im Jahre 1881 zählte
es 32.496 Fälle.
Ueberblickt man das Erkranken und Sterben in den grossstaatlichen
Heeren — die kleinen Staaten können hier, wo es sich um das Gesetz der
grossen Zahlen handelt, übergangen werden — , so fällt allenthalben ein deut-
licher und allmählicher Fortschritt zum Bessern wohlthuend in die Augen.
Das Erkranken hat im allgemeinen wie auch der tödtliche Ausgang der ein-
zelnen Krankheiten abgenommen
Wenn der denkende Mensch, wie er es gegenüber allen Naturerschei-
nungen thut, nach der Ursache dieser erfreulichen Thatsache fragt, so ist
er sich bewusst, dass die Antwort nicht auf der Hand liegen mag. Am ehesten
ist man geneigt, die Thatsache, soweit sie sich namentlich auf die Seuchen
bezieht, auf die fortschreitende Cultur der Menschen, insbesondere auf die
sich mehr und mehr ausbreitende Reinlichkeit ursächlich zurückzuführen.
Obwohl diese Annahme nicht gerade mit Ziffern belegt werden kann, so hiesse
es doch die Augen vor Thatsachen verschliessen, wenn man den befreienden
Einfluss der Cultur auf die Entstehung und Ausbreitung der Seuche verneinen
wollte.
Kaum aber kann angenommen werden, dass die Cultur, die Reinlichkeit,
die einzigen Ursachen dieser Seuchenabnahme seien. Denn letztere hat sich
in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Heere in so rascher Weise voll-
MILITÄR-SÄNITÄTSVERFASSÜNG. 613
zogen, dass ein Schritthalten mit der Cultur nicht erkennbar ist, wohl aber
eine entschiedene, von langsamen Wandlungen unabhängige Ueberholung
der Cultur. Vielleicht hat man daher zur Erklärung zugleich eine im Laufe
der Zeit wie von selbst eingetretene Abschwächung der Seuchengifte, die auch
die verminderte Sterblichkeit zum Theil erklären würde, heranzuziehen, viel-
leicht auch einen fortdauernden Sieg des gegen die Seuchen gerichteten
Kampfes der medicinischen Wissenschaft.
Die letztere Möglichkeit rückt freilich mehr in die Ferne, wenn man
bedenkt, dass mit der ärztlichen Macht gegen die einzelne Krankheit nicht
viel gethan ist, und dass immer noch Seuchenausbrüche trotz der Fortschritte
der Medicin und trotz aller ärztlichen Anstrengungen unaufhaltsam ihre ver-
derblichen Wege gehen.
Nichtsdestoweniger lassen wir uns die Freude an der Flucht des Feindes,
mag er von unsichtbaren Gegnern oder mag er vom Arzte geschlagen sein,
nicht vergällen. Denn jedenfalls ist mit dem Arzte als dem berufensten Ver-
fechter und Vertreter der Allianz gegen die ärgsten Feinde der Menschheit
zu rechnen. h. frölich.
Militär-SanitätSVerfaSSUng ist der Inbegriff aller der Ausübung des
Militär-Sanitätsdienstes dienenden Einrichtungen und Bestimmungen. Sie liefert
so gewissermaassen die Gestalt zum dienstlichen Handeln des Militärarztes
und zeigt, dass das allgemeine ärztliche Handeln durch die in Pflichten und
Rechten ausgesprochene Sonderstellung des Soldaten und durch die gesammte
Eigenart des militärischen Lebens gemodelt wird, zu einem specialistischen
gemacht wird.
Schon von jeher ist der Arzt des Heeres gehalten gewesen, militärische
Vorschriften über seinen Dienst zu beachten. Er hat sich gleichsam der
Hausordnung des Heeres zu unterwerfen und darum vor allem mit ihrem
Inhalte vertraut machen müssen. Und so ist es noch heutigen Tages. Selbst
anscheinend unverschuldete Unkenntnis militärgesetzlicher Bestimmungen
schützt nicht vor strafenden Folgen; denn auch für die Militärfamilie gilt das
eiserne Gesetz: Ignorantia juris nocet!
Die Sanitäts Verfassung jeder bewaffneten Macht setzt sich aus dem
Militär-Sanitätspersonal und dem Militär-Sanitätsmaterial zusammen. Unter
dem Militär-Sanitätspersonal ist dasjenige Personal zu verstehen, das zum
Zwecke der Ausübung des Sanitätsdienstes in das Heer oder in die Marine
als Bestandtheil eingefügt ist. Das Militär-Sanitätsmaterial ist das Material,
das nach gegebenen Vorschriften über Menge und Art dem Militär-Sanitäts-
personal für seine Dienstleistungen bereitgestellt wird.
Das Militär-Sanitätspersonal setzt sich in allen civilisirten Heeren aus
dem Aerztepersonal und dem Aerzte-Hilfspersonal zusammen. Beide Gruppen
sind in mehreren Staaten in ein „Sanitätscorps" zusammengeschlossen, in dem
nach Art der Truppenzusammensetzung die Aerzte als Sanitätsofficiere, die
ärztlichen Gehilfen als Sanitätsunterofficiere und die Krankenwärter als Sani-
tätsgemeine aufzufassen sind. Ausser diesem eigentlichen Sanitätspersonal gibt
es noch Nebeupersonal, nämlich dasjenige für den Krankentransport, das Apo-
thekerpersonal, die Verpflegungsbeamten und das militärische Aufsichtspersonal
in den Heilanstalten. Nur für den Krieg verfüglich und nicht etatisirt ist
das Personal der freiwilligen Krankenpflege, das sich für die verschiedensten
sanitären Aufgaben darbietet.
Der Umfang, in dem Sanitätspersonal bei der bewaffneten Macht Ver-
wendung findet, ist abhängig von deren Grösse und Bedarf, von deren An-
sprüchen an die Fähigkeiten dieses Personals, vom Umfange des in dem
betreffenden Lande heimischen Sanitätspersonals, von den Mitteln, die ein Staat
auf die Beschaffung des Personals verwenden kann oder will, und von den
614 MILITÄR-SANITÄTSVERFASSUNa.
Gegenleistungen, die das Personal in rechtlicher und materieller Beziehung
vom Staate thatsächlich zu erwarten hat.
Die allgemeine persönliche Wehrpflicht stellt eine grosse Anzahl er-
probter Aerzte zu Dienstzeiten in den Dienst des Heeres, die die für den
Kriegsbedarf unzureichende Zahl der Aerzte des Friedensstandes ergänzen.
Aber nicht lediglich die Zahl genügt der bewaffneten Macht, letztere stellt
auch die Bedingung, dass jeder ihr dienende Arzt auf sittlicher und wissen-
schaftlicher Höhe stehe und insbesondere die Militärmedicin mit allen ihren
besonderen Aufgaben auszuüben im Stande sei. Die volle Durchbildung an
einer Hochschule, specialistische Fortbildung und Prüfungen sind es, die der
bewaffneten Macht die grösstmöglichste Bürgschaft geben, dass technisch
leistungsfähige Aerzte den Friedens- und Kriegssanitätsdienst vertreten.
Das Hilfspersonal der Aerzte ist mit viel geringerem Aufwände ergänzbar.
Die Leute werden, soweit sie sich körperlich und geistig zum Sanitätsdienste
eignen, hierzu ausgehoben oder aus Reih und Glied genommen und in Unter-
richt und Uebung mit dem gleichsam körperlichen Theile des Sanitätsdienstes
vertraut gemacht.
Die Rechtsstellung des Sanitätspersonals hat sich mit seiner wachsenden
Bildung und Leistungsfähigkeit in neuerer Zeit gehoben. Es steht in seinen
persönlichen Rechten den übrigen Militärpersonen nahezu gleich. Fast überall
sind die Aerzte und ihr Hilfspersonal Personen des Soldatenstandes und haben
infolge dessen an den Rechten dieses Standes ebensosehr wie an seinen
Pflichten theil. Im besonderen wird das militärische Rechtsmaass durch den
Rang bezeichnet, und auch ein solcher ist jedem Militärarzte und jedem seiner
Gehilfen verliehen, so dass hiedurch eine genügende Rechtssicherheit gewährt
ist. Die Eigenthümlichkeit des Sanitätsdienstes, der mit dem Kampfe gegen
den Feind nichts zu thun hat, drückt auch den rechtlichen Beziehungen seiner
Vertreter ihren Stempel auf, insoferne die dem Kämpfer (Combattanten) ge-
setzlich und gewohnheitsgemäss zuerkannten Rechte in 13ezug auf Befehls-
gewalt nicht im ganzen Umfange auf die Träger des Sanitätsdienstes über-
tragen werden. Die Befehlsgewalt der eigentlichen Truppen -Befehlshaber
erstreckt sich auf alle Militärpersonen, während sich die der Leiter des
Sanitätsdienstes nur auf die mit diesem Dienste beauftragten auszudehnen
pflegt.
Für die Verpflegung des Sanitätspersonales, und zwar für seine Unter-
bringung, Bekleidung, Beköstigung und Besoldung, gelten fast in allen Staaten
die für das Heer gemeingiltigen Bestimmungen. Nur müssen die Ansprüche
des Sanitätspersonales, da die Verpflegungssätze sich nach dem Range richten,
und die Sanitätspersonen insgemein auf die höchsten militärischen Rangstufen
verzichten müssen, sich entsprechend bescheiden.
Das Militär-Sanitätsmaterial entspricht in seinen verschiedenen Arten den
mehrseitigen Beziehungen des Sanitätsdienstes; und so lassen sich folgende
Materialgruppen unterscheiden: Sanitätsmaterial des Unterrichts, der Rekru-
tirung, der Militär-Gesundheitspflege und der Militär-Krankenpflege. Dürfen im
weiteren Sinne auch Schreibmaterialien hierher gerechnet werden, so müssen die
nach vorgeschriebenen Mustern zum Zwecke der Statistik gewährten Formulare
mit berücksichtigt werden.
Das Militär-Sanitätsmaterial für den Sanitätsunterricht besteht in
amtlich eingeführten Unterrichtsbüchern und in dem Anschauungsunterrichte
dienenden Abbildungen. Da sich aber der Militär-Sanitätsunterricht auf alle
Bezirke des Militär-Sanitätsdienstes zu erstrecken hat, so schliesst der Unter-
richt zugleich auch alles den Einzelgebieten des Sanitätsdienstes zugehörige
und im Folgenden anzudeutende Material ein.
Das Sanitätsmaterial für die Rekrutirungen ist theils amtliches, d. h.
staatlich beschafftes, theils halbamtliches, d. h. dienstlich nöthiges, aber vom
MILITÄR-SANITÄTSVERFASSUNG. 615
Sanitätspersonal selbst zu beschaffendes. Zu ersterem gehört ein Rekruten-
maass zur Bestimmung der Körperlänge und in den meisten Staaten eine
Wage zur Wägung des Körpergewichtes. Während in einigen Heeren noch
diagnostische Behelfe aus staatlichen Mitteln gewährt werden, ist sonst die
Beschattung solcher den Militärärzten auf ihre eigenen Kosten überlassen. Zu
den unentbehrlichen Behelfen ist ein Bandmaass zur Messung von Körperthei-
len, insbesondere des Brustumfanges, sowie zur Messung der Hörweite, des Fern-
punktsabstandes etc. zu rechnen; ein solches Maass besteht am zweckmässigsten
aus waschbarer und undehnbarer Leinwand, darf nicht über 1 cm breit sein
und muss vor jeder Kekrutirung durch Vergleichung mit dem Rekrutenmaasse
auf Uebereinstimmung geprüft werden. Zur Prüfung der Sehleistung empfehlen
sich u. a. die SxKLLEN'schen Leseproben, einige concave und convexe Augen-
gläser, eine Lupe, deren Anwendungsweise Hock in der Wiener Klinik 1886,
Heft 4, vortrefflich abgehandelt hat, ein Prisma, Wollproben, Calabarpapier
und Atropin 005 auf 15-0 mit Pinsel. Den Ohruntersuchungen und Hörprü-
fungen dient die gewöhnliche Taschenuhr, der freilich ein Uhrwerk mit
Hemmungsvorrichtung vorzuziehen ist, ein Hohlspiegel mit drei Ohrtrichtern
aus Hartgummi, eine zinnerne Ohrspritze 30*0^ haltend mit Elfenbeincanüle.
Noch andere Spiegel, wie Endoskope, Augen- und Kehlkopfspiegel mitzunehmen
mag den Specialisten anheimgestellt bleiben. Eines Hörrohres ist für Herz-
untersuchungen nicht zu entrathen, während Klopfscheibe mit Hammer ent-
behrt werden können. Endlich kann ein Thermometer in Fällen, wo die Be-
tastung Fieberbewegungen wahrzunehmen glaubt, das ärztliche Urtheil (wie
ich im „Militärarzt" 1879 Nr. 19, ff. dargelegt habe) alsbald ausschlaggebend,
beeinflussen.
Das Sanitätsmaterial für den Militär-Gesundheitsdienst pflegt rein
amtlich zu sein und wird in der Regel von der Heeresverwaltung geliefert.
Es handelt sich hier hauptsächlich um sachliche Mittel, mit denen die mili-
tärischen Unterkünfte sammt ihren Einrichtungen für Lufterneuerung, Heizung,
Beleuchtung, Wasserversorgung und Abfallbeseitigung, die militärische Be-
kleidung und Ausrüstung, die Beköstigung, die Berufsverrichtungen, sowie
die unmittelbaren Schutzmaassregeln gegen Krankheiten auf gesundheitliche
Eigenschaften untersucht werden. Dass hiefür nicht in jeder Garnison eine
wissenschaftliche Untersuchungsanstalt errichtet wird, ist zu billigen. Denn
manches wird sich dem Militärarzt aus dem bereits für die Civilbevölkerung
Festgestellten ergeben, manches auch mit den Mitteln des am Orte befind-
lichen Militärlazarets, anderes wiederum mit den blossen ärztlichen Sinnen und
ohne die mehrentheils rein wissenschaftlichen Zwecken dienenden Geräth-
schaften sich autlilären lassen. Soweit es sich aber um physiognostische
Zwecke, insbesondere um die Feststellung des körperlichen Gedeihens des
Soldaten unter gegebenen Verhältnissen handelt, reichen die meist auch in
den Kasernen verfüglichen Wäge- und Messgeräthe in der Regel aus.
Den ungleich grössten Antheil an dem Sanitätsmaterial eines Heeres
beansprucht der Krankendienst. Dieses Material dient dem Heilzwecke,
ist also Heilmaterial; alles, was zur Wiederherstellung des Kranken dient, ist
Mittel zum Zweck, ist Heilmittel. Im weiteren Sinne sind es deshalb auch
Unterkunft, Bekleidung, Beköstigung und Beschäftigung des Kranken.
Im Allgemeinen von denselben gesundheitlichen Grundsätzen beherrscht,
wie sie für die Gesunden gelten, verlangen diese Grundsätze freilich gegen-
über Kranken eine andere, durch das Wesen der verschiedenen Krankheiten
bedingte Anwendung. So unterliegt z. B. die hauptsächliche Unterkunft der
Militärkranken, das Militärlazaret, im allgemeinen denselben baulichen Ge-
sichtspunkten, wie die der gesunden Soldaten, die Kaserne. Die Unterbrin-
gungsweise der Kranken aber ist eine pfleglichere; die Krankenräume erhalten
damit eine gewisse von Mannschaftsstuben verschiedene Eigenart, und so
616 MILITÄR-SANITÄTS VERFASSUNG.
wächst das Krankenhaus von innen heraus zu einer Form, die sich auf den
ersten Blick von der Kaserne unterscheidet. Nur dort, wo an die Unterkünfte
die einfachsten Bedingungen gestellt werden, nähern sie sich: Baracken und
Zelte zeigen für Gesunde und Kranke auch im Aeussern viel mehr Ueber-
einstimmung als Kasernen und Krankenhäuser.
Zu den Heilmitteln engeren Sinnes kann man die auf die Erkenntnis
und die Bekämpfung vorhandener Krankheiten unmittelbar gerichteten Mittel
rechnen, so die Heilgeräthe, Instrumente, Verbandmittel und Arzneimittel.
Aber auch hier noch ist mit dem Sprachgebrauche insofern zu rechnen, als
dieser die Instrumente und Heilgeräthe von den Heilmitteln engsten Sinnes,
den Verband- und Arzneimitteln trennt. Diese letztere Unterscheidung ist
praktisch wichtig, weil sie auch die Heeresverwaltung rechnerisch benutzt, indem
sie die Heilmittel in verbrauchbare (Verband- und Arzneimittel) und in unver-
brauchbare (Instrumente und Geräthe) zu theilen pflegt. Freilich ist auch
dieser Eintheilungsgrund nicht durchschlagend; denn im Grunde genommen
sind alle diese Heilmittel verbrauchbar, die einen in kürzerer, die anderen in
längerer Zeit.
Mehr als diese rein systematische Eintheilungsfrage interessirt die
Zahl, der Umfang der etatisirten, d. h. vom Staatsschatze bewilligten Heil-
mittel. Wenn schon hierbei der Grundsatz einer möglichst billigen Wirt-
schaft zum Ausdruck gelangt, so ist doch jetzt in allen Staaten zu beobachten,
dass dieser Grundsatz nirgends auf Kosten der Kranken die Pdchtschnur bildet.
Alle erprobten Heilmittel sind dem Militärarzte zugängig, und Staat und Arzt
reichen sich allenthalben die hilfsbereite Hand, die Leiden der Kranken zu
mildern und zu heben.
Da eine Militär-Sanitätsverfassung als menschliche Einrichtung nichts
Bleibendes ist, sondern beständigem Wechsel unterworfen sein muss, so ist es
Pflicht der Militärärzte, dafür zu sorgen, dass dieser Wechsel immer ein
Fortschritt zum Bessern sei, dass die Militär-Sanitätsverfassung nicht rück-
schreite, sondern sich vervollkommene.
Diese organisatorische Pflicht gehört zu den schwersten des Militärarztes.
Denn sie fordert nicht nur erfahrungsreiches Verständnis der Verfassungs-
und Dienstbestimmungen und ihrer etwaigen Mängel, sondern auch besondere
Charaktereigenschaften: Festigkeit, Freimuth, sowie eine Berufsbegeisterung,
die die objective Beurtheilung von Menschen und Dingen nicht beein-
trächtigt.
Vor allem ist, wenn diesen Bestrebungen der Erfolg nicht fehlen soll,
nach einem bestimmten logischen Leitfaden zu verfahren. Denn jede militär-
medicinische Verfassungsfrage bedarf streng wissenschaftlicher Behandlung;
und sonach ist der Gang einschlagender Arbeiten durch folgende Forderungen
bestimmt:
1. Feststellung des Begriffs des zu bearbeitenden Gegenstandes und
Rechtfertigung des Arbeitsthemas mit dem Hinweise auf seine allgemeine und
besondere Bedeutung.
2. Die Vergangenheit des Gegenstandes, seine geschichtliche Entwicklung
nach Ausweis der Literatur und eigener Erfahrung.
3. Gegenwärtiger Stand der zu beurtheilenden Einrichtung; seine Ver-
gleichung mit demjenigen der zweckähnlichen Verfassungsbestandtheile aus-
ländischer Heere; Prüfung des Verhältnisses von Zweck und Mitteln.
4. Feststellung der Mängel, die gefunden werden in den der Einrichtung
zugrundeliegenden Beweggründen oder in der amtlichen Verwirklichung der
leitenden Gedanken, unter gleichzeitigen Erörterungen der Fragen, ob das
Ueberkommene gegenüber veränderten Heeresverfassungen oder vollzogenen
Fortschritten der medicinischen Wissenschaft noch als nöthig oder nützlich.
NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 617
oder genügend, oder umgekehrt sich erweist und der Beseitigung oder Ver-
besserung bedarf.
5. Die Deckung des etwa erkannten Reformbedürfnisses hat vorschlags-
weise so zu geschehen, dass sich das Neue innig an das Vorhandene anschliesst
und sich dem Heeresinteresse und den Kriegsbedürfnissen gänzlich unterordnet.
6. Jeder neue Bestandtheil der Militär- Sanitätsverfassung ist in orga-
nischen Zusammenhang mit den richtig erfassten Heereseinrichtungen zu setzen.
H. FEÖLICn.
Nahrungsmittelverfälschung, im Verkehre mit Nahrungsmitteln
spielen Verfälschungen eine grosse liolle. Mehl wird mit Gyps, Schwerspath
und anderen farblosen, oft gesundheitsschädlichen Pulvern vermischt, verdor-
benes Mehl verbessert man mit Alaun und Kupfervitriol, Nudeln färbt man
mit Pikrinsäure, statt mit Eigelb, und in der Conditorei werden Gyps,
Schwerspath, Kreide, namentlich aber schädliche Farbstoffe vielfach ange-
wandt. Zucker wird mit Mehl und Dextrin, indischer Sirup mit Piunkelrüben-
und Kartoffelsirup verfälscht. Beim Fleisch kommen Unterschiebungen des
Fleisches kranker oder gar gefallener Thiere, Pferdeiieisch für Piindfleisch vor,
und Wurst wird allgemein mit Mehl veriälscht. Milch wird abgerahmt und
mit Wasser verdünnt, Honig wird mit Stärkesirup, Butter mit Kunst-
butter versetzt. Die Fälschungen von Wein (Unterschiebungen geringerer
Sorten und chemische Färbungen, Zusatz von Spiritus u. s. f.) sind allgemein
bekannt, es wird sehr viel mehr Madeira, Medoc u. s. w. getrunken als in
den betreffenden Weinbaugebieten wächst, und reiner Rum, Arrac, Cognac ist
eine Seltenheit im Handel.
Am schlimmsten treiben es die Fälscher aber bei den gemahlenen Ge-
würzen, indem geeignete Fälschungsmittel fabrikmässig dargestellt werden.
Solche Verfälschungen kamen schon vor Jahrhunderten vor, wenn sie auch heute
in bedeutend höherem Maasse betrieben werden. Sie gaben auch schon frühzeitig Ver-
anlassung zum Einschreiten des Gesetzgebers. Friedrich III. bedrohte schon im Jahre 1475
die Weinfälscber, und im 16. Jahrhundert wurde eine Controle des Gewürzhandels einge-
führt. Die spätere Zeit ist reich an Verordnungen, welche polizeiliche Revisionen ein-
führten und die Physiker im Verein mit besonders ausgebildeten und geprüften Chemikern
zur Untersuchung von Proben verpflichteten.
Im Deutschen Pteich wurde am 14. Mai 1879 ein Gesetz, betreffend
den Verkehr mit Nahrungsmitteln, Genussmitteln und Ge-
brauchsgegenständen publicirt. Dieses Gesetz ermächtigt die Polizei,
bei Händlern von Nahrungs- und Genussmitteln, Spielwaaren, Tapeten, Farben,
Ess-, Trink- und Kochgeschirren und Petroleum Proben zu entnehmen und
bei Händlern, welche auf Grund dieses Gesetzes zu Freiheitsstrafen verur-
theilt sind, Ptevisionen vorzunehmen.
Mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 1500 Mark oder mit
beiden Strafen wird belegt: 1. Wer zum Zweck der Täuschung im Handel und Verkehr
Nahrungs- und Genussmittel nachmacht oder verfälscht, 2. wer wissentlich Nahrungs-
oder Genussmittel, welche verdorben, nachgemacht oder verfälscht sind, unter Verschweigung
dieses ümstandes verkauft oder unter einer zur Täuschung geeigneten Bezeichnung
feilhält.
Ist die unter 2 bezeichnete Handlung aus Fahrlässigkeit begangen, so tritt Geld-
strafe bis 150 Mark oder Haft ein.
Mit Gefängnis wird bestraft: 1. Wer vorsätzlich Gegenstände, welche bestimmt sind,
Anderen als Nahrungs- oder Genussmittel zu dienen, derart herstellt, dass der Genuss der-
selben die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist, ingleichem, wer wissentlich
Gegenstände, deren Genuss die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist, als
Nahrungs- oder Genussmittel verkauft, feilhält oder sonst in Verkehr bringt; 2. wer
vorsätzlich Bekleidungsgegenstände. Spielwaaren, Tapeten, Ess-, Trink- und Kochgeschirre
oder Petroleum derartig herstellt, dass der bestimmungsgemässe und vorauszusehende Ge-
brauch dieser Gegenstände die menschliche Gesundheit zu beschädigen geeignet ist, in-
gleichem, wer wissentlich solche Gegenstände verkauft, feilhält oder in den Verkehr bringt.
Der Versuch ist strafbar. Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung
oder der Tod eines Menschen verursacht worden, so tritt Zuchthausstrafe bis zu fünf Jahren
618 NAHRUNGSMITTEL VERFÄLSCHUNa.
ein. War der Genuss oder Gebrauch des Gegenstandes die menschliche Gesundheit zu
zerstören geeignet, und war diese Eigenschaft dem Thäter bekannt, so tritt Zuchthaus-
strafe bis zu zehn Jahren und, wenn durch die Handlung der Tod eines Menschen verur-
sacht worden ist, Zuchthausstrafe nicht unter zehn Jahren oder lebenslängliche Zucht-
hausstrafe ein.
Ist eine dieser Handlungen aus Fahrlässigkeit begangen, so tritt je nach den Folgen
Geld- oder Gefängnisstrafe ein.
Auf Grund des Gesetzes können mit Zustimmung des Bundesrathes ge-
wisse Verordnungen erlassen werden, die aber dem Reichstage vorzulegen
sind und auf dessen Verlangen ausser Kraft treten.
Ferner ist unter dem 5. Juli 1887 ein Gesetz, betreffend die
Verwendung gesundheitsschädlicher Farben bei der Herstel-
lung von Nahrung s-, Genussmitteln und Gebrauchsgegenständen
veröffentlicht worden. Durch das Gesetz ist es verboten, gesundheitsschäd-
liche P'arben zur Hersteilung von Nahrungs- und Genussmitteln, welche zum
Verkauf bestimmt sind, zu verwenden. Gesundheitsschädliche Farben im Sinne
dieser Bestimmung sind diejenigen Farbstoffe und Farbzubereitungen, welche
Antimon, Arsen, Baryum, Blei, Chrom, Cadmium, Kupfer, Quecksilber, Uran,
Zink, Zinn, Gummigutti, Korallin, Pikrinsäure enthalten.
Der Rest des Gesetzes handelt von Gebrauchsgegenständen, die uns hier
nicht weiter interessiren.
Die Strafbestimmungen sind ähnliche wie im Gesetze vom 14. Mai 1879.
Zu diesem Gesetz hat der Reichskanzler eine Erläuterung erlassen,
betreffend die Untersuchung von Farben. Gespinnsten und
Geweben auf Arsen und Zinn. Es ist in dieser Erläuterung genau vor-
geschrieben, wie ein etwaiger Gehalt an Arsen und Zinn in den Unter-
suchungsgegenständen bestimmt werden soll.
Ein Gesetz, betreffend den Verkehr mit Wein, weinhaltigen
und weinähnlichen Getränken wurde am 20. April 1892 erlassen.
Im § 1 dieses Gesetzes sind diejenigen Stoffe angeführt, welche bei der Weinbereitung
nicht Verwendung finden dürfen. Dahin gehören: Alaun, Baryumverbindungen, Borsäure,
Glycerin, Kermesbeeren, Magnesiumverbindungen, Salicylsäure, unreiner Sprit, unreiner
Stärkezucker, Strontiumverbindungen, Theerfarbstoffe. Als Verfälschung dagegen soll
nicht angesehen werden 1. die anerkannte Kellerbehandlung einschliesslich Haltbar-,
machung des Weines, auch wenn dabei Alkohol oder geringe Mengen von mechanisch wir-
kenden Klärungsmitteln (Eiweiss etc.), von Kochsalz, Tannin, Kohlensäure, schwefliger Säure
oder daraus entstandener Schwefelsäure in den Wein gelangen; 2. der Verschnitt von
Wein mit Wein; 3. die Entsäuerung mit reinem, gefälltem kohlensaurem Kalk; 4. der
Zusatz von reinem Rüben-, Rohr- oder Inwertzucker, technisch reinem Stärkezucker, auch
in wässeriger Lösung. Der Zusatz muss sich jedoch innerhalb bestimmter Grenzen halten.
Im § 4 werden diejenigen Zubereitungsarten des Weines angegeben, die als Verfäl-
schungen im Sinne des Gesetzes vom 14. Mai 1879 angesehen werden sollen. Das sind:
1. Die Verwendung eines Aufgusses von Zuckerwasser auf ganz oder theilweise ausge-
presste Trauben; 2. die Verwendung eines Aufgusses von Zuckerwasser auf Weinhefe;
3. die Anwendung von Rosinen, Korinthen, Saccharin oder anderen als den oben be-
zeichneten Süssstoffen; 4. die Anwendung von Säuren oder säurehaltigen Körpern oder
von Bouquetstoffen; 5. die Anwendung von Gummi oder anderen Körpern, durch welche
der Extractgehalt erhöht wird.
Die derart hergestellten Getränke dürfen nicht als Weine in den Handel gebracht
werden, sondern müssen als das declarirt werden, was sie sind, nämlich als: Tresterwein,
Hefenwein, Rosinenwein, Kunstwein etc.
Die Strafbestimmungen sind dieselben wie im Gesetze vom 14. Mai 1879.
Zu diesem Gesetz hat nun der Reichskanzler mit Zustimmung des
Bundesrathes eine Anzahl Bekanntmachungen erlassen. In der ersten Bekannt-
machung sind die untersten Grenzen für den Gesammtgehalt an Extract-
stoffen mit 15^, der nach Abzug der nicht flüchtigen Säuren nicht unter
l'l g und nach Abzug der Gesammtsäuren nicht unter Ig in 100 ccm be-
tragen darf, festgesetzt. Der Gehalt an Mineralbestandtheilen muss mindestens
0*14 ^ pro 100 ccm Wein betragen.
Neuerdings ist nun noch eine Bekanntmachung erschienen, die die
Untersuchungsmethoden des Weines vorschreibt.
NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 619
Ausser diesen für das ganze deutsche Reich giltigen gesetzlichen Bestim-
mungen gibt es nun noch eine ganze Anzahl polizeilicher Bestimmungen, die
aber nur örtliche Wirksamkeit und Bedeutung besitzen.
Nachdem so die wichtigsten gesetzlichen Bestimmungen kurz mitgetheilt
sind, wollen wir uns nunmehr zur Besprechung der einzelnen Nahrungs- und
Genussmittel wenden. Es sollen hier jedoch nur diejenigen Arten der Ver-
fälschung nebst ihrem Nachweise erwähnt werden, die in hygienischer Be-
ziehung von Interesse sind. Betreffs der sonstigen Untersuchungsmethoden etc.
verweisen wir auf den Artikel „Nahrungs- und Genussmittel" im Band: Medi-
cinische Chemie, Seite 580 ff.
Die Milch. Eines der wichtigsten Nahrungsmittel besonders für die
Kinder ist die Milch. Durch ihre auch im normalen Zustande sehr schwan-
kende Zusammensetzung ist die Fälschung sehr erleichtert und wird auch
heute noch in grossem Maassstabe betrieben. Trotz sorgfältigster Con-
trole seitens der Polizei und der etwa angestellten Chemiker lässt sich den
gewissenlosen Fälschern das Handwerk nicht legen. Die Gründe dafür liegen
in der sehr wechselnden Zusammensetzung der Milch, so dass sich fast immer
ein Gutachter findet, der bei gerichtlichem Verfahren eine beanstandete Milch
noch als ungefälscht bezeichnet, worauf natürlich Freisprechung erfolgt.
Die Fälschung der Milch erscheint im bedenklichsten Lichte, wenn man
berücksichtigt, dass heute ein grosser Theil unserer Säuglinge mittelst Kuh-
milch ernährt wird. Wird nun diesen empfindlichen Wesen eine gefälschte
Milch verabreicht, so kann das von den übelsten Folgen für die Gesundheit
der Kinder sein.
Die gewöhnlichsten Arten der Fälschung: Verdünnen mit Wasser, Ent-
rahmen etc., lassen sich nachweisen durch das specifische Gewicht der Milch
bei 15", das specifische Gewicht der Molken — die Werte beider Zahlen
schwanken nur innerhalb bestimmter Grenzen — ferner durch die Bestimmung
des Fettgehaltes und der Trockensubstanz. Häufig macht sich gefälschte Milch
auch schon durch ihr Aussehen verdächtig, sie sieht häufig blau aus. Bezüglich
der Ausführung der eben genannten Bestimmungen verweise ich wieder auf
den Artikel „Nahrungs- und Genussmittel" im Band „Chemie".
Neben dieser gefälschten Milch kommen auch noch andere Arten Milch
in den Handel, die ebenfalls nachtheilig für die menschliche Gesundheit und
daher als Nahrungsmittel zu verwerfen sind. Das ist die sogenannte rothe
Milch. Sie verdankt ihre rothe Farbe manchmal einer mechanischen Bei-
mischung von Blut, manchmal aber auch einer Bacterienart.
Butter. Von den Arten der Fälschung der Butter haben für uns speciell
nur Interesse die Vermischung von guter Butter mit alter ranziger Butter
und die Färbung der Butter mit giftigen Farben. Die gewöhnlichste Art der
Butterfälschung, die Vermischung mit fremden Fetten — Margarine etc. —
braucht hier nicht besprochen zu werden, da sie hygienisch nicht in Betracht
kommt.
Wenn die Butter bei der Bereitung nicht sauber behandelt worden ist,
wenn z. B. die Buttermilch nicht durch Kneten mit Wasser vollständig ent-
fernt ist, oder wenn die Butter nicht hinreichend vom Wasser befreit ist, so
tritt allmählich eine Zersetzung der Butter ein. Diese Zersetzung wird hervor-
gerufen und gefördert durch Bacterien. In einer ranzigen Butter finden sich
auch sehr oft grosse Colonien von Schimmel- und anderen Pilzarten. Eine
derart verdorbene Butter ist nun geeignet, schädlich auf die menschliche Ge-
sundheit einzuwirken. Die Bestimmung der Ranzigkeit einer Butter auf
chemischem Wege beruht auf der Bestimmung der Menge der in der Butter
sich findenden freien Säure. Die Ranzidität wird in Graden ausgedrückt.
(Vergl. „Nahrungs- und Genussmittel", Band: Medicinische Chemie.)
620 NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHUNG.
Bezüglich der künstlichen Färbung der Butter ist zu erwähnen, dass
diese meist mit unschädlichen Farbstoffen geschieht. Es sind aber auch Fälle
vorgekommen, wo giftige Farben Anwendung gefunden hatten, z. B. Dinitro-
kresol.
Verfälschungen der Butter mit fremdem Fett können hier nur insoweit
in Frage kommen, als zur Bereitung des Zusatzes Fett von gefallenen oder kranken
Thieren oder aus Abdeckereien Verwendung findet. Dass dies wirklich ver-
sucht worden ist, geht daraus hervor, dass in Patentgesuchen (z. B. R.-P.
Nr. 19.013) die Verwendung solcher Fette aus Abdeckereien aufgeführt ist.
In deutschen Fabriken dürfte eine solche Bereitung aber heute ausge-
schlossen sein.
Neuerdings ist durch ein deutsches Reichsgesetz wiederholt die Ver-
mischung von Butter mit fremdem Fett, hauptsächlich Margarine, verboten
worden. Um das Verbot nun auch wirksam durchführen zu können, ist an-
geordnet worden, dass alle Margarine mit einem unschädlichen Farbstoff ver-
setzt wird, der es auch dem Laien ermöglicht, einen eventuellen Zusatz von
Margarine zur Butter zu erkennen.
Mehl und Brot. Von absichtlichen wissentlichen Fälschungen des
Mehles und infolge dessen auch des daraus bereiteten Brodes ist heute wohl
kaum noch die Rede. Früher hat man das Mehl wohl mit Schwerspath zur
Erhöhung des Gewichtes versetzt, oder verdorbenes, dumpfiges Mehl mit Alaun
behandelt; aber diese Arten der Fälschung dürften wohl heute kaum noch
vorkommen. Wichtiger sind die fremden, pflanzlichen Verunreinigungen des
Mehles. Die wichtigsten Verunreinigungen dieser Art sind die Kornrade und
das Mutterkorn. Da durch den Genuss von Brot, das aus Mehl mit diesen
Verunreinigungen hergestellt worden ist, die menschliche Gesundheit ge-
schädigt werden kann, so ist der Nachweis derselben von grosser Wichtigkeit.
Chemisch ist der Nachweis von Mutterkorn und Kornrade schwer zu erbringen.
Dagegen lassen sie sich leicht mit Hilfe des Mikroskops nachweisen.
Zuweilen soll Kupfervitriol im Brot gefunden worden sein. Ein solcher
Zusatz dürfte wohl zu den grössten Seltenheiten gehören, da er für den
Fälscher vielleicht gefährlicher ist als für den Consumenten.
Wein. Ein sehr beliebtes Fälschungsobject ist der Wein. Er wird theils
mit Wasser versetzt, um die Quantität zu vermehren, theils werden schlechte
saure Jahrgänge mit Süsswein verschnitten zur Verbesserung der Qualität,
theils wird die Qualität des Weines auf andere Weise zu verbessern gesucht,
oder der ganze Wein wird künstlich hergestellt. Solche Manipulationen
charakterisiren sich zum grössten Theil als Fälschungen. Infolge der wech-
selnden Zusammensetzungen der Weine je nach den Jahrgängen, der Lage
der Weinberge etc. ist es für den Chemiker äusserst schwierig, den Fälschungen
auf die Spur zu kommen und dieselben mit solcher Gewissheit festzustellen,
dass eine Bestrafung des Fälschers eintreten kann.
Bei der Beurtheilung der Weine für gerichtlich-chemische Fälle sind
zwei Fälle zu unterscheiden:
1. Dem Wein sind Stoffe zugesetzt worden, die dem normalen Wein voll-
ständig fremd sind, z. B. Theerfarbstoffe, gewisse Conservirungsmittel, Sac-
charin etc. Diese Stoffe sind fast ausnahmslos leicht und sicher nachweisbar,
und ihre Beurtheilung macht nach dem Erlasse des Weingesetzes vom 20. April
1892 meist keine Schwierigkeiten.
Zur Verdeckung des sauren Geschmackes werden dem W^ein künstliche
Süssstoffe (Saccharin, Dulcin), zur Conservirung Borsäure, Salicylsäure,
Abrastol (ß-naphtolsulfosaures Calciun), Fluorverbindungen zugesetzt. Wenn
die Weintrauben zur Bekämpfung von Rebenkrankheiten mit Kupferlösungen
behandelt worden sind, gelangt Kupfer in den Most; bei der Gährung wird
aber der grösste Theil des Kupfers unlöslich abgeschieden, so dass sich nur
NAHRUNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 621
sehr kleine Mengen im Wein vorfinden. Zum Entgypsen des Weines werden
die Weine zuweilen mit Baryum- oder Strontiumsalzen behandelt, durch die
der übermässige Schwefelsäuregehalt der gegypsten Weine vermindert werden
soll; dabei bleiben meist kleine Mengen Baryum- oder Strontiumsalze in dem
Wein gelöst zurück. Um den Wein zu entsäuern, hat man ihn zuweilen mit
Bleioxyd oder Bleizucker behandelt, wobei Bleisalze in dem Wein zurück-
blieben.
Alle diese Arten von Zusätzen zum Wein sind als Verfälschungen zu
bezeichnen und sind zum Theil gesundheitsschädlich.
2. Dem Wein sind Stoffe oder Gemische von Stoffen zugesetzt worden,
die sich bereits im Weine vorfinden, z. B. Glycerin, Weinstein, Alkohol etc.
Hier genügt es nun natürlich nicht mehr, die betreffenden Stoffe im Wein
nachzuweisen, um daraus auf eine Fälschung zu schliessen. Es ist vielmehr
nothwendig, dass man die Menge dieser Stoffe im Wein feststellt. Um sich
aus den gefundenen Mengen ein Urtheil darüber bilden zu können, ob ein
Zusatz derselben zum Wein stattgefunden hat oder nicht, muss bekannt sein,
wie gross die Mengen des Stoffes sind, die sich in unverfälschten Weinen
vorfinden. Wie schon erwähnt wurde, ist die Zusammensetzung der reinen
Weine eine ausserordentlich schwankende und deshalb der Nachweis des
Zusatzes eines Stoffes, der im Wein bereits von Natur enthalten ist, sehr
schwierig. Man kam sehr bald zu der Einsicht, dass man nur zum Ziele
kommen könne, wenn man in jedem Falle, wo ein Wein zu beurtheilen war,
nur ein verhältnismässig eng begrenztes Weinbaugebiet ins Auge fasste und
die Schwankungen in der Zusammensetzung unzweifelhaft reiner Weine dieses
Weinbaugebietes an einer möglichst grossen Anzahl von Proben feststellte.
Derartige systematische Untersuchungen der Weine einzelner Weinbaugebiete sind
bisher nur in Deutschland ausgeführt worden. Bereits im Jahre 1886 trat eine Anzahl
anerkannt tüchtiger, deutscher Weinchemiker zu einer „Commission zur Bearbeitung einer
Weinstatistik für Deutschland" zusammen. Die Commission hat in den Jahren 1887 — 1894
eine grosse Anzahl von Mosten und Weinen aus den deutschen Weinbaugebieten unter-
sucht und die. Ergebnisse veröffentlicht. Die Untersuchungen der Commissionsmitglieder
bieten ein überaus wertvolles Material für die Beurtheilung der Zusammensetzung der
deutschen Weine.
Noch ein anderer Punkt erschwerte bis vor Kurzem die Beurtheilung
der Weine auf Grund der. chemischen Untersuchung in nicht unerheblichem
Maasse: die Unsicherheit in Betreff dessen, was als Verfälschung des Weines
und was als zulässige Behandlung des Weines anzusehen sei. Da das Gesetz
vom 14. Mai 1879, betreffend den Verkehr mit Nahrungs- und Genussmitteln
und Gebrauchsgegenständen, ganz allgemein gehalten ist und auf die ein-
zelnen Nahrungsmittel nicht eingeht, war es Sache der Gerichte, in jedem
Einzelfalle zu entscheiden, ob eine Verfälschung verliege oder nicht. So kam
es denn, dass die Entscheidungen der Gerichtshöfe in den verschiedenen
Theilen des deutschen Reiches nicht gleichmässig ergingen. Diesem unhalt-
baren Zustande wurde durch das Gesetz vom 20. April 1892, betreffend den
Verkehr mit Wein, weinhaltigen und weinähnlichen Getränken, abgeholfen.
Durch dieses Gesetz ist, wie oben schon mitgetheilt, klar festgestellt, was als
zulässige Behandlung des Weines, bezw. als erlaubter Zusatz zu dem Weine
und was als Verfälschung anzusehen ist.
Durch dieses Gesetz vom 20. April 1892 ist nun der Zusatz einer
ganzen Anzahl von Stoffen verboten worden. Diese wollen wir einer kurzen
Besprechung unterziehen. Wenn auch ein grosser Theil dieser verbotenen
Zusätze keine directe Gefahr für den gesunden, menschlichen Organismus in
sich birgt, so ist doch immer zu berücksichtigen, dass heute sehr viel Wein
zur Kräftigung von schwächlichen Personen (Reconvalescenten etc.) verordnet
wird, und dass sicher durch diese Zusätze eventuelle Störungen des Wohl-
befindens eintreten können.
622 NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHÜNG.
1. Lösliche Aluminiumsalze (Alaun und dergl.). Von löslichen
Aluminiumsalzen kommt als Zusatz zum Wein fast nur Alaun in Betracht;
die Klärerden (Kaolin, spanische Erde) fallen als unlösliche Aluminiumverbin-
dungen nicht unter das Verbot. Alaun wurde mitunter beim Schönen des
Weines, namentlich beim Klären des Schaumweines, benützt; auch bildet der
Alaun einen Bestandtheil gewisser künstlicher Weinfärbemittel. lieber den
Nachweis des Alauns und der im Folgenden zu besprechenden Stoffe ver-
gleiche „Nahrungs- und Genussmittel" im Band: Medicin. Chemie.
2. Baryum- und Strontium Verbindungen. Zum Entgypsen der
Weine, d. h. richtiger zur Verminderung des hohen Schwefelsäuregehaltes ge-
gypster Weine ist vorgeschlagen worden, den gegypsten Wein mit Baryum-
verbindungen (Chlorbaryum, weinsteinsaurem Baryum, kohlensaurem Baryum)
oder mit Strontiumverbindungen zu versetzen. Dabei ist nicht zu vermeiden,
dass gewisse Mengen der so überaus giftigen Baryum und Strontiumverbin-
dungen im Wein gelöst bleiben. Thatsächlich hat man in entgypsten Weinen
wiederholt Baryum- bezw. Strontiumverbindungen beobachtet.
3. Borsäure. Mitunter sind zur Conservirung des Weines Borsäure
oder Borsäure enthaltende Gemische empfohlen und angewandt worden. Für
die Beurtheilung der Weine ist die Thatsache von Wichtigkeit, dass die Bor-
säure ein normaler Bestandtheil des Weines zu sein scheint. Zur Feststellung
eines Zusatzes derselben zum Wein genügt es also nicht, sie qualitativ im
Wein nachzuweisen, man muss vielmehr eine quantitative Bestimmung der-
selben ausführen. Da der Zusatz von Borsäure zum Wein, wenn diese wirk-
lich conservirend wirken soll, ziemlich beträchtlich sein muss, denn kleine
Mengen Borsäure haben keine conservirende Wirkung, so wird es meist
möglich sein, durch die quantitative Bestimmung festzustellen, ob ein Zusatz
stattgefunden hat oder nicht.
4. Glycerin. Das Glycerin bildet einen wesentlichen Bestandtheil der
W^eine, mitunter wird es auch künstlich zugesetzt, um dem Wein eine grössere
Süssigkeit und einen höheren Extractgehalt, also eine bessere Beschaffenheit
zu verleihen, als er seiner Natur nach beanspruchen kann. Aus dem Grunde
ist dieser Zusatz als Verfälschung anzusehen, abgesehen davon, dass das
Glycerin des Handels durchweg stark verunreinigt ist.
Um nun einen Zusatz des Glycerins zum Wein feststellen zu können,
muss man den Glyceringehalt unversetzter W^eine kennen. Dieser schwankt
innerhalb weiter Grenzen. Da das Glycerin ein Erzeugnis der Gährung ist,
wird es in um so grösserer Menge entstehen, je mehr Zucker zur Vergährung
gelangt; es ist daher vorauszusehen, dass eine gewisse Beziehung zwischen
dem bei der Gährung entstehenden Alkohol und dem daneben entstehenden
Glycerin besteht. Zahlreiche Versuche haben ergeben, dass bei der Gährung
des Mostes auf 100 Gewichtstheile Alkohol meist 7 bis 14 Gewichtstheile
Glycerin entfallen. Die Weinchemiker drücken diese Erfahrung in der Weise
aus, dass sie sagen, das Alkohol-Glycerinverhältnis schwankt meist zwischen
100:7 und 100:14.
Das Verhältnis zwischen Alkohol und Glycerin kann nun auch jene
Grenzen überschreiten, ohne dass Glycerin künstlich zugesetzt ist. Wenn die
Bedingungen für die Gährung des Mostes ausnahmsweise günstig sind, so
entsteht mehr Glycerin, als dem oben angeführten Verhältnisse entspricht.
Bei langem Lagern der W^eine verschwindet ein Theil des Alkohols theils
durch Verdunstung, theils durch Oxydation unter der Einwirkung des Kahm-
pilzes. Es können also Weine vorkommen, die auf 100 Gewichtstheile Alkohol
mehr als 14 Gewichtstheile Glycerin enthalten, ohne dass sie gefälscht sind.
Findet sich nun ein solcher Wein, so ist bei der Begutachtung zu prüfen, ob
Umstände vorliegen, die einen Alkohol verlust hervorrufen. Sind diese Um-
NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 623
stände nachweislich ausgeschlossen, so hat bei den gewöhnlichen deutschen
Weinen ein Glycerinzusatz mit grosser Wahrscheinlichkeit stattgefunden.
5. Kermesbeeren. In Deutschland kommen die Kermesbeeren als
Rothwein-Färbemittel nicht in Betracht; dagegen finden sie in Frankreich,
Spanien, Portugal u. s. w. Verwendung. Man wird daher nur bei den aus
südlichen Ländern eingeführten llothweinen auf diesen Farbstoff Rücksicht zu
nehmen brauchen.
6. Magnesiumverbindungen. Ein Zusatz von Magnesiumverbin-
dungen zum Weine dürfte nur selten vorkommen, es sei denn, dass beim
Klären des Weines mit kieselsaurer Magnesia, was mitunter vorgenommen
werden mag, sich ein Theil der Magnesia auflöst. Auch mag es hie und da
vorgekommen sein, dass man den Wein mit gebrannter Magnesia entsäuerte;
dabei gehen dann erhebliche Mengen Magnesia in den Wein über. Die
Magnesia ist ein normaler Bestandtheil des Weines, doch kommt sie immer
nur in kleinen Theilen vor.
7. Salicylsäure. Diese Säure wird dem Wein mitunter zugesetzt, um
ihn zu conserviren. Wenn der Zusatz seinen Zweck erfüllen soll, darf er
nicht zu gering bemessen werden. Man hat die Beobachtung gemacht, dass
die Salicylsäure im Wein sich allmählich zersetzt und ihre conservirende
Wirkung einbüsst, man muss daher den Zusatz nach einiger Zeit erneuern.
Der Nachweis gelingt leicht.
8. Unreiner (freien Amylalkohol enthaltender) Sprit. Nach § 3 des
W^eingesetzes darf der Wein bei der Kellerbehandlung einen Zusatz von
Alkohol bis zu einem Maassprocent erhalten. Dieser Alkohol soll gereinigt und
frei von Fuselöl sein. Der Nachweis des Zusatzes von ungereinigtem, fusel-
ölhaltigem Spiritus zum Wein ist innerhalb der erlaubten Grenze des Zu-
satzes nicht möglich. Es ist übrigens auch sehr unwahrscheinlich, dass
jemand den Wein mit so stark fuseligem Spiritus versetzt, dass ein solcher
Wein gesundheitsschädliche Wirkungen ausübt, da hiedurch der Geruch und
Geschmack des Weines erheblich leiden könnte.
9. Unreiner Stärkezucker. Fast der gesammte in den Handel
kommende Stärkezucker ist nicht reine Dextrose, sondern enthält je nach der
Qualität mehr oder weniger, meist sehr grosse Mengen von Stoffen, die als
Zwischenglieder zwischen der Stärke und dem Traubenzucker aufzufassen sind;
man hat diese Stoffe Amylin, Gallisin, oder auch „die unvergährbaren Bestand-
theile des Stärkezuckers" genannt. Das Amylin soll gesundheitsschädlich
sein. Der Nachweis des Zusatzes von unreinem Stärkezucker zu dem Weine
beruht auf dem Gehalte des Stärkezuckers an diesen Bestandtheilen, die durch
die Hefen des Weines nicht vergohren werden.
10. Theerfarbstoffe. Färbungen der Rothweine mit Theerfarbstoffen
dürften gegenwärtig nur noch sehr selten vorkommen. Meist werden zum
Färben der Weine stark gefärbte, südländische Rothweine oder rothe Pflanzen-
farbstoffe verwendet. Der Nachweis, dass Theerfarbstoffe verwendet wurden,
wird nach den Methoden, die die Verordnung des Bundesrathes über die .
Untersuchungen der Weine vorschreibt, mit Sicherheit erbracht. Die Theer-
farbstoffe sind meist gesundheitsschädlich.
Die anderen im Gesetz erwähnten verbotenen Zusätze brauchen hier
nicht weiter erwähnt und besprochen zu werden, da sie nicht nachtheilig
für die Gesundheit sind. Bis zu einem gewissen Grade schädlich könnte
ein zu hoher Alkoholzusatz zum Weine sein, wenn man berücksichtigt, dass
der Wein in der Medicin nur zur Kräftigung Kranker benutzt wird. Bei
unseren einheimischen Weinen kommt ein solch abnorm hoher Zusatz selten
oder gar nicht vor, mehr dagegen bei den Süssweinen (Tokayer etc.). Diese
letzteren bedürfen einer besonderen Betrachtung, da sie nicht unter das Wein-
gesetz fallen und da sie grosse Verwendung als Medicinalweine finden.
624 NAHRUNGSMITTELVERFÄLSCHÜNG.
Süssweine. Es sind dies Weine, welche sich durch einen aussergewöhn-
lich hohen Extract- und Alkoholgehalt auszeichnen. Viele von ihnen spielen
als sogenannte Medicinalweine eine wichtige Rolle.
Die wenigsten Weine dieser Art sind aus stark süssen Trauben ohne
jedweden Zusatz bereitet, die meisten sind durch die Art ihrer Bereitung
Kunstproducte.
Ein grosser Theil der im Handel oft zu verhältnismässig sehr billigen
Preisen vorkommenden Süssweine ist durch Nachahmung der besten Süss-
weintypen entstanden und hat sich an gewissen Orten eine förmliche In-
dustrie solcher Fagonweine entwickelt.
Nach der Höhe ihres Alkohol- und Zuckergehaltes kann man unter-
scheiden zwischen 1. Eigentlichen Süssweinen und 2. Liqueurweinen.
Die ersteren zeichnen sich durch einen sehr bedeutenden Gehalt von
Zucker und Extract, neben oft nur geringem Alkoholgehalt aus. Hierher
gehören: Rheinische Ausbruchweine mit 9 — 13 Vol. "/o Alkohol und 3— 14^0
Extract, Tokayer Ausbruchweine mit 7—18 Vol. 7o Alkohol und 8—27%
Extract, Sicilianische Muskatweine, Malagaweine etc.
Die Liqueurweine dagegen besitzen einen sehr hohen Alkoholgehalt
neben relativ niedrigem Extractgehalt. Hierher gehören:
Marsallaweine mit 19 — 25 Vol. 7o Alkohol und circa 5% Extract, Sherry-
weine mit 18 — 25 Vol. °/o Alkohol und 3—5% Extract, Portweine mit 15 bis
24Vol.% Alkohol und 3—8% Extract etc.
Die als Medicinalweine bezeichneten Weine sollten eigentlich streng
reine Naturweine sein, leider ist aber heute gerade das Umgekehrte der Fall.
So lange der Arzt die Art des Weines für Kranke und Reconvalescenten
vorschreibt, liegt keine directe Gefahr vor, da der Arzt sich auf Grund
chemischer Analysen die Weine für den speciellen Zweck aussuchen kann.
Es werden diese Kunstproducte, namentlich Tokayerweine, aber auch direct
vom Publicum ohne Befragen des Arztes gekauft. Da wird denn manchmal
einem schwachen Kinde ein Wein verabreicht, der neben hohem Alkohol-
gehalt wenig Extract und wenig Mineralstoöe enthält; Schreiber dieses war
mehrfach in der Lage, amtlich sogenannten Medicinaltokayer zu untersuchen,
der neben 10—12 Vol. "/o Alkohol 18—22% Extract und etwa 0-27o Mi-
neralbestandtheile enthielt. Es lag also ein Wein vor, der im wesent-
lichen aus Zucker, Alkohol und Wasser bestand. Dass ein solches Getränk
nicht besonders kräftigend wirkt, liegt wohl auf der Hand. Gerade der
Handel mit solchen Medicinalweinen sollte streng beaufsichtigt werden.
Heute aber dringt der amtliche Chemiker mit seinen Beanstandungen dieser
Kunstproducte von Gericht nur sehr selten durch. Es ist also den Fälschern
das Handwerk noch ziemlich leicht gemacht.
Bier. Unter Bier versteht man nur dasjenige Getränk, welches aus dem
wässerigen Auszug des Gersten - Darrmalzes unter Zusatz von Hopfen und
theilweiser Vergährung mit Bierhefe bereitet wird. Biere, zu deren Bereitung
andere Getreidefrüchte als Gerste verwendet wurden, sollten nur mit dem
Namen der betreffenden Getreide versehen in den Handel gebracht werden.
Bierverfälschungen, besonders solche, welche hygienische Bedeutung
haben können, kommen heute selten vor. Unter den dem Biere zugesetzten
fremden Bitterstoffen sollen allerdings schon direct giftige, wie Brucin gefun-
den worden sein.
Solche fremde Bitterstoffe brauchen nun dem Biere nicht direct zu-
gesetzt worden zu sein, sondern können auch aus den Hopfen-Surrogaten, die
wohl noch hie und da Verwendung finden, stammen.
Als solche werden genannt: Bitterklee (Menyanthin), Quassiaholz (Quas-
siin), Enzianwurzel (Gentiopikrin), Aloe (Extract von Aloearten, Aloin), Colo-
NAHRÜNGSMITTELVERFÄLSCHUNG. 625
quinthen (Colocynthin), Kockelskörner (Pikrotoxin), Krähenaugen (Strychnin
und Brucin), Herbstzeitlose (Colchicin), Pikrinsäure.
Sonstige Verfälschungen, wie Zusatz von Wasser oder Alkohol etc.
brauchen hier nicht besprochen zu werden, da sie für die hygienische Be-
urtheilung des Bieres nicht von Bedeutung sind.
Branntwein und Liqiieure. Die Beurtheilung des Branntweines resp.
seiner Verfälschungen begegnet grossen Schwierigkeiten. Auf chemischem
AVege eine Verfälschung des Branntweines zu constatiren ist sehr schwierig,
wenn nicht unmöglich. Im Allgemeinen ist die Geschmacksprobe entschei-
dender als die chemische Analyse. Die gewöhnlich angewandten Fälschungen
der Branntweine, wie Verwendung von technischem Spiritus, Wasserzusatz
etc., spielen für die hygienische Beurtheilung der Branntweine eine sehr
untergeordnete Rolle. Wichtiger sind die Verfälschungen, bei denen schäd-
liche Stofl'e (schädliche Färb- und Bitterstoffe) Verwendung finden. Dieses ist
z. B. der Fall, wenn sogenanntes Goldwasser anstatt mit echtem, mit un-
echtem Blattgold verkauft wird. Solches unechtes Blattgold besteht aus etwa
28-57o Zink und 71-5% Kupfer. Diese beiden Metalle sind wohl in diesem
Falle als gesundheitsschädlich anzusehen.
Als bedenklich gelten Bitterstoffe wie Aloe, Gummi-Gutti, Lärchen-
schwamm, Sennesblätter etc.
Als Farbstoffe werden sehr viel Theerfarbstoffe angewendet, die aber
in Deutschland durch das Gesetz vom 20. April 1892 ganz allgemein ver-
boten sind.
Kaffee. Die echten, natürlichen Kaffeebohnen sind insofern einer Fäl-
schung ausgesetzt, als:
1 . Den besseren und theureren Sorten geringwertige und Schalenabfälle
untergemischt werden. Häufiger werden die schlecht aussehenden Kaffeebohnen
künstlich gefärbt, wobei man den havarirten Kaffee vorher zur Entfernung
des Kochsalzes erst mit Wasser, dann mit Kalkwasser abwäscht.
2. Zusatz von bereits benutztem Kaffee; dies geschieht viel bei dem in
gemahlenem Zustand in den Handel gebrachten Kaffee.
3. Glasiren der Kaffeebohnen.
4. Anwendung von Kaffee-Surrogaten.
Für uns ist von besonderem Interesse die Fälschung des Kaffees durch
künstliche Färbung.
Als Färbemittel sind im Gebrauch:
Berlinerblau, Turnbullsblau, Indigo, Ultramarin, Curcuma, Chromgelb,
Eisenocker, Azogelb, Malachitgrün, Methylgrün, Graphitkohle etc.
Die meisten dieser Färbemittel sind äusserst bedenklicher Natur, da sie
enorm giftig sind. Das Berlinerblau und Turnbullsblau z. B. sind Verbin-
dungen von Eisen mit der so überaus giftigen Blausäure, das Chromgelb
besteht aus chromsaurem Blei u. s. f.
Die gebräuchlichen Kaffee-Surrogate sind unschädlicher Natur. Nur
soll solcher Kaffee auch unter seinem wahren Namen in den Handel gebracht
werden.
Das Glasiren der Kaffeebohnen, d. h. das Ueberziehen derselben mit
einer Zuckerglasur, soll den Kaffeebohnen ein schöneres Aussehen verleihen,
dient aber auch zur Erhöhung des Gewichts der Kaffeebohnen.
Thee. Der Thee ist bei seinem hohen Preise sehr häufigen Fälschungen
ausgesetzt. Theils wird schon einmal gebrauchter Thee dem frischen zu-
gesetzt, theils wird der echte Thee mit Surrogaten vermischt, theils wird der
Thee künstlich gefärbt, um ihm ein besseres Aeussere zu geben. Die zu
letzterer Fälschung verbrauchten Farben sind dieselben, die beim Kaffee er-
wähnt wurden.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. lled. 40
626 NAHRUNGSMITTEL VERFÄLSCHUNG.
Der Nachweis der Fälschungen letzterer Art ist verhältnismässig leicht.
Dagegen ist auf chemischem Wege ein Zusatz gebrauchter Theeblätter zu
frischem Thee kaum zu constatiren.
Gew^ürze. Unter Gewürzen im weiteren Sinne verstehen wir alle die-
jenigen Stoffe, welche den Geschmacks-, Geruchs- und Gesichtssinn bei Zu-
bereitung unserer Speisen in erhöhtem Grade zu erregen im Stande sind.
Insofern gehören Kochsalz, Zucker, Säuren und Bitterstoffe, ferner alle bei
der Zubereitung der Speisen durch Braten, Backen etc. aus den Eiweiss-
Stoffen, Fetten und Kohlehydraten sich bildenden aromatischen Stoffe zu den
Gewürzen.
Unter Gewürzen im engeren Sinne dagegen werden nur einige beson-
dere Pflanzentheile, Wurzeln, Rinden, Blätter, Samen etc. verstanden, welche
den Speisen einen angenehmen und zusagenden Geruch und Geschmack ver-
leihen.
Bei den meisten Gewürzen sind es flüchtige ätherische Oele, bei einigen,
wie beim Pfeffer und Senf, scharf schmeckende Stoffe, welchen sie diese Wir-
kung verdanken.
Diese Gewürze nun sind besonders in gemahlenem Zustande häufig
Gegenstand der Verfälschung. Dieselben Arten der Verfälschung wiederholen
sich mehr oder weniger bei allen Gewürzen. Es erübrigt sich daher eine
Besprechung der einzelnen Gewürze. Die gebräuchlichste Art der Verfälschung
ist die durch Vermischen von Surrogaten mit echtem Gewürz. Unter diesen
Surrogaten finden sich häufig solche, die nachtheilig auf die menschliche
Gesundheit einwirken können; beim Pfeffer z. B. die giftigen Beeren des
Seidelbastes. Dann werden minderwertige Abfälle dem echten Gewürz bei-
gemengt. Endlich als gröbste Art der Verfälschung werden mineralische Zu-
sätze zu den gemahlenen Gewürzen gemacht. Dahin gehören Sand, Kreide,
Gyps, Schwerspath, Graphit, Ziegelstaub, Bleichromat, gemahlene Baum-
rinden fremder Art, parfümirtes Pulver von Mahagoni- Cigarren- und Zucker-
kistenholz, Brot, Mehl etc.
Einzelne Gewürze, die auf diese Art nicht gefälscht werden können,
werden theils ihres ätherischen Oeles beraubt und so in den Handel gebracht,
theils durch ähnliche andere Blüthen etc., die nun ihrerseits durch künst-
liche Färbung dem echten Gewürz ähnlich gemacht werden, ersetzt. Zu den
Gewürzen der letzten Art gehört z. B. der Safran. In der Auswahl der
Farbstoffe sind die Fälscher nicht bedenklich, indem sie häufig giftige Farben,
wie Pikrinsäure und Dinitrokresol, anwenden.
Alle diese Verfälschungen lassen sich nun theils durch chemische, theils
durch mikroskopische Untersuchung nachweisen.
Fleischwaareii. Die im Fleischhandel vorkommenden Uebervortheilungen
des Publicums durch Unterschiebung minderwertigen Fleisches etc. sind schon
unter „Fleischbeschau" S. 251 abgehandelt. Auch ist dort über den Nachweis
solcher Unterschiebungen gesprochen.
Anderer Art sind nun aber die Verfälschungen, die mit den im Handel
vorkommenden Wurst- und Fettwaaren vorgenommen werden.
Wurstwaareii. Die gröbste und gebräuchlichste Art der Verfälschung
von Wurstwaaren besteht in der Beimengung von Mehl zum Wurstbrei. Dieser
Zusatz erreicht oft einen Gehalt von 10 — 157o der gesammten Wurstmasse.
Durch derartige Beimengungen wird das Aufnahmevermögen des Wurstbreies
für Wasser auch erheblich erhöht, und es resultirt so eine Wurst, die in der
Hauptsache aus Mehl und Wasser besteht. Ich hatte des öfteren Gelegen-
heit, solche Würste einer Untersuchung zu unterwerfen. Der Nährwert eines
solchen Präparates ist natürlich fast gleich Null. Dazu kommt noch, dass
solche Würste leichter verderben als regelrecht zubereitete. Es liegt also
in der Anfertigung und dem Verkauf solcher Würste eine Gefahr für die
NAHRUNGSMITTELVERFÄLSCHüNG. 627
Gesundheit des Käufers. Leider wird der Chemiker im Kampfe gegen solche
Fabrikate durch die Gerichte nicht hinreichend unterstützt. Der angeklagte
Metzger behauptet in solchen Fällen immer, er müsse für die Arbeiter eine
billige Wurst herstellen und das sei nur auf diesem Wege möglich; worauf
dann fast regelmässig Freisprechung erfolgt. Infolge dessen sind in ein-
zelnen Bezirken Deutschlands auf Betreiben der Chemiker Polizeiverordnungen
über den Verkehr mit Wurstwaaren erlassen, in denen der zulässige Mehl-
gehalt bei einem bestimmten Preise genau angegeben ist. Leider werden
aber diese Polizeiverordnungen nicht überall als rechtsgiltig angesehen.
Die Gewissenlosigkeit einiger Metzger geht nun noch weiter. Sie
begnügen sich nicht damit, übermässig viel Mehl und Wasser dem Wurstbrei
zuzusetzen, nein, sie gebrauchen sogar faules Fleisch und altes verschimmeltes
Brot zur Wurstbereitung, auch werden die Därme oft nicht genügend ge-
reinigt. Um den Zusatz von verdorbenem Fleisch zu verschleiern, werden
die Würste dann sehr stark geräuchert. Dabei kommt es dann vor, dass
die Würste vollständig hart, fast schwarz und daher unverkäuflich werden.
Solche Würste werden nun nicht etwa vernichtet, sondern der ganze Vorrath
wird in Fässern fest zusaramengestossen und nach Bedarf mit den Därmen
wieder zerkleinert und anderen Würsten wieder zugemischt. Diese Fässer
nun stehen oft Monate lang offen, so dass ein Theil vollständig verschimmelt
und allmählich in Gährung übergeht. Auch dieser Fall ist in meinem
Laboratorium amtlich zur Untersuchung gelangt.
Mitunter kommt es auch vor, dass bereits vollständig in Fäulnis über-
gegangene Würste noch feilgehalten werden.
Dass solche Manipulationen, wie die eben beschriebenen, nicht nur ekel-
erregend, sondern auch gesundheitsschädlich sind, bedarf w^ohl nicht mehr
der Erwähnung.
Künstliche Färbungen der Würste kommen wohl heute relativ selten
vor. Wenigstens ist mir in mehrjähriger Praxis kein solcher Fall begegnet.
Häufiger kommen aber nicht ungefährliche Conservirungsmittel vor. Neben
dem gebräuchlichen Salpeter findet man häufig schwefligsaure Salze in erheb-
lichen Mengen, besonders in frischem Hackfleisch. Ja, es werden sogar Con-
servirungsflüssigkeiten in den Handel gebracht, die nichts anderes darstellen
als eine wässerige Lösung von schwefliger Säure.
Schmalz. Unter dem Namen Schmalz soll nur reines ausgelassenes
Schweinefett in den Handel gebracht werden. Es gibt aber heute grosse
Fabriken, die sich mit der Fälschung des Schmalzes beschäftigen, indem sie
Mischungen von Talg mit Baumwollsarnenöl und Schweinefett herstellen, die
im Aeusseren und auch chemisch sich dem reinen Schweineschmalz sehr
ähnlich verhalten. Bis in die letzten Jahre wurden häufig diese Falsificate,
die oft nur aus Talg- und Baumwollsamenöl bestehen, direct unter dem Namen
,, Schmalz" in den Handel gebracht. Seitdem aber die amtlichen Chemiker
diesem Treiben ihre Aufmerksamkeit gewidmet haben, hat das aufgehört, und
werden diese Präparate heute meist unter dem Namen: „Speisefett" in den
Handel gebracht. In grossen Massen wird heute Schmalz aus Amerika direct
verkaufsfertig eingeführt. Dieses Schmalz ist in Arbeiterkreisen sehr beliebt,
da es billiger als deutsches Metzgerschmalz ist und sehr schön weiss aussieht.
Dieses Schmalz zeigt aber chemisch durchgängig Eigenschaften, die auf einen
Zusatz von Pflanzenfett schliessen lassen. Man nimmt bis heute an, dass
die besonderen Keactionen, die Schmalz von deutschen Schweinen nie zeigt,
bedingt werden durch die Piasse und die Art der Fütterung der Schw^eine
in Amerika. Es erheben sich aber doch schon Stimmen, die gegen diese
Ansicht sind. Da wir nicht in der Lage sind, die Fabrication des amerika-
nischen Schweineschmalzes zu controliren, so können wir auch schwer einen
bündigen Beweis für die stattgehabte Fälschung erbringen. ad. IvEeutz.
40*
L
628 PROSTITUTION.
Prostitution. Wenn ich die Prostitution als die gewerbs-
mässige, gegen irgend w eichen Entgelt bewirkte Hingebung
zur Befriedigung sexueller Begierden definire, so räume ich gerne
die dieser Definition wie den meisten Definitionen anhaftende Mangelhaftigkeit
ein. Bei der Entscheidung darüber, ob in einem gegebenen Falle Prostitution
vorliegt, wird es meistens Schwierigkeiten machen, festzustellen, ob und in-
wieweit eine gewerbsmässige Thätigkeit und inwieweit eine gegen Entgelt be-
wirkte vorliegt. Es darf daher nicht wundernehmen, dass die Grenzen der
Prostitution nach der subjectiven Auffassung bald weiter, bald enger gezogen
werden. — Da bei dem sexuellen Verkehre die Männer gewöhnlich der wer-
bende Theil sind, so gehören die sich prostituirenden Personen meistens dem
weiblichen Geschlecht an. Als ein trauriges Zeichen der Ausbreitung des Lasters
in einzelnen Grossstädten ist es anzusehen, dass hier auch Männer sich dem
widerlichen Gewerbe widmen, gegen Entgelt den sie aufsuchenden Frauen —
und solche finden sich leider — sexuell zu dienen.
Die Prostitution ist so alt und so verbreitet wie die Welt. Von Urzeiten bis in die
Neuzeit, bei wilden Völkern, noch mehr bei hoch civilisirten, stets und überall hat die
Libido sexualis sich ausserhalb der erlaubten Grenzen Wege zu bahnen gesucht und, wie
es ja bei der Lebhaftigkeit des Geschlechtstriebes verständlich, willige Personen gefunden,
die, mit ihrem Körper Wucher treibend, aus der Befriedigung desselben einen Erwerb zu
schaffen wussten. Dabei haben aber die Anschauungen über die Verwerflichkeit der Pro-
stitution, je nach der Auffassung, die man über die Grenzen des erlaubten Geschlechts-
verkehrs hatte, je nach der herrschenden Moral und je nach den herrschenden socialen
Zuständen bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten gewechselt. Je ge-
läuterter die ethischen Grundsätze eines Volkes waren, je mehr die Monogamie als die dem
gesitteten Menschen allein entsprechende Institution zur Anerkennung kam, je günstiger
die socialen Zustände waren, um so weniger ausgebreitet und um so mehr verachtet war
die Prostitution und umgekehrt. Es hat Völker gegeben, bei denen der Prostitution fast
gar kein Makel anhaftete, bei denen prostituirte Dirnen von den Männern — die Fürsten und
Hofleute voran — coram publico mit Ehren überhäuft wurden, man öffentlich Orgien mit
ihnen veranstaltete, und es gab umgekehrt Zeiten, in denen mit drakonischen Strafen den
Prostituirten und den mit ihnen verkehrenden Männern zu Leibe gegangen wurde, allerdings
ohne Erfolg.
Es würde hier zu weit führen, an der Hand der Culturgeschichte die
Stellung der Prostitution in den verschiedenen Zeiten und bei den verschie-
denen Völkern zu schildern. Nur denjenigen gegenüber, die die gegen-
wärtigen Zustände auf diesem Gebiete in den denkbar grellsten Farben dar-
stellen, möchte ich, ohne auch nur im Geringsten mit irgend welchem Opti-
mismus in dieser Richtung behaftet zu sein, doch bemerken, dass man auch
den Pessimismus nicht zu weit treiben darf. Allerdings sind die sittlichen
Anschauungen in Bezug auf das Geschlechtsleben auch heute noch niedrig
genug, lange nicht so, wie man sie hätte au fin de siecle erwarten dürfen,
aber man muss doch auch andererseits zugeben, dass in dieser Beziehung
eine Besserung nicht zu verkennen ist. In den schlimmsten Zeiten leben
wir denn doch nicht. Man denke nur zurück an die öffentlichen Orgien der
alten Ptömer mit all den Geschlechtsverirrungen! Man erinnere sich, wie in der
Zeit der Romantik die tapferen Ritter ihr ganzes Sinnen und Trachten in
den Dienst der Minne stellten und dabei sicherlich nicht rein platonisch
geschwärmt haben! Man lese nur nach, wie die Kreuzzüge und die Concile
die Sammelpunkte für zahllose Prostituirte waren, die ganz ungenirt ihr
Wesen trieben und als selbstverständliches Gefolge der Theilnehmer galten!
Den Zeiten gegenüber kann man doch heute sagen: Wir sind doch bessere
Menschen — allerdings aber noch lange nicht gute.
Die Erkenntnis, dass die Prostitution ein sehr, sehr grosses Uebel ist,
beherrscht alle moralisch und hygienisch denkenden Menschen. Das Uebel
macht sich zunächst in ethischer Beziehung geltend. Es ist hier nicht der
Ort, um näher darauf einzugehen, welch' hoher Grad sittlicher Verkommenheit
dazu gehört, um in schamloser Weise jedem Beliebigen für einen Entgelt
PROSTITUTION. 629
seinen Körper zur Befriedigung der sinnlichen Begierden hinzugeben, meist
ohne selbst Sinneslust zu empfinden. Alles Gute und Edle muss in einem
solchen Weibe ertödtet sein. In der That sind diese Personen, wenn sie nur
einige Zeit dem schändlichen Gewerbe gehuldigt, meistens zu allem Schlechten
fähig, schrecken auch nicht vor kriminellen Handlungen zurück.
Auf Grund von Studien der Physiognomien und der Charaktere tritt Lombroso
warm für die Anschauung ein, dass den Prostituirten überhaupt von Haus aus der Ver-
brechertypus anhaftet, dass die Prostitution beim Weibe gleichwertig ist dem Verbrechen
beim Manne. Geht Lombroso wohl auch in der Verallgemeinerung seiner Ansicht zu weit,
so muss doch die Thatsache zugegeben werden, dass Prostitation und Verbrechen in nahen
Beziehungen zu einander stehen. Ob im Einzelfalle eine congenitale, psychische Degenera-
tion der Prostitution und dem Verbrechen als gemeinsame Disposition zu Grunde liegt,
oder ob die Prostitution erst durch Vernichtung jedes moralischen Haltes die Disposition
zum Verbrechen schafft, das sei dahingestellt. Einseitig erscheint es wohl, angebore ne
Eigenschaften für beide stets ausschliesslich verantwortlich zu machen; es liegt darin eine
ünterschätzung der Macht der Erziehung, des bösen Beispiels und des unglücklichen Zu-
falls — Momente, welche auf gutem Boden oft die schlechtesten Früchte hervorspriessen
lassen.
Aber nicht nur die Moral der Prostituirten selbst leidet, auch die mit ihnen ver-
kehrenden Männer nehmen in ethischer Beziehung leicht grossen Schaden. Es liegt eine
Gefahr darin, wenn man zur Befriedigung seiner Sinnlichkeit in intimsten, wenn auch zum
Glück meistens ganz vorübergehenden Verkehr mit Personen tritt, die dem Ausschusse der
Menschheit zuzuzählen sind. Da rückt die ungeheure Verführung zu geschlechtlichen Aus-
schweifungen und Verirrungen, zu alkoholischen Excessen, zu leichtsinnigen, die Ver-
hältnisse übersteigenden Ausgaben und deren leider so oft verbrecherischen Folgen sehr
nahe heran und bringt manch' sonst braven Menschen zur Entgleisung, geleitet ihn in die
Arme des Lasters und des Verbrechens.
Für die vorliegende Betrachtung von grösster Bedeutung sind natürlich
die hygienischen Nachtheile der Prostitution, welchen wir etwas eingehender
nachspüren müssen. Sehen wir ab von dem körperlichen Ruin der Prostituirten
durch den ausschweifenden Lebenswandel, das nächtliche Umhertreiben, den
Alkoholismus, dem sie fast stets verfallen, so ist es vor allem die Verbreitung
der sogenannten Geschlechtskrankheiten, welche die Prostitution so gefährlich
macht. Dass dieselbe auch andere contagiöse Krankheiten, besonders die
Scabies, leicht zu verbreiten Gelegenheit hat, ist ja selbstverständlich, soll aber
hier nicht weiter erörtert werden.
Zu den Geschlechtskrankheiten zählen wir das Ulcus molle, die Gonorrhoe und die
Syphilis, weil diese Leiden in "der bei weitem grössten Ueberzahl der Fälle durch den Ge-
schlechtsact verbreitet werden, allerdings nicht immer. Von den Geschlechtskrankheiten
ist noch das am wenigsten bedeutsame das Ulcus molle. Es bleibt streng localisirt, ruft
nur in wenigen, besonders malignen Fällen (Ulcus phagedaenicum und gangraenosum)
grössere Gewebsstörungen hervor, wird sonst eigentlich nur durch Lymphdrüsenabscesse
zur Ursache längerer Krankenlager. Abgesehen von etwaigen störenden Narben übt das
Ulcus molle keine üblen Nachwirkungen für die Zukunft des Betroffenen aus. — Viel
bösartiger ist schon die Gonorrhoe, eine Erkenntnis, zu der erst die Arbeiten der letzten
Jahrzehnte geführt. Bis dahin galt dieselbe als ein ziemlich unschuldiges Leiden.
Jetzt wissen wir, dass nicht nur, wie schon früher bekannt, eine ganze Pi,eihe von Ano-
malien im männlichen Urogenitalapparat auf gonorrhoische Infection zurückzuführen
ist, sondern eine grosse Zahl schwerer Complicationen durch dieselbe bedingt ist. Man
hat erkannt, dass von den gynaekologischen Leiden an Uterus und am dessen Adnexis gar
viele ihre Quelle in der Gonorrhoe haben, dass letztere verantwortlich ist, für viele Gelenk-
leiden, manche Herzaffection, einige Erkrankungen des Centralnervensystems, für jede
Blenorrhoea neonatorum, der Hauptursache aller Erblindungen. Alle diese Thatsachen
sind um so beängstigender, als man gleichzeitig zu sehr pessimistischen Ansichten über die
Heilbarkeit der Gonorrhoe sich hat bekehren müssen ; man weiss jetzt, dass dieselbe an den
steten makroskopischen Nachweis eines Secretes nicht gebunden ist und nach Ablauf des
acuten Stadiums ein latentes Dasein führen kann, ohne ihre Infectiosität zu verlieren. Alle
diese Erkenntnisse haben die Gonorrhoe zu einem Schreckgespenst gemacht, das mit Recht
gefürchtet wird. Allerdings fehlt es da nicht an Uebertreibungen; eine solche ist es, wenn
manche jede Gonorrhoe für unheilbar erklären oder die Bedeutung derselben höher schätzen
will, als diejenige der Syphilis, die denn doch die böseste Geschlechtskrankheit, vielleicht
überhaupt in der Pathologie das bedeutendste chronische Leiden ist. Die Bedeutung liegt,
um sie mit wenigen Worten zu skizziren, in folgenden Momenten : Zunächst ist die Syphihs
ein stets constitutionelles Leiden, das jedes edle Organ ergreifen kann. An der äusseren
Körperdecke beginnend, kann sie bald hier bald da im Körperinnern ihre Thätigkeit ent-
630 PROSTITUTION. '
falten, nicht nur störende, lästige Leiden, sondern direct todbringende erzeugend. Wie
oft kommt nicht bei der ätiologischen Betrachtung eines klinischen Bildes die Syphilis in
Frage! Dazu kommt dann die ungeheuere Zähigkeit des Leidens, die fast unbegrenzte
Dauer. Damit soll nicht gesagt sein, dass jede Syphilis diese böse Eigenschaft hat. Zweifel-
los erlischt dieselbe in einer grossen Zahl von Fällen nach relativ kurzer Zeit, ohne wei-
tere Folgen zu hinterlassen. Das Tragische aber liegt darin, dass wir gar keine Handhabe
dafür haben, um festzustellen, ob das syphilitische Virus wirklich den Körper verlassen
hat oder nicht. Da selbst nach jahrelangem Freibleiben von jedem Recidiv doch noch
Syphiliserscheinungen hervortreten können, können wir mit absoluter Sicherheit die Hei-
lung der Syphilis niemals aussprechen. Es bleibt über dem einmal Inficirten dieselbe als
Damoklesschwert Jahrzehnte hindurch hängen, ein sehr böser iCharakterzug der Krankheit.
Einen weiteren Stempel der Bösartigkeit erhält dieselbe durch die ungeheuere Infectiosität,
zumal in den ersten Jahren. Dadurch wird jeder Syphilitiker nicht nur zu einer grossen
Gefahr für die mit ihm sexuell Verkehrenden, sondern für alle mit ihm in irgend welche
Berührung kommenden, speciell natürlich für seine directe Umgebung, die ihm nächst-
stehenden Verwandten und Hausgenossen. Die extragenitale üebertragung der Syphilis
spielt eine grosse Rolle bei der Verbreitung der Syphilis; Beobachtungen in ganz ver-
seuchten russischen Dörfern geben dafür die besten Belege. Zu allen diesen Eigen-
schaften kommt dann noch — last not least — die ihr eigene hereditäre Uebertragbar-
keit, der schwerste Fluch, der an ihr haftet. Bei keiner Krankheit finden wir dasselbe in
gleicher Weise wieder. Wieviel Früchte gehen schon im Mutterleibe durch Syphilis zu
Grunde! Wieviel Kinder syphilitischer Eltern sterben in frühester Kindheit dahin! Wieviel
Kinder verfallen einem körperlichen und geistigen Siechthum! Wahrlich, man braucht nicht
Pessimist zu sein, um in der Syphilis eine furchtbare Seuche zu sehen, die zu bekämpfen
eines jeden Hygienikers und Volksfreundes hehre Aufgabe sein muss, selbst wenn dabei
mancherlei Skrupel zu tiberwinden sind.
Diese kurze Darstellung der den Geschlechtskrankheiten anhaftenden
Gefahren documentirt gewiss zur Genüge die hygienische Wichtigkeit der
Prostitution, der Hauptförderin derselben.
Wenn wir zunächst den Ursachen der Prostitution näher treten,
so sind dieselben in ethischen und socialen Mängeln zu suchen, die aber so
mit einander verquickt sind, dass es schwer ist, sie auseinander zu halten.
Zweifellos ist der Geschlechtstrieb einer der lebhaftesten Triebe, auf dessen
Befriedigung dem Menschen sicher ein natürliches Recht zusteht. Das gel-
tende Moralgesetz sagt nun aber, dass diese Befriedigung nur in einer mono-
gamischen Ehe geschehen darf. Nun fragt es sich aber, inwieweit das Moral-
gesetz in voller Strenge seine Giltigkeit bewahren kann, wenn durch die
socialen Zustände gar vielen Menschen der Eheschluss sehr erschwert oder
erst in einem Alter möglich wird, in welchem der Trieb zum Geschlechts-
verkehr seine Blüthezeit oft schon lange erreicht, ja schon überschritten
hat, in welchem unsere Ahnen schon auf die Grossvaterschaft lossteuerten.
Ja, da es mehr Frauen als Männer in den Culturstaaten gibt, ist es
für einen Theil der ersteren alsolut ausgeschlossen, dass sie durch
eine Ehe zum legalen Geschlechtsverkehr kommen. Kann die Moral nun
verlangen, dass der Mensch so lange oder das ganze Leben auf den Ge-
schlechtsgenuss verzichtet, abstinent bleibt? In eine Erörterung dieser Frage
kann hier nicht eingetreten werden. Gesetzt aber auch, der Theoretiker legt
dem Menschen soviel Selbstbeherrschung auf, es wird ihm doch in absehbaren
Zeiten nicht gelingen, seine Ansicht in die Praxis übersetzt zu sehen. Die
öffentliche Meinunghat diesen festen moralischen Standpunktniemals festgehalten,
sie hat stets beide Augen und beide Ohren zugedrückt, denn sie tadelt den
ausserehelichen Geschlechtsverkehr nicht, so lange sie nur nichts öffentlich
davon sieht und hört. Allerdings macht sie einen Unterschied zwischen Mann
und Weib, gestattet ersterem fast alles, letzterem gar nichts, ohne einen Stein
auf dasselbe zu werfen. Die in der Theorie jedenfalls nichts weniger als streng
moralischen Anschauungen, die sich mit dem lebhaften Drange nach sexuellem
Verkehre so leicht abfinden, im Verein mit den socialen Zuständen bilden
direct und indirect die Ursache der Prostitution. Wo lebhafte Nachfrage ist,
findet sich auch das entsprechende Angebot. Viele Mädchen werfen sich der
PROSTITUTION. 631
Prostitution in die Arme, zum Theil aus Mangel an sittlichem Halt, zum
geringeren Theil aus materieller Noth,
Man kann unter diesen zwei grosse Gruppen unterscheiden: die öffentlichen und
die geheimen Prostituirten. Die geheime Prostitution spielt heutezutage eine grosse
Rolle; sie zeigt sich in verschiedener Gestalt. Da ist die Dame der Demimonde, die in feinem
Viertel lebt, Theater, Concerte, besonders gerne aber Varietö-Theater besucht, stets sehr auf-
ftällt, aber sich doch nach aussen hin für Uneingeweihte nichts Anstoss erregendes zu Schul-
den kommen lässt. Sie empfängt zu Hause Besuche von Herren, die sie sorgsam auf ihre
materielle Leistungsfähigkeit und Opferwilligkeit sondirt, bevor sie zu ihnen in intimere
Beziehungen tritt. Dabei hat sie aber — und das gibt ihr den Charakter einer Prosti-
tuirten — gleichzeitig eine Reihe solcher, denen sie für theures Geld geschlechtlich dient.
Eine ganz andere Sorte sind die Ladenmädchen, Fabrikmädchen, Balleteusen, Choristinnen.
Diese gehen ihrer anständigen Thätigkeit ruhig nach, in der freien Zeit aber widmen sie
sich der Prostitution. Zum Theil sind es Mädchen, die ihre ehrliche Beschäftigung nur
als Aushängeschild und als Schutzwehr gegen die gefürchtete Polizeicontrole benutzen.
In Wahrheit ist die Prostitution bei ihnen oft der sie eigentlich ernährende Erwerb. An-
dere wiederum bestreiten wirklich von der Arbeit die nothwendigen Bedürfnisse und be-
nutzen das traurige Nebengewerbe nur, um ihrem Hang nach Vergnügen fröhnen zu können,
was ihnen ihr Verdienst sonst nicht gestattet. Sie besuchen Tanzlocale, Concertgärten, lassen
sich dort frei halten, gut mit Speise und noch besser mit Trank versorgen und begleiten
dann den betreffenden Spender nach Hause — heute diesen, morgen jenen. Baares Geld
beanspruchen sie gewöhnlich nicht. Mancher Hygieniker will dieser Kategorie von Mädchen
nicht den schändenden Stempel der Prostitution aufdrücken. Es ist auch zuzugeben, dass
im Beginne bei manchen dieser Mädchen Liebe mitspielt und nichts gewerbsmässiges vor-
liegt. Mit der Zeit pflegen aber die meisten doch in ein Fahrwasser zu kommen, das von
demjenigen der Prostitution nicht zu unterscheiden ist. — Eine besondere Gruppe der ge-
heimen Prostitution muss hier noch hervorgehoben werden, das ist diejenige der Kell-
nerinnen, welche ja leider in manchen Gegenden, so in Ostpreussen, in den meisten Localen
bedienen. Diese sind zum bei weitem grössten Theil der Prostitution ergeben; in stellenloser
Zeit und an ihren sogenannten Ausgehtagen sind sie für jedermann zu haben, der in der
Lage und gewillt ist, etwas drauf gehen zu lassen. Manche Kneipe ist überhaupt nur ein
verkapptes Bordell, dessen bedienende Personen die Aufgabe haben, die Gäste zu über-
reichem Alkoholgenuss und sexueller Ausschweifung zu verleiten und auf diese Weise ihnen
die Taschen zu leeren.
Der öffentlichen Prostitution sind alle Dirnen zuzuzählen, welche aus ihrem
Gewerbe kein Geheimnis zu machen bemüht sind, sich jedem bei entsprechendem Entgelt
preisgeben, von diesem Gewerbe ausschliesslich leben. Die Art des Gewerbebetriebes ist
dabei eine sehr verschiedene. Ein Theil lebt in Freudenhäusern, Bordellen, zusammen mit
anderen, unter Aegide einer Unternehmerin oder eines Unternehmers, dessen Angestellte sie
gewissermaassen sind. Sie erhalten Wohnung, Nahrung, meist auch Kleidung und einen
Theil der Einnahmen, während der Haupttheil der letzteren den Wirten zufällt. Sie sind
gewöhnlich erbarmungslos in die Hand ihrer Wirtin gegeben, die sie grausam ausnutzt
und davonjagt, sobald es ihr passt. Die grosse Masse öffentlicher Prostituirter lebt frei,
allein oder mit einer anderen Dirne zusammen, sucht sich ihre Kunden auf der Strasse
oder auf anderen öffentlichen Plätzen (Concerte, Theater etc.) zu ergattern, nimmt sie mit
zu sich oder folgt ihnen in ihre Wohnung.
Der Vollständigkeit halber seien noch die Gelegenheitshäuser erwähnt, in denen
nach sexuellem Verkehr verlangende Männer und Frauen sich treffen. Die Besitzerinnen dieser
Häuser nehmen ihren Lohn in Gestalt einer Zimmermiethe, während die dort verkehrenden
weiblichen Wesen gewöhnlich aus reiner Sinneslust die Häuser aufsuchen, manche aller-
dings auch aus Sucht nach Geldverdienst. Hier findet man nicht selten auch Ehefrauen,
die in der Gesellschaft sonst die ehrbarste Rolle zu spielen verstehen. Hier strandet so
manche Jungfrau, von der Inhaberin des Hauses — meistens einer scheinbar recht respec-
tablen Dame — hingelockt. Diese Häuser sind überhaupt für das sogenannte bessere Publi-
cum bestimmt, das sich hier oft in gemeinen Orgien austobt. Es zählen dieselben zur
öffentlichen Prostitution, weil sie alle Welt zu kennen pflegt, allerdings auffallender Weise
mit Ausnahme der Behörden, die es am meisten angeht.
Die Verbreitung der Prostitution ist nur soweit festzustellen,
als sie sich als öffentliche zeigt und unter Controle steht. Naturgemäss
entzieht sich ein grosser Theil der letzteren, so dass die Zahlen durchweg
nichtssagend und zu irgend welchen statistischen Vergleichen gar nicht ver-
wertbar sind. Die geheime Prostitution spottet natürlich jeder statistischen
Feststellung. Ich verzichte deshalb, zumal bei dem eng bemessenen Räume,
auf jede Zahlenangabe. Wer einen Blick für die Vorgänge im Sittenleben
resp. Unsittenleben des Volkes hat, wird aber sicher zur Ueberzeugung
632 PROSTITUTION.
kommen, dass die Seuche der Prostitution viel, viel verbreiteter ist, als alle
Statistiker sich einbilden.
Aus welchen Kreisen stammen die Prostituirten? Die öffentlichen recru-
tiren sich naturgemäss aus dem an Bildung und materiellem Besitz ärmsten Theile des
Volkes. Unzählige Momente wirken da zusammen, um die gar nicht oder schlecht er-
zogenen Mädchen zu dem verderblichen Berufe zu führen. Das Zusammenwohnen in
engen Räumen mit Schlafstellern, das Zusammenarbeiten in den Fabriken lässt eine Ver-
führung im jugendlichsten Alter verständlich erscheinen. Genusssucht, wirkliche Noth
thun dann das ihrige, um die Deflorirte zur Prostituirten zu machen, zumal wenn sie noch
von der Natur schön gestaltet ist. Schönheit ist ein Danaergeschenk für arme Mädchen.
Oft sind auch die ersten Verführer unter den besser situirten Männern zu suchen; ihre
sittlichen Anschauungen und ihr wenig waches Gewissen gestatten es ihnen, jede Tochter
eines Arbeiters, eines Handwerkers, jedes Dienstmädchen als eine ihnen zustehende Beute
zu betrachten. — Doch nicht alle Dirnen sind Mädchen des armen Volkes; es gibt in
moralischer Beziehung eine Hefe auch in den sogenannten besseren Classen. Manch' ge-
bildetes, aber charakterloses Mädchen sinkt bis zur tiefsten Stufe.
Das Schicksal der Prostituirten ist, soweit es sich um öffentliche handelt,
fast stets ein sehr trauriges. Ein grosser Theil geht jung zu Grunde; der wüste Lebens-
wandel, der Alkoholismus, dem sie alle früher oder später verfallen, sie untergraben oft
sehr bald ihre Gesundheit. Diejenigen, die älter werden, greifen zu irgend einem der
Prostitution verwandten Gewerbe, z. B. zur Kuppelei, oder gerathen in die Wege des Ver-
brechens, nur ein Theil kehrt zu ehrlicher Beschäftigung zurück oder heirathet gar.
Letzteren ist damit keineswegs ein gutes Schicksal garantirt, denn schliesslich entschliessen
sich doch nur minderwertige Menschen zur Ehe mit einer Prostituirten. — Natürlich haben
die geheimen Prostituirten immer etwas mehr Chancen, eines besseren Lebensgeschickes
theilhaftig zu werden.
Aus den bisherigen Ausführungen erhellt zur Genüge, welch' grosses
Uebel die Prostitution ist, welche Gefahren in ethischer, socialer und hygie-
nischer Beziehung sie nach sich zieht. Es fragt sich nun: Wie bekämpft
man sie resp. wie macht man sie weniger gefährlich? Welche
Stellung soll der Staat gegenüber diesem verderbenbringen-
den Gewerbe einnehmen? Die Ansichten in dieser Beziehung variiren
in weiten Grenzen.
Zunächst die directe Bekämpfung der Prostitution. Nach
zwei Fronten hat man bei Lösung dieser Aufgabe seine Angriffe zu richten,
will man eine causale Behandlung dieser Volkskrankheit einleiten. Man hat
erstens dahin zu wirken, dass die Zufuhr zur Prostitution aufhört, dass
Mädchen und Frauen das Gewerbe verachten und fliehen lernen. Zweitens
hat man sich an die Männer zu wenden, dass sie aufhören, den Kundenkreis
der Prostitution zu mehren, dass sie sich von ihr abwenden, sie verabscheuen.
Nach beiden Richtungen hat in erster Reihe die Jugenderziehung ihres Amtes
zu walten. Man muss der heranwachsenden Jugend einen festen ethischen
Halt geben, ihren Charakter stärken. Gar viel Zeit, die in Schule und
Haus für das Einpauken religiöser Dogmen und gedankenlos hergesagter Bibel-
sprüche verwendet wird, könnte besser ausgefüllt werden mit rein sittlicher
Belehrung. Doch darauf weiter einzugehen, ist hier nicht der Ort. Worauf aber
hingewiesen werden muss, ist, dass die ausserordentliche Discretion, die über
alle sexuelle Angelegenheiten gewahrt wird, die überhaupt jede Verständigung
darüber zwischen Eltern und Kind, Erzieher und Zögling ausschliesst, gar
nicht am Platze ist. Man muss die Jugend aufklären über die Gefahren des
ausserehelichen Verkehrs. Man muss die jungen Leute belehren, wie diese
Gefahren die mit der Abstinenz verbundenen Unannehmlichkeiten — Schaden
stiftet sie niemals — bei weitem überwiegen. Man muss verhüten, dass sie
die Nachtseiten des Lebens erst unter schlechter Führung kennen lernen,
ihnen dieselben zur rechten Zeit und mit dem richtigen Tact lieber enthüllen,
als sie, wie üblich, auf jede Weise zu verschleiern. Jeder junge Mensch muss
wissen, was Syphilis ist, jedes Mädchen, was Schwangerschaft und ansteckende
Krankheiten ihr für Unglück bringen. Sehr erwünscht wäre es, wenn eine
wirklich gute Literatur auf diesem Gebiete vorhanden wäre. Leider existirt
1
PROSTITUTION. 633
unendlich viel verderbenbringende Schundliteratur, aber die gewiss grosse
Schwierigkeit, dieses Thema in belehrender, ernster Weise für junge Leute
zu behandeln, hat noch niemand gelöst. Klärt man so die Jugend zeitig auf,
hält sie ferne vom Umgang mit schlechten Menschen und schlechten
Büchern, stärkt man ihrö Selbstbeherrschung, bringt man ihr Achtung vor
sich selbst und ihren Mitmenschen bei, gibt man ihr reichliche, besonders
auch körperliche Arbeit, bewahrt man sie vor überreicher Ernährung und
bekämpft man jede Neigung zum Alkoholismus, dann thut man unendlich
viel zur Vernichtung der Prostitution. — Allerdings ist bei der grossen Masse
des Volkes die Erfüllung dieser Forderungen noch lange ein frommer Wunsch,
dazu sind die socialen Zustände nach den verschiedensten Seiten hin noch zu
verbesserungsbedürftig. Leider aber gehen die oberen Zehntausend in dieser
Beziehung in keiner Weise mit gutem Beispiele voran. Wer das nicht zugeben
will, der studire nur die Lebensweise der Studenten, die rohen, gewissenlosen
Anschauungen, die über die sexuellen Dinge in ihren Kreisen herrschen. Da
wäre ein erzieherisches Colleg über die Fragen sehr angebracht. Ob es be-
sucht werden würde?
Ein sehr kampfreiches Gebiet betreten wir mit der Erörterung der
Frage: Wie soll sich der Staat gegenüber der Prostitution ver-
halten? Er könnte a priori einen zweifachen Weg einschlagen: Entweder
er thut gar nichts, ignorirt die ganze Prostitution, geht eventuell mit Straf-
gesetzen gegen sie vor — oder er nimmt Notiz von ihr, findet sich mit dem
einmal vorhandenen Uebel, so gut es geht, ab, indem er durch Reglementirung
und Controle die Gefahren desselben soviel als möglich herabzusetzen sucht.
Für den ersten Modus kämpfen mit wahrer Begeisterung die sogenannten
Abolitionisten; ihnen stehen die Anhänger der Reglementirung gegenüber,
die in den meisten Ländern noch die Oberhand haben. Treten wir den aus
beiden Lagern vorgebrachten Gründen näher, um zu entscheiden, welcher Weg
der praktischere ist.
Die Abolitionisten sagen zunächst: Die Prostitution ist ein Laster, eine
"ünsittlichkeit, die der Staat zu vernichten hat. Dadurch, dass derselbe die-
selbe reglementirt und duldet, pactirt er mit dem Laster, sanctionirt dasselbe,
hängt ihm gewissermaassen ein sittliches Mäntelchen um und vermehrt schliess-
lich noch den Zuzug zu demselben, fördert also die Ünsittlichkeit.
Diesen Gründen gegenüber wird der Anhänger der Reglementirung ohne
weiteres zugeben, dass die Prostitution ein Laster ist und es im höchsten
Maasse wünschenswert wäre, dass der Staat dasselbe mit Stumpf und Stiel
ausrotte. Das ist theoretisch das Erstrebenswerteste. Nun lehrt aber die
Culturgeschichte, wie die Kenntnis der menschlichen Schwächen, dass es bis
auf weiteres unmöglich ist, der Theorie Rechnung zutragen. Die oben bespro-
chenen Maassnahmen, wie manches andere wird wohl mit der Zeit der Pro-
stitution den Boden abgraben, aber für absehbare Zeiten sie nicht ausrotten.
Gegen die Gewalt des Naturtriebes anzukämpfen, ist eine schwere Aufgabe. Na-
turam furca expellas, tamen usque recurret. Der Geschlechtstrieb ist ein so
mächtiger, dass er meistens allen Sitten- und Staatsgesetzen Hohn spricht. So
lange es nicht gelingt, den Menschen im richtigen Alter zu einer nach unserer
Auffassung erlaubten sexuellen Befriedigung Gelegenheit zu geben, so lange
muss man die Prostitution bei unserem praktischen Handeln als einmal vor-
handene culturhistorische Thatsache nolens volens hinnehmen. Man braucht
deshalb in der Theorie nicht ein Haarbreit nachzugeben, in der Praxis muss
man aber mit den gegebenen Verhältnissen rechnen. Vogel-Strauss-Politik
treiben hat wahrlich keinen Zweck, wenn es sich um krankheitsbringende
Momente handelt. Der Hygieniker darf ethische Gesichtspunkte niemals ganz
aus dem Auge verlieren, er soll aber nicht ihnen zu Liebe hygienische Gesichts-
punkte hintansetzen;. denn schliesslich ist er ja Gesundheitsrath der Menschen
S
634 PROSTITUTION.
und nicht Moralprediger. Die Menschen aus moralischen Gründen der Gefahr
schwerer Krankheiten aussetzen, ist kein vernünftiges Beginnen. Wie der
Arzt in erster Reihe causal, wo das aber nicht geht, wenigstens symptomatisch
den Krankheiten zu Leibe gehen muss, so muss auch der Hygieniker bei
Volkskrankheiten die Ursache aus der Welt schaffen, wo das aber nicht
möglich ist, ihren Schaden wenigstens soviel als möglich einzuschränken suchen.
In ersterer Beziehung kann er mit den Abolitionisten Hand in Hand gehen,
in letzterer wandelt er eigene Wege, indem er die Prostitution reglementirt
und controlirt. Wenn der Abolitionist sagt, dass der Staat durch die Con-
trole die Prostitution sanctionirt, ihres lasterhaften Charakters entkleidet, so
ist das doch nicht ganz verständlich. Wenn man ein Uebel, das man doch
nun einmal nicht ausrotten kann, überwacht, damit es nicht so viel Böses an-
richtet, dann heisst man es doch deshalb noch lange nicht willkommen. Man
ist nur praktisch und wählt von zwei Uebeln das kleinere. Nach deutschen
Anschauungen gewinnt niemand ein edleres Aussehen in den Augen der
Menschen, wenn er unter polizeiliche Controle gestellt wird. Im Gegentheil,
dieselbe hat etwas schändendes, vielen wird der unsittliche Charakter der
Prostitution durch die staatliche Ueberwachung erst klar. Dass diese manchem
ein gewisses Gefühl der Sicherheit vor Ansteckung gibt, ist ja richtig, dass
aber dadurch der Kundenkreis der Dirnen erheblich vermehrt wird, höchst
unwahrscheinlich. Denn einerseits lässt sich wohl kein Mensch dadurch von
der Abstinenz abbringen, andererseits ist es genugsam bekannt, dass die
Controle einen absoluten Schutz doch nicht bietet und stets auch bei diesem
ausserehelichen Geschlechtsverkehr das Schreckgespenst der Sexualleiden zu
fürchten ist. In der That kann man in der Praxis beobachten, dass der-
jenige, der sich bei einer Prostituirten inficirt, niemals staunt, während der
mit irgend einem „Verhältnis" Verkehrende es absolut nicht glauben will.
Sollten aber wirklich hie und da zu optimistische Vorstellungen über die
Gesundheit der Controlirten bestehen, so muss man durch Aufklärung den-
selben entgegenzuwirken suchen.
Die Abolitionisten pflegen die Prostitution in Parallele zu stellen mit
Diebstahl und Mord. Sie exemplicifiren: Diebstahl und Mord sind auch
unausrottbare Verbrechen und culturhistorische Thatsachen, die der Staat
aber deshalb doch in kein Reglement bringt. Diese Parallele hinkt. Man kann
nicht sittliche Vergehen und Verbrechen gegen Eigenthum und Leben in
einen Topf werfen, zumal wenn erstere der Ausfluss eines natürlichen, auch
moralisch vollkommen berechtigten Triebes sind. Diebstahl und Mord auf
die gleiche Stufe zu stellen, an sich als berechtigte Triebe zu bezeichnen,
das dürfte doch keinem Abolitionisten einfallen.
Ein weiterer Einwand der Abolitionisten ist, dass die Controle der Pro-
stituirten ein Eingriff in die persönliche Freiheit und eine Ungerechtigkeit
gegenüber dem Weibe bedeute. Dem gegenüber ist einzuwenden, dass dem
Staate, soweit es die hygienische Fürsorge für das gesammte Volk betrifft,
das Recht zweifellos zuerkannt werden muss, die eine Reihe von Gefahren für die
Menschen bedingenden Gewerbe prophylaktisch zu beaufsichtigen. Niemand
erhebt seine Stimme dagegen, wenn der Staat den Nahrungsmittelverkauf con-
trolirt, schlechte Milch und verdorbenes Fleisch confiscirt etc. Mit demselben
Recht kann er auch Personen gesundheitlich beaufsichtigen, die ihren Körper
als Waare zu Markte bringen, zur Befriedigung natürlicher Gelüste, mögen
dieselben auch lange nicht so unentbehrlich sein, wie Essen und Trinken.
Wer mit seinem Körper Handel treibt, muss auch damit zufrieden sein, dass
man das Handelsobject auf hygienische Gemeingefährlichkeit untersucht. Das
ist keine Beschränkung der Freiheit, sondern eine berechtigte Folgerung des
gewerblichen Betriebes. Etwas sehr richtiges enthält der Protest gegen die
ungleiche Behandlung von Mann und Weib. Man controlirt das letztere, aber
PROSTITUTION. 635
nicht den ersteren, der ihnen doch die Krankheiten, welche es weiter verbreitet,
zuführt. Aber einerseits betreiben die Männer die Prostitution nicht gewerbs-
mässig, sie sind doch im wesentlichen die gelegentlichen Käufer, die Weiber
aber diejenigen, welche ihre Waare feilbieten. Andererseits ist es auch that-
sächlich unmöglich, die Männer im allgemeinen zu controliren. In gewissen
Grenzen, z. B. beim Militär, geschieht es ja; man könnte es vielleicht auch
noch ausdehnen, aber einer allgemeinen Controle stehen unüberwindliche Hin-
dernisse im Wege.
Endlich ist noch die Behauptung der Abolitionisten zu erwähnen, dass
die ganze Controle doch nichts hilft, die reglementirten Dirnen nicht gesün-
der sind, als die nicht reglementirten. Bei der Entscheidung über diesen
Einwand begibt man sich gewöhnlich auf das Gebiet der Statistik, ein Gebiet,
das aber oft weniger sicher ist als es scheint. Es gibt keine Statistik, die
so abgeschlossen wäre, dass nicht ein Hinterpförtchen zu finden ist. Durch
kleine Variationen in der Gruppirung der Zahlen, durch Vergleichen nicht
auf Grund genau derselben Voraussetzungen gewonnener Zahlen, durch Hinein-
bringen subjectiver Momente kann man oft in der Statistik zu den verschie-
densten Schlüssen gelangen. Um eine einigermaassen einwandsfreie Statistik
zu gewinnen, müssten die Zahlen demselben Volke, demselben Material ent-
nommen sein, sich auf längere Zeiträume erstrecken, in denen die Controle
und die Nicht-Controle gewechselt haben. Die ausserordentlich schwer be-
stimmbaren, mehr oder weniger willkürlich aufgestellten Grenzen der Prosti-
tution müssten einheitlich abgesteckt sein, genau dasselbe Schema gehandhabt
werden. Die bisherigen Statistiken sind sehr mangelhaft; die aus ihnen ge-
zogenen Schlüsse passt jeder seiner Ansicht an, während doch die letzteren
ein Product der ersteren sein müssten. DeshallD können wir hier ruhig auf
die Wiedergabe der Statistiken verzichten und uns ruhig auf die einfache
Ueberlegung, den gesunden Menschenverstand verlassen. Dieser aber sagt:
Wenn man den kranken Theil der Prostitution möglichst frühzeitig als krank
feststellt und durch Internirung in ein Krankenhaus seinem Gewerbe entzieht,
beugt man natürlich einer Menge von Ansteckungen vor. Ob eine Dirne mit
einer Sklerose, mit breiten Condylomen oder einer Gonorrhoe wochenlang
ihrem Gewerbe nachgeht oder nicht, das kann für die Zahl der Infectionen
unmöglich gleichgiltig sein. Dieselbe vermag ganz gut täglich wenigstens
einem ihre Syphilis oder Gonorrhoe zu übertragen, der wiederum eine Quelle
weiterer Syphilisfälle werden kann. Gegen diese einfache Berechnung ist
nichts zu machen, da hilft keine rechnerische Spitzfindigkeit. Wie demgegen-
über Manche behaupten können, die Controle steigert noch die Zahl der Ge-
schlechtskranken, ist schwer begreiflich.
Im Ganzen sind die Einwände der Abolitionisten nicht als stichhaltige
zu erkennen. Man kann ihren moralischen Horror vor der Prostitution ver-
stehen und theilen, aber beim praktischen Handeln ihnen nicht folgen. So wie
die socialen und ethischen Zustände nun einmal sind, kann die Hygiene leider
sich nicht nur von moralischen Bedenken leiten lassen, sondern muss sich den
nun einmal herrschenden Anschauungen und Gebräuchen anpassen. Wenn die
Abolitionisten, statt mit solcher Energie die Reglementirung zu bekämpfen,
auf die Abänderung der letzteren mit gleicher Energie hinarbeiten würden,
wäre ihre Thätigkeit eine nützlichere und würde von den Hygienikern gewiss
nach jeder Pachtung gefördert werden müssen. Niemand wird den Abolitio-
nisten, wenn durch ihr Verdienst die ganze Prostitution aus der Welt ge-
schaffen ist, so dankbar sein, als die Aerzte, denen die Controle obliegt. Bei
dieser Gelegenheit sei noch Protest eingelegt gegen die Behauptung der
Abolitionisten, dass nur minderwertige Aerzte sich zur Ausführung der Unter-
suchungen bereit finden lassen. Wenn auch die Abolitionisten aus ethischen
Motiven handeln, so haben sie doch kein Recht, eine ehrenwerte Kategorie
636 PROSTITUTION.
von Aerzten (Verfasser gehört nicht zu ihnen) zu verleumden. Es liegt für
ihre Behauptung, wenigstens soweit Deutschland in Betracht kommt, gar kein
Material vor. Mit grossem Tact und grosser Opferwilligkeit unterziehen sich
die Aerzte der gewiss nicht angenehmen Pflicht im Dienste der Hygiene und
thun damit genau ebenso gutes auf dem Gebiete der Prophylaxe und Therapie,
wie die anderen hygienisch-therapeutisch thätigen Collegen. Ihnen eine
Minderwertigkeit vorzuwerfen, ist ein unüberlegter Ausspruch abolitionistischer
Heisssporne, der zurückgewiesen werden muss.
Noch etwas muss hier erwähnt werden: Die Abolitionisten verwerfen die Prostitu-
tion; da sie nun aber doch wissen, dass sie bis auf weiteres den ausserehelichen sexuellen
Verkehr nicht aus der Welt schaffen können, sind sie zuweilen geneigt, die sogenannte
„freie Liebe" mit sehr nachsichtigen Augen anzusehen. Zweifellos haftet den Liebesver-
hältnissen mehr Poesie an, sind sie moralisch, soweit es sich um nicht verehelichte Personen
handelt, weniger tadelnswert als die Prostitution. Aber von praktischen Gesichtspunkten
aus betrachtet, kann man sie nur zu verhüten suchen, denn sie sind oft die Quelle unend-
lichen Elends für beide Theile. Wie viel Kummer und Sorge, wie viel Gewissensqualen
und Verzweiflung, wie viel Schande knüpft oft an diese Liebesverhältnisse! Wie mancher
junge Mann entgleist durch ein solches, geräth auf verbrecherische Bahnen, wie manches
Mädchen geht zu Grunde, fällt sogar schliesslich der Prostitution anheim! Wie viele Selbst-
morde haben in der freien Liebe ihren Ursprung! Wahrlich, zur sexuellen Befriedigung die
Bande der freien Liebe anzuknüpfen, das darf man keinen Menschen rathen, will man nicht
Mitschuldiger werden an vielem, vielem Unglück.
Kein Wort ist darüber zu sprechen, dass manche sogar in der Onanie
etwas weniger Schädliches erblicken als in der Prostitution. Wer weiss, wie
viele Existenzen infolge zügelloser Onanie dahinsiechen, zu Neurasthenikern
schlimmster Art, zu körperlichen und geistigen Schwächlingen, zu charakter-
losen Subjecten werden, der wird das nicht sagen.
Kommen wir zur Besprechung der Reglementirung! Zwei Dinge
sind es vornehmlich, um die der Staat sich bei den öffentlichen Prostituirten
kümmert, ihre Wohnung und ihre gesundheitliche Beschaffen-
heit, speciell mit Rücksicht auf sexuelle Leiden. In Bezug auf erstere trennt
man die kasernirte und die freie Prostitution. Es handelt sich nun
zunächst um die Frage, welche von beiden Arten weniger gefährlich ist,
resp. ob die kasernirte Prostitution überhaupt geduldet werden soll, d. h. um
die sogenannte, vielumstrittene Bordellfrage. Früher herrschte über die-
selbe unter den Aerzten eine gewisse Einmüthigkeit; man hielt die Bordelle
für das weniger gefährliche, weil leichter controlirbare. Aber tempora
mutantur et nos mutamur in illis. Ein sehr erheblicher Theil derjenigen,
die der sexuellen Hygiene ihr Interesse zuwenden, verwerfen dieselben voll-
kommen aus rein hygienischen Gründen. Die Statistik wird hier wieder ins
Feld geführt. Diese soll beweisen, dass die Bordelldirnen häufiger krank ge-
funden werden als die frei lebenden Dirnen. In der That sprechen die
Zahlen in diesem Sinne. Aber sind dieselben wirklich einwandsfrei ? Besteht
denn nicht ein Missverhältnis zwischen der Controle der Bordell- und der
frei wohnenden Dirnen insofern, als erstere alle von derselben regelmässig
getroffen werden, während von letzteren sicher mehr als die Hälfte sich auf
alle mögliche Weise entzieht? Unter diesen Controlscheuen sind natürlich die
Kranken zu suchen, denn diese haben ein lebhaftes Interesse, so lange wie
möglich ihrem Handwerke ungestört nachzugehen und der Constatirung ihrer
Erkrankung, so lange es irgend geht, zu entfliehen. So viel Gewissen haben
sie ja nicht, dass sie wegen der Ansteckung ihrer Kunden sich den Kopf
zerbrechen. Sind nun aber die kranken freien Prostituirten vornehmlich con-
trolflüchtig, dann hinkt natürlich die Statistik. Aber selbst wenn die Bordell-
dirnen häufiger erkranken — bei ihrer grösseren Inanspruchnahme wäre das
ja erklärlich — was folgt daraus? Lediglich doch, dass dieselben genauer
und schärfer controlirt werden müssen, damit sie sofort nach ihrer Erkrankung
dem öffentlichen Verkehr entzogen werden können. Diese schärfere Controle
PROSTITUTION. 637
ist aber in den Bordellen leichter durchführbar, weil die Inhaberinnen das
grösste Interesse haben, mit der Sanitätsbehörde nicht in Conflict zu gerathen
und derselben meistens hellend beistehen, und die Verfügungen strenge zu
befolgen leicht angehalten werden können. Blaschko, ein sehr reger Bordell-
gegner sucht wiederum an der Hand der Statistik darzuthun, dass in Berlin
die Syphilis seit der im Jahre 18GG erfolgten Aufhebung der Bordelle stetig
abgenommen habe. Da ist aber die Beziehung zwischen Ursache und Wir-
kung kaum zu beweisen. Zugegeben, die Thatsache wäre richtig, so können
gar viele andere Momente dabei mitspielen. Wenn Blaschko aus der Ab-
nahme der Todtgeborenen, die zum grossen Theil Opfer der Syphilis sind,
auf eine Abnahme der Syphilis schliesst, so steht der Schluss auf schwachen
Füssen. Wir müssen doch bedenken, um welche Jahrzehnte es sich da handelt.
Es sind Jahrzehnte, in der die Geburtshilfe, zum grossen Theil Dank der
Antisepsis, die bedeutendsten Fortschritte gemacht hat, so dass manches früher
verlorene Kind durch operatives Eingreifen lebend das Licht erblickt. Wir
müssen ferner bedenken, dass die Geneigtheit, ärztliche Hilfe bei Geburten
zu requiriren, eine unendlich grössere geworden, die Frauen viel von ihrer
Prüderie abgelegt haben, die Gelegenheit, ärztlichen Beistand herbeizuholen,
ungeheuer zugenommen hat, die Hebammen nicht mehr wie früher diesen
perhorresciren. — Kurz, das kann man wohl nicht zugeben, dass bei rich-
tiger Controle die Bordelle eine gefährlichere Syphilisquelle bilden, als die
freie Prostitution, zumal die Bordelldirnen sich meistens doch einer viel
grösseren Sauberkeit befleissigen.
Vom hygienischen Standpunkte aus kann man also den Bordellen keinen
Stein in den Weg legen, deshalb aber darf man nicht die zwangsweise Kaser-
nirung der gesammten Prostitution verlangen. Das ist einfach eine Unmög-
lichkeit. Kein Staat hat die Macht, die Dirnen in Zwangsbordelle zu sperren,
denn nur wenige Prostituirte sind geneigt, sich kaserniren zu lassen, und nur
wenige liebesbedürftige Männer haben Lust, in Bordellen ihre sexuelle Be-
friedigung zu suchen. Das ist nicht modern. Wir leben im Zeitalter der
„Verhältnisse". „Suam cuique" ist die Losung. Und wenn auch das Mädchen
mehrmals in der Woche ihren „Schatz" wechselt, so gibt dieser sich doch
der Illusion hin, dieser Losung gemäss zu leben. Vielleicht wenden sich die
Männer aber wieder mehr den Bordellen zu, wenn sie sich in denselben vor
bösen Krankheiten sicherer fühlen als jetzt bei der zweifellos sehr verbesse-
rungsbedürftigen Controle. Auf die öffentliche Moral wirken die Bordelle,
wofern sie zerstreut in verschiedenen Stadttheilen liegen, im ganzen weniger
schädigend ein, als die freie Prostitution mit ihrem auffallenden Gebahren
auf öffentlichen Plätzen, die ihr so oft Gelegenheit geben, junge unschuldige
Männer zur Sittenverderbnis zu verführen.
Erwähnt sei hier noch der etwas eigenthümliche Vorschlag von Lassae,
die die Bordelle aufsuchenden Männer bei ihrem Eintritt auf ihre Gesund-
heit untersuchen zu lassen, um so Sexualleiden von den Insassen fernzuhalten.
Selbst wenn das ausführbar wäre, würde man den Bordellen dadurch den
Todesstoss geben. Welche Männer würden sich wohl zu einer solchen Unter-
suchung bereit finden!
Bleiben wir gleich bei den weiteren Maassnahmen zur Erhaltung eines
guten Gesundheitszustandes in den Bordellen, so gehören dazu ausser einer
gründlichen, täglichen Untersuchung häufige unerwartete Inspectionen, das Aus-
legen der Gesundheitsbescheinigungen, die Einführung von Beschw^erdebüchern
bei Zusicherung allerstrengster Discretion, das Verbot des Ausschankes alko-
holischer Getränke und aller durch diese angeregten Orgien und Aus-
schreitungen.
Die Wohnungssverhältnisse der freien Prostituirten sind
auch Gegenstand von Erörterungen. Soll man sie wohnen lassen, wo sie
638 PROSTITUTION.
wollen, oder soll man sie in bestimmte Strassen oder Stadttheile verbannen?
Letzteres bringt mancherlei Nachtheile mit sich. Vor allem drückt man
diesen Stadttheilen den Stempel des Unmoralischen auf; sie gelangen in
Verruf. Anständige Menschen wollen in denselben nicht wohnen, es findet
bald eine Anhäufung aller möglichen schmutzigen Elemente, nicht nur der
der Prostitution ergebenen, statt. Die Strassen werden unsicher, erregen in
jeder Beziehung Anstoss, bilden die Centralstätte alles Verbrech erthums.
Mchts von alledem findet man, wenn sich die freie Prostitution über die
ganze Stadt — um Städte handelt es sich ja nur bei dieser Besprechung —
zerstreut. Man vermeidet dadurch die Existenz von Strassen, bei deren
Nennung anständige Damen erröthen und sich vielsagende Blicke zuwerfen.
Im Gewühle der Stadt verschwindet die zerstreut wohnende Prostitution, Die
öffentliche Moral erleidet dadurch am wenigsten Schaden. Auch für die
Ueberwachung der Prostituirten bringt das zerstreute Wohnen nur Nutzen.
Ich halte es für leichter, die Controle gut auszuüben, wenn der einzelne Beamte
möglichst wenige Dirnen zu beobachten hat, als wenn grosse Mengen in
einem Revier unter Aufsicht gehalten werden sollen. Hat der einzelne Polizei-
beamte eine Liste der in seinem Revier wohnenden, unter Controle stehenden
Frauenzimmer, dann kann er sie in unauffälliger Weise beobachten und zur
Untersuchung citiren, wenn sie sich vor derselben zu drücken suchen. Na-
türlich müssen alle Reviere unter einander in Verbindung stehen, damit beim
Wohnungswechsel einer Prostituirten dieselbe nicht aus den Augen kommt.
Kurz, in hygienischer und moralischer Hinsicht ist die Concentrirung der
freien Prostitution zu verwerfen.
Die gesundheitliche Controle der Prostituirten besteht gewöhn-
lich darin, dass sie ein- bis zweimal wöchentlich sich zu einer ärztlichen
Untersuchung zu stellen haben. Ist nichts auszusetzen, dann wird es in
ihren Büchern vermerkt, werden sie für krank befunden, dann kommen sie
sofort ins Krankenhaus. Dass eine zweimalige Untersuchung das mindeste
ist, bedarf nicht der Betonung, bei Bordelldirnen genügt auch diese nicht;
dieselben müssten täglich sich zu derselben stellen. Der Ort der Unter-
suchung ist jetzt meistens ein Raum in der Polizei. Dieses ist absolut zu
verwerfen. Zu ärztlichen Untersuchungen ist die Polizei kein Platz, dazu
dienen Krankenhäuser oder extra zu errichtende Polikliniken. Ueberhaupt
muss die Controle ihres polizeilichen Charakters möglichst entkleidet werden
und einen hygienischen annehmen. An Stelle der Sittenpolizei muss die
Gesundheitspolizei treten. Es ist allgemein bekannt, dass die Prostituirten
die Untersuchung als eine polizeiliche Chicane ansehen, nicht als eine Wohl-
that, die ihnen und ihren Kunden zu Gute kommt. Wenn sie erst zu letz-
terer Auffassung gelangt sind, werden sie schon williger zu derselben er-
scheinen, während sie sie jetzt auf alle mögliche Weise zu umgehen suchen.
Muss auch Ernst und Strenge gegenüber den doch meist moralisch ver-
kommenen Prostituirten statt haben, so muss die Strenge gemildert werden
durch Humanität und Mitgefühl für die bedauernswerten Individuen. Jetzt
spielt die Polizei die Hauptrolle, der Arzt wird nur als Gehilfe herangezogen.
Es soll aber der Arzt bei der Controle der Leiter sein, dem die Polizei nur
beizustehen hat, wenn die Personen renitent sind oder nicht pünktlich er-
scheinen. Der Arzt wird dann schon in erster Reihe der Controle einen
hygienischen Charakter verleihen, nicht sich als Sittenrichter aufspielen und
jede Gelegenheit benutzen, um die Prostituirten ihre Stellung unter Polizei-
aufsicht als Strafe fühlen zu lassen. — Bei der Untersuchung ist die Cen-
tralisirung zu vermeiden, damit einerseits die nöthige Gründlichkeit walten
kann, andererseits die auffälligen Pilgerfahrten vermieden werden, wie sie
jetzt zu bestimmten Stunden nach der Polizei stattfinden. Das gibt der Sache
einen indiscreten, anstosserregenden Charakter.
PROSTITUTION. 639
Ueber die Frage, wie die Untersuchung stattfinden muss, kann nicht so eingehend, wie
es nöthig wäre, ges-prochen werden. Man muss Genitalien, Haut, Schleimhäute, Drüsen aut
Syphihs untersuchen, auf Ulcera mollia fahnden und vor allem auch nach Gonorrhoe gründ-
lich forschen. In letzter Beziehung verlangen Viele, dass nur das Mikroskop entscheidet, ob
infectionsfähige Gonorrhoe, d. h. Gonococcen vorhanden sind oder nicht. Man soll deshalb
die Herstellung von einigen Präparaten aus dem Schleime der Urethra etc. nicht unter-
lassen. Entscheidend ist leider nur ein positiver Befund. Natürlich gehört zu einer solch'
gründlichen Untersuchung Zeit, viel viel mehr Zeit, als jetzt meistens auf sie verwendet
werden kann. Nur die Decentralisation und die Heranziehung einer grösseren Anzahl von
Aerzten kann das möglich machen. Natürlich müssen es auch in dieser Richtung geschulte
Aerzte sein, wie wir sie aber nur erhalten werden, wenn auf den Universitäten auf das Stu-
dium dieser wichtigen Volkskrankheiten mehr Gewicht gelegt werden wird, als es, wenig-
stens in Deutschland, heutzutage geschieht. Es ist die Bekämpfung der Gefahren der Pro-
stitution auch gebunden an eine bessere Vorbildung der Aerzte.
Was hat nun zu geschehen, wenn eine Prostituirte krank
befunden ist? Natürlich muss sie ins Krankenhaus, denn nur da hat
man die Garantie, dass keine weitere Verschleppung des Leidens stattfindet.
Das Recht, die Prostituirten auch wider ihren Willen ins Krankenhaus zu
sperren und gesund zu machen, kann dem Staate nicht bestritten werden.
Wer so gemeingefährlich ist, muss, wenn zum Seuchenherd geworden, sich
diese Zwangsheilung gefallen lassen, die ja in Wahrheit als Freiheits-
beraubung nicht angesehen werden kann. Im Krankenhause muss die Dirne
so lange bleiben, bis sie frei von allen infectionsfähigen Symptomen ge-
worden ist. Das ist nun ein heikler Punkt, da es oft, bei Syphilis und
Gonorrhoe, enorme Schwierigkeiten macht, mit apodictischer Gewissheit das
Zeugnis der Genesung auszustellen. Am besten wäre es ja, die syphilitischen
Dirnen die ersten Jahre, so lange sie ansteckungsfähige Kecidive bekommen
können, ganz im Krankenhaus zu behalten oder in Asyle zu bringen, wo ja
gleichzeitig der Versuch einer moralischen Besserung gemacht werden könnte.
Letzterer Vorschlag ist sehr acceptabel; solche Besserungsanstalten für
moralisch depravirte Personen zu errichten, ist ja eine schöne staatliche Auf-
gabe, die gute Früchte tragen würde, wenn diese Anstalten es vermeiden,
zu sehr den Charakter von Gefängnissen anzunehmen. Aber die Durch-
führung macht viel Schwierigkeiten und kostet viel Geld; für Förderung der
Moral und der Hygiene hat aber der Staat niemals Geld. Solch alltägliche
Leiden, wie Syphilis oder Gonorrhoe, jagen, trotzdem sie so viele Existenzen
vernichten, den Menschen nicht so viel Furcht ein, dass sie in den Geld-
beutel greifen. Dazu muss eine „acute" Furcht, wie sie die Cholera auslöst,
hinzukommen. — Sind also diese Vorschläge vorläufig nicht zu verwirklichen,
kann man die angesteckten Prostituirten nicht die ersten Jahre ihrem Berufe
ganz entziehen, dann muss man sie wenigstens nach Schwund der sichtbaren
Erscheinungen ambulatorisch weiter behandeln und stets im Auge behalten.
Für die Syphilitischen empfiehlt sich dringend die „chronisch-intermit-
tirende" Behandlung der Syphilis. Bei dieser werden, auch wenn keine
Symptome vorhanden sind, die Inficirten in Intervallen von 3—6 Monaten
während der ersten Jahre entsprechenden Curen unterworfen. Dazu werden
die Dirnen jedesmal für circa einen Monat ins Krankenhaus eingezogen. Das
hat das gute, dass sie in dieser Zeit dem Verkehr entrissen werden und
relativ am besten über die Jahre der grössten Ansteckungsfähigkeit hinweg-
kommen. Sollte ihnen dadurch eine Portion „Syphilophobie" eingeimpft
werden, so ist das bei den leichtlebigen, gewissenlosen Personen eher ein
Vortheil. Die chronisch-intermittirende Syphilisbehandlung ist für sie der
beste Zügel. — Um das durchzuführen, bedarf es natürlich mehr Kranken-
häuser, d. h. mehr Geld, und das ist wieder der Stein des Anstosses. Aber
ohne grosse materielle Aufwendungen ist auf diesem Gebiete der Hygiene,
wie auf allen anderen Gebieten derselben nichts zu machen. Wann werden
die Menschen einsehen, dass die für die Volksgesundheit aufgewendeten Mittel
sich reichlich rentiren, die besten Zinsen tragen?
640 PROSTITUTION.
Das sind ungefähr die Maassnahmen, die gegen die Gefahren der öffent-
lichen Prostitution nöthig sind. Wie steht es nun aber mit der ge-
heimen Prostitution? Wir kommen da auf ein Gebiet, auf dem uns
eigentlich der Boden für eine erfolgreiche Besprechung mangelt. Wir können
hier weder mit bestimmten Zahlen, noch mit bestimmten Begriffen operiren.
Wir sind nicht einig darüber, wo die geheime Prostitution anfängt und wo
sie endet, inwieweit sie bei der Verbreitung sexueller Leiden eine Rolle spielt.
Es handelt sich um individuelle Ansichten, die gewissermaassen fundamentlos
in der Luft schweben. Es darf uns daher nicht Wunder nehmen, wenn die-
selben sehr auseinandergehen. Die Grenzen werden von dem Einen enger, von
dem Anderen weiter gezogen, die Gefahren hoch und niedrig taxirt. Wenn
man jedes Mädchen, das in auffallender Weise dem Grundsatz „variatio
delectat" huldigt, häufig die Liebhaber wechselt, als Prostituirte betrachtet,
ohne Ansehung, ob sie es „aus Liebe" oder „für Geld" thut, dann zählen viel
viel mehr Personen zur geheimen Prostitution als man gewöhnlich annimmt.
Ich glaube, dass man richtig thut, die Grenzen recht weit zu stecken und
die Gefahren recht hoch zu taxiren.
Es ist ja wahr, dass diese Personen nicht soviel sexuell verkehren als die öffent-
lichen Prostituirten, aber dieses wird reichlich dadurch aufgewogen, dass sie ungestört
ihren Unsitten fröhnen können, auch wenn sie krank geworden. Während die Gontrolirte
bei richtiger Controle doch nur einige Tage nach dem Auftreten der Krankheit noch diese
weiter tragen wird, kann eine kranke Kellnerin ungestört inficiren, solange es ihr beliebt;
es kräht kein Hahn darnach. Niemand zwingt sie, sich behandeln zu lassen, niemand legt
ihr das Handwerk. Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, ist die geheime Prostitution
sehr gefährlich, aber was thun? Blaschke sagt ganz richtig: „Die Nürnberger hängen keinen,
sie hätten ihn denn zuvor." Will man die geheime Prostitution gefahrloser machen, dann
muss man ihr den Charakter des Geheimen nehmen, sie aus dem Dunkeln ans Licht ziehen,
sie zu einer freien, aber controlirten zu machen suchen. Das ist aber nur zum geringen
Theil möglich, indem man einmal aufgegriffene Frauenzimmer in ärztliche Beobachtung
nimmt, wobei aber eine Trennung derselben von den öffentlichen Dirnen statthaben muss,
um ihnen den Weg zur Rückkehr in einen sittlichen Lebenswandel frei zu lassen. Erst,
wenn sie sich als nicht besserungsfähig erweisen, soll man sie unter die anderen Dirnen
einreihen.
Ferner kann man die besonders gefährlichen Gewerbe, z. B. die Kell-
nerinnen und auch die Kellner, indirect zu einer gewissen Controle heranziehen,
indem man von ihnen Gesundheitsatteste verlangt, bevor man sie zu dem
Gewerbebetrieb zulässt. Natürlich muss sich das Attest nur erstrecken auf
das Freisein von übertragbaren Krankheiten. — Jedenfalls muss man allen
Quellen geheimer Prostitution nachspüren, in welcher Gestalt dieselbe sich
zeige; sie ganz unbeachtet zu lassen, geht nicht an. Mit Discretion und Energie
kann man auch hier in hygienischer Beziehung etwas leisten, trotzdem es
sich um einen versteckten Feind handelt.
Dieses sind die Grundzüge der Reglementirung der Prostitution; es fragt
sich nun weiter, ob und inwieweit die Strafgesetze bei derselben
einzugreifen haben. Verfehlt sind in dieser Beziehung natürlich die
Bestrebungen, durch Gesetz die Prostitution ganz aus der Welt zu schaffen.
Alle Versuche in dieser Richtung sind gescheitert an der Macht des Sexual-
triebes und der nun einmal als vorhanden anzuerkennenden ungenügenden Kraft
des Menschen, sich selbst zu beherrschen. Durch strenge Strafgesetze kann
man nur schaden und den unsittlichen Charakter der Prostitution fördern.
Man verdrängt dieselbe ganz aus der Oeffentlichkeit, zwingt sie, sich in dunkle
Verstecke zurückzuziehen, in denen dann die Wogen der Unmoral noch höher
gehen, die zügelloseste Ausschweifung in verderbenbringender Weise Platz
greift, alle Verirrungen des Geschlechtsverkehrs in höchster Blüthe stehen.
Auf gesellschaftliche Uebel muss man das Licht lenken, damit sie gesehen,
erkannt und vernichtet resp. vermieden werden können; natürlich mit dem
der öffentlichen Moral schuldigen Tact. Wenn nun aber auch ein radicales
Vorgehen verfehlt wäre, so kann doch das Gesetz nicht ganz die Hände in
PROSTITUTION. 641
den Schoss legen; eine Reihe von Auswüchsen muss sie energisch in Angriff
nehmen, damit das unausrottbare Unkraut doch nicht zu sehr aufwuchert.
Vor allem sind alle Ausschreitungen in der Oeffentlichkeit, das Breitmachen auf
den Strassen, die Belästigung von Passanten, streng zu ahnden. Prostituirte, die sich
wiederholt in dieser Richtung vergehen, sind zu bestrafen, dann in Correctionshäuser zu
stecken und dort einige Jahre festzuhalten. Energisch muss gegen das mit der freien Prosti-
tution verbundene Zuhälterthum vorgegangen werden, das fast noch ein schrecklicheres
üebel ist, als die Prostitution selbst. In grossen Städten hat fast jede freie Prostituirte
ihren Zuhälter, mit dem sie zusammen lebt, der sich in ihrer Nähe aufhält, wenn sie sich
abends auf Streifzüge begibt, sie beschützt gegen Passanten und die Polizei und von ihr
dafür unterhalten wird. Diese verkommenen Subjecte sind nicht nur meistens durchseuchte
Individuen, sondern verbrecherisches Gesindel, das zu allem fähig ist, das Messer stets
parat hat, vor Mord und Todtschlag nicht zurückschreckt, noch tief unter dem Niveau der
von ihnen beschützten Prostituirten steht. Gegen diesen Abschaum der Menschen vor-
zugehen, ist eine Aufgabe der Gesetzgebung. Ich bin nicht Jurist genug, um zu entschei-
den, ob es dazu neuer besonderer Gesetze bedarf, oder ob die vorhandenen eine genügende
Handhabe in dieser Richtung bieten. Jedenfalls ist hier ein kraftvolleres Vorgehen am
Platze, als es bisher beliebt zu sein scheint. Es berührt dieses das Gebiet der Bekämpfung
des Kupplerwesens, das innerhalb der Prostitution wie ausserhalb derselben eine grosse
Rolle spielt. Personen, die gewerbsmässig Mädchen zur Prostitution verleiten, die zwischen
Männern und Weibern als Vermittlerinnen functioniren, die Gelegenheitshäuser für die
unsittliche Aristokratie unterhalten, sie fallen alle unter das Strafgesetz. Besonders streng
muss die Strafe sein, wenn sie Minderjährige ins Verderben ziehen, ein für Kupplerinnen
besonders eintiägliches Geschäft. Wo Bordelle vorhanden, muss man strenge daraufsehen,
dass die Inhaberinnen nur Personen, die unter Controle stehen, beheibergen, sich jeder
Verkuppelung bis dahin unbescholtener Mädchen enthalten. Thun sie es doch, so müssen
sie ihre Erlaubnis verlieren urd der Bestrafung anheimfallen. Besonders hart muss die
Strafe sein, wenn Ehemänner ihre Frauen verkuppeln, was leider vorkommt. Die Männer
sind die Zuhälter ihrer Frauen und leben davon. Etwas Niederträchtigeres gibt es wohl
kaum. Aehnlich verhält es sich mit den Müttern, die ihre Töchter zur Prostitution an-
halten. Es wird ja meist nicht leicht sein, den Beweis in diesen Fällen zu führen, aber,
wo er gelingt, ist strenge Bestrafung am Platze. Wenig rationell erscheint es, die Haus-
wirte zu bestrafen, welche Prostituirte in ihren Häusern dulden, ohne sonst an dem Ge-
deihen ihres Gewerbes Antheil zu nehmen. Sperrt man die Prostituirten ein — • gut! Thut
man es aber nicht, dann muss man ihnen doch die Möglichkeit lassen, irgendwo zu wohnen.
Eine viel discutirte Frage ist, ob Personen, die mit einem Geschlechts-
leiden behaftet sind und dennoch den Beischlaf ausüben und den Betreffenden
resp. die Betreffende anstecken, wegen Körperbeschädigung bestraft werden
sollen. An sich ist diese Forderung sehr berechtigt, aber in der Praxis wird
die Bestrafung nur sehr selten erfolgen können, da der Beweis der wissent-
lichen Ansteckung schwer zu führen sein wird. Die Existenz eines der-
artigen Strafparagraphen wäre aber doch sehr heilsam, es wird dadurch schon
ein moralischer Druck auf die kranken Individuen ausgeübt. Die Furcht vor
Strafe wird sie vielleicht eher von der Verbreitung ihrer Krankheiten ab-
halten als die Gewissensbedenken, die übrigens auch in gebildeten Kreisen in
dieser Richtung sehr vermisst werden.
Es würde zu weit führen, wollte ich ausführlicher auf die vielen hier in
Frage kommenden Punkte eingehen. Es möge genügen, darauf hingewiesen
zu haben, dass die Reglern entirung der Prostitution die Mitwirkung der Straf-
gesetzgebung nicht ausschliesst. Die Reglementirung sucht sie in Schranken
zu halten, die Strafgesetzgebung greift ein, wenn sie diese Schranken durch-
bricht oder sich Menschen finden, die aus der Verleitung zur Prostitution
einen Beruf machen.
Die im Obigen gegebene Darstellung der Prostitutionsfrage kann nur
einen allgemeinen Abriss darstellen. Ein vollkommenes Bild erhält man erst,
wenn man dieselbe durch eine Schilderung der speciellen Verhältnisse in den
verschiedenen Staaten und Städten ergänzt, was aber die Grenzen des zuge-
messenen Raumes überschreiten würde. Man findet da die weitgehendsten
Differenzen von der strengsten Controle bis zur absoluten Passivität; letztere
in denjenigen Landstrichen, in welchen die abolitionistische Bewegung festen
Fuss gefasst und als Sieger hervorgegangen. Die Zeit wird lehren, ob die
venerischen Krankheiten durch den Wegfall der Reglementirung gefördert
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. ■*!
642 REKRÜTIRUNG.
werden, wie wir anzunehmen geneigt sind, oder ob die Abolitionisten Eecht
haben. — Uebrigens wäre es vielleicht angemessen, wenn die Behandlung der
Prostitution zum Gegenstande internationaler Verständigung gemacht würde,
damit dieselbe eine einheitliche, wenn auch natürlich nach den localen Ver-
hältnissen in gewissen Grenzen modificirbare werde.
Eine Lücke in dieser Besprechung bildet auch die Nichtbeachtung der
Prostitution auf dem Lande. Dass es eine solche gibt, ist zweifellos; jedes
Dorf hat seine feilen Dirnen. Zum Gegenstande hygienischer Beachtung sind
sie aber bisher wohl kaum gemacht, so dass für eine Erörterung kein hand-
greifliches Material vorliegt. Dass auch auf dem Lande die Controle meistens
durchführbar wäre, kann in Gegenden, wo die Aerzte dicht gesäet sind
{und in welcher Gegend der Culturstaaten wäre das wohl nicht der Fall?)
wohl kaum bezweifelt werden.
Am Schlüsse sei nochmals betont, dass — mag man auf dem Stand-
punkt des Abolitionisten stehen oder die Keglementirung vertheidigen — die
causale Bekämpfung der Prostitution nicht aus dem Auge gelassen werden
darf. Staat, Eltern, Erzieher, Sittlichkeitsvereine, Kassenvorstände, sie alle
müssen bemüht sein, in Bezug auf sexuelle Verhältnisse reinere moralische
Anschauungen zu verbreiten, der sexuellen Zügellosigkeit entgegenzuwirken
und die Aufklärung über die seitens der Prostitution drohenden Gefahren
durch Wort und Schrift zu fördern. Fortdauernd muss ferner gearbeitet
werden an der Hebung der socialen Zustände, damit dieselben für den frühen
Eheschluss günstigere Verhältnisse schaffen, und an der Steigerung der Er-
werbsfähigkeit der Frauen, damit dieselben nicht aus Noth auf Abwege ge-
rathen. Die Prostitutionsfrage ist ein Theil der socialen Frage.
S. JESSNEE.
RekrutirunQ (Heeresergänzung) ist derjenige Vorgang, mittelst dessen
die, namentlich infolge der Dienstpflichterfüllung, eintretenden Abgänge der
bewaffneten Macht wieder ersetzt werden, so dass die letztere sich nicht nur
den gesetzlich bestimmten Umfang bewahrt, sondern sich zugleich beständig
verjüngt. Der unerschöpfliche Born, aus dem die bewaffnete Macht ihre
dauernde Grösse und Jugendkraft schöpft, ist das Volk, und die Rekrutirung
ist somit eine gewisse Canalisation zwischen Volk und Heer.
So lange und wo immer es Menschen gegeben hat, sind auch Krieger
vorhanden gewesen — partout oü il nait des hommes, il y a des soldats — ,
und es lässt sich deshalb die Rekrutirung bis auf die Anfänge der Welt-
geschichte zurückverfolgen.
In welchem Umfange und in welcher Art sich die Ergänzung der be-
waffneten Macht vollzogen hat, ist von jeher von der Quelle, also von der
physischen und culturellen Beschaffenheit und Leistungsfähigkeit, vom Charakter
und der politischen Rolle des betheiligten Volkes abhängig gewesen. In
der Hauptsache aber lassen sich 3 Hauptarten der Heeresergänzung unter-
scheiden:
1. Die allgemeine persönliche Wehrpflicht, bei der jeder Staatsangehörige wehrpflichtig
ist und sich in der Ausübung dieser Pflicht nicht vertreten lassen kann.
2. Die Conscription, die jedem Staatsangehörigen die Pflicht auferlegt, dem Staate
zu Kriegszwecken zu dienen unter dem Zugeständnisse, dass sich der Wehrpflichtige los-
kaufen und vertreten lassen kann.
3. Das Werbesystem, vermöge dessen der Staat mit dem Einzelnen einen Vertrag ab-
schliesst, der dem Staate das Recht gibt, über den Geworbenen für militärische Zwecke
zu verfügen.
Bei den Grossmächten gelten jetzt folgende Bestimmungen für die Er-
gänzung ihrer bewaffneten Macht:
Im Deutschen Reiche geschieht die Ergänzung der bewaffneten Macht nach
Maassgabe der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht, die mit vollendetem 17. Lebensjahre
beginnt und bis zum vollendeten 45. Lebensjahre dauert. Innerhalb dieses Zeitraums be-
REKRUTIRUNG. 643
steht eine Dienstpflicht, die sieben Jahre für das stehende Heer oder die Flotte und fünf
Jahre für die Landwehr oder Seewehr ersten Aufgebotes beträgt. Jene siebenjährige Dienst-
pflicht zerfällt in die active und die Reservepflicht. Die active Dienstpflicht dauert für
die Mannschaften der Cavallerie, reitenden Feldartillerie und Marine drei, für alle übrigen
Mannschaften zwei Jahre; die Reservepflicht erstreckt sich somit auf die Dauer von vier
oder von fünf Jahren. Diejenigen die drei Jahre activ gedient haben, gehören nicht fünf
Jahre, wie die übrigen Mannschaften, sondern nur zwei Jahre der Landwehr ersten Auf-
gebotes an. Die Verpflichtung zum Dienst in der Landwehr zweiten Aufgebotes dauert bis
al. März desjenigen Kalenderjahres, in dem das 39. Lebensjahr vollendet wird ; hierauf er-
folgt die Entlassung zum Landsturm. Dieser besteht aus allen den Wehrpflichtigen vom
vollendeten 17. bis vollendetem 45. Lebensjahre, die weder dem Heere, noch der Marine
angehören; der des ersten Aufgebotes umfasst die Leute vom 17. bis 39., der des zweiten
Aufgebotes die vom 39. bis 44. Lebensjahre. Ueber das deutsche Ergänzungsgeschäft und
insbesondere über die ärztlichen Rekrutirungsarbeiten verbreitet sich eine 1891 im 23. Bande
der zweiten Auflage des med.-chir. Handwörterbuchs unter „Rekrutirung" erschienene Ar-
beit. Da seitdem in dem geschäftlichen Theile der deutschen Rekrutirung nicht wesent-
liche Veränderungen eingetreten sind, so darf ich mich hier vielleicht darauf beschränken,
auf jene Arbeit zu verweisen. Nur sei für die ärztliche Rekrutirungsthätigkeit bemerkt,
dass für sie neben der Heer- und Wehrordnung die Dienstanweisung vom 1. Februar 1894
die Hauptgrundlage bildet.
Die bewaffnete Macht Oesterreich-Üngarns ergänzt sich ebenfalls auf Grundlage
der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht. Die Dienstpflicht dauert zwölf Jahre, und zwar
drei Jahre in der Linie, sieben Jahre in der Reserve und zwei Jahre in der Landwehr.
Die Mannschaften, die ohne zu dienen unmittelbar in die Landwehr eingereiht werden, ver-
bleiben in dieser zwölf Jahre. Der geschäftliche Theil der Rekrutirung ist 1888 im
16. Bande der zweiten Auflage des med.-chir. Handwörterbuchs unter „Rekrutirung" ab-
gehandelt worden. Die für den Militärarzt wissenswertesten der durch das neue Wehr-
gesetz von 1889 eingetretenen Neuerungen sind folgende: die Gestellungspflicht ist vom
20. auf das 21. Lebensjahr hinausgeschoben worden, und das Mindest-Körpermaass ist von
155"4: cm auf 155"0 an hinabgesetzt worden. Die militärärztliche Begutachtung der Unter-
suchten bewegt sich in fünf verschiedenen ürtheilen: tauglich, bedingt taugHch, d. h. nur
zu bestimmten Waffengattungen oder Heeresanstalten tauglich, minder tauglich, d. h. bei
geringen bleibenden Fehlern noch zur Waffe (Ersatzreserve) tauglich, derzeit untauglich
wegen Körperschwäche oder vorübergehender Gebrechen, nur bei Leuten der ersten und
zweiten Altersclasse anwendbar, und untauglich für immer zu jedem Dienste oder nur
zum Waffendienste. Die Bestimmung, dass ein Militärarzt, der einen Untauglichen als
tauglich erachtet, 20 Gulden Strafe zu zahlen hat, ist für die Fälle beibehalten worden,
wo das fragliche Gebrechen selbst für Laien erkennbar gewesen ist.
Grossbritannien hält für die Ergänzung seiner bewaffneten Macht noch an
seinem Werbe- und Miliz-Systeme fest, indem es geeignete Leute für den militärischen Be-
ruf dingt. Die Dienstpflicht dej Angeworbenen dauert zwölf Jahre, und zwar, je nach der
Vereinbarung, entweder so lange bei der Fahne oder nur sieben Jahre bei der Fahne und
fünf in der Reserve oder drei Jahre bei der Fahne und neun in der Reserve. Nach zwölf-
jähriger Dienstzeit ist eine zweite Werbung auf neun Jahre zulässig. Neben dem Heere
unterhält Grossbritannien für die Landesvertheidigung noch eine Miliz, zu der jeder Eng-
länder auf fünf Jahre verpflichtet ist. Auch hat es gegen feindliche Einbrüche Freiwilligen-
Corps vorgesehen. Die als kriegstüchtig eingestellten Leute sind zum Theil sehr jung;
fast die Hälfte stehen zwischen dem 18. und 19. Lebensjahre; jedoch dürfen Leute, die noch
nicht 20 Jahre alt sind, nicht in die Golonien geschickt werden. Die Tauglichkeitsbegut-
achtung erfolgt durch Militär- und Civilärzte.
Frankreich folgt für die Ergänzung seiner bewaffneten Macht den Grundsätzen
der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht. Die Gestellungspflicht beginnt mit dem 20. Lebens-
jahre. Die Wehrpflicht dauert nach Gesetz vom 15. Juli 1889 bezw. 1892 vom vollendeten
21. bis zum 46. Lebensjahre. Die active Dienstzeit beträgt drei (nicht mehr fünf) Jahre,
die Dienstzeit in der Reserve zehn (nicht mehr sieben) Jahre, die im Territorialheere (Land-
wehr I) sechs und die in dessen Reserve (Landwehr II) sechs Jahre (nicht mehr neun Jahre).
Drei-, vier- und fünfjährige Freiwillige werden schon vom 16. Lebensjahre an angenommen.
Einjährig-Freiwillige werden nicht mehr eingestellt; älteste Söhne einer Familie aber, die
Ernährer dieser Familie sind, und Schüler höherer Lehranstalten, die die Fortsetzung ihrer
Studien nachweisen, auch Religionsdiener werden schon nach einjährigem Dienste im activen
Heere entlassen. Untaugliche oder vor dem dritten activen Jahre Ausgeschiedene haben
«ine Wehrsteuer zu zahlen. Die Aushebung, der eine Musterung nicht vorausgeht, besorgt
eine Commission de (reforme oder) revision, die zusammengesetzt ist aus einem General,
einem Unterintendanten, einem Rekrutirungsofficier und einem Gendarmerieofficier; ihr bei-
gegeben ist ein Arzt, dessen Gutachten zu berücksichtigen der Commission freisteht.
Italien hat mit den Gesetzen vom 19. Juli 1871 und 22. November 1873 die all-
gemeine persönliche Wehrpflicht eingeführt. Die Ausgehobenen zerfallen nach ihrer Dienst-
pflicht in drei Gruppen : die erste dient activ fünf Jahre bei der Cavallerie oder drei Jahre
bei den übrigen Truppen und drei bezw. fünf Jahre in der Reserve; die zweite Gruppe
41*
644 REKRUTIRÜNG.
bilden Taugliche mit hoher Losnummer, die nicht activ, sondern acht Jahre in der Re-
serve dienen; die dritte Gruppe setzt sich aus den wegen socialer Umslände Befreiten zu-
sammen. Die der deutschen Landwehr ähnelnde Mobilmiliz besteht aus Leuten der ersten
und zweiten Gruppe und umfasst vier Jahrgänge. Die dem deutschen Landsturm ähnelnde
Territorial- oder Communal-Miliz (Miliziastanziale) begreift Leute der ersten und zweiten
Gruppe mit sieben Jahrgängen und Leute der dritten Gruppe mit 19 Jahrgängen in sich.
Die Aushebung erfolgt durch Ausschüsse, deren Vorsitzende, je ein Bezirkscommandeur,
über Tauglichkeit und Zutheilung zu den Truppengattungen allein entscheiden, so dass die
übrigen Ausschussmitglieder, auch die Aerzte, nur berathende Stimmen haben.
Russland ergänzt seine bewaffnete Macht nach Maassgabe der allgemeinen persön-
lichen Wehrpflicht, die mit Gesetz vom 1./13. Januar 1874 in Kraft getreten ist. Die
Dienstpflicht beginnt mit dem 21. Lebensjahre und dauert 23 Jahre: fünf Jahre gemäss
Gesetz (vier Jahre thatsächlich) im activen Dienste, 13 Jahre in der Reserve und fünf Jahre
in der Opoltschenie, einer dem deutschen Landsturm ähnelnden Reichswehr. Die Leute,
die nicht in das stehende Heer eingereiht werden, dienen 23 Jahre in der Reichswehr ab.
Abweichend ist die Dienstpflicht bei den Völkerschaften des Küsten- und Amurgebietes,
einiger Bezirke des nördlichen Kaukasus, des Gouvernements Astrachan, auch Finnlands
und West- und Ost-Sibiriens. Z. B. dienen die des transkaukasischen Gebietes nur drei
Jahre bei der Fahne und 15 Jahre in der Reserve, und die Kosaken dienen drei Jahre in
den Vorbereitungs-, zwölf Jahre in den Front- und fünf in den Ersatzcategorien. Zum
Rekrutirungsgeschäfte werden seit dem Jahre 1806 auch Aerzte mitverwendet. Jetzt ge-
hören dem Aushebungsausschusse jedes Gouvernements ein Civil- und ein Militärarzt mit
berathenden Stimmen an.
Nächst der Heeresergänzung in den europäischen Grossstaaten interessirt diejenige in
den Nordamerikanischen Freistaaten am meisten. Hier finden unter der Ober-
aufsicht des Adjutant general Werbungen statt. Anzuwerbende müssen über 16 und unter
35 Jahre alt sein; jedoch dürfen Farbige nicht über 25 Jahre alt sein, weil sie älter viel
weniger gelenkig und verständig sind. Die in die Cavallerie Einzustellenden dürfen höch-
stens 30 Jahre alt sein, üeberdies muss jeder Anwärter ausreichende Kenntnis der eng-
lischen Sprache besitzen. Der Geworbene erhält zunächst fünf Dollars Handgeld und ist
zu fünfjähriger Dienstzeit verpflichtet. Die Prüfung der Anwärter geschieht durch einen
Werbe- und Sanitätsofficier nach Maassgabe der Army regulations von 1881 und im Ein-
zelnen nach einer 1890 herausgegebenen Dienstanweisung ,,An epitome of Triplers
Manual" etc.
Ein vergleichender Rückblick auf die Heeresergänzungseinrichtungen
der Grossstaaten lässt in der Hauptsache folgende Thatsachen und Bedürfnisse
erkennen :
Die Ergänzung der bewaffneten Macht vollzieht sich entweder auf Grund-
lage der allgemeinen persönlichen Wehrpflicht, oder, in England und Nord-
amerika, durch WerbuDg. Mit jener Grundlage ist man in jenen einfach-
natürlichen Zustand zurückgetreten, welchen vor Jahrtausenden das blosse
Sittengesetz geschaffen hat.
Die Militär-Dienstpflicht beginnt meist im 20. Lebensjahre, und zu Kriegs-
zeiten greift man auf noch jüngere Jahrgänge zurück. Es ist nun oft schon
die Frage aufgeworfen worden, ob nicht die 20-jährigen Leute zu unreif für
das Waffenhandwerk seien, da doch das Wachsthum des Menschen erst etwa
mit dem 24. Lebensjahre ende. Diese Frage ist physiologisch berechtigt,
kann aber militärärztlich nicht in dem Sinne bejaht werden, dass der Dienst-
pflichtbeginn in das 24. Lebensjahr verlegt werden möchte. Die Physiologie
ist nicht im Stande, der militärischen Erfahrung zu widersprechen, nach
welcher der Mensch schon vor Beendigung seines Knochenwachsthums kriegs-
diensttauglich ist. Freilich ist der Gang des Wachsthums bei den verschie-
denen Völkern ein deutlich verschiedener, wie namentlich Oesterreich-Ungarn
zeigt, und andererseits haben sich, wie die Kriegsgeschichte lehrt, zu junge
Leute, also solche vor dem 20. Lebensjahre, im Kriegsdienste in der Regel
nicht bewährt. Man möge derart junge Leute im Kriege zwar einziehen und
militärisch ausbilden, aber nur im Garnisonsdienste verwenden.
Die ärztliche Rekrutirungsthätigkeit besteht in der Untersuchung und
Beurtheilung der gestellten Militärpflichtigen. Schon oft ist von Aerzten und
Nationalökonomen der Wunsch ausgesprochen worden, dass sich darauf die
aushebungsärztliche Thätigkeit nicht beschränken möge, sondern dass die
Untersuchung über den Rekrutirungszweck hinaus auf das gesammte phy-
REKRUTIRUNG. 645
sische Verhalten der gestellten Mannschaften sich erstrecke, damit die Ursachen
von Krankheiten und Fehlern enthüllt werden und das physische Wohl der
gesammten Bevölkerung aufgebessert werden könne.
Dieser Wunsch ist um so beherzigenswerther, als er ohne Mehraufwand
an Zeit und Kosten durchführbar ist, falls ihm durch einige Organisations-
veränderungen des Rekrutirungsgeschäftes (Zubefehligung von sanitärem Hilfs-
personal, Umwandlung der umständlichen, mühevollen und kostspieligen Zwei-
theilung des Rekrutirungsgeschäftes in ein einziges ungetheiltes Geschäft),
auf die ich noch einmal zurückkommen werde, die Verwirklichung ermög-
licht wird.
Wenn der allgemein wissenschaftlichen, statistischen Verwertung der
gelegentlich der jährlichen Rekrutirung bewirkten Erhebungen das Wort ge-
redet wird, so ist damit keineswegs beabsichtigt, dass etwa alles, was von
jeher der Gelehrtenwelt verhüllt geblieben ist, nun den Rekrutirungsärzten
zur Erforschung übergeben wird. Mehr würde der Wissenschaft, da besonders
hier das Vielerlei der Feind der Gründlichkeit ist, gedient werden, wenn all-
jährlich die obersten Militärsanitätsbehörden, denen die Aushebungsergebnisse
zur Veröflentlichungsauswahl zu berichten sind, eingehend darauf prüfen,
wo in physischer Beziehung dunkle Punkte zu finden sind, wo seit Jahren
in einem bestimmten Theile des Landes und der Bevölkerung immer die-
selben Fehler und Krankheiten entgegentreten, und wenn sie ferner vor jeder
Rekrutirungsperiode den und jenen Aushebungsarzt veranlassen, die gestellten
Rekruten auf diese Fehler, insbesondere auf deren Entstehung besonders ein-
gehend zu prüfen.
Auf diese Weise würden die jährlichen umfangreichen und mühevollen
Rekrutirungsarbeiten zur reichen Fundgrube werden für ungeahnte, die Wissen-
schaft und das Volkswohl dauernd bereichernde und fördernde Schätze.
Was die eigentliche, engere Arbeit des rekrutirenden Arztes anlangt, so
hat dieser die Aufgabe, festzustellen und zu bekunden, ob die vorgestellten
Wehrpflichtigen für den Militärdienst tauglich oder untauglich sind. Die
Untauglichkeit ist je nach dem Wesen des vorgefundenen Gebrechens oder
Mangels entweder eine dauernde oder zeitige. Nach dem Grade des Ge-
brechens und seinem Einflüsse auf die Leistungsfähigkeit der Menschen ist
die Untauglichkeit ferner eine völlige oder theilige. Die theilige Untaug-
lichkeit, welche wie die gänzliche eine dauernde oder zeitige sein kann, be-
trifft die Feld- und Garnisondienstfähigkeit oder überhaupt den Waffendienst,
oder sie schliesst nur von einzelnen Waffengattungen aus. Diese logischen
Möglichkeiten lassen sich wie folgt schematisch zusammenfassen:
flfinPTnn 1
-.-^ j ganz untauglich zu jedem militärischen Dienste.
I I zu einzelnen Truppengattungen
dauernd Lr, -i • ^. i- , zu jedem Waffendienste
zeitig p^^^^^^'^^^^^^^'^^^S^^^^lzurQ Friedensdienste
J ^ zum Felddienste.
Dies ergibt zehn verschiedene Untauglichkeitsgrade, welche, da sie
logisch denkbar und dem Bedürfnisse der Heeresverfassung entlehnt sind, in
allen Staaten wiederkehren, obschon sie in den meisten nur wenig scharf be-
zeichnete Begriffe bilden, oder sich nur in den Entscheidungen der Commissionen
entdecken lassen, ohne rein gutachtliche Begriffe zu sein. Es ist sehr zu em-
pfehlen, dass jedes Gutachten des Aushebungsarztes über die Tauglichkeit
eines untersuchten Militärpflichtigen mit einem jener zehn Begriffe wieder-
gegeben wird, soweit dies gegenüber amtlichen Bestimmungen möglich ist.
Diese gutachtliche Mannigfaltigkeit setzt militärärztliches Wissen und
reiche Erfahrung voraus. Es ist deshalb unerlässlich, dass diese gutachtliche
Arbeit Militärärzten, und nicht, wie in mi ssverstandenem ökonomischen
646 'REKRÜTIRÜNG.
Interesse vorgeschlagen worden ist, Civilärzten übertragen wird. Ferner ist es
wünschenswert, dass zu dieser über den Lebensgang so vieler Menschen ent-
scheidenden Arbeit nur die ältesten Militärärzte herangezogen werden und
zwar, wie ich im „Militärarzt" 1878, Nr. 1. bis 3. ausführlicher vorgeschlagen
habe, eine Anzahl bestimmter höherer Militärärzte, mit derem Amte der Aus-
hebungsdienst dauernd verbunden bleibt. So sehr es ferner als richtig an-
zuerkennen ist, dass der Aushebungsarzt, so lange er noch als blosser Begut-
achter amtlich aufgefasst wird, nicht als Mitglied des Aushebungsausschusses
gilt, als welches er mit Leichtigkeit überstimmt werden könnte, so nöthig
ist es auch, dass das Gutachten des ausserhalb des Aushebungsausschusses
stehenden Aushebungsarztes nicht ohneweiters vom Ausschusse überstimmt
werden, und eine entgegengesetzte Entscheidung getroffen werden kann. Es
sollte vielmehr überall amtlich geregelter Brauch werden, dass das aushebungs-
ärztliche Urtheil in angefochtenen Fällen nicht aufgehoben, sondern seine
Rechtskraft bis zu einer höheren Entscheidung nur aufgeschoben werden kann.
Die Wichtigkeit und der Umfang der aushebungsärztlichen Arbeit ver-
langt ferner die Einstellung von Hilfskräften für den Aushebungsarzt: eines
Sanitätsadjutanten (Assistenzarztes), zugleich zum Zwecke der Heranbildung
von Aushebungsärzten, und eines Sanitätsunterofficiers (Lazarethgehilfen) zur
Verrichtung der rein mechanischen Aushebungsarbeiten. Der hiedureh
entstehende Kostenaufwand wird mehr als ausgeglichen durch den Vortheil,
dass die Untersuchungen dann schneller und eingehender ausgeführt werden
können, und dass infolge dessen ein Anlass dazu fortfällt, das Ergänzungs-
geschäft (in Musterung und Aushebung) zu theilen. Es wird dann kaum noch
etwas im Wege stehen, das ganze Geschäft zu vereinfachen und insbesondere
eine nur einmalige Zustellung und Untersuchung der Militärpflichtigen vor-
nehmen zu lassen, wie sie in einzelnen Staaten bereits gehandhabt wird, und
wie sie schon jetzt zu Kriegszeiten allenthalben genügen muss.
Dort, wo dem Rekrutirungsarzte kein Assistenzarzt zugebilligt werden
kann, ist wenigstens ein Sanitätsunterofficier ganz unentbehrlich. Er kann
zwar in der Listen- oder Rapportführung, die ihn bisweilen nicht ausreichend
beschäftigt, durch einen Unterofficier der Waffe leicht ersetzt werden, nicht
aber in den übrigen Verrichtungen.
Zu seinen Aufgaben zähle ich in der Hauptsache folgende: 1. Schreibgeschäfte, und
zwar neben der statistischen Zusammenstellung die Reinschriften der ärztlichen Zeugnisse;
2. Unterstützung des untersuchenden Arztes durch zweckmässige Hinstellung des Militär-
pflichtigen und Handreichungen während der Untersuchung ; 3. Erneuerung Ton Verbänden
an Militärpflichtigen, wozu er seine Heilmitteltasche regelmässig mit zur Stelle bringt;
4. Leistung der ersten Hilfe bei Ohnmächten, wie sie bisweilen schon vor Ankunft des
Arztes in den dicht besetzten Versammlungssälen eintreten; 5. Putzen und Transportiren
der ärztlichen Instrumente, und endlich 6. aushilfsweise Gewichts- und Längenbestimmungen.
Wenn ich im Vorausgehenden wünschenswerte Verbesserungen in den
Rekrutirungsverfassungen unter Zugrundelegung der jetzt zu Recht bestehenden
zur Sprache gebracht habe, so habe ich doch das Thema damit nicht erschöpft.
Denn Logik und eigene Erfahrungen eines Menschenalters zwingen mich dazu,
den grösstmöglichen Nutzen der Rekrutirungen für ein Volk und seine be-
waffnete Macht in einer anderen Verfassung als der bisherigen vorauszusetzen.
Auf diese gedachte Zukunftsverfassung näher einzugehen, sei mir zum Schlüsse
gestattet.
An die Spitze dieser Erwägungen ist die Thatsache zu stellen, dass der
Hauptzweck der Rekrutirung in der Feststellung der körperlichen Kriegs-
tauglichkeit der Militärpflichtigen besteht. Der Hauptzweck ist also ein
medicinischer, alle anderen Zwecke sind Nebenzwecke und reichen in ihrer
Bedeutung auch nicht annähernd an den Hauptzweck hinauf.
Wenn es sich nun logisch nicht nur rechtfertigen, sondern auch ver-
langen lässt, dass jede Anstalt, jede Einrichtung von einem Vertreter des-
REKRUTIRUNG. 647
jenigen Berufes geleitet wird, der dem Hauptzwecke der Anstalt etc. entspricht,
so kann es keineswegs anspruchsvoll erscheinen, wenn ich immer wieder auf
meine Forderung zurückkomme: Man lege die Leitung des Rekrutirungs-
geschäftes in militärärztliche Hände.
Der landläufige Einwand, der gegen das Aufstreben der Aerzte zu ver-
antwortlicheren und ehrenvolleren Stellungen erhoben wird, ist der, dass die
Aerzte zwar von Medicin, nicht aber von anderen Dingen etwas verstehen.
Und so ist auch der anscheinend stärkste Vorwurf gegen mein Verlangen der,
dass der Militärarzt den beim Rekrutirungsgeschäfte auftauchenden militärischen
und juristischen Fragen laienhaft gegenüberstehe.
Allein, es ist jedem, der einer Rekrutirung beigewohnt hat, bekannt,
dass die ganze bei Rekrutirungen in Betracht kommende Rechtskunde in
einem Paar Paragraphen enthalten ist, und dass es sich mit dem rein mili-
tärischen Wissen ähnlich verhält. Diese beiden Wissensgebiete könnten durch
jüngere Officire und Juristen, die unter dem Rekrutirungsarzte stehen,
würdig genug vertreten werden.
Als zweiter Einwand gegen meine Empfehlung könnte die Annahme er-
hoben werden, dass der Rekrutirungsarzt als Leiter des ganzen Geschäftes zu
wenig Zeit habe, sich um das Einzelne zu kümmern, da er ganz von den
ärztlichen Untersuchungen beschäftigt werde. Nun, in den meisten Staaten
hat der jetzige Leiter des Rekrutirungsgeschäftes nicht wesentlich mehr zu
thun, als die vom Arzte tüchtig befundenen Militärpflichtigen zu den ein-
zelnen Truppengattungen zu vertheilen. Dabei sieht er sich zugleich mit
dem Arzte die vorgestellten Leute an und stimmt in den wenigen und ein-
fachen juristischen Angelegenheiten meist, wenn nicht grundsätzlich, mit den
Ausführungen des anwesenden juristischen Verwaltungsbeamten überein.
Worin würde demnach die hauptsächliche Mehrbelastung des Aushebungs-
arztes, wenn er zugleich Aushebungsleiter wäre, bestehen? In der Vertheilung
der tüchtig Befundenen zu den Truppengattungen.
Das Gewicht dieser Mehrbelastung wird aber mehr als nöthig durch den
Umstand ausgeglichen, dass der erfahrene Arzt, der gegenwärtig sich auf ein
allgemeines Tauglichkeits- oder Untauglichkeitsurtheil beschränken muss, um
der Waffenwahl des Leiters nicht vorzugreifen, gewiss mit sicherem Blicke
auch für jeden Körper zugleich die geeignetste Waffengattung erkennt, so
dass er das, was er denkt, fast mühelos nur in Worte zu übersetzen braucht,
um damit nahezu die ganze Thätigkeit des jetzigen Vorsitzenden auf sich zu
nehmen.
Einen dritten Einwand habe ich aus ärztlichem Munde vernehmen müssen.
Ein höherer, nun verstorbener, Militärarzt entgegnete mir auf meinen Vor-
schlag: ich möchte doch nur an die grosse Verantwortung denken, die dem
Aushebungsarzte mit der Verwirklichung meines Wunsches aufgebürdet würde,
und die durch die voraussichtlichen Klagen der Truppenbefehlshaber über die
ihnen aufgehalsten untauglichen Rekruten herausgefordert würde. Hiegegen
darf ich vielleicht daran erinnern, wie an solchen Klagen durch keine Ein-
richtung etwas zu ändern ist, und wie diese Beschwerden schon heutzutage,
ohne dass der Arzt das Rekrutirungsgeschäft leitet, und ohne dass er selbst
nur über die Tüchtigkeit und Einstellung der Militärpflichtigen entscheidet,
hauptsächlich gegen den ärztlichen Sachverständigen des Rekrutirungs-
geschäftes gerichtet werden.
Während in allen Beziehungen des Rekrutirungsgeschäftes nach aussen
und insbesondere nach oben gemäss der jetzigen Organisation kein Anderer
als der Vorsitzende verantwortlich sein kann, und der Rekrutirungsarzt jede
andere als die innere Verantwortung, d. h. diejenige gegenüber dem Ge-
schäftsleiter, abzulehnen berechtigt ist, pflegt mit Uebergehung des Vor-
sitzenden der Arzt, an dessen Urtheil der Vorsitzende bestimmungsgemäss
i
648 RETTÜNGSWESEN.
nicht gebunden ist, für die Ergebnisse des Geschäftes zur Verantwortung ge-
zogen zu werden. Dieses Verhalten gegen den Aushebungsarzt, dem die Ge-
schäftsleitung versagt, aber die Verantwortung aufgebürdet wird, beweist nur,
dass er in eine ganz zweideutige und unsichere Rechtsstellung hineingedrängt
wird, und gibt zugleich zu, dass dem Arzte der Löwenantheil an den Rekru-
tirungserfolgen, wenn auch nicht formell, so doch thatsächlich gebührt.
Möchten doch die Militärärzte, um aus dieser Zwitterstellung heraus-
zugerathen, nicht vor einem Mehr der Verantwortung zurückbeben, und viel-
mehr bedenken, dass sie ohne letztere in der verbesserungsbedürftigen Sani-
tätsverfassung nicht einen Schritt weiter, und vor allem nicht höher kommen;
denn die Verantwortung wächst mit der Höhe! h. frölich.
Rettungswesen. Seit Menschengedenken wird die Samariter-Idee, das
ist das Bestreben, verunglückten Nebenmenschen beizustehen, als edelste der
Tugenden hochgehalten, und schon in der heiligen Schrift wird durch das
herrliche Gleichnis des barmherzigen Samariters allen Menschen die Lehre
gegeben, ihren Mitmenschen in Noth und Gefahr zu helfen.
Das moderne Rettungswesen umfasst neben Vorkehrungen und Ein-
richtungen zur Hilfeleistung für plötzlich erkrankte oder verletzte Personen
weiterhin auch noch solche Maassnahmen, welche dazu dienen, verunglückte
Personen zu bergen, also Verschüttete, dem Ertrinkungstode Nahe, durch
irrespirable Gase Vergiftete, in brennenden Häusern Befindliche aus ihrer
die Gesundheit oder das Leben bedrohenden Lage zu befreien und endlich
Vorkehrungen prophylactischer Natur, d. h. solche zur Verhütung von Un-
glücksfällen; es gehören aber in weiterem Sinne hierher auch diejenigen
Einrichtungen, welche zum Transporte von Erkrankten oder Verletzten
dienen. — Da die letzteren zwei Punkte bei den Kapiteln über Arbeiter-
hygiene und Krankentransport abgehandelt sind, sollen hier nur die Ein-
richtungen zur ersten Hilfeleistung und Bergung Verunglückter, sowie die
humanitären Bestrebungen der verschiedenen Vereine auf dem Gebiete der
ersten Hilfe im Kriege und im Frieden des Näheren besprochen werden.
Sehr richtig sind die Bezeichnungen, welche die Wiener Freiwillige
Rettungsgesellschaft für die Vorkehrungen bei den verschiedenen Unfällen
gew^ählt hat, und zwar als Wehr „Erste Hilfe" alle jene Einrichtungen,
welche dazu dienen, plötzlich erkrankten oder verletzten Personen die nöthige
ärztliche Hilfe und Abtransportirung angedeihen zulassen, als „Feuerwehr"
die Rettungsvorkehrungen für Menschen bei Feuersgefahr und als „Wasser-
wehr" die Rettungsvorkehrungen für Wassergefahren, zu welch' letzteren
noch die „Küsten wehr" mit Vorkehrungen an Hafenplätzen zur Rettung
Schiffbrüchiger zu zählen ist.
Wenn wir uns die Frage vorlegen, wodurch sich zumeist plötzliche
Unglücksfälle aller Art ereignen, so ist es ausserordentlich schwer, eine dies-
bezügliche Definition in solcher Weise in Punkte zusammenzufassen, die
einen genauen üeberblick über alle jene Unfälle bieten, von welchen Menschen
betroffen werden können. Die nachfolgende diesbezügliche Zusammenstellung
kann sonach nicht auf absolute Vollkommenheit Anspruch machen, wohl aber
wird es leicht sein, einzelne in derselben nicht enthaltene Fälle in eine der
aufgestellten Kategorien einzureihen. — Hiernach können sich Unglücksfälle
ereignen:
1. Im gewöhnlichen Leben. (Hieher gehören alle, sei es durch die
Unvorsichtigkeit der betroffenen Person selbst oder durch die Unvorsichtig-
keit Anderer stündlich sich ereignenden Unfälle im Hause oder auf der
Strasse, alle durch die Verkehrsmittel, Eisenbahnen, Tramway's, Omnibusse,
Fiaker, Fahrräder etc. verursachten Unfälle, alle plötzlichen Erkrankungen,
RETTUNGSWESEN. 649
von welchen Menschen zufallsweise betroffen werden, alle Selbstmordver-
suche etc.)
2. Im industriellen und gewerblichen Betriebe. (Hier wären
alle jene Unfälle einzureihen, welche sich in Fabriken, in Werkstätten aller
Art, Bergwerken, Kohlengruben und endlich bei den verschiedenen Bauten
ereignen.)
3. Durch Elementar -Ereignisse (grosse Brände, Stürme, Erd-
beben, Ueberschwemmungen etc.) hervorgerufene Unfälle. In dieser
letzten Kategorie handelt es sich zumeist um Katastrophen (Massenunglücke),
d. h. um Unfälle, von welchen viele Personen gleichzeitig betroffen wer-
den. — In diesem Sinne kann sonach ein sub Punkt 1 oder 2 eingereihter
Unfall (Eisenbahn-, Tramway- oder Wagen-Zusammenstoss, Kessel-Explosion,
schlagende Wetter in Gruben, Gasexplosion, Hauseinsturz, Verschüttung,
Panik) zur Katastrophe werden. — Wir werden sonach unter dem Worte
„Katastrophe" — in Bezugnahme auf erste Hilfeleistungen — jedes Er-
eignis zu verstehen haben, durch welches mehrere Menschenleben (oft auch
Massen) und Güter in imminente Gefahr kommen, zu Grunde zu gehen.
Im Grossen und Ganzen lässt sich in Bezug auf die Ursachen aller
vorangeführten Unfälle folgende Eintheilung aufstellen:
Unfälle aller Art können entstehen entweder durch Zufall oder durch
Leichtsinn.
Oft können Unfälle durch nur einen dieser Factoren allein herauf-
beschworen werden, wiederholt durch beide genannten Factoren gleichzeitig.
Da nun der Mensch dem „Zufalle" gegenüber grösstentheils machtlos
dasteht, der „Leichtsinn" und die Unvorsichtigkeit aber gewiss
niemals zu existiren aufhören werden, so ist an eine auch nur theilweise
Beseitigung der Ursachen, durch welche L^nfälle hervorgerufen w^erden, nicht
zu denken, und es ist daher eine absolute Nothwendigkeit, Vorsorgen
und Maassnahmen zu treffen, um den auf Grund eines fatalistischen Gesetzes
von Unfällen aller Art betroffenen Menschen mit Erfolg beistehen zu können
und dieselben vor weiteren Gefahren zu beschützen.
Es ist daher nicht das allein als „Rettung" anzusehen, wenn wir einen
Ertrinkenden den Wellen, einen im brennenden Hause Befindlichen den
Flammen entreissen oder einen Verschütteten aus seiner Lage befreien,
sondern wir müssen auch dafür Sorge tragen, dass ein eventuell dem Be-
troffenen zugefügter Schaden nach Thunlichkeit mit den zu Gebote
stehenden Behelfen gutgemacht, die Schmerzen gelindert und er durch Ab-
transportirung unter ein schützendes Dach vor weiteren Gefahren bewahrt
werde.
Schon hieraus ergibt sich der innige Contact, der zwischen der ersten
Hilfeleistung und dem Krankentransporte besteht, und es bildet sonach ein
geeignetes Krankentransport-Materiale gleich allen anderen ßettungsuten-
silien einen höchst wichtigen, ja unerlässlichen Behelf für eine fachgemässe
Hilfe.
Aber auch die prophylactischen Maassnahmen im Rettungswesen sind
von nicht zu unterschätzender Bedeutung, da durch solche mannigfaches Un-
heil vermieden werden kann, doch sollen diese in einem speciellen Capitel
über „Unfall- Verhütung" zur Besprechung gelangen.
Hier sei diesbezüglich nur so viel erwähnt, dass durch die stricte Ein-
haltung der in allen civilisirten Staaten bestehenden baupolizeilichen Vor-
schriften, durch die Anbringung von Schutzvorrichtungen an den Tramway's
und anderen Verkehrsmitteln, durch Sicherheitsgurte!, durch strenge Ver-
ordnungen betreffend die Bedingungen zur Veranstaltung theatralischer Vor-
stellungen etc., sowie die Bedingungen für die Einrichtung und den Betrieb
der Theater überhaupt, durch stricte Vorschriften für den Fall des Aus-
650 EETTUNGSWESEN.
bruches einer Panik an Orten, wo viele Menschen beisammen sind, ganz gleich-
gütig, ob dieselbe durch einen vermeintlichen, d. i. eingebildeten, oder wirk-
lichen Grund entstanden ist, etc. etc. viel schweres Unglück verhütet oder
gemildert werden kann.
Es ist eine vollkommen irrige Ansicht, dass gegen Paniken ein präven-
tives oder nach dem Eintritte derselben ein die Gefahren beherrschendes
Mittel nicht existire. — Man kann einer bereits bestehenden Panik mit
ganzem Erfolge wohl niemals beikommen, wohl aber gibt es Mittel genug
die Dauer einer Panik abzukürzen, dadurch die Intensität derselben abzu-
schwächen und auf diese Weise die Unglücksfälle zu vermindern.
Schon in längstvergangener Zeit hat man es allgemein anerkannt, wie ausserordent-
lich wichtig es ist, mit Rücksicht anf die schon damals sich häufig ereignenden plötzlichen
Unglücksfälle Vorsorgen zu treffen. — Peter Frank citirt in seinem im Jahre 1790 er-
schienenen trefflichen Werke „System einer vollständigen medicinischen Polizey", dass
im Jahre 1779 in Wien 167 Personen durch Unglücksfälle gestorben sind, darunter 75
„beim zersprungenen Pulvermagazine verunglücket sind." — Anno 1780 waren in Wien 73
Verunglückte, darunter Todtgefundene 13, Ertrunkene 8, Todtgefallene 19, Nied ergefahrene 9.
In Leipzig zählte man nach demselben Autor vom Jahre 1759—1774 284 Ver-
unglückte, in London in 30 Jahren 11994. — Die durch Unglücksfälle Umgekommenen
verhielten sich zu der ganzen Summe der Verstorbenen wie 1 : 62, d. h. unter 62 Per-
sonen ist eine Person durch einen plötzlichen Unfall verunglückt und gestorben.
Im Jahre 1785 sind in London 245 Personen verunglückt und zwar erfroren 8,
verwundet 19, verbraunt 9, ertrunken 112, Selbstmörder 22, vergiftet 2, verhungert 8,
todtgefallen 58, ermordet 7, in siedendes Wasser gefallen 1, im Rauch ' erstickt 4.
Sehr interessant sind die Ausführungen Peter Frank's hinsichtlich des Vergleiches
der vorkommenden Unglücksfälle in den Städten und auf dem flachen Lande. Derselbe
schreibt diesbezüglich wörtlich wie folgt:
„Auf dem flachen Lande sind zwar viele Ursachen plötzlicher Unglücksfälle, die in
Städten herrschen, nicht zugegen, allein man rechne, wie viele Menschen da in Lehmgruben,
Sandgruben ersticken, wie viele in Steinbrüchen zertrümmert werden, wie manche von
Bäumen zu Tode stürzen, beim Holzfällen erschlagen werden, wie viele Kinder wegen Mangel
an Aufsicht seitens ihrer in Arbeit begriffenen Eltern verbrennen, verbrühen, ersticken, er-
säufen etc. etc., so wird die Gefahr in Städten und auf dem flachen Lande beinahe gleich
scheinen müssen.
Diese wenigen Beispiele und hingeworfenen Gedanken mögen also einem Jeden be-
greiflich machen, dass hier eben nicht von Kleinigkeiten die Rede sey, sondern dass, wenn
man nur überall genaue Berechnungen anstellen wollte, Stoff genug zu nützlichen Ge-
danken gewonnen werden könnte. — Ich habe in Kriegszeiten oft genaue Berichte von
Erschossenen, Verwundeten, Gefangenen etc. gelesen und habe allemal dabei gedacht, die
grossen Herren müssen glauben, sie hätten nur auf einen Feind zu zählen und nur auf
den von diesem verursachten Verlust aufmerksam zu sein. — England, dessen einzige
Hauptstadt in 30 Jahren 11994 Menschen durch Unglücksfälle verlieret, müsste den un-
glücklichsten Krieg führen, wenn das ganze Reich nach Verhältnis so viele Menschen zu-
setzen müsste, und so bleibt gewiss, dass jedes Land ein Jahr um das andere mehr Bürger
an Unglücksfällen verliert, als in einer gegebenen Zeit durch den blutigsten Krieg erlegt
zu werden pflegen. — Es ist wohl keiner, der nicht die Nothwendigkeit einsehen sollte,
dass überall solche Tabellen von Unglücksfällen eingeführt und so die Bürger und selbst
die Fürsten aufmerksamer gemacht werden."
In Wien wurden schon im Jahre 1769 durch ein höchstes Patent und
später durch ein ßegierungs-Circular vom Jahre 1799 die Vorschriften öffent-
lich bekannt gemacht, nach welchen ,, Personen, die durch einen Unglücks-
fall augenblicklich um das Leben gekommen zu sein scheinen, durch zweck-
mässige Hilfe gerettet und wieder zum Leben erweckt werden können", und
im Jahre 1803 wurde von Regierungswegen eine officielle Rettungsanstalt für
Verunglückte und Todtscheinende ins Leben gerufen.
Diese Rettungsanstalt fanctionirte, nach den bestehenden Aufzeichnungen zu schliessen,
in ausgezeichneter Weise. Es existirten sieben Stationen in der inneren Stadt Wien und
sechs Stationen längs des Donaucanales in entsprechenden Distanzen. Der Punkt 1 des Cir-
culars für die Einrichtung dieser Rettungsanstalt (siehe k. Wiener Zeitung Nr. 54 vom
Jahre 1803) lautete folgen dermassen:
„1. Vor Allem müssen die Aerzte und Wundärzte im Rettungsgeschäft wohl unter-
richtet sein, es sind daher die Professoren der Arzney und Wundarzney angewiesen, von
nun an über diesen wichtigen Gegenstand insbesondere jährlich einige Vorlesungen zu
RETTUNGSWESEN. 651
halten und bei den Prüfungen keinen Arzt oder Wundarzt zu approbiren, welcher nicht
hierin eine vollkommene Kenntnis hat."
Die Wiedereinführung dieser im Jahre 1803 getroffenen Verordnung in
der Weise, dass eine Lehrkanzel für die „erste Hilfe'' mit „praktischen
Uebungen" errichtet werde, ist heute in hohem Grade wünschenswert, und
es wäre wohl an der Zeit, dass einem so wichtigen Zweige der Hygiene be-
deutend mehr Beachtung geschenkt werde, als dies bisher der Fall ist, umso-
mehr als die Erfahrung es lehrt, dass der Studirende der Medicin die Uni-
versität verlässt, ohne von einer ersten Hilfeleistung und vom Krankentrans-
portwesen sowie der Krankenpflege auch nur die Grundzüge kennen gelernt
zu haben.
Die im Jahre 1803 amtlich errichtete Rettungsanstalt fand nach dem
Kriegsjahre 1809 ihr jähes Ende, und es wurde nunmehr durch eine lange
Reihe von Jahren bei fallweise vorkommenden Unglücksfällen nur in den
sogenannten chirurgischen Officinen (Rasirstuben) erste Hilfe geleistet.
Erst durch das Sanitätsgesetz vom Jahre 1870 wurde den Gemeinden
die Pflicht auferlegt, für Hilfeleistungen bei plötzlichen Unglücksfällen Vor-
sorge zu treffen. Die Folgen dieses Gesetzes waren die, dass in einzelnen
Gemeinden soviel wie gar nichts, in anderen wenig und nichts Entsprechendes
für den gedachten Zweck vorgekehrt wurde.
In Wien wurden zufolge dieses Gesetzes die k. k. Sicherheits- Wachstuben
als sogenannte „Rettungs-Anstalten" installirt, und zwar dadurch, dass jede
solche Wachstube einen kleinen Rettungskasten und eine Tragbahre erhielt,
während in jedem Bezirke zumeist im Gemeindehause Träger in Bereitschaft
gehalten wurden, welche sich fallweise mit ihrer „Rädertragbahre" *)
über erfolgte Requisition an den jeweiligen Unglücksort begaben.
Bei der geringen Anzahl der „städtischen Träger" und bei den riesigen
Distanzen, welche dieselben mit ihrer Räderbahre zu Fuss zurückzulegen
hatten, war diese Art der Ausübung des Rettungsdienstes sehr wenig zweck'
entsprechend.
Nichtsdestoweniger wurde von Seite der Gemeinden behufs Besserung
der diesbezüglichen Verhältnisse wenig veranlasst und dies aus vielleicht ent-
schuldbaren Gründen.
Die Lasten der Gemeinden nämlich im Allgemeinen und von humani-
tären Standpunkte im Besonderen sind so gross, dass jedem einzelnen Zweige
des öffentlichen Sanitätswesens unmöglich so viel Geld, so viele Mittel und
so viele Menschen gewidmet werden können, welche den betreffenden Bedürf-
nissen entsprechen würden, und welche dennoch zur vollkommenen Erreichung
des Zieles nothwendig sind; überdies ist gerade dieses Gebiet ein solches,
welches das öffentliche Mitleid in hohem Grade hervorruft, und es wurde da-
her hier der Privatwohlthätigkeit ein weites Feld zur fruchtbringenden Be-
thätigung offen gelassen.
Thatsächlich constituirten sich auch nicht nur in Wien, sondern auch
in grösseren Provinzstädten einzelne Vereine, welche sich die Hilfe bei Un-
glücksfällen zur Aufgabe stellten, so in Wien der L Wiener Lebens-Rettungs-
verein, in Prag das bürgerliche Rettungs- Corps etc. etc., allein alle diese Ver-
einigungen kamen nicht recht zur Geltung.
Die eigentliche Entfaltung des freiwilligen Rettungswesens in ganz
Oesterreich- Ungarn fällt mit dem Momente der Gründung der Wiener
Freiwilligen Rettungsgesellschaft zusammen, das ist mit dem
9. December 1881.
Der tagszuvor stattgehabte Ringtheaterbrand bildete den Anstoss zur
Gründung dieses Barmherzigkeitswerkes, und seither ist unbedingt eine Epoche
*) Ein Marter-Transportmittel, welches nun auch schon seitens der Commune Wien
der Rumpelkammer überwiesen wurde.
652 RETTÜNGSWESEN,
ganz bedeutenden Aufschwunges des freiwilligen Rettungswesens in den
grossen Städten Oesterreich-Ungarns constatirbar, was wohl nicht in aller-
letzter Linie als Verdienst der Wiener Freiwilligen Rettungsgesellschaft an-
gesehen werden muss.
Von allem Anfange an in finanziellen Nöthen und mannigfachen An-
feindungen ausgesetzt, setzte die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft ihre
erspriessliche Thätigkeit unentwegt fort, ihr Sanitätsmaterial und ihre Sani-
tätswagen fanden bald, nicht nur in Oesterreich-Ungarn, sondern auch weit
ausserhalb der Grenzen dieses Reiches, Nachahmung, ihre Einrichtungen und
ihre prompte Action begegneten allerseits der ungetheilten Anerkennung, und
zusehends schaffte sich die Gesellschaft einen weiteren und weiteren Wirkungs-
kreis, indem dieselbe zu ihren ursprünglich freiwillig übernommenen Pflichten,
nämlich dem permanenten ärztlichen Tag- und Nachtdienst, immer wieder neue,
in das Gebiet des Rettungswesens gehörige Obliegenheiten auf sich nahm.
Durch Affilirung mehrerer freiwilligen Feuerwehren bildete sich die
Gesellschaft eine eigene Feuerwehr, welche mit den nöthigen Löschutensilien
armirt wurde, ferner wurde durch die Vereinigung mehrerer Rudervereine
eine Wasserwehr ins Leben gerufen, welcher Boote, Küchenwagen, Fourgon-
und Labewagen zur Verfügung gestellt wurden, um bei Ueberschwemmungen
mit Erfolg interveniren zu können, an verschiedenen Punkten der Stadt wurden
Tragbahren zum Gebrauche für Jedermann angebracht und von der Gesell-
schaft in Stand gehalten, es wurden gemeinverständliche öffentliche Vorträge
über Verbandlehre und erste Hilfe abgehalten, dieselben sodann in Druck
gelegt und verbreitet, (in letzter Zeit wurde eine Samariterschule gegründet,
in welcher ein systematischer Unterricht in der ersten Hilfe für die ver-
schiedenen Berufskategorien ertheilt wird), mit dem Reichskriegsministerium
wurde ein Uebereinkommen über die Beihilfe im Militär- Sanitätsdienste im
Mobilisirungsfalle und im Kriege abgeschlossen, mit den Eisenbahnverwal-
tungen ein solches betreffs des Sanitätsdienstes bei Katastrophen auf Eisen-
bahnen, für Massenunglücke wurde ein eigenes Katastrophen-Reglement aus-
gearbeitet, für den Epidemiefall wurde durch Anschaffung von entsprechendem
Transport- und Sanitätsmateriale Vorsorge getroffen, und endlich wurde die
permanente Evidenzhaltung der jeweilig in den Spitälern Wiens befindlichen
freien Bettenanzahl eingeführt, um diesbezügliche Auskünfte fallweise an Be-
hörden oder an Parteien ertheilen zu können.
Der ärztliche Permanenzdienst, welcher bis zum Jahre 1894 von Medi-
cinern als activen Mitgliedern unter Aufsicht von Inspectionsärzten versehen
wurde, wird seither ausschliesslich vonAerzten versehen, währendes
jährlich 60 Medicinern freigestellt wird, als Hospitanten unter Anleitung der
Inspectionsärzte an den Actionen der Gesellschaft theilzunehmen.
Aber nicht nur in Wien entfaltete die Wiener Freiwillige ßettungsgesellschaft ihre
Thätigkeit, ihr Augenmerk war auch darauf gerichtet, die Gründung ähnlicher Institutionen
in anderen Städten zu fördern.
So wurde am 8. Mai 1887 durch die Initiative der Wiener Gesellschaft die Buda-
pester Freiwillige Rettungsgesellschaft gegründet, welche seither mit so ausgezeichneten Er-
folgen wirkt und gedeiht. Schon im October 1890 wurde in Frag wieder durch die Wiener
Gesellschaft die erste Sanitäts-Station eingerichtet und dem dort bereits organisirt ge-
wesenen Rettungs-Corps übergeben, später wurden in Brunn, Krakau, Triest, Lemberg,
Innsbruck und endlich in Abbazia Sanitäts-Stationen installirt und in Gang gebracht, d. h.
es wurden durch Organe der Wiener freiwilligen Rettungsgesellschaft die Functionäre der
Gesellschaften obgenannter Städte in der ersten Zeit in den Dienst eingeführt.
Die erste Einrichtung aller dieser Sanitäts-Stationen sammt Krankentransportwagen
stellte die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft bei.
Angespornt durch die Thätigkeit der Wiener Freiwilligen Rettungs-
gesellschaft haben auch sehr viele freiwillige Feuerwehrvereine in der Um-
gebung Wiens und in der Provinz begonnen, ihre Mannschaften in der ersten
Hilfe abrichten zu lassen, schafften sich ein entsprechendes Transportmateriale
RETTÜNGSWESEN.
653
an und begannen gleichfalls, sich auf dem Gebiete des Rettungswesens nütz-
lich zu machen; auch kleinere Rettungsgesellschaften entstanden, so in Ober-
St.-Veit, Baden bei Wien etc.
Die Thätigkeit aller dieser Gesellschaften ist aus folgenden Zusammen-
stellungen ersichtlich :
Tabelle über die bei plötzlichen Erkrankuagen, Verletzungen und bei beson-
deren Zufällen geleistete erste Hilfe durch die Wiener Freiwillige Rettungs-
Gesellschaft.
Vom 1. Mai 1883*) bis 31. December 1897.
>^
■«l-ö
'S ' -P
1882
1883**)
1884
1885
1886
1887
1888***)
1889
1890
1891
1892
1893
1894tt)
1895
1896
1897
_
_
_
1780
855
746
4
—
5
12
328
117
2067
1499
301
500
18
—
22
19
156
118
1134
1712
421
94.^
30
—
28
35
277
131
1865
1417
681
1484
58
30
34
28
247
127
2689
1907
637
1534
179
12
41
39
349
124
2915
2376
1533
2939
401
2
64
40
247
135
5361
3276
673
1656
548
1
92
40
352
145
3507
2924
786
1813
674
1
76
42
.827
143
3862
2978
878
1818
811
1
101
44
349
165
4167
2175
1116
2033
988
—
82
42
34
127
4422
3943
1408
2876
1306
4
105
55
56
230
6040
3875
2575
3311
1377
—
119
71
53
254
7760
4534
1944
3357
1325
2
144
89
66
199
7126
4997
■2418
3736
1413
—
144
87
81
214
8093
56.34
2234
3735
1108
1
157
71
56
257
7619
5504
1780
3566
2846
3282
4596
5291
8637
6431
6840
6342
8365
9915
12294
12123
13727
13123
Zusammen 1 18460 | 32481 1 10240 | 54 I 1214 I 714 | 2978 j 2486 || 68627 1| 50531 |ll9158
Die Budapester Freiwillige Eettungsgesellschaft intervenirte seit ihrem Bestände
im Jahre 1887 in 2067 Fällen
„ 1888 „ 5878 ^
, 1889 „ 6254 .,
„ 1890 „ 6015 :,
■ , « 1891 „ 5847 ;,
. „ 1892 „ 7530 „
, „ 1893 ....,..„ 8731 ,
,, „ 1894 , 9401 ,
„ „ 1895 ,, 10241 .',
, „ 1896 , 13251 ;,
Summa 75215 Fälle.
*) Am 9. December 1881 (Ringtheateibrand) wurde die Gesellschaft gegründet; in
diesem ersten Gesellschaftsjahre trat dieselbe noch nicht in Action. Im zweiten Gesell-
schaftsjahre 1882 wurden nur Kranken-Transporte (1780) ausgeführt. Im dritten Gesell-
schaftsjahre 1883, und zwar im Mai desselben Jahres, wurde die erste Sanitäts-Station (am
Fleischmarkt 1, später [1886] jene in der Giselastrasse) eröifnet, und der gesammte Sani-
tätsdienst functionirt von da an.
**) Unter Miteinrechnung der Fälle in der elektrischen Ausstellung.
***) Unter Miteinrechnung der Fälle in der Gewerbe-Ausstellung.
f) Die fliegenden Ambulanzen bei allen Bränden wurden mit 1. Jänner 1892 aus
Ersparungs-Rücksichten aufgelassen.
tt) Unter Miteinrechnung der Fälle in der Ausstellung für Volksernährung und
Armee- Verpflegung.
654 RETTÜNGSWESEN.
Das Prager Freiwillige Rettungs-Corps intervenirte seit dessem Bestände
im Jahre 1890 in 346 Fällen
„ . 1891 „ 2275 ,
„ . 1892 , 2821 „
„ , 1893 „ 4551 „
„ „ 1894 „ 5598 „
„ ^ 1895 „ 7528 ,
„ „ 1896 . , 10983 ;
Summa 34102 Fälle.
Die Freiwillige Rettungsabtheilung des Brunn er Turnvereines intervenirte im Jahre
1896 bei 2045 Vorfallenheiten und unternahm in diesem Jahre 720 Ausfahrten.
Die Freiwillige Rettungsgesellschaft in Krakau hat von ihrer Gründung bis zum
Ende des Jahres 1894 in 5327 Fällen intervenirt, darunter hatte diese Gesellschaft im Jahre
1894 allein 1770 Fälle und 777 Krankentransporte.
Die Lemberger Freiwillige Rettungsgesellschaft intervenirte seit ihrer im Jahre
1893 erfolgten Gründung bis Ende Jänner 1898 in 12180 Fällen.
Die St. Veit er Freiwillige Rettungsgesellschaft intervenirte im Jahre 1894 in 579
Unglücksfällen und führte 254 Krankentransporte aus.
Die Rettungsabtheilung der Simmeringer Turnerfeuerwehr hatte im Jahre 1895/96
406 Unglücksfälle und 365 Krankentransporte.
Die Bud weis er Rettungsabtheilung der freiwilligen Feuerwehr hatte im Jahre 1896
506 Unglücksfälle und 43 Krankentransporte.
Die Freiwillige Rettungsgesellschaft in Baden intervenirte im Jahre 1897 in 36 Un-
glücksfällen und besorgte 91 Krankentransporte.
Die Freiwillige Rettungsgesellschaft Abbazia intervenirte seit ihrem Bestände
(14. Jänner 1894) bei 102 Vorfallenheiten.
In Deutschland gebührt Sr. Excellenz dem Herrn Geheimrath
Prof. Friedeich von Esmarch das Verdienst, mit der Creirung der Samariter-
schulen, d. h. mit dem Unterrichte von Laien in der ersten Hilfeleistung bei
plötzlichen Unglücksfällen, das Rettungswesen überhaupt zum Aufschwung
gebracht zu haben.
Die Ausbreitung des Samariterthums in ganz Deutschland und auch im
Auslande hat ungeahnte Dimensionen angenommen.
In vielen Städten Deutschlands wird die erste Hilfe von den Samariter-
Vereinigungen ausgeübt, in anderen haben sich dieselben an schon bestehende
Vereine und Corporationen (Sanitätscolonnen, Feuerwehren etc.) angeschlossen,
während in einigen Städten eigene Rettungsgesellschaften ins Leben gerufen
wurden.
So besitzt Hamburg die Sanitätswachen, Leipzig Stationen des Samariter-
vereins, Berlin die Unfallstationen (jetzt ist auch schon eine Berliner
Rettungsgesellschaft gegründet worden), während in München und in
Frankfurt a. M. freiwillige Rettungsgesellschaften bestehen.
Die Thätigkeit aller dieser Vereine ist eine überaus erspriessliche, ins-
besondere hat sich der Deutsche Samariterverein in Kiel um die Popula-
risirung der ersten Hilfe grosse Verdienste erworben.
Die Vorträge v. Esmarch's über die erste Hilfe bei plötzlichen Unglücksfällen
wurden 23mal in andere Sprachen übersetzt und in mehr als 40000 Exemplaren ver-
breitet. — Einen Auszug aus diesem EsMAP.cn'schen Leitfaden liess man in vielen Tausenden
von Exemplaren in Fabriken, Werkstätten, Betrieben, Bädern und an Brücken etc. etc.
in Plakatform auf Blech gedruckt anbringen, für neu zu gründende Samariterschulen
wurden Wandtafeln, Lehrmittel-Sammlungen etc. zusammengestellt u. s. w.
Die Berliner Unfallstationen intervenirten im Jahre 1897 in 20043 Fällen, die Ham-
burger Sanitätswachen im Jahre 1895 in 972 Fällen, die Sanitätswachen der Bremer
Berufsfeuerwehr im Jahre 1894/95 in 1175 Fällen, die Frankfurter Freiwillige Rettungs-
gesellschaft im Jahre 1897 in 1445 Fällen, die Münchener Freiwillige Rettungsgesellschaft
vom 17. December 1894 bis 22. Februar 1855 in 104 Fällen, der Leipziger Samariterverein
in zehn Jahren (1883—1892) in 18240 Fällen u. s. w.
In Frankreich sind in Bezug auf das Rettungswesen noch sehr dürftige Vor-
kehrungen. Die einzige Stadt Frankreichs, welche eine gut organisirte Rettungsgesell-
schaft besitzt, ist Bordeaux.
In Paris ist ausser einer mustergiltigen Einführung des Nachtdienstes für Aerzte
und Hebammen in Bezug auf das Rettungswesen bisher sehr wenig geschehen, und anlässlich
der letzten grossen Brandkatastrophe ist der Mangel eines permanenten Rettungsdienstes
RETTUNGSWESEN. 655
in so drastischer Weise zu Tage getreten, dass wohl jetzt diesbezüglich Maassnahmen in
Erwägung gezogen werden müssen. Die bisher bestehenden „Ambulances urbaines"
reichen für die Weltstadt Paris bei weitem nicht aus und dies umsoweniger, als erst in der
allerletzten Zeit (seit 1895) in Paris daran gedacht wird, die Sicherheitswachleute und
Feuerwehrmänner in der ersten Hilfe auszubilden.
In Spanien ist das Rettungswesen durch ein Gesetz geregelt, nach welchem aus-
nahmslos jede Stadt verpflichtet ist, zur Unterbringung plötzlich Erkrankter oder Ver-
letzter Rettungswachen zu errichten. Alle diese Wachen müssen entsprechend eingerichtet
sein und einen bespannten Wagen besitzen.
In Belgien, Holland, Dänemark und in Schweden und Norwegen ist bis-
her für das Rettungswesen noch sehr wenig geschehen, und liegt dasselbe ganz in den
Händen der Sicherheitswache und der Barbiere.
In der Schweiz besorgt das Rettungswesen der Schweizerische Samariterbund,
welcher seit dem Jahre 1888 segensreich wirkt. Der Dienst wird von ständigen Samariter-
posten versehen.
In England versieht den Rettungsdienst der Johanniterorden (St. John Ambulance-
Association), welcher 21 Rettungsstationen in London und im ganzen Reiche viele Rettungs-
stationen errichtet hat. Das Hauptaugenmerk wird jedoch dem Unterrichte in der ersten
Hilfe, Krankenpflege iind dem Krankentransport zugewendet. Den eigentlichen Rettungs-
dienst versehen die von dem genannten Orden geschulten Sicherheitswachmänner.
In Italien wird Verunglückten zumeist in den Apotheken Hilfe geleistet; in Rom
selbst existirt ein eigenes Spital zur Aufnahme Verunglückter, und wird daselbst der
Rettungsdienst von mehreren privaten Wohlthätigkeisvereinen versehen.
In Russland wurden erst in allerletzter Zeit Bestrebungen bekannt, für das Ret-
tungswesen etwas zu thun, doch ist ausser der vor kurzer Zeit erfolgten Gründung der
Warschauer Freiwilligen Rettungsgesellschaft bisher auf diesem Gebiet nichts Positives ge-
leistet worden.
Aus der Türkei und aus den Balkanstaaten ist bisher die Kunde von Organi-
sationen auf dem Gebiete des Rettungswesens nicht zu uns gedrungen.
In Amerika und insbesondere in den grossen Stätdten dortselbst ist die Einrich-
tung getroffen, dass in jedem öffentlichen Krankenhause bespannte Ambulanzwägen bereit
stehen, welche über Aviso in ärztlicher Begleitung zur Abholung Verunglückter aus-
rücken. Die Berufung dieser Wagen erfolgt entweder auf telephonischem Wege oder
durch Automaten, welche in den verschiedenen Strassen aufgestellt sind.
Zu den Vereinen, welche sich mit dem Rettungwesen befassen, sind
noch die Vereine vom Rothen Kreuze und deren Zweigvereine (pa-
triotische Hilfsvereine, Sanitäts-Colonnnen), ferner noch der Mal-
theser- und der Deutsche Ritterorden zu zählen.
Man versteht unter den Vereinen des Rothen Kreuzes solche Hilfsvereine
in den verschiedenen Staaten, welche sich auf Grund der Internationalen Con-
ferenz zu Genf vom Jahre 1863 zur Unterstützung der Militär- Sanitätspflege
im Kriege gebildet haben.
Diese Vereine, welche fast über die ganze Welt ausgebreitet sind, führen
in den verschiedenen Ländern verschiedene Namen, wie Gesellschaft vom
Rothen Kreuz, vom Rothen Halbmond, Vereine zur Pflege verwundeter Krieger
etc. etc. — Ihr Hauptaugenmerk bildet die Pflege der verwundeten und er-
krankten Soldaten im Kriege, doch haben auch einzelne Vereine in ihre
Satzungen Bestimmungen aufgenommen, durch welche ihnen auch eine
Friedensthätigkeit ermöglicht wird. Schon die Internationale Conferenz der
Vereine vom Rothen Kreuz zu Berlin im Jahre 1869 hat diesbezügliche
Punkte formulirt, und zwar:
Punkt 19. ..Die Hilfeleistungen in den Nothständen des Friedens ist für
eine lebenskräftige Entwicklung der Hilfsvereine nothwendig und der Vorbereitung für den
Krieg förderlich."
Punkt 20. ..Die Hilfsvereine werden im Frieden ihre Kräfte solchen humanen
Bestrebungen zuwenden, die ihrer Aufgabe im Kriege entsprechen, der Krankenpflege und
der Hilfeleistung in Nothständen, die wie der Krieg rasche und geordnete Pflege ver-
langen."
So hat die österreichische Gesellschaft vom Rothen Kreuze
bei verschiedenen Katastrophen eine segensreiche Thätigkeit entfaltet; beim
Ringtheaterbrande im Jahre 1881, indem sie eine Anzahl von Ambulanzwagen
an den Unglücksort entsandte, bei Hochwasserkatastrophen, dann beim Erd-
beben in Laibach durch Errichtung von Nothspitälern und Baracken.
656 RETTUNGSWESEN.
In Deutschland haben die Sanitätscolonnen, welche die Bestimmung
haben, während eines Krieges den Krankendienst im Lande zu versehen, ihre
Mitglieder, die grösstentheils Kriegervereinen angehören, als Samariter aus-
bilden lassen. Dieselben betheiligen sich erfolgreich an der ersten Hilfe-
leistung im Frieden.
Die Sanitäts-Hauptcolonne in München unterhält dortselbst eine
Sanitätsstation, die den Rettungsdienst in vortrefflicher Weise versieht.
Dieselbe hat im Jahre 1897 bei 4282 ÜDglücksfällen intervenirt. Ebenso
haben die Sanitäts-Colonnen in Meiningen an vielen kleinen Orten in
Häusern Rettungskästen aufgestellt und sich auf diese Weise um die Förde-
rung des Kettungswesens im engeren Vaterlande verdient gemacht.
Auch die Genossenschaft „Freiwillige Krankenpfleger im Kriege" be-
theiligt sich auf Esmarch's Vorschlag im Frieden an der ersten Hilfeleistung
bei Unfällen, ebenso der „Vaterländische Frauenverein".
Das „Amerikanische Rothe Kreuz" leistet satzungsgemäss Hilfe in allen
Fällen öffentlicher Noth, welche durch Krieg, Epidemien, Feuer, Hungersnoth,
Ueb er schwemmungen etc. hervorgerufen werden.
Die Vereine vom Roth en Kreuze in Russland und Italien haben
bisher die Zulässigkeit einer Friedensthätigkeit in ihre Satzungen nicht auf-
genommen.
Bei voller Anerkennung der Bestrebungen der Vereine vom Rothen
Kreuze, auch im Nothstande des Friedens helfend einzugreifen, könnten die
genannten Vereine eine viel umfassendere und erspriesslichere Thätigkeit in
Friedenszeiten entfalten, und dies nicht zum geringen Theile im Interesse
ihres eigentlichen Zweckes, nämlich der Unterstützung der Militär-Sanitäts-
pflege im Kriege. So wäre es von besonderem Vortheile, wenn diese Ver-
eine ihre Blessirtenträger (zumeist Mitglieder der Krieger- und Veteranen-
Vereine oder von Turn- und Feuerwehr-Vereinen) zu Samaritern ausbilden
Hessen und dieselben zur ersten Hilfeleistung im Frieden heranziehen würden;
durch leihweise Ueberlassung von Tragbahren, Sanitätswagen, Sanitätskästen
(welche den Reservebeständen sehr leicht entnommen werden könnten) an
neu zu gründende freiwillige Rettungsvereine, insbesondere in kleinen Städten
und auf dem flachen Lande, könnte gleichfalls viel Gutes gestiftet werden,
weil das Entstehen solcher Vereine hier trotz grösster Nothwendigkeit wegen
Mangel an Geld und an Leuten sehr erschwert ist. Das auf diese Weise
in Verwendung stehende Sanitätsmaterial würde für den Bedarfsfall im Kriege
auf seine Verwendbarkeit erprobt werden und die beim Gebrauche desselben
sich eventuell ergebenden Mängel könnten leicht beseitigt und das Materiale
auf diese Weise vervollkommnet und verbessert werden.
Die in Friedenszeiten thätigen Blessirtenträger wären im Kriegsfalle für
die Rothen Kreuz-Vereine ein praktisch gut geschultes, subalternes Sanitäts-
personale. Erfahrene Männer auf diesem Gebiete, wie Esmaech und Mundy,
sind wiederholt sehr warm für diese Idee eingetreten. Ersterer hebt mit
Recht hervor, „dass die Hilfeleistuug auf dem Schlachtfelde des täglichen
Lebens eine dankbare Friedensaufgabe für die Hilfsvereine sei", letzterer
hat seine diesbezüglichen Ansichten auf dem Internationalen Congresse der
Vereine vom Rothen Kreuze in Rom im April 1892 mit Erfolg vertreten. —
Ein wichtiger Zweig des Rettungswesens sind die Vorkehrungen zur Hilfe-
leistung bei Eisenbahnunfällen, Es kommen hier in Betracht diejenigen
Einrichtungen, welche für Unfälle im gewöhnlichen Eisenbahnbetriebe noth-
wendig sind, ferner solche für Massenunglücksfälle, das ist Eisenbahn-
katastrophen.
Trotz der fortwährenden Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel zur mög-
lichsten Verhütung von Eisenbahnunfällen werden dieselben mit Rücksicht auf den Ein-
tritt von elementaren Ereignissen und durch die unvermeidlichen Irrthümer und Unacht-
samkeit von Seite der Bediensteten (Streckenwächter, Weichenwärter etc.) nach einem
RETTUNGSWESEN. 657
fatalistischen Gesetze immer und immer wieder vorkommen. Die Erfahrungen des Jahres
1897, wo eine Unzahl von Eisenbahnunfällen (ich selbst zählte deren 28) mit einer grösse-
ren oder geringeren Anzahl von verletzten Personen in schreckenerregender Weise ein-
ander folgten, zeigen wohl zur Genüge, dass eine optimistische Auffassung hier gewiss
nicht am Platze sei. Es besteht daher für jede Bahnverwaltung die gebieterische Pflicht,
sanitäre Vorkehrungen zur Hilfeleistung bei Eisenbahnkatastrophen in ausreichendem Maasse
zu treffen.
Haben doch die Bahnverwaltungen selbst ein grosses Interesse daran, da sich ja
die Entschädigungen, welche für verletzte Reisende gezahlt werden müssen, durch eine
correcte erste Hilfeleistung und des infolge dessen sich günstiger gestaltenden Heilungs-
verlaufes und Invaliditätsgrades bedeutend verringern. Es entspricht einem dringendsten
Bedürfnisse, dass jede Bahnverwaltung ganz genaue Vorschriften erlasse über das Ver-
halten ihrer Bediensteten bei einer eingetretenen Eisenbahnkatastrophe, und dies nicht
nur in Bezug auf die Freimachung der Strecke, sondern in erster Linie in Bezug
auf die sanitären Maassnahmen zur Bergung der Verunglückten und zur Hilfeleistung für
dieselben.
In Intervallen von je einigen Jahren sollte ein „Probe-Alarm" constatiren, ob
alle Vorschriften eingehalten werden und ob Abänderungen und Verbesserungen noth-
wendig sind. Einen solchen Probe-Alarm bei einem supponirten Eisenbahnunfalle hat
die Kaiser Ferdinands- Nordbahn in Wien, welche unter den österreichischen Bahn Verwal-
tungen die besten sanitären Vorkehrungen für Eisenbahnunfälle getroffen hat, mit aus-
gezeichnetem Erfolge durchgeführt.
Sämmtliche Eisenbahnbedienstete wären in der ersten Hilfeleistung, im
Transportiren und Ein- und Auswaggoniren auszubilden und wiederholt hierin
zu prüfen.
In allen grösseren Eisenbahnstationen, vorzugsweise in solchen, wo ge-
heizte Reservemaschinen bereit stehen, wären sogenannte Sanitätswagen
(zum Unterschiede von den jetzt bestehenden Rettungswagen, welche
technische Hilfsmittel zu Reparaturen und zur Freimachung der Strecke ent-
halten) einzustellen. Dieser Sanitätswagen müsste das nöthige Sanitäts-
materiale und Labemittel enthalten; und für den Verwundeten-Transport her-
gerichtet sein. In allen grösseren Stationen wäre ein Rettungskasten
mit dem nöthigen Sanitätsmateriale und eine Tragbahre unterzubringen, in
Haltestellen eine Sanitätstasche und eine Tragbahre.
Die Bahnärzte müssten ihren jeweiligen Aufenthalt beim Stations-Vor-
stand in Evidenz halten.
Die Sanitätskasten u"nd -Taschen wären allmonatlich auf ihre Gebrauchs-
fähigkeit zu revidiren und verbrauchtes oder verdorbenes Materiale sogleich
zu ersetzen.
Der Hilfszug hätte von jeder Station, die er passirt, um an den Ort der
Katastrophe zu gelangen, das ärztliche und Hilfspersonale, sowie die Trag-
bahren und Sanitätskasten mitzunehmen; zur Vermeidung eines längeren Auf-
enthaltes hätten die früher telegraphisch zu avisirenden Stationen alles für
den passirenden Hilfszug parat zu halten.
Die Frage, ob in allen verkehrenden Personenzügen Rettungsutensilien mitzuneh-
men seien, ist auf dem in Wien im Jahre 1888 stattgehabten Internationalen Congresse für
Hygiene und Rettungswesen ventilirt worden.
Mit Rücksicht darauf, dass das Sanitätsmateriale im rollenden Zuge durch Erschütte-
rung und Eindringen von Staub und Rauch dem Verderben unterworfen ist, hauptsächlich
aber deshalb, weil die Rettungsutensilien bei einer Eisenbahnkatastrophe häufig selbst mit-
zerstört werden, wurde der Beschluss gefasst, die Mitnahme von Sanitätsmateriale in grösse-
rem Maassstabe nicht zu empfehlen, wohl aber seien für Unfälle, welche einzelne Personen
betreffen kleine Sanitätstaschen mit dem allernothwendigsten Materiale im Packwagen
unterzubringen; diese Taschen müssten von den Bahnärzteu allwöchentlich revidirt werden.
Als im höchsten Grade wünschenswert möchte ich es noch bezeichnen,
dass die Eisenbahnverwaltungen K ranken w^aggons in Bereitschaft halten
und dieselben dem kranken reisenden Publikum zu möglichst billigem Tarife
zur Verfügung stellen.
Allerdings darf bei allen diesen so dringenden gemeinnützigen Ein-
richtungen nicht immer und auschliesslich nur die Kostenfrage den Ausschlag
geben. Es ist im Eisenbahnbetriebe trotz höherer Kosten so viel Rücksicht auf
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 42
i
658 RETTUN GS WESEN.
Bequemlichkeit und Luxus genommen worden, dass das menschliche Mitgefühl
mit armen Kranken und Verunglückten auch einige Rücksichtnahme zu for-
dern berechtigt ist.
Die jetzt bestehenden Eettungseinrichtungen auf den österreichischen Eisen-
bahnen sind auf Grund eines Handelsministerial-Erlasses vom Jahre 1889 eingeführt wor-
den. — In jeder Station, wo Reserve-Hilfslocomotiven in Bereitschaft stehen, ist ein grosser
Rettungskasten, in allen anderen Stationen, mit Ausnahme der Haltestellen, ein Verband-
kästchen eingestellt. Stationen, in welchen ein Bahnarzt wohnt, und die nicht schon ohne-
dies einen grossen Kasten besitzen, haben einen kleinen Rettungskasten. — Jede Station
ist mit einer oifenen Tragbahre, Stationen, die in der Nähe eines Spitales liegen, mit einer
gedeckten Stadttrage versehen.
Die Züge führen keinerlei Rettungsutensilien mit sich.
Der Samariter-Unterricht der Eisenbahnbediensteten ist bei einigen Eisenbahnver-
waltungen gut, bei einigen mangelhaft durchgeführt. — Eigene Sanitätswaggons — sechs
an der Zahl — besitzt nur die Kaiser Ferdinands-Nordbahn, welche überhaupt unter den
österreichischen Eisenbahnen die besten Vorkehrungen für Eisenbahnunfälle hat. — Bei
grösseren Eisenbahnkatastrophen ist an der Hilfsaction die Wiener Freiwillige Rettungs-
gesellschaft betheiligt, welche auf Grund besonderer mit den Directionen der österreichischen
Eisenbahnen im Jahre 1883 festgesetzter Normen zur Hilfeleistung herangezogen wird.
Auf den ungarischen Bahnen sind die Vorschriften bezüglich der Einstellung von
Sanitätstaschen und Kästen, sowie der offenen und gedeckten Tragbahren analog jenen auf
den österreichischen Bahnen, jedoch führen auch die Züge im Packwagen eine Sanitäts-
tasche mit. — Das gesammte Verkehrs- und Zugbegleitungspersonale wird in der ersten
Hilfe ausgebildet und geprüft. Grosse Rettungswagen, mit je 6 Tragbetten und mit Sani-
täts- und Verbandmateriale reichlich ausgestattet, befinden sich in den Hauptstationen
und an den Knotenpunkten und werden auf Aviso rasch zur Unfallstelle befördert.
Die Rettungseinrichtungen der Eisenbahnen in Deutschland bestehen in der
Unterbringung eines kleinen Sanitätskastens im Packwagen eines jeden Zuges und eines
grossen Sanitätskastens in jeder Eisenbahnstation. — Die Eisenbahnbediensteten erhalten
durch die Bahnärzte Unterricht in der ersten Hilfeleistung.
Eingerichtete Krankentransportwagen besitzt nur Bayern, und zwar zehn Stück,
welche in zehn Haupt-Stationen eingestellt sind und mit dem Rettungstrain an den Un-
gliicksort abgehen.
Alle Vorkehrungen, welche dazu dienen, um Personen aus Wassergefahr
zu retten subsummiren wir unter der Bezeichnung „Wasser wehr".
In den meisten Ländern, welche mehr oder weniger häufig von Hoch-
wasserkatastrophen heimgesucht werden, bestehen Vorschriften, welche die-
jenigen Maassregeln enthalten, die bei drohendem Hochwasser zu ergreifen sind.
In Wien besteht auf Grund staatlicher Verordnungen vom Jahre 1851
ein eigenes Centralcomite unter dem Namen „Ueberschwemmungs-
Commission", welche aus Vertretern verschiedener Behörden zusammen-
gesetzt ist und bei drohendem Hochwasser einberufen, sowie nothwendigen
Falles in Permanenz erklärt wird. — Bei dieser Ueberschwemmungs-Com-
mission laufen alle Meldungen über den Stand des Hochwassers ein, und
hier werden die entsprechenden Maassnahmen angeordnet. Diese Maass-
nahmen erstrecken sich auf den bautechnischen Schutz der Brücken und
Dämme, auf die Errichtung von Rettungsstationen, welche mit Rettungs-
booten, Sanitätsmateriale, Labemitteln und Proviant versehen und mit Aerzten,
Hebammen und geübten Ruderern bemannt werden; ferner auf die Delogi-
rung von gesunden und Abtransportirung von kranken, bettlägerigen Per-
sonen aus den überschwemmten Wohnungen, und endlich auf die Errichtung
von Stegen und Ueberfuhren in den überschwemmten Strassen.
An diesen Actionen ist auch die Wiener Freiwillige Rettungsgesellschaft
mit ihrem Sanitätspersonale und ihrer Wasserwehr, deren Mitglieder den
verschiedenen Ruderclubs angehören, betheiligt. — Auch besitzt die Wiener
Freiwillige Rettungsgesellschaft drei Küchenwagen, in welchen für mehrere
tausend Personen warme Speisen zubereitet werden und den durch Ueber-
schwemmungen von der Aussenwelt Abgeschlossenen Nahrung und Labung
leicht und sicher zugeführt werden können.
RETTUNGSWESEN. 659
Diese Küchenwagen traten bei der Ueberschwemmung in Prag (1890),
beim Erdbeben in Laibach (1894) und bei der Ueberschwemmung in Wien
(1897) erfolgreich in Action.
Für Unglücksfälle, die sich im gewöhnlichen Leben durch Sturz ins
Wasser ereignen, sind in AVien an den Brücken communale Rettungsboote
angebracht, welche fallweise von im Rudern unterrichteten Sicherheitswach-
männern benützt werden.
In den meisten deutschen Städten sind an den Brücken auch Rettungsringe und
Rettungsstangen angebracht.
Der deutsche Samariterverein hat Blechtafeln mit der Anweisung zur Wiederbelebung
Ertrunkener in vielen Tausenden Exemplaren in Deutschland verbreitet, und sind diese
Tafeln bei den meisten Brücken affichirt.
In Budapest hat die freiwillige Rettungsgesellschaft im Jahre 1894 auf den
Schiffahrts-Haltestellen im Gebiete der Stadt Rettungsstationen errichtet, dieselben mit
Rettungsbooten. Haken und Verbandzeug ausgestattet und das dort beschäftigte Personale
in der ersten Hilfeleistung bei Ertrinkungsfällen ausgebildet.
Die Einrichtungen zur Rettung Schiffbrüchiger an den Meeresküsten
umfasst die schon früher erwähnte „Küsten wehr". Der Dienst der Küsten-
wehren wird zumeist von Privatgesellschaften versehen, doch linden dieselben
in den meisten Staaten seitens der Behörden die wohlverdiente Förderung
und Unterstützung. — Die Küstenwehren unterhalten Rettungsstationen,
welche mit freiwilliger Rettungsmannschaft bemannt werden. Diese Mann-
schaft wird durch Uebungs- und Rettungsfahrten gut geschult, von der je-
weiligen Gesellschaft gegen Unfall versichert und von Aerzten in der ersten
Hilfeleistung, insbesondere in der Behandlung von aus dem Wasser geretteten
Personen unterrichtet.
Auch werden fixe Geldprämien für gerettete Menschenleben ausgesetzt
und die Rettungsmannschaft fallweise mit solchen entlohnt.
Die Rettungsapparate der Küstenwehr-Stationen sind Rettungsboote
verschiedener Systeme (in England das Peakeboot aus Holz, in Deutschland
vorzugsweise das Francisboot aus gewelltem Eisenblech), ferner Rettungs-
geschosse (Mörser- oder Rakettenapparate), welche dazu dienen, mittelst
Leine eine Verbindung zwischen Land oder Boot und dem gestrandeten Schiffe
herzustellen, dann noch Rettungsringe, Korkbogen und Schwimmanzüge
und endlich Beleuchtungs-Signal Vorrichtungen.
Bahnbrechend auf dem Gebiete der Küstenwehr war England, wo schon im
Jahre 1824 einzelne Rettungsstationen errichtet wurden. — Im Jahre 1850 entstand die
Royal National Lifeboot-Institution, welche nunmehr über 300 Stationen an den englischen
Küsten unterhält.
Die Holländer folgten bald nach, ebenso Dänemark, woselbst 55 Stationen, die
telephonisch mit einander verbunden sind, errichtet wurden.
In Frankreich besteht seit 1866 die societe centrale de sauvetage de naufrages,
welche an den französischen Küsten 84 Bootstationen und 400 Rakettenstationen besitzt.
In Deutschland gründete sich im Jahre 1865 die Deutsche Gesellschaft zur
Rettung Schiffbrüchiger, welche 115 Stationen (70 an der Ostsee und 45 an der
Nordsee) errichtete. — Der Deutsche Samariterverein liess durch eigene Aerzte Samariter-
curse für die Rettungsmannschaften abhalten. Eine populäre Schrift, betitelt „Seemann
in Noth" mit praktischen Winken zur Rettung Schiffbrüchiger wurde in vielen tausenden
Exemplaren verbreitet. Die Gesellschaft zahlt Prämien von 20 — 40 Mark per Kopf der
Geretteten. Seit Gründung der Gesellschaft wurden 2181 Personen gerettet und über 60.000
Mark an Prämien ausbezahlt.
In Oesterreich ist bis in die letzten Jahre zur Errichtung einer Küstenwehr leider
nichts geschehen. Im Jahre 1890 wurde namens der Wiener Freiwilligen Rettungsgesell-
schaft durch Baron Mundy der Versuch gemacht, eine Küstenwehr an der Adria zu or-
ganisiren und wurde diesbezüglich eine Enquete in Triest abgehalten. Im Jahre 1896
bildete sich in Triest ein Verein zur Rettung Schiffbrüchiger, der erst seit kurzer Zeit in
Action getreten ist. Es ist zu hoffen, dass derselbe auch in oesterreich sowohl in der Be-
völkerung, als auch bei den Behörden allgemeine Anerkennung finden und dadurch in die
Lage kommen wird nach dem bewährten Muster anderer Länder eine segensreiche Thätig-
keit zu entfalten.
Was bei Unglücken oder richtiger gesagt Massenkatastrophen in Berg-
werken vorzukehren ist, gehört eigentlich in das Kapitel „Unfallverhütung".
42*
660 EETTÜNGSWESEN.
Dass eine genügende Menge von Verband- und Transportmateriale, sowie
ärztliche Hilfe stets zur Hand sein müssen, ist wohl einleuchtend und selbst-
verständlich. Durch einen in jüngster Zeit von Professor Gäetnee und
Director Walcher construirten „Pneumatophor", einen Apparat, welcher
die Athmung in irrespirablen Gasen ermöglicht, wird bei künftigen Schlag-
w^etter-Katastrophen gewiss manches Menschenleben gerettet werden können.
Von der k. k. Berghauptmannschaft in Wien wurde im Jahre 1897 unter den er-
lassenen Verordnungen, betreffend die Vorkehrungen, welche in Steinkohlengruben für den
Fall des Eintrittes von Schlagwetter-Explosionen zu treffen sind, die Anwendung von
Rettungsapparaten vorgeschrieben, welche mindestens eine Stunde gesicherte Benützungs-
dauer in einem mit irrespirablen Gasen erfüllten Eanme und eine vollständige Bewegungs-
freiheit gestatten. Als ein diesen Anforderungen entsprechender Apparat wird der erwähnte
„Pneumatoph or" genannt. Derselbe ist natürlich überall anwendbar, wo man zu
Rettungszwecken mit irrespirablen Gasen erfüllte Räume betreten muss mit (Leuchtgas,
Kohlenoxyd, Rauch erfüllte Räume, in Brunnen, Canälen etc.), und sollte dieser Apparat
zum Rettungsinventar aller Feuerwehren und Rettungsgesellschaften gehören.
Was die Einrichtungen zur Hilfeleistung bei Unglücksfällen in Bergen
betrifft, muss mit Befriedigung hervorgehoben werden, dass die touristischen
Vereine in letzterer Zeit das Bestreben zeigen, entsprechende Vorkehrungen
zu treffen. Die zwei grössten Touristenvereine, nämlich der Deutsch-öster-
reichische Alpenverein und der Oesterreichische Touristenclub, lassen den
Bergführern Samariterunterricht ertheilen und haben in den Schutzhütten
Eettungskasten und Tragbahren untergebracht. In jüngster Zeit hat sich ein
Rettungsausschuss gebildet, welcher sich aus Mitgliedern der diversen
Touristenvereine zusammensetzt und der unter Mitwirkung der Wiener
Freiwilligen Eettungsgesellschaft die Leitung der genannten Rettungsactionen
zur Bergung verunglückter Touristen übernommen hat. Der Rettungsausschuss
verfolgt den höchst gemeinnützigen Zweck, durch Schaffung einer Centrale,
bei welcher alle Meldungen über Unglücksfälle in den Bergen einlaufen, die
für den jeweiligen Unglücksfall nothwendigen Dispositionen einheitlich zu
treffen und, wenn nöthig, eine Hilfsexpedition, bestehend aus Aerzten und ge-
übten Touristen, mit allen nöthigen Rettungsutensilien, Sanitätsmateriale und
Labemitteln ausgestattet, an den Unfallsort zu entsenden.
Es wäre wünschenswert, dass solche Rettungsausschüsse sich auch in
andern Ländern, wo Touristensport gepflegt wird, bilden, und dass auf diese
Weise auf eine Vervollkommnung und Verallgemeinerung aller zur Rettung
verunglückter Touristen nothwendigen Einrichtungen hingestrebt werde.
Das zu Erstrebende sei in wenigen Punkten skizzirt. Popularisirung
der ersten Hilfeleistung in Touristenkreisen, Einreihung von Sanitätstäschchen
oder Verbandpatronen zu den nothwendigsten Ausrüstungsgegenständen eines
jeden Touristen, obligatorischer Samariterunterricht für sämmtliche Berg-
führer mit Uebungen in der Improvisation verschiedener Tragmittel, wobei
zu beachten wäre, dass kein Führer ohne Zeugnis über eine mit Erfolg ab-
gelegte Prüfung in der ersten Hilfeleistung zum Führerdienste autorisirt
werden dürfte, und Verpflichtung für jeden Führer, im Rucksacke eine zweck-
entsprechende Sanitätstasche mitzuführen. In jedem Schutzhause wäre ein
Rettungskasten mit allem nöthigen Sanitätsmateriale, ferner eine Tragbahre
Cam besten Schlittenbahre) und ein Gebirgs-Tragstuhl, dann Fakeln, Laternen,
Stricke, Wandtafeln über erste Hilfeleistung mit Abbildungen und Improvisa-
tionen etc. unterzubringen. Ein ausgezeichneter Atlas mit Abbildungen über
erste Hilfeleistung in den Bergen und Improvisationen ist von Dr. Bernhard
in Samaden erschienen, welcher auch die Rettungseinrichtungen bei Unfällen in
den Bergen in der Schweiz sehr zweckentsprechend durchgeführt hat. Das
gesammte Sanitätsmateriale müsste alljährlich wiederholt revidirt werden.
Es wäre wünschenswert, dass alle diese Rettungsvorkehrungen durch
die zu bildenden touristischen Rettungsausschüsse einheitlich und obligatorisch
durchgeführt werden.
RETTÜNGSWESEN. 661
Somit wären in kurzen Umrissen so ziemlich alle in Betracht kommenden
plötzlichen Unglücksfälle und die zur Linderung der durch dieselben verursachten
Schäden bisher bestehenden und theilweise bestehen sollenden Vorrichtungen
besprochen.
Aus Vorstehendem ist ersichtlich, dass das Rettungswesen im Allgemeinen
in der allerletzten Zeit wohl einen erfreulichen Aufschwung genommen hat,
dass dasselbe jedoch noch bei weitem nicht auf jener Stufe der Vollkommen-
heit steht, welche einem so hochwichtigen Factor eigentlich zukommen sollte.
So wie das Feuerlöschwesen in den letzten Jahrzehnten eine solche Ver-
breitung gefunden hat, dass es heutzutage kaum mehr eine Ortschaft gibt,
welche nicht zumindest ihre freiwillige Feuerwehr besässe, ganz in demselben
Maasse müsste auch das Rettungswesen Verbreitung finden. Der Feuerwehr
obliegt die schöne Aufgabe, Hab und Gut aus Gefahr zu retten, und die
Rettung der M'en sehen ist gewiss ein ebenso hehrer und edler Zweck. —
Durch das rasche und zielbewusste Eingreifen einer Feuerwehr bei einem
Brande tritt jedermann, ohne Unterschied, der volle oder theilweise Erfolg
klar vor Augen; dies ist beim Retten von Mensehen für den Laien allerdings
nicht immer der Fall, allein nichtsdestoweniger wird durch eine rasche und
zweckentsprechende erste Hilfe bei Unglücksfällen oft ein Mensch dem Leben
erhalten, vielen das Leben wiedergegeben, anderen die Krankheitsdauer oder
der Grad der Invalidität verringert, manche Schmerzen gelindert etc.
Diese Erkenntnis muss durch entsprechende Belehrung, durch populäre
Vorträge in die breiten Schichten der Bevölkerung getragen werden, um hier
den Sinn und das Interesse für die Wichtigkeit des Entstehens zahlreicher
freiwilliger Samaritervereine zu erwecken.
Allerdings müssen die Behörden ihre Pflicht thun und die jungen
Vereine moralisch und materiell nach jeder Richtung hin unterstützen. —
Sache der Behörden wäre es, im Gesetzeswege diesen Vereinen von den
Lebens- und Unfall- Versicherungsgesellschaften eine Einnahme zu verschaffen,
ähnlich wie solche die Feuerwehren von den Feuer- Versicherungsgesell-
schaften beziehen. Die Gemeindevertretungen dürften nicht, wie dies bisher
zumeist geschieht, solche Vereine zuerst an sich bittlich herantreten lassen
und denselben dann gnadenweise Summen zuweisen, die zu den Leistungen
in gar keinem Verhältnisse stehen, sie müssten vielmehr in richtiger Er-
kenntnis der Sachlage, dass diese Vereine Agenden vollziehen, welche eigent-
lich zu den Obliegenheiten der Gemeinden selbst gehören, es endlich einmal
aufgeben, sich von kleinlichen Rücksichten aller Art leiten zu lassen, und
müssten alles aufbieten, um durch Zuweisung von geeigneten Localitäten,
Ueberlassung von Pferdemateriale und durch ausgiebige regelmässig zuzu-
führende Geldmittel den entstehenden Samaritervereinen unter die Arme zu
greifen.
Dies gilt als Hauptbedingung bei der Organisirung von Rettungs-
gesellschaften oder Samaritervereinen und zwar für alle Städte und Länder.
Um in einem Staate ein geordnetes, den Bedürfnissen der Jetztzeit entsprechendes
freiwilliges Rettungswesen zu organisiren, müsste daran festgehalten werden, die zu treffen-
den Vorkehrungen den Grössen Verhältnissen der Städte oder Ortschaften möglichst anzu-
passen. Es müsste sonach genau präcisirt werden, welche Vorkehrungen Städte mit über
50.000 Einwohnern, Städte unterhalb dieser Einwohnerzahl und kleine Gemeinden zu treffen
hätten.
In sehr grossen Städten müsste unbedingt ein permanenter ärztlicher Tag- und
Nachtdienst eingeführt sein. Zu diesem Behufe wären an verschiedenen Punkten der Stadt
in entsprechenden Distanzen Sanitätsstationen zu errichten. Ein Zimmer als Wachzimmer
für die diensthabenden Aerzte, ein Raum für die subalterne Sanitätsmannschaft, ein Zimmer,
einige Betten enthaltend und mit allem nöthigen Sanitätsmateriale eingerichtet, ein Raum
für ein Materialdepot, ein Standplatz für einen bespannten Sanitätswagen, das wäre so
ziemlich alles, was unbedingt erforderlich ist.
Selbstverständlich müsste jede Sanitätsstation ein Telephon oder einen Telegraphen
besitzen, einerseits, um der Bevölkerung die Möglichkeit zu bieten, die Hilfe rasch und be-
662 EETTÜNGSWESEN.
quem in Anspruch nehmen zu können, andererseits aber, um eine Verbindung der Sanitäts-
stationen untereinander zu bewerkstelligen, damit diese in die Lage kommen, sich im Be-
darfsfalle gegenseitig zu ergänzen oder bei Massenunglücken behufs gemeinsamen Ein-
schreitens einander raschestens zu verständigen.
Für MassenuDglücke miisste überdies in jeder Stadt ein eigenes Kata-
strophenreglement ausgearbeitet sein, in welchem, den jeweiligen Ortsver-
hältnissen angepasst, alle jene Punkte genau präcisirt sein müssten, mit deren
Hilfe eine grössere Anzahl von Aerzten, subalternem Sanitätspersonale und
eine grössere Menge bereit gehaltenen Sanitäts- und Transportsmaterials zu
einer bestimmten Zeit sofort an irgend eine Unglückstelle dirigirt werden
können.
Auch dem Unterrichte in der ersten Hilfe, Verbandlehre, Krankenpflege
und Krankentransport müsste besondere Sorgfalt zugewendet und dafür Sorge
getragen werden, dass nicht nur dem Hilfspersonale, sondern auch den breiten
Schichten der Bevölkerung Gelegenheit geboten werde, in dieser wichtigen
Disciplin sich das Wissenswerteste anzueignen. Es wird daher gut sein, in
Orten, wo es die Verhältnisse leicht erlauben, eigene Samariterschulen zu
diesem Zwecke zu errichten, welche ja einen sehr geringen Kostenaufwand
erfordern, oder zumindest durch Aerzte wiederholt und regelmässig gemein-
verständliche Vorträge abhalten zu lassen und auf diese Weise in der Be-
völkerung das Interesse für Samariterbestrebungen wach zu erhalten.
In kleineren Städten wäre es am besten, die Rettungsgesellschaften oder
Samaritervereine mit den Feuerwehren zu vereinigen, wie dies ja schon in
vielen Städten, am erfolgreichsten in Graz durchgeführt ist.
Die Feuerwehrmänner, welche ohnedies Permanenzdienst halten, müssten
im Ptettungsdienste gut geschult werden; ein Zimmer für ein bis zwei Betten
und zur Unterbringung des Sanitätsmateriales wird sich überall leicht adaptiren
lassen, während die Sanitätswagen, Tragbahren etc. im Feuerwehrdepot remisirt
werden könnten.
Die Requisition der Bespannung könnte ganz auf dieselbe Weise erfolgen,
wie dies beim Ausbruche von Bränden der Fall ist. Aerzte, welche die
Schulung der Mannschaften übernehmen und sich bereit erklären, die Sanitäts-
wache öfter zu inspiciren und einer fallweisen Berufung durch dieselbe Folge
zu leisten, werden sich wohl in genügender Anzahl finden und eine tele-
graphische oder telephonische Verbindung zwischen Wachiocale und den
Wohnungen von Aerzten erfordert gewiss keine unerschwinglichen Kosten.
Auf dem flachen Lande müsste zumindest darauf gesehen werden, dass
jedes, selbst das kleinste Dorf, ohne Unterschied, mindestens einen Sanitäts-
kasten und eine Tragbahre besitze, welche Utensilien beim jeweiligen Orts-
vorsteher deponirt und vom Districtsarzte in regelmässigen Zeitintervallen
inspicirt werden müssten. Mehrere Ortschaften zusammen müssten aber auch
einen Sanitätswagen für gewöhnliche Kranke oder Verletzte und einen Wagen
zum Transporte von mit Infectionskrankheiten behafteten Personen zu Gebote
haben, welche Wägen in demjenigen Orte zu remisiren wären, in welchem
der Districtsarzt seinen Sitz hat oder wo sich ein Krankenhaus befindet.
Wenn in grossen Städten Vereine entstehen, welche das Samariterthum
auf ihre Fahne schreiben, dann werden sich nicht nur Aerzte und Freiwillige
genug finden, welche sich opferwillig der guten Sache widmen, sondern es
wird auch der wohlhabende Theil der Bevölkerung durch Zuwendung von
Unterstützungen gewiss dazu beitragen, dass dieselben in die Lage kommen,
die nöthigen Behelfe anzuschaffen und in Stand zu halten, um ihren frei-
willig übernommenen Verpflichtungen nachkommen zu können. Schwieriger
wird sich dies auf dem flachen Lande gestalten, wo es an Wohlhabenden
mangelt, allein hier könnten, wie schon erwähnt, die Ptothen-Kreuz-Vereine-
und alle anderen Vereinigungen, welche für den Fall eines Krieges organisirt
SANITÄTSWESEN. 663
sind, eine Friedensthätigkeit entfalten, welche nicht nur für die Landbevöl-
kerung, sondern auch für die betrettenden Gesellschaften selbst von den segens-
reichsten Folgen begleitet wäre.
Hoffen wir, es sei die Zeit nicht mehr so ferne, wo in sämmtlichen
Culturstaaten, sei es auf Grund der vorstehend kurz skizzirten Basis, sei es
auf anderer Grundlage ein vollkommen entsprechendes Rettungswesen orga-
nisirt sein wird, wo es sich nicht mehr wird ereignen können, dass ^lenschen,
sei es in Städten, sei es auf dem flachen Lande, mangels der nöthigen Hilfe
bei Unglücksfällen zu Grunde gehen oder Schaden erleiden, wo es nirgends
mehr an Behelfen, welche dazu dienen, Menschen in Gefahr und Noth beizu-
stehen, mangeln wird, dann wird man mit Verwunderung auf unser „vor-
geschrittenes" Zeitalter zurückblicken und sich vergeblich bemühen, den Grund
ausfindig zu machen, wieso es komme, dass zu einer Zeit, wo schon die Erkennt-
nis, dass der Mensch das „kostbarste Capital des Staates" sei, vor-
handen war, für alles andere viel eher Sinn und Interesse erweckt werden
konnte als für dieses „kostbarste Capital" selbst, und man wird für die
Engherzigkeit und Kleinlichkeit der heutigen Zeit, welche stets noch hervor-
tritt, wenn es sich um das Retten von Menschen handelt, kaum eine Erklärung
finden. chakas.
Sanitätswesen. Obgleich die geistige und körperliche Gesundheit,
die mens sana in corpore sano, schon von den alten Römern und Griechen
als das höchste irdische Gut, die Krankheit als das grösste Uebel betrachtet
wurde, ebenso das allgemeine Staatswohl, die salus publica, welches von der
Gesundheit, Arbeits- und Wehrfähigkeit der Staatsbürger abhängt, als oberstes
Gesetz, suprema lex, galt, finden wir doch in den neuen europäischen Staats-
gebilden, namentlich in den deutschen und österreichischen Staaten, erst
während des 17. Jahrhunderts ein auf gesetzlicher Grundlage beruhendes
Sanitätswesen, welches sich nur langsam und oft mit langen Unterbrechungen
auf Grundlage der neuen naturwissenschaftlichen Heilkunde zur jetzt be-
stehenden deutschen und österreichischen staatlichen Sanitätsverfassung fort-
gebildet hat.
Nach Artikel 4 und 1-5 des deutschen Reichs-Verfassungsgesetzes vom
16. April 1871 soll das Sanitätswesen, beziehungsweise alle Maassregeln
der Medicinal- und Sanitätspolizei der Beaufsichtigung und Gesetz-
gebung des Reiches unterliegen und sind die Landesbehörden nur befugt,
auf dem genannten Gebiete Verordnungen beizubehalten und zu erlassen, so
lange und so weit das Reich von der ihm durch die Reichsverfassung gewähr-
ten Befugnis keinen Gebrauch gemacht hat.
Das Reichs- Sanitätswesen ressortirt vom Reichsamt des Innern, in welchem
ein Staatssecretär, Unterstaatssecretär, Director, 12 vortragende Räthe, 8 Hilfs-
arbeiter fungiren, aber nicht ein ärztlicher Referent. Als lediglich be-
rathende, keinerlei Verwaltungsgeschäfte erledigende Behörde beim Reichs-
kanzler, beziehungsweise Reichsamt des Innern fungirt das deutsche
Reichsgesundheitsamt unter einem nicht ärztlichen Director, 7 ordent-
lichen und circa 32 ausserordentlichen Mitgliedern, mit directorialer Ver-
fassung. Die ausserordentlichen Mitglieder, welche vorwiegend nicht am
Sitze des Reichsgesundheitsamtes wohnen, werden nur auf drei Jahre ernannt
und vom Director zu vertraulichen Besprechungen herangezogen. Von den
vier grösseren Militärverwaltungen des deutschen Reiches werden geeignete
Sanitätsofficiere auf ein bis zwei Jahre zum Dienst im Reichsgesundheitsamt
commandirt, und besteht ausserdem in Verbindung mit dem Gesundheitsamt
eine aus 14 Mitgliedern gebildete Commission für Bearbeitung des deutschen
Arzneibuches.
664 SANITÄTSWESEN.
Die deutsche Gewerbeordnung vom 21. Juni 1869 und 1. Juli 1883 findet auf die
Ausübung der Heilkunde nur insoweit Anwendung, als dieselbe ausdrückliche Bestimmungen
darüber enthält (§ 6); diese Bestimmungen sind enthalten in §§ 29, 30, 53, 56, 80, 144,
147, durch welche die Ausübung der Heilkunde frei gegeben, die öffentliche Bezeichnung
als Arzt etc. aber von einer Approbation abhängig gemacht wird. Dagegen sind alle Strafen
aufgehoben, welche früher den Arzt zur Hilfeleistung zwangen, und die Bezahlung der
Aerzte einer Vereinbarung der Betheiligten überlassen, in Ermangelung einer Vereinbarung
landesgesetzliche Taxen zugelassen. Der für die deutschen Aerzte wichtigste § 29 heisst
im Wortlaut: „Einer Approbation, welche auf Grund eines Nachweises der Befähigung er-
theilt wird, bedürfen Apotheker und diejenigen Personen, welche sich als Aerzte
(Wundärzte, Augenärzte, Geburtshelfer, Zahnärzte und Thierärzte) oder mit gleichbedeutenden
Titeln bezeichnen oder seitens des Staates oder einer Gemeinde als solche anerkannt oder mit
amtlichen Functionen betraut werden sollen. Es darf jedoch die Approbation von der vor-
herigen Doctor-Promotion nicht abhängig gemacht werden. Der Bundesrath bezeichnet
mit Rücksicht auf das vorhandene Bedürfnis in verschiedenen Theilen des Reiches die
Behörden, welche für das ganze Reich giltige Approbationen zu ertheilen befugt sind, und
erlässt die Vorschriften über den Nachweis der Befähigung. Die Namen der Approbirten
werden von der Behörde, welche die Approbation ertheilt, in den vom Bundesrath zu be-
stimmenden amtlichen Blättern veröffentlicht. Personen, welche eine solche Approbation
erlangt haben, sind innerhalb des Reiches in der Wahl des Ortes, wo sie ihr Gewerbe betreiben
wollen, nicht beschränkt. Dem Bundesrath bleibt vorbehalten, zu bestimmen, unter welchen
Voraussetzungen Personen wegen wissenschaftlich erprobter Leistungen von der vorge-
schriebenen Prüfung ausnahmsweise zu entbinden sind. Personen, welche vor Verkündigung
dieses Gesetzes die Berechtigung zum Gewerbebetriebe als Aerzte u. s. w. bereits erlangt
haben, gelten als für das ganze Reich approbirt."
Die Vorschriften für die ärztliche Vorprüfung, welche nur nach Vor-
lage eines Zeugnisses der Reife von einem deutschen humanistischen Gym-
nasium und des Nachweises eines medicinischen Studiums von mindestens
vier Halbjahren abgelegt werden kann, sowie für die ärztliche Approbations-
prüfung sind enthalten in den betreffenden Bekanntmachungen des Bundes-
rathes vom 2. Juni 1883. Zur Ertheilung der Approbation an diejenigen,
welche die vorgeschriebene ärztliche Prüfung vollständig bestanden haben,
sind befugt 1. die Centralbehörde derjenigen Bundesstaaten, welche eine oder
mehrere Landesuniversitäten haben, mithin zur Zeit: die zuständigen Ministerien
der Königreiche Preussen, Baiern, Sachsen, Würtemberg, des Grossherzogthums
Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin und in Gemeinschaft die Ministerien des
Grossherzogthums Sachsen und der sächsischen Herzogthümer; 2. das Ministe-
rium für Elsass-Lothringen. Die Prüfung umfasst folgende Abschnitte: 1. die
anatomische Prüfung, 2. die physiologische Prüfung, 3. die Prüfungen der pa-
thologischen Anatomie und der allgemeinen Pathologie, 4. die chirurgisch-
ophthalmiatrische Prüfung, 5. die medicinische Prüfung, 6. die geburtshilflich-
gynäkologische Prüfung, 7. Prüfung in der Hygiene.
Ueber den Ausfall der Prüfung wird eine besondere Censur ertheilt
unter ausschliesslicher Anwendung der Prädicate: sehr gut, gut, genügend,
ungenügend, schlecht. Ein Entwurf, betreffend Revision der medicinischen
Prüfungen, hat zur Begutachtung bereits den Aerztekammern vorgelegen.
Hiernach soll das Universitätsstudium auf zehn Semester verlängert, die
Psychiatrie als obligatorisches Prüfungsfach hinzugefügt und ein praktisches
Jahr zum Dienst in einer Universitätsklinik oder geeignetem grossen Kranken-
hause absolvirt werden.
Für die Approbation als Zahnarzt sind besondere Prüfungsvorschriften
erlassen durch Bekanntmachung des Bundesrathes vom 5. Juli 1889. Die
Zulassung zur Prüfung ist bedingt durch den Nachweis 1 . der Reife für die
Prima eines deutschen Gymnasiums oder Realgymnasiums, 2. mindestens ein-
jähriger praktischer Thätigkeit bei einer zahnärztlichen höheren Lehranstalt
oder einem approbirten Zahnarzte, 3. eines zahnärztlichen Studiums von
mindestens vier Halbjahren auf Universitäten des deutschen Reiches.
Formular für die Approbation:
Nachdem Herr . . . aus . . . am ... 18 . . die Prüfung vor der ärztlichen
(zahnärtzlichen) Prüfungscommission zu * * * mit dem Prädicat . . . bestanden bat.
SANITÄTSWESEN. 665
wird ihm hierdurch die Approbation als Arzt (Zahnarzt) mit der Geltung vom bezeichneten
Tage ab für das Gebiet des deutschen Reiches gemäss 8 29 der Gewerbeordnung vom
21. Juni 1869 ertheilt. o o 6
Andere Approbationen wie für Aerzte und Zahnärzte werden für das
Gebiet des deutschen Eeiches nicht mehr ertheilt. Vor Edass der deutschen
Gewerbeordnung von 1869 wurden die Approbationen für Aerzte in Preussen
nach folgendem Formular ausgestellt, aus welchem am besten die durch die
Gewerbeordnung vollständig veränderte Stellung der deutschen Aerzte erhellt,
die auch in den übrigen deutschen Staaten auf die Erfüllung besonderer
Pflichten vereidigt wurden und unter Disciplinargewalt der höhern Verwaltungs-
behörde standen:
Approbation für den Doctor der Medicin als praktischen Arzt in den Königlichen Landen.
Da der Dr. med. . . . welcher entschlossen ist, als ausübender Arzt in den Könicr-
lichen Landen sich niederzulassen, in den für praktische Aerzte vorgeschriebenen Staats-
prüfungen .... Kenntnisse bewiesen hat, so wird derselbe als ausübender Arzt in den König-
lichen Landen also approbirt, dass er seinem noch zu leistenden Eide gemäss den
Königlichen publicirten Medicinal-Ver Ordnungen und Instructionen ge-
horsamst nachlebe und von der Wahl seines Niederlassungsortes, wie auch von der
jedesmaligen Veränderung desselben den dabei interessirten Physikern gehörig Anzeige
mache.
In einzelnen deutschen Kleinstaaten waren alle Aerzte mit Gehalt an-
gestellte Beamte gegen unentgeltliche Behandlung Unbemittelter und Aus-
führung sanitätspolizeilicher und gerichtlich-medicinischer Geschäfte. Für
bemittelte Kranke waren sehr niedrige Taxen festgestellt.
Die vollständige und unvorbereitete Trennung des deutschen Aerztestan-
des von der Staatsverwaltung, sowie die Freigabe der Heilkunde an eine gewerbe-
treibende, mit allen Hilfsmitteln einer betrügerischen Reclame arbeitende Kur-
pfuscherei musste sehr nachtheilig auf das allgemeine Gesundheitswesen, na-
mentlich bei Bekämpfung übertragbarer Krankheiten, wie auf das ethische
Verhalten des deutschen ärztlichen Berufsstandes einwirken, welchem nicht,
wie in England, gesetzlich organisirte und anerkannte ärztliche Corporationen
mit Standesordnung und Disciplinargewalt zur Verfügung standen. — Die
grossen Missstände, welche durch die Freigabe der Heilkunde auf dem Gebiete
der öffentlichen Gesundheitspflege und der Krankenbehandlung entstanden,
sind eingehend in der Section für Staatshygiene des letzten internationalen
hygienischen Congresses in Budapest (über die dort gestellte Frage: „Soll die
ärztliche Praxis frei oder an eine Qualification geknüpft sein?") unter Vorlage
zuverlässiger amtlicher Berichte nachgewiesen worden, und ein vom Mini-
sterialrath Dr. v. Kust in Uebereinstimmung mit dem Referenten gestellter
Antrag, dass die berufsmässige Ausübung der Heilkunde vom Nachweis einer
technischen und sittlichen Qualification abhängig zu machen sei, wurde
einstimmig angenommen. (D. Vierteljahrs chrift für öffentliche Gesundheits-
pflege 1894, Heft 4.)
Inzwischen sind fast in allen deutschen Staaten durch die zuständigen
Landesregierungen in verschiedener Art ärztliche Standesvertretungen
theilweise mit Ehrengerichten und disciplinaren Befugnissen eingeführt
worden, am spätesten in Preussen durch Allerhöchste Verordnung vom 25. Mai
1887, betrefis Einrichtung einer ärztlichen Standesvertretung. — In dem be-
trefi'enden Ministerialerlass an sämmtliche Königliche Ober-Präsidenten heisst
es wörtlich: Es ist bekannt, dass in den Kreisen der Aerzte sich seit Jahren
das Bestreben geltend macht, zu einer staatlich anerkannten Stan-
desvertretung zu gelangen. Maassgebend für diese Wünsche ist einer-
seits die Erkenntnis, dass es dem ärztlichen Stande nicht überall möglich ge-
wesen ist, im Wege der freien Vereinsbildung den Gefahren zu begegnen,
welche die Hervorkehrung der gewerblichen Seite des Berufes für das
Ansehen und die Ehre des ärztlichen Standes mit sich führen. Sodann aber
wird es bei der wachsenden Bedeutung, welche die öffentliche Gesundheits-
666 SANITÄTSWESEN.
pflege gewinnt, mehr und mehr als ein Mangel empfunden, dass es an einer
Organisation fehlt, mittels deren die reichen Erfahrungen der nicht beamteten
Aerzte für die staatlichen Aufgaben auf dem Gebiete der öffentlichen Ge-
sundheitspflege unmittelbar nutzbar gemacht werden könnten. Die günstigen
Erfahrungen, welche mit der Einführung einer ärztlichen Standesvertretung
in anderen deutschen Staaten (Sachsen, Baiern, Würtemberg, Baden) gemacht
worden sind, sprechen dafür, auch in Preussen eine ähnliche Organisation ins
Leben zu rufen. Zu diesem Zwecke ist eine Allerhöchste Verordnung er-
gangen, welche in der Gesetzsammlung veröffentlicht werden wird. Nach der-
selben ist für jede Provinz eine aus der freien Wahl der Aerzte hervor-
gehende, aus mindestens zwölf Mitgliedern bestehende Aerztekammer zu
bilden, deren Aufgabe es sein wird, alle Fragen und Angelegenheiten zu er-
örtern, welche den ärztlichen Beruf oder das Interesse der öffentlichen
Gesundheitspflege betreffen oder auf die Vertretung der ärztlichen
Standesinteressen gerichtet sind. Diese Aerztekammern, denen die Befugnis bei-
gelegt ist, innerhalb ihres Geschäftskreises Anträge an die Staatsbehörden zu
richten, sind derartig an die staatlichen Behörden angeschlossen, dass sie
Vertreter wählen, welche als ausserordentliche Mitglieder mit berathender
Stimme an wichtigen Sitzungen der Provinzial-Medicinal-Collegien und der
wissenschaftlichen Deputation für das Medicinalwesen theilnehmen. Discipli-
nare Befugnisse über die Aerzte ihres Bezirkes sind den Aerztekammern
nicht beigelegt worden. Es ist nur der Gefahr, dass unwürdige Mitglieder
des ärztlichen Standes an der neuen Organisation Antheil erhielten, dadurch
vorgebeugt worden, dass dem Vorstande der Aerztekammer das Recht bei-
gelegt ist, derartigen Aerzten, so weit sie nicht einer staatlichen Behörde
unterstellt sind, das Wahlrecht und die Wählbarkeit dauernd oder auf Zeit
zu entziehen. Der betreffende § 5 des Kammergesetzes heisst wörtlich:
Aerzten, welche die Pflichten ihres Berufes in erheblicher Weise oder wiederholt
verletzt oder sich durch ihr Verhalten der Achtung, welche ihr Beruf erfordert, unwürdig
gezeigt haben, ist durch Beschluss des Vorstandes der Aerztekammer das Wahlrecht und
die Wählbarkeit dauernd oder auf Zeit zu entziehen.
Ein aus den Vorsitzenden der Aerztekammern-Vorstände gebildeter
Aerztekammer- Ausschuss hat unterm 13. April 1894 dem Herrn
Minister Vorschläge zur Stellung innerhalb der Organisation gemacht, infolge
eines betreffenden Ministerialerlasses von 27. November 1893.
Am weitesten vorgerückt in einer zweckentsprechenden Organisation
der ärztlichen Standesvertretung mit gesetzlicher Standesordnung und Ehren-
gerichten ist die Landes-Gesetzgebung des Königreiches Sachsen. Durch Gesetz
von 23. März 1896 wurden dort auf Antrag der ärztlichen Bezirksvereine staat-
liche Ehrengerichte für Aerzte eingesetzt, welchen alle approbirten
Aerzte mit Ausnahme der bereits einer staatlich geordneten Disciplinarbehörde
unterstehenden Aerzte und Sanitätsofficiere des Friedensstandes unterworfen
sind. Ebenso wurde eine ärztliche Standesordnung vorgesehen, welche
eine Zusammenstellung derjenigen Pflichten enthalten soll, die den Aerzten
in Ausübung ihres Berufes, sowie zur Wahrung der Ehre und des Ansehens
ihres Standes auch ausserhalb ihrer Beruf sthätigkeit obliegen. Das
ganze Gesetz ist veröffentlicht im Gesetz- und Verordnungsblatt für das König-
reich Sachsen, 6. Stück 1896 Nr. 39.
Da die für Preussen erlassene Allerhöchste Verordnung vom 25. Mai
1887, namentlich der § 5 1. c, sich als unzureichend gezeigt hat, ist schon im
vorigen Jahre den Aerztekammern vom Herrn Ressortminister der Entwurf
eines Gesetzes, betreffend die ärztlichen Ehrengerichte, das Umlagerecht und
die Kassen der Aerztekammer vorgelegt worden, über welchen die Verhand-
lungen zwischen dem Herrn Minister und den Aerztekammern noch nicht zum
Abschluss gelangt sind.
SANITÄTSWESEN. 667
Soweit das Sanitätswesen nicht durch die Reichsgesetzgebung geregelt
ist, ressortirt dasselbe von den zuständigen Centralinstanzen der einzelnen
deutschen Bundesstaaten, in Preussen nach Allerhöchster Ordre v. 22. Juni 1849
vom Minister der geistlichen, Unterrichts- und Medicinalangelegenheiten. Das
Militär-Sanitätswesen wird von einer Medicinalabtheilung des Kriegsministeriums
geleitet, an deren Spitze ein Generalarzt, in Preussen ein Generalstabsarzt
steht. — Die Medicinalabtheilung im Cultusministerium besteht aus einem
nicht ärztlichen Director und vier vortragenden Käthen, von welchen drei
Medicinalbeamte sind. Eine gewisse Verbindung des Civil- und Militär-Sani-
tätswesens wird dadurch herbeizuführen gesucht, dass der Chef des letzteren
auch an den Sitzungen der Medicinalabtheilung im Cultusministerium sich
betheiligt. Der Geschäftskreis der letzteren umfasst 1. die oberste Leitung
der gesammten Medicinal- und Sanitätspolizei, 2. die Aufsicht über die
Qualitication des Medicinalpersonals, die Verwendung desselben im Staatsdienst
und Handhabung der Disciplinargewalt, 3. die Oberaufsicht über alle öffent-
lichen und Privat-Krankenanstalten. Unmittelbar unter dem Minister der Me-
dicinalangelegenheiten stehen in Preussen folgende Behörden: 1. die wissen-
schaftliche Deputation für das Medicinalwesen in Berlin, als lediglich berathende
Behörde, für welche unterm 9. October 1888 eine neue Geschäftsanweisung
erlassen ist. Die Deputation besteht aus einem nicht ärztlichen Director
und einer Anzahl ordentlicher und ausserordentlicher Mitglieder; 2. die
technische Commission für pharmaceutische Angelegenheiten, welche aus prak-
tischen Apothekern besteht, und unter Vorsitz eines technischen Ministerial-
rathes Gutachten in pharmaceutischen Angelegenheiten abgibt.
Bei dem Polizeipräsidium in Berlin und den Bezirksregierungen der
Provinzen sind Regierungs-Medicinalräthe angestellt, welche aus der Reihe
der bestbewährten Physiker vom Könige mit dem Range der Regierungsräthe
ernannt werden und nach § 47 der Instruction für die Geschäftsführung alle
in die Medicinal- und Gesundheitspolizei einschlagenden Sachen bearbeiten
sollen und in dieser Beziehung alle Rechte, Pflichten und Verantwortlich-
keiten der übrigen Departementsräthe haben.
Die Regierungs-Medicinalräthe beziehen ein pensionsberechtigtes Gehalt
von 4200 steigend bis auf 7200 Mark, welches letztere nach ungefähr 15
Jahren erreicht wird, und ausserdem Wohnungsgeldzuschuss. Sie dürfen die
ärztliche Praxis nur insoweit betreiben, als ihre Amtsgeschäfte nicht darunter
leiden. Da die Regierungs-Medicinalräthe vorzugsweise die Apotheken, Dro-
guerien und Krankenanstalten zu revidiren haben, sind sie zu häuflgen Reisen
genöthigt und an der Uebernahme ärztlicher Praxis oder sonstiger Neben-
ämter namentlich in grösseren Verwaltungsbezirken verhindert. Jeder Re-
gierungs-Medicinalrath hat aus den Berichten der Kreisphysiker in dreijährigem
Turnus und nach vorgeschriebenem Schema einen General-Sanitätsbericht zu
verfassen, der in der Regel mit Genehmigung des Ressortministers ver-
öffentlicht wird.
Am Wohnsitze der Oberpräsidenten fungiren für jede Provinz als rein
wissenschaftliche, keinerlei Verwaltungsgeschäfte ausübende Behörden die
Provincial-Medicinalcollegien, die unter dem Vorsitz des Oberpräsidenten aus
dem Regierungs-Medicinalrath, einem Medicinalrath, einem in der Chirurgie
und einem in der Entbindungskunst besonders erfahrenen Arzte, sowie einem
geeigneten Thierarzte bestehen sollen. — Die Medicinalcollegien haben auf
Anforderung der Gerichte Obergutachten abzugeben, sowie die von den Kreis-
Medicinalbeamten verfassten, durch die Hand des Regierungspräsidenten ge-
henden Obductionsberichte und Gutachten im Entmündigungsverfahren zu
prüfen.
In jedem landräthlichen Kreise ist zur Ausführung sanitätspolizeilicher
und gerichtlich-medicinischer Geschäfte ein Kreisphysikus angestellt, welcher
I
668 SANITÄTSWESEN.
aus der Zahl der sich bewerbenden promovirten und approbirten, mit dem
Fähigkeitszeugnis zur Verwaltung einer Physikatsstelle versehenen Aerzte
vom Minister der Medicinalangelegenheiten ernannt wird und nur der Regierung,
nicht aber dem Landrath subordinirt, den Requisitionen des letzteren aber nach-
zukommen hat. Für die Physikatsprüfung ist unterm 4. März 1880 ein besonderes
Reglement erlassen. Die Kreisphysiker sind zwar unmittelbare vereidigte
Staatsbeamte, beziehen aber nur ein nicht pensionsberechtigtes etatmässiges
Gehalt von 900 Mark und sind deshalb auf Erwerb durch Privatpraxis und
Nebenämter angewiesen. Eine allgemeine Dienstinstruction für die Kreisphy-
siker ist von dem Herrn Ressortminister noch nicht erlassen; dieselben haben
aber gemäss besonderer Ministerialerlässe allen an sie ergehenden, sanitäts-
polizeilichen und gerichtlichen Requisitionen mit möglichster Beschleunigung
zu entsprechen behufs Ausführung gerichtlicher Besichtigungen, Obductionen,
Abwartung gerichtlicher Termine, Feststellung von Krankheits- und Todes-
ursachen beim Auftreten ansteckender Krankheiten, sanitätspolizeilicher Be-
gutachtung von Wohnräumen, Schulen und anderen öffentlichen Gebäuden,
Beerdigungsplätzen, Brunnen, bei Untersuchung des Trinkwassers und sonstiger
Lebens- und Genussmittel. Die Kreisphysiker haben ferner sämmtliche Apo-
theken, Irren- und Entbindungsanstalten, Droguen- und Giftwaarenhandlungen
ihres Kreises zu beaufsichtigen, die Hebammen nachzuprüfen, alle Contraven-
tionen gegen die geltenden Medicinalgesetze den zuständigen Staats- und Amts-
anwälten anzuzeigen, den Gesundheitszustand der Staatsbeamten auf Requisition
von Staatsbehörden im Interesse des Dienstes unentgeltlich zu untersuchen
und auch die in häuslichen Verhältnissen verpflegten Geisteskranken zu über-
wachen. Endlich haben sie monatlich summarische und dreijährig specificirte
Nachweisungen über das Medicinalpersonal, die Medicinalanstalten einzureichen
und schliesslich nach vorgeschriebenem Schema einen eingehenden jährlichen
Sanitätsbericht, sowie auf Revision sämmtlicher Impflisten und technischer
Beaufsichtigung der öffentlichen Impfungen beruhenden Impfbericht zu er-
statten.
Die hauptsächlich für gehörige Ausführung der gerichtlichen Obductionen,
für welche zwei Aerzte vorgeschrieben sind, vom Ressortminister früher an-
gestellten Kreiswundärzte wurden während der letzten Jahre nicht mehr an-
gestellt, und sollen nach einem im vorigen Jahre vom Herrn Minister zur Be-
rathung gestellten, die Umbildung der preussischen Sanitätsbehörden betreffenden
Gesetzentwurf die noch gebliebenen etatmässigen Kreiswundarztstellen nach
Abgang der jetzigen Stelleninhaber nicht mehr besetzt werden.
Der Betrieb des für das Sanitätswesen wichtigen und einflussreichen
Apothekergewerbes ist für Preussen geregelt durch ein Specialgesetz,
die Apothekerordnung vom 11. October 1801, welche im Laufe der Zeit
durch besondere Ministerialerlässe declarirt wurde, zuletzt durch Erlass vom
16. December 1893. Zum Betriebe einer Apotheke ist erforderlich eine nach
Ablegung vorgeschriebener Studien und Prüfungen zu erlangende staatliche
Approbation und eine vom Oberpräsidenten der Provinz, in welcher die Apo-
theke betrieben werden soll, ausgestellte Concession, falls für die zu betrei-
bende Apotheke nicht ein Realprivilegium verliehen worden ist. Die Apo-
thekenbesitzer und Verwalter (Provisoren) werden auf gewissenhafte Erfüllung
ihrer Berufspflichten, sowie Beachtung der gesetzlichen Vorschriften vereidigt.
Da die concessionirten Apotheken an approbirte Ankäufer verkauft werden
können, finden die Verkäufe vielfach zu unverhältnismässig hohen Preisen
statt, wodurch der Zweck der staatlichen Concessionirung, die Apotheker
in guter wirtschaftlicher Lage und zum Ankauf der besten Arzneiwaaren
geneigt zu erhalten, vereitelt wird. Auch hat der ordnungsmässige Betrieb
der Apotheken durch die Freigabe der Heilkunde, den Geheimmittelvertrieb
und die in den Detaildroguerien betriebene Kurpfuscherei, die sogenannten
SANITÄTSWESEN. 669
,, wilden Apotheken", sehr gelitten. So wird in einer an den Oberpräsidenten
der Provinz Hannover gerichteten Denkschrift der Kreisvorsteher des
deutschen Apothekervereines (Xr. 22 der Apothekerzeitung 1S94) nament-
lich hervorgehoben der mit Kurpfuscherei verbundene Arzneikleinhandel
in Stadt und Land, welcher den vorschriftsmässigen Betrieb der concessionirten
Apotheken unmöglich mache und schliesslich den vollständigen Ruin der
Apotheken zur Folge haben müsse. (Näheres über den Apothekenbetrieb
siehe unter „Apothekenwesen und Arzneimittelverkehr", S. 24.)
Das für das Gesundheitswohl der verheiratheten Frauen und neugebore-
nen Kinder so einflussreiche Hebammenwesen ist für Preussen geregelt
durch § 30 der Gewerbeordnung, nach welchem Hebammen eines Prüfungs-
zeugnisses der nach den Landesgesetzen zuständigen Behörde bedürfen und
durch eine das Hebammenwesen betreffende allgemeine Verfügung des Ministers
der Medicinalangelegenheiten vom 6. August 1883. Hiernach werden in die
inländischen Hebammenlehranstalten nicht nur solche Personen als Schülerinnen
aufgenommen, welche, wie früher, von den Gemeinden, Ortsarmenverbänden oder
Hebammenbezirken vorgeschlagen und auf deren Kosten ausgebildet werden, um
später eine mit einer fixirten Besoldung verbundene Stelle als Bezirkshebamme
zu übernehmen, sondern es lassen sich auch viele Personen in der Hoffnung
auf einen späteren einträglichen Gewerbebetrieb auf eigene Kosten in inlän-
dischen und ausländischen Lehranstalten ausbilden und von den inländischen
Prüfungscommissionen prüfen, um sich dann als sogenannte frei prakti-
cirende Hebammen in Orten niederzulassen, wo kein Bedürfnis vorhanden
ist. Die durch ungenügende Ausbildung und Beschäftigung, sowie wirtschaft-
lichen Nothstand der Hebammen bei Ausübung der heutigen häuslichen Ge-
burtshilfe eingetretenen Missstände sind durch ein Picferat des Dr. Brenecke
über Errichtung von Heimstätten für Wöchnerinnen eingehend dargelegt worden
(D. Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheitspflege Bd. XXIX. Heft 1).
Zur Beseitigung der genannten Missstände und Mängel habe ich mir erlaubt,
in einer betreffenden Abhandlung: „Anforderungen der Hygiene an den häus-
lichen Betrieb der Geburtshilfe" nachstehende Maassregeln als die zweckmässig-
sten zu bezeichnen:
1. Verlängerte Lehrzeit "für Geburtshelfer und Hebammen zur möglichst gründlichen
Erlernung der geburtshilflichen Technik.
2. Zur geeigneten Pflege der "Wöchnerinnen und Neugeborenen Ausbildung beson-
derer Wärterinnen, welche auch für die Zeit, während welcher die Wöchnerin bettlägerig
und erwerbsunfähig ist, die nothwendigen Haushaltungsgeschäfte zu versehen hätten. Das
genannte Wartepersonal würde an die Frauenyereine zur Pflege armer Wöchnerinnen
passenden Anschluss finden.
3. An Stelle der betreffenden Bestimmungen der Gewerbeordnung: Erlass eines die
Ausübung der gesammten Heilkunde, einschliesslich der Geburtshilfe, umfassenden Gesetzes,
durch^welches die Piechte und Pflichten des geburtshilflichen Personals, sowie ein geordnetes,
zweckentsprechendes Zusammenwirken der Aerzte und Hebammen vorzuschreiben wäre.
4. Erlass gesetzlicher Vorschriften, die sich nicht nur auf die Herstellung gesunder
Familienwohnungen, sondern auch auf deren gesundheitsgemässe Benützung zu beziehen
und der gesundheitsschädlichen üeberfüllung vorzubeugen hätten.
5. Verbesserte, von der ärztlichen Privatpraxis unabhängige Stellung der für die
Beaufsichtigung und Prüfung der Hebammen zuständigen Medicinalbeamten.
6. In den statistischen Sterblichkeit stabellen Trennung der Todesfälle an infectiösem
Kindbettfieber von den Todesfällen infolge geburtshilflicher Operationen oder anderer
Krankheiten.
In allen übrigen deutschen Staaten ist das Sanitätswesen, insoweit
dasselbe Sache der Landesbehörden geblieben ist, fortschreitend reorganisirt
worden und ressortirt nicht, wie in Preussen, vom Cultusministerium, son-
dern vom Ministerium des Innern, in den freien Städten vom Senat. In dem
nach Preussen grössten deutschen Staate Baiern steht dem jNIinister des Innern
als Referent für alle Medicinal- und Sanitätsangelegenheiten zur Seite ein
Obermedicinalrath, der gleichzeitig Vorsitzender des Obermedicinal-
Ausschusses ist, einer vorwiegend begutachtenden technischen Behörde mit
670 SANITÄTSWESEN.
collegialer Verfassung. Unter dem Minister des Innern stehen die bei den
Kreisregierungen angestellten Medicinalräthe und unter letzteren für dieSanitäts-
polizei angestellte Bezirksärzte I. und IL Glasse, für die Rechtspflege Land-
gerichtsräthe für jeden Landgerichtsbezirk. Sämmtliche im baierischen Staats-
dienst angestellte Sanitätsbeamte beziehen angemessene, mit dem Dienstalter
steigende Besoldungen mit Wohnungsgeldzuschuss und bis zum Bezüge des
vollen Gehalts steigende Pensionen nebst entsprechender Versorgung der
Hinterbliebenen.
Wie nach dem deutschen Reichsverfassungsgesetze vom 16. April 1871
alle Maassregeln der Medicinal- und Sanitätspolizei der Beaufsichtigung und
Gesetzgebung des Reiches unterliegen, so gehört nach dem österreichi-
schen Grundgesetz über die Reichsvertretung vom 21. December 1867 die
Medicinalgesetzgebung, sowie die Gesetzgebung zum Schutze gegen Epidemien
zum Wirkungskreise des Reichsrat h es. Die Reichs- Sanitätsangelegen-
heiten ressortiren in Oesterreich von einem im Reichsministeriura des In-
nern gebildeten besonderen Sanitätsdepartement, welchem ein Ober-
ster Sanitätsrath als berathendes wissenschaftliches Fachorgan bei-
gegeben ist, und an dessen Spitze ein ärztlicher Referent steht. In
jedem österreichischen Kronlande steht ein Statthalter an der Spitze der
politischen Verwaltung, welchem ein ärztlicher L andes-Sanitätsrefe-
rent und als wissenschaftliches Fachorgan zur Behandlung der Sanitäts-
angelegenheiten ein Landes-Sanitätsrath beigegeben ist. Jedes Kron-
land ist in politische Amtsbezirke getheilt mit einem Bezirksarzt als
Referenten für Sanitätsangelegenheiten nach Maassgabe der ihm ertheilten
Dienstinstruction.
Nach Gesetz vom 30. April 1870 steht die Oberaufsicht über das ge-
sammte Sanitätswesen und die oberste Leitung der Medicinalangelegenheiten
der Staatsverwaltung zu, welcher insbesondere obliegt: a) die Evidenz-
haltung des gesammten Sanitätspersonals, die Beaufsichtigung desselben in
ärztlicher Beziehung, sowie die Handhabung der Gesetze über die Ausübung
der diesem Personale zukommenden ärztlichen Praxis, b) die Oberaufsicht über
alle Kranken-, Irren-, Gebär-, Findol- und Aramenanstalten, Heilbäder und
Gesundbrunnen, Impfinstitute, Siechenhäuser und andere derlei Anstalten,
c) die Handhabung der Gesetze über ansteckende Krankheiten, Epidemien
und Thierseuchen, Qurantaine- und Vieh-Contumazanstalten, Verkehr mit
Giften und Medicamenten, d) Leitung des Impfwesens, /) Anordnung und
Vornahme der sanitätspolizeilichen Obductionen, g) üeberwachung der Todten-
beschau und des Begräbniswesens.
Die dem selbständigen Wirkungskreise der Gemeinden durch
die Gemeindegesetze zugewiesene Gesundheitspolizei umfasst: a) Handhabung
der sanitätspolizeilichen Vorschriften in Bezug auf Strassen, W^ege, Plätze
und Flüsse, öfi'entliche Versammlungsorte, Wohnungen, Canäle, Senkgruben,
fliessende und stehende Gewässer, Trink- und Nutzwässer, Lebensmittel,
Gefässe, Vieh- und Fleischbeschau, öffentliche Badeanstalten, b) Fürsorge für
die Erreichbarkeit der nöthigen Hilfe bei Erkrankungen und Entbindungen,
Rettungsmittel bei plötzlichen Lebensgefahren, c) Evidenzhaltung der nicht
in öffentlichen Anstalten untergebrachten Findlinge, Taubstummen, Irren,
Cretins, sowie Üeberwachung der Pflege dieser Personen, d) Errichtung, In-
standhaltung und Üeberwachung der Leichenkammern und Begräbnisplätze.
Ausserdem obliegt der Gemeinde in übertragenem Wirkungskreise:
a) Durchführung der örtlichen Vorkehrungen zur Verhütung ansteckender
Krankheiten und deren Weiterverbreitung, b) Handhabung der sanitätspolizei-
lichen Vorschriften über Begräbnis und Todtenbeschau, c) Mitwirkung bei allen
von der politischen Behörde vorzunehmenden sanitätspolizeilichen Augenscheinen
und Commissionen, d) unmittelbare sanitätspolizeiliche Üeberwachung der in
SCHIFFSHYGIENE. 671
der Gemeinde befindlichen privaten Heil- und Gebäranstalten, e) periodische
Herstellung von Sanitätsberichten an die politische Behörde.
Allen Gemeindevorständen stehen für das Sanitätswesen angestellte und
besoldete Gemeindeärzte zur Seite.
Nach Vorstehendem ist das österreichische Sanitätswesen durch die
neuere sanitäre Gesetzgebung in ähnlicher Weise wie das der Königreiche
Baiern und Sachsen organisirt, weicht aber von der deutschen und preussi-
schen Medicinal- und Sanitätsverfassung dadurch ab, dass im österreichischen
Reichsministerium des Innern ein besonderes, von einem ärztlichen Refe-
renten geleitetes Sanitätsdepartement besteht, welchem der Oberste Sanitäts-
rath als wissenschaftliches Fachorgan angehört und die Sanitätsbehörden der
einzelnen Kronländer, Amtsbezirke und Gemeinden nachgeordnet sind. Auf
diese Art wird es dem Sanitätsdepartement möglich sein, von allen wichtigen
sanitären Vorgängen möglichst unmittelbare und schnelle Kunde zu erhalten
und dann auch, wie dies namentlich beim Ausbruch von Epidemien erforder-
lich wird, die gleichmässige Ausführung der entsprechenden sanitätspolizei-
lichen Maassregeln zu beaufsichtigen. schwaetz.
SchifFshygiene. Da in dem Aufsatz „Eisenbahnhygiene" in relativ
ausführlichster Weise das meiste enthalten ist, was für die Schiffs-
hygiene gilt und auf sie angewandt werden kann, so bleibt hier nur sehr
wenig übrig zu erwähnen und zu modificiren. Es sei deshalb, sowohl im
Allgemeinen als besonders in Bezug auf diejenigen, welche sich näher zu
informiren wünschen, auf den Artikel „Eisenbahnhygiene" in diesem Werke
verwiesen.
Es erübrigt hier darauf hinzuweisen, wie bei längeren Schiffsreisen,
durch Anlegen an den verschiedensten Hafenplätzen, Ein- und Ausladen von
Waren aller Art, Wechsel der Passagiere, Aufenthalt am Lande, Anwesenheit
von Thieren an Bord, Schädlichkeiten eingeführt werden, welche die Schiffs-
hygiene belasten, wie sie zu vermeiden sind, und welcher Art die Desinfection
der Schiffe sein müsse. Dass auch hierbei, bis auf weniges, mutatis mutan-
dis auf den Artikel „Eisenbahnhygiene" verwiesen werden kann, will ich
voranstellen. Allein der grosse Unterschied zwischen den Reisen auf Eisen-
bahnen und Schiffen tritt doch auch in der Hygiene vielfach hervor. Schon die
durch die stärkere Bewegung der Schiffe entstehende Seekrankheit, welche
wie bekannt, manche Individuen nicht belästigt, ist bei Eisenbahnfahrten
selten oder doch sehr milde im Vergleich zu dem alarmirenden Auftreten auf
Schiffen, namentlich beim weiblichen Geschlecht. Die Hygiene befasst sich
allerdings nicht weiter mit dem sogenannten Mal de mer, jedoch nimmt die
Bauart der modernen grossen Passagierdampfer darauf Rücksicht, sie möglichst
zu mildern. Frauen, welche eine längere Seereise vorhaben, noch dazu gra-
vidae, werden gut thun, solche Dampfer zu benützen. Das Seewasser hat, wie
die Untersuchungen Giuseppi Pinna's lehren, eher einen günstigen hygie-
nischen Einfluss und besitzt ein gewisses Abschwächungsvermögen auf die
Virulenz der Bacterien. Thatsächlich wird von keinem Falle einer infectiösen
Krankheit berichtet, der durch Seewassergenuss oder auf den Contact des-
selben mit erkrankter oder verletzter Hautoberfläche zurückgeführt werden
könnte. Selbst die jährlich mehr und mehr in Seehospizen sich einfindenden
scrophulösen Kinder mit ausgedehnten Hautaffectionen baden im Meere täglich,
ohne dass die Hautkrankheit dadurch schädlich beeinflusst würde. Wir wissen
im Gegentheil, dass das Seewasserbad auf Scrophulose günstig influirt, Eigen-
thümlich ist auch die günstige und temperaturherabsetzende Wirkung des
Seewasserbades an Bord bei Influenzakranken, wie sie Verfasser zu beobachten
Gelegenheit hatte. Jeder Schiffsreisende sollte täglich sein Wannenbad in
Seewasser nicht versäumen und sich auch hierdurch widerstandsfähig erhalten.
&
672 SCHIFFSHYGIENE.
Der Wechsel der Klimate, welchem der, sei es nach Süden oder von da nach
Norden zu Keisende unterworfen ist, wird im Allgemeinen gut ertragen, auf
hohem Meere wirkt selbst die äquatoriale Zone nicht belästigend, auf von
Wüsten begrenzten Meerestheilen, wie im rothen Meer, hingegen treten zu
gewissen Zeiten, besonders bei Nordeuropäern ernstere Erkrankungen durch
Wärmestauung auf. Leichte Tropenkleidung, am besten aus Keformbaum-
wolle oder Seide, leichtere Arbeit, Herstellung bewegter Luft im Schiffs-
innern können solchen Vorkommnissen vorbeugen.
Die von aussen kommenden Gefahren für die Schiifsbevölkerung liegen
grösstentheils in der Aufnahme von Infectionserregern, überbracht durch
Menschen, Thiere, besonders Ratten und Mäuse, und Waren aller Art, welche
zugleich vom Lande stammenden Schmutz, erdige Bestandtheile, Excremente
u. s. w. enthalten. Wenn, wie durchweg noch von den Schiffsärzten, nur die
äussere Untersuchung eines kranken oder suspecten Passagiers geübt wird,
bei dem der Beginn einer Infectionskrankheit vermuthet werden kann, so darf
man sich nicht wundern, wenn so häufig auf hoher See erst Schiffsepidemien
entstehen, während beim Verlassen des Hafens kein solcher Krankheitsfall
vorhanden war, oder dass auf kürzeren Reisen eine Anzahl von Personen die
Incubationszeit durchmacht, auf dem Lande anscheinend erst wirklich erkrankt
und die Krankheit dort weiter verbreitet. Hingegen schützt nur eine auf-
merksame Beobachtung, Temperaturmessung des Körpers und mikroskopische
Untersuchungen der Excrete, wie auch des Blutes, nebst hafenärztlicher Thätigkeit
und Quarantaine. In den aussereuropäischen nicht civilisirten Ländern kommt
es vor, dass Neger oder überhaupt eingeborene Arbeiter weithin verschifft
werden, ohne dass an Bord ein Arzt sich befindet, eventuell werden sie auf
einheimischen Segelfahrzeugen transportirt. So ist es erklärlich, dass chine-
sische Kulis mit leichten Erkrankungen an Bubonenpest in den Streets
Settlements beim Anlegen der Schiffe und am Lande entdeckt wurden. Um
den hygienischen Ansprüchen zu genügen, ist vor allem für die Rheder der
Zwang einzuführen, dem Schiffsarzt ein kleines Laboratorium einzurichten, nur
solche Aerzte anzustellen, welche nachweislich bacteriologische Untersuchungen
ausführen können und die Aerzte genügend zu salairiren. Mit dem System
der Anstellung ganz junger Aerzte, welche eine Vergnügungstour unternehmen
wollen und deren Gehalt gespart wird, muss endgiltig gebrochen werden.
Bei Ausbruch einer Epidemie an gewissen Hafenorten, oder deren Hinterland
werden von der Heimatsbehörde erlassene Vorschriften für den Schiffsführer
und Schiffsarzt verbindlich. Auch hier sollte man nicht schematisch ver-
fahren. So sollte man bei Choleraepidemien, oder wie jetzt gerade bei der
Pestepidemie in Indien geschehen, nicht alle Waren aufzunehmen verbieten,
weil dadurch jede Handelsthätigkeit unterbunden würde. Waren, welche, wie
getrocknete Felle, Leinwandwaren, Elfenbein u. dgl. desinficirt werden können,
sollten den Schiffen nicht verboten werden aufzunehmen. Getrocknete Früchte,
Getreidearten dagegen, welche eine mehr oder weniger grosse Menge von
Erd- resp. Schmutzpartikeln stets unter sich enthalten, müssen ausgeschlossen
werden, weil ihre Verunreinigungen gerade die Keime enthalten dürften.
Ratten und Mäuse, welche, wie neuerdings nachgewiesen, die Pestkeime vom
Boden aufnehmen und massenhaft an der Pest erkranken und sterben, sollte
man möglichst abzuhalten und zu tödten suchen. Dem Schiffshygieniker ist somit
eine gewisse Selbständigkeit zu reserviren und er darf durch specialisirte Ver-
ordnungen, von den heimatlichen Bureaus aus, nicht zu sehr eingezwängt
werden. Eine eigenthümliche Erscheinung bildet das Vorkommen von Schiffs-
malaria und Beri-Beri an Bord von Schiffen, welches in der Literatur von
einer Anzahl vertrauenswürdiger Aerzte und Forscher angeführt ist. So be-
richten Lauee, Bonnand, Marston, Holden, de Lajartre, Mairet überein-
stimmend über Malariaepidemien an Bord ihrer Schiffe. Stets entstanden sie,
SCHULHYGIENE. 673
■wenn in nicht ventilirten Schiffsräumen zu mit erdigen Bestandtheilen ver-
mischten, verschimmelnden Waren Wasser eingedrungen war, welches sie
nicht überfluthete, .sondern nur durchfeuchtete und nicht abliiessen konnte.
Verfasser kann auf einer kleinen Malariaepidemie an Bord eines Schiffes hin-
weisen, welche im Schiffsraum entstand, wo Arbeiter schliefen und wo eine
dicke Lage vom Wasser durchfeuchteter Erde (vom Lande wohl eingeladen)
sich befand. Nachdem die Erde beseitigt und der desinficirte Raum trocken
gehalten wurde, kamen keine Neuerkrankungen mehr vor. Ebenso ist auf der
niederländ. -indisch. Marine das Vorkommen von Beri-Beri beobachtet worden,
so, dass Infection am Lande ausgeschlossen werden konnte. Pekelhaking nimmt
an, dass Erdpartikeln die Beri-Berikeime auf Schiffen virulent erhalten können.
Von 2504 europäischen Matrösen der Kön. Niederländischen Marine starb in
Indien an Bord nur einer, von den 1142 inländischen 48 an Beri-Beri von
58 Todesfällen unter letzteren, im Jahre 1894. Die Gelbfieberepidemien auf
Schiffen sind zu bekannt, als dass hier noch näher darauf eingegangen zu
werden brauchte. Die Ernährungsfrage spielt in Bezug auf die Disposition
zu Infectionskrankheiten keine so wichtige Kolle, auch ist die Nahrung auf
europäischen Schiffen eine gut geregelte und ausreichende. Die Desinfection
der Schiffe geschieht gewöhnlich so, dass nach Ausräumung der Cabinen und
sonstigen Räumlichkeiten die Wände mit einer alkoholischen ß— 107oigen
Sublimatlösung von oben nach unten bestrichen und nach zwei Stunden mit
viel Wasser abgewaschen werden. In den unteren Schiffsraum spritzt man
zuerst eine Lösung von schwefelsaurem Eisenoxydul, dann entfernt man das
im Raum befindliche Wasser, wäscht mit Seewasser nach und desin-
ficirt mit Sublimatlösung. In modernen Desinfectionsapparaten wird in be-
kannter Weise die Desinfection von Bettwäsche und Kleidern durchgeführt.
Häutig wird auch das Räuchern mit Schwefel noch vorgenommen, auch für
Wäsche etc. bei Mangel an Desinfectionsapparaten, es ist aber die erst-
genannte Methode vorzuziehen. Dass die Schiffshygienne noch sehr der Ver-
vollkommnung bedarf, ist schon aus den vorstehenden, kurzen Mittheilungen
ersichtlich. C. däubler.
Schulhygiene. Unter Schulhygiene versteht man denjenigen Theil
der Gesammthygiene, der sich mit all den Dingen beschäftigt, die Gesundheit
und Leben von Schülern schädigen und fördern können. Sie fasst demnach
die Lage von Schulgebäuden, das Baumaterial zu denselben und ihre innere
Einrichtung ins Auge. Dann beschäftigt sie sich mit Luft, Licht, Sitzbänken,
der körperlichen und geistigen Anstrengung in den Schulen und schliess-
lich mit den sogenannten Schulkrankheiten oder mit Krankheiten, welche
durch die Schule entstehen und verbreitet werden.
Was nun die Schulhygiene im besonderen vorschreibt, lässt sich kurz,
wie folgt, zusammenfassen.
Der Boden, auf dem Schulhäuser erbaut werden sollen, darf nicht feucht
und nicht mit organischen Substanzen imprägnirt sein. Das Gebäude selbst
soll aus gutem Material hergestellt und so unterkellert sein, dass der Boden
der ersten Etage 1—1 -50 m über dem Strassenniveau liegt, damit die Wände
nicht feucht bleiben oder feucht werden und damit der Zimmerboden im
Winter nicht zu kalt wird. Die Zimmer sollen bei einer Höhe von 4 — 4-5 m
einen Bodenflächenraum haben, dass auf einen Schüler (Schülerin) 0*75 — 1 m^
kommen. Die Gänge sollen möglichst breit sein; die Thüren so, dass meh-
rere Schüler neben einander eintreten können. Die Fenster sollen breit und
hoch, die Pfeile schmal und nach innen abgeschrägt sein, damit genügend
Licht und zwar von der linken Seite der Schüler her eintreten kann. Die
Böden sollen von solchem Material hergestellt und so beschaffen sein, dass
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 43
674 SCHULHYGIENE.
sie leicht zu reinigen sind und sich kein Schmutz und keine Bacillen in die-
selben versetzen können. Die Wände sollen wo immer möglich mit einer nicht
zu hellen, am besten ins Grünliche schillerndem Oelfarbe angestrichen sein,
damit man sie abwaschen kann, und damit sie dem Auge nicht wehe thun.
Die Aborte sollen, so weit es thunlich ist, in einem besonderen, mit dem
Hauptgebäude durch einen gedeckten Gang verbundenen Räume angebracht
sein. Im Uebrigen soll das Schulhaus möglichst entfernt von der Strasse
und von anderen Gebäuden stehen und von freien Plätzen zum Spielen für
die Kinder während der Unterrichtspausen umgeben sein.
Die Schulzimmer sollen so ventilirbar sein, dass der Kohlensäuregehalt
der Luft in denselben O-P/o nicht bedeutend übersteigt, weil eine solche Luft
geeignet sei, den zarten kindlichen Organismus zu schädigen. Beleuchtet
sollen sie so sein, dass auch die entferntest sitzenden normalsichtigen Schü-
ler eine mittelgrosse Schrift auf der Schultafel lesen können. Die Schulbänke
sollen der Grösse der Schüler angepasst, mit Rücklehnen versehen und so
beschaffen sein, dass sie zum Geradesitzen nöthigen und dass das Gesicht
nicht zu nahe und nicht zu weit von der Tischplatte entfernt ist, weil
anderenfalls durch die Schulbänke Rückgratsverkrümmungen und Kurz-
sichtigkeit entstünden. In Bezug auf die Heizung lässt sich schwer sagen,
welche Art die beste ist. Immer müssen die Heizvorrichtungen gut regulirbar
sein und die Ventilation unterstützen.
Die körperliche und geistige Anstrengung in der Schule soll der In-
dividualität angepasst sein, damit sie keinen Schaden bringe.
Die Krankheiten, welche bei Schulkindern häufig beobachtet werden,
sind Appetitlosigkeit, Verdauungsstörungen, Rückgratsverkrümmungen, Kurz-
sichtigkeit, Hyperämien des Gehirnes, Veitstanz, Epilepsie, Onanie und Krank-
heiten des Respirations- und Circulationssystems. Ausserdem tragen die
Schulen zur Verbreitung von epidemisirenden Krankheiten, namentlich der
Masern, des Scharlachs, der Diphtherie und auch zu der anderer ansteckender
Krankheiten bei.
Wenn man so alles, was über Schulhygiene schon geschrieben worden
ist, durchliest, könnte man bald zu der Meinung verleitet werden, dass eine
Unzahl von Uebeln auf die Schule zurückzuführen seien.
So viel darf aber immerhin angenommen werden, dass, wie auf dem
vielseitigen Gebiete der Hygiene überhaupt, auch in Bezug auf die Schulen
manches übertrieben und manches nicht so klar ist, wie es sein sollte, so
dass man verschiedener Ansicht über die Schädlichkeiten unserer Schulen
sein kann. Ich behandle daher die einzelnen Capitel der Schulhygiene nach
Maassgabe des hiezu verfügbaren Raumes und ganz von dem Standpunkte
aus, den ich nach meinen Beobachtungen und Erfahrungen einnehmen zu
dürfen glaube.
1. Das Schulgebäude. Was die Schulbauten und ihre Räumlich-
keiten betrifft, so ist von vornherein klar, dass man ein Schulhaus nicht in
den Sumpf stellt, dass es ein grosser Vorzug ist, wenn dasselbe von allen
Seiten frei ist, dass seine Räumlichkeiten genügend gross, luftig, hell und
trocken sind, und dass die Zugänge so beschaffen sein müssen, dass sie
bequem und ohne Gefahr zu laufen, passirt werden können. Das sind aber
alles Dinge, die nicht zum geringen Theile von dem Geldbeutel der Gemeinden
und von örtlichen Verhältnissen abhängen. Eine Gemeinde also, die Geld
und Platz genug hat, mag den höchsten Anforderungen der Hygiene genügen
und sich Schulpaläste hinstellen, Gemeinden dagegen, die sich nach der Decke
strecken müssen, werden auf bescheidenere Verhältnisse angewiesen sein,
wenn sie nur im grossen Ganzen genügen.
SCHULHYGIENE. 675
2. Die Luft. Dass die reinste Luft die gesündeste ist, kann mit Sicher-
heit angenommen werden. Dass aber eine Luft, wie sie gewöhnlich in Schulen,
auch in den schlechtest ventilirten, gefunden wird, einen schädlichen Einfluss
auf die zarte Kinderconstitution ausübt, ist mir sehr unwahrscheinlich, weil
die Erfahrung, das Experiment und viele Thatsachen dagegen sprechen, wie
nun hier näher ausgeführt werden soll.
Wenn man Kinder in Bezug auf ihr Alter, ihre Grösse, ihre Glied-
maassen u. s. w. betrachtet, dann kann man erwachsenen, robust gebauten
Individuen gegenüber von einer zarten Kinderconstitution sprechen. Wenn
man aber in Betracht zieht, was Kinder vom Tage ihrer Geburt an oft
alles aushalten und aushalten müssen, dann kann man in dieser Beziehung
von einer zarten Kinderconstitution nicht mehr sprechen. Man hat vielmehr
Veranlassung, auf den Gedanken zu kommen, dass die Natur die zarte Kinder-
constitution so eingerichtet hat, dass sie all den Unbilden, Gewaltthätigkeiten
und Krankheiten, die sie nicht selten zu gewärtigen haben, möglichst lange
widerstehen kann. Wie oft stossen wir nicht bei Kindern auf die mangel-
hafteste Pflege, auf die verkehrteste, naturwidrigste Ernährung und doch
halten sie dieselben oft erstaunlich lange aus oder widerstehen ihnen ganz
und gar, von der sogenannten Engelmacherei und von den brutalen Behand-
lungen zarter Kinderconstitutionen, über die uns die Annalen der Gerichte
Aufschluss geben, gar nicht zu reden. Gegen Krankheiten aller Art ist die
zarte Kinderconstitution zum mindesten eben so widerstandsfähig und oft
noch widerstandsfähiger, als die Constitution Erwachsener. Ich erinnere nur
an die oft Wochen und Monate lang dauernden schweren katarrhalischen
Affectionen der Respirations- und Verdauungsschleimhäute, an die als Kinder-
krankheiten bezeichneten Infectionskrankheiten, an Typhus, Cholerine, Ruhr
u. s. w., alles Krankheiten, von denen Erwachsene nicht selten viel stärker
mitgenommen werden und in verhältnismässig grösserer Zahl daran sterben
als Kinder. Auch operative Eingriffe und sonstige Verletzungen ertragen
Kinder ebenso gut und oft noch besser als Erwachsene. So sieht man
Kinder nicht selten die schwersten Schädelverletzungen ohne jeglichen Nach-
theil ertragen, an denen Erwachsene in der Regel zu Grunde gehen. Ebenso
ertragen Kinder die Unbilden des Wetters, Hitze und Kälte zum min-
desten ebenso gut, wenn nicht besser als Erwachsene. Man braucht nur
ihr Leben und Treiben etwas näher ins Auge zu fassen. Mit dem ersten
Sonnenblicke des Frühlings, ehe der Schnee recht geschmolzen und der Boden
trocken ist, werfen sie Schuhe und Strümpfe von sich und rennen barfuss
«inher. Die Hitze thut ihnen sicherlich nicht so wehe als Erwachsenen.
In rauhen Jahreszeiten sieht man sie nicht selten mit blau erfrorenen Wangen
und Händen auf den Haustreppen, in den Höfen und Strassen sich herum-
treiben. Wo eine Pfütze ist, treten sie hinein und laufen Stunden und Tage
lang mit nassen Füssen herum und bleiben meist gesund dabei. Das sind
alles Gelegenheiten, bei denen Erwachsene ihren Rheumatismus oder Gicht-
anfall oder Nieren-, Lungen- und andere Krankheiten sich zuziehen. Warum
nun die zarte Kinderconstitution gegen die Schulluft, in der sie sich zur
Schulzeit höchstens drei Stunden täglich anhaltend befindet, besonders em-
pfindlich sein soll, ist angesichts dessen schwer einzusehen. Ob die Luft,
wie sie gewöhnlich in Schulen gefunden wird, einen Einfluss auf die Gesund-
heit des Menschen ausübt, erscheint überhaupt sehr zweifelhaft, wenn man
bedenkt, dass die Lehrer, die doch von Kindesbeinen an die Schule be-
suchten und die später die Schulluft länger und in volleren Zügen einathmen,
nicht mehr krank werden und nicht früher sterben als andere Menschen. Es
gibt aber auch sonst Beispiele genug in der Natur, die darauf hinweisen, dass
die Schulluft den schädlichen Einfluss nicht haben kann, den man ihr vielfach
zuschreiben zu dürfen glaubt. Wer je einmal mit den Nestern von Höhlen-
43*
676 SCHULHYGIENE.
brütern, wie von Spechten, Staaren, Wiedehopfen und Eisvögeln in nähere
Berührung gekommen und dabei den Dunst gerochen hat, der denselben
entsteigt, den Unrath, der sich in denselben befindet, gesehen und da-
bei beobachtet hat, wie tadellos sich die jungen Vögel, Thiere also, die in
der reinsten Waldluft zu leben pflegen, entwickeln, dem muss es auffallen,
dass die Gesundheit unter solchen Verhältnissen nicht im mindesten leidet.
Wer ferner einmal dabei war, wenn Füchse, Iltisse oder Marder ausgegraben
wurden und dabei den Gestank empfunden und die vielen halb und ganz ver-
faulten animalischen Reste und dabei die tadellose Entwicklung, Munterkeit
und Wildheit der jungen Thiere gesehen hat, der kann sich des Gedankens
kaum erwehren, dass die in diesen Höhlen befindliche Luft, mit welcher die
Schulluft entfernt nicht verglichen werden kann, nicht so schädlich sein
kann, wie man von vornherein annehmen könnte. Die Kaninchen zählen zu
den gewöhnlichsten Versuchsthieren. Diese haben bekanntlich die Gewohnheit
oder den Naturtrieb, sich tiefe Höhlen in den Boden, auch in den sehr stark
inficirten von Viehställen, zu graben, dort ihre Jungen abzusetzen und dann
die Eingangsöffnung fest zu verstopfen. Ich habe den Kohlensäuregehalt der
Luft in solchen Höhlen bestimmt und dabei solchen bis zu 107o gefunden.
Das habe ich aber nie gefunden, dass die jungen, zarten Thiere darunter
gelitten hätten. Im übrigen wäre es eine der denkbar schlechtesten Ein-
richtungen, welche die Natur hätte schaffen können, wenn sie die Organismen
nicht so eingerichtet hätte, dass sie unvermeidliche Dinge ertragen können.
Man könnte nun vielleicht sagen, dass mit solchen Erörterungen, Beispielen
und Experimenten der Gleichgiltigkeit und Unreinlichkeit das Wort geredet
werde. Darum handelt es sich aber nicht. Bei der hygienischen Forschung
handelt es sich um Klarheit und Wahrheit und darum, ob man berechtigt
ist, unsere Schulen als die reinsten Mord- und Pestgruben zu bezeichnen, wie
dies verschiedentlich schon geschehen ist. Dazu eignet sich, meines Erachtens,
nichts besser, als Thatsachen und Erfahrungen, die jeder jeden Tag sehen,
beziehungsweise machen kann.
3. Die Sitzbänke. Schlechte, der Individualität nicht angepasste
Schulbänke erzeugen Rückgratsverkrümmungen und Kurzsichtigkeit — ist in
allen Schriften über Schulhygiene zu lesen. Da erstere mehr bei Mäd-
chen als bei Knaben vorkommen, so hat man auch das Sitzen auf den beim
Hineingehen in die Bank sich zusammenschiebenden Röcken beschuldigt,
weil dadurch eine Schiefstellung des Beckens und eine Verbiegung der Wir-
belsäule bedingt sei.
Ich habe nun schon viele Hunderte von Schulbänken der verschieden-
sten Construction und entsprechend mehr Schulkinder in meinem Leben
gesehen, bin selbst jahrelang als Lehrer in der Schule gestanden und habe,
als ich mich später besonders um die Schulhygiene interessirte, die Kinder
vieler Schulen mit der Uhr in der Hand beobachtet, um ganz sicher zu
wissen, wie sie sitzen, wie lange sie ruhig sitzen bleiben oder ruhig sitzen
bleiben können. Dabei habe ich die Erfahrung gemacht, dass weitaus die
meisten Kinder kaum einige Minuten ruhig sitzen bleiben. Dass Mädchen
auf ihre zu einem Wulste zusammengeschobenen Röcke sich setzen oder sitzen
bleiben, habe ich nie gesehen. Ich habe im Gegentheil immer gesehen, dass
sie gleichsam instinctmässig ihre Röcke glatt ziehen oder streichen, ehe sie
sich niedersetzen. Meinen diesbezüglichen Beobachtungen und Erfahrungen
zufolge habe ich die Ueberzeugung gewonnen, dass man mit einer Schul-
bank, sie mag so schlecht sein als sie will, bleibende Rückgratsverkrümmungen
nicht machen und dass man solche, wo sie entstehen wollen, mit der besten
Schulbank auch nicht verhüten kann. Die Ursache der Rückgratsverkrüm-
mungen liegt nicht in den Schulbänken, sie liegt in der Constitution der
betreffenden Individuen. Das geht schon daraus hervor, dass bei Kindern,
SCHULHYGIENE. 677
die ein und dieselbe Schulbank benützen, Kückgratsverkrümmungen, auch die
sogenannten habituellen, nur vereinzelt vorkommen, und dass wir bei den-
selben durch Correctionsmittel, die viel nachhaltiger und viel einschneidender
wirken als die Schulbänke, meist nur wenig oder gar nichts ausrichten. Von
den Tausenden von Schulkindern, die ich im Verlaufe der Jahre sah, unter-
suchte und beobachtete, gehörten fast alle, bei denen ich eine schwache oder
starke, eine vorübergehende oder bleibende Skoliose constatiren konnte, tuber-
kulösen Familien an, und bei den wenigen Fällen, wo sich dies nicht direct
nachweisen Hess, ergaben sich stets Momente, die auf eine Depravation der
Säfte schliessen Hessen oder bei denen sich eine schwächliche Constitution
auf vorausgegangene Krankheiten zurückführen Hess. Zur Stütze der Theorie,
dass durch das Sitzen in schlechten Schulbänken schliesslich Kückgrats-
verkrümmungen entstehen können, hat man sich auf die diesbezügliche Er-
scheinung bei Lastträgern berufen. Das ist nun aber etwas ganz anderes,
wenn jemand tagtäglich und jahraus, jahrein centnerschwere Lasten auf ein
und derselben Schulter trägt und die dazu nöthige Haltung mit der Zeit
habituell wird, als wenn ein Kind während der Schreibstunde fünf Minuten
lang eine Haltung einnimmt, die eine Verbiegung der Wirbelsäule bedingt.
Denn länger als fünf Minuten verharren Kinder in der Schule kaum in einer
schiefen Haltung. Immer corrigiren sie dieselbe wieder. Davon kann sich
jeder überzeugen, der sich die Mühe nimmt, Kinder in der Schule zu beob-
achten. Es ist das auch ganz natürlich. Wenn aber hie und da ein Kind —
die Zahl solcher ist ja sehr gering — permanent sich schief hält, so darf
man sicher annehmen, dass dies nicht lediglich aus schlechter Gewohnheit
geschieht, sondern dass ein tiefer liegender Grund dazu vorhanden ist. Im
Uebrigen braucht man ja nur auf das Land zu gehen und zu beobachten,
zu welchen Arbeiten schulpflichtige Kinder benützt werden, und welche
Haltungen sie dabei unverhältnismässig länger einnehmen müssen, als dies
in der Schule überhaupt möglich ist. Nach meinen Erfahrungen kann ich
daher die Ansicht nicht theilen, dass Schulbänke bleibende Rückgratsver-
krümmungen erzeugen oder dass sie solchen vorbeugen können. Bleibende
Kückgratsverkrümmungen- habe ich immer nur bei solchen Kindern gefunden,
die tuberkulösen Familien angehörten.
Damit will ich natürlich nicht sagen, dass es ganz einerlei ist, welche
Schulbänke verw^endet werden. So viel will ich nur sagen, dass man auch
in dieser Beziehung viel zu viel theoretisirt, generalisirt und der Erfahrung
viel zu wenig Rechnung trägt, was meines Erachtens ein grosser Fehler
ist, an dem die hygienische Forschung nicht selten leidet.
4. Die Beleuchtung in den Schulen. Darüber liegen zahlreiche exakte
Untersuchungen von den berühmtesten Augenärzten unserer Zeit vor. Die
Ansicht aber, dass die immer mehr überhand nehmende Kurzsichtigkeit unter
der Schuljugend vorzugsweise auf schlechte Beleuchtung von Schulen zurück-
zuführen sei, kann ich nicht theilen. Ich habe im Verlaufe der Jahre gele-
gentlich meiner sonstigen hygienischen Untersuchungen und Nachforschungen
tausende von Schülern gesehen und beobachtet und dabei gefunden, dass die
Zahl der Kurzsichtigen in Stadtschulen, auch in den bestbeleuchteten viel
grösser ist, als in Landschulen, deren Beleuchtung manches zu wünschen
übrig lässt. Ich glaube daher diesen Unterschied im Sehvermögen mehr in
folgenden Dingen suchen zu dürfen. Die Städte sind der Sitz von Beamten,
deren Augen nicht selten infolge ihrer Studien und Beschäftigung kurzsichtig
geworden sind und diese erworbene Eigenschaft scheint meiner Beobachtung
und Erfahrung nach vererbbar zu sein. Das widerspricht zwar der auf das
Experiment gestützten Ansicht, dass erworbene Eigenschaften nicht vererbbar
seien. Genau betrachtet ist dieser Widerspruch jedoch nur ein scheinbarer.
678 SCHULHYGIENE.
Ein zweiter beachtenswerter Umstand, der sich bei Stadtkindern zur
Geltung bringt, ist der, dass sie von frühester Jugend an gewöhnt sind oder
gewöhnt werden, ihre Augen mehr in die Nähe zu gebrauchen. Von ihren
Wohnungen aus können sie meist nur bis zu den gegenüberliegenden Häusern
sehen. Auf der Strasse müssen sie schön acht geben, dass sie nicht in eine
Pfütze treten, oder über die Bordsteine des Trottoirs hinunterfallen oder dass
sie nicht überrannt oder tiberfahren werden. Ausserdem befindet sich in
ihrer nächsten Nähe immer so viel Sehenswertes, dass sie selten veranlasst
sind, ihr Auge auch in die Ferne schweifen zu lassen. Der Sonntagsspazier-
gang, den sie zuweilen mitmachen dürfen, genügt nicht, um das zu corrigiren,
was sie während der Woche in Bezug auf ihre Augen vernachlässigt und
verdorben haben.
Das Schlimmste bei der Sache scheint mir aber das zu sein, dass Kinder
von Stadtleuten oft schon vor dem schulpflichtigen Alter zum Lesen ucd
Schreiben oder zu Beschäftigungen und Spielereien angehalten werden, wobei
sie nach Kinderart die Nase sozusagen immer möglichst nahe bei dem Gegen-
stande ihrer Beschäftigung haben. Es ist dies ein Uebelstand der Klein-
kinderschulen, der sich kaum vermeiden lässt. Wie wollte auch jemand mit
einer Schaar Kinder fertig werden, ohne sie zum Stillsitzen zu veranlassen
und ohne sie in der gedachten Weise zu beschäftigen?
Kommen die Stadtkinder in die Schule, so sollen sie möglichst rasch
lesen und schreiben und noch so manches andere lernen, was zum nahen
Sehen veranlasst. Viele fangen alsbald an, Erzählungen und dergleichen zu
lesen und so fort und fort ihre Augen anzustrengen. Da kann es doch nicht
wundernehmen, wenn das Auge allmählig in der Accommodation für die Nähe
verharrt.
Ganz anders verhält sich das alles Bei Kindern auf dem Lande. Sie
stammen durchweg von Eltern, die nicht kurzsichtig sind. Sie sind von
Jugend auf veranlasst und gewöhnt, ihre Augen auch in die Ferne schweifen
zu lassen. Es interessirt sie, was auf diesem oder jenem Baume, was am
Ende eines Ackers oder einer Wiese ist und vor sich geht. Kleinkinder-
schulen gibt es in der Regel nicht. Es fällt keinem Menschen ein, sie vor
dem schulpflichtigen Alter lesen oder schreiben zu lehren und auch die Schule
stellt in der Folge geringere Anforderungen an sie u. s. w.; das ist ofi"enbar
die Ursache davon, dass die Augen der auf dem Lande aufwachsenden Kinder
trotz der oft mangelhaft beleuchteten Schulen normalsichtig bleiben. Ich
wenigstens habe unter den vielen Landschulkindern, die ich gesehen und
unter anderem auch auf ihr Sehvermögen geprüft habe, höchst selten eines
gefunden, das kurzsichtig war, und wo ich eines gefunden habe, so war es
ein Kind, das überhaupt nicht normal war oder das von Eltern stammte, von
denen der eine oder andere Theil kurzsichtig ist oder war. Rechnet man
dazu die schlechte Beleuchtung, bei welcher die Landbevölkerung ihre son-
stigen, das Sehvermögen besonders in Anspruch nehmenden Arbeiten ver-
richtet und endlich auch noch, dass die Kinder in der Schule nicht immer
lesen und schreiben, dann wird man den Ausspruch, dass schlecht beleuchtete
Schulen Kurzsichtigkeit erzeugen, wenigstens dahin modificiren müssen, dass
zu der Veranlagung zur Kurzsichtigkeit und zu dem vorwiegenden Sehen in
die Nähe nicht auch noch eine schlechte Beleuchtung kommen darf.
Im Uebrigen habe ich schon oft darüber nachgedacht, dass viele
Menschen, die viel lesen, schreiben und die feinsten Zeichnungen ausführen,
und zwar nicht selten bei einer recht spärlichen Beleuchtung, trotzdem nicht
kurzsichtig werden. Ich kenne sehr viele solche Leute und weiss das auch
von mir selbst. Ich habe von Jugend auf viel gelesen und viel geschrieben,
und zwar viele Jahre lang bei einer Beleuchtung, die man nach unseren
SCHULHYGIENE. 679
heutigen Begriffen als eine höchst mangelhafte bezeichnen müsste, und trotz-
dem hat mein Sehvermögen bis über mein fünfzigstes Jahr hinaus auch nicht
die geringste Veränderung erlitten. Erst von da ab musste ich mich beim
Lesen und Schreiben einer Brille bedienen, aber nicht etwa, weil ich kurz-
sichtig, sondern weil ich weitsichtig geworden bin, wie meine beiden Eltern.
5. Körperliche und geistige Ueberanstrengung. Bei ober-
riächlicher Betrachtung könnte mau leicht zu der Ansicht verleitet werden,
dass von einer körperlichen Anstrengung durch die Schule nicht die Rede
sein kann. Wenn man aber alles in Betracht zieht, was die Schule mit sich
bringt, dann stösst man doch auf manche Dinge, die geeignet sind, das körper-
liche Wohl mancher Kindern direct zu schädigen. Von dem Umstände, dass
manche schwächliche oder kränkliche Kinder schon durch längeres Sitzen
oder Stehen oder einzelne Turnübungen übermässig müde Averden, Kopfweh
bekommen u. s. w. will ich ganz absehen, w^eil solche Kinder eigentlich von
vornherein besser zu Hause blieben, bis sie kräftiger und gesünder sind. Da-
gegen soll hier einmal etwas näher auf die jetzt vielfach herrschende Sitte
oder Unsitte eingegangen ^verden, nach der auch von Kindern des ersten
Schuljahres schon verlangt wird, dass sie in den Sommermonaten des Morgens
um sieben Uhr in der Schule erscheinen und dann bis zwölf Uhr oder noch
länger aushalten.
Wer nun weiss, welches Treiben und Hetzen es jeden Morgen absetzt,
bis manche Kinder vom tiefsten Schlafe aufgerüttelt aus dem Bette kommen,
bis sie gewaschen und angekleidet sind, bis ihnen ihr Frühstück aufgezwungen
ist u. s. w., der wird nicht behaupten wollen, dass dadurch das körperliche
Wohl nicht geschädigt wird. Kommt dazu noch, dass Kinder weit in die
Schule haben und sich infolge dessen eilen müssen, dann passirt es nicht
selten, dass sie schweisstriefend in der Schule ankommen. Geschieht dies
ferner zu einer Zeit, wo es bereits zu warm ist zum Einheizen, aber doch
noch nicht warm genug ist, um mit schwitzendem Körper still zu sitzen,
ohne eine Erkältung zu riskiren, dann ist das für manche Kinder eine ge-
fährliche Sache. Ich könnte hier viele Beispiele anführen, wo Kinder durch
diese allmorgendliche Hetze sehr an ihrer Gesundheit geschädigt wurden
und wo sie sich durch das plötzliche Stillesitzen mit schwitzendem Körper
in einem kalten Schullocale schwere langAvierige und sogar tödtliche Krank-
heiten zugezogen haben.
Für nicht minder bedenklich halte ich die Verlegung des Unterrichts auf
die Vormittagsstunden, beziehungsweise von acht bis ein Uhr. Es involvirt
dies trotz aller Pausen eine zu grosse körperliche und geistige Anstrengung
und auch einen pädagogischen Fehler. Eine solche Einrichtung kann der
körperlichen und geistigen Entwickelung nicht förderlich sein. Denn viele
Kinder können, unmittelbar aus dem tiefsten Schlafe aufgeweckt, gar nicht
oder nur spärlich essen, gehen also nüchtern oder mangelhaft mit Nahrung
versorgt in die Schule und bringen nicht selten auch das, was sie mitgenommen
haben, wieder nach Hause und essen dann erst nicht recht beim Mittagstisch,
weil ihnen eben durch das frühe Aufstöbern und die Schulsorgen der Appetit
für den ganzen Tag verdorben ist.
Der pädagogische Fehler ist durch die bei dem ununterbrochenen fünf-
stündigen Unterrichte nothwendigen Pausen bedingt. Die zerstreuende
Wirkung der letzteren macht sich tief in die folgende Stunde hinein geltend.
Die Gründe, welche für die gedachte Unterrichtsverlegung angeführt
werden, sind ziemlich fadenscheiniger Natur. Bei weitem nicht alle jüngeren
Schüler sind in der Lage die freien Nachmittage unter Aufsicht im Freien
zubringen zu können und diejenigen, welche ohne Aufsicht gelassen werden,
missbrauchen nicht selten die freie Zeit, toben sich ab und kommen dann
680 SCHULHYGIENE.
müde und nicht mehr zum Lernen aufgelegt nach Hause. Dass ältere Schü-
ler die freien Nachmittage oft zu allem, nur nicht zu Privatstudien benützen,
ist zu bekannt und ich möchte beinahe sagen zu natürlich, als dass viele
Worte darüber zu verlieren wären.
Der weitere Grund, dass es im Sommer des Nachmittags zu heiss zum
Schulehalten und zum Lernen sei, und dass im Winter die Dunkelheit zu
frühe eintrete, lässt sich ebensowenig rechtfertigen. Wenn die männliche
Jugend später ihrer Militärpflicht genügt, wird nicht darnach gefragt, ob es
kalt oder warm oder ob es feucht oder trocken ist. Es wird eben das aus-
geführt, was die militärische Schulung und was der militärische Dienst ver-
langt, und das wird dann so verwöhnten jungen Leuten um so härter und
drückender vorkommen.
Und wenn später z. B. ein Beamter, oder wer es sonst sein mag, sagen
wollte, ich gehe heute nicht auf mein Bureau oder zu meinem ßerufs-
geschäft, weil es zu warm oder zu kalt ist, oder weil es regnet oder schneit,
oder weil es zu trüb oder zu dunkel ist, so müsste das doch die grössten
Unzuträglichkeiten nach sich ziehen.
Man führt ferner an, dass es für entfernter wohnende Schüler bequemer
sei, wenn sie den Weg zur Schule nicht zweimal machen müssen. Gerade
als ob eine 5 — 6stündige Hetze weniger schädlich wäre, als ein halbstündiger
Weg zur Schule. Im Uebrigen lässt es sich vom hygienischen Standpunkte
aus nicht rechtfertigen, dass man jemanden zuerst recht abhetzt und ihm
dann gestattet wieder auszuruhen. Die Gesundheitspflege verlangt, dass
Uebung, Anstrengung und Ruhe in geeigneter Weise mit einander ab-
wechseln, und von der Schule kann und muss man verlangen, dass Schul-
zeit und Unterricht so eingerichtet sind, dass auch schwächliche und min-
der begabte Schüler an ihrer gesundheitlichen Entwicklung nicht geschädigt
und dass die Schüler überhaupt an ein regelmässiges Arbeiten gewöhnt
werden. Man hört jetzt viel über Nervosität des heutigen Menschengeschlechtes
reden, und es ist wahr, der Kampf ums Dasein macht die Menschen nervös.
Nicht wenig tragen dazu, darüber kann kein Zweifel sein, auch unsere Schulen
namentlich deswegen bei, weil die Anforderungen vielfach bis zum Extrem
gesteigert werden. Heute soll ein Kind, gleichgiltig, ob mangelhaft oder
normal entwickelt, ob schwach oder gut begabt, im ersten Schuljahr schon
fertig lesen und schreiben lernen, das Gedächtnisvermögen wird übermässig
angestrengt, die Kinder sollen rasch denken und schlagfertig antworten
lernen, und bei einer solchen Hetze ist es doch nicht zum Verwundern,
wenn junge Leute, aus denen man bei massigeren Anforderungen und mehr
Ruhe noch etwas hätte machen können, in den ersten paar Jahren schon
nicht mehr mitkommen und geistig verkrüppeln, nervös werden, und wenn
sich infolge eines so frühzeitig ruinirten Nervensystems alle möglichen Uebel
und Untugenden einstellen, die dem Menschen das Leben für alle Zukunft
verbittern. Nervöses Kopfweh, Schwindel, nervöses Herzklopfen, nervöse Ver-
dauungsstörungen, Ueberreizung der Sexualorgane, geistige Impotenz und
noch eine ganze Menge anderer nervöser Uebel lassen sich nicht selten
auf die geistige Ueberanstrengung und auf die Hetze in unseren modernen
Schulen zurückführen. Dafür könnte ich eine Reihe der schlagendsten Bei-
spiele allein aus meiner eigenen Erfahrung hier anführen. Dem gegenüber,
was in dieser Beziehung an unserer Jugend gesündigt wird, erscheint das,
was man Luft, Licht und Sitzbänken in den Schulen zuschreiben zu dürfen
glaubt oder thatsächlich zuschreiben kann, als etwas ganz Nebensächliches.
Wenn unsere Schulen den Anforderungen genügen sollen, die vom
hygienischen Standpunkte an sie gestellt werden müssen, so muss vor allem
verlangt werden, dass neben reiner Luft, genügender Beleuchtung und der
SCHUTZIMPFUNG. 681
Grösse der Schüler aiigepassten Sitzbänken die Anforderungen geringer ge-
stellt, dass die Unterrichtsstunden in geeigneter Weise auf Vor- und Nach-
mittag vertheilt werden und dass namentlich die geistige Hetze aufhört, der
wir in so manchen Schulen begegnen.
Zur Besserung in dieser Beziehung trüge wesentlich bei, wenn man
den obligatorischen Schulbesuch nicht vom Alter, sondern von der körperlichen
und geistigen Entwicklung der einzelnen Kinder abhängig machte, und wenn man
die Schüler nach ihrer geistigen Veranlagung und nach ihrem Fassungs-
vermögen in verschiedene Classen eintheilen würde. Dadurch könnte vielen
Missständen vorgebeugt werden, mit denen das Lehrpersonel zu kämpfen hat,
und mancher Schüler, der bei der jetzigen Einrichtung unserer Schulen und
unserer Unterrichtsmethode zurückbleibt und geistig verkümmert, könnte bei
einem seiner Veranlagung entsprechenden Vorgehen noch etwas Tüchtiges
werden. Der eine entwickelt sich eben rascher und der andere langsamer,
der eine fasst rascher auf, was dem andern Mühe macht, und w^erden die-
jenigen, welche rascher auliassen, wie die Erfahrung lehrt, nicht immer
die geschicktesten und brauchbarsten Beamten, Lehrer u. s. w. Man kann
sich in dieser Beziehung sehr täuschen.
Was die Schulen als Verbreiterinnen von ansteckenden Krankheiten be-
trifft, so verhalten sie sich in dieser Beziehung ganz ähnlich, wie alle Ver-
sammlungslocale und Versammlungsorte. In der Regel sind schon zu viele
Individuen angesteckt, ehe wir die betreffende Krankheit constatiren, daher
oft die Schwierigkeit, rechtzeitig die entsprechenden Vorsichtsmaassregeln
zu treffen. a. eiffel.
SCnUtZimpfuny. I. Bedeutung der Schutzimpfungen im Allgemeinen.
Sowohl ganze Thiergattungen zeigen sich häufig unfähig, durch einen Mikro-
organismus oder ein Gift krank gemacht zu werden, wie auch derartige
Unempfindlichkeit bei einzelnen Individuen einer sonst empfindlichen Gattung
vorkommt. Diese Unempfindlichkeit oder Unempfänglichkeit einem Gift oder
einer Krankheit gegenüber bezeichnet man als Immunität (s. d.). Dieselbe
kann eine natürliche angeborene sein, me z. B. die Immunität des Igels
gegen Schlangengift oder des Hundes gegen Milzbrand, sie kann aber auch
eine erworbene sein. Erworben kann sie werden durch eine einmalige Infec-
tion, oder sie kann auf künstliche Weise hervorgerufen werden durch eine
Schutzimpfung oder Angewöhnung an ein Gift. Diese Fähigkeit, immun zu
werden, ist nicht eine ausschliessliche Eigenthümlichkeit höher stehender
Organismen, sondern man findet dieselbe schon unter den niedersten einzel-
ligen Lebewesen. Es gelingt, Bacterien in solchen Salzlösungen und Desin-
fectionslösungen durch allmähliche Gewöhnung an diese Noxen zu züchten, in
denen ohne Vorbehandlung die Mikroorganismen sicher abgetödtet w^erden,
d. h. es gelingt, Bacterien zu immunisiren.
Von besonderer Bedeutung für die Praxis ist ausschliesslich die gegen
Mikroorganismen und Infectionskrankheiten zu erwerbende Immunität, und
hat diese den Anlass zu zahlreichen, mehr oder weniger gut gelingenden
Schutzimpfungen gegeben.
Immunität bei einem Infectionskranken zu erzielen, ist unbewusst oder
bewusst das Ziel aller Heilversuche, denn jede Heilung bedeutet hier, dass
eine Immunität eingetreten ist, die den Organismus befähigt hat, mit dem
eingedrungenen Mikroorganismus fertig zu werden. Die Bedeutung, die ein
solcher Sieg des Organismus über einen Krankheitserreger für die Zukunft
dieses Individuums in Bezug auf seine Widerstandsfähigkeit gegen eine noch-
malige Infection hat, ist jedoch eine sehr verschiedene. Sie hängt davon ab,
ob die Schutzstoffe, die Antikörper, welche die erste Infection besiegt hatten,
682 SCHUTZIMPFUNG.
in einer so grossen Menge producirt worden sind, dass ein nennenswerter
Ueberschuss im Körper zurückbleibt, und diese nun erst nach mehr oder we-
niger langer Zeit verschwinden. Ist kein solcher Ueberschuss vorhanden, son-
dern hat die gebildete Menge von Antikörpern nur gerade ausgereicht, die
Krankheit zur Heilung zu bringen, so steht das erkrankt gewesene Individuum
einer neuen Infection gerade so gegenüber, wie ein noch nie inficirtes, ja ist
häufig sogar noch empfindlicher geworden. Ein derartiges Verhalten findet
sich z. B. bei der Pneumonie und der Gonorrhoe.
Der andere Fall, Schutz gegen eine neue Infection durch einmaliges
Ueberstehen der Krankheit, tritt bekannterraaassen ein bei Scharlach, Masern
und Pocken. Diese alte Erfahrung hat nun auch zu den ersten Schutz-
impfungen geführt. Man brachte und bringt noch heutzutage bei auffallend
leichten Masern- und Scharlachepidemien, besonders bei den Masern, gesunde
Kinder mit kranken in Berührung, in der Hoffnung, dass sie sich inficiren
und eine leichte Erkrankung durchmachen werden, die sie in einer schweren
Epidemie gegen Neuansteckung schützt. Dass die Individualität eine sehr
grosse Rolle bei der Immunität spielt, zeigt sich übrigens trefflich bei diesen
Versuchen. Einmal kommt es vor, dass trotz innigster Berührung die ge-
wünschte Infection nicht eintritt, es besteht eine angeborene Immunität, dann
sieht man, dass schon nach wenigen Jahren derartig schutzgeimpfte Kinder
zum zweiten Mal an derselben Infection erkranken, so dass ihre erworbene
Immunität nur eine sehr geringe, nicht den Erwartungen entsprechende war.
Aehnliche Versuche sind im vorigen Jahrhundert in Deutschland und
schon seit alter Zeit in Indien und China mit den Pocken gemacht worden.
Die als Variolation bezeichnete Schutzimpfung bestand im Einimpfen von
Pockenvirus in die Haut. Der Geimpfte erkrankt an den Pocken, jedoch
treten diese dann in einer milden Form auf. Diese Art der Pockenschutz-
impfung ist in Europa jedoch bald verlassen worden. Die Gefahr für das
geimpfte Individuum ist eine recht erhebliche (von 300 Geimpften stirbt einer),
und vor allem wird durch die Variolation die Ausbreitung der Pocken ge-
fördert. Noch viel schlechtere Erfahrungen sind mit cutanen Einimpfungen
des Syphiliscontagiums (Syphilisation) gemacht worden.
Weit zweckmässiger als derartige Schutzimpfungen mit vollvirulentem
Material, das bei den geimpften Personen nur deshalb meist nicht die
schwerste Form der Krankheit erzeugte, weil es nicht an den günstigsten
Eingangspforten in den Organismus gelangt, sind Schutzimpfungen zwar mit
lebendem, aber künstlich abgeschwächtem Virus. Es ist ein grosses Verdienst
Pasteur's, bewiesen zu haben, dass durch begrenzte Einwirkung schädigender
Einflüsse auf Krankheitserreger diese so verändert und abgeschwächt werden
können, dass sie höchstens eine leichte Erkrankung, sicher aber Immunität
gegen den vollvirulenten Krankheitserreger hervorrufen. Seine Experimente
betrafen die Hühnercholera, den Rauschbrand, den Milzbrand, den Schweine-
rothlauf und vor allem die Hundswuth. Während die ersteren Methoden, be-
sonders die Schutzimpfungen gegen Milzbrand und Schweinerothlauf mit abge-
schwächten Vaccins, die in meist zweifacher Folge gegeben werden sollten^
sich doch nicht ganz bewährten, und die Frage der künstlichen Erzeugung
einer Immunität gegen Milzbrand und Schweinerothlauf auch heute noch nicht
den Anforderungen der Praxis entsprechend gelöst ist, ist die Methode der
Hundswuthschutzimpfung unverändert und bewährt geblieben, seitdem im^
October 1885 Pasteur der Akademie der Wissenschaften zu Paris seine ersten
Mittheilungen gemacht hatte. Wenn dieselbe auch mehr als ein Heilmittel
denn ein Schutzmittel erscheint, da sie erst nach dem Biss angewandt wird,
so ist dieselbe thatsächlich doch eine regelrechte Schutzimpfung. Die Erfolge
derselben nach dem Biss beruhen ausschliesslich darauf, dass die Incubations-
SCHUTZIMPFUNG. 683
zeit der Wuth beim Menschen zum Glück meist eine so lange ist, dass noch
nach dem Biss eine immunisirende Schutzimpfung Zweck und auch meist den
gewünschten Erfolg hat.
Zur Impfung wird ausschliesslich Rückenmark von an Virus fixe gestorbenen Kaninchen
verwandt. Virus fixe erhält man, wenn von ursprünglicher Strassenwuth auf Kaninchen
subdural übergeimpft und weitergezüchtet wird. Diese Weiterimpfungen verändern in der
26. bis 30. Generation das Virus der Strassenwuth derart, dass die anfangs schwankende,
meist 2 bis 3 Wochen betragende Incubationszeit auf constant 5 bis 6 Tage herabsinkt. Von
an Virus fixe gestoibenen Kaninchen wird das Rückenmark herauspräparirt und in kleinen
Stückchen in Glasgefässen, deren Boden mit Kalistückchen aufgeschüttet ist, suspendirt.
In diesen Gelassen lässt man bei 20" C die Markstückchen trocknen. Je länger der
Trocknungsprocess dauert, um so mehr sinkt die Virulenz. 14 Tage getrocknetes Mark
ist völlig avirulent. Mit 14tägigem Mark beginnend bis zu 3tägigem fast voll virulentem
Mark heruntergehend, werden die Schutzimpfungen durch subcutane Injection von emul-
sionirten Markstückchen ausgeführt.
Durch diese Methode gelingt es, selbstverständlich auch experimentell
gegen nachfolgende Impfung mit virulentem Material zu immunisiren. Die
Erfolge sind überall glänzende gewesen, und hat sich allmählich kein Cultur-
staat der Errichtung von Instituten, in denen diese Schutzimpfungen ausgeführt
werden, entziehen können.
Wie es auf diese Weise gelingt, durch äussere Eingriffe die Virulenz
specifischer Mikroorganismen zu verändern und abzuschwächen und dann mit
dem veränderten und abgeschwächten Virus Immunität gegen die vollvirulente
Form des Mikroorganismus zu erzeugen, so gelingt diese Abschwächung von
Mikroorganismen auch durch Thierpassagen. Das beste Beispiel hiefür ist
die jENNfiR'sche Schutzpockenimpfung mit dem Inhalt der Kuhpocke. Es ist
der sichere experimentelle Nachweis geführt, dass durch Uebertragen von
echtem Pockenvirus auf Kühe und Kälber bei diesen die sogenannten Kuh-
pocken erzeugt werden können. Rückimpfungen auf Menschen haben stets das
Auftreten von localen Impfpusteln bewirkt. Diese haben wiederum Schutz
gewährt gegen das Contagium der echten Pocken. Die ausführliche Be-
sprechung der Schutzpockenimpfung wird im IL Abschnitt dieses Artikels ge-
schehen.
Von eminent praktischer Bedeutung haben sich schon bewährt und
werden sich voraussichtlich, allgemeiner durchgeführt, noch mehr bewähren
die Schutzimpfungen mit abgetödteten Bacterien. Während in allen bisher
besprochenen Impfverfahren es sich stets um Einverleibung von lebenden
Mikroorganismen in den Körper des zu Impfenden gehandelt hatte, kommen
wir mit diesem Abschnitt zu Impfungen, die ausschliesslich mit todtem Material
ausgeführt werden. Ehe diese Methoden besprochen werden, scheint es noth-
wendig, noch eine kleine Abschweifung zu den Theorien und den verschiedenen
Arten der Immunität zu machen.
Abgesehen von den bereits oben erwähnten zwei Arten der Immunität,
der angeborenen natürlichen und der erworbenen, müssen wir noch vier weitere
Unterarten der Immunität unterscheiden, nämlich erstens die Giftimmunität,
zweitens die Immunität gegen den lebenden Erreger und ferner in Bezug auf
die Art der Erzeugung der künstlichen Immunität eine active und passive
Immunität. Ein Individuum ist activ immunisirt, wenn dasselbe infolge ge-
eigneter Vorbehandlung Antikörper activ in seinem Organismus gebildet hat.
Unter passiver Immunität versteht man denjenigen Schutz eines Organismus
gegenüber Gift oder Bacterien, der durch die Einverleibung eines Serums
eines activ immunisirten Organismus erreicht wird. Die erzielte Immunität
kann nun den immunen Organismus entweder gegen das specifische Gift oder
gegen den lebenden specifischen Mikroorganismus schützen, und fällt ein Schutz
gegen beides durchaus nicht immer zusammen. Mit einer Immunität, welche
zwar Schutz verleiht gegen einen lebenden Mikroorganismus, aber dessen Gift,
i
684 SCHUTZIMPFUNG.
sei es ein Gift, das der Mikroorganismus producirt und secernirt, sei es ein
Gift, das ein Bestandtheil seiner Leibessubstanz ist und demgemäss erst bei
seinem Zugrundegehen frei wird, nicht tangirt, mit einer derartigen Immuni-
tät wird wohl ein Schutz erzielt werden können vor der Infection, aber nie-
mals eine Heilung nach stattgefundener und diagnosticirter Infection mehr
möglich sein. Eine solche, dem Serum des immunisirten Körpers bactericide
Eigenschaften verleihende Immunität wird erzielt durch die Schutzimpfungen
gegen Cholera, Typhus und Pest. Bei allen drei Schutzimpfungen handelt es
sich um das Einverleiben von abgetödteten Bacterienleibern, d. h. um das
Einverleiben von Bacteriengii'ten.
Diese Schutzimpfungen gründen sich auf die Untersuchungen von R. Pfeiffer und
R. Pfeiffer und Kolle, die für Typhus und Cholera gezeigt haben, dass schon wenige Milli-
gramm abgetödteterBacteriencultur, mit Bouillon emulsionirt und subcutan applicirt, vollstän-
dig genügen, um einen hohen specifischen Schutzwert des Serums hervorzurufen. Nach der
Schutzimpfung treten Temperaturerhöhungen zunächst ein, die 2 bis 3 Tage anzuhalten
pflegen, dann kommt es zum Auftreten von Antikörpern im Blut und charakterisirt sich
nun das schutzgeimpfte Individuum als ein sicher immunisirtes. Es befindet sich genau in
demselben Zustand, wie ein Individuum, welches diese Krankheiten überstanden hat. Die
Blutuntersuchung eines solchen geimpften Individuums ergibt demgemäss, dass das Serum
zunächst imstande ist, in einer bis in die Bruchtheile von Milligrammen meist reichenden
Verdünnung im Peritoneum des Meerschweinchens die specifischen Bacterien in einer
Dosis, die das vielfache Multiplum der tödtlichen Minimaldosis ist, zur schnellen Auflösung
und die Infection damit zur Heilung zu bringen. Ferner zeigt das Serum derartig behan-
delter Menschen auch die Eeagenzglaswirkung des Immunserums, d. h, es ist imstande, in
vitro Vibrionen oder Bacterien zu agglutiniren und zu lähmen.
Diese eben besprochenen Schutzimpfungen gegen Cholera und Typhus
sind von hervorragender Bedeutung für unsere Kenntnis von dem Wesen der
Immunität und demgemäss von dem Wesen der Schutzimpfungen gewesen.
Wir sind wohl berechtigt, aus der Erkenntnis des geheimnisvollen Vorganges
des Entstehens einer Immunität nach einer Schutzimpfung, die wir aus diesen
Beispielen schöpfen können und geschöpft haben, Schlüsse auf das Zustande-
kommen der Immunität nach Schutzimpfungen mit unbekannten Mikroorga-
nismen zu ziehen, wie es besonders die Schutzpockenimpfung ist. Wenn auch
die Pockenimmunität durch Impfen mit abgeschwächtem lebendem Material und
die besprochene Cholera- und Typhusimmunität durch Impfen mit todtem
Material erzeugt wird, so ist dieser Unterschied nicht erheblich, denn man
kann auch, wie es die Natur thut, mit lebendem, virulentem oder abge-
schwächtem Material gegen jene beiden Krankheiten schützen. Wir sind be-
rechtigt, aus den Forschungen über Cholera- und Typhusimmunität besonders
den Schluss zu ziehen, dass nach jeder Schutzimpfung infolge des Keizes des
injicirten lebenden oder todten Virus bestimmte Zellgruppen, und zwar in den
blutbildenden Organen, Milz, Knochenmark und Lymphdrüsen, erregt werden.
Dieselben produciren dann als Keaction auf den specifischen Reiz specifische
Stoffe, die Antikörper, welche, in genügender Menge vorhanden, zur Heilung
führen. Um noch einmal zusammenzufassen, sind diese Antikörper entweder
rein bactericider Art, wie die der Cholera, des Typhus und wahrscheinlich
der Pest, oder sie sind antitoxische Antikörper, wie die der Diphtherie und des
Tetanus. Wie sie sich bei den übrigen Krankheiten verhalten, bei denen wir
Schutzimpfungen ausführen, entzieht sich so lange unserer exacten Kenntnis,
wie wir die specifischen Krankheitserreger nicht kennen und nicht züchten
können.
Für die Praxis hat die Choleraschutzimpfung, die zuerst in ausgedehntem
Maasse Haffkine in Indien eingeführt hat, eine grosse Bedeutung gewonnen.
Die Erfolge Hap^fkine's sind bedeutende, und betreffen die Verluste an ge-
impften Menschen meist Personen, die sich wohl schon vor der Schutzimpfung
inficirt haben oder doch so bald nach derselben, dass zur Zeit der Infection
noch keine Antikörper aufgetreten sein konnten. Es liegt in der Natur der
SCHUTZIMPFUNG. 685
Sache, dass beim Typhus diese Schutzimpfungen noch nicht zur Ausführung
anders als in Laboratorien, in denen viel mit Typhus gearbeitet wird und so
eine beständige Infectionsgefahr vorliegt, gekommen sind. Bei der Pest sind von
Haffkine gleichfalls Schutzimpfungen mit abgetödteten Bacterien in grossem
Maassstabe ausgeführt worden und scheinen sie sich glänzend zu bewähren.
Es gelingt natürlich auch, bei diesen drei Krankheiten, Typhus, Cholera und
Pest, passiv zu immunisiren, und zwar durch subcutane Einführung von Serum
hochimmunisirter Thiere. Eine derartige passive Immunisirungsmethode hat
nun zwar zunächst den Vortheil, dass der Schutzimpfung keine reactive, doch
immerhin mit körperlichem Unbehagen verknüpfte Temperatursteigerung folgt,
aber sie hat den Nachtheil, dass einmal die erreichte Immunität nicht so
hochgradig ist wie bei der activen Immunisirung, doch wäre dieser Nachtheil
nur gering anzuschlagen, dann aber die passiv verliehene Immunität sehr
schnell schwindet, während die activ erzielte Immunität bedeutend länger
hält. Ist der Impfschutz durch eine einmalige active Immunisirung erlangt
worden, so besteht ein Impfschutz von immerhin einigen Monaten gegenüber
einem Impfschutz von zwei bis drei Wochen bei der passiven Immunität. Ist
die active Immunität durch längere Zeit fortgesetzte regelmässige Injectionen
von Impfmaterial erreicht worden, so erstreckt sich der Impfschutz über Jahre.
Ein Vortheil der passiven Immunisirungsmethode ist aber der, dass durch die
Schutzimpfung ein immerhin erheblicher Grad von Immunität sofort erzielt
wird. Es kann also in Fällen, in denen ein sofortiger Schutz nothwendig ist,
eine passive Schutzimpfung bei Cholera, Typhus und Pest in Frage kommen.
Aus dem oben Gesagten über die Wirksamkeit des Immunserums bei
Cholera, Typhus und Pest erhellt deutlich, weshalb von einer curativen Ver-
wendung dieser bactericiden Immunsera zunächst nichts zu hoffen ist. Ist die
Krankheit diagnosticirt, so finden sich derartige Mengen von Mikroorganismen
in dem befallenen Körper, dass die sofortige Abtödtung der Bacterien, falls sie
gelänge, doch den Organismus nicht davor bewahren könnte, an dem speci-
fischen vom Immunserum nicht beeinflussten Gift zu Grunde zu gehen. Dies
ist analog den Fällen im Thierexperiment, wo die Serumdosis noch gerade
ausreicht, nach längerer Zeit die sich im Peritoneum des inficirten Meer-
schweinchens schon vermehrenden Mikroorganismen abzutödten, aber das
A'ersuchsthier an der specifischen Giftwirkung, ohne noch ein lebendes Bacte-
rium zu enthalten, zu Grunde geht. Zu erwähnen wäre schliesslich noch,
dass für die Pest die Frage der Wirkung des Serums zur Zeit auch nicht
so ganz gelöst erscheint. Yersin hat mit Serum Kranke behandelt. Seine Er-
folge sind aber noch unsicher und sehr bestritten.
Zum Schlüsse müssen wir noch die Schutzimpfungen gegen Diphtherie
und Tetanus besprechen.
üeberstandene Diphtherie hinterlässt eine kürzere oder längere Zeit anhaltende
Immunität. Diese Immunität ist eine ausschliessliche Giftimmunität. Der Diphtherie-
bacillus wird durch sein Immunserum in keiner Weise beeinflusst, wohl aber das von ihm
producirte Gift. Durch diese Eigenschaft, Gift zu produciren, unterscheidet er sich sehr
erheblich von den Erregern der Cholera, des Typhus und der Pest, die Gift in ihrer
Leibessubstanz enthalten, welches nach dem Tode des Mikroorganismus frei wird, aber
kein Gift nach aussen absondern. Ist deshalb ein Organismus gegen Diphtheriegift immu-
nisirt, so verhält sich zu ihm der Diphtheriebacillus wie ein gewöhnlicher harmloser
Saprophyt. Jedes Quantum Gift, welches dieser producirt, wird sofort, ehe es eine den
Organismus schädigende Wirkung entfalten kann, durch das im Organismus kreisende
Antitoxin in Beschlag genommen und neutralisirt. Ich werde demgemäss einen Organismus
schützen können gegen Diphtherie, wenn ich ihm eine genügende Menge des specifischen
Antitoxins einverleibe. Ich werde ihn heilen können, wenn ich, noch ehe das bereits pro-
ducirte Gift einen erheblichen schädigenden Einfluss entfalten konnte, genügende Mengen
Antitoxin dem kranken Organismus zuführe. Wenn ich so das schon producirte und
noch im ferneren Verlauf der Krankheit gebildete Gift gebunden habe, so wird der Orga-
nismus sehr schnell mit den nun harmlosen Bacillen fertig werden. Es besteht für den
um seine Existenz kämpfenden Organismus beim Kampf gegen Diphtheriebacillen der Vor-
686 SCHÜTZIMPFUNG.
theil gegenüber dem Kampf gegen Cholera, Typhus und Pest, dass mit jedem aufgelösten
Diphtheriebacillus nicht eine erhebliche Menge von einem Gift in den Körper übertritt,
gegen welches er nur mit seinen natürlichen Kräften sich wehren kann.
Es sind, wie aus dem eben Gesagten hervorgeht, in praxi zwei Arten von
Schutzimpfung bei der Diphtherie mit Immunserum möglich, einmal eine
prophylactische, dann eine curative. Besonders die letztere, durch Behring
und Ehrlich entdeckte und der Allgemeinheit zugänglich gemachte Impf-
methode hat sich glänzend in den vielen tausenden Fällen, in denen sie zur
Anwendung gekommen ist, bewährt. Der Nutzen der prophylactischen Impfung
ist natürlich ein beschränkterer, da sich der Impfschutz auch hier nach zwei
bis drei Wochen verliert. Dieselbe ist mit Erfolg angewandt worden inner-
halb von Familien und hat schöne Resultate ergeben in Kinderspitälern,
aus welchen es gelungen ist, die unangenehmen beständigen Hausinfectionen
und Hausepidemien dadurch auszurotten, dass ganz regelmässig alle drei
Wochen sämmtliche Kinder immunisirt werden.
Weniger günstig sind bisher die Erfolge mit der Schutzimpfung gegen
Tetanus gewesen. Prophylactisch ist eine Schutzimpfung mit Tetanusantitoxin
unbestritten von sicherer Wirkung. Die Heilwirkung des Tetanusantitoxin ist
zum mindesten noch nicht sicher bewiesen, ja im Gegentheil sprechen sehr
viele Mittheilungen für die Nutzlosigkeit desselben. Es ist dies auch leicht
zu erklären, denn die anatomischen Läsionen im Centralnervensystem sind bei
Stellung der Diagnose meist schon sehr schwere, und selbst rechtzeitig ge-
reichte grosse Dosen Antitoxin können die weiteren anatomischen Zerstö-
rungen nicht mehr aufhalten. Immerhin ist es wohl auch hier noch zu früh,
ein abschliessendes Urtheil, sei es nach der einen, sei es nach der anderen
Seite hin zu fällen.
II. Die Schutzpockenimpfung. Schon lange Zeit bestand in England der
Volksglaube, dass eine Infection mit Kuhpocken gegen die echten Pocken
schütze. Eduard Jenner unterzog diesen Volksglauben einer Nachprüfung,
die die Richtigkeit dieses alten Glaubens ergab. Er impfte Menschen, die an
den Kuhpocken erkrankt waren und deren Erkrankung zum Theil schon
fünf Decennien zurücklag, mit virulentem Pockenmaterial, und es erkrankte
auch nicht einer dieser Impflinge an den Pocken, so dass in der That die
Infection mit den Kuhpocken einen absoluten Schutz gegen die echten Pocken
zu verleihen schien. Dadurch ermuthigt, impfte Jenner zum ersten Mal am
14. Mai 1796 einen Knaben mit dem Bläscheninhalt einer Kuhpocke, die
sich an dem Finger einer Viehmagd entwickelt hatte. Es entstanden die
charakteristischen Impfpusteln, und auch dieser Knabe zeigte sich unempfäng-
lich gegen eine nachfolgende, an mehreren Körperstellen ausgeführte Variola-
tion. Jenner wies nun im weiteren Verlauf seiner Studien nach, dass die
Kuhpocken von Mensch zu Mensch fortgepflanzt werden können, und dass
auch nach vielen Generationen der Pustelinhalt noch immer in gleicher Weise
gegen echte Pocken immunisirt, wie der Inhalt der Kuhpocken. Hiermit war
die Möglichkeit zur allgemeinen Durchführung der Schutzpockenimpfung ge-
geben, denn die Kuhpocke ist doch eine immerhin so seltene Krankheit, dass
dieselbe niemals genügend Material zu Impfungen im grossen Maassstabe hätte
liefern können.
Der Vortheil dieser Vaccination mit humanisirter Lymphe war so in die
Augen springend der bis dahin geübten Methode der Variolation gegenüber,
dass die jENNER'sche Schutzimpfung ihren Siegeszug durch die ganze Welt
antreten konnte. In Deutschland waren es besonders Männer, wie Stromeyer.
SoEMMERiNG, HuFELAND uud Hein, die sich hochverdient um die Einführung
des JENNER'schen Verfahrens gemacht hatten. Ein besonderes Augenmerk
schenkte die preussische Regierung der Pockenimpfung, und war diese bereits
im Jahre 1802 imstande, über 7445 Impfversuche theils von Civil-, theils von
SCHUTZIMPFUNG. 687
Militärärzten berichten zu können. In Oesterreich hat sich besonders de Caro
um die Einführung der Schutzimpfung verdient gemacht.
Infolge der unbestrittenen Resultate, die mit der Pockenimpfung erzielt
worden sind, sahen sich die meisten Staaten im Laufe dieses Jahrhunderts
veranlasst, in einer mehr oder weniger allgemeinen Form die Impfung gesetz-
lich einzuführen. Ein strenger, allgemein durchgeführter Impfzwang wird vor-
züglich in Deutschland, und zwar seit Inkrafttreten des Reichsimpfgesetzes
vom 8. April 1874 ausgeübt. (Vergl. III. Abschnitt, Impfgesetzgebungen.)
Den eminenten Nutzen der Schutzpockenimpfungen kann nichts besser
illustriren als sorgfältige Statistiken und Vergleiche der Statistiken untereinander.
Der Ansturm der Impfgegner gegen den segensreichen Impfzwang hat zur Be-
kanntgabe zahlreicher Statistiken, unter denen besonders die des Deutschen
Reichsgesundheitsamtes zu nennen sind, geführt. Aus dem Werke von M. Schulz
über die Impfung seien einige dort zusammengestellte statistische Zahlen zur
Illustrirung angeführt.
Ueber die Pockenepidemie, welche 1870/71 in Chemnitz wüthete, werden folgende
Zahlen mitgetheilt. Die Stadt trat in die Epidemie mit 64.255 Einwohnern.
Von diesen waren 53891 = 83'87''/o geimpft,
„ „ „ 571R = 8-89o/o ungeimpft,
4652 = 7'2''/o hatten die Blattern überstanden.
Von den Geimpften erkrankten nur 953 == l"76''/o an Blattern.
Von den üngeimpfen aber 2643 = 46-27%.
Die Mortalität der ungeimpften Blatternkranken war 916%, die der geimpften dagegen
nur 0 73%.
Nach dem Inkrafttreten des Impfzwanges schwankte zwischen 1875 — 1884 in Preussen
die Pockenmortalität zwischen 0-34 und 3'64 auf 100.000 Einwohner. In Oesterreich,
welches ohne Impfzwang blieb, schwankte in derselben Zeit auf gleichfalls 100.000 Einwohner
die Pockenmortalität zwischen 40-17 und 94-79.
Seit 1875 bis 1886 schwankte die Pockenmortalität von Berlin und W^ien, auf je
100.000 Einwohner berechnet, wie folgt: Berlin 0-07— 5-19, Wien 9-74—179-61.
Glänzend bewährte sich die Pockenimpfung bei lier deutschen Armee während des
Feldzuges 1870/71 ; das deutsche Heer hatte 450, das französische dagegen 23.400 Pocken-
todesfälle zu verzeichnen.
Seit dem Inkrafttreten des deutschen Reichsimpfgesetzes sind die Durchschnittszahlen
der jährlichen Pockenmortalität, auf je 100.000 Mann berechnet,
für die österreichische Armee bis 1886 3175
„ „ französische „ „ 1881 1697
„ „ deutsche „ „ 1887 4-2.
Diese wenigen Zahlen mögen genügen, da sie deutlicher wie viele Worte den emi-
nenten Wert der Schutzimpfung ausdrücken, und wenden wir uns nun der Praxis der
Impfung selbst zu.
Von ganz besonderer Bedeutung ist die Frage nach der Länge des Impf-
schutzes. Dieselbe lässt sich nicht ganz präcise beantworten, da sie grossen
individuellen Schwankungen unterworfen ist, doch kann man im Allge-
meinen die Dauer des Impfschutzes auf circa zehn Jahre veranschlagen. Es
empfiehlt sich demgemäss, entsprechend den deutschen Impf Vorschriften, sich
nicht mit einer Impfung in den ersten Lebensjahren zu begnügen, sondern der-
selben zum mindesten noch eine nach circa zehn Jahren während der Schulzeit
folgen zu lassen. Spätere Impfungen sind obligatorisch unmöglich durchzu-
führen, doch gelingt es, wenigstens einen grossen Theil der männlichen Be-
völkerung, nämlich beim Eintritt in das stehende Heer, in Deutschland noch
zum dritten Mal einer Impfung zu unterziehen. Der sehr bedeutende perso-
nelle Impferfolg bei diesen Rekrutenimpfungen lässt deutlich erkennen, wie
nöthig eine solche dritte Impfung ist.
Im Gegensatz zu dem vorübergehenden Schutz der Impfung gewährt
Ueberstehen der echten Pocken fast stets eine dauernde Immunität, und kann
demgemäss bei allen Personen, welche die Pocken überstanden haben, von
einer Impfung als zwecklos abgesehen werden.
688 SCHÜTZIMPFUNG.
Die Impfung selbst wird zweckmässig am Oberarm ausgeführt. Sie kann durch
Stich, Schnitt oder Riss ausgeführt werden. Es ist darauf zu achten, dass die Impfver-
letzungen nicht zu nahe neben einander angelegt werden, da durch das eventuelle Con-
fluiren der häufig entstehenden entzündlichen Höfe um die Pusteln herum sehr schmerz-
hafte und bedeutende Schwellungen des Oberarmes hervorgerufen werden können. Vor
der Impfung sind die betreffenden Hautpartien zu desinficiren, und soll die Impfung mit
sterilem Instrument ausgeführt werden. Sehr beliebt sind in letzter Zeit zu diesem Zwecke
Platiniridiummesser geworden, welche jedesmal vor dem Impfen frisch ausgeglüht werden
können, also sicher steril sind. Mit dem Impfmesser beziehungsweise der Lancette ist die
Epidermis bis auf das Rete Malpighii zu dnrchtrennen. Wird mit humanisirter Lymphe ge-
impft, so ist ein einfacher Stich genügend, wird mit animaler Lymphe geimpft, so ist, da
diese etwas schwerer haftet, ein Schnitt sicherer, und ist in denselben der Impfstoff zweck-
mässig einzustreichen. Da zwei Impfpusteln zum Schutz vollständig ausreichen, muss sich
die Zahl der Schnitte eigentlich nach der Güte des Impfmaterials richten, könnte also
bei sicherem Material und sicherer Technik auf zwei sich beschränken. Im Allgemeinen
werden jedoch gegenwärtig vier Impfschnitte bei der ersten Impfung und sechs bei der
zweiten Impfung angelegt.
Die Entwicklung der Pustel beginnt bei Erstgeimpften meist am dritten Tage. Es
entsteht ein Knötchen, aus dem dann ein Bläschen hervorgeht, welches sich bis zum
siebenten Tage zur Pustel entwickelt. Diese erscheint als ein grosses Bläschen von grauer
Farbe, das von einem mehr oder weniger grossen, entzündlich gerötheten Hof umgeben ist.
In der Mitte findet sich an Stelle der Impfwunde ein bräunlicher Eindruck. Dieser nimmt
allmählich, während sich der bis dahin klare Bläscheninhalt trübt, zu und vergrössert sich
zum Schorf, der die ganze Pustel bedeckt. Nach drei bis vier Wochen fällt der Schorf
ab und hinterlässt die Impfnarbe. Die Allgemeinerscheinungen sind meist ganz geringe, ,
nur etwas stärkere, wenn die Höfe confluiren; dann kommt es häufig zu erheblichen Schwel-
lungen der Achseldrüsen. Ein besonderes Impferysipel als Impfkrankheit gibt es selbst-
verständlich nicht, dasselbe kommt zu Stande, wie es gelegentlich bei jeder Wunde vor-
kommen kann. Es hat nichts mit dem Keimgehalt der Lymphe zu thun, wie weiter unten
erörtert wird.
Bei Wiedergeimpften ist der Verlauf meist ein erheblich schneller und
kommt es häufig nicht zu vollständigen Impfpusteln. Schon die Entwicklung
von Knötchen wird als erfolgreiche Impfung angesehen.
Das Material, mit dem im Allgemeinen gegenwärtig die Impfungen aus-
geführt werden, ist animale Lymphe. Gegen das Impfen mit humanisirter
Lymphe sind viele Bedenken erhoben worden. Wenn dieselben auch meist
übertrieben sind, lässt sich nicht leugnen, dass Lues in der That auf diese
Weise übermittelt werden könnte. Sollte deshalb ausnahmsweise von Kindern
abgeimpft werden, so ist vor allen Dingen mit Sicherheit Lues des Kindes
und der Eltern auszuschliessen. Der Abimpfling ist ganz genau zu unter-
suchen, er muss völlig gesund und gut gediehen sein. Er muss mindestens
sechs Monate alt und ehelicher Geburt sein. Niemals ist das erste Kind aus
einer Ehe zu nehmen. Lymphe von Wiederimpflingen darf nur im Nothfalle,
niemals aber zum Impfen von Erstimpflingen verwandt werden. Die Abnahme
der Lymphe darf nicht später als sieben Tage nach der Impfung erfolgen.
Die Blattern müssen reif und unverletzt sein und nur einen massigen Hof
haben. Mindestens zwei Blattern sind beim Impfling uneröffnet zu lassen.
Nur Lymphe, die freiwillig austritt und nicht mit Blut oder Eiter untermischt
ist, darf verwendet werden.
Für die Gewmnung der animalen Lymphe sind eine Reihe von Vorschriften zu be-
folgen, die meist in dem Bundesraths-Beschluss vom 28. April 1887 niedergelegt sind. Die
Kälber, welche zur Impfgewinnung kommen, müssen mindestens drei, besser fünf Wochen
und darüber alt sein. Sie müssen selbstverständlich völlig gesund sein. Nur dann darf
der gewonnene Impfstoff abgegeben werden, wenn die genaue Untersuchung des geschlachteten
Kalbes bestätigt hat, dass das Thier völlig gesund war. Die Stallungen der Impfkälber
müssen den höchsten Anforderungen der Sauberkeit etc. entsprechen. Die Instrumente
sind vor dem Ausführen der Impfung zu sterilisiren. Das Impffeld ist zu rasiren und mit
Seife und warmem Wasser gründlich zu reinigen, darnach wird meist mit Sublimat, Carbol
oder Lysol desinficirt und mit sterilem Wasser nachgespült. Auf eine andere Methode,
auf die der Alkoholdesinfection, kommen wir noch weiter unten zu sprechen. Als Impf-
fläche ist zu benützen: bei jungen Thieren die Hinterbauchgegend vom Damm bis in die
Nähe des Nabels sammt dem Hodensack und der Innenfläche der Schenkel; bei älteren
Thieren der Hodensack, der Euter, der Milchspiegel sammt der Umgebung der Vulva. Die
Impfung wird meist mit kürzeren und längeren Schnitten oder mit Scarificationen ausge-
SCHUTZIMPFUNG. 689
führt. Zur Impfung kann Menschenlymphe, Thierlymphe oder Kuhpockeninhalt benützt
werden. Die Abnahme des Impfmaterials erfolgt vor dem Eitrigwerden des Blaseninhaltes,
d. h. 3—5 mal 24 Stunden nach der Impfung. Es ist dabei die Impffläche sorgfältig mit
warmem Wasser und Seife zu reinigen. Aus den gut entwickelten Blattern ist mit Hilfe
eines Löffels der Impfstoff zu entnehmen. Als Impfstoff sind die flüssigen und festen
Bestandtheile der Blattern zu verwerten, die Borken sind auszuschliessen. Brauchbare
Impfconserven sind:
1. Pasten, durch Zerreiben des Pockenbodens mit wenig Glycerinwasser hergestellt.
2. Pulver, durch Trocknen des Impfstoffes im Exsiccator gewonnen.
(Wird zum Gebrauch mit Glycerin angerieben.)
3. Extracte, die nach Verreiben mit Glycerin und Absetzenlassen der festen Bestand-
theile gewonnen werden.
Letztere Form ist die brauchbarste und meist ausschliesslich angewandt. Die
Lymphe wird in sterilen Glascapillaren oder grösseren 2 — 8 cm^ fassenden Glasgefässen
abgegeben.
Es erübrigt nun noch, zum Schlüsse die jetzt viel ventilirte Frage nach
der Bedeutung der in der Lymphe enthaltenen ßacterien zu erörtern. Man
ist von manchen Seiten geneigt, die häufig auftretende bedeutende entzünd-
liche Reizung nach der Impfung, wie auch besonders das Auftreten von
Wundkrankheiten, wie z. B. das Erysipel, dem Gehalt der Lymphe an patho-
genen und pyogenen Keimen zuzuschreiben. Diese Fragen sind von einer
preussischen Impfcommission aufs sorgfältigste untersucht und diese Unter-
suchungen von Frosch in einem Bericht zusammengefasst.
Der Keimgehalt der frisch entnommenen Lymphe ist ein sehr hoher und
beträgt circa vier Millionen. Trotzdem ist die Bedeutung dieses Keimgehaltes
aus zwei Gründen sehr gering. Einmal sind pathogene Keime in den vielen
untersuchten Lymphproben eigentlich überhaupt nicht gefunden worden. Nur
fünfmal konnten pyogene Coccen aus 29 Proben gezüchtet werden, von denen
ein Coccus sich als virulent für Kaninchen und Mäuse erwies. Sicher war
dieser Coccus aber nicht virulent für Menschen, denn die Berichte über
Impfungen, die mit dieser Lymphe ausgeführt worden sind, sprachen weder
von irgend welchen eitrigen Wundkrankheiten, die diese Lymphe hervorge-
rufen hat, noch von besonders starker Reizung.
Dann gelingt es sehr leicht, auch die Keime, welche vorhanden sind,
fast gänzlich zu beseitigen, und zwar mit Hilfe von Glycerin. Wird die
Lymphe mit GO^/oigem Glycerinwasser versetzt, sich selbst überlassen, so tritt
eine rapide Verminderung der Keimzahl ein. Die pyogenen Keime sind die
empfindlichsten und sind nach drei Monaten sicher verschwunden. Die geringe
Zahl von Keimen (5 — 50 pro cm^) besteht nur aus Vertretern der Sapro-
phyten, so dass auf diese Weise ganz sicher die Lymphe unschädlich ge-
macht werden kann. Zweckmässig ist es nach den Vorschriften von Schulz,
durch Centrifugiren erst einen sehr erheblichen Theil der Keime und die
festen unansehnlichen Bestandtheile der Lymphe auszuschleudern und dann
dem Glycerin das Abtödten der noch vorhandenen Keime zu überlassen.
Die so gev^onnene Lymphe zeichnet sich äusserlich durch ihr schönes, leicht
opalescirendes Aussehen aus, so dass auch das ästhetische Moment dadurch
befriedigt wird und wohl nicht gut von „Geschwürsjauche" geredet werden
kann.
In dem Bestreben, von vornherein die Lymphe möglichst keimarm zu
gewinnen, sind die verschiedensten Methoden ersonnen worden zur Desinfec-
tion des Impffeldes und zur Fernhaltung von äusseren Verunreinigungen. Als
die beste Methode hat sich die von Schulz (Berlin) eingeführte Methode er-
wiesen, über die Schulz wie folgt berichtet:
„Auf die Umgebung der zu impfenden Stellen werden breite Gazestreifen mit reich-
lichem Collodium aufgeklebt, die rasirte Impffläche wird mit Wasser und Seife gewaschen,
auch mit Sublimat desinficirt und dann abgetrocknet. Während der Impfung wird sie
mit Alkohol feucht erhalten; jede geimpfte Stelle wird nach der Impfung unmittelbar mit
Alkohol-durchfeuchtetem Mull bedeckt. Der feuchte Mull wird nach beendeter Impfung
durch sterilen trockenen ersetzt und hierüber sterile Watte gelegt. Der Verband wird
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. "
690 SCHWANGERSCHAFTS VERHÄLTNISSE.
durch Annähen an die am Rand befindlichen Gazestreifen befestigt und mit einem grösseren
Fenster aus Celluloid versehen, welches die Beobachtung der sich entwickelnden Blattern
gestattet."
Auf diese Weise ist es gelungen, den Anfangsgehalt der Lymphe, ohne
dass diese durch den Alkohol an Wirksamkeit einbüsst, auf 2000 bis 600
herunterzudrücken .
Zum Schlüsse wäre noch zu erwähnen, dass auch die mehr oder weniger
starken Reizungen, welche die Lymphe hervorruft, in absolut keinem Zusam-
menhange mit dem Keimgehalt stehen. Ausgedehnte Versuche haben ergeben,
dass es sich um rein individuelle Unterschiede der Impflinge handelt.
III. Inipfgesetzgebungen. (Entnommen aus Wernich und Wehmer, Lehrbuch des
öffentlichen Gesundheitswesens.)
England. 1840 wurde für das Heer nach der grossen Pockenepidemie eine regel-
rechte Vaccination eingeführt. 1853 wurde ein nominelles Zwangsimpfgesetz gegeben, doch
blieb es unwirksam, da die Impfungen nicht controlirt wurden. 1867 Vaccinationsacte mit
dem Zusatzgesetz von 1871 (Strafbestimmungen) führten Erstimpfung definitiv obligatorisch
ein. Revaccination ist im Civilstand nicht obligatorisch.
Frankreich hat kein Zwangsgesetz.
Italien führte durch Gesetz vom 13. April 1887 obligatorische Vaccination ein.
Die Schweiz behielt durch Gesetz vom 2. Mai 1886 das die Impfung obligatorisch
einführende Impfgesetz vom 7. November 1849 bei. Der Staat ist verpflichtet zur Beschaf-
fung animaler Lymphe.
Russland hat Impfzwang, doch ist die Durchführung lückenhaft.
Oesterreich. Ein indirecter Impfzwang wird in der Weise ausgeübt, dass der
Genuss von Staatswohlthaten, also die Aufnahme in öffentlichen Schulen, Waisenhäusern,
manchen Stiftungen, von der Beibringung eines Impfzeugnisses abhängig gemacht ist.
Impfung der Sträflinge und Gefangenen ist vorgeschrieben.
Belgien verlangt Impfung der Armen, welche Unterstützungen beanspruchen. In
öffentliche Schulen werden nur geimpfe Kinder aufgenommen.
Holland hat seit 1887 Impfzwang.
Deutschland hat Impfzwang seit dem Reichsimpfgesetz vom 8. April 1874.
Dasselbe bestimmt, dass jedes Kind vor dem Ablauf des nach seinem Geburtsjahre
folgenden Kalenderjahres, sofern es nicht nach ärztlichem Zeugnis die natürlichen Blattern
überstanden hat, geimpft werden muss. Ebenso muss jeder Zögling einer öffentlichen Lehr-
anstalt oder einer Privatschule innerhalb des Jahres geimpft werden, in welchem der
Zögling das zwölfte Lebensjahr zurücklegte, sofern er nicht nach ärztlichem Zeugnis in
den letzten fünf Jahren die natürlichen Blattern bestanden hat oder mit Erfolg geimpft
worden ist. MARX.
SchwangerSChaftSVerhältniSSe (forensisch). Diese kommen in Kinds-
mordfällen und auch unter anderen Verhältnissen mehrfach zu forensischen
Zwecken in Betracht und bedürfen daher einer besonderen Behandlung, wo-
bei wir die zweifelhafte Schwangerschaft, resp. deren Diagnose, die unbewusste
Schwangerschaft, die Dauer der Schwangerschaft und verschiedene Anomalien
der Schwangerschaft, als Ueberschwängerung und üeberfruchtung, Molen-
schwangerschaft und extrauterine Schwangerschaft berücksichtigen.
1. Zweifelhafte Schwangerschaft.
Die Verhältnisse, unter welchen Untersuchungen über zweifelhafte
Schwangerschaft nothwendig werden können, bei welchen bald die Gegen-
wart einer Schwangerschaft, bald die Abwesenheit einer solchen zu constatiren
ist, sind:
1. Wenn eine ledige Person der Schwangerschaft verdächtig ist, die-
selbe aber nicht anzeigt und vielmehr ableugnet, resp. verheimlicht, da die
Verheimlichung der Schwangerschaft unter solchen Verhältnissen mit Strafe
bedroht ist.
Bern. Strafges. Art. 134. Hat eine mit einem unehelichen Kinde niedergekommene
Weibsperson sowohl ihre Schwangerschaft als ihre Niederkunft verheimlicht, so wird
sie, wenn hieraus für das lebendig zur Welt gekommene Kind keine nachtherligen Folgen
entstanden sind, wegen unterlassener Befolgung der gesetzlichen Vorschriften mit Gefäng-
nis von 5—40 Tagen bestraft.
SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 691
2. Wenn durch Verleumdung einer ledigen Person ein schwangerer
Zustand zugemuthet, angedichtet wird, und diese klagend auftreten will, in-
dem einer solchen Klage eine ärztliche Untersuchung vorhergehen muss,
wobei alles das zu berücksichtigen ist, waS sich auf die Diagnose einer
Schwangerschaft bezieht.
Bern. Strafgesetz Art. 177. Der Verleumdung macht sich schuldig, wer an öffent-
lichen Orten oder in Gegenwart mehrerer Personen eine Privatperson solcher Hand-
lungen beschuldigt, die, wenn sie wahr wären, denjenigen, gegen den sie vorgebracht
werden, einer strafrechtlichen Verfolgung oder dem Hasse und der Verachtung der Mit-
bürger aussetzen würden. Bestrafung tritt nur auf Klage der Verletzten ein und kann
bestehen in Gefängnis bis zu 60 Tagen oder in Correctionshaus bis zu vier Monaten oder
in einer blossen Geldbusse bis zu 500 Fi", u. s. w.
3. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach der Ehelichung schon von
einem anderen geschwängert findet und deshalb auf Ehescheidung dringt.
Oesterr. bürgerl Gesetzb. § 58. Wenn ein Ehemann seine Gattin nach der Ehe-
lichung von einem anderen geschwängert findet, so kann er ausser dem im § 121 bestimmten
Falle fordern, dass die Ehe für ungiltig erklärt werde.
4. Wenn eine Frauensperson zum Tode oder zu einer körperlichen
Strafe verurtheilt ist, und die Vermuthung besteht, dass dieselbe schwanger ist.
Deutsche Strafproc.-O. § 485. An schwangeren oder geisteskranken Personen darf
ein Todesurtheil nicht vollstreckt werden.
Oesterr. Strafproc.-O. § 398. Wenn die zum Tode oder zu einer Freiheitsstrafe Verur-
theilte zur Zeit, wo das Strafurtheil in Vollzug gesetzt werden soll, schwanger ist, hat
die Vollziehung so lange zu unterbleiben bis dieser Zustand aufgehört habe.
5. Wenn eine durch Tod oder Scheidung von dem Manne getrennte
Frau wieder heirathen will. Dieses kann den meisten civilen Gesetz-
gebungen nach erst nach Ablauf einer gewissen Zeit geschehen, und, wenn
diese aus was für Gründen immer abgekürzt werden soll, erst nach vorgän-
giger ärztlicher Untersuchung, durch welche festzustellen ist, dass eine
Schwangerschaft nicht besteht.
Das deutsche Reichsgesetz vom 6. Februar 1875 schreibt vor: Frauen dürfen erst
nach Ablauf des zehnten Monats seit Beendigung der früheren Ehe eine neue Ehe
schliessen. Dispensation ist zulässig.
Das österr. bürgerl. Gesetzbuch bestimmt § 120: Wenn eine Ehe für ungiltig erklärt,
getrennt oder durch des Mannes Tod aufgelöst wird, so kann die Frau, wenn sie schwanger
ist, nicht vor ihrer Entbindung, oder wenn über ihre Schwangerschaft ein Zweifel ent-
steht, nicht vor Ablauf des sechsten Monates zu einer neuen Ehe schreiten; wenn aber
nach den Umständen oder nach dem Zeugnis der Sachverständigen eine Schwangerschaft
nicht wahrscheinlich ist, so kann nach Ablauf dreier Monate die Dispensation ertheilt
werden.
Wenn nun aus dem einen oder anderen Grunde eine Untersuchung auf
Schwangerschaft nothwendig wird, so kommt alles darauf an, zu welchem
Zeitpunkte eine allfällig vorhandene Schwangerschaft nachgewiesen werden
soll, denn die Sicherheit einer Diagnose hängt durchaus ab von dem Zeit-
punkte, bei welchem die Untersuchung gemacht wird, nämlich ob in der
ersten Zeit einer Schwangerschaft oder erst in einer späteren Periode. Im
letzteren Fall ist eine Diagnose mit aller Sicherheit möglich, im ersten da-
gegen, wenn man die drei ersten Monate nimmt, nicht.
Zwar hat die Schwangerschaft schon nach dem ersten Monat gewisse
Zeichen, welche dem Erfahrenen die Möglichkeit gestatten, eine Wahrschein-
lichkeitsdiagnose zu stellen, aber es ist doch nur eine Wahrscheinlichkeits-
diagnose, die für die Privatpraxis wohl genügt, aber nicht für gerichtliche
Fälle, indem hier Wahrscheinlichkeitsdiagnosen einen grösseren Wert nicht
haben, namentlich nicht, wenn Irrthümer nachtheilige Folgen haben können.
Es ist mir zu wiederholten Malen in Kindsmordfällen vorgekommen, dass die Be-
treffenden schon nach dem ersten Ausbleiben der Menstruation sich von Hebammen auf
Schwangerschaft untersuchen Hessen und nach einer beruhigenden Antwort von denselben
an die Möglichkeit einer Schwangerschaft gar nicht mehr dachten, jede Anzeige unterliessen
und warteten, bis sie von der Geburt überrascht wurden und dann bei eingetretenem Tode
des Kindes sich damit entschuldigten, dass sie gleich anfangs der Schwangerschaft von einer
Hebamme oder gar von einem Arzte sich untersuchen Hessen, welche an einer Schwanger-
schaft zweifelten. Aerzte können dadurch, wenn sie vor das Schwurgericht geladen werden, in
44*
692 SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE.
eine sehr unangenehme Situation kommen. Wir rathen nicht, sich damit zu brüsten, schon
in früher Zeit ein bestimmtes Gutachten abgegeben zu haben.
Aber nicht blos kommt es darauf an, eine allfällige Schwangerschaft
möglichst frühzeitig zu entdecken, sondern vielmehr die Nichtexistenz einer
solchen mit Sicherheit festzustellen, da Schwangerschaften aus verschiedenen
Gründen mitunter gewünscht, behauptet und simulirt werden, um gewisse
Zwecke zu erreichen, namentlich auch, um Strafen zu entgehen. Die Unter-
suchungen auf Dasein oder Abwesenheit von Schwangerschaft gehören daher
zu denjenigen, welche mit aller Umsicht vorgenommen werden müssen und
nicht gleich bei der ersten Untersuchung ein befriedigendes Resultat ergeben,
so dass Nachuntersuchungen nothwendig sind.
Was die ersten Erscheinungen einer beginnenden Schwangerschaft be-
trifft, so bestehen diese theils in eigenthümlichen Gefühlen, Empfindungen
in den Organen der Geschlechtssphäre, theils in dem Ausbleiben der
Menstruation.
Die eigenthümlichen Empfindungen werden von Personen, die sich
selbst zu beobachten gewohnt sind, wohl wahrgenommen, es sind eine Reihe
nervöser Erscheinungen, welche der Betreffenden den Gedanken erwecken, dass
etwas mit ihnen anders ist. Natürlich haben solche Erscheinungen keinen
weiteren diagnostischen Wert, aber sie gehören doch zum ganzen klinischen
Bild einer eingetretenen Schwangerschaft.
Die wichtigste erste Erscheinung, durch welche sich eine eingetretene
Schwangerschaft indicirt, ist das Ausbleiben der Menstruation. Wenn
bei einem seit längerer Zeit regelmässig menstruirt gewesenen Frauenzimmer
die Menstruation ausbleibt, ohne dass ein psychischer Insult oder eine Körper-
verletzung vorhergegangen sind, so ist man berechtigt, diesen Vorgang mit
grosser W^ahrscheinlichkeit auf eine eingetretene Schwangerschaft zu beziehen.
Ein sicherer Beweis ist dieses Ausbleiben aber nicht, indem nicht sehr selten
Fälle bekannt sind, in welchen die Menstruation oder wenigstens ein Blut-
abgang während der Schwangerschaft noch fortgedauert hat, und dann ist es
auch schon vorgekommen, dass eine Schwangerschaft eintrat, ehe und bevor
menstruale Blutungen vorhergegangen sind.
Solche menstruale Blutungen sind von Hohl, ^) Elsässer, ^) Hogg ^) u. A. beobachtet
worden. In fünfzig von Elsässer gesammelten Fällen trat Menstruation ein: in acht ein-
mal, in zehn Fällen zweimal, in zwölf Fällen dreimal, in fünf Fällen viermal, in sechs
Fällen fünfmal, in fünf Fällen achlmal, in zwei Fällen neunmal. Wir haben in Kinds-
mordfällen öfters Gelegenheit gehabt, Angaben über periodische Blutungen während der
Schwangerschaft zu hören, bei einer genauen Erörterung dieser Angaben aber stets ge-
funden, dass diese Blutungen doch niemals ganz gleich waren denjenigen vor der Men-
struation, sie traten nicht so regelmässig ein, dauerten verschieden lang, der Blutabgang
war nach Menge sehr verschieden u. s. w. Diese Blutungen konnte ich nicht als eine
regelmässige Fortsetzung der Menstruation ansehen. In einem Falle fand Säxinger, *) als
Ursache solcher Blutungen einen kleinen Schleimhautpolypen, nach dessen Abtragung die
Blutungen aufhörten.
Um so weniger kann das Aufhören der Menstruation als ein nur einiger-
maassen sicheres Zeichen von Schwaugerschaft angesehen werden, wenn die-
selbe schon vor dem Ausbleiben derselben Unregelmässigkeiten in Bezug auf
ihren Eintritt und ihre Dauer gezeigt hat. Auch ist in solchen Untersuchungs-
fällen die Möglichkeit einer Simulation der Menstruation nicht ausser Acht
zu lassen, wie die Fälle von Casper und Hofmann beweisen.
In Casper-Liman^) steht ein Fall, in welchem Injection von Vogelblut benutzt wurde
zur Vortäuschung der Menstruation. Die mikroskopische Untersuchung des Blutes gab
über den Betrug Aufschluss.
1) Lehrb. d. Geburtshilfe, 1862.
2) Henke's Zeitschr., Bd. 73, S. 402.
3) Med. Times, 1871, Nr. 4.
*) Maschka, Handb.. III. 1882, S. 200
') 1. c. S. 221.
SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 693
Hofmann ^) hatte in einem Kindsmordfall ein Gutachten abzugeben, in welchem der
Mutter der Angeklagten deshalb der Zustand der Tochter nicht aufgefallen war, weil
diese in jedem Monat ein blutiges Hemd eines anderen Mädchens abgegeben hatte.
Mit dem Ausbleiben der Meüstruation als Folge eingetretener Empfäng-
nis treten nun successive noch andere Veränderungen ein, welche eine
Schwangerschalt indiciren, und zwar zunächst am Uterus, in welchem sich
das Ovulum weiter entwickelt. Diese Veränderungen beziehen sich theils auf
den Uteruskörper, theils auf die Vaginalportion.
Die Vergrösserung des Uterus körpers beginnt schon im ersten Monat,
im zweiten erreicht derselbe bereits die Grösse einer Orange und ist noch
ziemlich hart, im dritten ist er kindskopfgross und im vorderen Scheiden-
gewölbe als weicher, fast teigiger Körper zu fühlen. Im vierten Monat ist
der Körper mannskopfgross und lässt sich der Fundus desselben meistens schon
durch die äussere Untersuchung über der Symphyse nachweisen. Im fünften
Monat ist der Uteruskörper zwischen Nabel und Symphyse fühlbar und gegen
Ende dieses Monats fühlt die Mutter die Bewegungen des Kindes. Im sechsten
Monat reicht der Uterusgrund bis zum Nabel. Im siebenten Monat steht der
Fundus zwei bis drei Querfinger über dem Nabel. Der Nabel ist verstrichen,
das Bailotiren des Kopfes bereits nachweisbar. Im achten Monat steht der
Fundus in der Mitte zwischen Nabel und Herzgrube. Im neunten Monat
steigt der Uterus bis in die Nähe der Herzgrube und erreicht damit seinen
höchsten Stand. Im zehnten Monat hat sich der Uterus wieder etwas ge-
senkt und steht ungefähr wie im achten Monat. Der Fundus sinkt nach vorn
herüber, die Nabelgegend ist blasenartig vorgetrieben.
Die Vaginalportion bietet weniger hervortretende Veränderungen.
Die ersten im ersten Monat sind ähnlich denjenigen bei der Menstruation.
Es tritt eine gewisse Auflockerung der Portion ein mit vermehrter Secretion
der Scheide. Im zweiten Monat nimmt die Auflockerung von unten nach
oben zu, und der Muttermund wird etwas rundlich. Im dritten Monat ist
die Vaginalportion etwas schwerer zugänglich, weil der Gebärmutterkörper
mehr nach vorn zu sich neigt. Im vierten Monat nimmt die Auflockerung
zu und der äussere Muttermund ist dehnsamer, so dass im fünften Monat
schon die Fingerspitze eindringen kann, wenigstens bei Mehrgebärenden. Im
siebenten Monat wird die Vaginalportion kürzer. Bei Erstgebärenden ist der
Muttermund noch geschlossen, bei Mehrgebärenden dagegen nicht selten bis
zum inneren Muttermund dem Finger zugänglich. In den nächsten Monaten
wird der Cervicalcanal bei Mehrgebärenden durchgängig bis zum inneren
Muttermund, bei Erstgebärenden dagegen ist der Cervix selten schon durch-
gängig, wohl aber im zehnten Monat, und ist der äussere Muttermund erheb-
lich weiter als der innere. Mit diesen Erscheinungen, die wesentlich nach
Schröder ^) angegeben sind, stimmen nicht alle Gynäkologen überein.
Der diagnostische Wert dieser Erscheinungen erleidet wesentliche Ein-
busse dadurch, dass eine Vergrösserung des Uteruskörpers durch sehr ver-
schiedene pathologische Zustände hervorgebracht werden kann, so dass nicht
die Vergrösserung an sich, sondern nur die Art und Weise ihrer Zunahme
weiteren Aufschluss geben kann, was eine öftere Untersuchung der Betreffen-
den in gewissen Zeiträumen nothwendig macht. Noch weniger Sicherheit
geben die Veränderungen an der Vaginalportion, die schon an sich sehr
verschieden sind, je nachdem es sich um eine Erst- oder Mehrgebärende
handelt.
Noch weniger Bedeutung haben einige andere Symptome, wie die Wein-
hefenfarbe der Scheidenschleimhaut, die Hypertrophie der Scheide und das
von einzelnen Autoren so hervorgehobene eigenthümliche Anfühlen des
^) 1. c. S. 180.
2) 1. c. S. 203.
694 SCHWANGEESCHAFTSVERHÄLTNISSE.
schwaDgeren Uterus, der sich weich, selbst teigig, dunkelfluctuirend anfühlen
lässt. Doch bemerkt Säxinger, der ein ganz besonderes Gewicht in diagno-
stischer Beziehung auf diese Zeichen legt, selbst, dass dieses Zeichen in
manchen Fällen nur wenig ausgeprägt sei, ja selbst ganz fehlen kann.
Die Veränderungen an den Brüsten kommen für die Diagnose der
Schwangerschaft in den ersten Monaten derselben nicht in Betracht.
Unter solchen Verhältnissen ist es gewiss gerechtfertigt, wenn man die
Diagnose einer Schwangerschaft in den ersten Monaten wohl für möglich
hält, aber für gerichtliche medicinische Zwecke nicht hinreichend begründbar,
so dass man sich in dieser Periode nicht mit allzugrosser Sicherheit und Be-
stimmtheit aussprechen darf. Es ist nur anzuerkennen, dass von Seiten der
Gesetzgebung längere Perioden festgestellt werden für Eingehung einer neuen
Ehe, wenn die frühere aufgehört hat, denn der sichere Nachweis eines nicht
schwangeren Zustandes eines Frauenzimmers hat gleichfalls unter Umständen
seine Schwierigkeiten und kann eine wiederholte Untersuchung der betreffenden
Person in Zwischenräumen erheischen.
Die sichere Diagnose einer bestehenden Schwangerschaft ist nur dann
möglich, wenn die Gegenwart eines Kindes im Uterus nachgewiesen werden
kann, und dieser Beweis ist erst in der zweiten Hälfte der Schwangerschaft
zu erbringen, es müsste denn der Inhalt des Uterus, wie es schon bei kleinen
Thieren möglich gewesen ist, mittels Durchleuchten des Uterus durch
EöNTGEN'sche Strahlen auch beim Menschen sichtbar gemacht werden können.
Die Gegenwart eines lebenden Kindes lässt sich erkennen aus den Be-
wegungen desselben, aus einzelnen fühlbaren Körpertheilen und aus den Herz-
tönen. Die Kindsbewegungen werden von der Mutter gewöhnlich erst am Ende
des fünften Monates gefühlt. Vom Arzte können diese Bewegungen durch Auf-
legen der flachen Hände an die Seiten des Bauches mit Anwendung der Kälte
constatirt werden. Das Fühlen einzelner Kindestheile ist meistens erst etwas
später möglich, entweder durch die Bauchdecke mit flacli aufgelegten Händen
oder von der Scheide aus durch einzelne Finger, womit der auf dem Becken-
eingange liegende Kopf ballotirend gefühlt werden kann. Die Herztöne
können schon gegen Ende des fünften Monates, von der 18. oder 20, Woche
an gehört werden, und zwar als frequente Doppelschläge 120 bis 160 in der
Minute.
Nach Ahlfeld ^) werden die Kindsbewegungen durchschnittlich am 132,17 Tage ge-
fühlt, bei Mehrgebärenden früher, am 130, 73 Tage, bei Erstgebärenden später, am 137, 40
Tage.
Ausser den fötalen Herztönen werden noch andere Geräusche bei der Auscul-
tation gehört, nämlich das Nabelschnurgeräusch und das Uteringeräusch. Das
erstere ist ein mit den Herztönen isochronisches zischendes Geräusch, das nach Ecker ^) und
Schröder ^) in 14 bis 15% Fällen vorkommen soll. Das letztere, früher Placentargeräusch
genannt, ist dem Nabelschnurgeräusch ähnlich auch zischend, aber von verschiedener Fre-
quenz und unregelmässig.
Ist auf diese Weise der Bestand einer Schwangerschaft constatirt, so ist
unter normalen Verhältnissen die Dauer derselben nach den angegebenen
äusseren und inneren Erscheinungen festzustellen. Besonders hydropische
Zustände und Zwillingsschwangerschaften geben zu Täuschungen leicht Anlass,
In einem mir bekannt gewordenen Falle, wobei ich bei der Beurtheilung betheiligt
war, punktirte ein Arzt eine hochschwangere Frau wegen vermeintlicher Bauchwasser-
sucht, erhielt aber statt Wasser Blut und stellte sich bald nachher die Geburt ein, es war
eine Zwillingsgeburt, beide Kinder waren todt und die Mutter starb auch. Die Kinder
wurden untersucht auf Verletzungen durch den Troikar, es wurden aber keine gefunden.
Eine gerichtliche Section der Frau fand nicht statt.
In einem anderen Falle wurde auf der zu dieser Zeit von mir besorgten chirurgischen
Abtheilung des Inselspitales eine Frau als Nothfall aufgenommen, welche angab, schwanger
1) Monatsschr. f. Geburtsk., Bd. 24, S. 180.
2) Kl. d. Gehurtsh., S. 2.
') Lehrb. der Geburtsh., 1882, S. 96.
SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 695
zu sein, seit ungefähr vier Monaten, bei der sich aber in den letzten drei Wochen eine
solche Vergvösserung des Bauches zeigte, dass sie einer Frau mit hochgradiger Bauch-
wassersucht glich und bedeutende Athmungsbeschwerden hatte. Augenscheinlich war die
Flüssigkeit innerhalb des enorm vergrösserten Uteruskörpers; eine Schwangerschaft konnte
nicht deutlich constatirt werden. Ich consultirte damals meinen CoUegen Breisky wegen
einer allfälligen Schwangerschaft und der Zulässigkeit eines operativen Verfahrens. Wir unter-
suchten möglichst genau und Breisky hielt eine Schwangerschaft für sehr unwahrscheinlich.
Da mir der Fall aber nicht ganz klar war, entschloss ich mich, noch länger zuzuwarten, und
ich hatte Recht. Als ich am zweiten Tage nach der Consultation mit Breisky ins Kranken-
zimmer kam, fand ich den Zimmerboden ganz nass und zeigte mir die Krankenwärterin in
einer Schüssel Zwillingskinder im Alter' von circa vier Monaten, die soeben unerwartet
geboren worden seien. So endete dieser Fall mit einer spontanen Frühgeburt, wie das in
solchen Fällen ja öfters beobachtet wurde. Es war ein Hy drometra mit einer Zwillings-
schwangerschaft.
2. Unbewusste Schwangerschaft.
Dieser Gegenstand muss in der gerichtlichen Medicin deshalb zur Sprache
gebracht werden, weil in Kindsmordfällen nicht selten die Geburt verheim-
licht worden ist und unter Umständen stattgefunden hat, welche den Tod des
Kindes zur Folge gehabt haben, und von den Betreffenden als Entschuldigung
angegeben wird, dass sie gar nicht gewusst haben, schwanger gewesen zu
sein und daher auch nicht eine Geburt erwarten konnten. Diese Entschul-
digung veranlasst dann den Präsidenten des Gerichtes, an die Sachverständigen
die Frage zu richten, ob diese Entschuldigung als eine glaubwürdige anzu-
sehen und weiterhin zu berücksichtigen ist.
Bei der Beantwortung dieser Frage, die zu wiederholten Malen vor dem
Schwurgericht an uns gerichtet worden ist, muss zuerst festgestellt werden,
dass, wenn eine Schwangerschaft ein normales Ende erreicht hat, eine Ver-
kennung dieses Zustandes, vorausgesetzt, dass derselbe nicht durch patho-
logische Zustände complicirt ist, nicht glaubwürdig erscheinen kann. Die
lange Dauer dieses Zustandes von zehn Monaten, der vorausgegangene ge-
schlechtliche Umgang, das Ausbleiben der Menstruation, die successiven Ver-
änderungen an den Genitalien, ganz besonders die Vergrösserung des Bauches,
die Kindsbewegungen, die Anschwellung der Brüste sind so unzweideutige
Erscheinungen, dass dieselben nicht übersehen werden können. Daher erklären
wir auch unter solchen Umständen derartige Angaben von Verkennung einer
Schwangerschaft für unglaubwürdig.
Dagegen ist aber auch zu berücksichtigen, dass es Verhältnisse geben
kann, unter welchen die Verkennung einer Schwangerschaft nicht für un-
möglich erklärt werden kann, und zu diesen Verhältnissen, welche von Seiten
der Sachverständigen in jedem einzelnen Falle hervorgehoben werden müssen,
gehören hauptsächlich folgende:
1. Vor allem muss die Betreffende eine Erstgebärende sein, denn
Personen, welche schon einmal eine Schwangerschaft durchgemacht haben,
können unmöglich die Wiederholung eines solchen Zustandes übersehen. Bei
Mehrgebärenden hat man daher gar nicht auf weitere Erörterungen darüber
sich einzulassen, esmüssten denn Unregelmässigkeiten bei der ersten Schwanger-
schaft bestanden haben;
2. darf kein höherer Grad von Geistesschwäche vorhanden sein, denn
bei solchen Personen kann eine Schwangerschaft bestehen, ohne dass die-
selben die Bedeutung ihres Zustandes erkennen, öfters machen andere Per-
sonen aber vergebens darauf aufmerksam;
3. müssen Umstände vorhanden sein, welche es erklärlich erscheinen
lassen, dass ein stattgehabter geschlechtlicher Umgang von der Betreffenden
nicht als ein solcher angesehen wird, der eine Schwangerschaft hätte zur
Folge haben können, dahin gehören besonders die verschiedenen alkoholischen
Zustände, in welchen die Betreffenden sich befunden haben, wie das bei Tanz-
gelegenheiten sich ereignen kann.
696 SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE.
4. Das Verhalten der MeDstruation vor dem Eintritt der Schwanger-
schaft ist sehr zu beachten. In seltenen Fällen ist noch gar keine Menstrua-
tion vorhergegangen; in zahlreichen anderen zeigte dieser Blutabgang mancher-
lei Unregelmässigkeiten und wurden sogar Mittel dagegen gebraucht, und in
noch anderen Fällen dauerten periodische Blutungen während der Schwanger-
schaft fort, welche als Menstruation aufgefasst werden, in Wirklichkeit aber,
wie wir schon oben auseinander gesetzt haben, diese Bedeutung nicht haben.
5. Wenn die Betreffenden durch Untersuchungen von Hebammen oder
auch Aerzten in den drei ersten Monaten der Schwangerschaft über ihren
Zustand zweifelhaft gemacht worden sind, kann die Wirkung dieser Zweifel
unrichtige Vorstellungen bei den Betreffenden über ihren Zustand hervorrufen.
6. Endlich ist noch in Betracht zu ziehen, ob die abgelaufene Schwanger-
schaft eine ganz normale oder durch mancherlei pathologische Zustände com-
plicirte war.
Sind die wichtigsten dieser angeführten Momente vorhanden, dann kann
der Sachverständige sagen, dass allerdings Gründe vorhanden sind, welche die
Angaben der Betreffenden in Bezug auf Verkennung der Schwangerschaft mehr
oder weniger glaubwürdig erscheinen lassen. Solche Fälle sind im ganzen
selten. Mir selbst ist folgender Fall vorgekommen.
Eine Person vom Lande, 21 Jahre alt, stark gebaiit und gross gewachsen, mit nor-
malen psychischen Eigenschaften, consultirte mich, wegen ihres Zustandes, der zunächst in
einer bedeutenden Vergrösserung ihres Bauches bestand, mit der Angabe, dass sie an Wasser-
sucht leide. Schon beim ersten Anblick machte mir ihre Körperlichkeit den Eindruck
einer hochschwangeren Person. Als ich fragte, warum sie denn glaube, dass sie an Wasser-
sucht leide, gab sie zur Antwort, weil ilir Unterleib seit Monaten stetig an Umfang zu-
genommen habe, und ein Arzt, der sie aber nicht untersucht hat, ihr Mittel gegen Wasser-
sucht gegeben habe. Als ich ihr nun bemerkte, dass ihr Unterleib gerade so aussehe, wie
wenn sie in einem schwangeren Zustande sich befände, erklärte sie, das sei unmöglich, denn
sie wüsste nicht woher. Als ich auf verschiedene mögliche Vorgänge aufmerksam machte,
stellte sie alles in Abrede und bemerkte noch, dass sie eigentlich ihre Piegeln nie ganz
verloren habe. Es war eine Erstgebärende. Ich erklärte nun, ehe und bevor ich für ihren
Zustand etwas verordnen könne, müsse ich sie untersuchen, wogegen sie durchaus nichts
einwandte. Ich untersuchte nun äusserlich, auch die Brüste nicht ausgenommen, und
innerlich genau und constatirte mit aller Sicherheit eine Schwangerschaft in ihrem letzten
Stadium. Als ich der Person dieses Piesultat meiner Untersuchung angab, erwiderte sie,
es sei nicht möglich, denn sie wüsste nicht woher. Ich verordnete ihr nun nichts und
erklärte ihr, dass sie in nächster Zeit eine Geburt haben werde und dass sie sich sobald
als möglich an einen Ort begeben solle, wo sie diese abwarten könne. Ungläubig den
Kopf schüttelnd, entfernte sie sich. Acht Tage nachher erhielt ich die Nachricht, dass sie
geboren habe. Würde dieser Fall vor das Schwurgericht gekommen sein, hätte ich die
Verkennung der Schwangerschaft nach dem Eindrucke, den mir die Antworten auf meine
Fragen gemacht haben, für möglich erklären müssen.
3. Dauer der Schwangerschaft.
Diese kommt in Bezug auf die Lebensfähigkeit eines Kindes zunächst
in Betracht, denn Kinder, welche vor dem achten Monat oder vor der 28. Woche
geboren werden, sind entweder gar nicht oder wenigstens kaum lebensfähig.
Alsdann geben forensisch Schwangerschaften hauptsächlich dann zu Unter-
suchungen Anlass, wenn der gewöhnliche Termin derselben von zehn Monds-
monaten oder 40 Wochen oder 280 Tagen um mehrere Wochen überschritten
worden ist, so dass Zweifel entstehen können, ob die Schwangerschaft wirk-
lich so lange gedauert hat, und ob der Anfang der Schwangerschaft nicht auf
eine andere als die von der Frau angegebene Zeit bezogen werden muss. So
spät eingetretene Geburten nennt man Spätgeburten, von welchen schon
in einem früheren Artikel über Geburtsverhältnisse die Rede war, auf welchen
daher verwiesen wird.
4. Ueberschwängerung und Ueberfruchtung.
Die Ueberschwängerung (Superfoecundatio) ist eine nochmalige
Schwängerung, d. h. Befruchtung von Eiern aus derselben Ovulationsperiode
SCIIWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE. 697
durch einen und denselben Mann oder durch verschiedene Männer; dass das vor-
kommen kann, beweisen Erfahrungen bei den Thieren. So ist gesehen worden,
dass eine Stute, welche von einem Pferde und einem Maulthiere belegt worden
ist, zu gleicher Zeit ein Pferd und ein Maulthierfüllen geboren hat. Hündinnen,
die während der Brunstzeit von Hunden verschiedener Rasse belegt worden
sind, werfen mitunter Junge von verschiedener Bastardform, der Ptasse der
Väter entsprechend u. s. w. Bei Menschen ist es vorgekommen, dass Frauen,
welche bald nacheinander mit einem Neger und einem Weissen cohabitirt
haben, Zwillinge von weisser und dunkler Farbe geboren haben, was wahr-
scheinlich die Folge einer Ueberschwängerung war, doch macht Kussmaul ^)
hiezu die Bemerkung, dass das nicht ganz sicher sei, indem erfahrungsgemäss
bei Rassenkreuzung die Kinder mitunter fast ganz dem Vater oder der Mutter
ähnlich sind, so dass das weisse Kind einer weissen Mutter das Kind eines
Negers sein konnte. Es zeigen sich bei diesen Vorgängen Verhältnisse,
welche noch nicht hinreichend aufgeklärt sind. Doch wird man in gerichtlich-
medicinischer Beziehung bei verschiedener Färbung von Zwillingen auf ver-
schiedene Väter mit mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit schliessen können,
da das aber nicht mit Sicherheit behauptet werden kann, hat die ganze An-
gelegenheit keine grössere gerichtlich-medicinische Bedeutung.
Von der Ueberschwängerung unterscheidet man seit Kussmaul die
Ueber fruchtung (Superfoetatio), worunter der Vorgang verstanden wird,
dass bei einer Schwangeren noch ein Ei aus einer späteren Ovulationsperiode
befruchtet wird. Die Fälle, welche zu einer solchen Annahme geführt haben,
sind Mehrlingsgeburten, bei welchen dem ersten Kinde noch die Geburt eines
anderen, bald vollkommen, bald nur mangelhaft entwickelten Kindes nachfolgt,
welches der Zeit nach nicht wohl als eine Frucht der ersten Ovulations-
periode, also nicht als eine gewöhnliche Zwillingsgeburt angesehen werden
kann. So kennt man z. B. einen Fall von Eisenmann, in welchem eine Frau am
30. April 1748 ein ausgetragenes Kind und das zweite erst viereinhalb Monate
später gebar, einen anderen Fall von Moebus, wo eine Frau am 16. October 1833
mit einem ausgetragenen Mädchen niederkam und erst nach 33 Tagen die
zweite Geburt hatte u. s.' w. In der Literatur sind manche Fälle von ver-
meintlicher Ueberfruchtung bekannt, welche aber einer strengen Kritik nicht
Stand halten und verschiedene Erklärungen zulassen, namentlich, dass es sich
in den meisten Fällen um Zwillingsgeburten handelt, bei denen das zweite
Kind mehr oder weniger verkümmert ist, oder dass dasselbe sich nach Aus-
stossung des ersten nicht entwickeln konnte. Gegen die Wahrscheinlichkeit,
dass bei einer bereits bestehenden Schwangerschaft noch eine zweite entsteht,
lassen sich verschiedene Einwürfe erheben.
In einzelnen Fällen hat man einen doppelten Uterus gefunden, wie in
dem Falle von Generali, ^) und auch der von Moebus scheint hieher zu ge-
hören, und wäre dann das Zustandekommen einer Ueberfruchtung eher ver-
ständlich, allein auch in diesem Falle lässt sich einwerfen, dass bei Schwanger-
schaft in einem doppelten Uterus die eine Hälfte desselben durch den schwan-
geren Uterus der anderen so comprimirt und verkleinert wird, dass der Eintritt
einer zweiten Schwangerschaft nicht wohl möglich wäre. Wenn übrigens die
Möglichkeit einer Ueberfruchtung auch nicht bestritten werden könnte, so steht
diese Angelegenheit gegenwärtig so, dass bis jetzt noch keine unanfechtbare
Beobachtung einer Ueberfruchtung bekannt ist.
Die Ueberfruchtung hat insofern einiges gerichtlich-medicinisches Inter-
esse, als dieselbe in einigen Fällen bei Kindesunterschiebung, welche als
^) Von dem Mangel u. s. w. der Gebärmutter. Würzburg, 1858. S. 271.
^) Bei Kussmaul 1. c.
698 SCHWANGERSCHAFTSVERHÄLTNISSE.
strafbare Handlung angesehen wird, bald vorgegeben, bald fälschlich ver-
muthet wurde, wovon die nachfolgenden Fälle Beispiele geben.
PiRCKER ^) berichtet von einer langjährigen kinderlosen Ehe, wobei ein fremdes Kind
untergeschoben wurde. Zu gleicher Zeit aber, ohne es zu wissen, war die Frau schwanger
und kam nach einigen Monaten mit einem Kinde nieder. Nun wollte man diesen uner-
warteten Kindersegen als eine Ueberfruchtung darstellen.
Ein Fall von Fischer -) betraf eine wegen Kindesmord in Untersuchungshaft befind-
liche Person, die zwei Monate nach der Geburt angeblich ein degenerirtes Ei gebar. Man
dachte an eine Superfötation.
In einem Falle von Friedberg gebar eine Frau ein reifes Kind. Am dritten Tage
fand sich in der Nachgeburt ein viermonatlicher macerirter Fötus. Man dachte an eine
Kindesunterschiebung, allein die Nachgeburt hatte zwei Nabelschnüre.
5. Molenschwangerschaft.
Die Molen beruhen auf gewissen Abnormitäten der Eihäute. Man unter-
scheidet Blasen-, Blut- und Fleischmolen,
Der Name Mole wurde schon von den alten Aerzten gebraucht, und verstand man
darunter entartete Abortiveier, die später als Blut- oder Fleischmolen bezeichnet wurden.
Die Blasenmolen beruhen auf einer Hyperplasie der Choriurazotten,
deren Verdickung zunächst bedingt ist durch Wucherung der Zellen und An-
häufung der Intercellularsubstanz. Sie stellen dann weiche Massen doldenartig
zusammenhängender Blasen dar, von sehr wechselnder Grösse. In den Blasen
ist eine schlüpfrige flüssige Masse vorhanden mit den Reactionen des Mucins.
Die Bildung der Blut- und Fleischmolen hat ihren Grund in Blu-
tungen zwischen die Eihäute und auch in die Eihöhle, wobei der Embrio
abstirbt, aber nicht als Abortus abgeht, sondern im Uterus verbleibt, und die
Blutmasse einen faserigen fleischartigen Tumor, die Blut- oder Fleischmolen
darstellt, in welchem noch Reste der Frucht zu erkennen sind.
Der Abgang der Molen hängt wesentlich von der Stärke der Blutungen
ab. Die Entstehung der Molen fällt meistens in die ersten Schwangerschafts-
monate. Bisweilen nehmen die Molen auch einen construirenden Charakter
an und dringt die entartete Zottenmasse mitunter in die hypertrophische
Wand des Uterus. Die Erkennung einer Molenschwangerschaft von einer
normalen Schwangerschaft ist im Anfange nicht so leicht. Eintretende Blu-
tungen könnten für einen gewöhnlichen Abortus gehalten werden. Man muss
darauf achten, ob die Grösse des Uterus der Schwangerschaftszeit entspricht,
entweder zu bedeutend oder zu gering ist, rasch zunimmt, oder im Gegen-
theil in der Vergrösserung zurückbleibt. Wenn der Zeit nach die Hälfte der
Schwangerschaft vorüber ist, kann bei einem lebenden Kinde das Hören des
Fötalpulses aufklären, ist das Kind todt, so fällt dieses Zeichen natür-
lich weg.
Gerichtlich-medicinisch haben eigentlich die Molenschwangerschaften nur
Bedeutung bei Fällen von Fruchtabtreibung und bei Schwangerschafts-
diagnosen. Dass bei Molenschwangerschaften besondere Zufälle, wie heftiges
Erbrechen, hydropische Erscheinungen, Kreuzschmerzen, dünnflüssiger und
schleimiger Ausfluss u. s. w. bisweilen vorhanden waren, ist Erfahrungssache,
aber eine besondere diagnostische Bedeutung haben sie nicht, da auch Molen-
schwangerschaften ganz ohne solche Zufälle verlaufen können.
Säxinger^) z. B. hat drei Fälle von Blasenmolen beobachtet, bei keinem derselben
waren andere als die gewöhnlichen Zeichen der Schwangerschaft vorbanden, trotzdem die
eine Mole l^/a Pfund wog und nach genauer Rechnung der Frau fünf Monate getragen
wurde. Die Blulung bei Ausstossung der Mole war in allen Fällen eine geringe, alle drei
Frauen waren Mehrgebärende und hatten früher gut entwickelte lebende Kinder am Ende
der Schwangerschaft geboren.
1) Handbuch, 1829.
2) Vierteljahrscbrift N. F. 22.
3j 1. c. S. 216.
SECTIONEN. 699
6. Extraiiterinsclnvaiigerschaften.
Bekanntlich sind je nach der Localität, an welcher sich das befruchtete
Ei ausserhalb der Gebärmutterhöhle weiter entwickelt, Abdominal-, Ova-
rial- und Tubenschwangerschaften zu unterscheiden. Die letzteren
sind weitaus die häufigsten. Am wenigsten gekannt sind die Ovarialschwanger-
schaften. Von den Tubenschwangerschaften sind weiterhin nach dem Sitze
des Eies in der Tube zu unterscheiden eine Graviditas interstitialis, tubo-
abdominalis, tubo-uterina und die eigentliche Graviditas tubaria, welche die
häufigste ist.
Die Entwicklung des Eies geht in der Tube in ähnlicher Weise vor sich
wie im Uterus. Es bildet sich eine Dec. serotina und vera, die Bildung einer
reflexa ist zweifelhaft. Mit der Vergrösserung des Eies wird das betreffende
Tubenstück ausgedehnt, und der Fruchtsack stellt eine bruchartige Aus-
dehnung der Tubenwandungen dar, die aus der Schleimhaut und dem Bauch-
fell besteht, da die Muskelfasern auseinander gedrängt sind. Im Anfange
kann der Verlauf einer solchen Schwangerschaft ohne besondere Zufälle sein.
Dieselbe dauert aber in der Regel nicht lange, indem gewöhnlich in den
ersten zwei bis drei Monaten wegen der Dünnwandigkeit des Fruchtsackes
Ruptur desselben eintritt, meistens an der dünnsten Stelle des Sackes. Die
nächste Folge davon ist heftige Blutung in die Bauchhöhle, welche meistens
tödtlich endet oder zur Bildung retro-uteriner Blutgeschwülste führt, die
schliesslich resorbirt werden können, so dass der Fall nicht tödtlich endet.
Gerichtlich-medicinische Bedeutung erhalten derartige Tubenschwanger-
schaften mitunter dadurch, dass sie zu rasch eintretenden Todesfällen durch
Verblutung führen, deren Veranlassung auf verhältnismässig leichte Ver-
letzungen auf Stösse, Schläge, Fusstritte u, s. w. zurückzufüren ist, so dass
ein Tod eintritt, der als Folge einer Misshandlung erscheint, während die
Tödtlichkeit der Verletzung einen ganz anderen Grund hat, der nur durch
eine gerichtliche Section klargelegt werden kann. Haben keine Verletzungen
stattgefunden, so kann der so rasch eingetretene Tod auch zu Verdacht einer
anderen gewaltsamen Todesart führen, z. B. einer Vergiftung, wovon Hofmanx^)
einen Fall mittheilt.
In Prag stürzte eine Frauensperson nach dem Genüsse von Würsten unter Schwindel
und Würgbewegungen zusammen und starb nach wenigen Augenblicken. Man dachte an
eine Vergiftung, die Section klärte aber den Fall auf, es war ein Verblutungstod infolge
einer Tubenschwangerschaft.
C. EMMERT.
Sectionen. Eine ärztliche Untersuchung menschlicher Leichname wird
ausgeführt in der Verfolgung zweier durchaus verschiedener Ziele: einmal aus
pathologisch-anatomischem, d. i. rein wissenschaftlichem Interesse; und zweitens
zu dem lediglich praktischen Zwecke der Feststellung aller für ein gericht-
liches Verfahren wichtigen Befunde. Diese Verschiedenheit der der Unter-
suchung eines Leichnams zu Grunde liegenden Absichten bedingt gewisse
Abweichungen in der gesammten Anordnung des Untersuchungsverfahrens.
In dem vorliegenden der Hygiene und gerichtlichen Medicin gewidmeten
Theile unseres encyklopädi sehen Werkes interessiren uns von der Leichen-
untersuchung in erster Linie allein die speciell gerichtsärztlichen Gesichts-
punkte; die rein wissenschaftlichen, pathologisch-anatomischen Befunde da-
gegen nur insoweit, als sie geeignet sind, in Fragen forensischer Xatur Licht
zu schaffen.
Für das Gebiet des Kaiserreiches Oesterreich sind die grundlegenden
gesetzlichen Vorschriften über die gerichtsärztliche Untersuchung mensch-
1) 1. c. S. 202.
I
700 SECTIONEN.
lieber Leichname in den Paragraphen 116 — 134 der Oesterreichischen Straf-
processordnung vom 23. Mai 1873 festgelegt; specielle Ausführungsbestim-
mungen dazu sind in der noch beute giltigen Ministerialverfügung vom
28. Jänner 1855 enthalten. Im Deutschen Reiche sind in gleicher Richtung
die Paragraphen 86—91 der Deutschen Strafprocessordnung vom 1. Februar
1877 maassgebend, zu welchen für das Königreich Preussen specielle Be-
stimmungen in dem „Regulativ für das Verfahren der Gerichtsärzte bei
den medicinisch-gerichtlichen Untersuchungen menschlicher Leichname vom
6. Jänner 1875" vorgeschrieben sind. Nach allen diesen Bestimmungen zerfällt
das Gesammtverfahren der gerichtsärztlichen Leichenuntersuchung in zwei
Hauptacte: erstens die äussere Besichtigung der Leiche, bei welcher auch alle
für die gerichtliche Untersuchung wichtigen Beziehungen der letzteren zu
ihrer äusseren Umgebung, der Fundort, die Lage, Bekleidung u. s. w. wohl
zu beachten sind, die „Leichenbeschau"; und zweitens die innere Unter-
suchung oder die „Leichenöffnung", „Section" oder „Obduction".
Zwar ist diese Trennung in den für Oesterreich giltigen Vorschriften weniger
scharf hervorgehoben, als in den Bestimmungen des Deutschen Reiches, doch
ergibt sich ihre Innehaltung auch ohne ausdrückliches Verlangen als ein
praktisches Erfordernis von selbst. In durchaus mustergiltiger, nach jeder
Richtung hin erschöpfender Weise ist alles bei einer gerichtlichen Section
in Betracht kommende in dem preussischen Regulativ festgestellt.
Dasselbe behandelt seinen Gegenstand in drei Hauptabschnitten, deren erster über-
schrieben ist: „Allgemeine Bestimmungen" (§ 1—8), während der zweite Anweisungen gibt
für das „Verfahren bei der Obduction" (§ 9—26) und der dritte von der „Abfassung des Ob-
ductionsprotokolls und des Obduction sberichtes" (§ 27—41) handelt. In dem ersten Theile
werden zunächst die mit der Vornahme der Section zu betrauenden, resp. diejenigen Per-
sonen namhaft gemacht, deren Gegenwart bei derselben gefordert wird. — § 1 schreibt vor,
dass die Leichenöffnung „nur von zwei Aerzten, in der Regel einem Physicus (Gerichts-
arzt) und einem Gerichts-(Kreis-)Wundarzt im Beisein des Richters vorgenommen werden
soll." Die Obducenten haben die Pflichten gerichtlicher Sachverständiger. Wenn über die
technische Ausführung der Obduction Zweifel entstehen, so entscheidet der Physicus oder
dessen Vertreter, vorbehaltlich der Befugnis des anderen Arztes, seine abweichende Ansicht
zu Protokoll zu geben. Hinsichtlich einer etwa nöthig werdenden Stellvertretung ordnet
§ 2 an: „Der Physicus (Gerichtsarzt) und der Gerichts-(Kreis-)Wundarzt sind in den gesetz-
lichen Behinderungsfällen berechtigt, sich durch einen anderen Arzt vertreten zu lassen.
Als Vertreter ist, wenn möglich, ein pro physicatu geprüfter Arzt zu wählen." Ferner
bestimmt § 3, dass Obductionen in der Regel nicht vor Ablauf von 24 Stunden nach
eingetretenem Tode vorgenommen werden dürfen, die blosse Besichtigung einer Leiche
dagegen schon früher geschehen kann. — § 4 gibt Anweisungen über die Behandlung bereits
in Fäulnis übergegangener Leichen: wegen vorhandener Fäulnis dürfen Obductionen in
der Regel nicht unterlassen und von den gerichtlichen Aerzten nicht abgelehnt werden.
Denn selbst bei einem hohen Grade der Fäulnis können Abnormitäten und Verletzungen der
Knochen noch ermittelt, manche die noch zweifelhaft gebliebene Identität der Leiche be-
treffende Momente, z. B. Farbe und Beschaffenheit der Haare, Mangel von Gliedmaassen
u. s. w. festgestellt, eingedrungene fremde Körper aufgefunden, Schwangerschaften entdeckt
und Vergiftungen nachgewiesen werden. Es haben deshalb auch die Aerzte, wenn es sich
zur Ermittelung derartiger Momente um die Wiederausgrabung einer Leiche handelt, für
dieselbe zu stimmen, ohne Rücksicht auf die seit dem Tode verstrichene Zeit. — § 5 gibt
ein genaues Verzeichnis aller Obductionsinstrumente, welche die Gerichtsärzte bei jeder
Section „in guter Beschaffenheit" zur Stelle haben sollen. — § 6 enthält Vorschriften über
das Obductionslocal und dessen Beleuchtung: es ist für Beschaffung eines hinreichend
geräumigen und hellen Locals, angemessene Lagerung der Leiche und Entfernung stören-
der Umgebungen möglichst zu sorgen. Obductionen bei künstlichem Licht sind, einzelne
keinen Aufschub gestaltende Fälle ausgenommen, unzulässig. Eine solche Ausnahme ist
im Protokoll unter Anführung der Gründe ausdrücklich zu erwähnen. — In § 7 wird die
Behandlung gefrorener Leichen vorgeschrieben: eine solche ist in ein geheiztes Local zu
bringen und mit der Obduction zu warten, bis dieselbe genügend aufgetüaut ist. Die An-
wendung von warmem Wasser oder von anderen warmen Gegenständen zur Beschleunigung
des Aufthauens ist unzulässig. — § 8 endlich verlangt, dass bei allen mit der Leiche vor-
zunehmenden Bewegungen, namenthch bei dem Transporte derselben von einer Stelle zur
anderen, thunlichst darauf zu achten ist, dass kein zu starker Druck auf einzelne Theile
ausgeübt, und dass die Horizontallage der grösseren Höhlen nicht erheblich verändert werde.
Mit § 9 beginnt der zweite, das „Verfahren bei der Obduction" regelnde Haupttheil
des Regulativs. In ihm wird zunächst gefordert (§ 9): „Bei Erheben der Leichenbefunde
SECTIONEN. 701
müssen die Obducenten überall den richterlichen Zweck der Leichenuntersuchung im Äuge
behalten und alles, was diesem Zwecke dient, mit Genauigkeit und Vollständigkeit unter-
suchen. Alle erheblichen Befunde müssen, bevor sie in das Protokoll aufgenommen, dem
Richter von dem Obducenten vorgezeigt werden." Fernerhin schreibt § 10 die besonderen
„Pflichten der Obducenten in Bezug auf die Ermittlung besonderer umstände des Falles"
vor: „Die Obducenten sind verpflichtet, in den Fällen, in denen ihnen dies erforderlich
erscheint, den Richter rechtzeitig zu ersuchen, dass vor der Obduction der Ort, wo die
Leiche gefunden worden, in Augenschein genommen, die Lage, in welcher sie gefunden,
ermittelt, und ihnen Gelegenheit gegeben werde, die Kleidungsstücke, welche der Ver-
storbene bei seinem Auffinden getragen, zu besichtigen. In der Piegel wird es jedoch ge-
nügen, dass sie ein hierauf gerichtetes Ersuchen des Richters abwarten. Sie sind ver-
pflichtet, ai;ch über andere, für die Obduction und das abzugebende Gutachten erhebliche,
etwa schon ermittelte Umstände sich von dem Richter Aufschluss zu erbitten. (Insbeson-
dere gilt dies für die Krankheitsgeschichte)-. — §11 gibt Sonderbestimmungen über die
Vornahme etwa erforderlich erscheinender mikroskopischer Untersuchungen. Nach diesen
Bestimmungen allgemeiner Natur geht § 12 unmittelbar auf die eigentliche Obduction
selbst ein: „Die Obduction zerfällt in zwei Haupttheile: a) Aeussere Besichtigung (Inspec-
lion). h) Innere Besichtigung (Section)."^
Ueber die äussere Besichtigung ordnet § 1.3 an:
„Bei der äusseren Besichtigung ist die äussere Beschaffenheit des Körpers im all-
gemeinen und die seiner einzelnen Abschnitte zu untersuchen. Demgemäss sind betreffend
den Körper im allgemeinen, sobald die Besichtigung solches ermöglicht, zu ermitteln und
anzugeben: 1. Alter, Geschlecht, Grösse, Körperbau, allgemeiner Ernährungszustand, etwa
vorhandene Krankheitsresiduen, z. B. sogenannte Fussgeschwüre, besondere Abnormitäten
(z. B. Maler, Narben, Tätowirungen, Ueberzahl oder Mangel an Gliedmaassen) ; 2. die
Zeichen des Todes nnd die der etwa schon eingetretenen Verwesung. Zu diesem Behuf
müssen, nachdem etwaige Besudelungen der Leiche mit Blut, Koth, Schmutz u, dergl.
durch Abwaschen beseitigt worden, ermittelt werden: die vorhandene Leichenstarre, die
allgemeine Hautfarbe der Leiche, die Art und Grade der etwaigen Färbungen und Ver-
färbungen einzelner Theile derselben durch die Verwesung, sowie die Farbe, Lage und
Ausdehnung der Todtenflecke, welche einzuschneiden, genau zu untersuchen und zu be-
schreiben sind, um eine Verwechslung derselben mit Blutaustretungen zu vermeiden. Be-
treffend die einzelnen Theile ist folgendes festzustellen: 1. Bei Leichen unbekannter Per-
sonen die Farbe und sonstige Beschaffenheit der Haare (Kopf und Bart), sowie die Farbe
der Augen; 2. das etwaige Vorhandensein von fremden Gegenständen in den natürlichen
Oeffnungen des Kopfes, die Beschaffenheit der Zahnreihen und Lage der Zunge; 3. dem-
nächst sind zu untersuchen : der Hals, dann die Brust, der Unterleib, die Rückenfläche,
der After, die äusseren Geschlechtstheile und endlich die Glieder. — ■ Findet sich an irgend
einem Theile eine Verletzung, so ist ihre Gestalt, ihre Lage und Richtung mit Beziehung
auf feste Punkte des Körpers, ferner ihre Länge und Breite im Metermaass anzugeben.
Das Sondiren von Trennungen des Zusammenhanges ist bei der äusseren Besichtigung in
der Regel zu vermeiden, da sich die Tiefe derselben bei der inneren Besichtigung des
Körpers und der verletzten Stellen ergibt. Halten die Obducenten die Einführung der
Sonde für erforderlich, so ist dieselbe mit Vorsicht zu bewirken und haben sie die Gründe
für ihr Verfahren im Protokoll (§ 27) anzugeben. Bei vorgefundenen Wunden ist ferner
die Beschaffenheit ihrer Ränder und ihres Grundes zu prüfen. Bei Verletzungen und Be-
schädigungen der Leiche, die unzweifelhaft einen nicht mit dem Tode im Zusammenhang
stehenden Ursprung haben, z. B. bei Merkmalen von Rettungsversuchen, Zernagungen von
Thieren und dergleichen, genügt eine summarische Beschreibung dieser Befunde. -
Die folgenden Paragraphen ertheilen den Obducenten ausführliche An-
weisungen für die Ausführung der inneren Besichtigung und handeln
somit von der wirklichen Section.
§ 14 bestimmt: „Behufs der inneren Besichtigung sind die drei Haupthöhlen des
Körpers: Kopf-, Biust- und Bauchhöhle zu öffnen. In allen Fällen, in denen von der
Oeffnung der Wirbelsäule oder einzelner Gelenkhöhlen irgend erhebliche Befunde erwartet
werden Ivönnen, ist dieselbe nicht zu unterlassen. Besteht ein bestimmter Verdacht in
Bezug auf die Ursache des Todes, so ist mit derjenigen Höhle zu beginnen, in welcher
sich die hauptsächlichsten Veränderungen vermuthen lassen; andernfalls ist zuerst die
Kopf-, dann die Brust- und zuletzt die Bauchhöhle zu öffnen. In jeder der genannten
Höhlen sind zuerst die Lage der in ihr befindlichen Organe, sodann die Farbe und Be-
schaffenheit der Oberflächen, ferner ein etwa vorhandener ungehöriger Inhalt, namentlich
fremde Körper, Gas, Flüssigkeiten oder Gerinnsel, und zwar in den letzteren beiden Fällen
nach Maass, beziehungsweise Gewicht zu bestimmen und endlich ist jedes einzelne Organ
äusserlich und innerlich zu untersuchen." — § 15 behandelt sodann auf das eingehendste
das Verfahren bei der Oeffnung und Untersuchung der Kopfhöhle, woran § 16 noch Vor-
schriften über die etwa erforderlich erscheinende genauere Untersuchung von Gesicht,
Ohrspeicheldrüse und Gehörorgan anschliesst. In gleicher Weise regelt § 17 die Erforschung
der Verhältnisse des Wirbelsäulecanals und des Rückenmarkes. — § 18 ertheilt allgemeine
702 SECTIONEN.
Anweisungen für den Beginn der Untersuchung von Hals, Brust- und Bauchhöhle, die
durch einen einzigen langen vom Kinn zur Schamfuge geführten Messerschnitt in Angriff
genommen wird, worauf § 19 die besonderen Vorschriften für die Untersuchung der Brust-
höhle und speciell von Herz und Lungen, § 20 für diejenige der Halsorgane, und § 21
für die der Bauchhöhle gibt. Im letztgenannten Paragraphen sind alle mit den einzelnen
Organen vorzunehmenden besonderen Manipulationen genau beschrieben, und ist auch die
Reihenfolge, in welcher die Theile aus der Leibeshöhle herauszunehmen und zu unter-
suchen sind, ein für allemal festgelegt.
In den nun folgenden Paragraphen sind des weiteren Special-Bestimmungen für
häufiger vorkommende Fälle besonders eigenartiger Natur enthalten. In § 22 für Ver-
giftungsfälle, in § 23 und 24 für die Untersuchung der Leichen von neugeborenen Kindern,
Fälle, bei denen der Gang der gesammten Untersuchung in gewissen Punkten von dem
sonst vorgeschriebenen abzuweichen hat. Bei den Bestimmungen über die Section Neu-
geborener ist in dem ersten ihr gewidmeten Paragraphen (§ 23) die Ermittlung der Reife
resp. der erreichten Entwicklungszeit, bei dem zweiten (§ 24) diejenige, ob das Neugebo-
rene geathmet habe oder nicht, ins Auge gefasst.
Endlich macht § 25 den Obducenten zur Pflicht, auch alle in dem Regulativ nicht
namentlich aufgeführten Organe, falls sich an denselben Verletzungen oder sonstige Regel-
widrigkeiten finden, zu untersuchen. Den Beschluss der gesammten technischen Vor-
schriften macht § 26 mit der Bestimmung, dass der Gerichts-(Kreis-) Wundarzt, beziehungs-
weise der zugezogene zweite Arzt, nach beendeter Obduction und nach der soweit als
möglich erfolgten Beseitigung der Abgänge zur kunstgerechten Schliessung der geöffneten
Körperhöhlen verpflichtet ist.
Der dritte und letzte Hauptabschnitt des preussischen Regulativs handelt
von der „Abfassung des Obductionsprotokolls und des Obductionsberichtes".
Das Obductionsprotokoll (Sectionsprotokoll) ist die während der
Ausführung der Obduction selbst gemeinschaftlich von dem Richter und den
Obducenten fixirte genaue Aufzeichnung aller die Obduction betreffenden
Punkte; dagegen ist der Obductionsbericht ein nur auf besonderes Ver-
langen des Gerichtes durch die Obducenten ausgearbeitetes, motivirtes Gut-
achten, in welchem die durch die Obduction aufgedeckten Befunde wissen-
schaftlich erläutert und behufs Klarlegung des Falles verwertet werden.
Hinsichtlich des ersteren bestimmt § 27: „Ueber alles die Obduction betreffende
wird an Ort und Stelle von dem Richter ein Protokoll aufgenommen (Obductionsprotokoll).
Der Physicus (Gerichtsarzt) hat dafür zu sorgen, dass der technische Befund in allen
seinen Theilen, wie er von dem Obducenten festgestellt worden, wörtlich in das Protokoll
aufgenommen werde. Der Richter ist zu ersuchen, dies so geschehen zu lassen, dass die
Beschreibung und der Befund jedes einzelnen Organes aufgezeichnet ist, bevor zur Unter-
suchung eines folgenden geschritten wird." Ueber die Einrichtung und Fassung des Pro-
tokolls schreibt § 28 vor: „Der den technischen Befund ergebende Theil des Obductions-
protokolls muss von dem Physicus (Gerichtsarzt) deutlich, bestimmt und auch dem Nicht-
arzte verständlich angegeben werden. Zu letzterem Zwecke sind namentlich bei der Be-
zeichnung der einzelnen Befunde fremde Ausdrücke, soweit es unbeschadet der Deutlich-
keit möglich ist, zu vermeiden. Die beiden Hauptabtheilungen — die äussere und innere
Besichtigung — sind mit grossen Buchstaben (A und B), die Abschnitte über die Oeffnun-
gen der Höhlen in der Pieihenfolge, in welcher dieselben stattgefunden, mit römischen
Zahlen (I, II), die der Brust- und Bauchhöhle aber unter einer Nummer zu bezeichnen.
In dem Abschnitte, welcher die Brust- und Bauchhöhle umfasst, sind zunächst die all-
gemeinen, in dem letzten Absatz des § 18 erwähnten Befunde, sodann unter a und b die
Befunde an den Organen der Brusthöhle, beziehungsweise an denen der Bauchhöhle dar-
zulegen. Das Ergebnis der Untersuchung jedes einzelnen Theiles ist unter eine besondere
mit arabischen Zahlen zu bezeichnende Rubrik zu bringen. Diese Zahlen laufen vom An-
fang bis zum Schluss des Protokolls fort. Die Befunde müssen überall in genauen An-
gaben des thatsächlich Beobachteten, nicht in der Form von blossen Urtheilen (z. B. „ent-
zündet", „gesund", „normal", „Wunde", „Geschwür" u. dergl.) zu Protokoll gegeben
werden. Jedoch steht es den Obducenten frei, falls es ihnen zur Deutlichkeit nothwendig
erscheint, der betreffenden Angabe des thatsächlich Beobachteten derartige Bezeichnungen
in Klammern beizufügen. In jedem Falle muss eine Angabe über den Blutgehalt jedes
einzelnen wichtigen Theiles, und zwar auch hier eine kurze Beschreibung und nicht blos
ein Uriheil (z. B. „stark", „massig", „ziemlich", „sehr geröthet", „blutreich", „blutarm")
gegeben werden. Bei der Beschreibung sind der Reihe nach die Grösse, die Gestalt, die
Farbe und die Consistenz der betreffenden Theile anzugeben, bevor dieselben zerschnitten
werden." — § 29 verlangt, dass die Obducenten am Schlüsse „ihr vorläufiges Gutachten über
den Fall summarisch und ohne Angabe der Gründe" dem Protokolle hinzuzufügen haben.
„Sind ihnen aus den Acten oder sonst besondere, den Fall betreffende Thatsachen bekannt,
welche auf das abgegebene Gutachten Einfluss ausüben, so müssen auch diese kurz er-
SECTIONEN. 703
wähnt werden. Legt ihnen der Richter besondere Fragen vor, so ist in dem Protokoll
ersichtlich zu machen, dass die Beantwortung auf Befragen des Richters erfolgt. Auf jeden
Fall ist das Gutachten zuerst au.f die Todesursache, und zwar nach Maassgabe dessen, was
sich aus dem objectiven Befände ergibt, nächstdem aber auf die Frage der verbrecherischen
Veranlassung zu richten. Ist die Todesursache nicht aufgefunden worden, so muss dies
ausdrücklich angegeben werden. Niemals genügt es zu sagen, der Tod sei aus innerer
Ursache oder aus Krankheit erfolgt; es ist vielmehr die letztere anzugeben. In Fällen,
wo weitere technische Untersuchungen nöthig sind, oder wo zweifelhafte Verhältnisse vor-
liegen, ist ein besonderes Gutachten mit Motiven ausdrücklich vorzubehalten." Schliesslich
schreibt noch § .40 vor, dass, wo die Entstehung bestimmter Verletzungen muthmaasslich
auf bestimmte bekannte Werkzeuge bezogen wird, die Obducenten auf Erfordern des
Richters Verletzungen und Werkzeuge zu vergleichen und sich darüber zu äussern haben,
„ob und welche Verletzungen mit dem Werkzeuge bewirkt werden konnten, und ob und
welche Schlüsse (aus der Lage und Beschaffenheit der Verletzung) auf die Art, wie der
Thäter, und auf die Kraft, mit der er verfahren, zu ziehen seien. Werden bestimmte
Werkzeuge nicht vorgelegt, so haben sich die Obducenten, soweit dies dem Befunde nach
möglich ist, über die Art der Entstehung der Verletzungen, beziehungsweise über die Be-
schaffenheit der dabei in Anwendung gekommenen Werkzeuge zu äussern.'-
Der letzte Paragraph des Regulativs (§ 41) schreibt die Form vor, in
welcher der Obductionsbericht (das motivirte Gutachten), falls es seitens des
Gerichtes eingefordert wird, von den Obducenten zu erstatten ist. „Es wird
unter Fernhaltung unnützer Formalien, mit einer gedrängten, aber genauen
Geschichtserzählung des Falles, wenn und soweit sie auf Grund einer Kennt-
nisnahme der einzusehenden Verhandlungen möglich ist, unter Angabe der
Actenfolien begonnen. Sodann wird das Obductionsprotokoll, jedoch nur so-
weit, als sein Inhalt für die Beurtheilung der Sache wesentlich ist, wörtlich
und mit den Nummern des Protokolls aufgenommen; dabei ist auf etwaige
Abweichungen von demselben ausdrücklich aufmerksam zu machen. Die
Fassung des Obductionsberichts muss bündig und deutlich sein, und die Be-
gründung des Gutachtens so entwickelt werden, dass sie auch für den Nicht-
arzt verständlich und überzeugend ist. Es haben sich die Obducenten daher
möglichst deutscher Ausdrücke und allgemein fasslicher Wendungen zu be-
dienen. Besondere Beziehungen auf literarische Quellen sind in der Eegel
zu unterlassen. Wenn den Obducenten für ihre Begutachtung richterlicher-
seits bestimmte Fragen vorgelegt werden, so haben sie dieselben vollständig
und möglichst wörtlich zu beantworten oder die Gründe anzuführen, aus
welchen dies nicht möglich gewesen. Der Obductionsbericht muss von beiden
Obducenten unterschrieben und, wenn ein Physicus die Obduction mit vor-
genommen hat, mit dessen Amtssiegel versehen werden. Jeder erforderte
Obductionsbericht muss von den Obducenten spätestens innerhalb vier Wochen
eingereicht werden."
Von diesen in dem preussischen Regulativ enthaltenen Bestimmungen
weichen diejenigen anderer Staaten meist nur unwesentlich ab, denn im
grossen und ganzen ist der Gang der Leichenuntersuchung behufs gericht-
licher Erhebungen entsprechend der Uebereinstimmung des erzielten Zweckes
überall gleich; besonders ist auch die Aufnahme des Sectionsprotokolls und
des Sectionsberichtes ein allgemeines Erfordernis aller Gerichte. Als der
wichtigste Punkt für den praktischen Wert einer jeden gerichtlichen Section
wird von den Behörden ausnahmslos eine möglichst sorgfältige Abfassung
des Obductionsprotokolls verlangt, infolge deren es möglich sein soll, jeder-
zeit aus dem Studium der schriftlichen Aufzeichnungen ein wahrheitsgetreues,
durchaus unzweideutiges Bild des seinerzeit gemachten Befundes zu gewinnen.
Bilden diese Aufzeichnungen des Protokolls doch die Grundlage der wichtig-
sten Schlussfolgerungen für den Richter sowohl, wie auch des Gutachtens des
Sachverständigen selbst, das nicht selten erst lange Zeit nach der Vornahme
der Section eingefordert wird, in vielen Fällen sogar die Basis für das Urtheil
anderer, später zugezogener Sachverständiger, ärztlicher CoUegien oder medi-
cinischer Facultäten. In der Technik weicht die vollständige gerichtliche
Section eines Leichnams von der allgemein üblichen pathologisch-anatomischen
704 SEUCHEN.
gemeinhin nur insoweit ab, als die specielle richterliche Fragestellung Modi-
ticationen des Verfahrens erheischt. In sehr zahlreichen Fällen werden dem
Gerichtsarzte namentlich auch Objecte zur Untersuchung vorgelegt, die von
der gewöhnlichen Beschaffenheit eines menschlichen Leichnams überaus ver-
schieden sind: Zerstückelte, gefrorene, verkohlte, exhumirte, hochgradig faule
Körper, Leichentheile oder Skeletfragmente, nicht selten auch Leichen, die
bereits vor ihm von anderer Hand secirt und wieder zusammengeflickt waren;
namentlich in letzterem Falle können die ungewöhnlichsten und überraschend-
sten Befunde gemacht werden, die naturgemäss mit dem eigentlichen Falle
absolut nichts zu thun haben (Asche, Gyps, Verbandstoffe, heterogene Organe
in den Körperhöhlen u. d. m.).
Hinsichtlich der Veröffentlichung gerichtsärztlicher Befunde gilt in
Oesterreich die gesetzliche Bestimmung, dass eine solche nicht vor Abschluss
der gerichtlichen Untersuchung gestattet ist. (Gesetz vom 17. Nov. 1862,
Entwurf eines neuen Strafgesetzbuches, § 137.) g. woltersdorf.
Seuchen. Unter Seuchen xat' l^oyj^\> versteht man Infectionskrank-
heiten, welche ständig an einem oder an mehreren Orten der Erde endemisch,
zu Zeiten ohne erkennbare äussere Veranlassung sich wandernd über einen
mehr oder weniger grossen Theil des Erdballes ausbreiten. Die Wanderungen
dieser Krankheiten sind dabei stets von einem erheblichen Verlust an Menschen-
material begleitet.
Nach dieser Definition würden demgemäss als eigentliche Seuchen
zu betrachten sein Cholera, Pest, Flecktyphus und Pocken. Die meisten
übrigen Infectionskrankheiten können, wie besonders Diphtherie, Scharlach,
Influenza, gelbes Fieber, gelegentlich einen seuchenartigen Charakter an-
nehmen, doch unterscheiden sie sich sowohl in ihren Heimatsverhältnissen
wie in ihrer Ausbreitungsweise erheblich von den eigentlichen Seuchen.
Cholera. 1. Heimat: Endemisch ist die Cholera beständig in der Ganges-
niederung.
2. Wanderungen: Grössere Züge trat die Cholera an in den Jahren
1817—1823, 1836—1837, 1846—1863, 1863— 1875, und schliesslich wandert
sie seit dem Jahre 1883 beständig über die Erde,
3. Krankheitserscheinungen. Als Prodromalerscheinungen treten
Schwindel, Ohrensausen, Kälte der Extremitäten und Diarrhoen auf. Auf der
Höhe der Krankheit besteht Erbrechen und Durchfälle (Reiswasserstuhl) und
Muskel-, besonders Wadenkrämpfe. Bei ungetrübtem Bewusstsein beginnt die
Temperatur zu sinken (Stadium algidum); schliesslich tritt^ der Tod ein. In-
cubationszeit 1 — 17 Tage. Mortalität 60^0-
4. Aetiologie. Durch die im Jahre 1883 nach Aegypten und Indien
entsandte deutsche Forschungsexpedition unter der Leitung Robert Koch's
wurde von diesem als Erreger der Cholera der „Commabacillus", der
Vibrio cholerae asiaticae entdeckt. Derselbe ist ein gegen äussere Einflüsse,
besonders gegen Säuren und Eintrocknen, sehr empfindliches Bacterium. Er
wächst auf Gelatine mit charakteristischen Colonien, die Gelatine verflüssigend;
er gibt Nitrosoindolreaction. Zur Differenzirung von anderen Vibrionen ge-
nügen sein Wachsthums- und andere Merkmale nicht, sondern ist sein Ver-
halten gegen Choleraimmunserum (PpEiFFER'sche Reaction) zu prüfen.
5. Verbreitung. Die Verbreitung der Cholera erfolgt hauptsächlich
auf zwei Wegen; einmal durch den Kranken und durch die von diesem her-
rührenden Dejecte (Contactcholera), dann durch das Wasser. Auch die Ver-
breitung durch Nahrungsmittel lässt sich meist in eine dieser Rubriken ein-
fügen, es ist aber auch möglich, dass durch Insecten Nahrungsmittel inficirt
werden.
SEUCHEN. 705
Was die erste Art der Verbreitung anbetrifft, so sind es vorzüglich
Leichtkranke, bei welchen die Diagnose noch nicht gestellt ist, die aber bei
leidlichem Wohlbefinden mit ihren Fäces schon erhebliche Mengen Vibrionen
entleeren, die die Ansteckung vermitteln. Auf diese W^eise findet die Ein-
schleppung auf dem Seewege und zwischen räumlich weit getrennten Orten
statt. Ungleich wichtiger und gefährlicher ist die Verbreitung der Cholera
durch das Wasser, da dies der Weg ist, auf welchem es zu einer ausgedehnten
Verseuchung von grossen Landstrecken kommt. Während bei der ersten Art
der Verschleppung der Cholera die Krankheitsfälle durch fortgesetzte An-
steckungen sich allmählich mehren, entstehen im letzteren Fall explosions-
artig Massenepidemien, wie es die jüngste Hamburger Epidemie treffend
illustrirt.
Das Wasser kann als Oberflächenwasser leicht inficirt werden, als Grund-
wasser schwerer, aber auch, sobald die Brunnen, wie es meistens leider der Fall
ist, nicht zweckmässig angelegt sind. In das Oberflächenwasser gelangen
vielfach die Fäkalien der Städte, ferner Spül- und Waschwasser und direct
werden in dasselbe entleert die Dejecte von Flössern und Schiftern. Im
Wasser sind die Vibrionen ziemlich lange haltbar und können sich sogar
vermehren.
6. Abwehrmaassregeln, a) internationale. Am 15. April 1893
wurden angesichts der drohenden Choleragefahr zu Dresden die Beschlüsse
der internationalen Choleraconferenz zur Abwehr der Cholera unterzeichnet,
und zwar von den Bevollmächtigten Deutschlands, Oesterreich-Ungarns, Ita-
liens, Frankreichs, der Niederlande, Russlands, der Schweiz, Belgiens, Luxem-
burgs und Montenegros. Später traten noch bei Dänemark, Spanien, Gross-
brittanien, Griechenland, Portugal, Rumänien, Serbien, Schweden und Nor-
wegen und die Türkei. Die wichtigsten Punkte sind folgende:
1. Jede Regierung ist verpflichtet, den diplomatischen oder consularischen
Vertretungen die Bildung eines Choleraheerdes anzuzeigen.
2. Ausgeschlossen können werden von der Einfuhr nur Leibwäsche,
Hadern und Lumpen.
3. Desinficirt sollen in allen Fällen werden schmutzige Wäsche, alte
und getragene Kleidungsstücke und Umzugsgut, falls dieselben aus einem
choleraverseuchten Bezirk stammen.
4. Landquarantainen sollen nicht mehr errichtet werden. Nur die an
Cholera, beziehungsweise an choleraverdächtigen Erscheinungen erkrankten
Reisenden dürfen zurückgehalten werden. Im übrigen sollen die Reisenden
untersucht werden und wenn sie aus einem verseuchten Ort stammen, einer
fünftägigen Ueb erwachung unterworfen werden.
5. Behandlung der Schiffe. Als verseucht gilt ein Schiff, welches Cho-
lera an Bord hat, oder auf welchem in den letzten sieben Tagen ein Cholera-
fall vorgekommen war. Verdächtig ist ein Schiff, das Cholera an Bord ge-
habt hat, jedoch nicht in den letzten sieben Tagen. Rein ist ein Schiff, das,
wenn es auch aus einem verseuchten Hafen kommt, Cholera nicht an Bord
gehabt hat.
Die Besatzung und die Passagiere eines verseuchten Schiffes werden,
wenn angängig, sofort ausgeschifft und einer Beobachtung, nicht länger als
fünf Tage, unterworfen. Die Kranken werden sofort ausgeschifft und isolirt.
Schmutzige Wäsche, Bekleidungsgegenstände u, s. w. werden desinficirt, ebenso
das Schiff (Auspumpen des Kielwassers, Ersatz des Trinkwassers). Bei ver-
dächtigen Schiffen findet eine ärztliche Revision statt, ferner Desinfection der
Wäsche und Bekleidungsgegenstände, falls dieselben nach Ansicht der Hafen-
polizei mit Cholera in Berührung gekommen sind und eventuell Desinfection
des Schiffes. Reine Schiffe werden sofort zum freien Verkehr zugelassen.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. «O
706 SEUCHEN.
h) locale. Das erste Erfordernis ist allgemeine Meldepflicht. In ver-
seuchten Orten sind alle Gelegenheiten zur Ansammlung grösserer Volks-
massen zu verbieten und sind demgemäss unter Umständen auch die Schulen zu
schliessen. Den hygienischen Verhältnissen des Ortes ist eine besondere Be-
achtung zu schenken, um neue Quellen der Infection zu verhüten und die
alten zu verstopfen. Kranke dürfen nicht in öffentlichen Verkehrsmitteln
transportirt werden. Leichen sind möglichst bald zu beerdigen. Allgemein
ist die Desinfection der Wohnungen, Wäsche und Kleider der Cholerakranken
durchzuführen. Wenn angängig, sind Kranke in ein Isolirspital zu über-
führen. Es ist dafür Sorge zu tragen, dass Waaren, die die Infection ver-
breiten können, den verseuchten Ort nicht verlassen. Der Eisenbahnverkehr
ist nicht einzuschränken, doch empfiehlt sich eine ärztliche Visitation der
Reisenden, ähnlich der auf den Schiffen durchgeführten.
Besonderes Augenmerk ist auf den Wasserverkehr zu richten. Eine
energisch durchgeführte Strompolizei hat verdächtige Schiffe und Flösse an-
zuhalten. Sämmtliche Schiffer und Flösser sind zu untersuchen und ist den-
selben strengstens zu verbieten, ihre Dejecte in die Wasserläufe zu entleeren.
Allgemein ist durch Belehrung vor dem Gebrauch von Flusswasser, sei es als
Trinkwasser, sei es als Spül- und Waschwasser, zu warnen. Es sind genügend
Brunnen zu errichten, aus welchen die Schiffer und Flösser ihren Bedarf an
Wasser entnehmen sollen.
Wegen der eminenten Bedeutung dieser Schutzmaassregeln ist denselben
an dieser Stelle ein breiterer Raum eingeräumt worden und kann bei den
übrigen Seuchen ein für alle Mal auf das oben Mitgetheilte verwiesen
werden.
Pest, Beulenpest, Bubonenpest. 1. Heimat, Es bestehen zur Zeit
mindestens zwei Pestherde, der eine im Inneren von China, der andere in
Mesopotamien. Zweifelhaft ist noch die Existenz eines dritten Herdes in
Centralafrika.
2. Wanderungen. Die Pesi hat von allen Seuchen die verheerendsten
Züge über die Erde angetreten. Sicher durchwandert sie seit der Marseiller
Pest (503) ständig Europa, ungeheure Menschenmassen dahinraffend (z. B. im
14. Jahrhundert der schwarze Tod). Für Europa ist die Pest im Laufe der
Jahrhunderte mehr und mehr in den Hintergrund getreten. 1878 — 1879 war
die letzte Epidemie in Europa (Astrachan). 1893 brach in Hongkong und
Kanton die Pest aus, seit 1896 wüthet sie in Vorderindien.
3. Krankheitserscheinungen. Die Incubationszeit wird auf sieben
bis zehn Tage angegeben. Die Krankheit beginnt mit Schüttelfrösten, hohem
Fieber, Benommenheit. Nach einigen Tagen schwellen die Lymphdrüsen an.
Erlebt der Kranke den fünften Tag, so ist er meist gerettet, und pflegen
dann die Bubonen zu vereitern. Häufig kommt auch eine primäre Lungen-
pest vor, die klinisch als Pneumonie verläuft und immer zum Tode führt. Sonst
ist die Mortalität über 80 7o.
4. Aetiologie Als Erreger wurde von Yeesin der Pestbacillus ent-
deckt. Ein ziemlich kleines, unbewegliches, sich gern polständig färbendes
Stäbchen, das mit charakteristischen Colonien auf Gelatine wächst. Sicher
wird es durch Reaction auf Pestserum analog dem Vibrio cholerae asiaticae
diagnosticirt.
5. Verbreitung. Die Verbreitung ist ausschliesslich eine directe
Uebertragung. Fälle von Verbreitung durch Waaren sind nicht bekannt, wohl
auch sehr schwer möglich, da drei- bis viertägiges Eintrocknen den sehr em-
pfindlichen Pestbacillus abtödtet. Die rapide Fortpflanzung der Pest in einem
Ort und die Sprünge von Haus zu Haus, ohne dass eine Berührung der
Menschen stattgefunden hatte, erklären sich durch das Verhalten der Ratten.
Diese sind für Pest äusserst empfängliche Thiere und haben die Angewohn-
i
SEUCHEN. 707
heit, sobald sie an Pest erkranken, in die Wohnungen der Menschen zu kommen,
um dort zu verenden. Mit ihren Excrementen entleeren sie massenhaft Pest-
bacillen, durch kleinste Hautverletzungen gelangen die Pestbacillen meist in
den Körper, doch kommt, wie schon erwähnt, auch eine Inhalationspest vor.
5. Abwehrmaass regeln. Strengste Isolirung der Erkrankten. Sorg-
fältigst ist alles zu vernichten, was irgendwie mit Pestbacillen verunreinigt
worden sein kann. Vor allem sind die Wohnungsverhältnisse zu verbessern
und für Ausrottung des die Pest verbreitenden Ungeziefers zu sorgen, welches
als in seinen Wegen uncontrolirbarer Verbreiter der Pest sehr gefährlich
ist. Im übrigen sind locale und internationale Schutzmaassregeln im all-
gemeinen analog denen bei der Cholera zu treffen. Die Quarantainezeit be-
trägt jedoch nach den Abmachungen der Conferenz zu Venedig für pestver-
dächtige Schifte elf Tage.
Pocken, Variola, Blattern. 1. Heimat. Die Pocken sind die älteste
uns bekannte Seuche. Ihre Heimat ist in Indien, China und Centralafrika zu
suchen. Aus China stammen Nachrichten über Pockenepidemien, die auf das
Jahr 1122 vor Christus hinweisen.
2. Wanderungen. Seit dem Ende des sechsten Jahrhunderts sind
Wanderungen der Pocken über Europa bekannt, und wandert seit dieser Zeit
die Seuche beständig über den ganzen Erdball.
3. Aetiologie. Der Pockenerreger ist zur Zeit noch völlig unbekannt.
All die vielfachen Untersuchungen haben nichts Positives ergeben, wenigstens
nichts, das vor der Kritik stand gehalten hätte. Wenn wir auch so über
den Erreger der Pocken noch völlig im unklaren sind, so wissen wir we-
nigstens, dass das Contagium in den Hautschuppen, dem Sputum, dem Nasen-
secret, dem Eiter und den Borken der Kranken sicher enthalten ist.
4. Krankheitserscheinungen. Die Incubationszeit der Pocken
beträgt 10^13 Tage. Die Krankheit selbst verläuft in vier Phasen. Zunächst
tritt das Stadium invasionis, das Prodromalstadium, ein, welches durch
Schüttelfröste und hohes Fieber charakterisirt ist und drei bis vier Tage dauert.
Es tritt dann während des zweiten Stadiums, dem Stadium eruptionis, ein bis
zum neunten Tage anhaltender Fiebernachlass ein. In diesem Stadium treten
die Papeln auf. Das sich anschliessende Stadium macerationis, das Eiter-
fieber, zeichnet sich durch remittirendes Fieber aus, und dauert vom neunten
bis zum elften Tag. Im Stadium exsiccationis trocknen schliesslich die Eiter-
pusteln ein und entfiebert sich der Kranke lytisch.
5. Verbreitung. Die Pocken werden hauptsächlich durch Berührung
verbreitet. Dieselbe braucht durchaus keine directe zu sein, sondern auch
Mittelspersonen können das Contagium verschleppen und inficiren. Auch die
Luft in den Krankenräumen wirkt höchst wahrscheinlich ansteckend. Als
äusserst gefährliche Mittel zur Verbreitung der Seuche erscheinen auch hier
wiederum die Kleider, Wäsche und Gebrauchsgegenstände von Kranken. Ganz
besonders geeignet zur Uebertragung sind gerade bei den Pocken diese Gegen-
stände, da das Contagium der Pocken nicht von der Kurzlebigkeit der Er-
reger der Cholera und der Pest ist, sondern anscheinend sehr lange seine
Ansteckungsfähigkeit sich erhalten kann.
6. Abwehrmaassregeln. Selbstverständlich ist es absolut nothw^endig,
bei der eminenten Ansteckungsfähigkeit der Pocken die Kranken in Isolir-
spitälern zu behandeln, und eine strenge Desinfection aller Gegenstände, mit
denen die Kranken nur irgendwie in Berührung gekommen sein können, durch-
zuführen. Auch die Wohnungen sind sorgfältigst zu desinficiren, da sich
auch in diesen lange Zeit das Contagium erhalten kann. Es sind Fälle
beobachtet worden, wo in nicht oder nicht gründlich desinficirten Wohnungen,
in denen Pockenkranke gelegen haben, noch nach Monaten bei den neuen
Bewohnern Ansteckung vorgekommen ist.
45*
708 SIMULATIONEN.
Nicht zu unterschätzen sind auch die Leichen von Pockenkranken als
Träger des Infectionsstoffes, und ist deshalb der Unschädlichmachung dieser
durch Einhüllen in mit Desinfectionsflüssigkeiten getränkten Tüchern, baldigen
Transport aus der Wohnung, sorgfältiger Einsargung und Beerdigung beson-
dere Sorgfalt zukommen zu lassen.
So nothwendig alle diese Maassnahmen sind, wenn die Pocken irgendwo
auftreten, so haben sie sich doch als recht unzulänglich erwiesen. Länder,
wie Frankreich und Oesterreich, welche diese Schutzraaassregeln aufs sorg-
fältigste durchführen, können doch die Pocken nicht unterdrücken. Einzig
und allein ist dies durch eine obligatorische Schutzimpfung möglich. (Siehe
Schutzimpfung.)
Flecktyphus, Hungertyphus. 1. Heimat. Der Flecktyphus ist heimisch
in Irland, Russland, Galizien und im Orient.
2. Wanderungen. Die Wanderungen des Flecktyphus scheinen in den
letzten Jahrzehnten nachgelassen zu haben, und ist Deutschland seit den letzten
20 Jahren von Epidemien verschont geblieben.
3. Krankheitserscheinungen. Nach einer Incubationszeit von
3—21 Tagen setzen mit hohem Fieber Schüttelfröste ein. Am dritten Tage
treten reichlich Roseolen auf. Das Fieber hält mit geringen Remissionen von
sechs bis acht Tagen bis zum 17. Tage an, um dann kritisch abzufallen.
4. Aetiologie. Die Aetiologie ist völlig unbekannt. Das Contagium
findet sich an den Bekleidungsgegenständen der Kranken und in der Kranken-
zimmerluft.
5. Abwehrmaassregeln. Vor allem sind die allgemeinen hygienischen
Bedingungen zu heben. Nur wo Schmutz und Elend herrscht, sind ausgedehnte
und anhaltende Epidemien beobachtet worden. Im übrigen sind die Maass-
nahmen bei vorhandenem Flecktyphus analog den Maassregeln bei den Pocken-
kranken zu treffen. Ganz besonders ist noch die eminente Ansteckungsgefahr
für Aerzte und Krankenpfleger hervorzuheben. Als bester Schutz für die
Personen, die mit den Kranken in Berührung kommen, erscheint die aus-
giebigste Lüftung der Krankenzimmer. marx.
Simulationen (Verstellungen). (Forensisch.)
Gesetzliche Bestimmungen.
Deutsches Reich. Strafgesefzbuch vom 15. Mai 1871.
§ 142. Wer sich vorsätzlich durch Selbstverstümmelung oder auf andere Weise zur
Erfüllung der Wehrpflicht untauglich macht oder durch einen anderen untauglich machen
lässt, wird mit Gefängnis nicht unter einem Jahre bestraft; auch kann auf Verlust der
bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Dieselbe Strafe trifft denjenigen, welcher einen
anderen auf dessen Verlangen zur Erfüllung der Wehrpflicht untauglich macht.
§ 143. Wer in der Absicht, sich der Erfüllung der Wehrpflicht ganz oder theilweise
zu entziehen, auf Täuschung berechnete Mittel anwendet, wird mit Gefängnis bestraft;
auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden. Dieselbe Straf-
vorschrift findet auf den Theilnehmer Anwendung.
Militär-Straf-Ge setzbuch für das deutsche Reich vom 20. Juni 1872.
§§ 81, 82, 83 handeln von der vorsätzlichen Selbstverstümmelung und ihrer Be-
strafung und von der Anwendung eines auf Täuschung berechneten Mittels, um sich
der Erfüllung der gesetzlichen oder übernommenen Verpflichtung zum Dienste zu ent-
ziehen.
Vgl. auch Unfallversicherungsgesetz für das deutsche Reich vom 6. Juli 1884,
§§ 51 ff., über die vollständige und theilweise Erwerbsunfähigkeit und die Anwendung der
Entschädigungstarife.
Oesterreich. Im gegenwärtigen österreichischen Strafgesetzbuch vom 27. Mai 1852,
RGBl. Nr. 117, ist keine positive Bestimmung über die Simulation enthalten, dieselbe
wird jedoch als Verbrechen des Betruges geahndet:
§ 197. „Wer durch listige Vorstellungen oder Handlungen einen anderen in
Irrthum führt, durch welchen jemand, sei es der Staat, eine Gemeinde oder andere
Person, an seinem Eigenthume oder an anderen Rechten Schaden leiden soll; oder wer in
dieser Absicht und auf die eben erwähnte Art eines anderen Irrthum oder Unwissenheit
SIMULATIONEN. 709
benützt, begeht einen Betrug; er mag sich hierzu durch Eigennutz, Leidenschaft, durch
die Absicht, jemanden gesetzwidrig zu begünstigen oder sonst durch was immer für eine
Nebenabsicht haben verleiten lassen."
Ueber das Verbrechen der Selbstbeschädigung handeln §§ 293, 294 und 677
des Militär-Strafgesetzes; die Circ.-Verordnung vom 13. Mai 1873, Nr. 3380, Abthlg. 2, N.V.B.
Nr. 22 enthält die näheren Bestimmungen.
Dahin zu beziehen sind auch §§ 6, 29, 31, 38 des Gesetzes vom 28. December 1887
betreffend die Unfallversicherung der Arbeiter mit analogen Bestimmungen über
gänzliche oder theilweise Erwerbsunfähigkeit, wie im deutschen ünfallversicherungsgesetz.
Ganz mit Unrecht ist in den meisten neueren Lehrbüchern der gericht-
lichen Medicin die Lehre von den verstellten Krankheiten (Simu-
lationen) stiefmütterlich oder gar nicht behandelt. Dieser Theil der foren-
sischen Medicin hat ganz im Gegensatz zu der behaupteten Abnahme und
geringeren Bedeutung der Simulationen vielmehr durch die neuen Socialgesetze
eine erhöhte Bedeutung gewonnen. Nicht nur der Militärarzt und der Gerichts-
arzt haben sich damit zu befassen, sondern jeder Krankencassenarzt und Un-
fall-Sachverständige. Die Zahl der auf diesen Gebieten versuchten und auch
durchgeführten betrügerischen Verstellungen und Vortäuschungen ist Legion.
(Nach Urtheilen erfahrener Aerzte 50 — SO^o aller Fälle.)
Aber auch auf dem engeren Gebiete der strafrechtlichen Sachverstän-
digenthätigkeit ist die Zahl der Simulationen keineswegs klein, innerhalb ge-
wisser Grenzen der Versuch derselben vielmehr fast Regel, wenigstens in der
Form der Uebertreibung. Ich kann aus eigener reicher Erfahrung sagen,
<lass weit mehr als die Hälfte aller Verletzten die Verletzungsfolgen über-
treibt. Die Dauer der Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit wird weit
über das richtige Maass angegeben, kleine Störungen zu grossen erhoben,
wie etwa Ohrensausen zu Taubheit, und eine etwas erschwerte Beweglichkeit
zur Lähmung und völligen Gebrauchsunfähigkeit des verletzten Theiles.
Jedem Gutachter ist daher gegenüber den subjectiven Angaben Verletzter,
finde die Untersuchung für Unfall-, Krankenversicherungs- oder Strafrechts-
zwecke statt, ein grosses Maass von Vorsicht und kühler Zurückhaltung drin-
gend zu empfehlen. Ziel der Untersuchung ist der Nachweis der objectiven
Veränderungen und ihrer -thatsächlichen Folgen, das Mittel dazu die Heran-
ziehung aller erprobten klinischen Untersuchungsmethoden.
Wie mannigfach die Täuschungen und Verstellungen im einzelnen
auch sind, so gibt es gleichwohl auch auf diesem Gebiete häufig und mit einer
gewissen Piegelmässigkeit wiederkehrende Typen, welche im Folgenden eine
gedrängte Darstellung finden.
Zuvor aber mögen noch einige allgemeine Gesichtspunkte über
das Erkennen der Simulation Platz finden. Ein gemeinsamer Zug bei
allen Simulanten ist die Ueber Schätzung kleiner, wirklich vorhandener
Gebrechen. Hat er ein unbedeutendes Geschwür am Fuss, so hinkt er, als
wäre die ganze Sohle wund, und behauptet, nicht gehen zu können; besteht
irgend wo eine Anschwellung oder Blutaustretung, so gibt er bei der leisesten
Berührung Schmerzäusserungen von sich, welche zur wirklichen Störung im
schreienden Missverhältnisse stehen; ist an einem Gelenke noch eine Ver-
dickung als Ptest einer längst abgelaufenen Entzündung vorhanden, so bewegt
er dasselbe activ gar nicht, bei passiver Bewegung spannt er die Muskeln an
und fixirt dasselbe. Diese (scheinbare) Hyperästhesie erweckt mit Recht zu-
erst das Misstrauen des Arztes. Ueberraschungen können dasselbe in solchen
Fällen mitunter bald bestätigen, z. B. unerwartete Besuche zu ungewöhnlicher
Zeit, bei schlechtem Wetter nach sehr kurzen Zwischenräumen. (Casper.)
Ein weiterer gemeinsamer Zug ist die Verzerrung der Krankheits-
bilder. Der Simulant glaubt recht drastisch auftreten oder sich äussern zu
müssen; in dem Bestreben recht augenfällig krank zu erscheinen, überschlägt
er sich und wird durch seine Aufdringlichkeit verdächtig. Er kennt nur ein-
710 SIMULATIONEN.
zelne Symptome, die er maasslos vergrössert, doch vermag er niemals die Ge-
sammtheit der Erscheinungen, welche zusammengenommen erst die Diagnose
einer Krankheit begründen, wiederzugeben. Der Simulant schafft nur Zerr-
bilder und nicht innerlich wahre Krankheitsbilder; viele Symptome, die vor-
handen sein müssten, wäre die Krankheit wahr, fehlen, die herausgerissenen
Einzelsymptome sind übertrieben. Im Spiegel einer sachkundigen, auf voller
Kenntnis der wirklichen Krankheitsbilder fussenden Diagnostik erscheinen
daher die verstellten Krankheiten gegenüber den wahren wie eine verzerrte
Fratze gegen die Harmonie eines schönen Gesichtes.
Infolge Unkenntnis der Erscheinungen und des Verlaufes der Krank-
heiten sind die Angaben des Krankheitsschwindlers oft wider-
spruchsvoll und wechselnd, so dass er durch Suggestivfragen leicht aufs
Eis geführt und so überführt werden kann. Es ist dies besonders bei an-
geblichen Fehlern der Sinnesorgane, sowie bei entzündlichen und nach Ver-
letzungen entstandenen Leiden der Fall. In anderen Fällen erweckt mitunter
gerade das Umgekehrte, das Stereotype der Angaben Verdacht und be-
gründet die Diagnose der Simulation. So ist eine beständig gleichbleibende
Localisation und Intensität neuralgischer und rheumatischer Beschwerden,
das fortgesetzt gleiche Jammern über dieselben Schmerzen innerlich völlig
unwahr und daher ein Zeichen der Simulation. Das Befinden des an einer
chronischen Krankheit Leidenden gleicht einer unregelmässigen Ebbe und
Fluth, sagt E. Heller (Simulationen und ihre Behandlung, Fürstenwalde 1882)
mit Recht; er befindet sich bald besser, bald schlechter, klagt heute über die
eine Stelle mehr, morgen über andere, ist entweder hoffnungsvoll oder
verzagt, und spricht sich gern über den Wechsel seines Zustandes aus. Der-
jenige aber, welcher sich freiwillig auf das Krankenlager begibt, um dem Arzt
die Ueberzeugung eines chronischen Leidens beizubringen, wiederholt mit
einer gewissen Monotonie täglich dieselben Klagen.
Die vorgeschützten Krankheiten im Einzelnen,
1. Innere Krankheiten. Die Vortäuschung oder willkürliche Er-
zeugung innerer Krankheiten wurde in früheren Zeiten zweifellos in weit
grösserem Maasse betrieben, als dies heute der Fall ist, wenn es auch gegen-
wärtig an derartigen Unternehmungen keineswegs fehlt. Meist beschränkt sich
die Simulation auf allgemeine, vage Angaben und Klagen über rheuma-
tische Schmerzen, Stechen auf der Brust, Fieber, Hitze, Unter-
leibsbeschwerden, Magen- und Darmleiden, Herzleiden. Recht
häufig ist eine absichtliche Verlängerung der Reconvalescenz nach
wirklichen Krankheiten, wobei zur Täuschung des Arztes die verschiedensten
Mittel angewendet werden, wie freiwilliges Hungern zur Herbeiführung künst-
licher Abmagerung oder fortgesetzte Einverleibung schädlicher Substanzen^
selbst gefährlicher Gifte zur Erzeugung dauernden Siechthums (Ver-
schlucken von Tabak oder Einführen desselben ins Rectum, Trinken von Essig,,
absichtlich fortgesetzter Gebrauch von Quecksilber, Phosphor, Canthariden,
Opiaten, Digitalis u. s. f.). Bekannt ist auch das künstliche Bluthusten,
herbeigeführt durch Saugen am Zahnfleisch oder Verschlucken von Thierblut,
sowie die willkürliche Aphonie, das Sprechen ohne genügende An-
spannung der Stimmbänder.
Der Nachweis erfordert vor allem fortgesetzte sorgfältige Beobachtung^
gründliche Untersuchung mit allen Behelfen moderner Diagnostik und Ver-
gleichung der gewonnenen Ergebnisse mit den bekannten Krankheitsbildern.
Hiebei ist es wichtig, bis zur Sicherung des eigenen Urtheiles den Simulanten
in die Meinung zu versetzen, dass man ihn wirklich für krank hält. Die
Ueberführung wird dadurch viel leichter werden; der vertrauensselige Schwindler
wird bald dreist und kann meist unschwer zu Albernheiten verleitet werden.
SIMULATIONEN. 711
welche ihn entlarven. Die wissenschaftliche Diagnose der Simulation fusst
aber stets: 1. Auf dem völligen Dunkel der Aetiologie; 2. auf der Incongruenz
des vorhandenen Krankheitsbildes mit dem klinischen Bilde einer bekannten
Krankheit; 3. auf dem vielfach wechselnden, atypischen Verlauf der Erschei-
nungen.
2. Aeussere Krankheiten. Sehr häufig ist die Vortäuschung von
Bewegungsstörungen und Gelenkleiden nach Verletzungen. Der
Verletzte, welcher thatsächlich einen Beinbruch, eine Verrenkung, Quetschung,
Stich-, Schnitt- oder Schussverletzung erlitten hat, behauptet, nachdem schon
längst Heilung im chirurgischen Sinne eingetreten ist, noch immer, Hand,
Arm, Fuss oder Bein nicht gebrauchen, das Gelenk nicht bewegen zu
können. Der Nachweis, ob noch eine Functionsstörung besteht oder nicht, kann
mitunter schwierig sein. Neben den oben erörterten Grundsätzen über den
Nachweis von Simulationen ^verden hiebei noch besonders zu beachten sein:
1. Der Ernährungszustand des betreffenden Gliedes, welcher bei wirklich
bestehenden Functionsstörungen meist stark gelitten hat; 2. das Verhältnis
der objectiven Symptome zu den angeblichen Functionsstörungen. Es wird
sich bei Simulation stets ein Missverhältnis zwischen behaupteter Störung
und objectivem Befund nachweisen lassen, z. B. eine leicht bewegliche Haut-
narbe bei behaupteter Steifigkeit des darunter liegenden Gelenkes u. dgl.
Contracturen durch willkürliche Anspannung der Musculatur, sowie frei-
willige Verkrümmungen und Schiefhaltungen werden vom sachkun-
digen Arzte bald erkannt werden.
Künstlich erzeugte Hautgeschwüre an Füssen und Unterschenkeln
(sogenannte Fussgeschwüre) kommen wohl noch regelmässig zur Beobachtung.
Sie fallen mitunter durch ihre kreisrunde Form und den festsitzenden unge-
mein scharf abgegrenzten Schorf auf. Solche Geschwüre sind durch Auf-
binden von alten Kupfermünzen erzeugt worden. Auch durch scharfe
Pflanzensäfte, Canthariden u. dgl. werden diese Geschwüre hervorgerufen und
unterhalten.
Eine eigenthümliche, praktisch sehr wichtige Verstellung ist die an-
gebliche Entstehung von -Bruchleiden oder Vorfällen durch Traumen.
Jemand wurde misshandelt, getreten, geschlagen, geworfen, oder ist bei der
Arbeit hingefallen oder irgendwo angeschleudert worden und behauptet, da-
durch einen Leibschaden erworben zu haben. Die Untersuchung ergibt that-
sächlich das Vorhandensein einer Hernie. Wie verhält es sich mit dem ur-
sächlichen Zusammenhang ? Hernien entwickeln sich bekanntlich langsam auf
vorgebildeten Wegen. Ein schon vorhandener Leibschaden kann infolge eines
Traumas vielleicht etwas stärker hervortreten, möglicherweise selbst vom Ver-
letzten erst jetzt wahrgenommen werden; die rein traumatische, acute Ent-
stehung eines Bruches gehört zu den grössten Seltenheiten. Eine solche ist
aber leicht nachw^eisbar, weil sie ohne Zerreissungen nicht zu Stande kommen
kann und diese sich durch schwere Symptome der Einklemmung und Bauch-
fellreizung im unmittelbaren Anschlüsse an das Trauma bemerkbar machen
müssen. Findet man bei der Untersuchung eines Verletzten, wo diese Folge
behauptet wird, einen frei beweglichen oder wenig schmerzhaften Leistenbruch
oder Schenkelbruch, so ist der ursächliche Zusammenhang mit einem jüngst
erlittenen Trauma bestimmt in Abrede zu stellen.
Ganz dasselbe gilt von den Scheiden- und Gebärmuttervorfällen, welche
Weiber mitunter betrügerisch zur Erlangung hoher Ersatzansprüche zu ver-
werten suchen. Diese Leiden entstehen ebenfalls allmählich und müsste eine
behauptete acut-traumatische Entstehung schwere Erscheinungen im unmittel-
baren Anschlüsse an die Beschädigung zur Folge haben. Reactionslosigkeit,
Reponirbarkeit und epidermisartiger Charakter der prolabirten Schleimhaut
beweisen die allmähliche Entstehung und den langen Bestand des Uebels.
712 SIMULATIONEN.
3. Augenleiden. Blindheit beider Augen vorzutäuschen; ist
für längere Zeit wohl kaum möglich; diese Simulation erfordert ein un-
gewöhnlich grosses Maass von Ausdauer und Entsagungsfähigkeit. Würde
ein solcher Versuch dennoch unternommen werden — und es sind Fälle be-
kannt geworden — so wird neben dem völligen Mangel objectiver Befunde
zur Entlarvung insbesondere das Verfahren von Bürchaedt zweckmässig
sein, welches auf dem Nachweis von Kenntnissen beruht, die der Simulant
nur durch Sehen erworben haben kann.
Viel häufiger ist die Simulation einseitiger Blindheit als an-
geblicher Verletzungsfolge. Alle wirksamen Versuche zur Entlarvung dieser
Verstellung beruhen darauf, den Simulanten glauben zu machen, er sehe etwas
mit dem gesunden Auge, was er in Wirklichkeit mit dem angeblich blinden
sieht. Die bekannteste, meist am schnellsten zum Ziele führende Methode
ist der Prismen versuch von Gräfe. Ein steiles, dreiseitiges Prisma (nicht
unter 12**) vor das gesunde Auge gehalten, lenkt die Sehprobe nach der Seite
der scharfen Kante ab, während das andere Auge die Sehprobe an der rich-
tigen Stelle sieht, wenn es überhaupt sieht. Der Simulant sieht also zwei
Bilder, er sieht doppelt. Gibt er dies zu, so ist er entlarvt. Statt des ein-
fachen Prismas kann man auch das Stereoskop anwenden. Bei diesem
Verfahren (Rabl-Rückhard) wird nicht die stereoskopische Wirkung des
räumlichen Sehens verwertet, sondern die durch den Wettstreit der Sehfelder
erzeugten Erscheinungen, welche hervorgerufen werden, indem man zwei ver-
schiedene Bilder vorlegt, die beim binoculären Sehen keine Vereinigung
zum Bilde eines Körpers zulassen. Nimmt der Untersuchte hiebei Farben
oder Figuren wahr, welche nur in dem, dem angeblich blinden Auge vor-
gesteckten Bilde sich finden, so ist er überführt. Mit Vortheil können die
BuRCHARDT'schen oder RABL'schen Tafeln (Vierteljahrschr. f. ger. Med. 1876)
für die stereoskopischen Prüfungen verwendet werden. Sehr einfach und ver-
lässlich ist auch der KuGEL'sche Versuch. Man setzt ein dunkel gefärbtes,
aber durchsichtiges Glas vor das angeblich erblindete Auge und ein gleich-
gefärbtes, aber undurchsichtiges Glas vor das sehende Auge, Wenn jetzt ein
vorgehaltenes Object, z. B. ein Finger, erkannt wird, so ist einseitige Amau-
rose ausgeschlossen, (v. Hasner.)
Herabsetzung der Sehschärfe ist mitunter eine wirkliche Folge
von Verletzungen, aber auch häufig eine ganz unwahre Angabe des Verletzten.
Die Prüfung der gesunkenen Sehschärfe findet nach vorausgegangener Unter-
suchung des Auges bei seitlicher Beleuchtung und mit dem Augenspiegel in
der bekannten Weise mittels Brillengläser und der SNELLEx'schen Tafeln
statt. Simulation einer amblyopischen Störung oder gänzlicher Erblindung ist
wahrscheinlich, wenn die Regenbogenhaut bei abwechselndem Bedecken und
Oeffnen des untersuchten oder auch des anderen Auges, bei concentrirter
Beleuchtung des Auges, normal reagirt; ferner wenn die ophthalmoskopische
Untersuchung keinerlei Anhaltspunkte für die Diagnose einer Erkrankung
des lichtempfindenden Apparates ergibt, und die normale Parallelbewegung
der Augen erhalten geblieben ist (v. Hasner in v. Maschka's Handb. der
ger. Med.), endlich wenn bei raschem und vielfältigem Wechsel der Gläser
und Entfernungen der Sehproben widersprechende Angaben gemacht werden.
Mit dem Optometer von Gödicke (3 Linsen: -f- V261 ~ V26 ^^^ + Vis) kann
die Sehschärfe ziemlich schnell bestimmt und etwaige Ametropie festgestellt
werden.
Einengung des Gesichtsfeldes wird wohl nie ganz ohne Grund
angegeben, doch sind Uebertreibungen nich selten, um einen höheren Grad
von Erwerbsunfähigkeit zugebilligt zu erhalten (Heller). Accommoda-
tionsstörungen können als solche nicht simulirt werden, wohl aber sind
SIMULATIONEN. 713
p'älle beobachtet worden, wo diese künstlich durch absichtliche Anwendungen
von Atropin oder Calabar herbeigeführt wurden.
Nicht selten sind die absichtlich erzeugten Bindehautentzündungen.
Sie werden durch Einbringen von Fremdkörpern in den IMndehautsack er-
zeugt und unterhalten (Tabaksaft, Tabakstaub, Tabakasche, Weingeist, Brannt-
wein, Kochsalz, Pfeffer, Paprika, Kupfervitriol, Höllenstein, Aetzkalk, Can-
thariden, Obstkerne, Krebsaugen, Strohhalme, Glassplitter, Seife u. andere
Dinge). In einzelnen Fällen sollen sich Militärpflichtige sogar Cataracte durch
Nähnadelstiche erzeugt (Lawrence) und durch Höllensteinätzungen künstliche
Hornhautgeschwüre hervorgerufen haben (Zander).
4. Ohrkrankheiten. Seh w erhör igkeit als angebliche Verletzungs-
folge ist eine ungemein häufige Simulation. Die Angabe ist entweder voll-
ständig erlogen, oder es liegt Uebertreibung vor, oder es wird der Versuch
gemacht, längst bestandene Schwerhörigkeit gelegentlich einer Verletzung
möglichst gut zu verwerten. Die Prüfung erfolgt durch Bestimmung der
Hörweite jedes einzelnen Ohres beim lauten Sprechen und Flüstern. Ge-
schickt gewählte Uebergänge, die als Ueberraschungen wirken, führen meist
zur Aufdeckung einer falschen Angabe.
Einseitige Taubheit wird nicht selten vorgetäuscht; sie wird oft
als Folge von verhältnismässig geringfügigen Verletzungen behauptet (Ohr-
feigen). Das einfachste Verfahren zum Nachweis dieser Simulation ist nach
Trautmann der Stimmgabel versuch. Setzt man eine stark tönende Stimm-
gabel auf die Mitte des Scheitels, der Stirne oder auf die Zähne, so wird sie
unter normalen Verhältnissen auf beiden Seiten gehört. Liegt eine Erkran-
kung des schallleitenden Apparates vor, so wird sie nach der kranken, bei
Krankheiten des schallemptindenden Apparates nach der gesunden Seite ge-
hört. Hört jemand bei einseitiger Taubheit die Stimmgabel nach der ge-
sunden Seite und man lässt diese mit dem Finger verschliessen, so muss er
die Stimmgabel nach der gesunden Seite verstärkt hören, behauptet er, sie gar
nicht zu hören, so liegt auf der kranken Seite bestimmt Uebertreibung vor.
Lässt man das gesunde Ohr mit dem Finger abschliessen und spricht nur
mittellaute Worte in nächster Nähe, so müssen diese bei normaler Hör-
fähigkeit trotz des Verschlusses gehört werden. Gibt der Untersuchte an,
sie nicht zu hören, so liegt auf der angeblich kranken Seite Uebertrei-
bung vor.
Doppelseitige Taubheit wird ebenfalls ab und zu simulirt, un-
gleich seltener allerdings als die einseitige. Ihre Entdeckung ist auch
schwieriger, wenn der Betreffende sehr ausdauernd ist. Wichtig für die Er-
kennung sind Anamnese und objectiver Befund, sowie der Gesichtsausdruck,
welcher bei wirklich Tauben ein gespannt lauschender ist, während der Fälscher
bei dieser für ihn nicht nöthigen, einseitigen Anspannung leicht ermüdet.
Der Simulant verräth sich manchesmal durch Mienen, Geberden oder Be-
wegungen, wenn vom Arzte unerwartete Bemerkungen, die Ehre und
Schamgefühl verletzen, gemacht werden. Lässt man hinter dem Bücken des
Exploranden einen schweren Gegenstand zu Boden fallen, so wird der wirklich
Taube sich ängstlich umsehen, er ist erschreckt durch plötzlich verspürte
Schwingungen des Fussbodens, der Simulant dagegen wird wie angewurzelt
unbeweglich bleiben — denn er darf ja nichts hören — und sich dadurch
verrathen.
5. Erkrankungen des Nervensystems. Lähmungen werden
nicht ganz selten vorzutäuschen versucht. Bekanntlich können solche ohne
Atrophie längere Zeit hindurch nicht bestehen und es stellt sich dann auch
Entartungsreaction ein. Wiederholte sorgfältige Untersuchungen, namentlich
Prüfungen der galvanischen und faradischen Erregbarkeit werden den Betrug
bald aufdecken.
7J4 SIMULATIONEN.
Neuralgien können manchmal lange Zeit hindurch mit Glück simu-
lirt werden. Menschen, welchen die Symptome der Krankheit aus eigener
Erfahrung von früher her bekannt sind, localisiren die Schmerzen ganz richtig,
und da physikalisch nachweisbare Erscheinungen bekanntlich fehlen, so ist es
oft sehr schwierig, mitunter vielleicht ganz unmöglich, diese Simulation zu
entlarven.
Anästhesien werden ebenfalls, gewöhnlich in Verbindung mit Paresen
glücklich simulirt. Fester Wille und Entschlossenheit leisten oft selbst
den schmerzhaftesten Proben vollkommen Widerstand. Bei der zum Zwecke
der Entdeckung nothwendigen gesonderten Prüfung aller drei Empfindangs-
qualitäten, des Tast-, Ort- und Temperatursinnes, werden sich beim Simu-
lanten in der Regel sehr bald Widersprüche ergeben, oder er wird durch
Uebertreibungen auffallen. (Vgl. Burchardt, Diagnostik der Simulation von
Gefühlslähmungen. Berlin 1875).
Epilepsie wird besonders von Militärpflichtigen nicht allzu selten
simulirt u. zw. oft mit Glück. Mir ist ein Fall bekannt, wo ein sehr
intelligenter, vollkommen gesunder Bursche durch Simulation von Epilepsie
der schweren Dienstpflicht als Matrose sich gänzlich entzogen hat. Mit dreister
Behaglichkeit hat der aus dem Militärverbande gänzlich Entlassene mir einst
die Geschichte seines Fallsucht-Schwindels erzählt und war so freundlich, mir
sogar einen epileptischen Anfall vorzuspielen. Die Diagnose der Simulation
kann sich nur auf die directe Beobachtung des Anfalles stützen. Das Augen-
merk ist hiebei vor allem auf jene Symptome zu richten, welche willkürlich
nicht hervorgerufen werden können: Leichenblässe des Gesichtes im Beginne
des Anfalles, harter Puls zu Beginn während des tonischen, weicher und
voller Puls während des klonischen Krampfstadiums; Vorwiegen der Krampf-
erscheinungen auf einer Körperseite; Durchgehen des Krampfanfalles durch
ein Soporstadium mit reactionslos erweiterten Pupillen, Unerregbarkeit der
Sinnesthätigkeit und Sensibilität, Aufgehobensein der Reflexe.
Die nach allgemeinen Erschütterungen des Nervensystems, namentlich
nach Eisenbahnunfällen auftretende traumatische Neurose (Railway spine)
ist auch in manchen Fällen eine Simulation oder Uebertreibung. Die Richtig-
stellung erfordert längere Zeit fortgesetzte systematische Beobachtung der
Erscheinungen und des Verlaufes. Eine echte traumatische Neurose ent-
wickelt sich in der Regel allmählich und hat meist progressiven Charakter.
Die angeborene Muskelsteifigkeit, eine sehr seltene, aber vollkommen
sichergestellte Nervenkrankheit, welche im Unvermögen besteht, Bewegungs-
impulse rasch auszuführen (TnoMSEN'sche Krankheit, Myotonia congenita),^
könnte umgekehrt leicht für Simulation gehalten werden.
6. Geisteskrankheiten. Sie werden namentlich von Verbrechern
zu simuliren versucht, die sich der Strafe entziehen wollen. Auch gibt es Indi-
viduen, welche wegen trauriger socialer und häuslicher Verhältnisse simu-
liren, um in der Anstalt bleiben zu können, aus der sie der Arzt entfernen
will. Hysterische simuliren oder übertreiben oft aus krankhafter Lust am
Betrügen oder um Gegenstand allgemeiner Aufmerksamkeit zu werden. Auch
wirklich Geisteskranke simuliren mitunter, indem sie strafbarer Handlungen
sich nicht zu erinnern behaupten, (v. Krafft-Ebing, Gerichtliche Psycho-
pathologie.)
Simulation von Geisteskrankheit ist ungemein schwer, wenn nicht voll-
ständig undurchführbar. Die Seelenstörungen sind so complicirt, dass es
wohl niemals gelingt, ein empirisch wahres Krankheitsbild vorzutäuschen,
vorausgesetzt, dass der Gutachter sachkundig und in psychiatrischer Diagnostik
erfahren ist. Der Simulant verlegt sich auf die Nachäffung einzelner Er-
scheinungen, er glaubt durch Production von möglichst viel krassem Unsinn,
und zusammenhangslosen, barokken Verstellungen, durch blinde Raserei oder
J
STERBLICHKEIT. 715
absolute Stupidität sein Ziel am sichersten zu en'eichen, während er gerade
dadurch erkannt wird; seinem Wahnsinn fehlt die Methode, sein tolles Ge-
bahren wird zur Farce.
Fast sämmtliche in der Natur vorkommenden psychischen Störungen sind
schon simulirt worden. Mit grossen Schwierigkeiten ist die Simulation der
Melancholie verbunden, weil der physiognomische Ausdruck des schmerz-
lichen Affectes, sowie die typischen Schwankungen der Erscheinungen während
des Verlaufs und die anhaltende Schlaflosigkeit sich nicht erfolgreich durch-
führen lassen. Die Tobsucht zu simuliren, scheitert an der Unmöglichkeit,
den triebartigen Bewegungsdrang consequent durchzuführen. Der Simulant
ermüdet, ruht dann aus und erholt sich in der Nacht durch tiefen Schlaf von
den Ueberanstrengungen des Tages. Stupidität und Blödsinn lassen sich
kaum mit Erfolg wiedergeben, weil es unendlich schwierig ist, völlige Affect-
losigkeit zu heucheln und ihr den mimischen Ausdruck zu verleihen. Auch
Verrücktheit und Wahnsinn lassen sich nicht consequent durchführen.
Mitunter haben Geisteskranke ein Interesse, für gesund gehalten zu
werden; es veranlasst sie das zum Gegentheil der Simulation, zur Dissimu-
lation; besonders geschickt wissen Paranoiker ihre Wahnideen oft jahrelang
vor der Aussen weit zu verbergen. Auch bei Melancholischen ist Dissimula-
tion möglich, weil die äussere Besonnenheit und das Bewusstsein der Krank-
heit bei ihnen meist noch erhalten sind.
Um Simulation von Geisteskrankheit festzustellen, ist in der Regel
eine fortlaufende Beobachtung, womöglich in einer Anstalt erforderlich. Nur
grobe Täuschungen können sofort erkannt werden. Wichtig ist es, den
Simulanten vorerst wie einen wirklich Kranken zu behandeln; er verräth sich
nur um so leichter, wenn er glaubt, vom Arzte für wirklich krank gehalten
zu werden. Vertraut er dem Arzte, so lässt er sich leicht durch eine hin-
geworfene Bemerkung über das Fehlen dieser oder jener Erscheinung im
Krankheitsbilde verleiten, das gewünschte Symptom am nächsten Tage dar-
zubieten. Mit den beobachteten Thatsachen hat man das wirkliche Krank-
heitsbild zu vergleichen. Aus der Incongruenz ergibt sich der Beweis der
Vortäuschung. " J. keatter.
Sterblichkeit. (Mortalitäts-, Morbiditäts- und Lebensdauer-Statistik.)
Da die Sterblichkeit im Allgemeinen und die dabei zu berücksichtigenden
besonderen Verhältnisse für das Staatswohl, namentlich die öffentliche Gesund-
heits- und Rechtspflege von grösster Bedeutung sind, bestehen zur Zeit auch
in allen civilisirten Staaten gesetzliche Bestimmungen, welche die Anzeige
eines jeden Sterbefalles binnen möglichst kurzer Frist dem Familienhaupte
oder demjenigen, in dessen Wohnung der Sterbefall sich ereignet hat, vor-
schreiben. Diese Anzeigepilicht beruht in den deutschen Staaten auf dem
Reichsgesetz von 6. Februar 1875, betreffend die Beurkundung des Personen-
standes, durch welches Gesetz der zuständige Standesbeamte auch verpflichtet
wurde, von der Richtigkeit der Anzeige in geeigneter Weise Ueberzeugung
sich zu verschaffen. So hat dem Standesamt bei jedem Sterbefall spätestens
am nachfolgenden W^ochentage das Familienhaupt oder dessen Vertreter über
nachstehende in Betracht kommende Verhältnisse Auskunft zu geben, welche
in das Sterberegister eingetragen und weiter für die staatliche Sterbestatistik
verwertet werden:
1. Vor und Zuname des Verstorbenen, ob todtgeboren oder unbenannt
verstorben? 2. Geschlecht, 3. Zeit des Sterbefalles, 4. Geburtsjahr und Tag,
5. Familienstand, a) bei Todtgeborenen und Kindern unter fünf Jahren: ehelich
oder unehelich, b) bei Personen über fünf Jahren: ledig, verheiratet, verwitwet,
geschieden, bei Verheirateten Dauer der durch diesen Todesfall gelösten Ehe,
6. Religionsbekenntnis: bei Todtgeborenen des Vaters, der Mutter, 7. Stand,
716 STERBLICHKEIT.
Beruf oder Gewerbe, 8. Todesursache, 9. Bemerkungen, z. B. ob auf-
gefundene Leiche, auf See, in einer öffentlichen Anstalt?
Wenn nun auch die Todesursachen erfahrungsmässig ohne Mitwirkung
von Sachverständigen sehr oft unrichtig angegeben werden, so können
doch die in den übrigen vorgenannten Colonnen bezeichneten Angaben von
Standesbeamten auch ohne ärztliche Bescheinigung bezüglich ihrer Richtigkeit
beurtheilt werden. Ist dann nach dem Ergebnis der amtlichen Volkszählung
die Zahl der gleichzeitig Lebenden bekannt, so wird es auch möglich sein,
in zuverlässiger Weise statistisch zu berechnen die jährliche Sterblich-
keitsziffer a) auf 1000 Lebende eines Staats- oder Gemeindeverbandes, b) in den
verschiedenen Monaten des Jahres, c) in den verschiedenen Altersclassen 0 — 1,
1 — 5, 5 — 10 etc., d) in den verschiedenen Berufsständen und Gewerben.
So zählte beispielsweise nach dem mir gerade vorliegenden General-Sanitätsbericht
der Eegierungsbezirk Köln im Jahre 1883 721.789 Einwohner, von welchen 18341, also 27
auf lOUO Lebende starben, 6391 einschliesslich Todtgeburten innerhalb des ersten
Lebensjahres. Nach einer von Dr. Berkheim (Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebens-
jahre, Würzburg, Nehl'sche Buchhandlung) für den Zeitraum 1880/85 zusammengestellten
Tabelle starben im Königreich Sachsen im Monate Juli 4599, im Monate November nur
2391 Kinder im ersten Lebensjahre, aus welchen Zahlen der nachtheilige Einfluss gestei-
gerter Sommertemperatur auf die Lebenserhaltung der Neugeborenen hervorgeht.
Aehnliche Ergebnisse liefert die Sterblichkeitsstatistik in den übrigen
deutschen Staaten und Verwaltungsbezirken. Nach dem VIIL General-Sanitäts-
bericht des Regierungsbezirkes Köln zeigte das schlechte Weinjahr 1894 bei
der geringen Wärme des Spätsommers die geringste Kindersterblichkeit.
Die Todesursachen werden nun von den Familienhäuptern und
deren Vertretern aus den verschiedensten Gründen in unrichtiger Weise an-
gegeben, einestheils, um bei Sterbefällen infolge ansteckender anzeigepflich-
tiger Krankheiten nicht straffällig zu werden, anderntheils, um bei Sterbefällen
infolge besonderer Krankheiten: Syphilis, Säuferwahn, Alkoholismus, Selbst-
mord u. s. w., den guten Ruf der Familie zu schonen oder gar an den Ver-
storbenen begangene Verbrechen zu verheimlichen. Häufig können aber
auch die Todesursachen nicht richtig von den Angehörigen angegeben werden,
weil die Verstorbenen entweder gar nicht oder während der letzten tödtlich
verlaufenen Krankheit ärztlich nicht behandelt worden sind. Daher findet
man auch in den meisten Sterblichkeitstabellen verhältnismässig sehr zahl-
reiche Todesfälle als aus unbekannten, nicht angegebenen Ursachen
erfolgt verzeichnet. Um die Beerdigung vor Eintritt sicherer Todeszeichen,
beziehentlich von Scheintodten zu verhüten, ist jetzt wohl in allen Staaten
eine gesetzliche Frist durchgehends von dreimal 24 Stunden bestimmt, vor
welcher Leichen ohne ärztliche Bescheinigung des erfolgten Todes nicht be-
erdigt werden dürfen.
Ebenso wird auch durch besondere Verordnungen eine angemessene Be-
handlung der Leichen bis zu deren Einsargung vorgeschrieben. Da aber den
Anforderungen der öffentlichen Gesundheits- und Rechtspflege nur
durch eine möglichst zuverlässige Klarlegung der Todesursachen genügt
werden kann, ist in den meisten europäischen Staaten, in Oesterreich schon
seit dem Jahre 1766, die obligatorische Leichenschau durch ange-
stellte, auf besondere Dienstinstructionen verpflichtete Aerzte oder in
deren Vertretung andere vorgebildete und geprüfte unbetheiligte Sachver-
ständige gesetzlich eingeführt. Vor Erlass des Reichsgesetzes vom
6. Februar 1875 galten für die Beerdigungen im preussischen Staats-
gebiete die Bestimmungen des allgemeinen preussischen Landrechts (Th. II,
Taf. II), nach welchen der Pfarrer sich durch persönliche Besich-
tigung zu versichern hatte, ob der Verstorbene auch wirklich derjenige ge-
wesen, für den er ihm angegeben, die angebliche Leiche auch wirklich
todt sei. Ebenso sollte der Pfarrer sich nach der Todesart erkun-
STERBLICHKEIT. 717
digen und dem Todtengräber aufgeben, bei der Einlegung der Leiche in den
Sarg und dessen Zuschlagung gegenwärtig zu sein. Der zuständige Pfarrer
sollte also nach preussischem Landrecht gleichzeitig als gesetzlich angestellter
Leichenschauer fungiren. Seit dem die Bestimmungen des Landrechts
aufhebenden Reichsgesetz von 1875 sind für den preussischen Staat gesetz-
liche Bestimmungen, betreffend Beerdigungen und Leichenschau nicht er-
lassen, während in den süddeutschen Staaten und mehreren neu erworbenen
preussischen Landestheilen gesetzliche obligatorische Leichenschau
besteht. Als Referent des ersten Generalberichts über das öffentliche Gesund-
heitswesen des Regierungsbezirkes Köln für das Jahr 1880 habe ich mich auf
Grund meiner in Süddeutschland früher gemachten Erfahrungen über die
Einführung einer allgemeinen obligatorischen Leichenschau in Preussen, wie
folgt, geäussert: „Die medicinische Statistik wird erst durch eine von Sach-
verständigen und amtlich verpflichteten Leichenschauern herbeigeführte Er-
mittlung der Todesursachen eine solide Grundlage erhalten können.
Da die meisten Bewohner, namentlich im Sommer, die Leichen während der
gesetzlichen Zeit nicht aufbewahren können, sind dieselben ohnedies genöthigt,
den Tod durch einen approbirten Arzt bescheinigen zu lassen, was aber in
der Regel mit grösseren Kosten verbunden zu sein pflegt, wie solche eine
amtliche Leichenschau verursachen würde. Letztere ist, wo sie eingeführt,
nach meiner Erfahrung eine populäre Maassregel, da jedermann sich
fürchtet, vorzeitig als Leiche behandelt und zugenagelt zu werden und die
Nothwendigkeit einer sachkundigen Besichtigung einsieht. Abgesehen
von der immerhin möglichen Gefahr der Behandlung Scheintodter als Leichen
muss doch auch die Beerdigung der an gemeingefährlichen Krankheiten
oder äusserer Gewaltthätigkeit Verstorbener ohne Kenntnis der zustän-
digen Polizei und gerichtlichen Behörden möglichst verhütet werden".
Die eingehend begründeten Petitionen des niederrheinischen Vereines für öffent-
liche Gesundheitspflege, sowie des Vereines deutscher Lebensversicherungs-Gesellschaften,
betreffend den Erlass eines Gesetzes über die obligatorische Leichenschau, an den deutschen
Eeichskanzler, wurden in der Reichstagssitzung vom 16 Februar 1877 auf befürwortende
Interpellation der beiden Abgeordneten Dr. Zinn und Dr. Thilenius vom damaligen Staats-
minister Hofmann dahin beantwortet, dass der Gesetzentwurf über die Anzeigepflicht
gemeingefährlicher Krankheiten mit dem Leichenschaugesetz-Entwurf zusammen dem
Reichstage vorgelegt werden solle und die Regierung alles thun werde, um den
Wünschen der Interpellanten baldigst zu genügen. Da trotz dieser Zusicherung
eine gesetzliche Regelung des Beerdigungs- und Leichenschauwesens für Deutschland noch
nicht erfolgt, vielmehr die Mortalitätsstatistik bezüglich der Todesursachen eine sehr mangel-
hafte lind unzuverlässige geblieben ist, stellte der allgemeine ärztliche Verein zu Köln 1884
beim Polizeipräsidenten den Antrag, aus dringenden sanitätspolizeilichen Gründen für den
Stadtbezirk Köln bei Beerdigungen durch approbiite Aerzte auszustellende Todes-
bescheinigungen anzuordnen und erklärten sich die Mitglieder des genannten Vereines
bereit, auf den betreffenden Bescheinigungen alle für die Gesundheitspolizei und Sterb-
lichkeitsstatistik wichtigen Fragen zu beantworten. Es wurde dann folgende mit dem
1. April 1884 giltige Polizeiverordnung und Bekanntmachung für den Stadtbezirk Köln
erlassen: § 1. Es darf keine Leiche vor Beibringung einer von einem approbirten Arzt aus-
gestellten Todesbescheinigung zur Beerdigung kommen. § 2. Diese Todesbescheinigung muss
dem Standesamt von demjenigen vorgelegt werden, welcher nach § 57 des Reichsgesetzes
über die Beurkundung des Personenstandes vom 6. Februar 1876 den Sterbefall anzu-
zeigen hat, ohne dass indess eine Ueberschreitung der durch dieses Gesetz vorgeschrie-
benen Anzeigefrist eintreten darf. § 3. Wer diesen Vorschriften zuwiderhandelt, verfällt
in eine Geldstrafe von 1 — 9 M, an deren Stelle im Unvermögensfalle verhältnismässige Haft
tritt. Die betreffende vom Polizeipräsidenten und Oberbürgermeister gezeichnete weitere
Bekanntmachung lautet: Unter Bezugnahme auf vorstehende Polizeiverordnung wird hier-
durch zur öffentlichen Kenntnis gebracht, dass den Herren Aerzten die zu den Todes-
bescheinigungen zu verwendenden Formulare in einer entsprechenden Anzahl kostenfrei
zugehen werden. Bei der Anmeldung des Sterbefalls wird auch dem Anmeldenden
ein Formular der Todesbescheinigung behufs Ausfüllung durch einen Arzt übergeben
werden. Das Formular, welches nur auf Grund persönlicher Ueberzeugung von
dem eingetretenen Tode ausgestellt wird, enthält auch eine Erklärung darüber, ob gegen
die Beerdigung vor Ablauf von dreimal 24 Stunden Bedenken vorliegen.
718 STERBLICHKEIT.
Der von den Aerzten auszufüllende Todtenschein enthält folgende Angaben: 1. Vor-
und Familienname, 2. Geschlecht, 3. Datum der Geburt, 4. Tag und Stunde des Todes,
5. Stand oder Gewerbe, 6. Wohnung (Strasse), 7. Zahl der Zimmer, 8. Zahl der die Zimmern
bewohnenden Personen einschliesslich des Verstorbenen, 9. Ort des Todes, wenn nicht
Wohnung (eventuell Anstalt), 10. Todesursache eventuell Todtgeburt, 11. bei Kindern
unter einem Jahre a) Art der Ernährung (Mutter-, Ammen-, Thiermilch, künstliche Nahrung),
b) ob in fremder Pflege, 12. ist der Verstorbene von dem unterzeichneten Arzt behandelt
worden, oder demselben persönlich bekannt gewesen; eventuell von wem recognoscirt?
13. gegen die Beerdigung — auch vor dreimal 24 Stunden — liegen ärztlicherseits keine
Bedenken vor.
Aehnliche Polizeiverordnungen, wie vorgenannte für den Stadtkreis Köln,
sind auch für andere Grossstädte, namentlich den Stadtkreis Berlin erlassen,
welche aber eine gesetzliche Regelung des Leichenschauwesens nicht ersetzen
können, da sie den Anforderungen der Sanitätspolizei, der Rechtspflege, sowie
bezüglich der Todesursachen einer wissenschaftlich brauchbaren Sterblich-
keitsstatistik nicht genügen.
Es fehlt an einer Instruction für die Leichenschau, an einer besonderen
Verpflichtung zur instructionsmässigen Ausführung der Leichenschau,
sowie an einem gleichmässigen den Fortschritten der neueren Heilkunde ent-
sprechenden Verzeichnis der auf den Leichenscheinen anzugebenden Todes-
ii^r Sachen.
Dass Aerzte, welche wegen Ausstellung unrichtiger Zeugnisse bereits
gerichtlich bestraft sind, zur Ausstellung giltiger Todesbescheinigungen noch
befugt bleiben, spricht gleichfalls für die Anstellung ärztlicher Leichen-
schauer durch die zuständige Gemeindebehörde.
In Oesterreich, England, der Schweiz, sowie in mehreren süddeutschen
Staaten ist die schon seit dem vorigen Jahrhundert dort gesetzlich bestehende
obligatorische Leichenschau in neuerer Zeit, namentlich in Oesterreich, auf
Grund des Gesetzes vom 30. April 1870, betreffend die Organisation des
öffentlichen Sanitätsdienstes, wesentlich verbessert worden, wie aus einer
betreffenden Verordnung desk. k. Statthalters in Steiermark vom 15. Juni 1897
hervorgeht. (Das österreichische Sanitätswesen von Dr. Daimer 8. Jahrgang,
Nr. 33.)
Wenn die in Oesterreich angestellten ärztlichen Leichenschauer auch
angewiesen werden, die möglichst baldige Isolirung und Desinfection aller
nachweisbar inficirten Leichen zu überwachen, so muss diese
Maassregel als eine gegen die Weiterverbreitung übertragbarer Krankheiten
sehr zweckmässige anerkannt werden.
Der verstorbene Dr. Hugo Bernheim, welcher als vereidigter Leichen-
schauarzt der Stadt Würzburg fungirte und auch in der 64. Versammlung
deutscher Naturforscher und Aerzte zu Halle über den Entwurf eines Leichen-
schaugesetzes für das Königreich Preussen einen Vortrag hielt, veröffentlichte
schon 1891 auf Grund eigener in Baiern, Sachsen und im Elsass gemachten
Erfahrungen die bereits erwähnte Abhandlung über die Sterblichkeit
der Kinder im ersten Lebensjahre und die zu ihrer Vermeidung geeigneten
hygienischen Maassregeln. In dieser Abhandlung bewies Bernheim durch
vorgezeigte Sterblichkeitstabellen nach Altersclassen die Abhängigkeit der
allgemeinen Sterblichkeitsziffer von der Intensität der Sterblichkeit im Alter
von 0—1 Jahr und suchte auch durch graphisch dargestellte Curven nicht
nur zu erläutern die colossale Sterblichkeit im ersten Lebensjahr, sondern
den schnellen Abfall der folgenden Ciasse (1 — 5 Jahre), das Minimum der
Altersclasse (10 — 20 Jahre) und die hohe Sterblichkeit der Greise nach dem
70. Lebensjahre.
Dr. Bernheim suchte statistisch nachzuweisen, dass jede Verbesserung
in der Ernährungsweise der Kinder durch Mutterbrust oder durch frisch ge-
molkene Milch von gesunden Thieren sowie in der Wohnungs-, Ernährungs-
und Beschäftigungsweise der erwachsenen Bevölkerung einen ausser-
STERBLICHKEIT. 719
ordentlichen Einfluss auf die mittlere Lebensdauer der Bevölkerungeines
Landes ausübe, weil die Anzahl von Jahren, welche eine Person mit Wahr-
scheinlichkeit in einem gewissen Alter noch zu leben habe, der Intensität der
Sterblichkeit umgekehrt proportional sei. In Norwegen, wo die Kinder-
sterblichkeit am niedrigsten sei, betrage die mittlere Lebensdauer 48-7 Jahre,
während sie in Baiern, avo die Kindersterblichkeit sehr hoch, nur 35*1 Jahre
betrage. Die besonders hohe Sterblichkeit der Kinder innerhalb des ersten
Lebensmonats, namentlich der ersten Lebenswoche, welche euphemistisch in
den Leichenscheinen als angeborene Lebensschwäche bezeichnet werde, steht
nach Beenheim sehr häufig in nachweisbar ursächlichem Zusammenhang mit
erblicher Syphilis.
Um die durchschnittliche Lebensdauer in den verschiedenen
Berufszweigen der erwachsenen Bevölkerung genauer angeben zu können,
werden den Standesbeamten specielle Mittheilungen über die verschiedenen
Berufsarten und Beschäftigungsweisen der Verstorbenen, namentlich in er-
fahrungsmässig gesundheitsschädlichen Berufsarten zugehen müssen.
Um möglichst genaue Angaben über die Todesursachen durch ärztlich
ausgestellte Bescheinigungen zu erhalten, empfiehlt es sich, den Aerzten in
gleicherweise, wie für die Meldungen ansteckender Kranker, verschliess-
bare Formulare auch für die Leichenscheine zur Verfügung zu stellen, welche
auch weiter nur in discreter Weise und mit Rücksicht auf die Angehörigen
der Verstorbenen und die behandelnden Aerzte von den betheiligten Behörden
statistisch verwertet werden dürfen. Man wird dann beispielsweise erfahren,
dass eine verhältnismässig grosse Anzahl von den namentlich in Eisenbahn-
verkehr beschäftigten Personen an den Folgen des Alkoholismus vor-
zeitig stirbt und schon längere Zeit vor dem Tode durch den genannten
Krankheitszustand an der gehörigen Besorgung ihres verantwortungsreichen
Dienstes verhindert war. In der Schweiz sollen derartige Erfahrungen seit
der angeordneten Secretirung der ärztlichen Leichenscheine seitens der
Ortsbehörden bereits gemacht w^orden sein.
Uebrigens darf man aus der allgemeinen Sterblichkeitsziffer eines Landes
oder einer Stadt nicht einseitige Schlüsse auf die Gesundheits Verhältnisse
und die durchschnittliche Lebensdauer der dort lebenden Bevölkerung ziehen,
da die Sterblichkeitszifi'er solcher Orte, in welche gesteigerter Zufluss von
aussen stattfindet, entsprechend viele Ehen geschlossen und Kinder geboren
werden, trotz gesunder Lage und günstiger klimatischer Verhältnisse sich
steigern kann; dagegen aber in solchen Orten und Ländern, die durch Aus-
wanderung sich entvölkern, niedrige Sterblichkeitsziffern entstehen können.
Auch unterscheidet sich die statistische Sterblichkeitsziffer des einen Landes
oder Bezirkes von der des anderen dadurch, dass die frühzeitig, sogar die
unzeitig todtgeborenen Leibesfrüchte in dem einen Lande den Geburten,
in dem anderen den Sterbefällen hinzugezählt werden. In gleicher Weise
sind die in grösseren Kranken- und sonstigen öffentlichen Anstalten sterbenden
ortsfremden Personen bei der Sterblichkeitsziffer des Ortes, in welchem
die Anstalten betrieben werden, zu berücksichtigen. Ohne gleichzeitige Be-
rücksichtigung der Geburtstabellen und der in den Sterblichkeitstabellen
verzeichneten hauptsächlicheren Todesarten, namentlich bei Epidemien und
Endemien werden die gesundheitlichen Zustände der in den Städten und auf
dem Lande wohnenden Bevölkerung nicht zutreffend verglichen und beurtheilt
werden können.
Als die hauptsächlichen Ursachen einer gesteigerten Sterb-
lichkeit und entsprechend verkürzten mittleren Lebensdauer werden aber
im Allgemeinen nach den Ergebnissen der heutigen amtlichen Statistik
anzuerkennen sein: 1. Die Ernährungsweise der kleinen Kinder durch unge-
eignete künstliche Nahrungsmittel statt durch die Mutterbrust oder die Milch
720 STERBLICHKEIT.
von gesunden Thieren, 2. ungünstige und bedrängte Wohnungsverhältnisse der
ärmeren Volksclassen namentlich in den Grossstädten, durch welche ein sitt-
lich geordnetes, gesundes Familienleben unmöglich gemacht wird, 3. die
überhandnehmende Zahl der unehelichen Geburten, 4. die Tuberkulose,
namentlich die tuberkulöse Lungenschwindsucht, 5. Luftröhren-, Lungen- und
Brustfell-Entzündungen, 6. die im Alter von 15—70 Jahren sich steigernde
Zahl der Selbstmorde. (Dr. Pröpsting, Centralblatt für allgemeine Ge-
sundheitspflege, 1896, 8. u. 9. Heft.)
Was nun die zur Ergänzung, beziehentlich Berichtigung der Sterblich-
keitsstatistik erforderliche Krankheitsstatistik betrifft, so kann diese
bei der Civilbevölkerung sich nur stützen auf die seitens der behandelnden
Aerzte den Polizeibehörden zugehenden Anzeigen übertragbarer oder gesetzlich
anzeigepflichtiger Krankheiten, sowie auf die betreffenden Mittheilungen der
Hospital-, Gefängnis- und sonstigen Anstaltsverwaltungen. Auch sollen nach
§ 12 des preussischen Sanitätsregulativs vom 8. August 1835 während einer
Epidemie die Polizeibehörden ein Krankenjournal führen, in welchem
anzugeben sind: Name, Alter, Religion, Wohnung, Stand, Gewerbe des Er-
krankten, Zeitpunkt und Ursache der Krankheit, Tag der Genesung oder des
Todes. Die Unvollständigkeit der von der Ortsbehörde an die höhere Ver-
waltungsbehörde erstatteten Krankheitsberichte geht schon aus der Thatsache
hervor, dass viele übertragbare Krankheiten entweder gar nicht oder von
Kurpfuschern behandelt werden.
So findet sich in einer Abhandlung des Kreisphysicus Dr. Wolfsberg
über Kindersterblichkeit und Todesursachen-Statistik (Centralblatt für öffent-
liche Gesundheitspflege, XV. Jahrgang, 3. und 4. Heft) angegeben, dass im
Jahre 1894 dem Standesamt in Tilsit 50 Todesfälle an Diphtherie, der dor-
tigen städtischen Polizei Verwaltung aber nur 11 Erkrankungen an Diph-
therie angezeigt worden seien. Auf derartige Angaben der Standesämter über
Todesursachen stützt sich aber die Statistik, welche die Veröffentlichungen
des kaiserlichen Gesundheitsamtes bietet.
Wie schwer es hält, auch nur über eine gemeingefährliche Krankheit,
die Syphilis, nach Lage der heutigen Gesetzgebung zuverlässige Angaben
zu erhalten, geht aus einem Vortrage hervor, welchen nach dem letzterschie-
nenen deutschen ärztlichen Vereinsblatt Geh. Medicinal-Rath Dr. Bocken-
DAHL kürzlich über die Ausbreitung der Syphilis im ärztlichen Verein zu
Kiel gehalten hat. Durch die Discussion wurde festgestellt, dass die Zahl der
Syphilitischen viel grösser bei den aufgegriffenen, wie bei den controlirten
Personen, sei und der Verein wählte eine besondere Commission zur Berathung
der Schritte, wie man zu einer brauchbaren Statistik der Syphilis gelangen
könne. — Nach dem Generalbericht über das öffentliche Gesundheitswesen
des Regierungsbezirkes Köln pro 1880 hatte nach den aus den Hospitälern und
specialärztlichen Polikliniken eingegangenen Berichten, sowie nach den Mit-
theilungen des Ob er- Stabsarztes Dr. Goecke die Zahl der Syphilitischen er-
heblich zugenommen, sowohl bei der Civil- wie Militärbevölkerung. Beispiels-
weise behandelte Dr. Wolfsberg in der dortigen specialärztlichen Poliklinik für
Unbemittelte vom 2. December 1878 bis September 1879 429 Syphilitische,
unter denen sich 63 verheiratete Männer befanden, 24 Kinder unter 10 Jahren.
Nach den eingezogenen Erkundigungen erfolgte die Ansteckung selten durch
Prostituirte, sondern durch Arbeiterinnen, was mit den in Kiel gemachten
Beobachtungen übereinstimmt. Von der Garnison Köln und Deutz erkrankten
an Syphilis:
1873/74 238 Mann = 3-447o
1879/80 289 „ = 4-087o-
Auch wurden in den Städten Köln und Bonn, sowie im Kreise Bergheim
mehrere Fälle von angeborener Syphilis bei kleinen Kindern constatirt. Sehr
STRASSENIIYGIENE. 721
viel syphilitische Erkrankungen werden nach Freigabe der Heilkunde von
Nichtärzten behandelt.
Da alle in den stehenden Heeren dienenden Personen im Falle der
Erkrankung entweder in häuslichen Verhältnissen oder in den Lazarethen
ärztlich behandelt werden, ist es auch der ärztlich geleiteten Medicinal-
abtheilung des Kriegsministeriums möglich, eine zuverlässige Sterblich-
keits- und Krankheitsstatistik herzustellen, welche ja auch gelegentlich des
vorjährigen internationalen medicinischen Congresses statistisch nachgewiesen
hat, dass der allgemeine Gesundheitszustand in den europäischen Heeren
durch die in neuerer Zeit getrotienen hygienischen Einrichtungen wesentlich
verbessert worden ist, die Zahl der Erkrankungen und Todesfälle an Infections-
krankheiten sich vermindert hat.
Wenn nun auch nach Lage der heutigen Gesetzgebung eine für die
Civilbevölkerung aufzustellende Krankheits- und Sterblichkeits-Statistik nicht
diejenige Zuverlässigkeit erreichen kann, wie solche für die Militärbevölkerung
erreicht ist, so werden doch durch eine sachverständig ausgeführte und
controlirte Leichenschau auch bei der Civilbevölkerung die verschiedenen
Todesarten mit grösserer Sicherheit festgestellt und dann auch den betreffen-
den Anforderungen der öfientlichen Gesundheits- und Rechtspflege mehr ent-
sprochen werden können. schwartz.
StraSSenhygiene. Die Strassenhygiene ist theils in der allgemeinen
Gestaltung des Stadtplanes (Bebauungsplanes), theils in der tech-
nischen Herstellung der Strassen und der späteren Pflege derselben zur
Geltung zu bringen. Sie ist erst in der neuesten Zeit zu einer gewissen
Entwicklung gelangt, veranlasst durch die immer engere Zusammendrängung
der Bevölkerung in den grösseren Städten.
Für die Gestaltung des Stadtplanes bilden die sogenannten Fluchtliniengesetze die
gesetzliche Grundlage; in Preussen besteht ein Fluchtliniengesetz seit dem Jahre 1875.
Wenn auch in Einzelnheiten von einander abweichend, verleihen doch überall die Flucht-
liniengesetze den Gemeinden das Recht, sowohl neue Strassenzüge und Plätze festzu-
setzen, als auch bestehende zu verbreitern oder zu verlängern, als auch über die tech-
nische Einrichtung der Strassen u. s. w. genaue Bestimmungen zu treffen. Sie geben ferner
der Gemeinde die Befugnis, die zu den Strassen u. s. w. nothwendigen Grundflächen auch
gegen den Willen der Eigenthümer zu erwerben (Expropriationsrecht). Die Geltung
der Fluchtliniengesetze ist im wesentlichen auf die den Städten neu hinzuwachsenden Ge-
biete (Aussengebiete) beschränkt; sie wirken daher fast nur in vorbeugender Weise.
Dagegen reichen sie nicht aus, um schon verdorbenen Zuständen im Innern der Städte
wirksam abzuhelfen, weil sie nicht die Möglichkeit gewähren, neben neu festgesetzten
Strassen liegen bleibende, zu einer gesundheitsmässigen Bebauung ungeeignete Grund-
stücksreste zwangsweise zu erwerben und noch weniger das Recht der sogenannten Zonen-
enteignung für die Gemeinden constituiren, d. h. das Recht, ganze Baublöcke im Innern
der Städte, welche ganz oder vorwiegend aus Grundstücken von so mangelhafter Gestalt
zusammengesetzt sind, dass eine gesundheitsgemässe Bebauung unthunlich ist, auch gegen
den Willen der Eigenthümer zu erwerben, und behufs Herrichtung gesunder Wohnungen
neu aufzutheilen. In Deutschland ist es die übergrosse Achtung vor dem Eigenthums-
recht, welche die Ergänzung der Fluchtliniengesetze in den vorstehend angedeuteten beiden
Richtungen bisher verhindert hat; ein gesetzgeberischer Anlauf, der in Preussen vor
einigen Jahren dazu gemacht wurde, ist gescheitert. Hingegen hat Baden ganz neuer-
dings ein Zonenenteignungsgesetz geschaffen und Hamburg ein Gesetz, wonach an
Strassen liegen bleibende unbebauungsfähige Grundstücksreste auf Verlangen abgetreten
werden müssen; neben Hamburg können auch Mainz und Zürich noch genannt werden.
Im Auslande ist man in Bezug auf das Eigenthumsrecht vielfach weniger scrupulös als in
Deutschland; England, Frankreich, Belgien, Italien und Ungarn kennen die Zonenent-
eignung längst, und verdanken diesem umstände grosse gesundheitliche Verbesserungen,
von welchen die bekanntesten diejenigen in London, Paris, Brüssel, Rom, Florenz, Neapel,
und Budapest sind.
Schon aus dem Grunde, dass die Stadt Eigenthümerin ihrer Strassen
ist, muss die Initiative für alle Maassnahmen, die das Strassennetz beein-
flussen, bei der Stadt selbst liegen. Weil derselben aber durch ihre
Finanzen und durch Verwaltungszustände oft enge Grenzen gezogen sind,
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 4o
722 STRASSENHYGIENE.
werden zuweilen mit Vortheil gesellschaftliche Unternehmungen sich
an die Stelle der Gemeinde setzen können. Wenn dabei die gesundheitlichen
Interessen genügend gewahrt werden, verdienen solche Unternehmungen alle
Förderung, da die hier vorliegenden Aufgaben in der Regel um so voll-
kommener lösbar sind, je grösser der Complex ist, auf den sie sich erstrecken.
Kleine Leistungen auf dem Gebiete des Städtebaues bedeuten auch in gesund-
heitlicher Hinsicht nur wenig, und der Einzelne vermag daran so viel wie gar
nichts zu verbessern, schon weil der Nachbar im Stande ist, seine Absichten
zu durchkreuzen.
Bei einem Stadtbauplan handelt es sich, ausser um die Festsetzung neuer,
oder die Veränderung bestehender Strassen und Plätze um Fürsorge für
wichtige gesundheitliche Anlagen. Es ist z. B. geeigneter Raum für Schlacht-
höfe, Friedhöfe, Krankenhäuser, Marktstätten und Parkanlagen, Badeanstalten,
Schulen und Spielplätze für Kinder, Kläranstalten für Abwässer u. s. w.
vorzusehen. Es muss das Strassennetz so ausgebildet werden, dass für cen-
trale Wasserversorgung und unterirdische Canalisation keine Schwierigkeiten
entstehen. Endlich ist immer zu erwägen, ob es ausführbar ist, lästige oder
gesundheitsschädliche Gewerbebetriebe aus dem Centrum der Stadt, oder aus
Gebietstheilen, die vorzugsweise der ruhigen Bewohnung dienen, zu entfernen,
beziehungsweise dieselben an Stellen, wo sie am wenigsten lästig oder schäd-
lich wirken, zu vereinigen. Freilich entstehen hierbei oft Schwierigkeiten,
da z. B. in Preussen die Landesgesetzgebung bisher kein Mittel bietet, um
auf dem Wege des Zwanges eine Absonderung der gewerblichen Betriebe in
eigentliche „Fabriks viertel" zu erreichen. Dennoch hat es in der neueren
Zeit eine Anzahl von grösseren preussischen Städten bei Gelegenheit des
Erlasses neuer Bauordnungen ermöglicht, solche besondere Fabriksviertel an-
zulegen, bezw. gewisse Stadttheile vor dem Eindringen grösserer gewerb-
licher Betriebe zu schützen. Hier sind beispielsweise zu nennen: Frankfurt
a. M., Köln, Magdeburg, Hannover, die Vororte von Berlin u. s. w., von
ausserpreussischen Städten etwa Wien, Dresden, Hamburg, Lübeck, Mainz.
Die gesundheitlichen Anforderungen an den Stadtbauplan gehen indess
erheblich weiter. Bei den Ansprüchen, die der Verkehr macht, ist dafür zu
sorgen, dass dieser sich mit Sicherheit vollziehen kann, inslDesondere die
Zusammenführung eines grossen Verkehrs an Stellen, wo der Raum dafür
nicht zu beschaffen ist, vermieden wird. Und zwar spielt hiebei die Sicher-
heit des Fussgänger-Verkehrs eine ebenso grosse Rolle als die des
Wagenverkehrs. Möglichst bequeme Verbindungen sind zwischen Arbeiter-
vierteln und grösseren Arbeitsstätten vorzusehen. — Das Stadtbild soll einen
thunlichst angenehmen Anblick gewähren, weil Wohlgefallen an demselben ein
vorzügliches und in gesundheitlichem Sinne nicht zu unterschätzendes Moment
bildet. Erste Bedingung zur günstigen Wirkung eines Stadtbildes ist Klarheit
und Uebersichtlichkeit der Anordnung des Strassennetzes; alsdann kommt es
auf günstige Vertheilung gewisser Anlagen im Plane an. Anstalten und An-
lagen, die vielfach aufgesucht werden, wie Schulen, Badeanstalten, Spielplätze,
Parks, Flussübergänge, Bahnhöfe, Landeplätze, manche Verwaltungsgebäude
u. s. w. müssen so vertheilt werden, dass sie von allen Seiten aus auf mög-
lichst kurzen Wegen erreicht werden können. — Erhebungen und Vertiefungen
im Gelände hat sich das Strassennetz in einer Weise anzuschmiegen, dass der
Eindruck des Ungezwungenen entsteht. Unschönheiten in der Führung und
im Längenprofil der Strassen sollen thunlichst vermieden werden.
Wenn im Bebauungsgebiet untergeordnete Wasserzüge vorkommen, ist
es eine wichtige Aufgabe, den Lauf derselben so zu regeln, dass sie nicht
Privateigenthum durchschneiden, sondern durchgehends in öffentlichem Grunde
liegen. Nur dadurch kann Missbrauch verhütet und ein gesundheitsgemässer
Zustand der Wasserzüge gesichert werden.
I
STRASSENHYGIENE. 723
Zu den wirksamsten Mitteln, um ein ansprechendes Stadtbild zu schaffen,
gehört eine angemessene, klar erkennbare liang Ordnung in den Strassen.
Allgemein lassen sich städtische Strassen in drei Arten sondern: 1. Ver-
kehrsstrassen, 2. Geschäftsstrassen, 3. Wohnstrassen. Die Verkehrsstrassen
müssen ihr Ziel auf möglichst directem Wege erreichen, also gerade
geführt werden und entsprechende Breitenabmessungen erhalten. Für die
Geschäftsstrassen, die aber auch von Handwerkern mit bewohnt gedacht
werden, ist die Führung, ob gerade oder krumm, nebensächlich, da es bei
ihnen ausschliesslich auf die richtige Lage im Stadtplan ankommt. Für
die Lage der Wohnstrassen ist Ruhe die Hauptbedingung. Je nach dem
Range der Bewohnerschaft liegen sie am passendsten entweder in Aussen-
gebieten, zu besonderen Vierteln zusammengefasst, oder mitten in der Stadt,
zwischen den Verkehrs- und Geschäftsstrassen angemessen vertheilt. Die
Aussenlage ist für die besser situirten Classen die gegebene, die Zwischen-
lage für die minder Begüterten, als kleine Handwerker, kleine Beamte, besser
bezahlte Arbeiter u. s. w. am passendsten; daneben finden in dieser auch
manche Dienstgebäude, namentlich Bureaux, Krankenanstalten, wie überhaupt
alle Gebäude, die nicht repräsentiren sollen, den geeignetsten Platz. Auch
für die Wohnstrassen kommt es auf die Führung, wenn sie nur passenden,
bequemen Anschluss an die Verkehrs- und Geschäftsstrassen erhalten, nicht
an. Eine gewisse Unregelmässigkeit in der Führung kann sogar den Reiz
derselben wesentlich erhöhen, wogegen lange gerade Strassenzüge in der
Regel langweilig und ermüdend auf den Beschauer wirken.
Neuerdings ist vereinzelt noch eine vierte Gattung von Strassen zur Ausführung
empfohlen werden, nämlich solche, die an der Rückseite der Wohnhäuser geführt, werden.
Dieselben sollen nur für den beschränkten Zweck der Heranschaffung der grösseren Haus-
haltsbedürfnisse (Brennmaterial, Materialien für Handwerkszwecke u. s. w.), sowie Ab-
transport der Abfallstoffe des Haushalts dienen; unter Umständen wird es daher genügen,
diese am passendsten vielleicht als „Hinterstrassen" zu bezeichnenden Strassen nur an
einem Ende mit dem Strassennetz der Stadt zu verbinden. Gewiss würde die Anlage
solcher Strassen, die, weil mehr oder weniger abgesondert, auch als sichere Spiel-
plätze für Kinder dienen könnten, den gesundheitlichen Interessen förderlich sein;
doch wird sich dazu wohl nur selten passende Gelegenheit bieten. Aber andererseits
- erregen sie ein gewisses Bedenken dadurch, dass sie der üeberwachung durch die Oeffent-
lichkeit mehr oder weniger entzogen sind und deshalb sich leicht Zustände auf ihnen ent-
wickeln können, die ihren gesundheitlichen Nutzen in Frage stellen.
Aehnliches gilt für die sogenannten Privat Strassen, d. h. Strassen,
die von Privaten auf eigenem Grundstück angelegt sind, auch von ihnen
unterhalten werden, und nicht Eigenthum der Stadtgemeinde sind. Wenn
solche Strassen nicht dem allgemeinen Verkehr geöffnet sind, so entfällt da-
mit die Üeberwachung durch das Publikum, ein Umstand, der da gleichgiltig
sein kann, wo die Privatstrasse nur eine besser situirte Anwohnerschaft hat,
im anderen Falle es jedoch nicht ist. Die Anlage von Privatstrassen muss
daher immer an Bedingungen geknüpft werden, durch die ein steter ord-
nungsmässiger Zustand (Instandhaltung, Reinigung, Entwässerung, Beleuch-
tung) gewährleistet wird.
Zu verwerfen sind sogenannte „Gänge", die sich in manchen alten Städ-
ten noch finden: schmale, meist nur einseitig bebaute Strassen, welche ent-
weder nur von einer Seite her die Tiefe eines Grundstücks für die Bebauung
erschliessen, oder an beiden Enden mit dem Strassennetz verbunden sind.
Zuweilen können solche Gänge nicht einmal ordnungsmässig entwässert und
beleuchtet werden. Von grosser Wichtigkeit ist, dass die Gänge mit wasser-
undurchlässiger Abpflasterung versehen werden.
Durch den in gesetzlichen Formen festgestellten Bebauungsplan wird den
anliegenden Eigenthümern das Recht gewährt, ihre Grundstücke z u bebauen,
wenngleich dies Recht nicht immer alsbald, sondern erst nach Erfüllung ge-
wisser Voraussetzungen in Geltung tritt. Diese richten sich auf die zu vor ige
46*
724 STRASSENI-IYGIENE.
ordnungsmässige Herstellung der Strasse. Es sollte nur unter beson-
deren Umständen gestattet sein, Wohnhäuser an noch nicht fertig hergerich-
teten Strassen zu erbauen. Unter diesen Herrichtungen ist es insbesondere die
ordnungsmässige Entwässerung der Strasse und der anliegenden
Grundstücke, ohne welche die Erlaubnis zum Anbau nicht ertheilt werden
sollte.
In dem Bebauungsplan soll eine möglichst zusammenhängende
Bebauung des Stadtgebiets angestrebt werden; dieser Zweck ist u. a. darin
begründet, dass durch zusammenhangloses Bauen der Gemeinde zuweilen un-
verhältnismässige Kosten für die Schaffung der noth wendigen sanitären Ein-
richtungen aufgenöthigt werden.
Handelt es sich bei der Festsetzung des Bebauungsplanes um grössere
Gebiete, deren bauliche Entwicklung nach Art und Umfang zum voraus nicht
genau übersehbar ist, so empfiehlt es sich, den Plan nicht bis in alle Ein-
zelheiten hinein von vornherein festzusetzen, sondern sich vorerst auf die
Hauptzüge des Planes zu beschränken und die Festlegung der
Details, d. i. der minder wichtigen Strassenzüge u. s. w., der Zukunft vorzube-
halten. Der vorläufige Aufschub und die successive Feststellung sind darin
begründet, dass Anlagen, welche sich später als verfehlt erweisen können,
vermieden werden, dass auch durch die obenerwähnte, mit der Planfeststellung
verbundene Schaffung von Eigenthümer-Rechten nicht unnöthigerweise un-
gesunde Grundstücks-Speculationen angeregt oder befördert werden.
Im gesundheitlichen Sinne sind die beiden Hauptanforderungen,
welche ein Bebauungsplan zu erfüllen hat, etwa folgende:
1. Die Strassen, Plätze und Bauplätze sollen hochwasserfrei und mög-
lichst hoch auch über dem Grundwasserspiegel liegen. Tief liegende Theile des
Gebietes, die nicht genügend entwässert werden können, und solche, die stark
mit organischen Stoffen verunreinigten Boden haben, sind von der Bebauung
auszuschliessen. Solche Flächen eignen sich meist gut zur Anlage von
Schmuckplätzen, Baum- und Gesträuchpflanzungen, durch die der Grund oft
auch erheblich abgetrocknet werden kann.
2. Die Strassen sowohl, als die hinter den anliegenden Gebäuden be-
stehen bleibenden Flächen (Hof- und Gartenplätze) sollen für Licht- und
Lufteintritt im möglichst grossen Maasse offen stehen; besonderer Wert ist auf
möglichst reichliche Zuführung von directem Sonnenlicht zu den Wohn-
gebäuden zu legen.
Die Erfüllung der Forderung ad 2 ist theilweise durch die Bauordnung
(s. unter Wohnungshygiene) zu sichern, zum überwiegenden Theil jedoch
durch den Bebauungsplan. Bei letzterem fragt es sich, ob für Lichtzuführung
und Luftwechsel den Strassen oder den hinter den Gebäuden liegenden,
der Bebauung entzogenen Hof- und Gartenflächen die grössere Bedeu-
tung zukommt? Grundsätzlich wird dieselbe den Strassen beizulegen sein, weil
diese der öffentlichen Ueberwachung unterstehen, weil auch Ordnung und
Pteinhaltung hier mehr gesichert sind, und weil die Strassen grosse, zusammen-
hängende, dabei regelmässig geformte Flächen bilden, welche ungleich gün-
stiger wirken, als viele kleine, offene Flächen von gleicher Gesammtgrösse.
Doch kann es manche Ausnahmen geben. Wenn z. B. die Strasse vermöge ihrer
Orientirung wenig oder kein directes Sonnenlicht empfängt, dagegen die Hinter-
seiten der Gebäude gut besonnt sind, und namentlich wenn sie auf grössere
Gärten oder Wasserflächen hinaus gehen, wird der Baum an der Eückseite
der Gebäude zu bevorzugen sein. Dies gilt in erhöhtem Maasse, wenn
die Strasse verkehrsreich oder staubig ist, auch wenn sie heftiger Zugluft
ausgesetzt ist.
Die Raumfreiheit an der Hinterseite der Gebäude kann auf mehrfache
Weise gesichert werden: a) indem die Bebauung, von der Strasse aus gerech-
STRASSENHYGIENE. 725
net, über eine gewisse Tiefe hinaus ausgeschlossen, oder h) indem für die
Annäherung der Gebäude an die rückwärtige Grundstücksgrenze ein gewisses
Mindestmaass vorgeschrieben wird. Endlich wird c) dem Uebermaass der
Bebauungsdichte, wie es sich in alten Städten vielfach findet, neuerdings da-
durch vorgebeugt, dass für die Bebaubarkeit eines Grundstücks eine obere
Grenze festgesetzt wird, was Sache der Bauordnung ist. Vielfach ist in deut-
schen Bauordnungen vorgesehen, dass die Grenze der Bebaubarkeit von 337o —
7 5^0 der Grundstücksgrösse beträgt. Der zu a) angegebene Weg gewährleistet
Besseres und am meisten dann, wenn (wie z. B. in Hamburg neuerdings
für einzelne Gebietstheile, beziehungsweise Strassen geschehen ist) auch für
die Hinterseite der Gebäude, gleichwie an der Strassenseite Fluchtlinien
festgesetzt werden, indem alsdann der Zerrissenheit der freibleibenden Grund-
stückstheile vorgebeugt und mehr zusammenhängende freie Flächen geschaffen
werden. Die günstigsten Verhältnisse ergeben sich durch Combination der zu
a) und h) angegebenen Maassregeln.
Im Wesentlichen ist die Räumigkeit einer Stadt durch die Block-
grössen bestimmt, d. h. das zwischen vier Strassen liegen bleibende, der
Bebauung überlassene Gelände, die Gebäudehöhe und den Abstand
zwischen zwei Gebäuden. Die Block tiefe muss sich dem Charakter der Ge-
bäude anpassen. Für Häuser niederen Ranges müssen, um an Baugrund zu
sparen, geringe Blocktiefen genügen; hier werden 30 — 40 w Tiefe angemesseu
sein. Für Gebäude höheren Ranges sind 40 — 60 m passend, wenn der Bestand
von Hintergärten gesichert ist, mehr. Für Grundstücke, auf denen gewerbliche
Betriebe eingerichtet werden sollen, sind grössere Blocktiefen, bis vielleicht
zu 150 m erwünscht. Die Blocklängen ergeben sich nach Verkehrsrücksichten;
vom gesundheitlichen Standpunkte ist Beschränkung, vielleicht auf das
P/2 — 4fache der Blocktiefe anzustreben. Je höher die Gebäude, um so grösser
müssen im Interesse von Licht- und Luftzuführung die Blockgrössen gegriffen
werden; bei Aneinanderreihung von Gebäuden, die vier bis fünf Wohngeschosse
enthalten, sollte die Blocktiefe nicht unter etwa ^Om. gewählt werden. Da-
gegen ist Verminderung zulässig, wenn die Gebäude nicht unmittelbar an
einander aufgereiht (geschlossene Bebauung), sondern mit Zwischenraum (Bau-
wich) erbaut werden. Es ergibt sich hienach, dass in jedem grösseren Bau-
gelände die Festsetzung der Baublockgrössen sorgfältig überlegt und wech-
selnd stattfinden muss, jeder Schematismus darin ungünstig wirkt. Als Regel
aber kann angesehen werden, dass grosse Blocktiefen eher vermieden werden
sollen, als geringe, aus dem Grunde, dass später die Bebauung der Blöcke
zu grösserer als der anfänglich eingehaltenen Tiefe nicht leicht zu ver-
hindern ist, und alsdann oft recht ungünstige Zustände entstehen. Hoch
erwünscht ist es immer, darauf hinzuwirken, dass die freibleibenden Theile
der Baublöcke möglichst im Zusammenhang liegen, und nicht in
viele kleine Theilstücke zerrissen werden. Hier handelt es sich um eine Auf-
gabe der „Bauordnung", deren Lösung aber leicht auf Schwierigkeiten in dem
— privaten — Eigenthumsrecht trifft. Freiwillige Vereinbarungen von Nachbarn
über die Zusammenlegung unbebaut bleibender Theile ihrer Grundstücke ver-
dienen daher kräftigste Unterstützung sowohl durch das Gesetz als die Ver-
waltung. — Soweit als thunlich sollten die Baublöcke rechteckige Form
erhalten, weil das die Eintheilung erleichtert und Regelmässigkeit der Grund-
stücksformen ermöglicht, welche für die Bebauung in jeder Hinsicht günstig
wirkt. Andererseits führt jedoch Uniformität der Baublockformen zu sehr
ungünstigen Strassenbildern und oft auch zu Verkehrs-Erschwerungen. Ab-
schreckende Beispiele dieser Art bieten die Strassenpläne vieler amerikanischer,
doch auch einiger deutscher Städte.
Wie die Blockgrössen muss sich auch die Strassen b r e i t e nach der
Höhe der anliegenden Gebäude richten, in erster Linie allerdings nach dem
726 STßASSENHYGIENE.
Verkehr. Die eigentlichen Wohnstrassen, wenn dieselben mit niedrigen (ein-
bis zweistöckigen Gebäuden) besetzt sind, mögen mit 8 — 10 m Breite aus-
reichend bemessen sein; Geschäftsstrassen mit höheren Gebäuden bedürfen
10— 20?;i Breite, Verkehrsstrassen 20 — 30 m. Sogenannte Prachtstrassen mit
Promenaden und auch sonst getrenntem Verkehr erhalten bis etwa 70 m
Breite. In Anbetracht der starken Entwicklung des Windes und der Auf-
wirbelung von Staub in solch breiten Strassen erscheint ihre Anlage vom
gesundheitlichen Standpunkte weniger erwünscht als vom ästhetischen, der in
einem grossen Stadtplan einige stärker hervortretende Strassenzüge verlangt.
Als allgemein aus dem Bedürfnis nach Luft und Licht abgeleitete Regel
kann gelten, dass die Strassenbreite nicht kleiner als die Höhe der
anliegenden Gebäude sein soll. (Vergleiche übrigens unter „Wohnungshygiene".)
Obwohl es nach dem Vorangeschickten unthunlich ist, bestimmte Zahlen
für den Gesammtantheil anzugeben, den in einem Bebauungsplan die
zu Strassen und öffentlichen Plätzen ausgelegte Fläche haben soll, mögen
dennoch einige solche Zahlen hier Mittheilung finden. Bei offener Bebauung
rufen Orte, in welchen die Strassenfläche 30% oder selbst nur 20% der Ge-
sammtfläche nicht überschreitet, nicht mehr den Eindruck von Beengtheit
hervor; andererseits mag dieser Eindruck in Orten mehr oder weniger stark
hervortreten, welche geschlossene Bebauung und vorwiegend grosse Miet-
häuser aufweisen, wenn der Procentsatz der Strassenfläche sich auf 40 7o und
noch darüber beläuft.
In manchen Fällen kommt bei Bebauungsplänen ausser den Strassen-
fluchtlinien noch eine mehr oder weniger weit hinter dieselben zurücktretende
Baufluchtlinie zur Festsetzung. Dies hat zuweilen den Zweck, Raum
für eine in Zukunft etwa nöthig werdende Strassenverbreiterung zu schaffen,
gewöhnlich aber den anderen, mehr Luft und Licht in die Strasse zu bringen
und daneben die Annehmlichkeit des Wohnens an solchen Strassen zu er-
höhen. Die zurückgezogene Lage der Häuser gewährt den Bewohnern Ver-
minderung des Strassengeräusches, verminderte Verunreinigung des Hauses
durch Staub und Schmutz, vermehrte Sicherheit der Kinder beim Aufenthalt
im Freien, endlich Freiheit vor Einblicken der Nachbarn in das intimere
Leben des Hauses. Ausserdem wirkt ein wohlgepflegter „Vorgarten" befriedigend
auf Auge und Gemüth. Abgesehen von guter Pflege muss indess ein Vor-
garten, um alle diese Vorzüge bieten zu können, zunächst eine im Verhältnis
zur Frontlänge sowie zur Höhe des Hauses stehende Tiefe erhalten, die
sich etwa nach folgenden Rücksichten bestimmt:
Mit der Frontlänge und Höhe muss die Vorgartentiefe zunehmen, mit ersterer aber
mehr als mit letzterer. Der Vorgarten muss bei geschlossener Bebauung tiefer sein als
bei offener, und bei letzterer um so weniger tief, je breiter der zwischen zwei Häusern sich
befindende „Abstand" ist und je kleiner die Gebäude sind. Die Vorgartentiefe darf niemals
über ein gewisses Maass hinausgehen, welches so zu wählen ist, dass der Charakter vor-
nehmer Abgeschlossenheit des Hauses, eben so wie derjenige von Selbständigkeit der
Schmuckanlage vermieden wird. Bei offener Bauweise muss der Vorgarten den seitlichen
Schmuckanlagen des Hauses sich harmonisch einfügen. Nach diesen Rücksichten bemes-
sen, wird die Vorgartentiefe in den Grenzen von etwa 5 — 15 m zu wählen sein. Dem ganzen
Charakter des Vorgartens widerspricht es und den gesundheitlichen Zwecken, die derselbe
erfüllen soll, wird es gewöhnlich zuwiderlaufen, im Vorgarten Bäume und Sträucher
von besonderer Höhenentwicklung anzupflanzen: einzig angezeigt sind Bäume
und Gesträuche von beschränkter Grössenentwicklung, und daneben farbiger Schmuck
durch Blumenbeete und kleine Rasenflächen, deren Formen sich den Bauformen des
Gebäudes anzuschliessen haben. Wo Vorgärten durch den Bebauungsplan ausgeworfen
sind, darf, wenn sie ihre Zwecke vollständig erfüllen sollen, die Nutzungsweise derselben
nicht dem freien Belieben der Eigenthümer überlassen bleiben. Es sind vielmehr polizei-
liche Vorschriften nothwendig, durch die festgesetzt und unter Strafe gestellt wird, dass
der zwischen Strassenflucht- und Baufluchtlinie liegende Grundstückstheil als Schmuck-
platz anzulegen und dauernd zu unterhalten ist; jede anderweitige, namentlich jede ge-
werbliche Nutzung muss durchaus verhindert werden. — Um die Anlage von Vorgärten
zu begünstigen, empfiehlt es sich, dass bei Bestimmung der überbauungsfähigen Grundstücks-
theile die Vorgartenfläche eingerechnet wird.
STRASSENHYGIENE. 727
Oeffentliche Schmuck platze und Parks im Stadtgebiet, die man als
die „Lungen der Stadt" bezeichnet hat, bedürfen einer gewissen Mindest-
grüsse, wenn die Luftbeschaffenschaft der Umgebung dadurch günstig beein-
Susst werden soll, und wenn man eine befriedigende ästhetische Wirkung er-
zielen will; auch setzt das gute Gedeihen der Anlagen selbst schon einen ge-
wissen Umfang voraus. Andererseits ist zu beachten, dass eine weit getrie-
bene Concentration solcher Anlagen den Nutzen derselben dadurch wieder
schmälert, dass die Wege dahin zu lang ausfallen.
Neuerdings werden neben Schmuckanlagen auch noch Kinderspiel-
plätze in Städten ausgeworfen, Sie sind ein dringendes Bedürfnis in
Grossstädten und wesentlich für die kleineren, noch nicht schulpflichtigen
Kinder bestimmt, während für das Bedürfnis des schulpflichtigen Alters durch
Anlage von geräumigen Schulhöfen gesorgt werden muss. Kinderspielplätze
müssen von Gewässern und dem grossen Verkehre zurückgezogene, gegen heftige
Windströmungen geschützte und trockene Lage erhalten, und dabei sowohl
Sonne als Schatten bieten. Es ist dringend erwünscht, auf grossen Kinder-
spielplätzen eine Bedürfnisanstalt für die Kleinen zu errichten.
Die Lage der Friedhöfe ist beim Entwurf eines Bebauungsplanes mit
besonderer Sorgfalt auszuwählen. Einestheils handelt es sich dabei um be-
queme Erreichbarkeit, andererseits um Abwendung speci eller Gefahren, welche
die Verunreinigung des Grundes mit sich bringen kann. Sind nach den
neuesten Feststellungen diese Gefahren auch viel weniger zu fürchten, als
früher allgemein angenommen ward, so sind sie doch in gewissem Grade vor-
handen. Ein Friedhof muss tiefen, für Wasser und Luft leicht durchlässigen
Boden haben, und die Richtung des Grundwasserstroms muss der Stadtgrenze
abgekehrt sein. Wenn diese Anforderungen erfüllt sind, macht es nichts, ob
der Friedhof den Grenzen der Bebauung näher oder ferner liegt, ja diese
unmittelbar berührt. Wo mit einer späteren weiten Ausdehnung der Stadt-
grenzen zu rechnen ist, erscheint es zweckmässig, die Lage der Friedhöfe so
zu wählen, und das Strassennetz der Umgebung so anzuordnen, dass die
Friedhöfe sich dem Stadtbilde zwanglos einfügen und demnächst, nach Auf-
hören ihrer Benutzung als eingefriedigte Schmuckanlagen dienen können.
(Vergl. diesbez. den Abschnitt ,, Kirchhöfe" im Artikel „Leichenwesen" S. 570).
Die Orientirung der Strassen, d. h. die allgemeine Richtung derselben,
ist in erster Linie dem Verkehrsbedürfnis anzupassen; demnächst kommen
die Rücksichten auf die Form der Baublöcke, hienach die Ansprüche der
Gesundheitspflege und schliesslich noch ästhetische Ansprüche in Betracht.
Dabei ist von Bedingungen, die in dem Strassennetz der vorhandenen Stadt,
ferner in der Form und Oberflächenbeschaffenheit des Stadterweiterungs-
Geländes, in der Lage von Gewässern und Eisenbahnen, in der Boden-
beschaffenheit, in Hoch- und Grundwasserständen und in anderen Verhält-
nissen gegeben sein können, noch ganz abgesehen. Es leuchtet daher ein,
dass der in der Neuzeit mehrfach erhobenen Forderung, die allgemeine Rich-
tung von Strassen so zu wählen, dass in dieselben möglichst viel directes
Sonnenlicht hineinfällt, in der Regel nur in gewissem Maasse genügt
werden kann. Es geht nicht an, weder die sogenannte äquatoriale Strassen-
richtung zu vermeiden, noch die sogenannte meridionale im Stadtplane be-
sonders zu bevorzugen; auch steht in der „Bauordnung" ein wirksames
Mittel zu Gebote, den Mangel an Sonnenlicht in rein äquatorialen Strassen
dadurch einzuschränken, dass für den Anbau an solchen Strassen nur ge-
ringere Gebäudehöhen als an den meridional gerichteten Strassen polizeilich
zugelassen werden. Freilich handelt es sich dabei um einen erheblichen
Eingriff' in Eigenthumsrechte, der sorgfältiger Abwägung bedarf. Und an-
derweitig lässt sich auch dadurch an der Besonnung der äquatorialen Strassen
erheblich bessern, dass solchen Strassen eine grössere Breite als anders
728 STRASSENHYGIENE.
gerichteten gegeben wird. Erschöpfend lässt sich übrigens die Frage nach
dem gesundheitlichen Werte bei den Strassenarten erst auf Grundlage der
Ansprüche der „Wohnungshygiene" abthun, in welcher daher auf diesen
Gegenstand zurückzukommen sein wird. Hier muss es genügen, diesen
Gesichtspunkt kurz berührt und darauf aufmerksam gemacht zu haben, dass
bei Freiheit in der Orientirung der Strassen die meridionalen vor den äqua-
torialen zu bevorzugen sind, dass die Besonnung der von Südost nach Nord-
west gerichteten Strassen eben so günstig als die der meridionalen Strassen
ist, und nur etwas weniger günstig diejenige von Strassen, welche die Kich-
tung von Südwest nach Nordost einhalten. Im übrigen sind diese Aussprüche
nur cum grano salis zu deuten, da das Maass der Besonnung, welche eine
Strasse von bestimmter Richtung empfängt, wesentlich durch die geogra-
phische Breite des Ortes und den Höhenstand, welchen die Sonne erreicht,
und ausserdem durch die Himmelsbewölkung, also das Klima der Gegend,
bestimmt ist.
Strassen sollen möglichst auf sogenanntem gewachsenem Boden liegen.
Werden Aufschüttungen nothwendig, so sind dieselben nicht mit faulenden
oder fäulnisfähigen Stoffen auszuführen. Wenn die Bebauung Flächen er-
reicht, auf welchen in vorhergegangener Zeit derartige Stoffe (Bauschutt,
Haus- und Strassenkehricht) abgelagert werden, so muss untersucht werden,
ob der Fäulnisprocess bereits zu Ende gekommen ist. Ist dies nicht der Fall,
so muss der faulende Boden desinficirt oder — besser — durch gesunden
Boden ersetzt werden. Der Untergrund der Strasse muss, schon um Sicher-
heit gegen Brüche und Undichtigkeiten gegen die in demselben eingebetteten
Leitungen (für Trink- und Schmutzwasser, für Gas u. s. w.) zu schaffen, mög-
lichst unwandelbar sein. In Grossstädten, aber auch in einzelnen verkehrs-
reichen Strassen anderer Städte kann es sich empfehlen, alle Leitungen ge-
meinsam in grossen Tunnels unterzubringen, wie es auch vielfach ausgeführt
worden ist. Dem steht jedoch der Nachtheil gegenüber, dass in den Tunnels
Ansammlungen von ausgeströmtem Leuchtgas oder explosionsfähigen anderen
Gasen (Kohlenwasserstoffen u. s. w.) stattfinden können. Bei Neuanlagen von
Strassen in bestehenden Stadttheilen hat man mit dem Vorkommen von
grösseren Hohlräumen (aufgegebenen Kellern u. s. w.), auch mit Resten alter
unbekannter Leitungen zu rechnen, d. h. mit Hohlräumen, die oft zu Sammel-
stätten schädlicher Gase (Kohlensäure, Schwefelwasserstoff", Sumpfgas) geworden
sind und leicht Gefahr bringen können. Der Grund ist daher auf das Vor-
kommen solcher Reste sorgfältig abzusuchen.
Um Bodenverunreinigungen durch den Strassenverkehr durch unreine
Wässer u. s. w. fern zu halten, muss die Strassenbefestigung oder Strassen-
decke (Pflaster) möglichst wasserundurchlässig sein. Vollkommenheit lässt
sich hierin nur durch Zerlegung der Strassendecke in zwei Theile, ein so-
genanntes Unterpflaster und das eigentliche Pflaster, erreichen. Ersteres muss
eine wasserdichte Schicht von solcher Stärke bilden, dass es unter der Be-
lastung durch den über die Strasse fortgehenden Verkehr nicht Brüche er-
leidet. Das Oberpflaster muss gleichfalls wasserdicht sein, um Ansammlungen
von Wasser zwischen Ober- und Unterpflaster zu verhindern. Bei den Geh-
wegen (Trottoiren, Bürgersteigen) ist die Zerlegung in zwei Theile nicht
nothwendig, da man bei dem minder schweren Verkehr die Wasserundurch-
lässigkeit auch mit einer einfachen Decke erreichen kann.
Die Strassendecke muss regelmässige Form haben nnd dauernd in regelmässiger
Form erhalten werden, um Ffützenbildung zu verhindern und die Reinigung der Strasse
zu erleichtern. Die Regelmässigkeit der Form muss sowohl in dem Längenprofil als in dem
Querprofil herrschen. Immer dient es dem Reinlichkeitszweck, wenn die Strasse in der
Längenrichtung nicht wagrecht, sondern in einigem Gefälle liegt, weil dadurch der Wasser-
abfiuss befördert wird. Steile Gefälle — wie sie bis auf etwa ^/m herab vorkommen, sind
auf Nothfälle zu beschränken, weil sie ermüden und bei Glatteis gefährlich sind. An eine
STRASSEN HYGIENE. 729
längere Strecke mit starkem Gefälle soll sich bald eine wagrechte Strecke oder eine solche
mit schwachem Gefälle — absatzartig — anschliessen. Das Querprofil der Strasse soll
gerundet sein, um so schwächer, je stärker das Längengefälle der Strasse ist; die Geh-
wege werden am besten mit ebener Oberfläche und einseitigem, der Fahrbahn zugekehrtem
Gefälle hergestellt. Wo man frei über Quer- und Längengefälle bestimmen kann, muss
dasselbe der Beschaffenheit des Pflastermaterials angepasst werden; im umgekehrten Falle
ist das Pflastermaterial dem Gefälle anzupassen. Je glatter das Material, je flacher muss
das Gefälle genommen werden. Asphalt lässt nur sehr schwache Gefälle — bis etwa Y.o —
zu, tind ähnlich Fliesen, während Natursteine alle Gefälle bis zu den steilsten zulässigen
hinauf erlauben. Dasselbe gilt für Holzpflaster. Die Gehwege müssen zum Schutz des
Fussgängerverkehrs durch einen scharfen Absatz von der Fahrstrasse gesondert werden.
Auch für in den Strassen liegende Strassenbahnen (mit Dampf-, elektrischem oder Pferde-
betrieb) kann scharfe Absonderung erwünscht sein ; doch entscheidet sich diese Frage mehr
nach Verkehrs- und örtlichen Verhältnissen.
Mit dem Strassengefälle steht die Entwässerungs-Einrichtung
der Strasse in eügem Zusammenhang. In den verkehrsärmeren Strassen, welche
einiges Gefälle haben, genügt oberirdische Entwässerung — durch seitliche
Rinnen. Liegt aber die Strasse wagrecht oder nahezu wagrecht, so ist die
oberirdische Entwässerung mangelhaft. In verkehrsreichen Strassen kann, na-
mentlich wenn sie geringe Breite besitzen, oberirdische Entwässerung nie-
mals genügen, theils weil das Strassenwasser arg verunreinigt ist, theils weil
im Winter die offenen Rinnen stark verkehrshindernd, beziehungsweise gefähr-
dend sein können. Immer sind offene Rinnen bedenklich, wenn in dieselben
auch die Wasser von den anliegenden Grundstücken aufgenommen werden,
und nicht fortdauernde oder tägliche Spülung der Rinnen stattfindet. Zuge-
deckte Rinnen, besonders auch die quer durch die Gehwege geführten Rinnen,
welche häusliche Schmutzwässer zuführen, sind aber vom gesundheitlichen
Standpunkt noch viel gefährlicher als offene Rinnen. Immer bringt die ober-
irdische Entwässerung den Uebelstand mit sich, dass dabei die öffentlichen
Gewässer verunreinigt, vielleicht inficirt werden. Besonders ist an Aus-
breitung von Thierseuchen, darunter der sogenannten Zoonosen, mit Strassen-
wasser zu denken, aber auch an Ausbreitung von Menschenseuchen, wenn
dem Strassenwasser häusliche Schmutzwässer oder Wässer von unrein gehal-
tenen Höfen u. s. w. zugeführt werden.
Beiläufig ist hier auch daran zu erinnern, dass im Strassenschmutz der Bacillus des
Wundstarrkrampfes (Bacillus tetani) angetroffen wird. — Untersuchungen über den Keimgehalt
Ton Strassenwässern liegen bisher nur vereinzelt vor. Die Ergebnisse müssten auch nach
dengrossen Verschiedenheiten der örtlichen Verhältnisse sehr ungleich ausfallen. Einige in
Paris vorgenommene Untersuchungen von Rinnsteinwässern haben hohe Keimzahlen (von
32.000 bis 200.000) ergeben, und zwar die höheren Zahlen in den Wässern von nicht cana-
lisirten, die niedrigeren in den Wässern aus canalisirten Strassen.
Weil unterirdische Abführung (Canalisation) die öffentlichen Gewässer
vor Verunreinigungen am besten schützt, weil sie gleichzeitig die rasche
und wirksame Entfernung der häuslichen Schmutzstoffe sichert, auch der
allgemeinen Reinlichkeit am besten dient, ist dieselbe der oberirdischen Ent-
wässerung gesundheitlich weit überlegen. Bei jeder Bearbeitung eines Be-
bauungsplanes muss daher die Einrichtung unterirdischer Entwässerung in
Betracht gezogen werden und alles geschehen, um dieselbe zu erleichtern. Es
sollte auch nicht erlaubt sein, an Strassen zu bauen, für welche die Entwässe-
rungsfrage nicht vorher befriedigend gelöst ist. Um möglichst Vollkommenes
zu erreichen, ist der Entwässerungsplan in den Hauptzügen von vornherein
festzulegen und muss derselbe — unabhängig von den Grenzen des Gemeinde-
gebiets — das ganze Niederschlagsgebiet umfassen.
Die Bepflasterung der Strasse soll wenig staub- und geräuschbildend
sein. Erstere Anforderung wird am besten erfüllt, je härter und je regel-
mässiger das Material bearbeitet ist. Das härteste Material ergibt aber das
lauteste, bei lebhaftem Verkehr nervenzerstörende Geräusch. Weicheres Ma-
terial, wie Holz, nützt stark und ungleichmässig ab, nimmt ausserdem Feuch-
tigkeit begierig auf, wird stark riechend, besonders auf Standplätzen von
730 STRASSENHYGIENE.
Fuhrwerken, und lässt Keime mehrere Centimeter tief eindringen. Man hat
bei Untersuchungen von Holzpflastern in Lyon an der Oberfläche in 1 gr Holz-
masse 76,000.000 Keime und in 4 cm Tiefe 260.000 Keime gefunden. Da
diese Mängel den Vorzug der Geräuschlosigkeit, den Holzpflaster besitzt, mehr
als aufwiegen, kann dasselbe, wie bisher, so auch in Zukunft nur unter be-
sonderen Verhältnissen auf Anwendung rechnen. Am vollkommensten sind
die Forderungen: geringe Abnützung und Geräuschlosigkeit beiden Asphalt-
strassen erfüllt, die deshalb für Strassen mit lebhaftem Verkehr in ebenen
Gegenden die Zukunft für sich haben. Gewisse Mängel haften den Asphalt-
strassen darin an, dass sie bei Feuchtigkeit sehr glatt sind (bei eigent-
licher Nässe nicht), Wärme stark aufsammeln und dass bei Trockenheit der
aufliegende Staub sehr leicht in Bewegung gesetzt wird; andererseits sind sie
auch leicht vollkommen rein zu halten. Makadam eignet sich seiner Staub-
und Schmutzbildung 'wegen für Strassen im Innern der Stadt nicht, sondern
nur für weniger befahrene Vorstadtstrassen, für Fahrwege in Anlagen u. s. w.;
die Geräuschbelästigung ist sehr gering. Wenn Klinkerstrassen, um haltbar
zu sein, nicht einer beständigen Deckung mit Sand bedürften, würden sie in
jeder Hinsicht als vorzüglich bezeichnet werden können; das Erfordernis
der Sanddecke schränkt ihre Anwendbarkeit ähnlich ein, wie diejenige des
Makadams. Ganz neuerdings kommen Strassenpflaster aus Platten vor, die
unter hohem Druck aus Beton (Gemisch aus Cementmörtel und hartem
Steinschlag) hergestellt werden. Die Geräuschbildung ist sehr gering; wie
die Abnützung sich herausstellt, kann erst durch längere Erfahrung ermittelt
werden.
Für Gehwege tritt die Forderung der Geräuschlosigkeit in den Hintergrund; da es
hier nur einer möglichst ebenen und wenig abnützenden Fläche bedarf. Verlangt muss
indess ausserdem werden, dass die Fläche wasserundurchlässig und standsicher ist, sowohl
bei Trockenheit, als im nassen Zustande, dass sich nicht leicht Glatteis auf der Fläche
bilde, endlich, dass das Material nicht so hart sei, um stark fühlbare Erschütterungen
der Muskeln und Knochen der Beine beim Auftreten hervorzurufen. Diese Ansprüche
können von einer ganzen Reihe von natürlichen und künstlichen Materialien erfüllt
werden, auf welche einzeln einzugehen nicht erforderlich ist. Besondere Eignung für Geh-
wege-Befestigung besitzen: Asphalt, Cementbeton (in Form von Platten oder Estrichen),
Klinker, auch sogenanntes Mosaikpflaster aus einigermaassen regelmässig geschlagenen
Steinstücken. Letzteres hat zudem wegen seiner Durchlässigkeit (die Unterlage besteht
aus einer Sandschüttung) den Vorzug, dass unter dem Pflaster nicht Ansammlungen von
Leuchtgas entstehen können.
Für die Beschaffenheit der Wege in Anlagen, Promenadenwege, gilt Aehnliches
wie für Gehwege in Strassen. Es empfiehlt sich aber dringend, in der Breitenabmessung
der Promenadenwege nicht über das dem Verkehr genügende Maass hinauszugehen, wenn
diese Wege als Kieswege hergestellt werden. Grund: die Staubaafwirbelung in trockener
und Schmutzbildung in nasser Jahreszeit. Derselbe Grund führt dahin, Fahr- und Gehwege
in Anlagen zu sondern, namentlich aber Reitwege von Gehwegen in einiger Entfernung zu
halten. Promenaden wege in Alleen werden, besonders wenn sie unmittelbar an der Stadt
liegen, am besten in ganzer Breite mit Asphaltbelag, oder einem Estrich aus Cement (auf
Betonunterlage}, oder mit Betonplatten, auch mit einen Belag aus gebrannten Steinen
Fliesen oder Platten) hergestellt; zur Reinigung solcher Wege muss Wasser möglichst
unmittelbar zur Hand sein. Breite Promenadenwege in Anlagen erhalten, wenn sie
bekiest sind, sehr zweckmässig einen mittleren Streifen von lö — 2 m Breite, welcher mit
Asphalt, anderweitem Estrich, Platten oder Fliesen belegt wird, dessen Nutzen namentlich
bei nasser Witterung zur Geltung kommt.
Auch wenn die Stadt centrale Wasserversorgung hat, besteht für
mancherlei Zwecke das Bedürfnis, auf Strassen und Plätzen eine Anzahl
öffentlicher Brunnen zu haben. Dazu bilden einige Springbrunnen
auch im gesundheitlichen Sinne eine wertvolle Zugabe.
Oeffentliche Bedürfnisanstalten beider Art sind schon für die
Strassen der Städte von nur einiger Grösse ein unabweisbares Bedürfnis. Sie
sind an Stellen zu errichten, wo Verkehrsconcentrationen stattfinden, wi&
z. B. auch auf offenen Marktplätzen. In der Lage soll sich eine gewisse
Zurückgezogenheit und leichtere Auffindbarkeit verbinden; Verstecktheit in
STRASSENHYGIENE. 731
massigen Gesträuchen ist durchaus zu vermeiden; leichte Umhegung mit Grün
aber zweckmässig.
Schmuckanlagen auf freien Plätzen sollten aus erziehlichen Rück-
sichten nur leicht umwehrt sein. Strauchpartien auf denselben bringen für
die umgebenden Strassen den Nutzen mit sich, dass sie staubmildernd wirken;
höherer Baumwuchs leistet darin weniger. Rasenflächen sollen, wenn
der Rasen immerwährend kurz gehalten wird, für die Ozonbildung bei Ge-
wittern besonders wirksam sein. Besonders angezeigt sind Anpflanzungen —
namentlich auch von Bäumen — auf den Kreuzungen zweier oder mehrerer
Strassen, wo sich bei bewegter Luft stärkere Windströmungen geltend machen.
Sowohl zum besseren Gedeihen der Anpflanzungen als zur Verbesserung der
Strassenentwässerung dient es, die Schmuckanlagen gegen die umgebenden
Strassen etwas vertieft zu legen; Höherlegungen sind nur ausnahmsweise
auszuführen.
Ob eine Strasse zweckmässigerweise Baumreihen erhalten soll, kann nur
in jedem Einzelfalle entschieden werden; als Regel gilt, dass mindestens 25 m Breite
vorhanden sein müssen. In Strassen von geringerer Breite wird der Nutzen des Baum-
wuchses durch zu starke Lichtentziehung, durch Abhaltung der directen Sonnenstrahlen,
beziehungsweise durch Beeinträchtigung der Trockenheit der Strasse mehr als ausgeglichen.
Für äquatorial gerichtete Strassen empfiehlt sich Baumanpflanzung weniger als für meri-
dional gerichtete; für Strassen in feuchter Lage wird man auf denselben zweckmässig ver-
zichten, wenngleich durch den Baumwuchs dem Boden beträchtliche Wassermengen ent-
zogen werden. An Strassen mit Vorgärten sind Baumreihen zwecklos oder sogar schädlich,
wenn solche Strassen nicht besonders grosse Breite haben. Immer sollen die Baum-
reihen von den Häusern einigermaassen entfernt stehen, sind daher nicht an der Strassen-
grenze, sondern unmittelbar zu den Seiten des Fahrweges zu setzen.
Für die nach mehrfachen Richtungen gehende Zweckerfüllung von
öffentlichen Schmuckanlagen und Baumreihen ist es unbedingt nothwendig, dass
denselben eine über das Gewöhnliche hinausgehende Pflege zuge-
wendet wird.
Die Strassenreinigung umfasst die Sammlung und Fortschaffung des auf
der Strassenfläche erzeugten Staubes und Schmutzes, ferner die Befreiung der
Strassen von Schnee und Eis, und es kann endlich auch noch die Strassen-
besprengung in die Strassenreinigung einbegriffen werden.
Strassen- Staub und -Schmutz verunreinigt die Luft, wird durch Luftzug
und mit der Kleidung in die anliegenden Häuser verschleppt, kann bei un-
dichter Pflasterung in den Boden versickern, enthält ausser Fäulnisstoffen auch
speciflsch schädliche Kleinwesen, wie namentlich den Bacillus tetani, gelangt,
wenn keine ordnungsmässige Beseitigung stattfindet, auch in die offenen Ge-
wässer, die er verunreinigt und sonstwie schädigt. Der Desinfection setzt
derselbe durch seine Structur unüberwindliche Hindernisse entgegen; es
ist deshalb nur anderweitige Unschädlichmachung möglich. Die vollkommenste
besteht in der landwirtschaftlichen Verwertung, welche auch die am meisten
gebräuchliche ist. Bei seinem nicht grossen Düogerwert verträgt aber
Strassenkehricht keine langen Transporte, vielmehr müssen die Verwendungs-
stellen in geringer Entfernung gesucht werden. Weniger günstig, doch nicht
gerade zu beanstanden ist die Benützung zur Aufliöhung tief liegender Land-
flächen. An der Küste gelegene Städte entledigen sich des Strassenkehrichts
durch Versenken auf den Meeresboden. Vereinzelt wird er mit Hauskehricht
und anderen häuslichen Abfallstoffen verbrannt; wenn er Kalkantheile in einigen
Mengen enthält, lässt sich durch den Brennprocess, unter Zusatz anderer noth-
wendiger Bestandtheile, Mörtel von geringer Beschaffenheit dabei gewinnen.
Anderweite, aber geringfügige Verwertung findet Strassenkehricht gewisser
Beschaffenheit wohl als Luftmörtel und zu den sogenannten Holzcement-
dächern von Gebäuden.
Vom gesundheitlichen Standpunkte ist bei der Strassenreinigung ausser
der Art und Weise ihrer Ausführung auch der Verbleib des Kehrichts
732 STRASSENHYGIENE.
von Wichtigkeit; beide müssen gut geordnet sein. Hie und da ist die
Sammlung des Kehrichts den Strassenanwohnern auferlegt, entweder für
die ganze Strassenbreite oder nur mit Bezug auf die Gehwege. Seltener wird
verlangt, dass die Strassenanwohner ausser der Sammlung auch die Abfuhr des-
selben leisten. Weder das. Eine noch das Andere ist mit der Wahrung ge-
sundheitlicher Interessen vereinbar. Es werden nothwendig grobe Ungleichheiten
in dem Reinlichkeitszustande der Strasse sich ergeben müssen, wenn jeder
vor seiner Thür zu fegen hat, und es kann auch der Verbleib des Kehrichts
zu groben Missständen führen. Letztere entfallen aber, wenn die Stadt-
gemeinde geeignete Ablagerungsplätze erwirbt und Ablagerungen an anderen
Stellen mit Strafen verfolgt werden.
Das Kehren vor eigener Thüre ist übrigens auch geeignet, jeglichen Fortschritt in
der Ansführnngsweise der Strassenreinigung zu verhindern, da nur bei Zusammenfassung
derselben in einer Hand es möglich ist, Vervollkommnungen einzuführen. Zu diesen rechnet
auch die Ausführung des Geschäftes zur Nachtzeit, die neuerdings als die ein-
zig richtige angesehen wird. Sie setzt allerdings das Bestehen einer nicht gerade dürftigen
Strassenbeleuchiung voraus. Ebenfalls rechnet zu den Vervollkommnungen der Ersatz der
Handarbeit durch Kehrmaschinen; die Erreichung der günstigsten Leistung bedingt
aber eine nicht zu geringe Pflasterbeschaffenheit. Je nach dem Zustande des Pflasters
leistet eine Kehrmascliine dasselbe wie 10 bis 15 Arbeiter und für den Preis von nur 7«
bis ^/g desjenigen der Handarbeit. Für die Reinigung von Flächen besonderer Form ist
Handarbeit nicht zu entbehren, ebensowenig für die Reinigung der Gehwege oder
Bürgersteige. Vereinzelt sind Kehrmaschinen aufgetaucht, die nicht den Schmutz zu den
Seiten der Strasse zusammenkehren, sondern denselben auch unmittelbar in mit der
Maschine verbundene Behälter fördern; doch ist bis jetzt eine befriedigende Construction
dieser Art von Maschinen noch nicht gefunden worden; sie würden sonst der Fortschaffung
auf Wagen vorzuziehen sein. Auch wenn die Strassenreinigung zur Nachtzeit ausgeführt
wird, muss dieselbe feucht erfolgen, und müssen die Transportbehälter einigermaassen
staubdicht sein.
Asphaltpflaster wird am besten nass gereinigt, was freilich das Bestehen
unterirdischer Strassenentwässeruug voraussetzt, und Einführung grosser
Schmutzmengen in die Canäle mit sich bringt. Auch bei Steinpflaster
besserer Beschaffenheit und Holzpflaster beginnt man neuerdings die Rei-
nigung durch Waschen einzuführen, entweder so, dass ein kräftiger Wasser-
strahl aus Schläuchen auf die Strasse gegeben wird, der den Schmutz fort-
schwemmt, oder so, dass die Sprengwagen mit einer Walze versehen werden,
die am Umfange mit Gummiplatten besetzt sind, welche den stark gewässerten
Schmutz zur Seite schieben.
Zur Strassenreinigung im weiteren Sinne rechnet auch die Entfernung
der Sinkstoffe aus den Einlassen der unterirdischen Entwässerungsanlage und
aus den Einsteigeschachten derselben.
Die Beseitigung des Hauskehrichts (Hausmüll) wird am zweck-
mässigsten mit der Strassenreinigung verbunden. Dies ist bisher jedoch nur in
der Minderzahl der Städte der Fall, bleibt aber das vom gesundheitlichen Stand-
punkte aus mit Nachdruck anzustrebende Ziel. Auf die Beseitigung des Haus-
mülles wird erst unter „Wohnungshygiene" näher eingegangen werden.
Die Mengen des Strassenkehrichts wechseln nach der Strassenbeschaffenheit, nach
Verkehrsgrösse und Verkehrsart, ferner nach der Wohndichte der Stadt und nach klima-
tischen Factoren in sehr weiten Grenzen. Sie können für 1 hm Strassenlänge und Jahr
250.000 — 1,250.000 kg betragen. Genauer ist die Angabe, dass in den mit Steinpflaster
versehenen Strassen mit starkem Verkehr sich im Laufe eines Jahres eine Schmutzschicht in
der Gesammthöhe von 50 mm bildet, auf den Gehwegen nur bis ^/g davon. Die Zurück-
führung von Mengen des Strassenkehrichts auf 1 Kopf der Stadtbewohnerschaft liefert
zwar bei den grossen Verschiedenheiten in der Wohndichte der Städte keine mit einiger
Sicherheit vergleichbaren Zahlen, doch mag angeführt werden, dass in einer Reihe von
Grossstädten auf 1 Kopf und Jahr von 0-125 — 0-500 cm^ Strassenkehricht entfallen können;
Der geringste Satz trifft zur Zeit für Berlin zu, der höchste wird in Wien nahezu erreicht.
Anhäufungen von Schnee in Strassen sind eben so sehr vom Stand-
punkt der Gesundheitspflege als von demjenigen des Verkehrs rasch wieder
zu beseitigen. Sie wirken stark abkühlend auf die Luft, erzeugen durch
STRASSENHYGIENE. 733
Feuchtwerden der Fussbekleiduüg Erkältungskrankheiten, behindern sowohl
den oberirdischen Wasserabäuss, als den Eintritt des Wassers in unter-
irdische Leitungen, wirken Schmutz ansammelnd und bringen direct Gefahren
für den Fuss- und Wagenverkehr der Strassen mit sich, besonders in Strassen
mit stärkeren Steigungen. Bei der Plötzlichkeit, mit der grössere Schnee-
fälle sich einzustellen pflegen, ist es kaum möglich, einen entsprechenden
Arbeits- und Verwaltungsapparat für die Schneebeseitigung zum voraus ein-
zurichten und müssen Improvisationen getrofien werden. Gewöhnlich — und
hier ist dieser Weg der zweckmässigste — wird die Freihaltung der Strassen
von Schnee den Anwohnern zugewiesen; mindestens haben dieselben die Geh-
wege vor den Häusern vom Schnee freizuhalten. In kleinen Städten mit
weitläufiger Bebauung kann von denselben auch die Entfernung des Schnees
aus dem Bereich der Strassen verlangt werden; in grösseren mit dichter Be-
bauung muss für diese Aufgabe nothwendig die Stadt eintreten. Das be-
schwerlichste Mittel ist der Abtransport mit Wagen ausserhalb der Stadt.
Ob VerStürzen der Schneemassen in öffentliche Wasserläufe zulässig ist,
hängt durchaus von Besonderheiten des Flussregimes, von Schiffahrtsverhält-
nissen u. s. w. ab. Bei grösseren Flüssen und in Küstenstädten, ebenso an
Gebirgsflüssen wird das Verfahren wohl immer zweckmässig sein.
Das Schmelzen des Schnees an Ort und Stelle und Ableitung des Schmelzwassers
ober- oder unterirdisch (Wassermenge des Schnees je nach der Dichte der Lagerung = V2
bis ^/ao, im Mittel ^/g der Schneemenge) ist sehr kostspielig und zeitraubend, daher nur als
Aushilfsmitiel in besonderen Fällen anwendbar. Das Einwerfen in unterirdische Canäle
setzt entweder Canäle von grösserer Profilweite, oder das Bestehen sogenannter Schnee-
kammern neben den Canälen (Umleitungen) voraus. Auch sind Verstopfungen der Canäle,
und infolge davon Keller-Üeberschwemmungen zu fürchten. Endlicli kann, wo Reini-
gungsanlagen für die Schmutzwässer bestehen, die Vermehrung derselben durch die Schnee-
schmutzwässer Schwierigkeiten verursachen. Das Mittel ist daher ebenfalls nur unter
besonderen umständen anwendbar. — Aufthauen des Schnees durch Bestreuen mit Stein-
salz sollte möglichst vermieden, oder doch auf Nothfälle (Freimachen von Bahngeleisen
u. s. w.) beschränkt werden, da das Gemisch von Salz und Schnee sehr niedrige Tem-
peraturen hat und von denselben die Fnssbekleidung stark angegriffen wird. —
Schlimme Belästigungen entstehen in Städten mit lebhafter Bauthätig-
keit bei Abbruch alter Gebäude und Abtransport des Bauschutts; auch
können mit dem verursachten Staub leicht die Keime ansteckender Krank-
heiten Verbreitung finden; insbesondere ist jedoch der Bauschutt wegen der
Ausbreitung des Hausschwamms (Merulius lacrymans) zu fürchten. Bauschutt
darf daher niemals in neuen Gebäuden wiederum benutzt werden; er sollte
auch stets so abgelagert werden, dass nicht Gefahren für in der Nähe befind-
liche Holzlager entstehen können; er darf auch nicht alsbald zur Aufschüttung
neuer Strassen u. s. w. verwendet werden. Der Abtransport muss in möglichst
staubdichten Gefässen erfolgen und durch besondere Polizei- Vorschriften ge-
regelt sein. Gegen alle diese Forderungen der Gesundheitspflege wird leider
sehr häufig gefehlt, worin wahrscheinlich die Thatsache der grossen neu-
zeitlichen Verbreitung des Hausschwammes zu einem wesentlichen Theile be-
gründet ist.
In dichter bebauten Städten besteht in den Sommermonaten das Be-
dürfnis der Strassenbesprengung, womit theils Anfrischung der Luft,
theils Niederschlagung des Staubes bezweckt wird. Das Bedürfnis wechselt
aber in weiten Grenzen mit der Lage der Strasse und der Beschaffenheit
des Pflastermaterials. — Wenn die Strassen zugig und auf trockenem, san-
digem Boden liegen, und wenn das Pflastermaterial — wie z. B. Granit
und Asphalt — stark Wärme aufspeichert, ist das Bedürfnis am grössten;
in solchen Fällen ist mehrmalige Besprengung im Laufe eines Sommertages
nothwendig. Die sogenannte Sprengsaison umfasst in Deutschland die Zeit
etwa von Anfang April bis Ende September und enthält, je nach der Witte-
rung, 120—180 Tage, an welchen Besprengung nothwendig ist.
734 TAUBSTUMMENANSTALTEN.
Das Sprengwasser soll einigermaassen rein sein, wenngleich so strenge
Anforderungen wie an Trinkwasser an dasselbe nicht zu stellen sind. Ver-
einzelt hat man dem Sprengwasser, um die Verdunstung desselben zu be-
schränken, Kochsalz zugesetzt; in Städten an der Meeresküste wird auch wohl
Meerwasser zum Sprengen benutzt. Im allgemeinen ist salziges Wasser für
den Zweck nicht zu empfehlen, weil es den Schmutz klebrig und an der
Strassenfläche festhaften macht; auch wirkt dasselbe etwas lösend auf Stein-
material. Da Feuchtigkeit des Strassenschmutzes Mikrobenleben begünstigt
und damit auch Keime in gewisse Tiefen geführt werden können, kann es
in Zeiten von Typhus- und Cholera-Epidemien eine nützliche Vorsichtsmaass-
regel sein, die Strassenbesprengung einzuschränken oder zeitweilig ganz zu
unterlassen.
Es wird theils aus Schläuchen, theils mit W a g e n gesprengt. Ersteres Verfahren
erfordert viel grössere Wassermengen als letzteres, und hat dabei die üble Eigenschaft,
dass der starke Wasserstrahl den Staub vor sich hertreibt und aufwirbelt; es empfiehlt
sich wegen der Verkehrsbelästigung auch mehr für Promenaden als für lebhaft befahrene
Strassen. Beim Sprengen mit Wagen trifft das Wasser die Strassenfläche in mehr
senkrechter Richtung; die Staubauf wirbelung ist daher gering. Die Vermehrung durch
die Fahrkosten wird durch die Ersparung an Wasser wieder eingebracht. Bei der Wagen-
besprengung genügt 1 1 für einmalige Besprengung von 1 m^ Strassenfläche. In Berlin
werden bei 4,850.000 m^ Strassenfläche jährlich etwa 800.000 cm^ Wasser, d. i. 1 Z auf 1 m^
und 1 Tag zur Strassenbesprengung verbraucht. BÜSING.
Taubstummenanstalten. Das Taubstummenwesen bietet den hygieni-
schen Verbesserungsbestrebungen eine breitere und vielseitigere Angriffs-
fläche dar, als die meisten Aerzte wissen. Es muss deshalb der Allgemein-
heit der Aerzte dringend ans Herz gelegt werden, sich mit demselben ein-
gehender zu beschäftigen, als es bisher der Fall war.
Bis ins Mittelalter herein vermuthete man den Sitz der Krankheit in
den Sprech- und Articulationsorganen. Jetzt wissen wir, dass die Stumm-
heit nur die Folge der Taubheit ist und definiren also die Taubstummen
„als Menschen, welche das Gehör entweder von Geburt an nicht besessen
oder in den ersten Lebensjahren verloren und infolgedessen das Sprechen
nicht gelernt oder das bereits Gelernte wieder verlernt haben."
Die Erfahrung zeigt uns, dass den Taubstummen die Fähigkeit, die
Lautsprache zu erlernen nicht fehlt, wenn es nur gelingt, sie ihnen auf einem
anderen Wege beizubringen als den Vollsinnigen.
Ehe wir aber diesen Weg weiter verfolgen, ist es nothwendig, sich die
Naturgeschichte des Taubstummen vor Augen zu führen.
Die Zahl der Taubstummen in Deutschland beträgt 50.000, ein Heer von unglück-
lichen, das schon der Mühe wert ist, dass wir uns um dasselbe kümmern! Was die Häufig-
keit in den einzelnen Ländern betrifft, so ergeben sich hierin ganz beträchtliche Unter-
schiede: während auf 10.000 Einwohner in Deutschland 9-7 Taubstumme kommen, ist
diese Zahl für die Schweiz 24 5, für Grossbrifannien nur 5"7 und für die Vereinigten
Staaten gar nur 4'2. — Gebirgige Gegenden haben mehr Taubstumme als flache. Man
ist heutzutage geneigt, den Grund für diese Erscheinung weniger in terrestrischen Ein-
flüssen zu suchen, als vielmehr in dem Umstand, dass die Bewohner gebirgiger Gegenden
meist in schlechteren socialen und hygienischen Verhältnissen leben und mit Aerzten nicht
so gut versorgt sind als die Bewohner des flachen Landes. Für diese Annahme spricht
sich Lemcke auf Grund seiner äusserst sorgfältigen Erhebungen in Mecklenburg-Schwerin
ganz entschieden aus. Mygind sagt: „Wenigstens richten unter solchen Verhältnissen epi-
demische Krankheiten, welche hauptsächlich die hohe Taubstummenzahl verursachen,
die grösste Verwüstung an." Auch die preussische Statistik liefert dafür ein Beispiel:
während ^Ostelbien" mit seinen bekannten socialen Verhältnissen ll-ö^oo Taubstumme
aufweist, hat „Westelbien" deren nur 80, also um SO^/o weniger.
Die Taubstummheit ist entweder angeboren oder erworben; tritt die Er-
taubung Yor dem vierten Lebensjahre ein, so verlieren die Kinder in der
Regel die schon theilweise gelernte Sprache wieder, während sie erhalten
bleibt bei „spätertaubten" Kindern. Eines besonderen Taubstummenunter-
richtes bedürfen aber die Spätertaubten ebenso sehr wie die Frühertaubten.
TAUBSTUMMENANSTALTEN, 735
lieber das Procentverhältnis der Taubgeborenen zu den Ertaubten
schwanken die Angaben der einzelnen Autoren ganz bedeutend, und zwar
weniger deshalb, weil je nach der Zeit und Gegend mehr oder weniger Ge-
hörorgane einzelnen Epidemien zum Opfer fallen, als vielmehr deshalb, weil
je nach seinen Vorurtheilen der eine die zweifelhaften Fälle zu der ersten,
der andere zu der zweiten Kategorie rechnete. Es ist deshalb nothwendig,
bei allen künftigen Erhebungen alle Fälle, die nicht ganz bestimmt in eine
der beiden Rubriken gehören, in eine dritte Rubrik „Unbestimmt" zu ver-
weisen, wie es Lemcke in seiner unser höchstes Vertrauen verdienenden Sta-
tistik Mecklenburgs gethan hat; er fand dort das Verhältnis: Taubgeborene
100, Ertaubte 122-5, Unbestimmte 15-2.
Die Vererbung spielt bei der Taubstummheit eine grosse Rolle, aber we-
niger die directe als die indirecte. Ferner sind von ganz bedeutendem Ein-
liuss auf die Häufigkeit der Taubstummheit: Blutverwandtschaft, Tuberkulose,
Syphilis und Alkoholismus der Erzeuger. Die Sterblichkeit der Taubstummen
an der Tuberculose ist denn auch — wie nach den Gesagten nicht anders zu
erwarten ist — eine aufiallend grosse. Ausser der erblichen Belastung mit
Tuberkulose tragen aber dazu noch bei die schlechten socialen Verhältnisse,
in denen die meisten Taubstummen leben, sowie der Umstand, dass die
Taubstummen im ganzen viel ^veniger sprechen als die Vollsinnigen und des-
halb ihre Lungen viel weniger oft und ausgiebig „ventiliren".
Nach einer von mir aus der ganzen mir naheliegenden Literatur zu-
sammengestellten Statistik wurde die „erworbene Taubstummheit" hervor-
gerufen durch folgende Krankheiten:
Gehirnkrankheiten im weitesten Sinne 40*1 ^oi Scharlach, Masern, Röteln
22" 6%, andere acute Infectionskrankheiten (wie Typhus, Pocken, Diphtherie,
Keuchhusten, Pneumonie u. a.), 12-77o, chronische Krankheiten (Rhachitis,
Skrophulose, Syphilis) 3-9%, Trauma (physisches und psychisches) 3-9 •'/o, eigent-
liche Ohrenkrankheiten 7*3 7o-
Die Taubheit ist nicht in allen Fällen eine totale; in der München er
Taubstummenanstalt z. B. fand Bezold einen Knaben, der einen langsam in
der Nähe des Ohres in Conversationssprache gesprochenen Satz nachspricht,
der aber in der Volksschule, die er zuerst besucht hatte, trotzdem seinen
Sprachrest verloren hatte.
Von 2669 ärztlich Tiiitersuchten Taubstummen sind totaltaub gefunden worden
47°/o, -während Bezold in der Münchener Taubstummenanstalt nur 19%, Urbantschitsch
in der Döblinger gar nur 4% fand. Wenn aber Bezold in seinem Urtheil nicht so sehr
vorsichtig wäre, hätte er nur 14% für totaltaub erklärt, denn nach seinen eigenen Worten
bestand bei den übrigen 5% „vielleicht ein nicht genauer zu localisirender Hörrest' "
Die Erkennung der Taubstummheit ist bei Kindern in der ersten Lebens-
zeit nur unter ganz besonders günstigen Verhältnissen möglich; hörende
Kinder reagiren auf einen Schall durch Herumblicken nach der Schallquelle,
während diese Reaction bei taubstummen fehlt, es kommt aber doch öfter
vor, dass sie auch bei hörenden Kindern fehlt, wie andererseits taubstumme
Kinder laut lachen und weinen und auch oft „plauschen".
Ferner kommt es auch bei hörenden Kindern nicht selten vor, dass sie
mit dem Sprechenlernen über die gewöhnliche Zeit hinaus warten lassen; später
aber lässt sich die Hörstummheit („motorische Aphasie"*, „psychische Taub-
heit") unschwer von der Taubstummheit unterscheiden. Hörstumme Kinder
leisten den an sie gerichteten, mündlichen Aufforderungen Folge, sie ver-,
stehen alles, sprechen aber nichts oder nur wenige Worte, wie Mama u. dgl.
Ferner ist von der eigentlichen Taubstummheit die idiotische Stumm-
heit zu unterscheiden, wenngleich es in praxi Fälle gibt, wo man zweifelhaft
sein kann, ob die eine oder die andere vorliegt.
736 TAUBSTUMMENANSTALTEN.
Im Allgemeinen sind die Taubstummen so begabt und talentirt, wie die
Vollsinnigen; nur bei den Kindern, die durch eine Gehirnkrankheit ertaubt
sind, ist oft auch die Begabung beeinträchtigt.
Die Taubstummen können deshalb in allen Fächern unterrichtet werden,
wie die Vollsinnigen (Musik u. dgl. ausgenommen), wenn es nur einmal ge-
lungen ist, ihnen das Verständnis für die ;, Wortsprache" beizubringen.
Der ununterrichtete Taubstumme hat ja auch eine Sprache: er äussert
seine Gefühle und bezeichnet die concreten Dinge mit Geberden, die sich
bei jeden Taubstummen instinktiv entwickeln. Diese „natürliche Ge-
berdensprache" wird von allen Taubstummen der ganzen Erde verstanden
und ist so die einzige wirklich internationale Weltsprache. Aus dieser ent-
steht die „erweiterte oder künstliche Geberdensprache", die auch
abstracte Begriffe durch conventionelle Geberden bezeichnet. Leicht vermag
der Taubstumme die „Schriftsprache" zu erlernen und auf Grund dieser
die jeden einzelnen Buchstaben durch eine bestimmte Fingerstellung bezeich-
nende „Fingersprache" (Daktylologie).
Wesentlich grössere Schwierigkeiten macht aber die Erlernung der
„Lautsprache".
Der erste, der diese Aufgabe in methodischer Weise löste, war der spanische Benedic-
tinermönch Pedro de Ponce (f 1584). Aber seine bahnbrechende Arbeit fand fast keine
Beachtung, und es ist nicht bekannt, inwieweit die späteren Arbeiten auf diesem Gebiete
auf seiner nach seinem Tode veröffentlichten Methode fussen.
Die erste Taubstummenanstalt, in welcher in der Lautsprache unterrichtet wurde,
ist Ton Braidwood 1760 in Edinburg gegründet worden In Deutschland war Samuel
Heinicke der erste, der 1754 einen taubstummen Knaben unterrichtete; er benutzte die
von dem schweizerischen Arzte Ammann in Holland erdachte Methode, die er aber selbst
systematisch vervollkommnete. 1777 errichtete er die erste deutsche Taubstummenanstalt in
Leipzig. Um dieselbe Zeit 1756 nahm sich Abbe de 1' Epee aus Mitleid zweier taubstummer
Mädchen an und gründete 1760 die erste französische Anstalt. Anfangs unterrichtete auch
er in der Lauisprache, es wurden ihm aber bald so viele Zöglinge zugeführt, dass er aus
Noth auf dieselbe verzichtete und sich auf die Geberden-, Schrift- und Fingersprache be-
schränkte.
Diese beiden Zeitgenossen sind die Begründer zweier sich feindlich gegenüberstehen-
der Schulen, der „deutschen" und der „französischen*.
Die „deutsche Methode" hat als obersten Zweck das Bestreben, den
Taubstummen womöglich so weit auszubilden wie den Vollsinnigen, also dass
er nicht nur im Stande sein soll, mit jedem anderen Menschen zu verkehren,
sondern auch sich jedem Berufe zuzuwenden, der nicht das Gehör zu wesent-
licher Bedingung hat. Der Hauptnachdruck wird deshalb auf die Fähigkeit,
fliessend sprechen und ebenso fliessend ablesen zu können, gelegt.
Indem man an das auch dem taubstummen Kinde zu Gebote stehende
Schreien anknüpft, entwickelt man durch unermüdliches Vormachen und
Nachmachenlassen, durch Fühlenlassen der Schwingungen von Kehlkopf,
Brust und Kopf durch Berichtigung der Zungenlage u. s. w. den Vocal a; von
diesem aus übt man anfänglich leichte, später schwierigere Consonanten-
verbindungen mit a, geht dann ebenso zu den anderen Vocalen über, lässt
die Silben zu Worten verbinden und trachtet vom allerersten Anfang an, mit
jedem Wort sofort auch einen Begriff zu verbinden. Man fängt deshalb bei
den nächstliegenden Dingen an, lässt sie das Kind befühlen, beriechen, be-
schmecken u. s. w., lässt sofort auch das Wort schreiben, um das Haften
desselben im Gehirn von den verschiedensten Seiten her zu stützen. Indem
man so eine immer grössere Reihe von Worten mit den dazugehörigen Be-
griffen dem Sprachschatz des Kindes einverleibt, legt man die Grundlage, auf
der die übrige Ausbildung aufgebaut werden kann.
Die „französische Methode" geht von der Erwägung aus, dass eine der-
artige Ausbildung in der Lautsprache die aufgewendete Zeit und Mühe nur
in ganz besonders günstigen Fällen lohne, verzichtet deshalb für diu grosse Masse
der taubstummen Kinder auf die Lautsprache und beschränkt sich darauf,
TAUBSTUMMENANSTALTEN. 737
denselben mit Hife der „Zeichensprache" (unter diesem Wort lassen sich die
oben genannten Sprachen zusammenfassen) den materiellen Inhalt der deutschen
Ausbildung zu vermitteln. Die Kehrseite der Münze ist aber die, dass der
so ausgebildete Taubstumme vom Verkehr mit allen denen, welche die Zeichen-
sprache nicht verstehen ausgeschlossen, beziehungsweise auf die Schriftsprache
angewiesen ist.
Diese schwere Benachtheiligung der Taubstummen wird auch in Frank-
reich erkannt, und es besteht eine starke Strömung dort, welche die — we-
nigstens theilweise — Einführung der Lautsprache in den Unterrichtsplan der
französischen Taubstummenschulen verlangt.
Aber auch bei uns macht sich gegenwärtig eine Gegenbewegung gegen
unsere reine Lautsprachmethode geltend, die — in der Hitze des Gefechts über
das Ziel hinausschiessend — die sofortige Umgestaltung unserer Methode in
eine „gemischte" verlangt. Sie sagt, die Lautsprache sei — abgesehen von
den „paar" mit Hörresten oder mit Spracherinnerung ausgestatteten Kindern —
für den Taubstummen etwas naturwidriges und der Zwang zu dieser Natur-
widrigkeit führe mit Nothwendigkeit zu Schülermisshandlung und müsse den
Taubstummen boshaft machen; ausserdem werde dadurch dem eigentlichen
Zwecke des Unterrichts, dem der Erziehung und der Vermittelung von wirk-
lichen Kenntnissen, unverantwortlich viel Zeit weggenommen. Das Haupt-
ärgernis ist dieser Bewegung das in Deutschland übliche — nicht ohne
Strafen durchzuführende — Verbot der Geberdensprache vom zweiten Schul-
jahr ab.
Von der anderen Seite wird dieses Verbot damit begründet, dass es nicht
möglich sei, dass die Kinder in der knappen Zeit die nothwendigen Fort-
schritte in der Lautsprache machten, wenn sie sich nicht fortwährend — auch
im Verkehr unter einander — darin übten, und das werde durch den Ge-
brauch der Geberdensprache verhindert. Es muss zugegeben werden, dass
die Lautsprache dem Totaltauben viel grössere Schwierigkeiten macht als
dem Partialtauben; derselbe hat auch meist eine äusserst übeltönende Stimme,
weil er sie nicht mit seinem Ohr controliren kann.
Es wurde deshalb ,der Vorschlag gemacht, die verschiedenen Kate-
gorien der Taubstummen auf verschiedene Weise zu unterrichten, wie es in
Dänemark schon längst der Fall ist.
Dort werden die taubstummen Kinder gleich von Anfang an in zwei
Gruppen getheilt:
A. Kinder mit sehr mangelhafter Intelligenz werden in Kopenhagen
(1.) in einer besonderen Anstalt acht Jahre lang in einer ihnen angepassten
Weise unterrichtet.
B. Die anderen kommen auf ein Jahr in die Vorbereitungsschule in
Fredericia (2).
Nach Ablauf dieses Jahres kommen
I. die Partialtauben nach Nyborg (3), wo sie sieben Jahre lang in der
Lautsprache unterrichtet werden.
IL Die Totaltauben werden wiederum getheilt:
ci) solche, die nur mit Mühe fähig sind die Lautsprache zu erlernen,
werden in Kopenhagen (4.) in einer besonderen Anstalt in der Zeichen-
sprache unterrichtet;
b) die anderen werden in Fredericia (5.) sieben Jahre lang in der
Lautsprache unterrichtet und zwar wiederum in zwei Parallele ursen {aa. die
intelligenteren, hb. die weniger intelligenten.)
Ich selbst halte die Erlernung der Lautsprache im Hinblick auf das
Fortkommen der Taubstummen für so wichtig, dass ich zwar die dänische
Trennung der verschiedenen Kategorien sehr empfehle, aber auf die Laut-
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. ^'
738 TAUBSTUMMENANSTALTEN.
spräche nur yerzichten möchte bei den schwachsinnigeD, der Idiotie nahen
Taubstummen {A).
Bei den schwach talentirten Totaltauben {Blla) dagegen möchte ich
statt der ausschliesslichen Daktylologie die „gemischte" Methode, in deren
Zeichen sich die deutschen und französischen Reformer die Hand reichen,
empfehlen. Die Zahl der schwachsinnigen und Schwachbegabten wird zusammen
auf 407o geschätzt.
Für die gutbegabten Totaltauben aber halte ich unsere gegenwärtige
Methode für die zweckentsprechendste. Ich hätte aber nichts dagegen, wenn
die Geberde in beschränktem Maasse zugelassen würde.
Was schliesslich die Partialtauben betrifft, so müssen wir hier wieder
etwas weiter ausholen. Die Partialtauben sind in den letzten Jahren Gegen-
stand zweier ganz bedeutender Forschungsarbeiten gewesen. Hatte man das
Procentverhältnis derselben früher auf 40% geschätzt und dieselben einfach
in Schall- (247o), Vocal- (11 7o) und Worthörende (ö^o) eingetheilt so fand
Bezold bei seiner sorgfältigen Untersuchung mit der von ihm zusammen-
gestellten continuirlichen Tonreihe in der Münchener Taubstummenanstalt
79'7 partialtaube Individuen.
Die partialtauben Gehörorgane konnte er in folgende sechs natürliche Gruppen ein-
theilen :
I. Inseln (von ^/^ Tönen bis 2^2 Octaven) 17 T^/o
11. Lücken (von ^/a Ton bis 31/2 Octaven) 12-7 „
in. Defect der oberen Hälfte der Tonscala 0 6»
IV. Defect am oberen und am unteren Ende der Scala ... 6-1 „
V. Grosser Defect unten (4^,- 7 Octaven) 11-4 „
VI. Kleiner Defect unten (V2— 4 Octaven) 209 „
Dabei konnie er ferner feststellen, dass auch ein vollständiger Ausfall des Schall-
leitungsapparates nicht hinreicht, um Taubstummheit zu erzeugen, dass aber andererseits
unbedingt nothwendig für das Verständnis der Sprache das Intactsein desjenigen Schnecken-
theiles ist, in dem die Perception der Sext b^ — g^i vor sich geht. Derjenige Theil des
Labyrinths, der für das „Hören" allein in Betracht kommt, ist die Schnecke, und das die
genannte Sext percipirende Stück der Acusticusausbreitung in der Schnecke spielt für das
Hören eine ähnlich bedeutungsvolle Rolle, wie die Fovea centralis für das Sehen. Ferner ist
noch beachtenswert, dass die Taubstummheit bei den Kindern der VI. Gruppe mehr im
Gehirn liegt als im Gehörorgan selbst.
Mit dieser Untersuchung Bezold's, die neben der Arbeit Urbantschitsch's
einen Markstein im Taubstummenwesen darstellt, ist in die Taubstummen-
statistik eine ganz neue Rubrik eingeführt worden, nämlich das „Tongehör"
für isolirte Töne. Verfolgen wir das Verhältnis desselben zu den anderen
Gehörqualitäten, so ergibt sich zunächst, dass neun Taubstumme mit Ton-
gehör kein Schallgehör besitzen, dass aber das umgekehrte Verhältnis
nicht vorkam.
Wortgehör zeigten 21*57o, ausser diesen Vocalgehör allein M'O^/o,
ausser diesen beiden Gruppen Schallgehör allein oS'O^o, während die Summe
aller Tonhörenden 79-7°/o beträgt. Wie man sieht, sind auch hiebei sämmt-
liche Zahlen wesentlich höher als bei allen früheren Autoren!
Koch etwas Neues hat Bezold gefunden: eine Keihe von Kindern, die
für Töne totaltaub waren, vermochten einzelne Consonanten (p, t, r und andere)
noch zu unterscheiden. Bezold nimmt mit Bestimmtheit an, dass dieses un-
eigentliche „Hören" mit den Bogengängen percipirt werde und unter Umständen
durch Uebung weiter ausgebildet werden könne. „Consonantengehör" zeigten
etwa 8ü7o seiner Untersuchten.
Jeglichen Gehöres bar zeigten sich von allen 79 Untersuchten nur 3
(= 3-87o).
Diese Zahl stimmt merkwürdigerweise fast genau mit der von
Urbantschitsch in der Döblinger Taubstummenanstalt gefundenen Anzahl
von solchen Kindern überein, die sich gegen seine Hörübungen ganz refractär
verhielten (47o)-
TAUBSTUMMENANSTALTEN. 739
Urbantschitscii hat seit 1888 eine grosse Aiizahl von Schwerhörigen
und Tauben jeglichen Alters mit „methodischen Hörübungen" behandelt und
ganz überraschende Erfolge damit erzielt, auch in Fällen, die vorher für
totaltaub erklärt und auf alle mögliche Weise ohne Erfolg behandelt worden
waren.
Er geht dabei so zu Werke, dass er der betreffenden Person einen Vocal laut und
gedehnt ins Ohr hineinspricht oder, besser gesagt, hineinsingt und das eine Zeit lang
wiederholt. Tritt noch keine Hörspur auf, so verstärkt er diesen Ton durch einen aus den
Hohlhänden geformten Trichter. Ist auch das ohne Erfolg, so lässt er einen der jeweiligen
Stimmlage entsprechenden Harmonikaton einige Minuten auf das Ohr einwirken. Dies
muss oft längere Zeit wiederholt werden, bis die erste Hörspur auftritt. — Ist man so
weit, so spricht man den Patienten Worte ins Ohr, die man ihm zuerst bekannt gibt, um
mit den Begriffen die Klangbilder der betreffenden Worte zu assoziiren. Hat man so eine
Reihe von Worten (am besten Benennungen naheliegender Dinge) geübt, so muss nunmehr
der Patient die Worte unterscheiden lernen. Macht er dabei einen Fehler, so empfiehlt es
sich, das richtige und das falsche W^ort zuerst in bekanntgegebener, dann in unbekannter
Reihenfolge in das Ohr zu sprechen, um die Unterscheidung zu üben. Auch soll man, um
die Sache nicht langweilig werden zu lassen, bald auch kleine Sätzchen, Fragen aus dem
Alltagsleben u. dgl. zurufen. Ist man einmal weiter fortgeschritten, so ist eine wichtige
Aufgabe die, ähnlich klingende Worte differenziren zu lassen, um dem Hören grössere
Sicherheit zu verleihen. Sehr wichtig ist ferner die Beachtung der Ermüdung, die sich oft
sehr bald einstellt und sich in einer Verschlechterung der Hörfähigkeit kundgibt; lieber
öfter als zu lang üben. — Ferner darf man das Ohr nicht „verschreien", d. h. man soll
nur eben so laut sprechen, als es gerade nöthig ist, um noch eine Perception zu erzielen
und soll allmählich immer leiser werden oder immer weiter vom Ohr sich entfernen. So-
bald der Patient seine eigene Stimme hört, muss er sich fleissig selbst üben, allenfalls mit
Zuhilfenahme eines Hörrohres oder einer Harmonika. Ehe dieser Punkt erreicht ist, dürfen
die üebungen nicht unterbrochen werden.
Hörübungen sind ja auch schon früher gemacht worden, aber kaum je
an Totaltauben. Diese hielt man allezeit für verloren. Wie sehr man sich
täuschte, geht schon daraus hervor, dass man jetzt nicht mehr 40^05 sondern
80°/o Partialtaube anzunehmen berechtigt ist und dass in Bezold's 79 Fällen
die Angaben- der Taubstummenlehrer in Betreff des Gehörs 14 mal richtig
und 8 mal falsch waren; 12 mal war ausserdem bei bestehendem Vocalgehör
nichts angegeben. So waren denn auch unter Urbantschitsch's mit positivem
Erfolg gekrönten Fällen viele, die man vorher für totaltaub gehalten hatte.
Von vornherein ausschliessen von den Hörübungen kann man niemand,
da wir — abgesehen von totaler Sequestration beider Schnecken — bisher
noch kein sicheres Erkennungszeichen haben, dass der Tonperceptionsapparat
rettungslos zerstört ist. Denn auch bei manchen von Bezold's Totaltauben
wäre vielleicht noch eine Hörspur zu entdecken, wenn die Intensität der Ton-
quelle eine stärkere wäre. Urbantschitsch hat die Beobachtung gemacht,
dass Stimmgabeltöne oftmals erst nach langer und oft wiederholter Zufuhr per-
cipirt werden.
Es muss bemerkt werden, dass Urbantschitsch selbst durchaus nicht
verkennt, dass seine Erfolge zum grossen Theil auf einer Uebung des
Gehirns beruhen, aber ein anderer Theil ist doch wohl auf Steigerung der
Hörschärfe selbst zurückzuführen. Und schliesslich ist es für den praktischen
W^ert der Hörübungen gleichgiltig, welches von beiden der Fall ist, wenn nur
überhaupt ein Erfolg eintritt.
Durch diese beiden Arbeiten ist nun die Sache der Partialtauben — und
dieselben sind viel zahlreicher, als man bisher annahm — in ein neues Stadium
gerückt worden, der Unterricht derselben muss nach dem übereinstimmenden
Urtheil der beiden Männer nunmehr erst recht auf der Basis der Lautsprache
aufgebaut werden. Welcher Art derselbe etwa sein wird, ist aus dem von
Lehfeldt entworfenen, in der Wiener klinischen Wochenschrift 1894, Kr. 19
bis 20 innerhalb eines Artikels von Urbantschitsch abgedruckten Unter-
richtsplan zu ersehen. Bezold wie Urbantschitsch fordern auf alle Fälle
dringend die Trennung und verschiedenartige Ausbildung der Totaltauben
und Partialtauben.
47*
740 TAUBSTUMMENANSTALTEN:
Eine solche Trennuüg wird nicht nur den Taub Stummenlehrern ihre
mühevolle Arbeit erleichtern, sondern auch den Kindern der verschiedenen
Kategorien selbst zum Vortheil gereichen.
Für die Taubstummen insgesammt ist aber zu verlangen die Ausdeh-
nung der Schulpflicht auf alle im Bildungsalter stehenden Kinder, die Ver-
längerung der Schulpflicht auf mindestens acht Jahre und die Anstellung ge-
nügend zahlreicher und ausreichend besoldeter Taubstummenlehrer (auf zehn
Schüler ein Lehrer).
Die Taubstummenanstalten theilen sich in Internate, gewöhnlich „Taub-
stummenanstalten" genannt, in denen die Zöglinge auch wohnen und ver-
pflegt werden, und in Externate („Taubstummenschulen"), welche die Kinder
nur während der Schulzeit vom Hause der Eltern oder Pfleger aus besuchen.
Die meisten Anstalten sind Internate.
Hartmann verlangte seinerzeit möglichste Umwandlung der bestehenden
Internate in Externate, da die Einwirkung des Familienlebens auf das Ge-
müth der Kinder von unersetzbarem Werte sei, und da es auch auf diese
Weise den Kindern möglich sei, sich die für das Leben nothwendige Sicher-
heit in der Beherrschung der Lautsprache zu verschaffen. Solange die Kinder
bei den Eltern sein können, stimme ich voll und ganz bei und bin deshalb
dafür, dass in allen grösseren Städten Externate eingerichtet werden. Ob
aber die Aufnahme in der nächsten besten Pflegefamilie vor dem Aufenthalt
in einem guten Internate einen wesentlichen Vorzug habe, ist mir fraglich.
Die Internate sollten, um nicht zu sehr des Familiencharakters beraubt
zu werden, nicht zu gross sein; 70 bis 80 Schüler bilden die oberste Grenze.
Für Externate ist, wie oben gesagt wurde, die grössere Stadt der geeig-
netste Ort; für Internate dagegen das Land. Denn zum Leben ausserhalb
der Schulzeit gehört die Möglichkeit, sich ungenirt tummeln zu können, ge-
hört ferner Gelegenheit zu Gartenarbeiten, gute Luft, Nähe des Waldes, Frei-
sein von beengender Nachbarschaft u. s. w.
Dass die Gebäude den Anforderungen der modernen Schulhygiene ent-
sprechend gebaut oder umgebaut werden sollen, braucht hier nicht weiter
erörtert zu werden.
Taubstummenanstalten sollten womöglich nicht der Privatwohlthätigkeit
überlassen, sondern vom Staat errichtet oder übernommen werden; auch sind
sie durchaus nicht die Orte, an denen der Staat knausern darf. Ich schäme
mich schreiben zu müssen, dass erst in wenigen deutschen Staaten die
Schulpflicht für Taubstumme und damit die staatliche Fürsorge für alle
bildungsaltrigen taubstummen Kinder besteht.
Da es von grösstem Werte ist, taube Gehörorgane nicht zu lange brach-
liegen zu lassen, so verdient die Einrichtung von Kindergärten für taub-
stumme Kinder energisch angebahnt zu werden. Die Kinder sollten möglichst
frühzeitig das Ablesen des Gesprochenen vom Gesicht lernen. Die Aerzte
sollten den Eltern von taubstummen Kindern den Kath geben, mit denselben
recht oft und viel zu sprechen, so lange noch ein, wenn auch noch so kleiner
Hörrest vorhanden ist.
Eegelmässiger und methodischer Turnunterricht sollte in jeder Taub-
stummenanstalt eingeführt sein; um die Einführung desselben hat sich
besonders Albert Gussmann in Berlin verdient gemacht, dessen Büchlein
„Das Turnen der Taubstummen" (Berlin 1880) vom preussischen Ministerium
empfohlen worden ist. Auch die Turnspiele verdienen die höchste Beachtung;
ebenso der Handfertigkeitsunterricht. Wenn es irgend jemand nöthig hat,
seinen linkischen Körper durch Turnen, Turnspiele und Handfertigkeitsunter-
richt gesund, elastisch und geschickt zu machen, so ist es der Taubstumme,
umsomehr als bei ihm eine bei den Vollsinnigen reichlich fliessende Quelle
TAUBSTUMMENANSTALTEN. : 741
von Lungengymnastik, das laute, ausgiebige Sprechen, mehr oder weniger ver-
stopft ist.
Die Forderung von Fortbildungsschulen und von stärkerer Förderung des
der Schule entwachsenen Taubstummen ist eine alte, al)er sehr berechtigte.
Da der Taubstumme viel weniger im Stande ist, den Kampf ums Dasein
siegreich durchzuführen und er deshalb viel häufiger in schlechten sozialen
Verhältnissen lebt, welche seine Morbidität und Mortalität erhöhen, so ist
das für uns Grund genug, ihm energischer als bisher unter die Arme zu
greifen.
Wenn einmal die Partialtauben in der mehr auf dem Gehör aufgebauten
Methode unterrichtet werden, wird sich erst recht ein Bedürfnis geltend
machen, dem bisher nur spärlich Rechnung getragen worden ist, nämlich das
nach regelmässiger ohrenärztlicher Behandlung der Anstaltszöglinge. Die
„Hausärzte" an Taubstummenanstalten verstehen nämlich häutig von der
Ohrenheilkunde nur so viel als der Durchschnitt der praktischen Aerzte, und
das ist zu wenig. Eine indicatio vitalis zur regelmässigen und sachverstän-
digen Behandlung bieten alle Otorrhöen dar und wie selten werden sie that-
sächlich behandelt! Aber durch eine Eiterung mit Schwellung, Secretansamm-
lung u. s. w. werden auch die Hörreste beeinträchtigt oder aufgehoben. Im
Interesse dieser Hörreste ist aber schon die Behandlung jedes Tubenkatarrhs
geboten. Und wie häufig findet man solche Affectionen in den Anstalten!
Deshalb kommt mir eine Taubstummenanstalt ohne ohrenärztlich gebildeten
Hausarzt vor, wie ein Dorf ohne Schmid.
Aber auch der Allgemeinheit der Aerzte winkt noch eine grosse Auf-
gabe. „Das Gebrechen der Taubstummheit," sagt Schmaltz, „muss weit mehr
als Krankheitsproduct im engeren Sinne aufgefasst werden, und zwar als
Resultat bekämpfbarer Krankheiten und verbesserbarer sozialer
Verhältnisse." Und Tröltsch sagt:
„Wollen' wir rechtmässig annehmen, dass unter den (jetzt) 50000 Taubstummen in
Deutschland nur 20000 ihr Leiden nicht mit auf die Welt brachten, so bleiben wir sicher
weit hinter der Wahrheit zurück, wenn wir behaupten, dass ^/g, also 4000 durch frühzeitige
und sachgemässe Behandlung nicht taubstumm, sondern höchstens schwerhörend geworden
wären, so dass dieselben gewöhnlichen Unterricht hätten benützen und eine annehmbare
Sprache behalten können."
Literatur: Hartmann: Taubstummheit und Taubstummenbildung, Stuttgart 1880.
Hedinger: Die Taubstummen und die Taubstummenanstalten nach seinen Unter-
suchungen in den Instituten des Königreichs Württemberg etc., Stuttgart 1882.
Schmaltz: Die Taubstummen im Königreich Sachsen, Leipzig 1884.
Lemcke : Die Taubstummheit im Grossherzogthum Mecklenburg-Schwerin, Leipzig 1892.
Mygind: Die angeborene Taubheit, Berlin 1890.
Mygind: Die Taubstummen in Dänemark, Zeitschrift für Ohrenheilk. V. XXIL 1892.
Urbantschitsch: üeber Hörübungen bei Taubstummheit, Wien 1895.
Bezold: Das Hörvermögen der Taubstummen, Wiesbaden 1896.
Nachtrag: Nach der Abfassung des Obigen kam ich erst in den Besitz von Bezold's
„Nachträgen zu seiner Arbeit über das Hörvermögen der Taubstummen" (Wiesbaden 1897).
Er hat 1896 von den 79 im Jahre 1893 untersuchten Taubstummen 27 nachuntersucht und
zwar mit einer verstärkten „continuirlichen Tonreihe". Unter den 54 Gehörorganen dieser
Kinder fand er 1893 25, 1896 aber nur 21 totaltaub; zwei 1893 vorhandene Hörstrecken
(Inseln) sind verschwunden, dagegen sind neu aufgetaucht 5, vollständig gleichgeblieben
ebenfalls 5 Hörstrecken. Von 80 Hörgrenzen fand er 34 nahezu oder vollständig gleich
wie das erstemal. In 21 Fällen fand er eine grössere Hörstrecke als 1893; dieselbe war
in 4 Fällen nach unten verschoben; in 2 von diesen 4 Fällen war sie grösser, in 2 kleiner
als 1893; in dem einzigen Falle von Verschiebung nach oben war sie ebenfalls kleiner.
Die Genauigkeit der Untersuchungsmethode ist also eine ziemlich grosse; doch ist
es mir zweifellos, dass bei abermaliger Steigerung der Intensität abermals zahlreichere und
grössere Hörstrecken gefunden würden, dass also auch jetzt noch nicht alle entdeckt
worden sind.
Die bemerkenswerte Zunahme der Grösse der gefundenen Hörstrecken ist aber nicht
allein auf die grössere Intensität der Schallquellen, sondern auch auf die einige Monate
vor der Nachprüfung in der Anstalt eingeführten Hörübungen zurückzuführen; diese haben
auch eine beträchtliche Zunahme der Fälle mit Sprachgehör bewirkt.
742 TODESARTEN, GEWALTSAME.
Es erübrigt nur noch darauf hinzuweisen, dass auf Bezold's Arbeit hin das bayri-
schen Ministerium verfügt hat, dass künftig alle Zöglinge der bayrischen Taubstummen-
anstalten einer eingehenden BEzoLD'schen Untersuchung unterworfen und dass die dabei
gefundenen Hör- und Sprachreste in besonderen Stunden gepflegt und weiter ausgebildet
werden sollen.
PFLEIDEEEE.
Todesarten, gewaltsame. Als gewaltsame Todesarten bezeichnet man
den Tod 1. durch Unglücksfälle, 2. durch Selbstmord und 3. durch beab-
sichtigte Tödtung von fremder Hand. Meist wird es Aufgabe des Gerichts-
arztes, durch die Untersuchung des Leichnams Licht in das gemeinhin solche
Todesfälle umhüllende Dunkel zu bringen. In einem Theile der Fälle unter-
liegt die Gewaltsamkeit des Todes von vornherein keinem Zweifel, und gar
nicht selten ist auch die besondere Art des gewaltsamen Todes ohne weiteres
aus den gesammten Umständen bei der Auffindung der Leiche ersichtlich.
Oft hinterlässt schon der tödtende Eingriff selbst an der unmittelbar von ihm
betroffenen Stelle unverkennbare Spuren; ebenso erzeugt häufig auch die
plötzliche ünterbrechuDg aller lebenswichtigen Körperfunctionen gewisse Ver-
änderungen, welche die Erkennung des wahren Sachverhaltes ermöglichen. In
zahlreichen anderen Fällen aber sind derartige Zeichen des gewaltsam er-
folgten Todes an der Leiche nur sehr geringgradig ausgeprägt oder auch gar
nicht erkennbar; häufig kann dann eine eingehende Erforschung und Würdi-
gung von scheinbar geringfügigen und nebensächlichen Punkten aus dem ge-
sammten Leichenbefunde, sowie auch aus den ganzen äusseren Umständen des
Falles die wertvollsten Anhaltspunkte für die Erkennung der Wahrheit er-
geben. Deshalb muss der Gerichtsarzt, wo immer er es mit der Thatsache
oder dem Verdachte eines gewaltsamen Todes zu thun bekommt, von Anfang
an mit weitem, freiem Blicke und mit gespannter, auch die scheinbar unbe-
deutendsten Nebenumstände wohl beachtender Aufmerksamkeit an die Lösung
seiner Aufgabe herantreten.
Unglücksfälle sind ihrer Natur nach zu verschieden, als dass man sie
als Ursachen gewaltsamen Todes zusammenfassend behandeln könnte. Das-
selbe gilt im Allgemeinen auch von den Fällen beabsichtigter Tödtung durch
fremde Hand. Anders dagegen liegt es hinsichtlich des Selbstmordes, sowie
rücksichtlich einer besonderen Form absichtlicher Tödtung, der gesetzlichen
Hinrichtung. Wir schicken deshalb der Besprechung der einzelnen Formen
gewaltsamen Todes eine zusammenfassende Darstellung der auf Selbstmord
und Hinrichtung bezüglichen allgemeinen Gesichtspunkte voraus.
Der Selbstmord. Seit langer Zeit ist es aufgefallen, dass alle den Selbst-
mord betreffenden Notizen von Jahr zu Jahr eine grosse Gleichmässigkeit
erkennen lassen. Eine ganze Anzahl gründlicher Forscher hat sich deshalb
bemüht, den Beziehungen des Selbstmordes zu bestimmten anderen Factoren
nachzuspüren. Beim Studium der von ihnen aufgestellten statistischen Tabellen
erkennen wir die Abhängigkeit der Selbstmordfälle von einer Anzahl von Ein-
flüssen, die theils allein in der Person des Selbstmörders, theils zugleich in
äusseren Verhältnissen seiner Umgebung begründet sind. Den nachfolgenden
Ausführungen liegen hauptsächlich die Tabellen des Italieners H. Morselli,*)
sowie Beobachtungen von Alexander von Oettingen '"*) zugrunde.
Die in der Person des Selbstmörders liegenden Factoren betreffen dessen
Geschlecht und Alter, seine Familienstellung, Beruf und Bildungsstand und
Religion, resp. Confessionsangehörigkeit.
*) H. Morselli. Der Selbstmord. Ein Capitel aus der Moralstatistik. Brockhaus,
Leipzig 1881.
**) Alexander von Oettingen. Ueber acuten und chronischen Selbstmord. Dorpat
und FeUin, 1881.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 743
Was das Geschlecht angeht, so wird die weit überwiegende Zahl aller
Selbstmorde von Männern verübt, derart, dass auf drei bis vier Männer erst
je ein Weib kommt. Die Erklärung hiefür sucht Eduard von Hofmann'^0
wohl ganz richtig in zwei Gründen: einmal in der „mehr secundären Rolle,
welche die Frau im Kampfe ums Dasein spielt", infolge deren weit seltener
zur Verzweiflung führende Bedrängnisse auf sie einstürmen; und zweitens
darin, dass es ihr, auch wenn dieses der Fall ist, doch meist entsprechend der
grösseren Sanftmuth und Duldsamkeit des weiblichen Charakters an dem
Muthe zur Ausführung einer so gewaltsamen Handlung zu gebrechen pflegt.
Ein Einfluss des Lebensalters macht sich in der Statistik dahin
geltend, dass die Zahl der Selbstmorde mit zunehmendem Lebensalter gleich-
massig wächst. Im Kindesalter gehört ein Selbstmord naturgemäss zu den
Seltenheiten; auffallenderweise aber ist in neuester Zeit auch für die jugend-
lichsten Altersclassen eine erschreckende Zunahme zu verzeichnen. Der
jüngste von allen bekannt gewordenen Selbstmördern dürfte wohl jenes fünf-
jährige Kind sein, von dem Durand-Fardel*"") in seiner Abhandlung „Ueber
den Selbstmord bei Kindern" berichtet. Fassen wir die absolute Zahl der
Selbstmorde in den einzelnen Altersstufen ins Auge, so sehen wir, dass das
Maximum in das Alter der sogenannten besten Jahre, zwischen das 40. und
50. Lebensjahr fällt, d. h. in die Zeit, in welcher der Kampf um die Existenz
der eigenen Person und um die Erhaltung der Familie am schwersten wird,
und wo zudem der Glanz idealer Zukunftsbilder seinen Reiz zu verlieren
pflegt. Setzen wir dagegen die Zahl der vorkommenden Selbstmorde in Ver-
gleich mit der Zahl der in der bestimmten Altersclasse noch lebenden Indi-
viduen, so finden wir, dass die relative Zahl der Selbstmorde mit dem Vor-
rücken des Alters bis zum 80. Lebensjahre und noch höher hinauf ansteigt.
Einen unverkennbaren Einfluss auf die Neigung zum Selbstmord übt die
Familienstellung des Individuums (Civilstand) aus. Am kleinsten ist die
Zahl der Selbstmörder unter den Verheirateten, grösser unter den Ledigen
und Verwitweten und am höchsten unter den Geschiedenen.
Zweifellos muss aucji der specielle Beruf und Bildungsstand des Ein-
zelnen von Gewicht sein. Im Allgemeinen gilt die Erfahrung, dass in den
verschiedenen Volkskreisen der Procentsatz der Selbstmorde um so geringer
ist, je niedriger die Stufe der Bildung; die vorwiegend mit geistiger An-
strengung arbeitenden Classen stellen ein weit grösseres Contingent zum
Heere der Selbstmörder als Handwerker und Lastarbeiter. Im übrigen sind
über den Antheil des Berufes an der Selbstmordfrequenz die Angaben der
Statistiker wenig übereinstimmend; und gerade bei Beurtheilung dieser Frage
ist grosse Umsicht geboten. Wenn wir z. B. finden, dass Maler, Dichter,
Journalisten, Schauspieler u. dgl. auffallend häufig durch Selbstmord enden,
so dürfen wir daraus nicht ohne weiteres schliessen, dass diese Berufszweige
für den Selbstmord prädisponiren; vielmehr ist zu bedenken, ob nicht etwa
dieselbe krankhafte Veranlagung des Individuums, welche zuletzt zum Selbst-
mord geführt, bereits bei der Wahl des Berufes den Ausschlag gegeben hat.
Von Belang ist fernerhin die Religion, resp. die Confessionsangehö-
rigkeit; je ständiger und regelmässiger ein Individuum von religiösen Fac-
toren beeinflusst wird, um so sicherer ist es im Allgemeinen vor der Gefahr
des Selbstmordes; durchgehends ist daher unter allen Selbstmördern z. B. die
Zahl der Protestanten, die sich bekanntlich dem kirchlichen Einflüsse sehr
leicht entziehen können, weit grösser, als die der Katholiken.
*) E. V. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. VL Aufl. Seite 383. Wien
und Leipzig, Urban und Schwarzenberg, 1893.
**) Durand-Fardel. Ann. med. psych. Jan vier 1855.
744 TODESARTEN, GEWALTSAME.
Ausser diesen persönlichen Momenten wirken eine Reihe mehr allge-
meiner Factoren auf die Selbstmordfrequenz ein. Dahin gehört in erster Linie
die allgemeine Culturstufe. Was wir soeben im Kleinen hinsichtlich
der verschiedenen Kreise eines Volkes feststellen konnten, das gilt gleicher-
weise von den verschieden hoch civilisirten Völkern im Grossen: je natur-
zuständlicher ein Stamm geblieben, umso geringer ist erfahrungsgemäss die
Zahl der in ihm vorkommenden Selbstmorde. Mit dem P'ortschritte der Civi-
lisation steigern sich die äusseren wie die inneren Lebensansprüche, und er-
wachsen, wo diesen nicht voll genügt werden kann, Unzufriedenheit und
Mangel an Lebensfreudigkeit. Dazu kommt, dass die Mühen des bei höherer
Cultur immer schwieriger werdenden Existenzkampfes manche von Hause aus
schwache Natur schnell ermüdet und endlich so gänzlich erschöpft, dass sie
die Waffen streckt.
Einen wie bedeutenden Einfluss auf die Selbstmordzahl das Schwerer-
werden des Kampfes ums Dasein geltend macht, das zeigt sich auch in der
unverkennbaren Abhängigkeit der Selbstmordziff'er von der Bevölkerungs-
dichtigkeit. In Europa fällt die höchste Zahl von Selbstmorden auf je
eine Million Menschen zugleich mit der grössten Bevölkerungsdichtigkeit in
das Königreich Sachsen, und eine kartographische Darstellung der Selbst-
mordfrequenz in unserem Erdtheile würde sich mit der Karte der Bevölke-
rungsdichtigkeit auch sonst im Wesentlichen decken.
Ebenso wie in der örtlichen, tritt auch in der zeitlichen Verthei-
lung der Selbstmorde eine auffallende Regelmässigkeit hervor, die sich zu-
nächst hinsichtlich der Lage der einzelnen Fälle im Jahre geltend macht.
Beständig steigt die Zahl der Selbstmorde vom Anfange des Jahres an, bis
sie im Mai und Juni ihren Höhepunkt erreicht. Nachher sinkt die Ziffer
wiederum in gleichem Maasse bis zum Ende des Jahres, an welchem sie meist
ihren niedrigsten Stand erreicht. Es erscheint zunächst überraschend, dass
die meisten Selbstmorde gerade in der schönsten Jahreszeit verübt werden,
während es hell und sonnig ist; man sucht dies damit zu erklären, dass die
klimatischen Verhältnisse, Thermometer- und Barometerstand zu dieser Zeit
besonders deprimirend auf nervöse und widerstandsschwache Naturen ein-
wirken müssen; das scheint wohl möglich, und in ähnlicher Weise ist die
Thatsache, dass viel mehr Selbstmorde am Tage als während der Nacht ver-
übt werden, wohl damit zu begründen, dass der Tag mehr Erregungen des
Nervensystems mit sich bringt als die Nacht. Ein regelmässiges Verhalten
ergeben die Tabellen auch hinsichtlich der Vertheilung der einzelnen Fälle
auf die Wochentage. Am geringsten betheiligt ist durchgehends der Sonn-
abend, am stärksten bevorzugt von den Weibern der Sonntag, von den Männern
der Montag, v. Oettingen führt dies darauf zurück, dass einestheils am
Sonnabend die Männer im Arbeiterstande die Wochenlöhnung ausgezahlt er-
halten, während die Frauen wegen der gehäuften häuslichen Beschäftigung
nicht Zeit zu trüben Grübeleien finden; am arbeitslosen Sonntag dagegen
empfindet die Frau ihr Elend doppelt drückend, und am Montag erliegt der
Mann leichter unter dem Einflüsse des physischen und moralischen Katzen-
jammers.
Die eigentlichen Beweggründe zum Selbstmorde werden naturgemäss
nur in einem Bruchtheile der Fälle der statistischen Aufzeichnung zugängig.
Aber auch in diesem Punkte herrscht eine gewisse Gleichmässigkeit, welche
die Entnahme einiger bestimmter Regeln gestattet. In einer nach der Häu-
figkeit der einzelnen Motive geordneten Reihe stehen an erster Stelle die
Geisteskrankheiten, und zwar in gleicher Weise bei Männern wie bei
Frauen. Auf notorische geistige Störungen wird fast der dritte Theil aller
Selbstraordfälle zurückgeführt, und es ist schwer zu sagen, ob nicht eine
grössere Anzahl auch aus den übrigen zwei Dritteln im Grunde aus psychischen
TODESARTEN, GEWALTSAME. 745
Vorgäüg'en ausserhalb der Breite des Gesunden hervorgehen. Jedenfalls aber
müssen wir der Anschauung entgegentreten, jeder Selbstmörder beweise eben
durch seine Flucht aus dem Leben unzweifelhaft das Bestehen einer Geistes-
krankheit. In vielen Fällen ist die Entscheidung, ob eine Selbstentleibung im
Irrsinne oder bei voll erhaltener geistiger Zurechnungsfähigkeit vollführt ist,
überaus schwierig. Bei den weittragenden praktischen Folgen, welche die Be-
antwortung dieser Frage unter Umständen nach sich zieht, z. B. für Auszah-
lung von Pensionen oder Lebensversicherungen, scheint es auch nicht un-
möglich, dass gelegentlich ein geistesgesunder Selbstmörder seine That mit
Umständen ausschmückt, die ihn in das Licht eines Irrsinnigen setzen sollen.
Hinsichtlich der übrigen Motive zum Selbstmorde ist zwischen dem
männlichen und weiblichen Geschlechte zu unterscheiden. Bei den Männern
spielt der Alkoholismus die erste Rolle, demnächst die Furcht vor den Con-
sequenzen begangener widergesetzlicher Handlungen, berufliche Misserfolge,
tinancielle Verluste und körperliche Leiden, unter denen namentlich oft die
Syphilis verhängnisvoll wird. Bei den Frauen handelt es sich oft um un-
glückliche Liebe und Eifersucht oder andere Leidenschaften, und sehr häutig
gibt ein ausserehelicher Geschlechtsverkehr mit allen seinen Consequenzen die
Veranlassung zum Suicidium weiblicher Personen.
Mannigfach sind die Methoden der Ausführung. Die Wahl der
Todesart wird naturgemäss zumeist in erster Linie von den beiden Gesichts-
punkten geleitet, dass die That erstens möglichst leicht und ohne besondere
Vorbereitungen ausführbar sei, und zweitens möglichst schnell, sicher und
schmerzlos den Tod herbeiführe.
Entschiedenen Einfluss auf die Wahl des Mittels zum Tode übt erklärlicherweise die
gewohnte Beschäftigung des Lebensmüden aus: der Officier oder Forstbeamte wird sich
selten anders als durch Erschiessen, der Apotheker oder Chemiker sich meistens durch
Gift entleiben, während der Seemann den Tod in den Wellen sucht. — Bei weitem am
häufigsten ist im Ganzen der Selbstmord durch Erhängen, der mit Recht für den wenigst
qualvollen angesehen wird, und nach diesem der durch Ertränken, das entschieden bevor-
zugte Selbstmordmittel der Weiber. In dritter Linie folgt die Vergiftung, namentlich oft
angewandt in grossen Städten, wo die Beschaffung von Gift verhältnismässig leicht ist, und
in vierter das Erschiessen. Unter den Selbstmordarten der Städter hat auch der Sturz
aus den Fenstern hochgelegener Stockwerke seine Stelle. Seltener ist die Selbsttödtung
durch Oeffnen der Pulsadern oder durch Halsabschneiden, durch Sich-erstechen mit Messern
oder degenartigen Waffen, durch Sich - überfahren - lassen von Eisenbahnzügen, durch ab-
sichtliche Einathmung von Leuchtgas oder Kohlendunst u. s. w. Im Debrigen kann man
sich wohl kaum eine Selbstmordart ausdenken, die nicht gelegentlich schon zur Anwen-
dung gekommen wäre. Manche ungewöhnlichere ergibt sich dadurch, dass dem Lebens-
müden die Mittel dazu mühelos zu Gebote stehen; dahin gehört z. B. der Sprengarbeiter
im Bergwerke, der sich durch eine Dynamitpatrone in die Luft sprengt, der Metallgiesser,
der in den Kessel mit glühend-flüssigem Erze, der Brauer, der in den siedenden Bier-
bottich springt. Geisteskranke verfallen oft auf die wunderlichsten Methoden zur Selbst-
tödtung und verwenden bisweilen erstaunlichen Scharfsinn auf deren Ausklügelung. Es
würde ins Unendliche führen, wollten wir hier alle beobachteten Methoden aufzählen. —
Manche Selbstmörder wählen wohl meist, um doppelt sicher zu gehen, eine Combination
mehrerer Tödtungsarteo. So nehmen manche, bevor sie sich erschiessen, erhängen oder
ertränken, Gift; andere erschiessen sich am oder im Wasser, oder mit einer um den Hals
gelegten und oberhalb befestigten Schlinge, so dass sie ertrinken oder sich erhängen müssen,
wenn sie infolge der Schussverletzung zu Boden sinken.
Als Ort für die Ausführung suchen die meisten Selbstmörder irgend
einen einsamen, abgelegenen Platz auf, aus dessen Wahl sehr häufig das Be-
streben erkenntlich wird, den Leichnam für immer oder doch auf möglichst
lange Zeit der Entdeckung zu entziehen. Zuweilen aber begeht der Lebens-
müde den Selbstmord, geleitet von der Lust am Ungewöhnlichen oder von
der Sucht, Aufsehen zu erregen, an einem möglichst menschenbelebten Orte,
auf offenem Markte, im Theater, ja mitten im Ballsaal oder auch während
des Gottesdienstes in der Kirche. In einer Reihe von Fällen spricht sogar
die alles beherrschende Mode mit, indem bisweilen der in bestimmter Weise
746 TODESARTEN, GEWALTSAME.
an einem bestimmten Orte vollführte Selbstmord eines Menschen von Ansehen
und Autorität eine ganze Kette von Nachahmungen nach sich zieht.
Sehr oft ist der Selbstmörder bestrebt, seine That derart zu verschleiern,
dass der Anschein einer zufälligen Verunglückung oder gar einer Ermordung
durch fremde Hand entstehe. Der Grund liegt bald nur in der Scheu vor
dem Odium des Selbstmordes, bald auch in dem Bestreben, die Familie vor
materiellem Schaden zu bewahren, wenn die Auszahlung von Pensionen oder
Lebensversicherungsgeldern nach Selbstmord verweigert wird. Die gleichen
Motive veranlassen öfter auch die überlebenden Angehörigen, die Thatsache
des Selbstmordes zu verheimlichen, auch wenn sie ihnen ausser allem Zweifel
steht; ebenso bemüht sich in Krankenhäusern und Irrenanstalten bisweilen
das Personal, welches die gebotene Sorgfalt bei der Bewachung ausseracht
gelassen hat, einen vorgefallenen Selbstmord als natürlichen Tod hinzustellen.
Aber auch der entgegengesetzte Fall ist nicht ganz selten, dass ein Selbst-
mord vorgetäuscht werden soll, wo er thatsächlich nicht vorliegt; namentlich
haben öfters Mörder mit grossem Raffinement den Anschein zu erwecken
gesucht, ihr Opfer habe sich selbst umgebracht.
Gemeinsamer Selbstmord mehrerer Personen ist nicht häufig; zumeist handelt es
sich dabei um Doppelselbstmord von Liebespaaren, der sich bisweilen bei Eheleuten, die
in die äusserste Noth gerathen sind, noch mit der Ermordung eines oder mehrerer Kinder
verknüpft. Recht selten ist der gemeinsame Selbstmord von zwei Personen gleichen Ge-
schlechtes, die dann übrigens meist Frauen sind; die' gemeinsame Selbsttödtung zweier
Männer ist nur in ganz vereinzelten Fällen beobachtet worden. — Bei allen derartigen
Ereignissen kann es wichtig und unter Umständen äusserst schwierig sein, festzustellen,
ob wirklich ein mehrfacher Selbstmord vorliegt, oder ob eine der beiden Personen erst die
andere und dann sich selbst getödtet habe, resp. welche von beiden dabei die handelnde
Person gewesen sei; auch die Frage, bei welcher von beiden der Tod zuerst eingetreten sei,
kann unter Umständen von Wichtigkeit sein.
So hat das Capitel vom Selbstmorde für den Gerichtsarzt die grösste
Bedeutung. Mancher Hinweis auf wertvolle Einzelnheiten wird sich noch bei
der ferneren Besprechung der einzelnen gewaltsamen Todesarten ergeben.
Die Hinrichtung, Ueber die Todesstrafe und deren Vollstreckung haben
sich die Anschauungen seit dem Ende des 18. Jahrhunderts wesentlich ge-
ändert. Früher bezweckte man mit der Vollziehung des Todesurtheiles nicht
blos die Sühnung der begangenen Strafthat an der Person des Schuldigen
sondern auch — und zwar ganz besonders — einen möglichst tiefen Ein-
druck auf das Volk im Sinne der Abschreckungstheorie. Deshalb wurden
die Hinrichtungen allgemein öffentlich und unter Entfaltung eines gewissen
äusseren Pompes vollzogen und oft mit geradezu raffinirt ersonnenen Qualen
für den Delinquenten verknüpft. Die heutige Strafrechtstheorie betont an der
Todesstrafe vorwiegend das Moment der Sühne für die begangene Rechts-
verletzung und bevorzugt deshalb, zugleich entsprechend der gehobenen Hu-
manität, die am schnellsten und schmerzlosesten das Leben vernichtende
Vollstreckung. Die allgemeine Erfahrung, dass die Haltung des schaulustigen
Publikums bei Hinrichtungen dem Ernste der Handlung durchgehends nicht
entspricht, ja dass die Oeffentlichkeit des unter allen Umständen rohen Actes
geradezu entsittlichend wirkt und zudem vielfach psychisch hypersensible
Naturen gesundheitlich gefährdet, hat dahin geführt, dass heutzutage in
Deutschland und Oesterreich-Ungarn, sowie in vielen anderen Ländern die
Hinrichtungen „intramuran", d. h. in einem abgeschlossenen Räume, meist
dem Gefängnishofe, vor einem beschränkten Kreise von Zeugen vollzogen
werden. Sache des Gerichtsarztes ist es, festzustellen und dem Gesetzgeber
klar zu legen, welche Hinrichtungsmethode als die rathsamste anzusehen ist.
Deshalb, und weil in manchen Ländern, z. B. in Oesterreich, *) die Gegen-
wart des Gerichtsarztes bei dem Acte vom Gesetze ausdrücklich gefordert
") Oesterr. Strafprocessordnung von 1873, § 404.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 747
wird, erscheint eine Besprechung aller die gesetzliche Hinrichtung betreffen-
den Gesichtspunkte an dieser Stelle erforderlich.
Ueber die Frage, welcher technischen Methode zur Vollstreckung des
Todesurtheiles der Vorzug zu geben ist, sind die Ansichten noch nicht all-
gemein geeinigt. Für ihre Beurtheilung ist in erster Linie der Gesichts-
punkt maassgebend; dass der Tod des Verurtheilten möglichst sicher, schnell
und schmerzlos herbeizuführen, in zweiter, dass soviel wie möglich das humane
und ästhetische Empfinden der Zeugen zu schonen ist. In Betracht kommen
heutzutage hauptsächlich drei Methoden: 1. Das Erschiessen, 2. die Strangu-
lation, 3. die Enthauptung.
Das Erschiessen findet nur seitens der Militärgerichtsbarkeit Anwen-
dung, in Deutschland ausschliesslich, in Oesterreich neben der Hinrichtung
durch den Strang, welche als entehrend an „gemeinen" Verbrechern aus dem
Soldatenstande vollzogen wird. Das Erschiessen kann, wenn sofort Gehirn
oder Herz durchbohrt werden, allen genannten Anforderungen prompt ent-
sprechen; doch muss zuverlässig für die sichere Vermeidung peinlicher Miss-
erfolge durch Fehlschüsse oder durch schmerzhafte, nicht sofort tödtliche
Verwundungen gesorgt sein. Deshalb bestimmen die Militär-Strafgesetzbücher,
dass die Hinrichtung durch gleichzeitiges Abgeben einer ganzen Anzahl von
Schüssen auf Kopf und Brust aus geringer Entfernung zu vollziehen ist.
Die Hinrichtung durch Strangulation, d. h. durch Erstickung mittels
Verschliessung der Athemwege durch Compression des Halses ist in mehreren
Ländern noch heute üblich. Wir unterscheiden drei verschiedene Formen
der Strangulation: Erwürgen, Erdrosseln, Erhängen. Der äusserst rohe und
quälerische Modus des Erwürgens, d. h. der Erstickung des Opfers durch
Zusammenpressen des Halses ohne weiteres Hilfswerkzeug, allein mit den
Händen, hat in der geordneten Justiz wohl überhaupt nur selten eine Rolle
gespielt; zur Zeit jedenfalls kommt er nirgends mehr in Betracht. Dagegen
ist das Erdrosseln noch heute im Oriente üblich, wobei der Scharfrichter
mit den Händen, eventuell mit Hilfe eines Knebels, einen um den Hals ge-
legten Strang zusammenzieht.
Eine besondere Erdrosselung wird unter dem Namen der Garrottirung noch heute
in Spanien vollzogen, wobei ein an einem Baumstamme oder Pfahl angebrachtes Hals-
eisen, das mittels Schraubenzuges dem Stamme genähert wird, die Luftwege zudrückt und
Hals und Wirbelsäule zerquetscht.
In der Mehrzahl der europäischen Länder kommt die Strangulation nur
noch in Form des „Erhängens" zur Anwendung; hier wird die um den Hals
gelegte Schlinge durch das Gewicht des der [Schwerkraft überlassenen Körpers
zugezogen. Hinsichtlich der dabei sich abspielenden besonderen Vorgänge
sei auf das Capitel „Erhängen" verwiesen. Es steht zweifellos fest, dass sich
gleichzeitig mit dem festen Umschnürtwerden des Halses durch die Schlinge
vollständige Bewusstlosigkeit einstellt.
Aus diesem Grunde sind alle besonderen Kunstgriffe überflüssig, die von manchen
Henkern angewandt werden, um den Eintritt des Todes zu beschleunigen; wie das An-
bringen besonderer Knoten in dem Strange, die den Kehlkopf zudrücken sollen, oder das
Hinwegziehen der Leiter oder des Brettes, darauf der Hinzurichtende steht, um ihn aus
einiger Höhe herab in die Schlinge fallen zu lassen, damit der Zahnfortsatz des zweiten
Halswirbels abbreche und das verlängerte Mark mit dem Athmungscentrum zerquetsche.
Als zweckmässig sind nur diejenigen Maassregeln des Henkers anzuerkennen, die das
ästhetisch Anstössige des Erhängungsactes zu mildern suchen, wie das Festhalten der
Extremitäten mittels Binden, um die Zuckungen des Todeskampfes zu beschränken und
das Zudecken des Gesichtes mit der Hand, wobei am besten gleichzeitig der Unterkiefer
fest gegen die Oberzähne gepresst wird, um das Hervorquellen der blauwerdenden Zunge,
sowie das Ausfliessen von Speichel aus dem Munde zu verhindern.
Aber auch bei Beobachtung dieser Maassregeln macht eine Hinrichtung
durch den Strang immer einen ganz besonders widerwärtigen Eindruck,
worauf es wohl auch zurückzuführen ist, dass diese Vollstreckungsart all-
gemein für besonders entehrend angesehen wurde und noch wird. Die Gegen-
748 TODESARTEN, GEWALTSAMK
wart eines Arztes ist bei derselben durchaus erforderlich, damit der Gehängte
nicht vor dem endgiltigen Erlöschen des Lebens vom Strange entfernt werde;
denn gar nicht selten ist ein solcher in nur scheintodtem Zustande vom Galgen
genommen worden und zum Entsetzen der Versammelten und zu nicht geringer
Verlegenheit des Gerichtshofes ins Leben zurückgekehrt. Erfahrungsgemäss
sollte der Körper ausnahmslos wenigstens 30 Minuten am Strange bleiben.
Die prompt vollzogene Enthauptung führt naturgemäss sehr schnell und
zuverlässig den Tod herbei. Dennoch sind auch gegen sie mehrfach Stimmen
laut geworden mit der Behauptung, dass der Geköpfte noch mehrere Minuten
lang in dem abgetrennten Haupte sowohl, wie auch in dem kopflosen Rumpfe
grausame Schmerzen erleiden müsse. Diese Meinung beruht auf der aus-
nahmslos gemachten Beobachtung mehr oder minder lebhafter Bewegungen
an Kopf und Rumpf des Enthaupteten, die allerdings dem Laien leicht den
überaus peinlichen Eindruck erwecken können, als seien sie bewusst und ge-
wollt. Die einwandsfrei feststehende Thatsache jedoch, dass momentan mit
der Aufhebung der Blutzufuhr zum Gehirne auch das Bewusstsein schwindet,
berechtigt zweifellos zu der Annahme, dasf; eine bewusste Schmerzempfindung
weder in dem abgetrennten Haupte, noch auch in dem kopflosen Rumpfe
vorhanden sein kann. Vielmehr handelt es sich hier lediglich um Reflex-
bew^egungen, die von Willen und Bewusstsein völlig unabhängig sind. Be-
kanntlich treten ganz analoge Bewegungserscheinungen auch während des
Verblutungstodes der Schlachtthiere auf, wobei es ganz gleichgiltig ist, ob
das Thier zuvor durch Betäubung der bewussten Schmerzempfindung beraubt
worden war oder nicht. Demnach sind wir berechtigt, anzunehmen, dass die
schnell und geschickt vollzogene Enthauptung dem Opfer einen körperlichen
Schmerz nicht bereite. Von grosser Wichtigkeit aber ist die Art der Aus-
führung. Entschieden zu verwerfen ist der ehemals vielfach und vereinzelt
noch in neuerer Zeit angewandte Modus, dem auf einem Stuhle sitzenden
Verurtheilten das Haupt mit einem aus der freien Hand des Scharfrichters
geführten horizontalen Schwertstreich abzuschlagen, da hierbei — wie häufig
geschehen — das Schwert statt des Halses den Kopf oder die Schulter
trefi'en und dem Unglücklichen schwere schmerzhafte Wunden beibringen kann,
bevor der tödtliche Hieb ;, sitzt". Das gleiche Missgeschick ist bei der zur
Zeit im Königreich Preussen noch gesetzlich vorgeschriebenen Methode mög-
lich, bei welcher der auf einen Block geneigte Kopf des knieenden oder halb
liegenden Verbrechers vom Nachrichter gleichfalls freihändig mit dem Beile
vom Rumpfe getrennt wird. Sicher ausgeschlossen werden derartige häss-
liche Möglichkeiten allein durch Anwendung eines exact arbeitenden, aus
reichlicher Höhe herabstürzenden Fallbeiles, unter dem der Delinquent in
sicherer Lage festgeschnürt wird.
Durch geschickt getroffene Anordnungen kann hierbei auch der wider-
wärtige Eindruck der Hinrichtung auf die Zeugen auf das mögliche Mindest-
maass beschränkt werden; der abgetrennte Kopf darf nicht zu Boden fallen,
sondern muss auf dem Blocke liegen bleiben; er sowohl wie auch der Körper
sollte an dem Blocke derart festgeschnürt sein, dass die Zuckungen während
der Verblutung dem Zuschauer kaum sichtbar werden, was um so leichter zu
erreichen ist, wenn der Block selbst den Körper dem Blicke verdeckt. Unter
Beobachtung dieser Maassregeln scheint uns die Hinrichtung durch das Fall-
beil (Guillotine) die beste von allen Methoden zur Vollstreckung des Todes-
urtheils zu sein, sowohl im Vergleich mit allen älteren Verfahren, wie auch
gegenüber manchen neueren Vorschlägen, deren eine ganze Reihe gemacht
worden sind, in dem Bestreben, den Tod noch schneller, sicherer und schmerz-
loser herbeizuführen.
Nur der Vollständigkeit wegen sei es deshalb erwähnt, dass man gerathen hat, den
Verurtheilten zu Tode zu chloroformiren, in irrespirablen Gasen zu ersticken oder durch
schnell wirkende Gifte, namentlich mittels Cyankalium oder Blausäure zu tödten.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 749"
In den Vereinigten Staaten von Nordamerika hat man in neuester Zeit mehrfach
Hinrichtungen durch Einwirkenlassen eines sehr starken elektrischen
Stromes vorgenommen; es scheint, als ob sich die Methode nach einigen zu Anfang er-
zielten Misserfolgen doch derart bewährt habe, dass man dort in Zukunft an ihr fest-
halten werde, doch sind darüber bisher noch zu wenig zuverlässige objective Berichte an
uns gelangt, als dass wir im Stande wären, über die Zweckmässigkeit dieser Methode ein
sicheres Urtheil zu gewinnen.
Wenn wir die gewaltsamen Todesarten im Einzelnen näher untersuchen
wollen, so können wir sie zunächst in einer Anzahl von Gruppen übersicht-
lich ordnen. Die erste Gruppe umfasst diejenigen Todesarten, welche durch
die gewaltsame Entziehung der wichtigsten Erfordernisse für die Erhaltung
des Lebens, von Nahrungsmitteln und Sauerstoff, verursacht werden, also das
Erhungern und die acute Erstickung in ihren mannigfach verschie-
denen Formen. Die zweite Gruppe behandelt die Todesarten durch Einwir-
kung unzuträglicher Temperaturen, nämlich den Tod durch Erfrieren
einerseits, und den durch abnorm hohe Temperaturen andererseits, die Ver-
brennung und Verbrühung, den Tod durch Sonnenstich und Hitz-
schlag, sowie endlich durch Einwirkung der Hitze infolge von elektrischen
Entladungen, sei es durch natürlichen Blitzschlag oder durch künstlich
erzeugte Elektricität. Die dritte Gruppe ist die der traumatischen
Tod es arten, des Todes durch Hieb und Stich, mittels Erschiessens und
Ueberfahrens, durch Sturz aus der Höhe und ähnliche Unfälle mehr; und die
vierte und letzte Gruppe endlich ist die der Vergiftungen.
1. Der Tod durch Verhungern.
Der durch den Mangel genügender Nahrungszufuhr verursachte Tod eines
Menschen, der Hungertod, kommt nicht gerade häufig zur Beurtheilung sei-
tens des Gerichtsarztes. Behufs Ausführung eines Selbstmordes wird die
Nahrungsenthaltung zwar oft gewählt, begonnen und auch eine Zeit lang
beibehalten, aber doch nur ungemein selten bis zum Erlöschen des Lebens
wirklich durchgeführt; in weitaus den meisten Fällen besiegt die Gewalt
des Hungers bereits vor Ablauf des ersten vollen Tages selbst den grössten
Lebensüberdruss. Ausnahmen von dieser Regel betreffen zumeist Geistes-
kranke, und sind nur ganz vereinzelt auch anderweitig, am ersten noch an
Gefangenen in Einzelhaft, beobachtet werden. Beabsichtigte Tödtung eines
Anderen durch Verhungernlassen kommt vielleicht häufiger vor, als sie be-
kannt wird; so w^erden wohl gelegentlich auf diese Weise unbequem werdende
alte oder sonst hilflose Individuen aus dem Wege geräumt; in grosser Menge
aber fallen diesem traurigen Lose, namentlich in den grossen Städten, kleine
Kinder, und zwar vorwiegend diejenigen von unehelicher Geburt, zum Opfer.
Es gibt auch gegenwärtig noch vielerorten entmenschte Weiber, die sich ein einträg-
liches Gewerbe daraus machen, die unglücklichen Früchte ungesetzlicher Liebesverhältnisse
unter dem Namen der „Ziehkinder'' in Pflege zu nehmen, wobei sie, und zwar nur zu oft
geradezu im schweigenden oder gar ausgesprochenen Einverständnisse selbst mit den
Müttern oder sonst Versorgungsverpflichteten von Anfang an keinen anderen Zweck im
Auge haben, als den, das lästige junge Leben möglichst bald in einer der Wachsamkeit des
Gesetzes unauffälligen Weise verlöschen zu machen. Mehrfach ist noch gerade in jiingster
Zeit das jedem menschlichen Gefühl hohnsprechende Treiben solcher ^Engelmacherinnen",
wie sie im Munde des Volkes heissen, dem Auge des Staatsanwalts offenbar geworden.
Ihre Kunst besteht darin, die ihnen anvertrauten Kinder eines langsamen, allmählichen
Verhungerungstodes sterben zu lassen (chronischer Hungertod).
Kräftige Erwachsene können durch beabsichtigten Hungertod naturgemäss
nur bei gleichzeitiger sicherer Gefangenhaltung umgebracht werden. Unbe-
absichtigt verfallen demselben traurigen Lose nicht selten Verirrte in un-
wirtlichen Gegenden, Verschüttete in Bergwerken, Schiffbrüchige im unzurei-
chend verproviantirten Rettungsboote etc. Eigenartige Beurtheilung erhei-
schen endlich diejenigen Fälle von Hungertod, in .denen der letztere ein-
treten musste, weil narbige Stricturen oder Verwachsungen u. s. w. im Ge-
750 TODESARTEN, GEWALTSAME.
biete des Verdauungscanales vom Munde bis zum After als Folgezustände von
Verletzungen oder Verätzungen die Nahrungsaufnahme unmöglich machten.
Wie lange ein Mensch am Leben bleiben kann, ohne Nahrung aufzu-
nehmen, ist einmal individuell sehr verschieden, je nach Alter, Ernährungs-
zustand, Temperament, natürlicher Widerstandsfähigkeit etc. und ferner
hin abhängig von mancherlei besonderen Umständen; unter letzteren ist
namentlich der eine Punkt hervorzuheben, ob mit der Nahrung zugleich auch
das Getränk entzogen wurde oder nicht. Neugeborene, die wegen angeborener
Missbildungen keinerlei Nahrung zu sich nehmen konnten, hat man drei bis
fünf bis sieben Tage und länger leben sehen, wir selbst haben einen Fall
beobachtet, in dem der Tod erst am 13. Tage erfolgte. Gesunde Erwachsene
vermögen bei gleichzeitiger Entziehung der Getränke meist höchstens bis zu
sieben oder acht Tagen ohne Nahrung zu bestehen; bei ungehindertem Ge-
nüsse von Wasser dagegen, wie die Experimente der Hungerkünstler Dr.
Tanner, Succi u. a. beweisen, sehr viel länger, als man vordem für möglich
gehalten; hat doch Tanner 40 Tage gefastet! Alte Leute ertragen, ent-
sprechend der senilen Verminderung des Stoffwechsels den Nahrungsmangel
im Allgemeinen etwas länger als junge kräftige Individuen auf der Höhe der
physiologischen Energie.
Die Krankheitserscheinungen, welche der Organismus zwischen der
letzten Nahrungsaufnahme und dem Eintritte des Inanitionstodes aufweist,
sind im Allgemeinen einfach die Zeichen der fortschreitenden Entkräftung.
Auffallend ist dabei, dass das anfangs von Stunde zu Stunde wachsende
Hungergefühl, nachdem es — meist ungefähr um die 20. Stunde — seinen
Höhepunkt erreicht hat, schnell an Intensität verliert, um weiterhin gänzlich
zu fehlen. Unter rascher Abnahme des Fettgehaltes, Sistirung der Koth-
abscheidung und starker Verminderung des immer concentrirter abgesonderten
Harnes, unter Auftreten oft sehr quälender kolikartiger Leibschmerzen, Uebel-
keit und würgendem Erbrechen galleartiger Schleimmassen, während dessen
häufig auch mehr oder minder starke Blutergüsse in die Augenbindehäute
auftreten, verfallen die Kräfte immer mehr, bis der Verhungernde in einen
Zustand schlafähnlicher Apathie verfällt. Gewöhnlich wird dieser gegen Ende
des Krankheitsbildes zeitweilig durch kurze Delirien unterbrochen, bis
schliesslich unter rapidem Sinken der Kräfte der Tod erfolgt.
Der Leichenbefund wird naturgemäss in den meisten Fällen die Todes-
ursache zweifellos erkennen lassen; für den Tod durch Erhungern charakteri-
stisch ist nicht so sehr die höchstgradige Abmagerung und Anämie, das
völlige Fehlen des Fettes im Unterhautzellgewebe wie in allen inneren
Organen, die auffallende Atrophie und Blutarmuth von Leber,* Milz, Nieren
•u. s. w.; denn alle diese Befunde können in gleich hohem oder doch in ähn-
lich ausgeprägtem Grade als Folgezustände einer ganzen Pteihe von Krank-
heiten „auszehrenden" Charakters sich ausbilden; maassgebend dagegen ist
die auffallende Engigkeit von Magen und Darm und die absolute Leere dieser
Organe an Speisetheilen; ein Individuum, in dessen Magen und Darm bei der
Section nennenswerte Massen von Speisebrei gefunden werden, kann nicht an Ver-
hungern gestorben sein. Bei kleinen Kindern kann die Diagnose des Hunger-
todes durch die Beschaffenheit der Thymusdrüse gestützt werden; man findet das
Organ deutlich atrophisch, ja oft bis auf ganz kleine Beste geschwunden*).
2. Der Tod durch Erstickung.
Die acute Erstickung kommt zustande, wenn dem Körper plötzlich und voll-
ständig die Möglichkeit der Aufnahme der Luft durch die Lungen entzogen wird.
Die für den Gerichtsarzt wichtigsten Formen der Erstickung sind diejenigen^
mittels Erhängens, Erdrosseins, Erwürgens und Ertrinkens.
Beumer u. G. Woltersdorf.
*) Seydel, Leitfaden der gericlitl. Med. Berlin, 1895. S. 90.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 751
Bevor jedoch diese einzelnen Formen der Erstickung besprochen werden,
soll die Erstickung im allgemeinen erörtert werden.
Erstickung. Allgemeines. Erstickung heisst Aufliebung des respira-
torischen Gaswechsels. Von den beiden hauptsächlichsten Vorgängen, die
denselben bewerkstelligen, der Sauerstoffaufnahme und der Kohlensäureaus-
scheidung, kommt bei der Erstickung in erster Linie die Sistirung der Sauer-
stoft'aufnahme in Betracht.
Der Begriff der Erstickung ist danach also ein sehr weiter. Er umfasst
nicht nur die Störungen im Mechanismus der äusseren Athmung, sondern auch
diejenigen der inneren Athmung, die einerseits aus Anomalien der Blutbewe-
gung, andererseits aus solchen der Blutmischung hervorgehen. Zu den letz-
teren gehören die Folgezustände der Einwirkungen der Blutgifte, Kohlenoxyd,
Kali chloricum u. a. m. Unter die Störungen der Blutbewegung müssen wir
zunächst die primäre Herzlähmung rechnen, ferner embolische Processe, wie
Embolie der Pulmonalarterie, aber auch die acute Anämie des Verblutungs-
todes gehört ebenso wie die chronischen Anämien hierher. Zu den Störungen
im Athmungsmechanismus rechnen wir zunächst die Verlegung des Respira-
tionstractus an irgend einer Stelle, also den Verschluss von Nase und Mund,
den Verschluss des Rachens durch Fremdkörper, diphtheritische Membranen
u. a., das Erhängen, Erwürgen, Erdrosseln und Ertrinken, weiter die Be-
schränkung des eigentlich athmenden Theiles der Lunge, des Alveolarepithels
durch aufgelagerte exsudative oder transsudative Processe, Pneumonie, Bron-
chitis, Lungenödem. Weiter gehört hieher die Erstickung in einem ge-
schlossenen oder mit irrespirablen Gasarten angefüllten Räume, die Ver-
hinderung der Athembewegungen beim Verschütten oder Erdrücken und bei
Krampf- oder Lähmungszuständen der Athemmuskeln (Curare-, Strychninver-
giftung, Epilepsie). Endlich ist zu erwähnen die Verhinderung der Aus-
dehnung der Lungen selbst, infolge von doppeltem Pneumothorax, Hydro-
thorax, Hämatothorax u. s. w.
Die Berechtigung, alle diese, zum Theil recht wenig mit einander gemein
habenden Todesarten als Arten des Erstickungstodes aufzufassen, wird her-
geleitet einmal von Erscheinungen, welche der Erstickungstod als solcher
darbietet, und sodann aus den Erscheinungen an der Leiche. Im Uebrigen
aber rechnet, das sei gleich hier vorweg bemerkt, die gerichtliche Medicin
zu den Erstickungsarten im engeren Sinne nur die Formen der mechanischen
Erstickung, bei denen ceteris paribus der Tod primär durch Erstickung er-
folgt, gegenüber den mit Störung in der Blutmischung und Blutbewegung ver-
bundenen Erstickungsformen, bei denen der Tod secundär eintritt. Vorstehend
werden, wie gleichfalls ausdrücklich hervorgehoben sein soll, die Anschauungen
wiedergegeben, wie sie allgemein acceptirt worden sind. Auf die Bedenken,
welche sich im Ganzen und bei den einzelnen Punkten ergeben, wird später
«ingegangen werden.
Die Symptome des Erstickungstodes haben, wie bemerkt, eine eigenthüm-
liche Reihenfolge, die bis zu einem gewissen Grade constant ist. Am besten lassen sie
sich studiren an jungen kräftigen tracheotomirten Thieren, die durch Verschluss der
Tracheotomiecanäle erstickt werden oder bei Aufdrücken einer Pechmaske auf die Athem-
öffnungen. Aeltere Thiere zeigen weniger Constanz in der Aufeinanderfolge der einzelnen
Erscheinungen, ebenso erschöpfte oder langsam, z. B. durch Luftabschluss, in der eigenen
Esspirationsluft erstickte. Wir unterscheiden vier Stadien.
Zunächst tritt eine Dyspnoe ein, die zuerst vorwiegend inspiratorisch, dann exspira-
torisch ist; die Dauer dieses Stadiums beträgt etwa eine Minute. Das zweite Stadium ist
das der Krämpfe, die vorwiegend clonischer Natur sind, aber auch wohl toxisch sein
können; ein Opisthotonos wird nicht selten beobachtet. Das Bewusstsein ist mit dem Beginn
des zweiten Stadiums erloschen. Als drittes Stadium tritt eine Athempause von zuweilen
minutenlanger Dauer ein, der als letztes das der terminalen Athembewegungen folgt. Dies
sind einzelne lang angezogene Athembewegungen mit mehr oder weniger grossen Zwischen-
752 TODESARTEN, GEWÄLTSAME.
läumen, bei denen das Thier zuweilen wohl den Mund weit öffnet. Die Dauer alier dieser
Erscheinungen beträgt etwa 3—8 Minuten.
Hervorgerufen werden sie durch eine Reizung des Athmungscentrums der Medulla
oblongata durch das sauerstoffarme Blut. Von den Erscheinungen der übrigen Organ-
systeme seien besonders die des Circulationsapparates erwähnt. Infolge Reizung des
"Vagus stellt sich beim Beginne der Erstickung eine Verlangsamung der Herzbewegungen
ein, die von einer durch Lähmung desselben Nerven veranlassten Beschleunigung der Herz-
contractionen gefolgt ist. Dieselben werden nun weiter langsamer, um allmählich ganz
zu verschwinden; sie überdauern die terminalen Athembewegungen erheblich, wie nicht
nur der Thierversuch, sondern auch Beobachtungen an durch den Strang Hingerichteten
beweisen, zuweilen 8 Minuten oder noch mehr. Der Blutdruck ist bei der Dyspnoe ge-
steigert, die Steigerung erhält sich während des convulsiven Stadiums, ist sogar noch etwas
erhöht und sinkt dann allmählich herab. Der Verdaungs-(Urogental-)canal reagirt auf die
Erstickung bereits im Stadium der Dyspnoe oder später durch Abgang von Fäces und Urin.
An Complicationen, die störend in den Gang des Erstickungstodes, wie
er soeben geschildert ist, eingreifen können, sind zwei besonders hervorzu-
heben: Der S h 0 ck und die Synkope. Sie erklären zum Theil die Verschieden-
heit der sogleich zu besprechenden Befunde an der Leiche, sie erklären
weiter, warum beispielsweise bei dem einen Erhängten das Herz noch minuten-
lang schlägt, während ein anderer unmittelbar nach der Suspension von dem
umschnürenden Strangwerkzeug Befreiter bereits keine Spur mehr von Herz-
bewegung zeigt. Der Shock stellt bekanntlich den durch Vermittlung der
Reflexbahnen hervorgerufenen Herztod dar; er ist beobachtet besonders bei
Schlag auf den Vorderhals (Brouardel). Synkope würde in Frage kommen
bei älteren Individuen mit erkrankter Herzmuskulatur. Es sei hier übrigens
bemerkt, dass der richtigere Name für die Erstickung eigentlich Synkope wäre,
da er das Aufhören der Athmung bedeutet (auvxoitr] toü Tivcup-axo?), während
Asphyxie, jetzt gleichbedeutend mit Erstickung, soviel wie Pulslosigkeit heisst
(a-O'f u-|-[xo? = pulslos).
Wird der Gang der Erstickung unterbrochen, so kann restitutio in in-
tegrum eintreten; ein jedes Stadium der Erstickung erscheint hierzu noch
geeignet, unter der Voraussetzung natürlich, dass von selten des Herzens
keine Complicationen dazwischen getreten sind.
Die Erscheinungen an wiederbelebten Erstickten sind einmal solche all-
gemeiner Natur, wie Benommenheit, Delirien, Blasen- und Mastdarmstörungen,
sodann localer Natur — wie nach dem Erhängen durch die Natur und den
Ort des erstickenden Werkzeuges veranlasst. Eine zuweilen beobachtete
Störung ist die retrograde Amnesie, die sich auf eine Reihe von Stunden
vor der Erstickung erstrecken kann, und die sowohl nach Erhängen, als nach
Ertrinken beobachtet ist. Auch wenn die Wiederbelebung gelungen ist, kann
der Tod secundär infolge pneumonischer und ähnlicher Processe eintreten.
Begreiflicherweise beanspruchen für den Gerichtsarzt die Erscheinun-
gen an der Leiche beim Tode durch Erstickung ein ungleich grösseres
Interesse, als die soeben erwähnten vitalen Processe. Man hat bereits einige
sich bei der äusseren Besichtigung ergebende Merkmale hiebei zu verwerten
versucht. Die Todtenflecke kommen bei der Erstickung im weiteren Sinne
nur insofern in Betracht, als sie reichlich entwickelt und von dunkler Farbe
gefunden werden, eine Erscheinung, der etwas specifisches kaum zuerkannt
werden kann. Die Entwicklung der Todtenflecke beim Erhängungstode wird
bei Besprechung dieses Capitels abzuhandeln sein. Auch die Leichenstarre
gibt zu Bemerkungen keinen weiteren Anlass. Cyanose des Gesichtes wird
zuweilen beobachtet, insbesondere bei dem etwas langsamen Verlaufen der
Erstickungsformen (z. B. Erdrücktwerden) scheint sie ziemlich constant zu
sein, vorgetriebene Augäpfel, erweiterte Pupillen sind Zeichen von nur mehr
historischem W^ert, die, wenn sie vorhanden sind, registrirt werden müssen,
aber für eine Diagnose nicht in Betracht kommen. Dasselbe gilt von der
Vorlagerung der Zunge vor die Zahnreihen. Einen gewissen Wert neben der
Cyanose beanspruchen dagegen die Hautblutungen, welche sich an verschie-
TODESARTEN, GEWALTSAME. 753
denen Theilen der Leiche finden. Manchmal ist die Haut besät mit der-
artigen kleinen Blutaustretungen, manchmal findet man sie nur an einzelnen
Prädilectionsstellen bei genauer Untersuchung. So zeigte die Leiche eines ver-
schütteten Brunnenarbeiters ausserordentlich zahlreiche Ecchymosen von ver-
schiedener Grösse, die zum Theil confluirten und so fast den Charakter einer
traumatischen Sufiusion annahmen; nur die anscheinend durch Druck relativ
anämisch gewesenen Hautpartien waren im Wesentlichen frei geblieben. Am
häufigsten finden sie sich in den Augenbindehäuten, wo sie in der Regel die
Grösse eines Stecknadelkopfes nicht überschreiten. Sie werden beobachtet
nicht nur beim Tode durch mechanische Erstickung, sondern auch beim Tode
im epileptischen Krampf anfalle, beim Keuchhusten und vielen anderen Todes-
arten. Ihr Dasein scheint zu beweisen, dass dem Tode vorangegangen ist ein
Stadium erhöhten arteriellen Blutdruckes, wie dies experimentell auch er-
härtet worden ist. Auffällig sind nun hiebei die Befunde von Ecchymosen
an hypostatischen Hautstellen, so bei Erhängten an den Beinen, insbesondere
den Oberschenkeln, bei in Knieellenbogenlage gefundenen Erschossenen ebenda,
ferner an der Vorderseite des Rumpfes bei in Bauchlage Verstorbenen. In
dem Bezirke der gewöhnlichen Stelle der Hypostase, der Rückenhaut, sind sie
gewöhnlich nicht beobachtet. Er fragt sich nun, ob derartige in hypostatischen
Hautbezirken angetroffene Ecchymosen vitaler Natur sind, oder ob sie nicht,
wenigstens zum Theil, durch die auf die zarten und durch Fäulniss verän-
derten Gefässwandungen drückende Blutsäule veranlasst sind. Letztere An-
schauung erscheint als die richtigere, wie neuerdings angestellte Unter-
suchungen beweisen.
Haberda nämlich hat feststellen können, wie an Neugeborenen, die er an den Beinen
suspendirte, unter den Augen des Beobachters Ecchymosen in den Conjunctiven entstanden;
er fand zugleich eine seröse kopfgeschwulstartige Durchtränkung der Schädeldecke. Dass
durch die Hypostase Ecchymosen vergrössert werden können, erscheint zweifellos. Die
Frage, warum denn nur gewisse Prädilectionsstellen für diese Ecchymosen vorhanden sind,
und warum speciell die Eückenhaut frei von derartigen Blutungen gefunden wird, findet
ihre Erklärung vielleicht in einer grösseren Straffheit der dort vorhandenen Gewebe.
Man ist weiter früher geneigt gewesen, dem Austritt von Sperma aus
der Harnröhrenmündung einen gewissen diagnostischen Wert beizulegen;
jetzt ist man davon zurückgekommen, nachdem diese Beobachtung bei den
verschiedensten Todesarten, und nicht blos beim Erhängen gemacht ist. Die
Annahme, dass beim Erhängen eine Wollustempfindung auftrete, die u. a.
durch die Erzählungen von dem sagenhaften Club der Erhängten in London
ihre Nahrung fand, hatte zu dieser Interpretation des erwähnten Sperma-
befundes geführt — gewiss mit Unrecht, da, wie bemerkt, eine derartige
Beobachtung öfter gemacht wird, insbesondere auch beim plötzlichen natür-
lichen Tode. Ihre Erklärung findet sie wohl in dem Rigor mortis der glatten
Muskulatur, durch den Sperma zum Austreten gebracht wird. In einer Reihe
weiterer Fälle, bei denen man eine Todtenstarre der glatten Muskulatur aus-
schliessen zu dürfen glaubt, insbesondere von länger dauernder Suspension,
handelt es sich gewiss um einfach mechanisches Ausfliessen aus der nahezu
völlig vertical gelagerten Urethra, nachdem vielleicht durch einen im con-
vulsiven Stadium der Erstickung eingetretenen Krampf der glatten Muskulatur
der Inhalt der Samenblasen entleert worden war.
Unter den inneren Zeichen des Erstickungstodes wird die dunkle Farbe
und die flüssige Beschaffenheit des Blutes in der Regel an erster Stelle ge-
nannt; eine Wichtigkeit kommt ersterer Eigenschaft nicht, letzterer nur bis
zu einem gewissen Grade zu. Dass das sauerstoffarme und kohlensäurereiche
Blut des Erstickenden ebenso dunkel ist, wie das sauerstoffarme und kohlensäure-
reiche Venenblut, ist ja nicht zu verwundern; das ist ein Befund, den wir bei jeder
Autopsie, wenn es nicht eine Vergiftung mit CO, Kali chloricum oder einem
Bibl. med. Wissenschaften, Hygiene u. Ger. Med. 4o
754 TODESARTEN, GEWALTSAME.
ähnlichen Stoffe ist, machen, ja machen müssen, weil die Gewebe dem Blute
den Sauerstoff entziehen, der ihm noch post mortem innewohnt. Und das Blut
der Leiche, wenn es vorsichtig entnommen ist, ohne dass es mit der Luft in
Berührung kam, zeigt ja demgemäss nicht das OHb-Spectrum, sondern nur
das Spectrum des sauerstofffreien Hämoglobins. Diese Erscheinung werden
wir mit um so grösserer Gewissheit am Blute wahrnehmen können, als ja
zwischen Exitus und Autopsie immer eine gewisse Zeit, mindestens wohl 24
Stunden vergehen, in denen das Blut Zeit hat, allen bis dahin ihm verblie-
benen Sauerstoff noch an die Gewebe abzugeben.
Bezüglich der Flüssigkeit oder des Geronnenseins des Blutes sind zwei
verschiedene Momente auseinanderzuhalten. Einmal die Zeit, die zwischen
Tod und Autopsie verstrichen ist, und dann die Blutbeschaffenheit selbst.
Gegenstand der Untersuchung bilden für den Gerichtsarzt nicht die Leichen
lange erkrankt Gewesener, wie sie in Kliniken u. s. w. zur Beobachtung kommen,
sondern vorwiegend diejenigen solcher Personen, die mitten in der besten Ge-
sundheit ohne vorheriges Kranksein eines gewaltsamen Todes gestorben sind.
Plötzliche natürliche Todesfälle an Pneumonie, Meningitis werden andererseits
wieder in Bezug auf diesen Punkt ähnliche Befunde, wie sie in Kranken-
häusern erhoben w^erden, vermuthen lassen. Die häufig gemachte Beobachtung
geht nun dahin, dass diejenigen Fälle, welche nach einer mehr oder weniger
langen Agonie defunct sind, speckige Gerinnsel im Herzen, insbesondere im
rechten Herzen haben, und dass die plötzlich ohne Agonie Gestorbenen flüssiges
oder locker geronnenes Blut darbieten. Der Agonie gleichwertig sind in Bezug
auf die Beschaffenheit des Blutes alle Zustände, welche zu einer Leukocytose
überhaupt führen, also die grosse Mehrzahl der Infectionskrankheiten u. s. w.
Diese Beobachtung ist eine so constante, dass der Befund von derben, ver-
filzten Gerinnseln im Herzen direct gegen die Annahme einer plötzlichen
reinen Erstickung spricht, was gerichtsärztlich sehr gut zu verwerten ist.
Wenn auch bezüglich der Lehre von der Blutgerinnung noch vieles zu untersuchen
und klarzustellen ist, so darf doch als ausgemacht gelten, dass die Träger des zur Coagula-
tion erforderlichen Fibrinfermentes die Leukocyten sind. Die Fähigkeit zur Ferment-
bildung wohnt dem Blute nun noch einige Zeit nach dem Tode inne, es kann daher zu-
nächst gerinnen, aber wohl nur locker, während diese Fähigkeit bereits nach 24 Stunden
nicht nur erloschen zu sein scheint, sondern die bis dahin bestandene Coagulation infolge
Veränderungen, welche das Fibrin eingeht, wieder einer flüssigen Beschaffenheit des Blutes
Platz macht; die Auflösung fester speckiger Gerinnsel erscheint ausgeschlossen, nur wenn
das Blut locker geronnen war, wird dieses Verschwinden von Gerinnseln beobachtet werden
können. Hängt man zwei Hunde auf (Brouardel) und macht die Autopsie des einen
zehn Minuten post mortem, so findet man sein Herz erfüllt mit weichen Gerinnseln. Die
Autopsie des zweiten Hundes 24 Stunden post mortem ergibt keine Spur von Gerinnsel mehr
im Herzen.
Für die Diagnose eines Erstickungstodes werden wir, wie aus diesen
Darlegungen hervorgeht, nur in bedingter Weise von der Blutgerinnung, resp.
flüssigen Beschaffenheit des Blutes Gebrauch machen können. Bei den mehr
chronisch verlaufenden Formen von Erstickung aus inneren Ursachen werden
wir jedenfalls eine flüssige Blutbeschaffenheit kaum erwarten dürfen, bei den
Leichen eines gewaltsamen Todes plötzlich Gestorbener iindet man meist
flüssiges, nicht geronnenes Blut — aber die vorhanden gewesenen Gerinnsel
können bereits wieder aufgelöst worden sein, und da nun die Zeit zwischen Tod
und Autopsie verschieden lang ist, und eine mehr oder weniger lange Zeitdauer
sich nach der Pachtung der Verflüssigung des Blutes hin bemerkbar zu machen
scheint, so lassen sich allgemeine Normen hier nicht aufstellen.
An zweiter Stelle unter den inneren Zeichen des Erstickungstodes pflegt
angeführt zu w'erden die Blutüberfüllung der inneren Organe, insbesondere
der Lungen. Auch dieses Zeichen entbehrt der allgemeinen Giltigkeit; es ist
vielmehr erforderlich, eine ganze Reihe Einschränkungen zu machen. Theore-
TODESARTEN, GEWALTSAME. 755
tisch hat zuerst Donders für die Lungenhyperämie eine Erklärung gegeben;
Patenko hat experimentell die DoNDERs'sche Theorie zu stützen gesucht. Die-
selbe läuft darauf hinaus, dass durch die dyspnoischen Athembewegungen des
ersten Stadiums beim Erstickungstode bei Verschluss der Respirationswege
der Druck in der Thoraxhöhle ein negativer werde, eine Erscheinung, die
eine Erweiterung des Lumens der Lungengefässe und weiter eine Verlang-
samung des Blutstromes in ihnen zur Folge habe. Die Dauer der Dyspnoe
würde also demnach proportional sein der Stärke der Lungenhyperämie.
Skrzeczka hat diese Theorie experimentell dahin ergänzt, dass bei Luftab-
schluss im Moment der Inspiration der Druck im Thorax vermindert wird,
dass man hier Lungenhyperämie zu erwarten habe. Bei Luftabschluss im
Beginn der Exspiration dagegen treten diese Verhältnisse nicht ein.
Bei der Beurtheilung der Lungenhyperämie beim Erstickungstode wird man
sich zuvörderst davor zu hüten haben, eine diesbezügliche Diagnose zu stellen,
wenn die Criterien dieses Zustandes nicht zutreffen (Skrzeczka). Diese be-
stehen darin, dass die hyperämische Lunge sich weniger gut retrahirt, dass
sie sich schwerer anfühlt, von derberer Consistenz ist. Ihre Farbe ist dunkel-
violett, auf der Pleura sieht man ein engmaschiges Netz injicirter Venen,
auf Durchschnitten entleert sich ohne Druck reichlich dunkles Blut. Es wird
nun von allen Untersuchern betont, dass eine derartige Lungenhyperämie
nicht die Regel ist, dass geradezu blutarme Lungen beim Erstickungstode,
auch beim gewaltsamen, gefunden werden. Zunächst werden wir uns sagen
müssen, dass ein Theil der untersuchten Individuen wohl normale Blutver-
hältnisse zeigt, dass man aber von einem anämischen Individuum nicht er-
warten kann, dass es hyperämische Lungen aufweist. Weiter zeigt eine Be-
obachtung von Hofmann an durch den Strang justificirten Verbrechern, wie
durch Einziehung des Bauches und Hochsteigen des Zwerchfelles der vermin-
derte Druck der Thoraxhöhle während der Erstickung wieder zum Theil ausge-
glichen werden kann. Endlich ist zu bemerken, dass bei älteren Individuen,
bei denen die Stadien des Erstickungstodes abgekürzt oder nur angedeutet
sind, von einer erheblichen Verminderung des intrathorakalen Druckes kaum
die Rede sein kann.
Die Verschiedenheit im Blutgehalt, welche nach diesen Erwägungen er-
wartet werden musste, erhielten wir auch bei einer Reihe von Untersuchungen,
bei denen als Ziel gesetzt wurde, zahlenmässige Beläge für den Blutgehalt
der Lungen bei verschiedenen Todesarten zu gewinnen.
Die Lösung der Aufgabe wurde versucht mittelst des FLEiscHL'schen Hämometers in
folgender Weise: Die sofort nach Eröffnung der Brusthöhle sorgfältig unterbundenen
Lungen wurden herausgenommen, in ein eigenes Glasgefäss gelegt und in diesem secirt; so-
fort nach beendeter Section wurden die Lungen weiter mittels einer Hackmaschine fein
zerkleinert und die Masse der feinen Partikel mit einer bestimmten Menge (201) Wasser
verdünnt. Jede Verschüttung auch von kleinen Blutmengen wurde ängstlich vermieden.
Die Auslaugung des Blutfarbstoffes fand nun während der nächsten 24 Stunden vollkommen
statt, und es wurde dann nach dieser Zeit zur hämometrischen Bestimmung des Blut-
gehaltes bei einer constanten Verdünnung der zerkleinerten Lungen mit 160 l Wasser, her-
gestellt an kleineren Quantitäten der Stammflüssigkeit durch Verdünnung um jedesmal die
Hälfte Wasser, geschritten. Werte, welche bei dieser Verdünnung ausserhalb der Scala
des FLEiscHL'schen Hämometers lagen (120), also einer weiteren Verdünnung benöthigten,
z. B. Verdünnungen von 320 l wurden rechnerisch, um vergleichbare Werte zu gewinnen,
auf 160 l Verdünnung gebracht. Die Fehlerquellen dieser Versuchsanordnung wurden da-
durch nach Möglichkeit ausgeglichen, dass nur kräftige, gut genährte Individuen in mitt-
lerem Alter gewählt wurden, deren Körpergrösse eine annähernd gleiche (etwa 150 — 160 cm)
war; ferner wurden nachträglich eine Reihe von Fällen ausgeschieden, bei denen die Sec-
tion irgend welche Complicationen von Seiten der Lungen aufwies, Tuberkulose, Blut-
aspiration, Aspiration von Erbrochenem u. s. w.
Die erhaltenen Resultate sind nun, wie zu erwarten war, sehr verschieden von
einander. Sie mögen in nachfolgender Tabelle ihre übersichtHche Darstellung finden: Es
ergaben sich bei Verdünnung der zerkleinerten Lunge mit 160^ Wasser bei
48*
756
TODESARTEN, GEWALTSAME.
Zahl der Fälle
Diagnose
Hämom et erwerte
1
Verschüttung durch
Erdmassen
116
10
Erhängen
58, 62, 64, 70,
73, 88, 115, 120,
136, 164
1
1
1
Phosphorvergiftung
Cyankaliumvergiftg.
Alcoholvergiftung
63
120
110
3
Erschiessen
95, 103, 120
1
Ertrinken
100
2
Sturz von der Höhe
77, 140
2
1
1
1
Herzparalyse
Hydrocephalus int.
Schrumpfniere
Erstickung in Folge
92, 107
64
70
Lues Laryngis
102
Die Resultate haben, wie unbedingt zugegeben werden soll, eine Reihe Fehlerquellen,
aber sie sind doch von Wert, weil sie eine unbefangene Prüfung des Blutgehaltes der
Lunge bei einer Anzahl gewaltsamer und plötzlicher natürlicher Todesfälle darstellen, die nicht
mit Vorbedacht eben nur an „Erstickten" ausgeführt wurde, sondern ohne Wahl, sobald die be-
treffende Leiche den oben mitgetheilten Bedingungen überhaupt nur genügte. Zunächst ergibt
sich aus der Zusammenstellung, dass auch bei Erstickten im eigentlichen Sinne eine ganz er-
hebliche Schwankung besteht. Stellen wir Hämometerwerte von 100 etwa gleich der Diagnose
^.ziemlich blutreiche Lungen" und 110 etwa gleich „blutreiche Lungen", Werte, wie sie
ungefähr den in den Protokollen niedergelegten Bezeichnungen entsprechen, so finden wir
beispielsweise, dass von den zehn Erhängten die Majorität (sechs) die Grenze 100 nicht
einmal erreicht, während die vier anderen wieder den bisherigen Mindestwert 58 um das
zwei- bis dreifache übertreffen — gewiss bemerkenswerte Schwankungen. Der Blutgehalt
der drei Fälle von Erschiessen hält sich im Ganzen auf der gleichen Höhe; der Mindest-
wert beträgt 95, der Meistwert 120; auf ähnlicher Höhe liegt der untersuchte Fall von
Ertrinken (100), sowie von Verschütten (116), der Fall von Cyankaliumvergiftung zeigte
blutreiche Lungen (120), ebenso der Fall von Tod im Rausch, derjenige von Phosphor-
vergiftung andererseits nichts weniger als blutreiche (63). Es bleiben übrig die Fälle von
Sturz von der Höhe, von denen der eine noch einmal so blutreiche Lungen als der andere
aufwies (77^140), und die Fälle von plötzlichem natürlichem Tod, von denen der Hydro-
cephalus (64), ebenso der Fall von Schrampfniere (70) nur geringere Werte aufweisen,
während die Fälle von Herzparalyse und von Tod durch Erstickung an Kehlkopfsyphilis
die Grenzwerte der „ziemlich blutreichen" Lungen zum Theil überschreiten. Hervorgehoben
sei noch, dass ein Fall von Erhängen den stärksten Blutgehalt hatte, diesen am nächsten
kam ein Fall von Sturz von der Höhe. Wirklich blutreiche Lungen fanden sich unter
den untersuchten 25 Fällen neunmal. Die Untersuchungen — insbesondere die an Er-
hängten angestellten — zeigen die oben theoretisch construirte Möglichkeit von Schwan-
kungen im Blutgehalt an zahlenmässigen Beispielen.
Die alten Gerichtsärzte massen der „Congestion" einen grossen Wert
bei, man suchte den Sitz der Hyperämie und bestimmte darnach die Todes-
ursache — Lungen-, Herz-, Gehirntod (Bichat, Deveegie), resp. Stickfluss,
Schlagfluss bei Luugen- oder Gehirnhyperämie, Stickschlagfluss, wenn beide
Organe hyperämisch gefunden wurden, und Neuroparalyse, wenn keine
Hyperämie in Gehirn oder Lungen bestand (Casper u. a.). Die gerichtliche
Medicin unserer Tage hat es, wie bemerkt, für angezeigt gefunden, die Diagnose
„Erstickung" zu erweitern und erkennt die venösen Hyperämien aller Or-
gane — nicht nur der Lungen — nur als Theilerscheinungen des Erstickungs-
befundes an der Leiche an. Was zunächst die Gehirnhyperämie betrifft, so lie-
gen hier einige Beobachtungen in vivo vor, die einander nicht völlig entsprechen.
DoNDERS und Ackermann experimentirten an trepanirten Thieren, denen sie Glas-
stücke in die Lücke des knöchernen Schädeldaches hatten einheilen lassen; während
DoNDERS aber nach anfänglichem Erblassen stets eine Cyanose der Pia bei Luftabschluss
auftreten sah, fand Ackermann eine Anämie der Hirngefässe dem Tode vorangehen.
Hofmann gibt an, dass man mittelst des Augenspiegels eine Anämie der Retinalgefässe
während der Dyspnoe beobachten könne; Brouardel und Descoust bestätigen diesen Be-
fund mit dem Bemerken, dass der anfänglichen Anämie der Retinalgefässe eine Hyperämie
als Ausdruck eines vasomotorischen Krampfes mit sucessiver Lähmung nachfolge.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 757
Dies sind gewiss wissenschaftlich interessante Thatsachen, für den
Gerichtsarzt aber Ivaum verwertbar, wenn man den thatsächlichen Leichen-
befund bei Erstickten in Frage zieht; und hier sehen wir manchmal eine
Hyperämie bestehen, in anderen Fällen wieder nicht. Dasselbe gilt von der
Hyperämie der Nieren und der übrigen Organe.
Auf den Blutgehalt derselben wirken nämlich ausser dem oben erwähnten
Momente, ob das betreffende Individuum überhaupt anämisch oder blutreich
war, und ob die Erstickung längere oder kürzere Zeit dauerte, noch eine
Eeihe anderer, sogleich zu erwähnender ein. Da ist zunächst zu nennen
die posthume Circulation, die unter dem Einfiuss der Fäulniss sich thatsächlich
bis zu einem gewissen Grade einstellt; die im Bereich der Hypostase liegen-
den Organe werden zunächst immer eine grössere Blutfülle als die von ihr
entfernteren aufweisen; verfliegst eine gewisse Zeit zwischen Tod und Autopsie,
so werden Blutgase frei und sie leisten dem Tiefertreten des Blutes, da sie
das Bestreben haben emporzusteigen, nur Vorschub, Eine etwaige Auftrei-
bung des Leibes, die durch Vermehrung der Darmgase entsteht, bringt
weiter eine Entfernung des Blutes aus den Unterleibsgefässen zu Wege. Fer-
ner ist zu berücksichtigen die Todtenstarre der glatten Muskulatur der Ar-
terien, welche die letzteren bis zu einem gewissen Grade von dem etwa in
ihnen enthaltenen Blut befreit, und endlich die Todtenstarre des Herzens.
Seit Strassmann's grundlegenden Untersuchungen über diesen Punkt
beginnt man der Todtenstarre des Herzens einen grossen Wert beizulegen;
insbesondere hat Steassmann gezeigt, inwieweit die als ein wichtiges Zeichen
des Erstickungstodes geschätzte Füllung des rechten Ventrikels als ein Vor-
gang aufzufassen ist, der durch die Todtenstarre des Herzmuskels seine ganz
natürliche Erklärung findet. Die Füllung, welche die Herzhöhlen im Momente
des Todes haben, finden wir — vorausgesetzt, dass nicht schwere degenera-
tive Zustände des Herzens eine letzte Contraction überhaupt verhindern • —
nicht mehr bei der Autopsie. Denn der Herzmuskel hat sich contrahirt und
der muskelstarke linke Ventrikel entleerte seinen ganzen Inhalt in die zur
Verfügung stehenden Canäle, ein Vorgang, den der muskelschwache rechte
nur bis zu einem gewissen Grade — wenn überhaupt — mitzumachen im
Stande war.
Taedieu's Autorität war es, welche die auch vor ihm bereits bekannten
und beschriebenen subserösen Ecchymosen in die Reihe der wichtigen Merk-
male des Erstickungstodes erhob, er vindicirte ihnen einen pathognomonischen
Wert bezüglich der Diagnose des Todes durch Bedeckung der Athemöffnungen.
Die nach ihm benannten „TARDiEü'schen Flecke" haben seitdem oft zu Dis-
cussionen Anlass gegeben, und man ist jetzt darüber einig, dass sie häufig
bei Erstickung überhaupt, nicht nur bei mechanischer Erstickung, vorkommen,
dass sie aber auch wohl gelegentlich fehlen können.
Die Prädilectionsstellen der Ecchymosen sind die Pleuren und das Pericard, an denen
sie sich als punktförnaige, bis linsengrosse Blutaustretungen zeigen. Diesen subserösen
Ecchymosen gleichwertig sind kleine Blutungen auf der Thymusdrüse, in der Magen- und
Darmschleimhaut, ferner in der Schleimhaut der Respirationsorgane, in der Nasenschleim-
haut, in der Paukenhöhienschleimhaut, seltener in den Hirnhäuten; einmal sahen wir sie
bei einem Erhängten unter dem Ependym des vierten Ventrikels. Verwandt mit ihnen sind
die Ecchymosen der Conjunctivalschleimhaut und der äusseren Haut, über welche bereits
oben gesprochen wurde. Die Blutungen treten leichter ein bei Individuen mit zarten
Oefässwandungen, insbesondere Kindern, als bei Erwachsenen^
Wie ist nun ihr Vorkommen zii erklären? Zunächst hat man an Stauungsvorgänge
zu denken, die sich unter dem Einfluss einer Lungenhyperämie (vgl. die Bemerkungen
oben) im Venensystem überhaupt einstellen, sodann kommen aber noch eine Reihe anderer
Umstände in Frage. Krahmer hat im weiteren Ausbau der DoNOERs'schen Theorie von der
Lungenhyperämie die sogenannte Schröpfkopftheorie aufgestellt, indem er annahm, dass
durch die inspiratorischen dyspnoischen Thoraxbewegungen das Blut wie in einem Schröpf-
kopf an die Oberfläche des Organs, d. h. unter die Pleuren in das subpleurale Bindegewebe
gezogen werde und dort aus den Gefässen austrete. Weiter betont v. Hofmann den
758 TODESARTEN, GEWALTSAME.
yasomotorischen Krampf bei der Erstickung, mit dem eine Vermehrung des Seitendruckes
im Gefässsystem einhergehe, und bemerkt hiezu — eine Behauptung, die er selbst und an-
dere auch experimentell stützen konnten — dass das Entstehen der Ecchymosen zusammen-
falle mit dem Stadium der Krämpfe beim Erstickungstode. Corin hat in einer neueren
Arbeit behauptet, dass einerseits eine Vermehrung des Blutdruckes infolge einer Erregung
des vasomotorischen Centrums, andererseits ein mehr oder weniger langer Athemstillstand
für das Zustandekommen der Ecchymosen als wesentlich zu erachten sei.
Gewiss kommen, das kann keinem Zweifel unterliegen, eines oder das andere der
angeführten Momente oder auch mehrere für das Entstehen der Ecchymosen in Frage
— aber ihre Bedeutung für den Gerichtsarzt ist damit noch lange nicht erhärtet. Und
diese Bedeutung ist, wie Strassmann (Die subpleuralen Ecchymosen und ihre Beziehung
zur Erstickung. Vierteljahrschrift für ger. Med. u. s. w. 1898, Heft II) erst kürzlich noch
auseinandergesetzt hat, nicht gering genug angeschlagen.
Finden sie sich doch, um zunächst die übiquität ihres Vorkommens zu betonen,
nicht nur bei der mechanischen Erstickung im TABDiEu'schen Sinne, sondern auch bei der
Erhängung, beim Erdrosseln und Ertrinken; ferner bei Kopfverletzungen, nach spontanen
Hirnapoplexien, bei Epilepsie, ebenso wie bei Tetanus, bei Lungenkrankheiten, ebenso wie
beim Darmkatarrh der Kinder, bei der Phosphor- und Arsenvergiftung, ebenso wie bei
Vergiftung durch Morphin oder durch verdorbenes Fleisch. Ausserdem ist zu betonen,
dass auch ihr Fehlen nichts gegen die Annahme eines Todes durch Erstickung, auch durch
mechanische Erstickung beweist. Weiter hat man der Ansicht Raum gegeben, dass ein
Vorhandensein von Ecchymosen nicht mit der Annahme eines Todes an Herzparalyse
vereinbar sei. Dem ist entgegen zu halten, dass es sich hierbei sehr wohl um ein nicht
momentanes Erlahmen des Herzens handeln kann, während dessen doch noch Stauungs-
erscheinungen eintreten können, so dass dann also doch eine „Erstickung durch Herz-
lähmung" vorliegt. Im üebrigen ergaben Versuche, die in der Berliner ünterrichtsanstalt
für Staatsarzneikunde mit Strophantin (dargestellt durch Professor Thoms, Berlin) ange-
stellt sind, dass bei diesem unter ziemlich plötzlicher Blutdruckerniedrigung letal wir-
kenden Stoff subpleurale Ecchymosen vorhanden waren. Der rechte Ventrikel war ad ma-
ximum gefüllt, unfähig seinen Inhalt zu entleeren; die Lungen waren fast anämisch,
das ziemlich schlaffe linke Herz bekam von den Lungen naturgemäss kein Blut mehr und
enthielt nur wenig Blut — also ein Herztod — und doch waren, wie bemerkt, Ecchy-
mosen unter der Pleura pulmonalis. Auf die Frage, wie sie entstanden, gehen wir ab-
sichtlich nicht an dieser Stelle ein, aber wir registriren die Thatsache. Eines weiteren für
die Dignität der Ecchymosen als Zeichen des Erstickungstodes sehr in Betracht kom-
menden Umstandes gedenkt Strassmann in seinem Lehrbuch der gerichtlichen Medicin
(pag. 217, Anm. 1), nämlich der älteren subpleuralen Ecchymosen, die sich gelegentlich
bei Autopsien Erwachsener finden können, und die sich als nicht mehr aus Blutkörperchen,
sondern aus Blutpigment bestehend erweisen. Aus diesen Befunden geht jedenfalls hervor,
dass nicht nur als eine Theilerscheinung des Erstickungstodes Ecchymosen auftreten
können, sondern dass sie auch ein Product lediglich vitaler Zustände sein können,
das unmöglich der Deutung als Zeichen des Erstickungstodes anheim fallen kann. Und
zuletzt sei noch hingewiesen auf die Beobachtung Haberda's, der Ecchymosen an den
Conjunctiven unter dem Einfiuss künstlich forcirter Hypostase auftreten sah. Erinnern
wir uns jetzt daran, dass die Ecchymosen hauptsächlich an der Hinterseite des Herzens
und der unteren Fläche der Lungen in gewisser Ausdehnung gefunden werden, so wird
es uns nicht gezwungen erscheinen, zum mindesten in der Vergrösserung schon vorhan-
dener Ecchymosen, vielleicht aber auch in dem Entstehen von Ecchymosen überhaupt im
Bezirk hypostatischen. Abschnitts von Lungen und Herz eine analoge Erscheinung zu
finden.
Wir haben vorstehend die Lehre von der Erstickung ganz so wieder-
gegeben, wie sie sich in den Lehrbüchern der gerichtlichen Medicin dar-
gestellt findet, und wie sie auch praktisch allgemein von gerichtsärztlicher
Seite Anwendung findet. Wir wollen dieses Capitel aber nicht beschliessen,
ohne unserem principiell abweichenden Standpunkte Ausdruck verliehen zu
haben, der, wie wir gleichzeitig bemerken wollen, nicht allein der unsrige ist,
sondern der von maassgebenden neueren gerichtlich-medicinischen Schrift-
stellern ersichtlich getheilt wird.
Unsere Einwendungen betreffen zunächst die Definition der Erstickung.
Wie eingangs hervorgehoben wurde, versteht man unter Erstickung nicht
nur die primäre mechanische Erstickung mit ihren Unterarten, sondern auch
die secundäre Erstickung infolge mangelhafter Blutzufuhr zu dem Terri-
torium des respiratorischen Gaswechsels infolge Herzlähmung u. a. m. Wir
unterlassen es, alle die verschiedenen Möglichkeiten aufzuzählen, die diese
Bedingungen schaffen können; es würde zu weit führen; wir verweisen hiebet
TODESARTEN, GEWALTSAME. 759
nur auf die der Abhandlung vorangestellte Erörterung. Aber, so fragen wir
nun weiter: was bleibt denn da überhaupt noch übrig V Welche Todesursache
lässt sich denn eigentlich bei dieser uferlosen Definition nicht unter der
Rubrik Erstickung unterbringen V Aufhebung des respiratorischen Gaswechsels
beendet stets wohl das Leben an erster oder letzter Stelle.
Vieles spricht ja für die Einheitlichkeit all der angelührten, zum Tode
führenden Krankheitszustände. Zunächst die dem Tode vorangehenden Er-
stickungserscheinungen. Wie sie beim Zuklemmen der Trachea des Versuchs-
thieres sich abspielen, so treten sie gewiss auch ein bei den übrigen mecha-
nischen Erstickungsarten, und auch, was bisher kaum in dieser Weise betont
worden ist, beim Tode durch Herzlähmung, durch Verblutung u. a. Bezüglich
der Verblutung sei nur an die „Verblutungskrämpfe" erinnert; und betreffs
der Herzlähmung lehrt die Beobachtung am Krankenbett, wie auf das Auf-
hören des Herzschlages wohl dyspnoische Athembewegungen oder convulsive
Zustände folgen, ganz so wie wir es oben geschildert haben, als wir nicht
hervorzuheben unterliessen, dass bei geschwächten Individuen die Aufeinander-
folge und Dauer der Erstickungserscheinungen eine oft nur angedeutete sei.
Die unter unserer Mitwirkung angestellten Versuche mit Strophantin (s. o.),
über welche A. Schultz alsbald ausführlich berichten wird, zeigen weiter,
wie, nachdem der Blutdruck auf 0 gesunken ist, Krämpfe, Athempause und
terminale Athembewegungen eintreten. Für die Einheitlichkeit des Erstickungs-
begriffes spricht auch der Leichenbefund. Mag die Cyanose auch nur bei
nicht ganz acut verlaufenden Erstickungen besonders stark sein (die stärkste
Cyanose, welche wir beobachten konnten, zeigt Fälle von congenitalem
Herzfehler mit sogenannter Blausucht und von gewaltsam Gestorbenen, ein
durch den Fahrstuhl gequetschter, an dem Vollzug der Athembewegungen
verhinderter junger Mensch), mag das Blut auch nur bei ganz schnell ab-
laufenden Erstickungsfällen flüssig sein, bei langsam verlaufenden dagegen
nicht, mag das Zustandekommen von Hyperämien der inneren Organe und
der Ecchymosen an die verschiedensten Umstände geknüpft sein — bei einer
grossen Anzahl Fällen von Erstickung in obigem Sinne werden wir auch den
bis zu einem gewissen Grade typischen Leichenbefund erheben können. Aber
w^as sagt uns dies alles? Wir erfahren nur, dass der Untersuchte an Er-
stickung d. h. Aufhebung des respiratorischen Gaswechsels gestorben ist; es
sagt uns dies alles — oder nichts. Die erwähnten Erstickungserscheinungen und
der Leichenbefund sind eben bis zu einem gewissen Grade allen Todesarten
überhaupt gemein und die Diagnose, die uns im Gutachten entgegen klingt,
„Erstickung", besagt schliesslich weiter nichts, als dass der Untersuchte
todt ist.
W^ir sind demnach nicht in der Lage, den Erstickungsbefunden etwas
specifisches zuzuerkennen, und wir glauben weiter, dass es ganz diesen Ver-
hältnissen entspricht, wenn Strassmann vorschlägt, an Stelle des Gutachtens:
„der p. N. ist an Erstickung gestorben; eine Ursache der Erstickung hat die
Section nicht ergeben" — zu sagen: „Die Section hat eine bestimmte Todes-
ursache nicht ergeben." Es entspricht dem richterlichen Zweck der Section
am ehesten, wenn wir bei dem Richter mit unserer Diagnose „Erstickung"
nicht falsche Vorstellungen wachrufen. Und unter Erstickung versteht der
Richter nur den Tod durch Luftabschluss in irgend einer Form.
In seiner bekannten Arbeit „Zur Lehre vom Erstickungstode" (Viertel-
jahrschrift für gerichtliche Medicin etc. 1867) hat Skrzeczka die Alternative
aufgestellt, entweder den Begriff Erstickung ganz weit zu fassen, aber durch
specielle Formulirung des Gutachtens der Diagnose eine bestimmte Richtung
zu geben, oder aber Erstickung nur zu diagnosticiren, wenn wir neben den
sogenannten Zeichen des Erstickungstodes die Einwirkung einer erstickenden
Ursache feststellen können. Wenn wir nun nicht in der Lage sind, den
760 TODESARTEN, GEWALTSAME.
Zeichen des Erstickungstodes eine Specifität zu concediren, so erübrigt für
uns erstens: den Begriff der Erstickung thatsächlich auf den Abschluss der
atmosphärischen Luft in irgend einer Form zu begrenzen, und zweitens:
der Kenntnis dieser abschliessenden Ursachen (inneren und äusseren), ihrer
vitalen Eeaction u. s. w. unsere ganz besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Sind wir nur über diese im Klaren, dann werden wir auch entsprechend dem
Sprachgebrauch diejenige Todesart Erstickung nennen können und dürfen,
die wirklich durch Abschluss der athembaren Luft zum Exitus geführt hat.
Wenn wir aber weiter überdies die bekannten sogenannten Zeichen des Er-
stickungstodes antreffen, so gilt von ihnen das, was Brouardel von den Hy-
perämien sagt (Pendaison p. 17 ff'.): „Notez le fait, et ne tirez pas de cette con-
gestion des conclusions sans rapport avec sa valeur reelle" — und von den
Ecchymosen: ,,Signalez-les, interpretez leur valeur, mais n'en faites jamais un
signe pathognomique: vous n'en avez pas le droit." g. puppe.
Im Anschluss hieran w^ollen wir nun die einzelnen Formen der Er-
stickung näher besprechen.
a) Der Tod durch Erhängen. Der Tod durch Erhängen kommt dadurch
zustande, das ein um den Hals gelegter und an irgend einem fixen Punkte
befestigter Strang durch die eigene Schwere des an ihm mehr oder weniger
frei schwebenden Körpers zugeschnürt wird. Der Strang ist in den meisten
Fällen ein richtiger Strick, etwa ein Stück Zeugleine oder dergleichen, kann
aber auch der allerverschiedensten Art sein: ein Hosenträger, ein Ledergurt,
ein Handtuch, eine Serviette oder dergleichen; mancher Gefangene hat sich an
bandartigen Streifen erhängt, die er aus seiner Kleidung gerissen, und gele-
gentlich ist auch ein Stück Draht aus Eisen, Kupfer oder Messing benutzt
worden. Die Befestigung des Strangwerkzeuges geschieht meist an einem
nagel- oder hakenartigen Vorsprung an einer Wand oder an der Zimmerdecke,
an einer Fensterkrampe oder Thürklinke, am Griffe der Ofenthür, an einem
Dachsparren oder an einem Baumaste. Für den Erfolg ist es ohne Belang,
ob der Körper wirklich frei hängt, und somit mit der vollen Last des ganzen
Leibes in der Schlinge hängt, oder ob er irgendwie unterstützt wird, etwa mit
den Füssen oder Knien oder gar mit dem Gesässe den Boden berührt. Somit
können Erhängte in den allerverschiedensten Stellungen aufgefunden werden:
wirklich frei hängend, stehend, knieend, sitzend, hockend, ja sogar liegend.
Letztgenannte Stellung wird z. B. beobachtet, wenn ein Selbstmörder die um
den Hals gelegte Schlinge am Bettpfosten befestigte und dadurch zur Zu-
schnürung brachte, dass er seinen auf dem Bette liegenden Körper soweit wie
möglich von dem Pfosten hinwegschob. Vielfach verschieden ist auch die Art
der Befestigung des Strangwerkzeuges am Halse.
Die meist benutzten Methoden sind folgende zwei: Das eine Ende des Stranges wird
zu einer kleinen Oese geschlungen und durch diese das andere Ende desselben vor dessen
Befestigung am Aufhängungspunkte hindurchgezogen; dabei entsteht eine regelrechte
Schlinge, die in einfacher Lage um den Hals gelegt wird. Bei der zweiten Befestigungsart
■wird aus dem zweifach zusammengelegten Strick eine Schlinge gebildet, die den Hals in
doppelter Lage umfasst. Bei diesen beiden Arten der Anlegung ist der Strang zu einer
wirklichen Schlinge geschlossen, so dass der Hals in seinem ganzen umfange ohne Unter-
brechung mit dem Strangwerkzeuge in Berührung liegt. Bei anderen Arten der Anlegung
ist die Schlinge nicht völlig geschlossen; so kann z. B. nur der vordere Theil des Hals-
umfanges mit dem Stricke in Berührung sein, die Nackenpartie dagegen von ihm ganz un-
berührt bleiben, indem der Strang, welcher hinter den Kieferwinkeln eine Stütze gegen das
Abgleiten findet, von diesen aus aufwärts nach dem behaarten Kopfe zieht. Oft auch werden
die beiden Enden des mit seiner Mitte um den Hals gelegten Stranges zu einem Knoten
verschlungen, welcher dann entweder dicht dem Halse anliegt oder von ihm mehr oder
minder weit entfernt bleibt, wodurch wiederum die Schlinge am Halse geschlossen oder
offen erscheint. Berührt der Knoten den Hals, so kann dieses an verschiedenen Stellen
geschehen : vorn oder hinten oder rechts oder links, wodurch natürlich die Haltung des
Kopfes wesentlich beeinflusst wird. Liegt der Knoten im Nacken, so berührt das Kinn die
Brust, liegt er vorn am Kehlkopfe, so wird das Kinn durch den Strang nach oben und
TODESARTEN, GEWALTSAME. 761
das Hinterhaupt in den Nacken gedrängt. Natni'gemäss ist der Körper durch seine Schwere
bestrebt, in der Schlinge soweit wie möglich nach abwärts zu rutschen; infolge dessen um-
fasst der Strang stets die höchsten Partien des Halses, so dass er an dessen vorderer
Seite fast immer oberhalb des Kehlkopfes zu liegen kommt. Aus demselben Grunde ver-
läuft der Strang für gewöhnlich nicht wirklich horizontal um den Hals, sondern zieht von
einer tiefsten Stelle an dem letzteren nach einer höchsten empor. Nur unter ungewöhn-
lichen Verhältnissen werden wir bei einem Erhängten den Strick genau horizontal den Hals
iimfassen sehen, nämlich blos dann, wenn der Körper in einem rechten Winkel zum Auf-
hängungsstrange horizontal gelagert war.
üie Beachtung dieser Verhältnisse ist zuweilen von Wichtigkeit für die
Unterscheidung eines Erhängungs- von einem Erdrosselungstode, bei welch'
letzterem, wie wir später sehen werden, eine mehr horizontale Lage des
Strangwerkzeuges am Halse typisch ist.
Die Mechanik des Erhängung stodes ist keineswegs so einfach,
wie man früher wohl allgemein angenommen hat. Man glaubte ehedem, der
Tod werde lediglich durch Erstickung infolge des Zupressens von Kehlkopf oder
Trachea herbeigeführt; vielfach dachte man auch an ein Abbrechen des Zahn-
fortsatzes des zweiten Halswirbels, und an eine Zerquetschung des in seinem
Bereiche gelegenen Theiles des verlängerten Markes. Durch das Studium des
anatomischen Befundes an Halbschnitten gefrorener Cadaver von Erhängten
(Langreuter) ist man neuerdings dahin belehrt worden, dass das strangulirende
Werkzeug den Zungengrund nach oben drängt, und dass die fest gegen
Gaumen und hintere Rachenwand gepresste Zunge, die zudem den weichen
Gaumen gegen das Dach des Nasenrachenraumes drückt, einen vollständigen
Verschluss über dem Kehlkopfeingang herstellt. So sind allerdings alle Vor-
bedingungen für das Zustandekommen des wirklichen Erstickungstodes ge-
boten; aber dennoch haben wir Grund, anzunehmen, dass wir es bei dem Er-
hängungstode nicht mit einer reinen Erstickung zu thun haben.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass das strangulirende Werkzeug eine Com-
pression der. grossen Halsgefässe bewirken und jederseits^die Vena jugularis und Arteria
carotis mehr oder weniger vollständig verschliessen wird. Dazu kommt fernerhin, dass
auch der mit den genannten Gefässen in einer gemeinsamen Bindegewebsscheide verlaufende
Nervus vagus durch den Druck des Stranges zunächst intensiv gereizt, dann aber sehr
schnell gelähmt werden muss. üeber die Folgen dieser Einwirkung auf den functionell
ungemein wichtigen Nerv ist- Genaueres zur Zeit nicht sicher festgestellt, doch dürfen wir
annehmen, dass insbesondere die Lähmung der die Herzthätigkeit beeinflussenden Vagus-
fasern durch Störungen der Herzbewegung den Eintritt des Todes begünstigen und be-
schleunigen dürfte. Der Grad dieser Beeinflussung des Nervus vagus, sowie des Gefäss-
verschlusses, und die Frage, ob solche Einwirkungen beiderseits oder auf nur einer Seite
zustande kommen können, hängt naturgemäss in erster Linie von der Anlegung des
Strangwerkzeuges am Halse ab, aber auch von der Schwere des die Zuschnürung bewir-
kenden Gewichtes. Jedenfalls wird durch die Compression der grossen Blutgefässe plötzhch
die Speisung des Gehirnes mit frischem sauerstoffhaltigen Blute so eingreifend geschädigt,
dass ausnahmslos eine momentan eintretende Bewusstlosigkeit die Folge ist.
Die Richtigkeit dieser Annahme wird durch mehrere einwandsfreie Be-
weise dargethan; einmal sprechen dafür die übereinstimmenden Aussagen aller
vom drohenden Strangulationstode Erretteten; sie alle versichern, dass sie von
dem Augenblicke an, da sich die Schlinge fest um ihren Hals gelegt, das
Bewusstsein verloren und absolut nichts mehr gefühlt haben; dafür spricht
zweitens auch die Thatsache, dass man es noch niemals beobachtet hat, dass
ein sich Erhängender sich wieder aus der einmal zugeschnürten Schlinge be-
freit hätte, obgleich es dazu in vielen Fällen, wenn z. B. die Füsse den
Boden berührten, nur dessen bedurft hätte, sich aus der hängenden Stellung
wieder aufzurichten, was doch bei erhaltenem Bewusstsein keinerlei Schwie-
rigkeit hätte machen können. Bei jeder anderen Art des Selbstmordes kommt
es bekanntlich unzählige Male vor, dass dem Lebensmüden sein Entschluss
noch während der Ausführung leid wird, dass er davon Abstand nimmt, so-
bald sein Unternehmen ihm Schmerz oder Todesangst zu bereiten anfängt;
allein bei einem sich Erhängenden ist dies noch niemals vorgekommen! Von
der Einwirkung, welche das Strangulationsband auf die Blutgefässe ausübt,
762 TODESAETEN, GEWALTSAME.
zeigen auch die späterhin noch zu erwähnenden, ziemlich häufig beobachteten
Zerreissungen in der Tunica intima der Arteriae carotides, die fast immer
im Bereiche derjenigen Stellen gelegen sind, auf welchen der Druck des
Stranges lastete; und das thatsächliche Bestehen einer intensiven Compression
der Carotisarterien hat E. v. Hopmann*) experimentell nachgewiesen: es ge-
lang ihm nicht, selbst unter Anwendung hohen Druckes eine in die Arterie
eingebrachte Flüssigkeit über die Stelle des Aufhängungsstranges hinweg zu
bewegen.
Der Leichenbefund bei Erhängten bietet zumeist einige unver-
kennbare charakteristische Anzeichen für die besondere Todesart dar. In
früheren Zeiten pflegten die Gerichtsärzte ein gewisses Gewicht auf das Aus-
sehen des Gesichtes zu legen; man betonte das Bestehen einer auffallend
cyanotischen Färbung desselben, ein deutliches Hervorgequollensein der Aug-
äpfel und eine starke Injection der sichtbaren Schleimhäute, zumal der Augen-
bindehäute, mit Blut. Heutzutage wissen wir, dass diese Anzeichen an der
Leiche zumeist fehlen. Allerdings können sie während des Todeskampfes vor-
handen sein, aber doch auch nur dann, wenn die Compression des Halses die
oberflächlicher gelegenen und dünnerwandigen Venen bis zu völliger Undurch-
gängigkeit für das Blut zuschliesst, während die geschützter gelagerten Arte-
rien mit ihren stärkeren und widerstandsfähigeren Wänden noch Blut in den
Kopf einfliessen lassen. Bei der unter diesen Verhältnissen sich ausbildenden
starken Blutstauung unter hohem Drucke kommt es dann auch häufig zu
Zerreissungen kleinster Blutgefässe, zumeist in den Conjunctivae der Augen,
aber auch auf den Schleimhäuten der Mund-, Nasen- und Rachenhöhle, sowie
gelegentlich auch in den Gefässschlingen der Hautpapillen in der Gesichts-
oder Halshaut. Wo jedoch zufolge der Lagerung des Stranges am Halse auch
die Arterien fest geschlossen werden, kann eine so hochgradige Stauung
überhaupt nicht zustande kommen. Ist sie während der Agonie vorhanden
gewesen, so schwindet sie doch hinterher wiederum, derart, dass in den meisten
Fällen das Gesicht eines Erhängten sich von dem einer anderen Leiche nicht
auffällig unterscheidet. Die vorhin beschriebenen Ecchymosen aber bleiben,
da sie ja auf wirklichen Blutaustritten in das Gewebe beruhen, auch späterhin
bestehen, ja sie können sich durch späteres Nachsickern des bekanntlich ge-
rade bei Erstickten flüssig bleibenden Blutes noch sichtlich vergrössern.
Charakteristisch für den Tod durch Erhängen sind sie indessen keineswegs,
da sie, wie in dem Capitel über die Erstickung im allgemeinen näher ausge-
führt ist, einen ziemlich constanten Befund bei allen Erstickungsleichen bilden.
Etwas für den Erhängungstod Charakteristisches wurde ferner früher vielfach in
einer eigenthümlichen Ausbildting und Anordnung der Todtenflecke gesucht. Bekanntlich
bleibt gerade in den Leichen Erstickter das Blut flüssig; es kann also in weit stärkerem
Maasse als in gewöhnlichen Leichen in die abhängigen Partien des Körpers hinabsickern.
So liegt es auf der Hand, dass sich an der freihängenden Leiche eines Erhängten, der
längere Zeit am Strange geblieben ist, ungewöhnlich stark ausgebildete Senkungshyperämien
in den unteren Extremitäten finden müssen, in die ja das Blut fast aus dem ganzen
Körper hineinsickert, ebenso wird sich alles in den Oberextremitäten befindliche Blut in
den herniederhängenden Händen sammeln, sowie das Blut in den Hautpartien des Kopfes
sich über dem Strange am Halse anstauen wird. Selbstverständlich aber ist diese An-
ordnung der Todtenflecke nicht durch den Erhängungstod bedingt. Wird die Leiche eines
aus anderer Ursache Verstorbenen gleich nach dem Tode frei aufgehängt, so wird sich
bei ihr dieselbe Anordnung der Hypostasen ergeben, und andererseits wird die Lage der-
selben bei einem Menschen, der sich in liegender Stellung erhängte, von der bei einer
gewöhnlichen Leiche nicht abweichen. Somit sind Schlüsse aus der Lage und Stärke der
Todtenflecke stets nur mit grosser Vorsicht zu ziehen.
Bei weitem das grösste Interesse für den Gerichtsarzt bieten diejenigen
Befunde an der Leiche eines Erhängten, welche aus der unmittelbaren Ein-
wirkung des Strangwerkzeuges resultiren. In den meisten Fällen hinterlässt
*) E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtl, Med. VL Aufl. 1893. S. 515.
TODESÄ.RTEN, GEWALTSAME. 768
der Strang eine schon äusserlich deutlich sichtbare Spur, die wir gemeinhin
als „Strangfurche", „Strangrinne" oder „Strangulationsmarke" bezeichnen.
Auch betreffs der Strangfurche haben hinsichtlich ihrer forensischen Bedeu-
tung die Anschauungen der Gerichtsärzte gegen früher einen wesentlichen
Wandel erfahren. In den älteren gerichtlich-medicinischen Werken finden wir
zumeist die Anschauung vertreten, das Vorhandensein einer deutlichen Strang-
furche beweise unzweifelhaft, dass das betreffende Individuum „lebend an den
Strang gekommen sei", während man beim Fehlen derselben annahm, dass
der erhängt Vorgefundene erst nach seinem, aus anderer Ursache erfolgten
Tode aufgeknüpft worden sei. Diese Ansicht hat sich als völlig irrthümlich
erwiesen. Vielfache Leichenuntersuchungen und experimentelle Forschungen
haben dargethan, dass einerseits auch bei einem infolge Erhängens Veren-
deten die Strangfurche fehlen kann, wenn z. B. die Strangulation durch ein
sehr breites und weiches Werkzeug bewirkt wurde, und dass andererseits
auch bei einem anderweitig Verstorbenen sich noch einige Zeit nach dem
Tode durch Anlegung eines geeigneten Stranges eine Strangfurche erzeugen
lässt. Für die gerichtsärztliche Beurtheilung des Falles sind namentlich zwei
Gesichtspunkte hinsichtlich der Strangulationsmarke ins Auge zu fassen:
erstens der Verlauf derselben am Halse und zweitens ihre nähere Beschaf-
fenheit, Aus dem Verlaufe der deutlich ausgeprägten Strangfurche lässt
sich feststellen, in welcher Weise das schnürende Werkzeug angelegt gewesen
ist; aus ihm kann man ersehen, ob die Schlinge am Halse vollständig ge-
schlossen war oder nicht, indem im ersten Falle die Furche ohne Unter-
brechung den ganzen Hals umfassen wird, während sie andernfalls nur einen
Theil desselben umgreift, um sich sodann nach oben hin aufsteigend allmählich
zu verlieren. Aus diesem Befunde ergibt .sich sodann, ob die Schlinge vorne
oder hinten, oder ob sie an einer der beiden Seiten offen war, und wo die
tiefste Stelle ihrer Einwirkung lag, die sich naturgemäss der offenen Stelle
gegenüber befinden muss. Ist sie gänzlich geschlossen, so lässt sie gewöhnlich
an einem tieferen und grösseren Eindruck erkennen, an welcher Stelle der
Knoten dem Halse angelegen hatte. Ein mehrfach um den Hals gelegter
Strang hinterlässt daselbst eine doppelte oder mehrfache Strangfurche, zwischen
deren einzelnen Rinnen die Haut sich gewulstet und meist etwas ödematös
geschwollen hervordrängt. Aus solchen Befunden und ihrem Vergleiche mit
der Gesammtsituation des einzelnen Falles oder mit den Eigenthümlichkeiten
des vielleicht vorgelegten Strangwerkzeuges, mit dem die Tödtung geschehen
sein soll, lassen sich häufig die wichtigsten Schlüsse ziehen.
Die Beschaffenheit der Strangfnrche ist naturgemäss in erster Linie abhängig von
der Art des dieselbe erzeugenden Werkzeuges: rauhe Stricke z. B. werden eine erheblich
deutlichere Strangulationsmarke hinterlassen, als ein glattes weiches Seidentuch, ein
schmaler fester Draht wird tiefer und schärfer in die Haut einschneiden als ein breiter
Gurt. Ohne weiteres ist es fernerhin verständlich, dass die Beschaffenheit der Strang-
marke wesentlich beeinfiusst wird durch die Zeit, während welcher das Werkzeug ein-
gewirkt hat, sowie durch die Schwere des Gewichtes, das bei der Zuschnürung der Schlinge
zur Geltung kam. — Dem Aussehen nach unterscheiden wir zwei Hauptformen der
Strangfurche, erstens die weiche, bläuliche oder anämische und zweitens die mumi-
ficirte, harte, lederartige oder braune Strangulationsmarke. Die erstgenannte Beschaffen-
heit wird dann beobachtet, wenn die Einwirkung des Stranges nicht in so brüsker Weise
zustande kam, dass sich dabei Hautabschürfungen ausbildeten, und eine übermässige Com-
pression der getroffenen Theile eintrat; wir sehen sie deshalb vorzugsweise als die Spuren
mehr breiter und weicher Strangwerkzeuge; sehr auffallend ist besonders die blasse Farbe,
die auf der durch die Compression bewirkten Anämie beruht, und die zumeist um so
deutlicher hervortritt, als gewöhnlich die benachbarten Hautpavtien infolge besonders starken
Blutgehaltes eine dunkel rothblaue Verfärbung aufweisen; dieser stärkere Blutgehalt ist
über der Strangfurche regelmässig am stärksten ausgebildet, wird hier durch die sich nach
unten senkenden Blutmengen bewirkt und beruht somit auf reiner Hypostase; die bläuliche
Farbe der weichen Strangmarke erklärt Hofmahist damit, dass die durch stärkeren Druck ver-
dichtete Haut immer eine blaugraue Farbe annehme, und dass hiebei zudem die Eigen-
farbe der tiefergelegenen Muskulatur hindurchschimmere.
764 TODESARTEN, GEWALTSAME.
Die leder- oder pergamentartige Beschaffenheit der Strangfurche wird niemals bei
völlig frischen Leichen beobachtet, sondern bedarf zu ihrer Ausbildung immer erst des
Verstreichens einer gewissen Zeit nach dem Eintritte des Todes; sie ist somit eine echte
Leichenerscheinung. Ihre Entstehung beruht darauf, dass die Epidermis im Bereiche der
Strangfurche durch die mechanische Einwirkung des Stranges abgescheuert, und derart
das Corium freigelegt wird, das sodann infolge von Vertrocknung seines natürlichen Ge-
haltes an Feuchtigkeit die geschilderten Eigenschaften annimmt. Begünstigt wird dem-
gemäss die Ausbildung dieser Form durch eine rauhe, harte und feste Beschaffenheit des
Stranges, sowie durch ein besonders energisches und kräftiges Zuschnüren der Schlinge,
welches nicht allein alles Blut, sondern auch jede andere Flüssigkeit im Bereiche der
Strangrinne aus den Geweben der Haut verdrängt, worauf, zumal nach Entfernung des
Strickes, die Austrocknung der abgeschürften Partien um so schneller erfolgen kann.
Uebrigens beobachtet man häufig die mannigfachsten Combinationen beider Formen an
einer und derselben Strangfurche, indem namentlich an den tiefsten Stellen, wo der Strang
den heftigsten Druck ausübte, die braune, lederartige, in den höhergelegenen Partien da-
gegen mehr die livide Beschaffenheit zu bemerken ist.
Schreitet man in der Untersuchung der Strangfurche von deren blosser äusserer
Besichtigung zur Feststellung des inneren Befundes vor, so bemerkt man nach Durch-
schneidung der Strangmarke und der ihr benachbarten Partieen am Halse zunächst die
auffallende Blutfüllung in der Umgebung, am stärksten ausgeprägt, wie wir bereits sahen,
oberhalb der Ftinne, etwas weniger lebhaft unterhalb derselben. Immer aber ist das Blut
der Hauptsache nach in den Blutgefässen enthalten; oberhalb der Furche haben wir es
demnach lediglich mit einer Senkungshyperämie, mit einer reinen Hypostase zu thun, die
dadurch entsteht, dass das der Schwere nach abwärts fliessende, flüssige Blut durch die
fest zusammengepressten Gefässe im Bereiche der Strangwirkung aufgehalten wird; dagegen
ist die stärkere Blutfüllung unterhalb der Strangmarke die Folge einer Blutstockung, die
auf dem Fehlen der treibenden Kräfte beruht, welche sich nicht durch die zusammen-
gepressten Gefässe der Compressionszone hindurch fortzusetzen vermögen. Wirkliche Blut-
austritte in das Gewebe hinein sind sowohl im Gebiete der Strangmarke als auch in dessen
Umgebung nur selten zu beobachten, und wo sie vorhanden sind, stets nur in geringem
Maasse ausgebildet. Diese Tbatsache erscheint durchaus leicht verständlich, wenn man
bedenkt, dass der ganz plötzlich in voll&r Stärke auftretende Druck durch den sich zu-
schnürenden Strang sogleich alles Blut aus den Gefässen verdrängen muss, und dass bei
der Schnelligkeit, mit der der Tod eintritt, bei der rasch erlahmenden Circulation für die
Ausbildung grösserer Suffusionen gar keine Zeit übrig bleibt. Aus demselben Grunde sind
zumeist auch an den oft vorhandenen Muskelzerreissungen, die insbesondere häufig an den
Musculi sternocleidomastoidei zur Wahrnehmung gelangen, nur ganz minimale Zeichen vi-
taler Reaction zu erkennen. Darum ist es in den meisten Fällen ungemein schwierig fest-
zustellen, ob solche Muskelrupturen noch am Lebenden oder erst nach dem Tode ent-
standen sind, etwa beim Abnehmen der Leiche vom Strange oder sonst bei den Manipu-
lationen mit dem Cadaver, die zwecks Vorbereitung zur Section unumgänglich sind; das
Vorhandensein aus den Gefässen getretenen Blutes an den Rissstellen ist hier nicht allemal
ohne weiteres als während des Lebens geschehen anzusehen, da es bei der flüssigen Beschaffen-
heit des Leichenblutes Erstickter auch in postmortal entstandenen Muskelrissen durchaus mög-
lich erscheint, dass aus mitzerrissenen Blutgefässen reichlichere Mengen Blutes aussickern
und die Rissränder infiltriren können. Von sonstigen Verletzungen an Halsorganen Erhängter
sind des öfteren constatirt worden: Fracturen der Zungenbeinhörner, zumal wenn diese
verknöchert waren, Brüche der Schildknorpelplatten und Zerreissungen der Kehlkopf-
bänder. Nach den Untersuchungen Haumeders entstehen diese Verletzungen zumeist we-
niger infolge des unmittelbaren Druckes vonseiten des strangulirenden Werkzeuges als mehr
indirect durch den Druck und die Zerrung, welche die betreffenden Theile erfahren, in-
dem sie nach oben und hinten an die hintere Rachenwand und gegen die Wirbelsäule ge-
drängt werden. — Ein ziemlich häufiger Befund sind die bereits erwähnten Zerreissungen
der Tunica intima in der Arteria carotis. Diese Zerreissungen sitzen regelmässig im Ge-
biete der unmittelbaren Strangwirkung und sind häufig nur einseitig, öfter aber auch an
den beiderseitigen Carotiden aufzufinden; sie sind stets quer gestellt, d. h. ihr Ver-
lauf steht ziemlich rechtwinklig zur Längsachse des Gefässes, und umfassen entweder nur
einen Theil des Gefässlumens oder auch dessen ganze Peripherie; bisweilen sieht man auch
mehrere gleichartige Risse in geringer Entfernung bis zu einigen Millimetern über einander
angeordnet. Ihre Entstehung ist höchst wahrscheinlich auf das Zusammenwirken zweier
Momente zurückzuführen. Der Druck des strangulirenden Werkzeuges zerrt die Arterie
an der umschnürten Stelle nach oben, während zugleich die Last des ganzen Körpers an
derselben einen starken Zug nach unten ausübt. Wird die Intima schon hierdurch heftig
gedehnt, so steigert der hohe Innendruck des vom Herzen her zu Beginn des Strangu-
lationsactes noch kräftig eingepressten Blutes, das an der Zuschnürungsstelle Halt machen
muss, die Spannung der Innenhaut über deren Widerstandsvermögen hinaus. Dass eine
vorgeschrittene atheromatöse Entartung der Arterienwand das Auftreten solcher Rupturen
begünstigen wird, kann nicht bezweifelt werden, Vorbedingung für deren Entstehung ist
TODESARTEN, GEWALTSAME. 765
sie jedocli keineswegs, wie die Thatsache beweist, dass man diese Zerreissungen auch bei
kräftigen, jugendlichen Personen gesehen hat, deren Blutgefässe durchaus gesund waren.
Alle übrigen Sectionsbel'unde stimmen mit denjenigen übereio, die man
auch sonst an den Leichen anderweitig Erstickter beobachtet; dementsprechend
ist hier auf das Capitel „Erstickung" zu verweisen.
Bei weitem die Mehrzahl aller Todesfälle durch Erhängung wird durch
Selbstmord herbeigeführt. Erhängung infolge unbeabsichtigten, unglücklichen,
Zufalles ist ungemein selten, aber naturgemäss nicht unmöglich. Für die
absichtliche Tödtung eines anderen kann die Methode des Erhängens nur
dann in Betracht kommen, wenn der Angreifer über ein ungewöhnlich grosses
Uebermaass an Körperkräften seinem Opfer gegenüber verfügt; so gehört die
gewaltsame Erhängung von Kindern durch Erwachsene nicht zu den Selten-
heiten; zur Ermordung Erwachsener aber ist das Erhängen im Allgemeinen
so völlig ungeeignet, dass der Gerichtsarzt durchaus berechtigt ist, wo er
einen erwachsenen Menschen, der im Vollbesitz seiner Körperkräfte war, er-
hängt vorfindet, in erster Linie Selbstmord anzunehmen. Nur unter Anwendung
ganz besonders raffinirt getroffener Vorbereitungen könnte es gelingen, einen
vollbewussten und kräftigen Erwachsenen mittels Erhängens zu ermorden; ein
solcher Fall findet sich z. B. in Virchow's Jahresbericht 1890, I, S. 496
mitgetheilt. Unter gewöhnlichen Umständen würde ein derartiger Mord-
anschlag kaum ohne die heftigste Gegenwehr von selten des Ueberfallenen
ausführbar sein, dies aber müsste fast immer deutlich sichtbare Spuren an
dem Körper des Ueb erwältigten zurücklassen. Freilich ist es auch denkbar,
dass sich das Opfer bisweilen von Hause aus in einem bewusstlosen oder
völlig wehrlosen Zustande befinden, oder dass es durch irgend welche be-
sondere Maassnahmen des Mörders in einen solchen versetzt werden kann.
Ein ganz besonderes Interesse für den Gerichtsarzt kommt der Möglichkeit
zu, dass ein Mörder sein irgendwie getödtetes Opfer derart aufhängt, dass
der Anschein eines Selbstmordes erweckt werden soll. Ist in einem solchen
Falle der Tod durch eine traumatische Einwirkung erfolgt, so wird meistens
die Auffindung der tödtlichen Verletzung alle Zweifel lösen. Doch ist auch
in der Beurtheilung derartiger Fälle die allergrösste Vorsicht am Platze.
Es ist nicht unmöglich und des öfteren sicher beobachtet, dass ein Selbstmör-
der, dem der Eintritt des Todes infolge einer selbstgesetzten Verletzung, etwa
durch Stich oder Schuss oder durch Oeffnen der Pulsadern, Schnitt in den
Hals u. dgl. nicht schnell genug erfolgte, sich dann noch erhängte. Kleinere
oder grössere Verletzungen, die leicht den Verdacht erregen können, es
handle sich in ihnen um die Spuren eines stattgehabten Kampfes mit einem
feindlichen Angreifer, können zufällig bestanden haben, oder auch erst wäh-
rend des convulsiven Stadiums in der Agonie durch Schlagen oder Stossen des
Körpers gegen irgend welche Gegenstände, ja auch erst postmortal beim
Abnehmen oder Transportiren des Leichnams entstanden sein.
Ganz besonders schwierig werden kann die Beurtheilung dann, wenn
der Mörder sein Opfer irgendwie anderweitig erstickt und dann, um den
Schein des Selbstmordes zu erwecken, aufgehängt hat. Es erscheint wohl
denkbar, dass unter solchen Umständen die Feststellung des wahren Sach-
verhaltes geradezu unmöglich wird, da alle äusseren und inneren Befunde
der Erstickung mit dem Erhängungstode nicht in Widerspruch stehen. Doch
werden auch in diesen Fällen Zeichen geleisteter Gegenwehr nur selten
gänzlich fehlen, oder aber locale Symptome am Halse auf ein stattgehabtes
Drosseln oder Würgen hindeuten.
b) Der Tod durch Erdrosseln, Der Tod durch Erdrosseln kommt ebenso
wie der durch Erhängen dadurch zustande, dass ein um den Hals gelegtes
Strangwerkzeug zusammengeschnürt wird. Die eigentliche Todesursache
ist auch hier nicht einfache Erstickung, sondern beruht gleichfalls auf
766 TODESARTEN, GEWALTSAME.
dem Zusammenwirken dieser mit der Unterbrechung der Blutcirculation in
den grossen Halsgefässen und der Irritation, welche der Nervus vagus durch
die ihn treffende kräftige Compression erfährt.
Die Mechanik der Erdrosselung unterscheidet sich von der des
Erhängungstodes dadurch, dass die Zuschnürung des Strangwerkzeuges nicht
durch die Schwere des eigenen Körpers, sondern durch eine andere Kraft
erfolgt, meist durch die Hand eines fremden Angreifers, bisweilen unter Zu-
hilfenahme besonderer, mehr oder minder sinnreich erfundener Apparate, die
ein Lockerwerden der festgeschnürten Schlinge verhindern sollen. Auch hier
entsteht unter der Einwirkung des strangulirenden Werkzeuges eine Strang-
furche, für deren gerichtsärztliche Beurtheilung im Allgemeinen ganz die-
selben Gesichtspunkte maassgebend sind, wie für die Strangulationsmarke
beim Erhängten. Etwas besonderes gegenüber jener bietet sie allein hin-
sichtlich ihrer Lage am Halse und bezüglich ihres Verlaufes. Während bei
der Erhängung eines Menschen, wie wir sahen, der Strang regelmässig die
höchsten Partien des Halses umfasst, fehlen hier jene Gründe, die dort ein
Hinaufrutschen des Strangwerkzeuges bedingen. Die Erdrosselungsmarke kann
daher je nach der Anlegung des Stranges in jeder beliebigen Höhe des Halses
verlaufen und gelegentlich genau horizontal um denselben gelegen sein,
was dort niemals der Fall ist; ausserdem ist die Drosselfurche ausnahmslos
völlig geschlossen und im Nacken ebenso deutlich ausgeprägt, wie vorn am
Halse, es sei denn, dass irgend ein schützender Gegenstand, etwa ein Tuch,
ein kräftig entwickelter Vollbart oder dergleichen eine bestimmte Stelle vor
der Einwirkung des Stranges bewahrt hätte.
Erdrosselung durch Unglücksfall ist naturgemäss ungemein selten. In
der Mehrzahl der Fälle handelt es sich um beabsichtigte Tödtung, die nament-
lich häufig an kleinen Kindern, insbesondere an Neugeborenen, ausgeführt
wird. Doch sind auch Fälle von Selbsterdrosselung durchaus nicht so selten,
wie vielfach angenommen wird; freilich wird diese nicht in der Weise aus-
geführt werden können, dass der Selbstmörder die beiden Enden des um den
Hals gelegten Strickes nach entgegengesetzten Richtungen anzieht, da bei
dieser Anordnung des Versuches allemal bei eben eintretender Bewusstlosig-
keit die zuschnürende Kraft erlahmen wird, bevor der Tod eintreten konnte.
Wohl aber kann eine Selbsterdrosselung leicht ausgeführt werden, wenn nur
Fürsorge getroffen ist, dass auch nach dem Verluste des Bewusstseins —
etwa unter Anwendung eines Knebels — die zugeschnürte Schlinge sich nicht
wieder löst.
c) Der Tod durch Erwürgen. Der Tod durch Erwürgen wird im Gegen-
satze zu den Todesarten durch Erhängen und Erdrosseln nicht durch die
Einwirkung eines strangulirenden Werkzeuges, sondern lediglich durch Com-
pression des Halses mittels einer oder beider Hände des Angreifers ausgeführt.
Auch bei ihm haben wir es nicht mit einem reinen Erstickungstode zu thun;
allerdings spielt auch hier der Verschluss der Athemwege eine Hauptrolle;
zustande kommt dieser zum Theil durch wirkliche Zudrückung von Kehlkopf
und Trachea, zum Theil aber auch durch die Empordrängung der Halsorgane
in den Nasenrachenraum hinauf und gegen die Wirbelsäule, wobei dem Luft-
strome insbesondere durch den das Cavum nasopharyngeale geradezu tam-
ponirenden Zungengrund nebst dem in gleicher Weise wirkenden VeJum pala-
tinum der Zugang zu den Athemwegen verlegt wird. Aber auch hier gesellt
sich dazu die Compression der grossen Halsgefässe, wenngleich dieselbe wohl
nur ausnahmsweise so vollständig werden kann, wie bei der Einwirkung eines
strangulirenden Strickes, und als weit eingreifenderes Moment die Wirkung
des brüsken Angriffs auf den Nervus vagus, der hier nicht allein in Gestalt
seines Hauptstranges, sondern zudem auch mit seinen die Halsorgane und
insbesondere den Kehlkopf versorgenden Fasern, speciell dem Nervus laryngeus
TODESARTEN, GEWALTSAME. 767
superior in Betracht kommt. Es ist mehrfach beobachtet worden, dass ein
einmaliges kräftiges Zusammenpressen des Kehlkopfes, bei welchem jedoch
die mechanische UnAvegsamkeit für den athmenden Luftstrom im gleichen
Momente wieder aufgehoben wurde, sofortigen Erstickungstod nach sich zog.
Man konnte diese Thatsache nur als reflectorischen Athemstillstand infolge
der heftigen mechanischen Reizung der in Betracht kommenden Nerven deuten.
Einer ganzen Reihe von Forschern") gelang es, den auffallenden Vorgang
im Thierexperimente nachzuahmen, durch welches auch der Beweis für die
Richtigkeit der Anschauung erbracht wurde, dass es sich hier um einen Retlex-
vorgang handelt, indem augenblicklicher Athemstillstand auch durch ander-
weitige intensive Reizung des Nervus laryngeus superior bei Fernhaltung
jedes mechanischen Athemhindernisses erzielt werden konnte. Dasselbe beob-
achtete man übrigens auch bei Reizung der Endigungen des Nervus recur-
rens (Falk). Gerichtsärztlich ist diese Thatsache ungemein wichtig, da sie die
Möglichkeit feststellt, dass ein Mensch nach einer einzigen und nur einen
Moment lang währenden kräftigen Zusammendrückung des Larynx unter den
Anzeichen der Erstickung sterben kann.
Was die verschiedenen Gelegenheiten anbetrifft, bei welchen die Erwür-
gung beobachtet wird, so ist ein Selbstmord mittels dieser Todesart nur
schwer denkbar und sicherlich ganz ungemein selten zur Ausführung ge-
kommen, denn naturgemäss wird, beim Versuche dazu, fast immer mit dem
Eintreten der Bewusstlosigkeit auch die würgende Hand erschlaffen und damit
die Compression der Halsorgane unterbrochen werden, bevor der Tod ein-
treten konnte. So findet sich in der Literatur auch nur ein einziger Fall " ")
verzeichnet: eine geisteskranke Frau hatte sich derartig neben ihr Bett
niedergekauert, dass ihr Gesicht auf dem Bette lag, wodurch der Luftzutritt
zu Mund und Nase auch dann noch aufgehoben blieb, als sie infolge der
Selbstwürgung mit den eigenen Händen bewusstlos geworden war. — Von
Erwürgung durch Unglücksfall könnte man sprechen, wenn ein Angreifer,
ohne selbst die Tödtung beabsichtigt zu haben, durch einen kräftigen Griff
an den Kehlkopf auf die vorhin besprochene Weise den Tod eines Menschen
herbeigeführt hätte. — In weitaus den meisten Fällen von Erwürgung aber
haben wir es mit beabsichtigter Tödtung zu thun.
Fast regelmässig weist der Leichenbefund bei Erwürgten, ausser den
für den acuten Erstickungstod im Allgemeinen charakteristischen Kennzeichen,
eine Anzahl von Symptomen auf, die auf die specielle Todesart mehr oder
minder deutlich hinweisen. In erster Linie unter diesen stehen die äusseren
Spuren, welche die Einwirkung der würgenden Hand am Halse zurückgelassen
hat, in Form von Hautabschürfungen und von den Fingernägeln herrührender
mehr oder weniger tiefer Kratzwunden, sowie Blutunterlaufungen von recht
verschieden grosser Ausdehnung in deren Umgebung. Aus der natürlichen
Stellung der vom Angreifer zumeist gebrauchten rechten Hand ergibt es sich,
dass man gewöhnlich an der rechten Seite des Halses die durch den Daumen,
an der linken dagegen die durch die übrigen vier Finger verursachten Spuren
bemerken kann. Der umgekehrte Befund würde die Schlussfolgerung recht-
fertigen, dass mit der linken Hand gewürgt w^orden sei. Selbstverständlich
wird der Angegriffene fast immer versuchen, sich der würgenden Hand zu
entziehen und heftige Gegenwehr zu leisten, so dass der Mörder w^ohl selten
mit nur einmaligem Anpacken des Halses und ohne erheblichere Kraftanwen-
dung bei dem Kampfe auf Tod und Leben zum Ziele gelangen kann. Daher
weist der Hals der Leiche auch meistens eine ganze Anzahl von Verletzungen
*) J. Rosenthal; Claude-Bernard; F. Falk; P. Bert u. A. Hofjlann, Lehrbuch der
gerichtlichen Medicin VI Auflage, 1893. S. 559 ff.
**) BmKER, Zeitschrift für Medicinalb., 1888, S. 364 ff.
768 TODESARTEN, GEWALTSAME.
auf, aus deren Lage zu einander aber doch oft noch deutlich ersichtlich ist,
in welchen verschiedenen Stellungen die würgende Hand den Hals gefasst
gehalten hat. In den tieferen Theilen des letzteren weist die Section häufig
Verletzungen nach von mehr oder minder grossen Blutergüssen in sämmtliche
Gewebe bis zu Quetschungen und Zerreissungen der Muskulatur, sowie In-
fractionen und vollendeten Fracturen der Kehlkopfknorpel und des Zungen-
beins. — Die Folgen eines stattgehabten Kampfes können an der Leiche in
Gestalt aller möglichen Verletzungen, unter Umständen auch bezeichnender
Beschädigungen an der Kleidung des Getödteten in die Augen fallen.
d) Der Tod durch Ertrinken. Der Tod durch Ertrinken ist diejenige
Form des acuten Erstickungstodes, welche dadurch zustande kommt, dass der
atmosphärischen Luft der Zugang zu den Athemwegen durch ein flüssiges
Medium verwehrt wird. Es ist hierzu keineswegs erforderlich, dass der ganze
Körper des Ertrinkenden, oder auch nur sein ganzer Kopf, in die Ertrinkungs-
flüssigkeit gerathe, vielmehr genügt es, wenn allein Nase und Mund durch
die Flüssigkeit von der Luft abgeschlossen sind. Somit kann es vorkommen,
dass selbst erwachsene Personen in ganz seichten Lachen ertrinken, wenn
sie derart mit dem Gesichte in eine solche hineingerathen, dass sie dasselbe
nicht mehr aus ihr herauszubringen vermögen; Schwerberauschte, Epileptische
während des Anfalles oder sonst bewusstlos gewordene sind gelegentlich in
einem ganz flachen Graben, ja in einer Pfütze des Weges oder gar in der
eigenen Waschschüssel ertrunken, und naturgemäss fallen Kinder ähnlichen Un-
glücksfällen besonders leicht zum Opfer. Die Natur der Flüssigkeit ist für
den Ertrinkungstod ohne Belang; selbstverständlich spielt hier das Wasser
die erste Rolle, doch ist ein Ertrinken auch in jeder anderen Flüssigkeit
möglich; besonders häufig ereignet es sich in dem flüssigen Inhalte von Dung-
oder Abortgruben, sowie bei Neugeborenen oder noch ungeborenen Kindern
im eigenen Fruchtwasser.
Die näheren Vorgänge, weche sich während des Ertrinkens abspielen, sind vielfach
studirt und namentlich auch im Thierexperimente geprüft worden. E. v. Hofmann ^) unter-
scheidet nach eigenen Beobachtungen und nach den Angaben von F. Falk ^) und Bert •^)
drei Stadien im Verlaufe des Ertrinkungstodes. "Während des ersten Stadiums stellt der
Ertrinkende das Athmen gänzlich ein. Dieses kann auf zweierlei Ursachen beruhen. In
einem Theil der Fälle handelt es sich dabei um einen Eeflesvorgang, ausgelöst durch die
plötzliche Berührung eines grossen Theiles der Körperoberfläche mit einer kalten Flüssig-
keit; dass hierdurch secundenlang andauernder reflectorischer Athemstillsland erzeugt
wird, weiss jedermann aus eigener Erfahrung, der je ein kaltes Bad oder eine kalte Douche
genommen. In anderen Fällen geschieht das Anhalten des Athems theils mehr oder weniger
absichtlich und bewusst, theils mehr instinctiv, indem jedes Geschöpf in der Ertrinkungs-
gefahr von Natur bestrebt ist, sich dem Eindringen der Flüssigkeit in die Athemwege so-
lange wie irgend möglich zu widersetzen. Nach diesen Ausführungen ist es leicht ein-
zusehen, dass das erste Stadium im Verlaufe des Ertrinkungsvorganges nicht absolut con-
stant sein wird, sondern dass es ausbleiben muss, wenn ein Mensch in einem solchen Zu-
stande in die Ertrinkungsgefahr geräth, in dem die Reflexerregbarkeit in höchstem Maasse
abgestumpft und alles Wollen und Denken erloschen ist, wie etwa im schwersten Alkohol-
rausche, während eines epileptischen Anfalles oder dergleichen mehr. Das zweite Stadium
ist dasjenige der Dyspnoe. Wenn infolge der Athemverhaltung das Blut bis zu einem ge-
wissen Grade sauerstoffarm und kohlensäurereich geworden ist, werden durch einen vom
Athemcentrum in der Medulla oblongata ausgehenden Reiz Inspirationen ausgelöst; diese
aber aspiriren nun statt der Luft die Ertrinkungsflüssigkeit in die Athemwege. Durch die
Berührung der Flüssigkeit mit der Schleimhaut des Kehlkopfes und der Luftröhre und
namentlich mit den äusserst empfindlichen Stimmbändern wird auf reflectorischem Wege
jede Inspiration schnell durch eine heftige Exspiration abgebrochen. Die zweite Phase des
Ertrinkungsvorganges ist somit in sehr deutlicher Weise gekennzeichnet durch kurze, flache
Inspirationen, unterbrochen von gewaltigen Exspirationsstössen von bald geradezu krampf-
haftem Charakter; dabei werden reichliche Mengen eines feinblasigen Schaumes aus Mund
und Nase geschleudert, der sich durch die Vermischung der Flüssigkeit mit den in den
ßespirationsorganen noch vorhandenen Luftmengen gebildet hat. Zu gleicher Zeit pflegt
^) E. V. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin. VI. Aufl. 1893, S. 567.
^) ViRCHOw's Archiv, Bd. 47. F. Falk, „Zur Lehre vom Ertrinkungstode."
^) Bert, Le^iour sur la Physiologie comparee de la respiration. Paris, 1870.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 769
auch der ganze Körper in allgemeine Convulsionen von bald mehr klonischer, bald mehr
tonischer Natur zu verfallen.
Das dritte Stadium ist das der Asphyxie, während dessen Bewusstsein und Reflex-
erregbarkeit vollständig erloschen sind, und nur noch vereinzelte, in allmählich immer
länger werdenden Pausen auf einander folgende tiefe Inspirationen ausgeführt werden.
Diese ganz zu Ende des Ertrinkungsvorganges sich abspielenden und deshalb als „termi-
nale Inspirationen" bezeichneten Athembewegungen erst sind es, welche die Ertrinkungs-
flnssigkeit tief in die Athemwege aspiriren und die feinsten ßronchialverzweigungen, ja
selbst die Lungenalveolen damit anfüllen; bei jeder derselben wird der Mund krampf-
artig weit aufgerissen und der Körper staik gekrümmt. Das Herz schlägt, während diese
terminalen Athemkrämpfe allmählich immer seltener und schwächer werden und schliess-
lich ganz aufhören, noch eine verschieden lange Zeit hindurch fort. Mit dem Erlöschen
der Herzthätigkeit tritt sodann der Tod ein. Die Dauer des Ertrinkungsvorganges bis zum
Verschwinden sichtbarer Lebenszeichen ist nur kurz, insbesondere die Zeit, während
welcher der Ertrinkende Qual empfindet, beschränkt sich auf Bruchtheile einer Minute.
Das erste Stadium dauert höchstens etwa eine halbe Minute, denn länger vermögen die
meisten Menschen selbst bei ruhiger Körperhaltung den Athem nicht zurückzuhalten; so
wird der Ertrinkende, der doch zumeist lebhafte Bewegungen ausführt, gemeinhin noch
früher zu Inspirationen gezwungen sein. Auch das mit der Empfindung der Erstickungs-
qual und Todesangst verknüpfte Stadium der Dyspnoe dauert nur sehr kurze Zeit, da der
Mangel an frischer Sauerstoffzufuhr zum Gehirne bereits nach einer Anzahl von Secunden
das Bewusstsein schwinden macht. Dagegen kann das Stadium der Asphyxie von längerer
Dauer sein. Es währt vom Nachlassen der reflectorischen Exspirationskrämpfe bis zum Ein-
tritte des Todes. Dieser aber erfolgt nach sehr verschiedenen Fristen. Bekanntlich ge-
lingt es oft, trotz sofort angewandter sachverständiger Rettungsmaasnahmen (künstlicher
Athmung etc.) nicht, einen Ertrunkenen, der nur wenige Minuten im Wasser gelegen war,
ins Leben zurückzubringen, während in anderen Fällen die Wiederbelebungsversuche
manchmal von Erfolg gekrönt werden, nachdem der Verunglückte erstaunlich lange Zeit
im Wasser zugebracht hatte; namentlich trifft diese Erfahrung bei Kindern zu. Individuelle
Veranlagung spielt in diesem Punkte eine grosse Rolle.
Der so beschriebene Verlauf stellt gewissermaassen den Typus des Er-
trinkungstodes dar; von ihm kommen aber mannigfache Abweichungen vor.
Hin und wieder tritt z. B. der Tod plötzlich bereits während des ersten
Stadiums ein, bevor es noch zu einer Aspiration von Flüssigkeit in die Luft-
wege kommen konnte. Wahrscheinlich beruht dieses Ereignis auf einer shock-
artigen Einwirkung — sei es der schnellen und intensiven Abkühlung des
Körpers in kaltem Wasser, sei es der tief erregenden psychischen Einwir-
kung des Schrecks, der Todesangst — auf das Centralnervensystem, welche
plötzlichen, dauernden Stillstand der Athem- und Herzbewegungen verursacht.
Individuell sehr verschieden ist die Dauer und Intensität der terminalen Athem-
bewegungen und Convulsionen, welche in einzelnen Fällen sogar gänzlich aus-
bleiben, ohne dass uns hierfür ein besonderer Grund ersichtlich würde. Für
den Gerichtsarzt ist die Kenntnis dieser Thatsachen von Wert, damit er
nicht etwa bei der Beurtheilung des Leichenbefundes aus dem Vorhandensein
oder Fehlen, resp. aus dem Grade der Aspiration von Ertrinkungsflüssigkeit
in die Luftwege irrige Schlüsse ziehe.
Der Leichenbefund bei Ertrunkenen vereinigt in sich erstens
alle Anzeichen, welche dem Erstickungstode überhaupt eigen sind, zweitens die
besonderen Symptome der Erstickung in einem flüssigen Medium und drittens
— sobald die Leiche eine irgendwie nennenswert lange Zeit in der Ertrin-
kungsflüssigkeit liegen blieb — die Einwirkungen der letzteren auf den todten
Körper. Aufgabe des Gerichtsarztes ist es, in dem Gesammtbilde des Leichen-
befundes diese drei verschiedenen Factoren zu erkennen, und namentlich aus
dem zweiten von ihnen die besondere Todesart zu diagnosticiren. Was die
den Erstickungstod im Allgemeinen charakterisirenden Einzelheiten angeht,
so sei auf das Capitel „Erstickung" verwiesen. An dieser Stelle sei allein
noch bemerkt, dass die sonst bei Erstickten so häufigen Ecchymosen in den
inneren Schleimhäuten und serösen Häuten, sowie in den Augenbindehäuten
bei Ertrunkenen nur selten beobachtet werden, mit Ausnahme allein von
kleinen Kindern, zumal Neugeborenen; bei Erwachsenen werden sie, sofern
dieselben in dünnflüssigen Medien den Tod fanden, nur ganz vereinzelt ge-
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. ^"
770 TODESARTEN, GEWALTSAME.
funden, um so zahlreicher jedoch, je weniger dünnflüssig, je compacter das
Medium war (Schlamm, Abtrittinhalt etc.). Die Erklärung hierfür ist in Fol-
gendem zu suchen. Bei den dyspnoetischen, tiefen Inspirationen des Ertrin-
kungskampfes wird Wasser oder jede andere leichtbewegliche Flüssigkeit
leicht und ohne Widerstand tief bis in die feinsten Bronchien und Alveolen
hinein aspirirt, wobei das flüssige Medium schnell das durch die inspira-
torische Thoraxerweiterung geschafi'ene Vacuum ausfüllt. Ein dickflüssiges,
zähes Medium dagegen kann nur langsam und unter mehr oder minder grossem
Widerstände in die Athemwege eindringen; daher wird das bei den Inspira-
tionsbewegungen entstehende Vacuum durch die aus den peripheren Theilen
her angesaugten Blutmengen ausgeglichen; hierbei aber kommt es zufolge der
damit gesetzten starken venösen Hyperämie aller intrathorakalen Organe zu einer
ungewöhnlichen Drucksteigerung in dem gesammten zugehörigen Gefäss-
gebiete, welche dann hie und da Capillarrupturen herbeiführt; bei neugeborenen
oder noch ganz jungen Kindern können derartige Rupturen bei der grossen
Zartheit und Widerstandsschwäche der Capillaren selbst beim Ertrinken im
Wasser zustande kommen.
Welches sind nun die besonderen Symptome der Erstickung in einem
flüssigen Medium? Die Frage, ob es an der Leiche Zeichen gebe, an denen
man untrüglich erkennen könne, dass das Individuum ertrunken sei, ist
kurzweg zu verneinen. Unter allen gewaltsamen Todesarten ist der Ertrin-
kungstod derjenige, welcher einer zweifellosen Diagnose die grössten Schwie-
rigkeiten bereiten kann. Es existirt nur ein einziges Anzeichen, das mit
einer gewissen Sicherheit für den Ertrinkungstod spricht, nämlich der Nach-
weis der Ertrinkungsflüssigkeit in einer bestimmten Anzahl von Räumen im
Körper. Aber auch dieses Zeichen gilt nicht ohne Ausnahmen, und ist in
jedem Falle nur mit Vorsicht für die Diagnose der Todesart zu verwerten.
Bei dem Befunde einer Flüssigkeit in den sogleich näher zu besprechenden
Körperhöhlen drängen sich naturgemäss zwei Fragen auf; erstens: ist die vor-
gefundene Flüssigkeit von aussen her in den Körper eingedrungen, und haben
wir es nicht vielmehr mit einer aus dem Körper selbst stammenden Flüssig-
keit zu thun? Und zweitens, wenn es gelingt, die Flüssigkeit als eine dem
Körper fremde nachzuweisen, ist dieselbe noch während des Lei)ens in die
Organe eingedrungen, oder fand sie etwa, ganz unabhängig von der speciellen
Todesart, erst in die Leiche Eingang? Behufs Beantwortung der ersten Frage
wird der Gerichtsarzt auf Eigenarten der Flüssigkeit zu achten haben, die
etwa als Ertrinkungsflüssigkeit in Betracht kommen kann; so wird er in der
bei der Leiche vorgefundenen Flüssigkeit auf etwa mit blossem Auge sicht-
bare oder mittels des Mikroskopes erkennbare corpusculäre Elemente fahnden,
in besonderen Fällen vielleicht auch den Nachweis auffallender chemischer
Bestandtheile ins Auge fassen. So hat z. B. in manchen zweifelhaften Fällen
die Auffindung kleiner im Wasser lebender Organismen, von Fragmenten von
Wasserpflanzen, kleiner Algen u. dgl. m. einen sicheren Fingerzeig gegeben;
der Nachweis chemischer Bestandtheile könnte in Frage kommen, wenn fest-
zustellen wäre, ob der Todte an einer Stelle ertrunken sei, an welcher das
Wasser die Abgänge etwa einer Fabrik oder dergleichen aufnimmt, und daher
irgend welche ungewöhnlichen Stoffe enthält. Fehlen derartige Anhaltspunkte
gänzlich, so kann die Entscheidung, ob die Flüssigkeit in der Leiche aus
dem Körper selbst oder von aussen her stammt, geradezu unmöglich werden.
Zwecks Lösung jener zweiten Frage ob die Flüssigkeit unabhängig von der
besonderen Todesart erst post mortem in die Leiche Eingang gefunden, wird
der Gerichtsarzt im einzelnen Falle, sich der Ergebnisse der von einer Anzahl
von Forschern angestellten Untersuchungen — betreffend die Möglichkeit des
postmortalen Eindringens von Flüssigkeiten in die Körperhöhlen menschlicher
Leichen — erinnern müssen.
I
TODESARTEN, GEWALTSAME. 771
Die hier in Frage kommenden Körperhöhlen sind:
a) die Lufträume des Athemapparates,
h) Magen und Darm, und
c) die Paukenhöhle des Gehörganges.
Ad a) Den Befund einer Flüssigkeit in den Athemwegen richtig zu wür-
digen, erfordert grosse Umsicht. Zunächst ist festzuhalten, dass bei zweifel-
losem Ertrinkungstode doch die Athemorgane völlig frei von aspirirter Er-
trinkungsflüssigkeit gefunden werden können. Diese Thatsache beruht auf dem
Umstände, dass es zu einer Aspiration von Flüssigkeit immer erst während
des dritten Stadiums des Ertrinkungsvorganges kommt, nachdem bereits das
Bewusstsein erloschen und die Reflexerregbarkeit im höchsten Grade abge-
stumpft war, während der Tod, wie wir gesehen, bisweilen bereits in einer
der früheren Phasen eintritt, zu einer Zeit, da die Aspiration von Flüssigkeit
in die Luftwege theils willkürlich oder mehr instinctiv, theils reflectorisch
durch heftige Exspirationsbewegungen verhindert wird. Vom gänzlichen Fehlen
aspirirter Flüssigkeit bis zu vollkommener Anfüllung des ganzen Luftröhren-
systems bis in die feinsten Bronchiolen, ja bis in die tiefsten Lungenalveolen
hinein, kommen in der Leiche eines Ertrunkenen alle erdenklichen Grade der
Füllung mit Ertrinkungsflüssigkeit vor, je nach der Dauer und Intensität der
terminalen Inspirationen. Ist dabei alle Luft aus dem Athemapparat durch
Flüssigkeit vertrieben worden, so füllt die letztere auch wirklich als Flüssig-
keit alle Bespirationsräume aus. Dieser Befund jedoch ist ziemlich selten.
Zumeist bleibt ein mehr oder minder beträchtlicher Theil der Athemluft in
den Respirationswegen erhalten und mit ihr vermischt sich die dazu tretende
Ertrinkungsflüssigkeit im heftigen Kampfe der Ein- und Ausathmungen zu
einem mehr oder weniger feinblasigen Schaume. Die Farbe des letzteren
kann je nach der Grundfarbe der Flüssigkeit sehr verschieden sein; geschah
das Ertrinken in ganz reinem klaren Wasser, so ist sie rein weiss. Häufig
wird dieser Schaum bereits vor Eröffnung der Leiche sichtbar; denn wird die
letztere transportirt oder zwecks Entkleidung oder äusserer Besichtigung etc.
hin- und hergewendet, so quillt er oft infolge eines Druckes auf den Brust-
korb aus Nase und Mund "hervor. Später geschieht dasselbe auch unabhängig
von Berührungen der Leiche, indem das durch die in der Bauchhöhle sich
entwickelnden Fäulnisgase in den Brustraum hineingedrängte Zwerchfell die
Lungen zusammenpresst und den Schaum oft in charakteristischer Form
(Champignon d'ecume) ausdrückt. Bei der Section lässt erklärlicherweise der
Grad der in den Athemorganen bestehenden Flüssigkeitsansammlung einen
wesentlichen Einfluss auf den Lungenbefund erkennen, der naturgemäss auch
von der Art, namentlich von der Consistenz der Flüssigkeit abhängig sein
wird. In den Fällen, in welchen der Tod eintrat, bevor noch eine Aspiration
des ertränkenden Mediums zustande kommen konnte, werden die Lungen
durchaus die gewöhnliche Beschaffenheit aufweisen; in anderen wird man nur
geringe Mengen des aus der Ertrinkungsflüssigkeit entstandenen Schaumes in
den obersten Theilen der Luftwege auffinden. Sind dagegen alle unter natür-
lichen Verhältnissen lufthaltigen Räume der Lunge mit Wasser oder gar mit
einer zähen und compacten Flüssigkeit, wie etwa Abtrittinhalt, angefüllt, so
wird sich das in sehr deutlicher Weise schon bei Eröffnung der Brusthöhle
darin zu erkennen geben, dass die gewöhnliche, durch die normale Elasticität
des Lungengewebes bedingte Retraction der Lungen weit geringer ausfällt
oder sogar gänzlich vermisst wird. In den am deutlichsten ausgeprägten
Fällen erscheinen dann die Lungen geradezu aufgedunsen, so dass die normal
scharfen Randtheile stumpf und geschwollen erscheinen, und beim Palpiren
des Organes gewinnt man nicht das gewöhnliche fein knisternde, sondern
vielmehr ein teigiges Gefühl. Die durch die Lungensubstanz selbst gelegten
Sectionsschnitte erweisen dann naturgemäss einen ganz ungewöhnlich grossen
49*
772 TODESARTEN, GEWALTSAME.
Saftreichthum des ganzen Parenchyms, der um so grösser erscheint, je weniger
Luftgehalt in Gestalt eines feinblasigen Schaumes erhalten geblieben ist.
Nach den Untersuchungen von A. Paltauf *) fliesst die reichliche Flüssigkeit nicht
allein aus den mit der Ertränkungsmasse gefüllten Lufträumen, sondern zum Theil auch
aus dem durchschnittenen Zwischengewebe, in welches die Flüssigkeit bereits während des
Ertrinkens selbst aus den Alveolen, theils auf den präformirten Wegen der Kittleisten und
Saftspalten, theils durch kleine Verletzungen in den Alveolarwandungen eindringt, welche
während des heftigen Wechsels zwischen Inspirationen und Exspirationen im zweiten
Stadium des Ertrinkungskampfes entstehen.
Grosse Schwierigkeiten kann es nun aber bereiten, wenn es gilt zu ent-
scheiden, ob die in den Athemwegen aufgefundene Flüssigkeit in diese von
aussen eingedrungen ist, oder ob sie aus dem Körper selbst stammt. Be-
kanntlich sammeln sich bei allen, mit einem langdauernden Todeskampfe ver-
knüpften Todesarten in den Alveolen der Lungen, sowie in den kleineren und
schliesslich auch in den grösseren Bronchien reichliche Mengen von Serum
an, wodurch derjenige Zustand der Lungen geschaffen wird, der als Lungen-
ödem allgemein bekannt ist. Ein stark entwickeltes Lungenödem kann das
Organ in eine Beschaffenheit versetzen, welche dem oben geschilderten Bilde
einer Ertrinkungslunge sehr ähnlich ist. Unter diesen Umständen kann es
geradezu unmöglich werden, allein aus dem Lungenbefunde die Unterschei-
dung zu treffen, ob wir eine Ertrinkungslunge vor uns haben oder nicht, so-
fern ein Ertrinken in reinem Wasser in Frage kommt, da wir bisher keine
sichere Handhabe besitzen, die beiden hier in Frage kommenden Flüssig-
keiten zuverlässig zu unterscheiden. Auch bei einer gewaltsamen acuten Er-
stickung, etwa bei einer Erwürgung oder Erdrosselung, kann das Erlöschen
des Lebens in so protrahirter Weise vor sich gehen, dass es zur Ausbildung
eines erheblichen Lungenödems kommt. Dann findet der untersuchende Ge-
richtsarzt neben allen Zeichen der acuten Erstickung die Lungen so voller
Flüssigkeit, dass ihm sehr wohl ein Ertrinkungsfall vorgetäuscht werden kann.
In derartigen Fällen wird er für die Diagnose der Todesart andere Stütz-
punkte verwerten müssen.
Für den Gerichtsarzt, der nicht selten auch Leichen zu untersuchen
hat, seit deren Tode bereits eine geraume Zeit verstrichen ist, hat auch die
Kenntnis der Thatsache erhebliche Wichtigkeit, dass sich mit fortschreiten-
der Zersetzung der Leiche die soeben besprochenen Verhältnisse in den
Lungen wesentlich ändern. Die in den Lufträumen der Lungen enthaltenen
Flüssigkeiten erfahren im Laufe der Zeit infolge von Imbibitions- und Trans-
sudationsvorgängen eine Ortsveränderung, so dass die Lungen allmählich
trocken werden, während sie zugleich infolge von Fäulnisgasentwicklung wieder
einen gewissen Luftgehalt bekommen. Secirt man eine Leiche in diesem
Stadium, so drängen sich die Lungen in auffallender Weise aus der Brust-
höhle hervor, weil sie entsprechend ihrem geringeren Gewicht auf der in den
Pleurahöhlen sehr reichlich angesammelten Flüssigkeit die höchste Stelle
suchen. Auf dem Durchschnitte erscheinen sie dann um so trockener, je
weiter der gedachte Transsudationsvorgang bereits vorgeschritten ist.
Was nun endlich die Frage betrifft, ob die in den Athemwegen auf-
gefundene Flüssigkeit unabhängig von der besonderen Todesart postmortal
erst in die Leiche eingedrungen sei, so haben zahlreiche Untersuchungen von
LiMAN, sowie auch von E. v. Hofmann**) ergeben, dass Wasser und andere
leicht bewegliche Flüssigkeiten in die obersten Partien der Luftorgane auch
bei Leichen einzudringen vermögen. Stärkere mechanische Einwirkungen,
welche den Brustkorb bei unter Wasser liegenden Mund- und Nasenöff'nungen
zusammenpressen und wieder frei lassen, werden nach Art der künstlichen
*) A. Paltauf: „Ueber den Tod durch Ertrinken." 1888.
**) E. v. Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, VL Auflage 1893, S. 573.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 773
Athmung eine Aspiration von Flüssigkeit zu Wege bringen können, was nament-
lich dann mit zu berücksichtigen wäxe, wenn etwa das Hervorheben der Leiche
aus dem Wasser mit Schwierigkeiten verbunden war. Regelmässig aber bleibt
auch in solchen Fällen das Eindringen von Flüssigkeit nur auf die alier-
obersten Theile der Athemwege beschränkt, so dass ein Zweifel nur in einer
verhältnismässig kleinen Zahl von Fällen statthaben wird. Unter allen Um-
ständen lässt der Befund irgend grösserer Ansammlungen und namentlich
deren Vorgerücktsein bis in die kleineren Bronchien und Bronchiolen mit
grosser Sicherheit auf eine active Aspiration während des Lebens schliessen.
Dasselbe gilt in noch höherem Maasse, wenn man zähe, schwerbeweg-
liche Massen, wie Schlamm u. dgl., in tieferen Partien des Bronchialbaumes
antrifft, da solche naturgemäss noch weit weniger leicht als wässerige Flüssig-
keiten in eine Leiche einzudringen vermögen.
Ad b) Als zweite Stelle, an der er Ertrinkungsflüssigkeit vorfinden kann,
hat der Gerichtsarzt Magen und Darm zu prüfen. Wenn durch die Inspira-
tionen während des zweiten Stadiums des Ertrinkungsvorganges Flüssigkeit
aspirirt wird, regt der von ihr ausgehende Reiz nicht allein jene heftigen
Exspirationen, sondern zugleich auch reflectorische Schluck- und Schling-
bewegungen an. Die Dauer und Intensität derselben ist individuell wieder
sehr verschieden, daher auch die Menge der in Magen und Darm vorgefun-
denen Ertrinkungsflüssigkeit bald grösser, bald kleiner ausfallen muss. Doch
handelt es sich zumeist nur um massige Quantitäten, eine sehr starke An-
füllung des Magens oder Darms mit Ertrinkungsflüssigkeit ist selten. Fast
immer findet sich ein Theil der in den Magen hinabgeschluckten Flüssigkeit
in den Darm hinein weiterbefördert, so dass sie im Duodenum und oberen
Dünndarm angetroffen wird, ja gelegentlich bis ins Ileum hinein nachgewiesen
werden kann. Von praktischem Werte ist die Auffindung einer Flüssigkeits-
menge in Magen und Darm natürlich allein dann, wenn es gelingt, die Iden-
tität der in der Leiche befindlichen Flüssigkeit mit der als Ertrinkungsmedium
in Betracht kommenden nachzuweisen; in den Fällen der Praxis ist das meist
auch nicht schwierig, da ja ein Ertrinken in ganz reinem Wasser kaum je,
oder doch nur sehr selten vorkommt. Ganz reines Wasser freilich würde
naturgemäss nur eine Verdünnung des normalen Magen- oder Darminhalts
bewirken, ohne irgend ein für den Ertrinkungstod charakteristisches Zeichen
erkennen zu lassen. Glückt jedoch der Nachweis jener Identität, so hat der
Gerichtsarzt darin die bei weitem wertvollste Handhabe für die Diagnose des
stattgehabten Ertrinkungstodes. In den Magen zwar können, wie schon Liman
und dann auch Hofmann feststellten, noch ganz geringe Flüssigkeitsmengen
auch nach dem Tode eindringen. Irgend erheblichere Ansammlungen der
Ertrinkungsflüssigkeit im Magen dagegen sprechen schon mit grosser Sicher-
heit dafür, dass sie bei noch erhaltenem Leben durch active Schluckbewe-
gungen in das Organ befördert sind; wo sich aber nennenswerte Quantitäten
derselben gar im Darme vorfinden, da kann jeder Zweifel für ausgeschlossen
gelten, da keiner von allen Forschern die diese Frage studirt haben, ein
postmortales Eindringen von Flüssigkeit in den Darm beobachtet hat*).
Ad c) Als dritter Fundort von Ertrinkungsflüssigkeit in der Leiche
spielten eine Zeit lang die Paukenhöhlen des Gehörorgans eine gewisse Rolle.
Nachdem nämlich Weeden und Wendt behauptet hatten, dass der Befund
eines lufthaltigen Lumens in den Paukenhöhlen eines Neugeborenen beweise,
dass das Kind extrauterin geathmet habe und somit lebend geboren sei, kam
man auf den Gedanken, den Befund in den Paukenhöhlen auch für die Dia-
gnose des Erstickungstodes heranzuziehen, da v. Hofmann und Blumenstock
gelegentlich ihrer behufs Prüfung jener Wreden-Wendt' sehen Ohrenprobe an-
*) Fagerlund, Vierteljahrssclirift für gericMliclie Medicin, 1890, L. IL
774 TODESARTEN, GEWALTSAME.
gestellten Untersuchungen beobachtet zu haben glaubten, dass Flüssigkeiten
niemals bei der Leiche, sondern allein beim Lebenden unter der Mitwirkung
aktiver Schluckbewegungen durch die Tubae Eustachii in die Paukenhöhlen
eindringen könnten. Zahlreiche daraufhin ausgeführte Untersuchungen aber
ergaben, dass die gerichtsärztliche Bedeutung der „Paukenhöhlenprobe" auch
für die Feststellung des Ertrinkungstodes nur gering ist. Bei zweifellos Er-
trunkenen fand man die Ertrinkungsflüssigkeit bald in beiden, bald in nur
einer, bald in gar keiner Paukenhöhle; zudem stellte sich heraus, dass Flüs-
sigkeit nicht selten auch postmortal in die Paukenhöhlen eindringt. Der
Gerichtsarzt wird demnach aus diesem Befunde nur sehr vorsichtige Schlüsse
ziehen dürfen; vor allen Diugen versäume er nie die Prüfung, ob nicht
etwa die in den Paukenhöhlen vorgefundene Flüssigkeit durch ein perforirtes
Trommelfell eingedrungen sei, wobei natürlich der Befund gänzlich wertlos
wäre.
In manchen älteren Werken über gerichtliche Medicin wird zu den be-
sonderen Symptomen des Ertrinkungstodes eine Anzahl von Eigenthümlich-
keiten gezählt, welche die Haut Ertrunkener erkennen lasse. Es wird betont,
dass sich die Haut durch auffallende Kälte und Blässe, sowie durch eine sehr
starke Entwicklung desjenigen Zustandes auszeichne, den der Volksmund als
„Gänsehaut" bezeichnet, und endlich dass die Haut des Penis und des Scrotum,
wie auch im Bereiche der Brustwarzen und deren Höfe auffallend geschrumpft
und gerunzelt erscheine. Die Kälte der Haut wird allerdings regelmässig
beobachtet; sie beruht aber lediglich darauf, dass die in der Haut einer im
Wasser gelegenen Leiche reichlich angesammelte Flüssigkeit bei der Berührung
mit der Luft schnell verdunstet, die zum Uebergange aus dem flüssigen in
den gasförmigen Aggregatzustand erforderliche Wärmemenge zum grossen
Theile der Haut der Leiche entzieht und somit diese erheblich abkühlt.
Naturgemäss spielt sich dieser Vorgang in gleicher Weise bei jeder Leiche
ab, die nach längerem Liegen im Wasser an die Luft gebracht wird. Mit
der Todesart des Ertrinkens hängt er in keiner Weise zusammen. Eine auf-
fallende Blässe der Haut kann nur dann die Leiche eines Ertrunkenen aus-
zeichnen, wenn diese ganz frisch zur Besichtigung gelangt. In solchem Falle
freilich können die Blutgefässe der Haut unter dem Einflüsse der Kälte noch
eine Zeit lang in Contraction verharren, so dass das Blut in die centralen
Theile zurückgedrängt bleibt. Ptegelmässig aber erschlafft nach Ablauf einiger
Zeit der Spasmus der Hautgefässe; dann füllen sich diese, zumal in den ab-
hängigen Theilen, wiederum mit dem flüssig gebliebenen Erstickungsblute,
und es kommt zur Ausbildung der gewöhnlichen Leichenfarbe im Allgemeinen,
sowie ausgeprägter Todtenflecke in den tiefergelegenen Partien. Da die stark
durchnässte Haut einer im Wasser liegenden Leiche den im letzteren gelösten
Sauerstoff' besonders gut zu leiten scheint, und zwar um so mehr, je niedriger
die Temperatur, so pflegen aus kaltem Wasser gezogene Leichen sich sogar
durch auffallend intensiv-hellrothe Todtenflecke auszuzeichnen. — Die Erschei-
nung der „Gänsehaut" beruht auf einer Contraction der musculi arrectores
pilorum, kleiner, in der Haut gelegener, glatter Muskelfasern, deren Zusammen-
ziehuDg eine Aufrechtstellung der Haarbälge und Drüsenmündungen bewirkt,
wodurch deren periphere Enden etwas aus dem Niveau der Haut empor-
gehoben werden. Diese Erscheinung tritt am Lebenden unzähligemale als eine
Reflexwirkung nach plötzlichen Temperaturerniedrigungen der Haut oder durch
nervöse Einflüsse bei Gemüthserregungen u. s. w. auf, und wenn sie an einer
Leiche längere Zeit bestehen bleibt, so ist das allein darauf zurückzuführen,
dass die arrectores pilorum gerade im contrahirten Zustande von der alle
Muskeln befallenden Leichenstarre ergriffen wurden. Es liegt auf der Hand,
dass die Bedingungen hierfür bei einem in kaltem Wasser Ertrinkenden be-
sonders günstig sein werden; aber dasselbe kann bei den verschiedensten
TODESARTEN, GEWALTSAME. 775
anderen Todesarten gleichfalls eintreten. Irgend etwas für den Ertrinkungs-
tod Charakteristisches hat die Gänsehaut darum keineswegs. Ausserdem ist
es sicher beobachtet, dass sie auch postmortal zustande kommen kann, und
zwar unter zweierlei Bedingungen. Einmal dann, wenn eine wasserreiche
Haut ihre Nässe schnell durch Verdunstung verliert, wobei die Haarbälge
und Drüsenmündungen infolge Einsinkens der zwischen ihnen gelegenen Haut-
partien stärker hervortreten, und zweitens, wenn eine noch ganz frische Leiche
einer intensiven Kältewirkung ausgesetzt wird, zu einer Zeit, da die glatten
Muskelfasern trotz des bereits erloschenen animalen Lebens ihre Contractilität
noch nicht eingebüsst haben. So wird sie sich also auch bilden können,
wenn die noch ganz frische Leiche eines irgendwie verstorbenen oder ge-
tödteten Individuums in kaltes Wasser geworfen wird. Auf gleichen Ursachen wie
die Gänsehaut beruht auch das eigenartige Verhalten der Haut im Gebiete
des Penis und Hodensackes, wie auch der Brustwarzen; auch hier ist die Haut
reich an glatten Muskelfasern, die unter denselben Bedingungen wie die
arrectores pilorum sich zusammenziehen und deren Contraction bei der leichten
Verschieblichkeit der Haut auf ihrer Unterlage das geschrumpfte und ge-
runzelte Aussehen jener Theile hervorruft. Somit haben wir es auch hierin
keineswegs mit einem dem Ertrinkungstode eigenthümlichen Zeichen zu thun.
Die letzte Gruppe der an der Leiche eines Ertrunkenen beobachteten
Besonderheiten umfasst diejenigen Folgezustände, welche sich durch die län-
gere Berührung des Leichnams mit der Ertrinkungsllüssigkeit ausbilden. Es
bedarf keines Beweises, dass diese Zeichen in gleicher Weise auch an allen
Leichen Nichtertrunkener sichtbar sein werden, die gleich lange Zeit denselben
Bedingungen ausgesetzt waren. Es handelt sich dabei um Imbibitions- und
Quellungserscheinungen, sowie um Macerationsvorgänge und Modificationen
des Verwesungsprocesses, der sich erklärlicherweise an einem im Wasser lie-
genden Körper etwas anders, als an einem nur der Luft ausgesetzten Leichnam
abspielen wird. Die Quellungsvorgänge treten am deutlichsten an der Epi-
dermis in die Erscheinung und werden um so stärker und auffallender, je
dickere Lagen verhornter Epidermis vorhanden sind. Deshalb sind sie regel-
mässig am stärksten an ■ den Fusssohlen und namentlich an der Ferse zu
beobachten, ferner an der Innenfläche der Hände, und zwar um so mehr, je
häufiger und anhaltender dieselben zu groben Arbeiten benutzt w^urden, daher
regelmässig bei Angehörigen der arbeitenden Classe weit ausgeprägter, als
an den zarten Händen von Individuen aus den feineren Ständen; ferner
häufig auch an den Knieen, namentlich wenn diese vielen mechanischen In-
sulten ausgesetzt waren. Diese Quellungserscheinungen bilden sich unter
Einwirkung der Nässe auch an der Haut des Lebenden, und sind daher wohl
einem jeden, wenigstens in ihren geringeren Graden bekannt. Ihre ge-
richtsärztliche Bedeutung ist um so höher anzuschlagen, als sie nicht
allein mit Sicherheit beweisen, dass der Körper, welcher sie aufweist,
einer intensiven Nässewirkung ausgesetzt war, sondern weil die Höhe
ihres Entwicklungsgrades auch einen annähernden Schluss auf die Zeit-
dauer dieses Einflusses gestattet. Sie können somit für die Beantwortung
der oft wichtigen Frage, wie lange ein Körper im Wasser gelegen hat, be-
deutsame Stützpunkte liefern. Zu berücksichtigen ist hierbei auch die Tem-
peratur des Wassers, da die Quellungsvorgänge um so rascher verlaufen,
unter je höherer Temperatur sie sich abspielen. Deutlich erkennbare Anfänge
derselben sind gewöhnlich bereits nach zwei bis drei Stunden vorhanden,
namentlich an den Fersen, sowie an den Endgliedern der Zehen und Finger;
nach ebensovielen Tagen pflegt die ganze Epidermis an den Fusssohlen, an
den Innenflächen der Hände und an den Knieen ausgewässert, gequollen und
vielfach gerunzelt zu erscheinen, wobei jedoch die gewöhnliche Farbe der
Theile meist noch leidlich gut erhalten ist. Bei noch längerer Einwirkung
776 TODESARTEN, GEWALTSAME.
der Nässe geht jedoch diese Farbe immer mehr verloren, indem die normale
Durchsichtigkeit der Epidermis, welche den röthlichen Farbenton der tiefer
gelegenen Weichtheile durchschimmern lässt, schwindet; dabei wird die Haut
weiss und sieht nach sechs bis sieben Tagen geradezu kreidefarbig aus. Zu
gleicher Zeit lockert sich der Zusammenhang der verhornten Hauttheile mit
dem darunter gelegenen Corium, so dass man etwa vom achten bis zehnten
Tage an die ganze Epidermis mit sammt den Nägeln nach Art eines Hand-
schuhes von Händen und Füssen ziehen kann. Liegt eine Leiche noch länger
im Wasser, so lösen sich die Epidermistheile nicht selten selbständig ab
und das nackte Corium liegt frei zu Tage.
Für den Verlauf der Zersetzungserscheinungen an einer im Wasser liegenden Leiche
ist es von grösstem Einflüsse, ob der Leichnam gänzlich unter Wasser bleibt, oder ob er
an die Oberfläche gelangt, und somit wenigstens zum Theile in Berührung mit der Luft
tritt. Im ersten Falle behalten Macerationsvorgänge die Oberhand. Diese bewirken bei
fehlender Bacterienwirkung in erster Linie einen Zerfall der muskulösen Körpertheile,
während ihnen ausser den Knochen die Bänder und Sehnen, sowie auch die Haut und die
Fettsubstanzen ziemlich lange Widerstand leisten. Die letzteren erfahren dabei oft eine
eigenartige Umwandlung zu einer stearinartigen Masse, die mikroskopisch zahlreiche Fett-
säurekrystalle erkennen lässt. Tritt dagegen der Leichnam an die atmosphärische Luft,
so beginnt unter dem Einflüsse specifischer Spaltpilze schnell die Fäulnis zu überwiegen.
Meistens pflegen die Leichen nur einige Zeit unter Wasser zu verharren, dann aber bald
durch die in ihnen sich bildenden Zersetzungsgase an die Oberfläche gehoben zu werden.
Die Zeit, in welcher dies geschieht, ist durch eine ganze Reihe von Factoren bedingt, unter
denen in erster Linie die Temperatur und Beschafienheit der Flüssigkeit, sowie auch der
Fettreichthum der Leiche eine Rolle spielen. Hinsichtlich der Temperatur ist naturgemäss
die Jahreszeit von wesentlichstem Einflüsse; während im kalten Winter Leichen häufig
Wochen- und monatelang auf dem Grunde eines Gewässers verharren, tauchen sie in der
heissen Jahreszeit meist schon nach einigen Tagen empor. Die Beschaffenheit der Flüssig-
keit macht sich insofern geltend, als die Fäulnis in bewegtem, tiefem und reinem Wasser
weit weniger günstige Bedingungen vorfindet, als in stagnirendem, seichtem Gewässer, das
fäulnisfähiges Material und reichliche Bacterien enthält, oder gar in einer Flüssig-
keit, die selbst eine in Zersetzung begriffene Maasse darstellt, wie der Inhalt einer Dung-
grube, Kloakenjauche oder dergleichen. Ist eine Wasserleiche an die Luft gelangt, so
nimmt die Fäulnis, da die Bacterien in den stark wasserhaltigen, durchweichten und
macerirten Geweben einen ungewöhnlich günstigen Entwicklungsboden vorfinden, einen
rapiden Verlauf; dabei bilden sich schnell grosse Mengen von Zersetzungsgasen, die zumal
an warmer Luft, an Stellen, wo die Haut nur durch lockeres Gewebe mit den tiefergele-
genen Theilen zusammenhängt, also namentlich am Gesichte, am Halse und an den Ge-
schlechtstheilen, durch ein subcutanes Emphysem eine gewaltige Auftreibung bewirken und
zugleich die Körperhöhlen, namentlich die Bauchhöhle in höchstem Maasse ausdehnen.
Dadurch wird die Leiche derart entstellt, dass eine Erkennung der Persönlichkeit bald
nicht mehr möglich ist.
Unter den verschiedenen Gelegenheiten, bei denen der Tod durch Er-
trinken vorkommt, spielen bei weitem die grösste Eolle Unglücksfälle und
Selbstmord. Mord durch Ertränken, an Erwachsenen begangen, ist aus nahe-
liegenden Gründen nur selten und wird fast immer so ausgeführt, dass der
Mörder sein Opfer unversehens ins Wasser stösst an einer günstig gelegenen
Stelle, wo ein selbstthätiges Entkommen aus dem letzteren unmöglich ist. An
Kindern dagegen wird Mord durch Ertränken öfter verübt, zumal werden zahl-
reiche Neugeborene Jahr für Jahr auf diesem Wege beseitigt, besonders
häufig durch Versenken in Dunggruben, Abtritten oder Jauchegräben. Für
den Gerichtsarzt wird die Beantwortung der Fragen, ob ein im Wasser ge-
fundener Leichnam der eines Ertrunkenen sei oder nicht, ferner ob es sich
bei einem Falle von Ertrinken um einen Unglücksfall oder um einen Selbst-
mord handelt, oder endlich ob ein Mord vorliege, noch erschwert durch die
Möglichkeit, dass die Leiche eines anderweitig Verstorbenen, Verunglückten
oder Getödteten mit oder ohne Zuthun eines Dritten ins Wasser gelangt sein
kann. Für die Lösung derartiger forensischer Fragen lassen sich allgemeine
Gesichtspunkte kaum aufstellen, immer wird in solchen Fällen der Gerichts-
arzt alle Einzelnheiten des concreten Falles zu berücksichtigen haben. Nur
an den Leichen Neugeborener gibt es ein zuverlässiges Zeichen, welches mit
Sicherheit erkennen lässt, dass der Körper erst einige Zeit nach erfolgtem
TODESARTEN, GEWALTSAME. 777
Tode ins Wasser gelangt ist, das ist die Mumification des Nabelschnurrestes.
Liegt die Leiche eines Neugeborenen eine Zeit lang an der Luft, so trocknet
der Nabelschnurrest ein und nimmt damit das eigenartige Aussehen des mumi-
ficirten Zustandes an; dieser bleibt in der Folge auch dann erkenntlich, wenn
der Leichnam nachträglich in eine Flüssigkeit gebracht wird. Niemals aber
bildet sich derselbe aus, wenn das Neugeborene noch lebend oder sofort nach
eingetretenem Tode ins Wasser kam. Wo man also an einer im Wasser auf-
gefundenen Leiche eines neugeborenen Kindes einen mumificirten Nabelschnur-
rest vorfindet, da kann man sicher sein, dass das Kind nicht im Wasser seinen
Tod gefunden habe, sondern dass es auf andere Weise ums Leben gekommen,
dann als Leiche noch eine Zeit lang an der Luft gelegen und später erst ins
Wasser geworfen ist. Seine besondere Aufmerksamkeit wird der Gerichtsarzt
der richtigen Würdigung aller an einer im Wasser gefundenen Leiche etwa
vorhandenen Verletzungen zuzuwenden haben. In manchen Fällen wird deren
Umfang und Eigenart das Vorliegen einer Ermordung und die nachträgliche
Einbringung der Leiche ins Wasser zweifellos erkennen lassen; durch letzteres
trachtet häufig der Mörder entweder die Leiche überhaupt zu beseitigen oder
aber den Schein zu erwecken, sein Opfer habe infolge eines Unfalles oder
durch Selbstmord das Leben eingebüsst. Im Uebrigen ist die Zahl der Möglich-
keiten für die Entstehung der verschiedenartigsten Verletzungen ungeheuer
gross. So können sie kurz vor einem Unfall oder vor dem Selbstmorde bei
einer Rauferei, durch einen Sturz oder ähnliches verursacht worden sein; sie
können während des Unfalles selbst oder bei der Ausführung des Selbstmordes
etwa durch einen Absturz oder bei einem Sprunge über ein steiles, felsiges
Ufer, durch Aufschlagen des Körpers auf einen Brückenpfeiler oder dergleichen
zustande gekommen sein; weiterhin kann es sich um die Spuren eines früheren
missglückten Selbstmordversuches handeln, und auch die Möglichkeit eines
„combinirten" Selbstmordes wird gelegentlich in Frage kommen, ist es doch
mehrfach beobachtet worden, dass ein Selbstmörder, um ja seinen Zweck sicher
zu ei'reichen, sich im Bade den Hals durchschnitt oder die Pulsader öifnete,
oder dass sich ein anderer an einer Stelle erschoss, den Leib aufschlitzte,
oder mit einem Degen das Herz durchbohrte, von der sein Körper ins W^asser
stürzen musste. Endlich darf der Gerichtsarzt bei allen Verletzungen niemals
die Möglichkeit von deren postmortaler Entstehung aus dem Auge verlieren.
Im Wasser liegende Leichen M^erden oft durch die Strömung über weite
Strecken rauhen Grundes dahingeschleift, gegen Brücken geworfen, über
Wehre gezerrt und mit Wasserfällen in die Tiefe gestürzt etc. Dass dabei
ausgedehnte Hautabschürfungen und Gewebszerreissungen, ja Luxationen und
Knochenbrüche sich ereignen können, liegt auf der Hand und derartige Lä-
sionen werden um so leichter entstehen, je weniger widerstandsfähig die
Gewebe durch den Fortschritt de? Macerations- und Fäulnisprocesses
bereits geworden sind. Auch durch mancherlei Gethier können die Cadaver
angefressen werden, unter dem die Ratten wohl am häufigsten in Frage
kommen. Behufs Unterscheidung der noch bei erhaltenem Leben entstan-
denen von den postmortal gesetzten Verletzungen wird der Gerichtsarzt die
Läsionen auf das Vorhandensein oder Fehlen vitaler Reactionen, in erster
Linie von Blutergüssen in ihrer Umgebung zu prüfen haben. Bei den vital
entstandenen Traumen M^erden sich solche fast ausnahmslos nachweisen lassen;
die Möglichkeit, dass bei einer Anzahl der soeben angedeuteten Fälle die Zeit
des noch fortdauernden Lebens nach dem Zustandekommen der Verletzung zu
kurz gewesen sei, um eine vitale Reaction noch sich ausbilden zu lassen,
dürfte kaum je praktische Bedeutung gewinnen. — Besondere Schwierigkeiten
kann gelegentlich die Deutung einer an einer Wasserleiche ausgeprägten
Strangfurche machen, indem diese den Gedanken nahe legt, es sei die Leiche
eines Erhängten oder Erdrosselten nachträglich ins Wasser geworfen worden.
Strangulationsmarken rühren manchmal von der Einwirkung eines Strickes
778 TODESARTEN, GEWALTSAME.
her, den sich der Selbstmörder zwecks Befestigung von Steinen oder sonstigen
beschwerenden Gegenständen um den Hals legte, um seinen Körper desto
sicherer unter Wasser festzulegen; doch wird die Marke ebenso entstehen,
wenn eine Leiche in gleicher Weise auf dem Grunde verankert wurde, sobald
das sich bildende subcutane Fäulnisemphysem die Theile des Halses um den
Strang herum auftreibt; dieselbe Wirkung wird auch ein enger Halskragen
hervorbringen können, wie auch sonst festanliegende Kleidungstheile an anderen
Körperstellen ähnliche Eindrücke zu erzeugen vermögen.
3. Der Tod durch Einwirkung unzuträglicher Temperaturen.
a) Der Tod durch Einwirkung abnorm niedriger Temperaturen (Erfrieren).
Der Tod durch Erfrieren nimmt verhältnismässig nur selten das Inter-
esse des Gerichtsarztes in Anspruch. Selbstmord durch Erfrieren ist kaum
je mit Bestimmtheit festgestellt worden, da der Selbstmörder erklärlicher-
weise fast immer irgend eine andere, schneller und namentlich zuverlässiger
zum Tode führende Methode bevorzugen wird. Auch zur Ausführung eines
Mordes kann der Erfrierungstod nur in einer sehr beschränkten Anzahl von
Fällen in Betracht kommen, da für ihn immer eine völlige Hilflosigkeit des
Opfers nothwendige Vorbedingung ist; Erwachsene können daher nur, wenn sie
entweder stark gelähmt oder aber in sinnlos trunkenem oder sonst bewusst-
losem Zustande sind, durch Erfrieren ermordet werden. Beim Erfrierungstode
Erwachsener handelt es sich daher fast ausnahmslos um Unglücksfälle. Gar
nicht selten dagegen werden Kinder und zumal Neugeborene durch Aus-
setzung bei strenger Kälte vorsätzlich getödtet.
Unter normalen Verhältnissen vermag der mit genügender Bekleidung
versehene menschliche Körper sehr bedeutende Kältegrade zu ertragen; das
beweisen die Erfahrungen der Polarforscher, deren manche ohne Gesundheits-
schädigung wochenlang in Temperaturen gelebt haben, die nicht mehr messbar
waren, weil das Quecksilber im Thermometer gefroren war. Mancherlei Ein-
flüsse jedoch setzen die Widerstandsfähigkeit des Organismus gegen die Kälte
stark herab; es handelt sich dabei durchgehends um augenblickliche oder
dauernde Beeinträchtigung der normalen physiologischen Wärmeproduction.
Am stärksten ist demnach die Widerstandsfähigkeit zur Zeit der grössten
Energie der Lebensfunctionen, d. h. bei dem gesunden erwachsenen Körper
im Zustande harmonisch vereinigter körperlicher und geistiger Thätigkeit;
vermindert ist sie in sehr jugendlichem, 'sowie in weit vorgerücktem Alter,
während der Zeit des Schlafes und nach jeder Schwächung des Körpers durch
Krankheiten, mangelhafte Ernährung und starke Anstrengungen, sowie auch
bei Zuständen tiefer seelischer Depression aus den verschiedensten Ursachen.
Kleine Kinder, namentlich Neugeborene, können an Erfrierung zugrunde
gehen, selbst wenn die Temperatur noch erheblich über dem Nullpunkte
liegt. Zu den im Organismus selbst gelegenen Momenten gesellen sich weiter-
hin eine Anzahl äusserer Umstände, die das Zustandekommen des Erfrie-
rungstodes begünstigen. Dass darunter der Mangel an ausreichender Beklei-
dung die erste Stelle einnimmt, ist ohneweiters verständlich. Sehr wichtig
ist betreffs der Bekleidung auch der Punkt, ob die letztere trocken, oder ob
sie feucht oder gar nass ist. Nasse Kleider stellen im Gegensatz zu trockenen
einen guten Wärmeleiter dar, durch den der Körper schnell und intensiv
Wärme abgibt, von welcher ein beträchtlicher Theil zudem behufs Verdunstung
des in den Kleidern enthaltenen Wassers absorbirt wird. Infolge des guten
Wärmeleitungsvermögens des Wassers kann auch ein Mensch den Tod erleiden,
der — NB. bei sicherem Ausschluss der Ertrinkungsgefahr, weil die Athmungs-
wege frei blieben — mit dem grösseren Theile des Körpers im Wasser liegt,
allein durch die intensive Wärmeentziehung; und das auch, wenn das Wasser
TODES ARTEN, GEWALTSAME. 779
noch bedeutend über dem Gefrierpunkt temperirt ist. Zweifellos begünstigt
wird der Eintritt des Erfrierungstodes des weiteren durch den Genuss von
Alkohol; der letztere bewirkt, wie aus der allgemein bekannten, intensiven
Hautröthung bei Trunkenen ersichtlich, eine lebhafte Congestion des Blutes
in die erweiterten Hautgefässe, und damit eine weit über die Norm gestei-
gerte Wärmeabgabe aus dem Blute an die umgebende kalte Luft.
Von den Vorgängen, die sich unter der Einwirkung der Kälte im Organismus ab-
spielen, werden Getässsystem und Circulation in erster Linie und am eingreifendsten be-
einflusst. Wir haben hier zwei zeitlich getrennte Stadien zu unterscheiden, die jedermann
im Winter an sich selbst studiren kann. Geben wir z. B einen entblössten Arm der
Kältewirkung preis, so sehen wir ihn zuerst blass. ja völlig weiss werden; nach einiger
Zeit aber beginnt er sich wieder zu röthen, um allmählich immer dunkler zu werden bis
zu einem blaurothen, lividen Farbenton. Dasselbe spielt sich beim Erfrierungstode im
Grossen ab. Die der niederen Temperatur am unmittelbarsten ausgesetzten peripheren
Körpertheile erfahren anfangs eine energische Contraction der gesammten Blutgefässe, die
auf einem tonischen Krämpfe der in den Gefässwandungen gelegenen glatten Muskelzellen
beruht; hierdurch wird fast der gesammte Blutgehalt aus den peripheren Theilen nach
den inneren Organen zu verdiängt. Es ist wohl denkbar, dass in einzelnen Fällen die
so erzeugte, sehr bedeutende Blutüberfüllung lebenswichtiger Organe, zumal von Herz und
Lungen, allein schon tödtlich werden kann (Herzlähmung, Lungenschlag); zweifellos können
auch, zumal bei Vorhandensein weit vorgeschrittener atheromatöser Processe, Gefäss-
rupturen eintreten und lethale innere Blutungen verursachen (Gehirnapoplexien). Bei
länger andauernder Käliewirkung weicht dieses erste Stadium dem zweiten: die Gefässmus-
kulatur geht aus dem Zustande des tonischen Krampfes gewissermaassen durch Ermüdung
infolge von Ueberanstrengung in den der Lähmung über; infolge dessen kommt es zu
einer weit über die Norm gesteigerten Blutfüllung der peripheren Gefässbezirke. Somit
werden naturgemäss die eben noch strotzend gefüllten inneren Organe wieder weit unter
die Norm ihres Blutgehaltes entledigt: es entsteht eine hochgradige Anämie in Gehirn
und Rückenmark, Langen und Herz, welche auf die lebenerhaltenden Verrichtungen dieser
Organe lähmend einwirkt. Dazu kommt noch, dass sich nunmehr das Blut in den peri-
pheren Bahnen ganz ungemein langsam fortbewegt, theils schon infolge der starken Er-
weiterung der Gefässe, theils aber auch infolge der Abnahme in der Energie der Herz-
thätigkeit; so muss dem Blute bei der niederen Temperatur der Umgebung unverhältnis-
mässig rasch und intensiv seine Wärme entzogen werden, so dass es weit unter die Norm
abgekühlt in die inneren Organe zurückkehrt und auch deren Temperatur bald zu
Graden herabsetzt, die mit dem Fortbestehen des Lebens nicht mehr vereinbar sind. In
diesen Vorgängen haben wir wohl die Hauptmomente für das Zustandekommen des Er-
frierungstodes zu suchen, wenngleich es nicht an Forschern fehlt, die das Hauptgewicht
auf andere Punkte legen, denen wir geneigt sind, eine mehr secundäre Bedeutung zu-
zuschreiben; so stellt Crecchio die ertödtende Wirkung der Kälte auf die Nerven in den
Vordergrund, Horwarth ihren zerstörenden Einfluss auf die Muskulatur u. s. w. Pouchet
machte die Entdeckung, dass durch die Kältewirkung auch im lebenden Körper zahlreiche
rothe Blutkörperchen zerstört werden, und spricht der Menge der zugrunde gegangenen
Hämocythen die erste Rolle für die Prognose hinsichtlich der Lebenserhaltung bei einem
noch lebend aufgefundenen Erfrorenen zu.
Der Leichenbefund bei Erfrorenen bietet nichts besonders
Charakteristisches. Der festgefrorene Zustand ist kein Beweis dafür, dass der
Todte durch Erfrierung zugrunde gegangen ist, da naturgemäss jede Leiche,
gleichviel aus welcher Ursache der Tod erfolgte, in entsprechend kalter Tem-
peratur gefrieren muss. Bisweilen hat man dabei beobachtet, dass der beim
Gefrieren sich ausdehnende Wassergehalt des Gehirns und seiner Häute die
Schädelkapsel in ihren Nähten auseinandersprengte; auch dieser Befund be-
weist nichts für den Erfrierungstod. Die Todtenflecke püegen bei Erfrorenen
infolge der starken Blutfüllung der Hautgefässe auffallend kräftig ausgebildet
zu sein und zeigen meist eine sehr hellrothe Farbe; es scheint, als ob der
Sauerstoff schneller und leichter durch die gefrorenen Gewebe hindurchtreten
könne und in der Kälte intensiver von dem Hämoglobin festgehalten werde;
auch in den inneren Organen findet man das Blut bisweilen — freilich aber
nicht constant — auffallend hellroth, jedenfalls durchgehends weit heller als
Erstickungsblut. Alb. Schmidt nimmt deshalb eine specifische Wirkung der
Kälte auf das Hämoglobin oder ein Zurückbleiben von Sauerstoff im Blute
an. — Solange eine Leiche im gefrorenen Zustande verharrt, geht sie nicht
in Verwesung über; man hat in den Alpengletschern die vereisten Körper ver-
780 TODESARTEN, GEWALTSAME.
UDglückter Touristen nach Jahrzehnten so wohlerhalten aufgefunden, als wäre
der Tod erst gestern eingetreten. Betreffs einer gefrorenen Leiche, welche
unverkennbare Zeichen der Verwesung trägt, kann daher der Gerichtsarzt
mit Bestimmtheit behaupten, dass der Tod nicht durch Einwirkung derselben
Kälte verursacht worden sei, welche die Leiche in den jetzt bestehenden ge-
frorenen Zustand versetzte; natürlich aber ist es darum nicht ausgeschlossen,
dass der Todte zu einer früheren Zeit dennoch den Erfrierungstod gestorben
war; wäre das der Fall gewesen, so ist die anfangs gefrorene Leiche mit der
Einkehr wärmerer Witterung aufgethaut und in Verwesung übergegangen;
neu eintretende Kälte hat sodann die Fäulnis unterbrochen und die Leiche
noch einmal zum Gefrieren gebracht. Bei Beurtheilung eines derartigen
Falles sind demnach auch die vorausgegangenen Witterungsverhältnisse wohl
zu berücksichtigen. Für die häufig wertvolle Feststellung der seit dem Ein-
tritte des Todes verflossenen Zeit ist es von Wichtigkeit zu wissen, dass die
Todtenstarre durch das Aufthauen der gefrorenen Leiche nicht gelöst wird,
sowie dass die Dauer der Starre durch ein während derselben eintretendes
Gefrieren oder Aufthauen oder auch beider Vorgänge nacheinander nicht merk-
lich verändert wird.
h) Der Tod durch Einwwkmig abnorm hoher Temperaturen. (Verbrennung
und Verbrühung; Sonnenstich und Hitzschlag; elektrische Entladungen : Blitz-
schlag, künstliche Quellen elektrischer Energie).
Der Tod durch Einwirkung ungewöhnlich hoher Temperaturen nimmt
verhältnismässig häufig das Interesse des Gerichtsarztes in Anspruch. In
weitaus den meisten Fällen handelt es sich dabei um eigentliche Verbren-
nungen.
Das Wort „Verbrennung" hat im Sprachgebrauche eine zweifache
Bedeutung. Es bezeichnet erstens einen Vorgang und zweitens einen Zustand.
Der Vorgang, den wir so nennen, ist der — meist mit Licht- und immer
mit Wärmeentwicklung verbundene — chemische Process der Vereinigung
irgend welcher Substanzen mit Sauerstoff. Der Zustand, den wir mit dem-
selben Worte kennzeichnen, fasst die Summe aller derjenigen Wirkungen
zusammen, die an einem Körper unter dem Einflüsse ungewöhnlich hoher
Temperaturen zustande kommen. In letzterem Sinne wendet die gerichtliche
Medicin das Wort „Verbrennung" an, indem es damit die durch abnorm hohe
Temperaturen bewirkten Verletzungen des menschlichen (resp. thierischen)
Körpers bezeichnet. Verursacht werden können solche Verbrennungen durch
alle festen, flüssigen und gasförmigen Medien, die Wärme an ihre Umgebung
abgeben. Demgemäss handelt es sich bald um Berührungen mit der offenen
Flamme, bald um solche mit heissen festen Körpern, wie z. B. glühenden
Metallen; bald wiederum mit heissen Flüssigkeiten, wie siedenden wässerigen,
öligen, fettigen Fluidis oder geschmolzenen Metallen, oder mit stark erhitzten
Gasen oder Dämpfen; für die durch heisse flüssige, sowie Dampf- und gas-
förmige Medien verursachten Verletzungen ist besonders auch die Bezeich-
nung „Verbrühung" üblich. In weiteren Fällen entstehen Verbrennungen
durch die Einwirkung der von allen genannten Stoffen ausstrahlenden
Hitze, ohne dass dieselben unmittelbar berührt wurden. Gemäss der Art
ihrer Entstehung gehören hierher, wenngleich bei ihnen von „Verbrennung"
im gebräuchlichen Sinne des Wortes nicht die Rede sein kann, auch die
schädlichen Wirkungen der von der glühenden Sonne ausstrahlenden Hitze;
wir werden dementsprechend in diesem Capitel auch den „Sonnenstich" und
„Hitzschlag" besprechen, soweit er für den Gerichtsarzt von Interesse ist.
Die besondere Art der Entstehung der hohen Temperaturgrade kann sehr ver-
schieden sein. Bei weitem am häufigsten kommen sie zustande bei jenem
als „Verbrennung" bezeichneten Vorgange, d. h. bei dem mit einer gewissen
Intensität vor sich gehenden Processe der chemischen Verbindung irgend
TODESARTEN, GEWALTSAME. 781
welcher Stoffe mit dem atmosphärischen Sauerstoffe. In vielen anderen Fällen
werden sie durch anderweitige mehr oder minder rapid verlaufende chemische
Vorgänge erzeugt, wie z. B. beim Löschen von Kalk oder dergleichen mehr,
und als letzte Quelle für die Entwicklung hoher Temperaturen kommen
elektrische Vorgänge in Betracht, sowohl in Gestalt natürlicher Entladungen,
d. h. des Blitzschlages, als auch in Form von kräftigen Strömen oder Schlägen
aus elektrischen Anlagen von Menschenhand.
Unter den Wirkungen, welche hohe Temperaturen auf den menschlichen Körper
ausüben, haben wir zunächst zu unterscheiden diejenigen, welche sich an der begrenzten
Stelle der unmittelbaren Einwirkung ausbilden, die localen Verbrenmingserscheinungen,
und solche, welche, mehr allgemeiner Natur, den normalen Ablauf der gesammten Lebens-
erscheinungen im Organismus mehr oder minder stören. Hinsichtlich der localen Verbren-
nungserscheinungen kann auch der Gerichtsarzt mit Vortheil die von den Chirurgen unter-
schiedenen vier Grade der Verbrennung auseinanderhalten, die je nach der Intensität der
Hitzewirkung sich ausbilden; von diesen erstrecken sich die ersten drei Grade, 1. die
Hautröthung (Erythem) 2. die Blasen- und 3. die Schorfbildung (Eschara), noch allein auf
die Haut, während der vierte Gra.d, welcher alle weiteren Gewebsveränderungen bis zur
völligen Verkohlung der Weichtheile und Calcinirung der Knochen umfasst, bis in sehr
verschiedene Tiefen reichen kann. Solche Verbrennungen vierten Grades bilden nur selten
den Gegenstand chirurgischer Behandlung, desto häufiger dagegen denjenigen gerichtsärzt-
lichen Interesses, da sie meist bald zum Tode führen. Hinsichtlich der Lebensgefahr nach
Verbrennungen gilt übrigens die Erfahrung, dass weit mehr die Ausdehnung der betroffenen
Körperoberfläche, als die Intensität der Verbrennung den Ausschlag gibt, so dass sich die
Prognose bei einer Verbrennung ersten oder zweiten Grades von erheblicherer Flächenaus-
breitung ungünstiger gestaltet, als bei einer solchen vierten Grades, die etwa einen Fuss
bis zur Calcinirung der Knochen zerstörte. Bezüglich der Flächenausdehnung der Ver-
brennungen lehrt die Erfahrung der Chirurgen, dass, wo die Hälfte der Körperoberfläche
oder mehr betroffen ist, auf die Erhaltung des Lebens nicht mehr zu rechnen ist; auch
bei Betheiligung von über einem Drittel derselben ist es nur ganz ausnahmsweise gelungen,
die drohende Todesgefahr abzuwenden.
Führt eine Verbrennung nicht sofort zum Tode, so folgen die klinischen Erschei-
nungen des gesammten Krankheitsverlaufes keineswegs einem allen Fällen gemeinsamen
Typus. Die Vorgänge freilich, welche sich an den localen Brandwunden abspielen, ver-
laufen regelmässig nach gewissen Gesetzen, die wir hier ausseracht lassen dürfen, da sie
sich in jedem Lehrbuch der allgemeinen Chirurgie eingehend besprochen finden. Hinsicht-
lich der allgemeinen, den ganzen Organismus betreffenden Wirkungen ausgedehnterer Ver-
brennungen aber können wir recht verschiedene Krankheitsbilder beobachten. Bei den
rasch tödtlich endenden Fällen herrscht entweder der Gesammteindruck des schweren
Nervenshocks vor, oder es kömmt zur Ausbildung eines Symptomencomplexes, wie wir ihn
sonst wohl nach intensiven Vergiftungen durch massenhaft resorbirte septische Stoffe sehen
können, nicht selten verbunden mit Hämaturie und Nephritis. Der Tod erfolgt bei acutem
Verlaufe zumeist unter Somnolenz und Delirien. Wo der Krankheitsverlauf anfangs eine
günstige Wendung genommen, da kann doch leicht — zuweilen vielleicht zu einer Zeit, da
man alle Gefahr bereits für beseitigt hielt — schliesslich noch der Tod infolge von Er-
schöpfung eintreten, oder durch Erkrankungen innerer Organe, zumal der Lungen, herbei-
geführt werden; besonders häufig spielen embolische Processe in den Lungen mit ihren
verschiedenen Folgezuständen eine verhängnisvolle Rolle. Dass solche sich gerade nach,
grösseren Verbrennungen leicht ereignen können, ist bei der Anwesenheit ausgedehnter
Herde von abgestorbenen Gewebstheilen ohne weiteres verständlich.
Die Frage nach der eigentlichen Todesursache bei ausgedehnten Verbrennungen hat
von jeher sowohl die Gerichtsärzte, wie auch die Chirurgen und Pathologen lebhaft inter-
essirt, zu vielfachen Studien angeregt und zur Aufstellung einer ganzen Reihe von Hypo-
thesen veranlasst. Unter den letzteren legen die einen auf die gestörte Physiologie der
Haut das Hauptgewicht, während eine zweite Gruppe in erster Linie die Alteration des
Kreislaufes beschuldigt; wieder Andere schreiben Veränderungen in der Beschaffenheit des
Blutes die erste Rolle zu. und eine vierte Gruppe stellt Beeinflussungen des Nervensystems
in den Vordergrund. Wo besonders den Veränderungen der Haut Wichtigkeit beigemessen
wird, da betonen die Einen die hohe Bedeatung der Haut als eines Ausscheidungsorganes
für bestimmte Stoffwechselproducte, deren Zurückhaltung im Körper diesen schnell ver-
giften müsse. Andere beschuldigen als Todesursache die theils durch die Hyperämie der
Haut, theils durch die Entblössung ganzer Hautstrecken von der Epidermis verursachte Stei-
gerung der Wärmeabgabe, welche tiefgehende Störungen in der gesammten Wärmeökonomie
des Organismus hervorrufe. Diejenigen, welche Alterationen im Blutkreislaufe verantwortlich
machen, führen aus, dass infolge der bedeutenden Hyperämie ausgedehnter Hautstrecken
eine Blutarmuth der inneren Theile erzeugt werde, die den Blutdruck so erheblich sinken
lasse, dass er nicht mehr ausreiche, um als normaler physiologischer Reiz die Herzthätig-
keit ungestört zu unterhalten. Zu dieser Hypothese sei gleich hier bemerkt, dass sie
782 TODESÄRTEN, GEWALTSAME.
unseres Erachtens entschieden nur für diejenigen Fälle zutreffend sein kann, in denen
unter der Hitzewirkung die Haut auf weite Strecken stark hyperämisch gemacht worden
ist. Wo dagegen grosse Hautfliächen verschorft und nekrotisirt sind, da kann von einer
Hyperämie der betroffenen Theile keine Rede mehr sein; und gerade diese Fälle mögen es
sein, an denen ältere Aerzte in schärfstem Gegensatz zu der eben erörterten Hypothese
ihre Beobachtungen von „Congestionen nach inneren Organen" anstellen konnten, die sie
ihrerseits für das Erlöschen des Lebens verantwortlich machten*). Von den Vertretern der
Ansicht, dass das Blut der Haaptträger der den Tod herbeiführenden Veränderungen sei,
wird theils auf die Beobachtungen von Max Schulze und Rollet**) hingewiesen, welche
bei Erwärmung lebenden Blutes auf dem heizbaren Objecttische schon bei einer Tem-
peratur von gegen 50° C an ein massenhaftes Absterben und Zerfallen von Blutkör-
perchen beobachteten; theils wird behauptet, dass das Blut mittels Wasserentziehung so-
vrohl infolge von Verdunstung, wie auch durch reichliche Transsudation bei der Bildung
ausgedehnter serumgefüllter Brandblasen stark eingedickt und damit in verschiedener Weise
functionsuntüchtig werde. Noch andere weisen auf die in der Haut zum Theil auftre-
tende Blutgerinnung und deren Folgen hin, oder machen in erster Linie chemische Ver-
änderungen des Blutes für die tiefgreifenden Störungen des gesammten Körperhaushaltes
verantwortlich, wie z. B. die reichliche Lösung von Hämoglobin aus den zerfallenen rothen
Blutkörperchen im Plasma, oder die starke Ueberladung des letzteren mit fibrinogener Sub-
stanz aus den zugrunde gegangenen Leukocythen; auch darauf wird aufmerksam gemacht,
dass bei ausgedehnten wunden Hautflächen eine Resorption massenhafter septischer Stoffe
nicht ausbleiben könne. Diejenigen, welche Einwirkungen auf das Nervensystem in den
Vordergrund stellen, erklären den Tod zumeist für eine Art von Shockwirkung, ausgelöst
durch die intensive Reizung zahlloser centripetaler Nerven, zumal der Hautnerven. Sonnen-
burg***) erklärt auf Grund sehr eingehender Studien den Tod nach ausgedehnten Ver-
brennungen als die Wirkung eines übermässigen Reizes auf das Nervensystem, der reflec-
torisch eine sehr bedeutende Herabsetzung des Tonus der Gefässe bewirke; durch das
damit gesetzte Sinken des Blutdruckes werden nach seiner Ansicht lethal wirkende Cir-
culationsstörungen erzeugt.
Wir sehen, die Zahl der Meinungen ist gross, und es ist schwer zu sagen, welche
von allen diesen Hypothesen die grösste Wahrscheinlichkeit für sich habe. Unseres Erach-
tens enthält keine von allen die ganze Wahrheit, doch trägt jede von ihnen einen Theil
derselben in sich. Wir meinen, dass sich in den meisten Fällen die eigentliche Todes-
ursache aus einer Mehrzahl neben einander wirkender Factoren zusammensetzt, in der
von allen den angeführten Möglichkeiten bald diese, bald jene die wichtigste Rolle
spielen mag.
Der Leichenbefund bei Individuen, die infolge von Verbrennung
verstorben sind, ist je nach dem Grade der Verbrennung sehr verschieden,
in nicht geringem Maasse aber auch von der besonderen Art der Verbrennung
abhängig, und wesentlich beeinflusst durch die Frist, welche von der Ent-
stehung der Verletzungen bis zum Eintritte des Todes verflossen ist. Dabei
handelt es sich vorwiegend, ja man kann wohl sagen, fast ausschliesslich um
äusserlich wahrnehmbare Befunde. An einer Leiche, welche die höheren
Grade der Verbrennung aufweist, wird die Erkennung der besonderen Todes-
art dem Auge des Sachverständigen keine Schwierigkeiten machen. Kam
dagegen nur der erste Grad der Verbrennung zur Ausbildung, so kann die
Diagnose schwieriger werden. Die am Lebenden so deutliche Hyperämie der
von der Hitzewirkung betroffenen Hautstellen nämlich schwindet an der Leiche
infolge von Hypostase meist so gänzlich, dass die Hautröthung fast völlig
verloren geht, und nur eine gewisse Schwellung der Haut, auf einem intra-
cutanen Oedem beruhend, zurückbleibt. Häufig lassen die zu Lebzeiten hyper-
ämisch gewesenen Hautstellen post mortem eine kleienförmige Abschilferung
der Epidermis erkennen, die gelegentlich Veranlassung zu Verwechslungen
mit verschiedenen Hautaffectionen entzündlicher Natur geben könnte. Da-
gegen bleiben schon die den zweiten Verbrennungsgrad kennzeichnenden,
serumgefüllten Blasen zwischen Corium und Epidermis an der Leiche deutlich
erhalten. Ist jedoch die Anamnese des Falles gänzlich unbekannt, und hat
die Hitze allein ausgedehnte Brandblasen erzeugt, ohne sonst irgendwelche
*) Landerer, Handb. der allgem. chir. Pathologie und Therapie 1890. S. 289.
**) Landois, Lehrb. d. Physiologie; VHL Aufl. 1893. S. 21 ff.
***) Sonnenburg, in Eulenburg's Realencyclopädie der geisammten Heilkunde.
1. Aufl. 1883. S. 496.
TODESARTEN, GEWALTSAME. '^^3
intensiveren Yerbrennungsetfecte geschaffen zu haben, so kann eine irrthüm-
liche Deutung der Blasen — wie etwa die Fehldiagnose auf Pemphigus —
gelegentlich wohl vorkommen. Ebenso können umgekehrt derartige Blasen
anderer Herkunft, etwa bei bestehendem Pemphigus, für Verbrennungsproducte
angesehen werden.
So berichtet z. B. Hofmann*) über einen Fall eigener Erfahrung, in dem sogar die
durch weit vorgeschrittene Fäulnis entstandenen Hautblasen auf der aus einem Dung-
haufen gezogenen Leiche eines neugeborenen Kindes für das Ergebnis einer Verbrennung
erklärt worden waren.
Oft kommen die Brandblasen, sei es schon zu Lebzeiten unter dem Eigen-
drucke der aus dem Corium austretenden Blutflüssigkeit, oder durch mecha-
nische Einflüsse etwa bei Bewegungen des Verbrannten, sei es erst an der
Leiche, beim Aus- oder Ankleiden, Umbetten, Transportiren oder Einsargen,
zum Platzen. Dann läuft ihr seröser Inhalt aus und die abgehobene Epider-
mis fällt zusammen. War nur eine kleinere Oeffnung entstanden, so pflegt
auch in der eingesunkenen Blase so viel Flüssigkeit zurückzubleiben, dass
das Corium unter der auf sie zurückgesunkenen und die Verdunstung ver-
hindernden Epidermis die natürliche feuchte Beschaffenheit bewahrt; wurden
dagegen grössere Partien des Corium gänzlich von der Epidermis entblösst, so
trocknet dasselbe zu einer harten, pergament- oder lederartigen Haut von gelb-
brauner bis dunkel schwarzbrauner Färbung ein, die beim Anschlagen mit
dem Secirmesser tönt. Dieser Befund ist aber keineswegs charakteristisch für
die Verbrennungswirkung, da solche Stellen überall da entstehen, wo das
Corium — gleichviel unter welchen Ursachen — der schützenden Epidermis
entkleidet wurde.
Verbrennungseffecte dritten und vierten Grades sind an der Leiche wohl
meist ohne Schwierigkeit unzweideutig erkennbar; die ersteren lassen die
Haut nebst den darunter gelegenen Gewebspartien in sehr verschiedener Tiefe
an der noch frischen Leiche weissgrau getrübt erscheinen, eine Veränderung,
wie sie an dem gebrühten oder leicht gebratenen Fleische auf der Speise-
tafel täglich zu sehen ist.
Mehr oder weniger deutlich erkennbare Spuren hinterlässt zumeist auch
die besondere Art, in welcher die Verbrennung zustande kam. Die Wirkung
der offenen Flamme macht sich oft an der Versengung der Haare und Nägel
und durch die Ablagerung einer Schicht von Russ auf der Oberfläche kennt-
lich, ein Befund, der die Entstehung der Verbrennungseffecte mittels heisser
Dämpfe oder siedender Flüssigkeiten mit Bestimmtheit ausschliessen lässt.
Dagegen sind bei einer derartigen „Verbrühung" Haare und Nägel an sich
wohl erhalten, aber aus ihrem Zusammenhang mit dem Mutterb.oden gelöst;
an solchen Leichen behält man die Haare beim Anfassen in ganzen Büscheln
in der Hand — eine Erscheinung, ganz analog dem bekannten Abbrühen des
Federviehes, wie es in der Küche behufs leichter Entfernung der Federn
praktisch gehandhabt wird; desgleichen kann man die Nägel in Verbindung
mit der ganzen Epidermis der Finger und Nägel nach Art eines Handschuhes
von Händen und Füssen abstreifen. In manchen Fällen wird die Erkennung
der speciellen Art der Verbrennung dadurch gesichert, dass man die ver-
brennende Substanz selbst auf den beschädigten Theilen vorfindet: ganze
Krusten von Lack, Pech, Schwefel oder ähnlichen Substanzen, wenn solche
in glühend-flüssigem Zustande verspritzten, oder eine Lage frisch gelöschten
Kalkes u. dgl. m. Verbrennungen durch Pulverexplosion werden meist durch
Pulverschmauch und in die Haut eingesprengte Pulverkörner erkenntlich,
endlich werden die dem Verbrennungseffect sehr ähnlichen Aetzwirkungen
scharfer Säuren und Laugen gemeinhin durch den Nachweis intensiver Ptöthung,
beziehungsweise Bläuung von Lackmus-Reagenzpapier mittels der auf den
*) Hofmann, Lehrbuch der gerichtlichen Medicin, VI. Auflage 1893, S. 594.
784 TODESARTEN, GEWALTSAME.
zerstörten Theilen zurückgebliebenen Reste der schuldigen Flüssigkeiten auf
ihre Ursache zurückzuführen sein.
Auch die örtliche Anordnung der verbrannten Partien gestattet häufig
wichtige Schlüsse: die Hitzewirkung ausstrahlender Wärme wird sich stets
am intensivsten oder sogar ausschliesslich an den unbekleideten Körperstellen
zeigen. Dasselbe gilt für gewöhnlich auch für Verbrennungen mittels explo-
dirender Gase (Leuchtgas, schlagende Wetter in Bergwerken); entzünden sich
jedoch hierbei die Kleider, so werden meist diejenigen Theile am stärksten
geschädigt erscheinen, über denen die letzteren am leichtesten und schnellsten
verbrannten. Der Brandeöect offener Flammen, die gemeinhin von unten
nach oben emporschlagen, wird eine tiefer gelegene Stelle intensivster Schädi-
gung erzeugen, von welcher aus sich eine in der Intensität des Wärmeeffects
schrittweise abnehmende Fortsetzung nach oben hin erstrecken wird; nament-
lich bei den Leichen solcher, die verbrannten, indem ihre Kleider Feuer fingen,
wird sich die Brandwirkung von der Stelle der ersten Entflammung aus vor-
wiegend aufwärts erstrecken, da die Flamme schneller und kräftiger aufwärts
als nach unten hin weiterfrisst; gerade umgekehrt erzeugt aus erklärlichem
Grunde die Verbrühung mit siedenden Flüssigkeiten eine höher gelegene
Stelle stärkster Einwirkung, von der aus eine Zone allmählich abnehmender
Hitzewirkung nach unten verläuft, falls nicht der Verbrühte mit den Füssen
voran in ein Gefäss mit kochender Flüssigkeit gesprungen war. Handelt es
sich bei der Einwirkung offener Flammen um weibliche Personen, so wird
die Verbrennung vorzüglich die untere Körperhälfte bis zum Gürtel betreffen,
da die diesen Theilen nur lose anliegenden Röcke sehr leicht, die eng an-
liegenden Stücke der die obere Körperhälfte einhüllenden Kleidung dagegen
ungemein schwerer zu brennen vermögen. Oft sieht man an den Leichen
derartig Verunglückter den grössten Theil des Körpers intensiv verbrannt,
diejenigen Stellen aber, wo die Kleidung der Haut eng anlag, nur wenig oder
gar nicht verändert. So wirken namentlich enge Strumpfbänder und Taillen-
gürtel; auch feste Corsets verleihen oft den umschlossenen Theilen sehr wirk-
samen Schutz.
Der innere Befund an den Leichen der durch Brandunglück Um-
gekommenen bietet nur wenig Charakteristisches und ist verschieden, je nach
den besonderen Umständen des einzelnen Falles. Fast regelmässig wird das
Blut in ausgedehntem Maasse geronnen angetroffen. Manche Forscher schreiben
bekanntlich dem massenhaften Untergange rother Blutkörperchen, der in den
der Hitzewirkung ausgesetzten Theilen des Gefässsystems stattfinden soll,
einen Haupteinfluss beim Zustandekommen des Verbrennungstodes zu. Durch
die häufige Beobachtung ausgedehnter Gerinnselbildungen erhält diese An-
schauung eine wesentliche Stütze, da eine Auflösung zahlreicher Erythro-
cythen durch die damit freiwerdenden Gerinnungstoffe zweifellos die Gerinnung
begünstigen muss. Erfolgte der Tod in acuter Weise unter der Hitzewirkung
selbst, so ist das Ergebnis der inneren Leichenuntersuchung meist fast negativ,
indem diejenigen Organe, die nicht unmittelbare Verbrennungseffecte auf-
weisen, unverändert erscheinen.
Bei einer grösseren Anzahl von Bergleuten, die durcli schlagende Wetter getödtet
wurden, fand man (z. B. Franz) wiederholt Ecchymosen auf den serösen Häuten des
Herzens und der Lungen, doch sind die competentesten Autoren, unter ihnen auch
Hofmann, geneigt, diese nicht als eine Verbrennungserscheinung zu deuten, sondern viel-
mehr als einen Beweis dafür aufzufassen, dass die betreffenden Individuen an Erstickung
in irrespirablen Gasen starben.
Erlag der Verunglückte nicht unmittelbar der Verbrennung, sondern
erst nach mehr oder minder langer Krankheit, so findet man regelmässig
körnige Degeneration der Muskulatur, aller drüsigen Organe, sowie auch der
Gefässwände. Auf die hierdurch verursachte geringere Widerstandsfähigkeit
der Blutgefässe sind wahrscheinlich die bei solchen Leichen in den ver-
TODESARTEN, GEWALTSAME. 785
schiedensten Organen häufig gefundenen kleineren oder grösseren Blutungen
zurückzuführen. Analoge Blutaustritte aus den degenerirenden Nierengefässen
und Glomerulis bedingen die meist noch zu Lebzeiten sich einstellende Hä-
maturie, wie auch die zuerst von Cukling und nachdem von manchen Anderen,
z. B. von Hofmann, beobachteten Duodenalgeschwüre als ein Eflect gleich-
artiger Ecchymosen in der Darmschleimhaut mit nachfolgender Nekrose an-
zusehen sind. Uebrigens sind gleiche Geschwüre auch im Magengrunde und
in den übrigen Abschnitten des Verdauungsrohres gefunden worden. Hat die
verbrannte Person noch längere Zeit gelebt, so ergibt die Section gemeinhin
das Bestehen sehr verschiedener secundärer Erkrankungen; vor allem sieht
man hypostatische oder embolische Pneumonieen, bronchitische oder croupöse
Affectionen — letztere wohl meist als Folge der Einathmung von Russ und
heisser Luft — sowie allgemein marastische Erscheinungen.
Die Gelegenheiten, welche zum Zustandekommen des Verbrennungs-
todes Veranlassung geben, sind weitaus der Mehrzahl nach Unglücksfälle der
allerverschiedensten Art. Selbstmord durch Sichverbrennen kommt, wie
bei der allgemein bekannten, grossen Schmerzhaftigkeit aller Brandverletzungen
leicht erklärlich ist, nur selten vor. Immerhin sind eine Anzahl derartiger
Fälle bekannt geworden; meist betrafen sie geisteskranke Personen, Gewöhn-
lich tränkt dabei der Selbstmörder seine Kleider, die er auf dem Leibe trägt,
oder sein Bett, in das er sich hineinlegt, mit Petroleum, Spiritus, Benzin
oder dgl. und zündet dieselben an. Einen besonders abschreckenden Fall hat
Hofmann erlebt; ein Insasse einer Irrenanstalt steckte den Kopf durch die
Ofenthüre in das Feuerloch und legte ihn auf die glühenden Kohlen, wobei
bis auf den Knochen dringende Verbrennungen der einen Kopfseite entstanden;
der Unglückliche starb erst nach zw^ölf Tagen. Mehrfach ist auch Selbst-
mord durch Verbrühen vorgekommen, meist indem die Lebensmüden in grosse
Kessel oder ähnliche Behälter voll siedender Flüssigkeit sprangen; so berichtet
die Prager Zeitschr. f. Heilk. 1880, S. 47 u. 48 von zwei Bräuknechten, die
sich in den kochenden Bräubottich stürzten. — Mord durch Verbrennungen
kann sehr leicht an kleinen Kindern ausgeführt werden; es ist eine beträcht-
liche Anzahl solcher Fälle, namentlich an Neugeborenen verübt, bekannt ge-
worden.
Ein sehr häufiges Ereignis ist das Verbrühen kleiner Kinder im zu heissen Bade;
es vergeht kaum ein Jahr, in dem nicht ein oder mehrere solcher Fälle bekannt werden.
Meist handelt es sich dabei um Fahrlässigkeit der Hebamme, Mutter oder Pflegerin, die
die Temperatur des Badewassers nicht nach dem Thermometer, sondern nach dem Ge-
fühle mittels der eingetauchten Hände beurtheilte. Da der Temperatursinn der letzteren,
wenn sie sehr oft und lange mit heissen Flüssigkeiten in Berührung kommen, überaus
abgestumpft zu werden pflegt, so laufen hierbei die grössten Irrthümer unter. Dieser nur
allzuoft gemachten Erfahrung wegen ist jeder Hebamme die Benutzung des Badethermo-
meters anbefohlen, und werden Unglücksfälle infolge Nichtbeachtung dieses Gebotes streng
bestraft. Naturgemäss kann in derartigen Fällen auch beabsichtigte Kindestödtung vor-
liegen, ein Argwohn, der namentlich, wenn es sich um uneheliche Kinder handelt, auf-
tauchen wird, sowie ganz besonders, wenn sich das verbrühte „Ziehkind" in der Pflege
einer Person befand, die unter dem Verdachte gewerbsmässiger „Engelmacherei" steht.
An Erwachsenen ist Mord durch Verbrennung oder Verbrühung für ge-
wöhnlich erklärlicherweise nur möglich, wenn sie bewusstlos, etwa sinnlos
betrunken sind; über mehrere solcher Fälle haben Taylor und Hofmann*)
berichtet.
Sehr viel häufiger als der eigentliche Verbrennungstod ereignet es sich,
dass der Körper eines auf irgend eine andere Weise ums Leben Gekommenen
zufällig oder absichtlich der Verbrennung ausgesetzt wird. In vielen Fällen
tritt daher an den Gerichtsarzt die Aufgabe heran, zu ermitteln, ob ein Indi-
viduum, dessen Leiche mit den Zeichen der Verbrennung aufgefunden wurde,
*) HoFMANJsr, Lehrb. d. gerichtl. Medicin VI. Aufl. 1893, S. 595.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Jled. 0\)
786 TODESARTEN, GEWALTSAME.
wirklich den Verbrennungstod gestorben, oder sonst irgendwie verendet und
erst als Leiche verbrannt worden sei. Da es ein allgemein verbreiteter Kniff
des Verbrecherthums ist, einen begangenen Mord oder andere Strafthaten
durch Brandstiftung gegen Entdeckung zu schützen, so hat diese Frage
namentlich oft hohe kriminelle Bedeutung. Naturgemäss muss ihre Beant-
wortung auf der Eruirung von Verschiedenheiten beruhen, welche Wirkung
die Verbrennungshitze auf einen lebenden Körper und welche sie auf einen
Leichnam ausübt. Klinische und pathologische Beobachtung im Vergleiche
mit zahlreichen experimentellen Untersuchungen an Leichen haben über diesen
Punkt folgendes ergeben: Das erste Stadium der Verbrennung am lebenden
Körper, das Hauterythem, tritt an der Leiche niemals auf; es beruht auf einer
reactiven stärkeren Gefässfüllung mit Blut, die natürlich nach eingetretenem
Tode nicht mehr möglich ist. Demgemäss sind wir bei Beobachtung dieser
Erscheinung an einem Leichnam, wo sie besonders in der Umgebung inten-
siverer Verbrennungswirkungenin Form eines gerötheten und leicht geschwollenen
Hofes zu bestehen pflegt, zu dem Schlüsse berechtigt, dass die Hitzewirkung
den Körper bei noch erhaltenem Leben getroffen habe. Andererseits aber
dürfen wir aus dem Fehlen dieses Symptomes nicht ohne weiteres den gegen-
theiligen Schluss ableiten. Ebenso wie die leichteren Grade erythematöser
Röthung bei vielen krankhaften Hautaffectionen nach dem Tode bekanntlich
zu schwinden pflegen, kann auch das Verbrennungserythem, zumal nach leich-
teren Graden seiner Ausbildung an der Leiche wieder gänzlich verloren gehen
oder doch so stark verblassen, dass ihr Vorhandensein zweifelhaft erscheint;
im Allgemeinen tritt diese Abblassung um so rascher und vollständiger ein,
je früher nach geschehener Verbrennung der Verunglückte verstorben ist.
Das Bestehen gut ausgebildeter serumhaltiger Brandblasen spricht mit ziem-
lich grosser Wahrscheinlichkeit, aber nicht mit absoluter Sicherheit für die
Einwirkung der Hitze noch bei Lebzeiten des Individuums. Unter den zahl-
reichen Forschern, welche sich bemühten, derartige Brandblasen an Leichen
zu erzeugen, gelang dies nur einigen, und auch diesen nur ausnahmsweise.
Meist entstehen sie überhaupt gar nicht, oder doch nur in sehr geriuger Aus-
dehnung und nur, um sehr bald zu platzen und wieder zusammen zu sinken.
Man darf daher, wo die Leiche eines Verbrannten grosse, wohlausgebildete
Serumblasen aufweist, es für wahrscheinlicher halten, dass er lebend, als dass
er erst als Leiche in das Feuer gerathen sei. Die das dritte Stadium der
Verbrennung kennzeichnenden Schorfbildungen können zur Entscheidung un-
serer Frage unter Umständen einen sehr bedeutungsvollen Fingerzeig geben.
Bekanntlich tritt unmittelbar nach eingetretenem Tode alles Blut aus den
sich contrahirenden Arterien und Capillaren in das erschlaffende Venensystem
hinüber, und senkt sich in diesem wiederum aus den bei der jeweiligen Lage
des Leichnams höher gelegenen abwärts in die abhängigen Partien. Kommt
es somit an einer Leiche nur einige Zeit nach eingetretenem Circulations-
stillstand zur Entstehung von Brand Schorfen, so werden die letzteren, wenn
sie den höhergelegenen Theilen des Körpers angehören, ganz blutleer sein,
und wenn sie an den abhängigen Stellen zur Ausbildung kommen, Blut allein
in den Venen enthalten. Ganz anders, wenn sich die Brandschorfbildung
am lebenden Körper entwickelt. Unter dem gewaltigen Reize der intensiven
Hitzewirkung entsteht eine bedeutende Hyperämie aller Arterien und Capillaren
des betreffenden Bezirkes; unter dem zerstörenden Einflüsse der Verbrennung
reissen und brechen die Gefässwände, die dem erhöhten Drucke nicht mehr
hinreichend widerstehen können, und somit entstehen zahlreiche Blutaustritte
in das Gewebe. Bald darauf gerinnt nnd vertrocknet unter der weiteren
Hitzewirkung das Blut, sowohl das in die Gewebe ergossene, wie auch das
noch in Arterien und Capillaren befindliche, wo es später im Brandschorfe
makroskopisch wie mikroskopisch gefunden und nachgewiesen werden kann.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 787
Ein solcher Blutbefund in den Geweben, in Arterien und Capillaren eines
Brandschorfes beweist demgemäss mit grosser Sicherheit die vitale Entstehung
des Schorfes. Noch höhergradige Verbrennungen bis zu vollständiger Ver-
kohlung der Weichtheile und Calcinirung der Knochen lassen Unterscheidungen
für ihre vitale oder postmortale Entstehung nicht mehr erkennen. — Einen sehr
wichtigen Anhaltspunkt für die Beantwortung der erörterten Frage vermag
endlich oft die chemische oder spektroskopische Untersuchung des in der
Leiche enthaltenen Blutes zu liefern. Bekanntlich hat das Hämoglobin des
Blutes die Eigenthümlichkeit, sich mit verschiedenen Gasen chemisch zu
verbinden. Die so entstehenden Hämoglobin- Verbindungen sind im Blute
selbst in sehr geringen Mengen durch gewisse chemische Reactionen, wie
namentlich auch mittels des Spektroskops mit Sicherheit nachzuweisen. Kohlen-
oxyd-Hämoglobin ist unter gewöhnlichen Umständen, da unsere Athemluft
des für uns giftigen Kohlenoxyds entbehrt, im Blute nicht vorhanden, bildet
sich aber darin in einer spektroskopisch nachweisbaren Menge bereits dann,
wenn ein Individuum nur wenige Athemzüge in einer kohlenoxydhaltigen
Atmosphäre thut. Das kann nun gemeinhin nur bei zwei Gelegenheiten vor-
kommen; einmal, wenn Leuchtgas, welches regelmässig beträchtliche Quanti-
täten jenes Gases enthält, ausgeströmt ist, oder zweitens, wenn bei irgend
einer Verbrennung kohlenstoffhaltiger Materien, bei welcher ohne Ausnahme
Kohlenoxyd in reichlicher Menge gebildet wird, Rauch und Verbrennungsgase
in die betreffende Luft gelangt sind. Letzteres ist natürlich bei jedem Schaden-
feuer regelmässig der Fall. Gelingt es somit dem Gerichtsarzte, in dem in
den Gefässen einer Leiche vorgefundenen Blute Kohlenoxyd-Hämoglobin nach-
zuweisen, so ist damit der Beweis erbracht, dass jene Person in einer kohlen-
oxydhaltigen Atmosphäre geathmet hat. In vielen Fällen, in denen sich
nach der ganzen Sachlage die Möglichkeit einer Leuchtgaseinathmung von
selbst ausschliesst, wird hieraus der Schluss zulässig erscheinen, dass der Ver-
unglückte, als das Feuer ausbrach, noch gelebt haben muss. Das zu dieser
Untersuchung verwendete Blut muss jedoch immer aus einem Blutgefässe
oder dem Herzen der Leiche entnommen werden, von einer Stelle, an der es
von der kohlenoxydhaltigen äusseren Luft nicht berührt werden konnte. Die
Verbindung zwischen Hämoglobin und Kohlenoxyd kommt nämlich nicht allein
in der athmenden Lunge zustande, sondern kann unter Umständen auch bei
einer unmittelbaren, äusseren Berührung des Blutes, wenn dieses aus dem
Gefässsystem ausgeflossen und selbst, wenn es bereits längere Zeit „todt" war,
mit der kohlenoxydhaltigen Luft entstehen. Deshalb würde z. B. eine Prüfung
mit einer Blutprobe, die man von einer Blutlache in der beim Brande ge-
platzten Brust- oder Bauchhöhle entnommen hatte, nichts beweisen. Wird
aber das Blut in den Gefässen der Leiche sicher frei von Kohlenoxyd-
Hämoglobin gefunden, so berechtigt uns dies zu dem sicheren Urtheil: der
Verunglückte hat zur Zeit des Brandes nicht mehr geathmet, und ist somit
erst als Leichnam in das Feuer gerathen. Ein wertvolles Zeichen, ob derselbe
in dem brennenden Hause noch geathmet habe oder nicht, ist natürlich auch
das Vorhandensein oder Fehlen aspirirter Russ- oder Aschentheilchen in den
oberen Athemwegen.
Wo ein Mörder sein Verbrechen durch Brandlegung zu verschleiern suchte, da
wird nicht selten durch die Auffindung der von ihm geschaffenen Körperverletzungen
auch an der zum Theil verbrannten Leiche Klarheit in die Sachlage gebracht. Doch muss
der Gerichtsarzt bei der Entdeckung derartiger Verletzungen, bevor er sein definitives
Urtheil abgibt, sich mit Sicherheit davon überzeugen, ob sie nicht durch äussere Gewalten,
die erst während des Brandes auf den Körper einwirkten, entstanden seien, wie durch
stürzende Balken, Herabstürzen der Leiche durch den ausgebrannten Stubenboden u, dgl.
Hier können nicht alle möglichen Eventualitäten berücksichtigt werden, nur soviel sei
bemerkt, dass das Vorhandensein oder Fehlen erkennbarer Spuren von vitaler Reaction an
oder um die verletzten Partien hier immer den wertvollsten Fingerzeig abgeben werden ;
-doch ist auch dieser Anhaltspunkt immer nur mit Vorsicht und unter umsichtiger Beach-
50*
788 TODESARTEN, GEWALTSAME.
tung der gesammten Einzelnheiten jedes Falles zu verwerten; so können z. B. Verletzungen
mit deutlichen Spuren vitaler Reaction, die vielleicht sehr nach Läsionen von fremder
Hand aussehen, entstanden sein, indem der beim Brande Hartbedrängte aus der Höhe
herabstürzte oder, um sich zu retten, sprang, und was dergleichen Möglichkeiten mehr
sind. Wurde ein zuvor Erdrosselter oder Erhängter verbrannt, so kann unter umständen
die Strangfurche noch an der arg verunstalteten Leiche nachgewiesen werden, besonders,,
wenn das strangulirende Werkzeug um den Hals liegen blieb und die von ihm um-
schlossenen Theile gegen die Hitzewirkung schützte, ähnlich wie wir es früher von Strumpf-
bändern und Gürteln gesehen haben.
Der Tod durch Hitzschlag und Sonnenstich. Als zweier sehr eigen-
artiger, durch den Einfluss ungewöhnlich hoher Temperaturen verursachter
Todesarten müssen wir auch des Todes durch Hitzschlag und Sonnenstich
gedenken. Beide werden vorwiegend als Heereskrankheiten beobachtet; einzeln
Wandernde oder Arbeitende werden nur ziemlich selten davon befallen. Foren-
sische Bedeutung beanspruchen sie vorwiegend rücksichtlich der Unterscheidung
von anderen Todesarten, gelegentlich wohl auch, indem die Führer von
Truppentheilen, in welchen Erkrankungen und Todesfälle solcher Art in ge-
häufter Zahl vorkamen, unter dem Vorwurfe fahrlässiger Gefährdung von
Gesundheit und Leben ihrer Mannschaften zur Verantwortung gezogen werden;
und endlich können beide Erkrankungen als die Folge einer „Aussetzung in
hilfloser Lage" bei kleinen Kindern oder bei alten oder sonst hinfälligen
Personen auftreten. Das eigentliche Wesen des Hitzschlages, lange Zeit
auch den erfahrensten Aerzten und Pathologen ein Räthsel, ist durch eine
ganze Reihe namhafter Forscher "') seit etwa dem Ende der Sechziger- und im
Verlaufe der Siebziger - Jahre unseres Jahrhunderts untersucht und der Er-
klärung näher gebracht, wenngleich noch immer nicht in seinen letzten patho-
logischen Gründen zweifellos aufgedeckt worden. Ganz allgemein hat man
die Erfahrung gemacht, dass der Hitzschlag fast ausschliesslich gelegentlich
langdauernder, angestrengter Märsche an heissen, schwülen und zugleich
windstillen Tagen vorkommt, zumal, wenn die Truppen in schwerer, eng-
anliegender Kleidung mit vollem Gepäck und in dichtgeschlossenen Colonnen
marschiren. Als die Grundursache der Erkrankung haben alle Forscher eine
das physiologische Maass überschreitende Steigerung der Körperwärme er-
kannt, die zustande kommt, indem eine ungewöhnlich hohe Wärmeproduction
im Körper mit einer starken Behinderung des Wärmeabflusses nach aussen
hin zusammentrifft.
Schon unter normalen Verhältnissen erzeugen die physiologischen Verbrennungs-
processe und sonstigen chemischen, mechanischen, elektrischen etc. Lebensvorgänge im
erwachsenen menschlichen Organismus soviel Wärme, dass diese, würde sie gänzhch im
Körper zurückgehalten, den letzteren in jeder halben Stunde um fast einen Grad Celsius
höher temperiren würde. Es wären, wenn nicht ein ununterbrochener, lebhafter Wärme-
aMuss nach aussen hin stattfände, nur 36 Stunden erforderlich, um den ganzen Körper
bis zum Siedepunkte (100° C) zu erhitzen.**) Bekanntlich aber bringt bereits eine Steigerung
der Eigenwärme um wenig mehr als 41° C dem menschlichen Organismus ernstliche Ge-
fahren. Bei einem stundenlang ohne Ruhepause fortgesetzten, angestrengten Marsche ist
eine das normale Maass sehr erheblich überschreitende Erhöhung der Wärmeerzeugung
das unausbleibliche Ergebnis der für eine derartige Kraftleistung erforderlichen, enormen
Muskelarbeit. Schädlichen Folgen einer so bedeutend forcirten Wärmeproduction kann
allein durch ein erhöhtes Maass der Wärmeableitung vorgebeugt werden. Drei Wege sind
es hauptsächlich — neben den geringen Wärmemengen, die mit den Excreten und Se-
creten den Körper verlassen — mittels welcher sich der Organismus der in ihm gebildeten
Wärme entledigt: ein Theil der Wärme wird von den aus der Lunge und von der Körper-
oberfläche verdunstenden Wass^rmengen behufs ihres Ueberganges aus dem flüssigen in
den gasförmigen Zustand gebunden: Entwärmung durch Wasserverdunstung; ein zweiter
Theil geht unmittelbar aus dem Körper in die ihn berührenden, niedriger temperirten Ob-
jecte, d. h. zumeist in die atmosphärische Luft über: Entwärmung durch „Wärmeleitung";.
•*; Obernier, Der Hitzschlag. 1867. — Rudolf Arndt, Zur Pathologie des Hitz-
schlages, in ViRCHOw's Archiv, Band 54. — Jacubasch, Der Hitzschlag, Monographie 1879.
— _KösTER, Die Pathologie des Hitzschlags, in der Berliner klinischen Wochenschrift
1875, und andere.
**) Landois, Lehrbuch der Physiologie. 8. Auflage, Wien 1893, S. 418.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 789
ein dritter Theil endlich tritt unabhängig von der Temperatur der dazwischen gelegenen
Medien von dem wärmeren in einen niedriger temperirten Körper hinüber, ohne dass beide
Gegenstände sich unmittelbar berühren: Entwärmung durch „Wärmestrahlung". Während
nun unter gewöhnlichen Verbältnissen jede die normale Grenze übersteigende Wärme-
production auf reflectorischem Wege einen intensiveren Wärmeabfluss durch eine oder
mehrere dieser drei Pforten selbständig hervorruft, gewissermaassen automatisch auslöst,
lassen die besonders eigenartigen Umstände, unter denen die Erkrankung an Hitzschlag
zur Ausbildung kommt, die Wirkungen der sonst den erhöhten Wärmeabstrom verursachen-
den Reflexe nicht zur Entfaltung gelangen. Bei einem forcirten stundenlangen Marsche
an einem heissen schwülen und windstillen Tage erzeugt die gewaltige Muskelarbeit zwar
in gleicher Weise, wie sonst, kräftig vertiefte, häufigere Athemzüge, lebhafte Röthung der
Körperoberfläche infolge Ausdehnung und stärkerer Blutfüllung aller Hautgefässe und ener-
gische Schweisssecretion, aber die damit sonst erzielte stärkere Entwärmung des Organis-
mus kann trotzdem nicht in Kraft treten. Die mit Wassergasen bis nahe an den Thau-
punkt beladene atmosphärische Luft vermag keine nennenswerten Wassermengen mehr in
sich aufzunehmen, daher die Verdunstung des Lungenwassers wie auch des gebildeten
Schweisses unterbleibt. Die der Atmosphäre durch die Sonnengluth mitgetheilte hohe
Temperatur gestattet ihr nicht mehr die Aufnahme neuer Wärmemengen mittels Leitung
aus der Haut des überhitzten menschlichen Körpers, obgleich sich diese durch stärkere
BlntfüUung und Durchfeuchtung zu vermehrter Wärmeabgabe vorbereitete. Ebensowenig
kann bei dem Mangel erheblich kühlerer Gegenstände in der Umgebung der auf sonnen-
durchglühtem Felde dahinmarschirenden Truppe die Entwärmung durch Strahlung wirk-
sam werden. Dazu kommt, dass die enganliegende, allseitig festgeschlossene Kleidung der
Soldaten aus dichtgewebtem Tuchstoff im Verein mit dem schweren Tornister und sonstigen
Gepäckstücken die Tiefe und Ausgiebigkeit der Athemzüge durch Einengung des Brust-
korbes behmdert und die Entwärmung von der Körperoberfläche durch deren Abschluss
von der Luft noch mehr beschränkt; alle diese Momente fallen um so schwerer ins
Gewicht, als beim Herrschen völliger Windstille auch der Luftwechsel in der Umgebung
jedes einzelnen Mannes überaus gering ist. Endlich wirkt naturgemäss auch das nahe
Nebeneinander vieler wärmeüberladener Menschenleiber als ein . erhebliches Hindernis für
die Entwärmung jedes Einzelnen. — Somit entwickelt sich im Organismus eine hochgradige
Wärmestauung mit allen pathologischen Folgen der Ueberhitzung, die sich namentlich in
Störungen der Circulationsthätigkeit, wie auch des Centralnervensystems kenntlich machen.
Welches dieser beiden Organsysteme das vorwiegend, beziehungsweise primär erkrankte sei,
ist zur Zeit noch nicht entschieden. Die beginnende Erkrankung äussert sich zumeist in
den Anzeichen lebhafter Blutwallungen nach dem Kopfe unter heftigen Kopfschmerzen,
allgemeiner Schlaffheit und Hinfälligkeit und beginnenden Bewusstseinsstörungen; bald
tritt völhge Bewusstlosigkeit auf, Convulsionen stellen sich ein, und unter Erlahmung der
Herzthätigkeit erfolgt der Tod. Wird letzterer durch rechtzeitiges Eingreifen sachverstän-
diger Hilfe abgewendet, so pflegen langandauernde Störungen in den Functionen der
Centralorgane zurückzubleiben", die anzudeuten scheinen, dass im Gehirne und Rücken-
marke anatomische Läsionen aufgetreten waren. In der That sind solche durch die Section
aufgefunden worden, nämlich constant eine hochgradige Hyperämie der genannten Organe
und eine diffuse ödematöse Schwellung und trübe Degeneration ihres Parenchyms. Daneben
zeigt sich regelmässig starke Hyperämie der Lungen, das Herz in seiner linken Hälfte,
zumal dem Ventrikel, leer und contrahirt, in der rechten dagegen schlaff und mit Blut
überfüllt; das Blut selbst erscheint dünnflüssig und zeigt verminderte Neigung zur Ge-
rinnung, ähnlich demjenigen Erstickter. Die Muskulatur ]ist auffallend trocken. In der
Deutung der eigentlichen Todesursache ist bisher noch keine Einigung der Anschauungen
erzielt worden. Während die Einen annehmen, dass der Tod durch eine sozusagen „pri-
märe" Herzlähmung bewirkt werde, die durch mechanische Circulationshemmungen auf
Grund einer Eindickung des Blutes infolge starken Wasserverlustes zustandekomme, führen
Andere das Ende auf eine Lähmung der lebenswichtigen Centren in Gehirn und Rücken-
mark zurück, welche auf eine Art von Giftwirkung des in seinem Wassergehalte alterirten,
mit Kohlensäure überladenen und infolge Unterganges zahlreicher Blutkörperchen destruirten
Blutes zu beziehen sei; nach dieser Ansicht wäre dann die eintretende Herzlähmung ein
„secundärer" Vorgang. Rudolf Arndt lehrt auf Grund seiner Sectionsbeobachtungen, bei
denen er die Organe, und in erster Linie das Gehirn in ihrem eigentlichen Parenchym
selbst blutleer und die allgemein beschriebene „Hirnhyperämie" auf ihre grossen Gefässe
beschränkt sah, das Erlöschen des Lebens werde durch eine Anämie des Parenchyms von
Gehirn und Rückenmark bedingt, die auf einer trüben Schwellung desselben, dem Anfangs-
stadium einer parenchymatösen Entzündung beruhe, welch' letztere eine Folge sei theils
der hohen Eigenwärme der Organe selbst, theils einer durch seine starke Erhitzung er-
zeugten Destruction des Blutes (Untergang zahlreicher Blutkörperchen, Ueberladung des
Blutes mit Umsatzproducten).
Vom Hitzschlage, der unter dem Vorwalten der übrigen ursächlichen
Momente sehr wohl auch bei bewölktem Himmel sich ereignen kann, unter-
scheidet sich der „Sonnenstich" dadurch, dass er durch die unmittelbare
790 TODESARTEN, GEWALTSAME.
Einwirkung der glühenden Sonnenstrahlen auf den Körper, und besonders aut
den Kopf des Menschen entsteht. Rücksichtlich des klinischen Bildes zeigen
übrigens die beiden Erkrankungen grosse Aehnlichkeit, doch pflegt der Sonnen-
stich gemeinhin plötzlicher einzusetzen und rascher und unaufhaltsamer, auch
trotz schnell geleisteter sachverständiger Hilfe, zum Tode zu führen. Der
rapide Ausgang soll auch hiebei nach der einen Anschauung seinen Grund
in einer durch die hohe Blutwärme bedingten Herzlähmung haben, die Jacu-
BASCH bezeichnend eine „Herz starre" nennt, während andere wiederum
für das primär geschädigte Organ das Gehirn ansehen, dessen lebenswichtige
Centren durch die directe Ueberhitzung der Schädeloberfläche mittels der
Sonnenstrahlen in Lähmung verfallen soll.
Prophylaxe und Behandlung von Hitzschlag und Sonnenstich, die insofern
forensisches Interesse bieten können, als ihre Unkenntnis, beziehungsweise
Unterlassung ein Verschulden der verantwortlichen Persönlichkeit begründen
könnten, ergeben sich aus dem Vorstehenden von selbst. In der Nothlage
des Krieges freilich wird man nur zu oft auf die drohende Gefahr keine
Rücksicht nehmen können. Zu Friedenszeiten dagegen, im Manöver, bei
sonstigen Truppenübungen, Turnmärschen, Schülerpartien u. dgl. m., wird
man den verantwortlichen Führer, sobald Erkrankungen oder gar Todesfälle
solcher Art in irgend grösserer Zahl auftreten, von dem Vorwurfe einer Fahr-
lässigkeit meist wohl nicht freisprechen dürfen. In der heissen Jahreszeit
sind die Märsche, soviel wie irgend thunlich, in die kühleren Morgen-, Abend-
oder Nachtstunden zu verlegen, in gemässigtem Tempo zu halten, und durch
öftere, entsprechend lange Ruhepausen zu unterbrechen. Sehr wichtig ist
auch die Sorge für reichliches Satttrinkenlassen der Leute vor dem Marsche
und für öftere Tränkung während der Ruhepausen, ja nöthigenfalls auf dem
Marsche selbst mit zweckdienlichen Getränken. Als solche haben sich be-
sonders dünner kalter Kaffee und Thee, sowie auch Wasser mit Zusatz von
Citronensaft oder Citronensäure bewährt. Dagegen ist der Genuss aller gei-
stigen Getränke auf das strengste zu untersagen: der Alkohol bewirkt nach
schnell vorübergehender Steigerung der körperlichen und geistigen Energie
nur um so schnelleres Sinken der Leistungsfähigkeit, und vermehrt nach
kurzer Anregung der Herzthätigkeit um ein Bedeutendes die Gefahr eintreten-
der Herzparalyse. Mit Sorgfalt ist weiterhin auf die Bekleidung der Mann-
schaften, sowie auf eine praktische Einrichtung und Anlegungsart der Gepäck-
stücke zu achten. Die Kleider sollen leicht und luftig sein und in keiner
Weise die Athmungsthätigkeit einengen. Ebenso soll der Tornister derart
construirt sein und getragen werden, dass die mögliche geringste Einschnü-
rung des Brustkorbes und die leichteste Belastung der Schultern erzielt wird.
Im preussischen Heere ist, sobald Gefahr des Hitzschlages im Anzüge ist,
gestattet, die Oberkleider durch Oeffnen der Knopfschlüsse zu lüften, sowie
auch die Tornister auf den Gepäckwagen abzulegen. Gegen den Sonnenstich
ist in erster Linie durch eine, die unmittelbare Bestrahlung des Kopfes durch
Sonnenglut möglichst vollständig verhindernde, dabei aber doch leichte Kopf-
bedeckung zu sorgen. Endlich sind bei der Formirung des Marschzuges die
einzelnen Leute in möglichst grosse Abstände von einander zu bringen. —
Bereits ausgebildete Erkrankungen erheischen künstliche Herabsetzung der
Körpertemperatur durch kühle Uebergiessungen und Bäder, Kaltwasser-
infusionen per anum etc. neben Maassnahmen zur Abwendung der drohenden
Herzlähmung, wie Einflössung von Alkohol, Kampher, Moschus oder ähnlichen
herzpeitschenden Mitteln, subcutane Injectionen von Aether oder Kampher-
äther, Waschungen der Körper Oberfläche mit Essigwasser, Anwendung von
Massage, Frottirungen, künstlicher Athmung u. dgl. m. Ueber die Heil-
samkeit der von manchen Seiten anempfohlenen Blutentziehungen (Aderlässe,
Schröpfungen) sind die Meinungen getheilt.
TODESARTEN, GEWALTSAME. 791
Tod durch elektrische Entladungen:
Blitzschlag; künstlich erzeugte Elektricität. Als eine besondere Art
der Verbrennung, d. h. gleichfalls als eine Wirkung abnorm hoher Terapera-
turgrade, wird gemeinhin die Vernichtung von Menschenleben durch elek-
trische Entladungen aufgefasst. Ohne Zweifel trifft diese Auffassung nicht
ohne weiteres auf alle derartigen Fälle zu, wie jedem unschwer einleuchten
wird, der jener allbekannten sogenannten „kalten Blitzschläge" gedenkt, die
doch bei sonstigen sehr heftigen Gewalteinwirkungen keine Spur von eigent-
lichen Verbrennungseffecten hervorbringen. Dennoch wollen wir die elek-
trischen Tödtungen, soweit sie forensisches Interesse bieten, an dieser Stelle
mit abhandeln, wie ihre Besprechung auch in der Mehrzahl der gebräuch-
lichsten Handbücher der gerichtlichen Medicin unter dem Capitel der Ver-
brennungen zu finden ist. Für den Gerichtsarzt haben Todesfälle durch elek-
trische Kraft fast ausschliesslich insofern Bedeutung, als er sie gelegentlich
von anderen gewaltsamen Todesarten zu unterscheiden hat, da es nicht selten
vorkommt, dass ein durch elektrische Gewalt Verunglückter den Anschein
erweckt, als sei er auf sonst irgend eine andere gewaltsame Weise ums
Leben gekommen und vielleicht das Opfer eines Verbrechens geworden. Des-
gleichen sind Fälle bekannt geworden, in denen zunächst der umgekehrte
Irrthum auftauchte, bis erst durch die gerichtliche Untersuchung des Leich-
nams der wahre Sachverhalt klargestellt wurde.
Die Quelle der elektrischen Energie ist immer entweder der natürliche Blitzschlag
oder aber eine der mannigfachen künstlichen Anlagen zur Erzeugung elektrischer Kraft
von Menschenhand. Ihrer physikalischen Natur nach sind die aus diesen beiden Quellen
entstammenden Kräfte unseres "Wissens durchaus gleichartig; über das [eigentliche Wesen
der Elektricität jedoch wissen wir zur Zeit noch so gut wie nichts Gewisses, alle gegebenen
Erklärungen sind bisher noch durchweg Hypothesen.
Todesfälle durch Blitzschlag sind ein nicht gerade häufiges Ereignis;
nach BouDiN sollen von allen Menschen auf der ganzen Erde jährlich im
Durchschnitt etwa 4000 vom Blitze getroffen und von diesen etwa 1000 ge-
tödtet werden. Der Tod tritt in den meisten überhaupt lethal endenden
Fällen unverzüglich im Augenblicke des Getroffenwerdens und nur selten erst
kurze Zeit bis höchstens einige Stunden später ein. Fälle, in denen Tage
oder gar Wochen darüber vergingen, sind nur ganz ausnahmsweise beobachtet
worden. Man kann daher gemeinhin, wenn man einen vom Blitze Getroffenen
noch lebend auffindet, die Prognose für die Erhaltung des Lebens günstig
stellen. Das hervorstechendste Krankheitssymptom ist in solchen Fällen
regelmässig tiefe Bewusstlosigkeit von verschieden langer Dauer, nach deren
Schwinden in erster Linie Lähmungserscheinungen unterschiedlicher Körper-
regionen sich geltend zu machen pflegen; daneben werden mehr oder minder
heftige Kopfschmerzen, Athembeschwerden und schwere angsterregende Herz-
palpitationen beobachtet. An den Leichen der vom Blitze Erschlagenen findet
man in der Ptegel deutliche Spuren der gewaltigen Einwirkung, sowohl an
der Kleidung, wie auch am Körper selbst. Nur in seltenen Fällen ist der
Befund gänzlich negativ. An der Kleidung zeigen sich die Zeichen in Ge-
stalt entweder von unregelmässigen Zerfetzungen oder runden Löchern, theils
mit versengten oder verbrannten Rändern, theils ohne jede Spur einer Brand-
wirkung. Metallene Gegenstände, die der Verunglückte an sich trug, wie
Geldmünzen, Knöpfe, Uhren, Messer u. dgl. findet man häufig zerrissen, oxy-
dirt oder geschmolzen, Eisentheile bisweilen magnetisch geworden. Die Ver-
letzungen des Körpers selbst sind von sehr verschiedener Art und Ausdehnung,
von leichten circumscript rundlichen oder streifenförmigen Hautabschürfungen
und Blutunterlaufungen, bis zu ausgebreiteten Quetschungen und Zerreissungen
der Haut, mehr oder minder deutlich ausgeprägten und local ausgedehnten
Verbrennungseffecten, wie Branderythemen, Blasenbildungen und Versengungen
der Haare, sowie endlich jenen höchst eigenartigen, für die Blitz Wirkung
792 TODESARTEN, GEWALTSAME.
durchaus charakteristischen baumastartig verzweigten „Blitzfiguren". Es sind
dies geröthete Streifen, die dem Wege zu entsprechen scheinen, den der Blitz
und die Ausstrahlung seiner Funken über die Körperoberfläche genommen.
Ihr Ausbreitungsgebiet zeigt ungemein verschiedene Grösse, indem es
bald auf kleine engbegrenzte Bezirke beschränkt, bald wieder über fast den
ganzen Körper vom Kopf und Hals an über den Rumpf und eine, mehrere
oder sämmtliche Extremitäten ausgedehnt ist. Die eigentliche Natur dieser
Streifen ist noch nicht ganz sicher erklärt, wahrscheinlich handelt es sich in
ihrem Bereiche um eine locale Hyperämie der Hautcapillaren, verursacht
durch eine Lähmung der Gefässmuskulatur infolge der heftigen Ueberreizung
der vasomotorischen Nerven durch die Einwirkung der elektrischen Energie.
Mehrfach ist behauptet worden, ihr Verlauf entspreche dem anatomischen
Zuge der Gefäss- und Nervenbahnen und spreche für eine bessere Leitung der
Elektricität innerhalb der letzteren; doch ist diese Anschauung durch die
exacte Untersuchung widerlegt worden. Da die Gestalt dieser Blitzfiguren
von einer Stelle stärkster Ausbildung, die meist an den höchstgetragenen
Körpertheilen, an Kopf und Hals gelegen ist, nach unten und nach den Seiten
zu allmählich immer dünner wird, in gleicher Weise wie auch die Zweige
eines Baumes, je mehr sie sich vom Stamme entfernen, sich verjüngen, so
nimmt E. von Hofmann an, „dass der elektrische Funke in der Haut selbst
durch seitliche Ausstrahlung sich erschöpfe". Intensivere Verletzungen, wie
lochförmige Oeffnungen, grössere Wunden mit zerrissenen Rändern oder gar
Abreissungen ganzer Gliedmaassen, Aufreissung der grossen Körperhöhlen
u. s. w. sind übrigens recht selten gesehen worden. Wo sie gefunden werden,
ist wohl zu erwägen, ob sie nicht etwa auf secundären Ursachen, Fortschleu-
derung des ganzen Körpers über weitere Strecken, Gegenschlagen an harte
Gegenstände der Umgebung oder Zurückfallen auf den Erdboden beruhen.
Dasselbe gilt von den verhältnismässig seltenen gröberen Läsionen innerer
Organe, deren Zustandekommen aus ähnlichen mechanischen Gründen, ja auch
ohne grössere Verletzungen der äusseren Bedeckungen wohl denkbar ist; als
solche findet man bisweilen namentlich kleinere oder grössere Blutaustritte in
den verschiedensten Regionen und Organen, Knochenbrüche zumal im Bereiche
der Schädelkapsel, und Quetschungen oder Zerreissungen der Leber, des Ge-
hirns u. s. w. Manche Autoren betonen als charakteristisches Zeichen des Blitz-
todes das ungewöhnlich schnelle und intensive Eintreten der Leichenstarre;
da wir wohl zweifellos annehmen dürfen, dass die gesammte Körpermuskulatur
im Augenblicke der Blitzwirkung durch die gewaltige elektrische Reizung in
einen plötzlichen Zustand intensivster Contraction versetzt wird, so muss uns
diese Beobachtung wohl erklärlich erscheinen; ist es doch eine bekannte That-
sache, dass die die Starre bedingende Myosingerinnung um so früher auftritt,
in je lebhafterer Action sich die Muskeln im Augenblicke des eintretenden
Todes und kurz vorher befunden hatten (schnelle Todtenstarre des gehetzten
Wildes etc.).
Durch die Einwirkung künstlich erzeugter elektrischer Ströme werden
Menschenleben, seit der ausgedehnten Anwendung starker elektrischer Kräfte
zu technischen, motorischen und Beleuchtungszwecken, durchaus nicht selten
vernichtet. Naturgemäss handelt es sich dabei in der überwiegenden Mehr-
zahl der Fälle um unbeabsichtigte Verunglückungen, indem der Betroffene
aus Zufall, Unachtsamkeit, Versehen oder Fahrlässigkeit in den Bereich der
stromleitenden Drähte kam und diese berührte. Besonders verhängnisvoll
wird es dabei, wenn der Betreffende nasse Kleider trug, weil solche die Elek-
tricität unvergleichlich viel besser leiten als trockene Kleider. Es liegt auf
der Hand, dass auch Selbstmord durch absichtliches Berühren derartiger Leiter
möglich ist, wie auch absichtliche Tödtung vorkommen kann, indem der
Mörder sein ahnungsloses Opfer auf irgend eine Weise veranlasst, sich in
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 793
den verhängnisvollen Stromkreis einzuschalten. Wie allgemein bekannt, hat
die amerikanische Justiz sogar die AVirkung starker elektrischer Ströme zur
Vollstreckung von Todesurtheilen nutzbar gemacht. Erfahrungsmässig ge-
nügt eine elektrische Energie von 1500 Volt zur sicheren Tödtung eines er-
wachsenen Menschen. Die elektrischen Apparate zur Erzeugung bedeutender
Maschinenkräfte, zu Beleuchtungszwecken etc. arbeiten zum Theil mit weit
grösseren Energien, wie z. B. die Spannung in der Anlage zwischen Lauften
und Frankfurt a. M. 30.000 Volt beträgt. Merkwürdigerweise ist der Leichen-
befund bei derartig Verunglückten meist durchaus negativ. In vereinzelten
Fällen hat man in der Haut Ecchymosen oder mehr oder minder stark aus-
gebildete Verbrennungseffecte von streifenförmigen Erythemen bis zu wohl-
entwickelten Brandblasen und lochförmigen Durchbohrungen der Cutis mit
geschwärzten Bändern ähnlich wie bei Blitzgetroffenen gesehen. Ecchymosen
sind auch auf den Lungen und am Herzen beobachtet worden. Die Kleider
der A^erunglückten liessen bald lochförmige Verbrennungen, bald keinerlei
Spuren der elektrischen Wirkung erkennen. Grange'^), der die Wirkungen
kräftiger Ströme an Hunden studirte, wobei die Thiere den nicht unterbro-
chenen Strom ohne Schaden ertrugen, durch den vielfach unterbrochenen da-
gegen sofort getödtet wurden, fand capillare Haemorrhagieen in der Medulla
oblongata. beumer u. g. m^olteksdokf.
Traumatische Krankheiten (forensisch). Unter vorstehender Bezeich-
nung fassen wir alle diejenigen Organerkrankungen zusammen, welche sich
im Anschluss an ein Trauma entwickeln können, unter Ausschluss jener
Fälle, in welchen nach den für die moderne Chirurgie maassgebenden Ge-
sichtspunkten Indication für sofortiges oder doch wenigstens thunlichst be-
schleunigtes Eingreifen vorliegt. Der Begriff Trauma deckt sich in den
nachfolgenden Betrachtungen mit dem der acuten Gewalteinwirkung, er ist
also im Wesentlichen identisch mit der bei Ausführung der Unfallversiche-
rungs-Gesetzgebung maassgebenden Begriffsbestimmung des „Unfalls" resp.
„Betriebsunfalls" und basirt auf der Voraussetzung eines plötzlichen, d.h.
zeitlich bestimmbaren, in einen verhältnismässig kurzen Zeit-
raum eingeschlosse.nen Ereignisses, welches in seinen — möglicher-
weise erst allmählich hervortretenden — Folgen mehr oder minder erheb-
liche Schädigung der körperlichen oder geistigen Gesundheit bedingt.
Ein unmittelbarer Causalnexus besteht nur zwischen dem Trauma
und den durch dasselbe geschaffenen Verletzungen.
Gemäss der Judicatur des deutschen Reichsversicherungsamtes, die mit
den Entscheidungen der höheren Spruchbehörden in Oesterreich und der Schweiz
im Allgemeinen übereinstimmt, und die sich von der Erwägung leiten Hess,
dass die vornehmste Aufgabe der socialen Gesetzgebung die staatliche
Arbeiter für sorge bleiben muss, hat indessen der Causalitätsbegriff eine er-
hebliche Erweiterung erfahren, insofern zur Motivirung eines Unfallentschädi-
gungsanspruches nicht mehr der Nachweis eines unmittelbar ursächlichen
Zusammenhanges postulirt, sondern es als genügend erachtet wird (Recurs-
entscheidung vom 4. Februar 1887), dass die bei dem Unfall erlittene
Schädigung nur eine von mehreren zur Einbusse an Erwerbs-
fähigkeit, resp. zum Tod mitwirkenden Ursachen ist.
Es haben deshalb in Rücksicht auf praktische Bedürfnisse im vor-
stehenden Artikel auch jene krankhaften Zustände Berücksichtigung finden
müssen, bei welchen das Trauma in der Regel nicht mehr als primäre und
eigentliche Ursache anzusehen ist, sondern nur mehr als auslösendes
Moment für einen bis zur Einwirkung des Trauma latent im Körper existiren-
den Krankheitsprocess, der erst durch das Trauma manifest und hin-
*) Ann. d'hyg. publ. XIII. pag. 53.
794 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
sichtlich Symptomatologie und weiterer Entwicklung in der Weise ungünstig
beeinflusst wird, dass er mitunter von den gleichen Krankheitstypen ohne
traumatische Aetiologie nach der einen oder anderen Richtung abweicht.
Bei dem Umfange und der Vielseitigkeit des zu besprechenden Materials
war natürlich in dem verhältnismässig eng begrenzten Rahmen dieses Artikels
eine detaillirte Besprechung aller hier in Betracht kommenden Gesichtspunkte
nicht möglich, weshalb wir zu weiterer Orientirung an den entsprechenden
Stellen des Textes die bezüglichen Literaturangaben gemacht haben, deren
Abkürzung unten Erklärung findet.
Die traumatischen Erkrankungendes Seh- und Hörorganes
scheiden für die Besprechung aus, weil sie, wie dies in der Natur der Sache
begründet liegt, wohl ausschliesslich Gegenstand specialistischer Unter-
suchung und Begutachtung geworden sind und deshalb in anderen Special-
artikeln dieses Werkes berücksichtigt werden.
I.
Die fuiictionellen Nervenerkrankungen nach Unfall.
Einleitende Bemerkungen.
In England hat man infolge der früher als bei uns erfolgten gesetzlichen Regelung
der Haftverbindlichkeit den Affectionen des Nervensystems nach Unfällen und speciell
nach Eisenbahnunglücken, einem rein praktischen Bedürfnis folgend, schon früher ent-
sprechende Aufmerksamkeit geschenkt. Erichsen hat bereits 1866 nach dem Vorgänge von
Bell, Abercombie, Cooper in einer zusammenfassenden Arbeit („on railway and other injuiies
of the nervous system") die krankhaften Zustände dieser Art, die man kurzweg unter
dem Namen rail way spine subsummirt hatte, bevor man erkannte, dass die Symptome
hauptsächlich cerebraler und nicht spinaler Natur sind, eingehender zu schildern versucht.
In Deutschland gevrannen diese Erkrankungen erst nach Herausgabe des Haftpflichtgesetzes
(1871) actuellere Bedeutung. Wenn auch bei den Arbeiten der deutschen Autoren (Leyden,
Westphal, Bernhard) die Verletzungen nach Eisenbahnuntällen noch zu sehr im Vorder-
grunde standen, hatte doch gleichzeitig Erb in seiner Casuistik als Bestätigung der bereits
von Erichsen erwähnten Thatsachen eine Reihe von Fällen aufgenommen, in welchen
nach einem Trauma anderer Art gleiche, oder doch nicht wesentlich, verschieden gestaltete
Symptomencomplexe seitens des Centralnervensystems auftreten. Auch die Frage nach
dem Wesen und der Art des Zustandekommens dieser Erkrankungen ist damals bereits
viel yentilirt worden Besonders hervorgehoben zu werden verdient die Monographie von
Riegler (1879), insofern sich der genannte Autor mit der praktischen Seite beschäftigt hat.
Im Allgemeinen schloss man sich anfangs hinsichtlich der Pathogenese der von
Erichsen urgirten Theorie an, dass die Symptome auf entzündliche Processe im Rücken-
mark und den Häuten zurückzuführen seien. Indessen mehrten sich bald die Zweifel an
der Berechtigung dieser Auffassung. Bereits Riegler und Moeli hatten für das Zustande-
kommen derartiger Erkrankungen nicht blos die mechanische Erschütterung, sondern
auch den Schreck mit seinen Folgen für die Psyche verantwortlich gemacht. Charcot
hat als der Erste unter Negirung jeglicher anatomischer Veränderungen im Gehirn und
Rückenmark auf den rein fanctionellen und psychogenen Charakter dieser Krankheits-
zustände hingewiesen, indem er als veranlassendes Moment den psychischen Shock, der den
Unfall noch lange Zeit überdauern kann, anspricht. Nach seiner Theorie handelt es sich um
einen hysterischen Symptomencomplex (nevrose hysterotraumatique) durch Autosug-
gestion, gewöhnlich ohne Dazwischenkunft von Bewusstsein oder Reflexion bedingt. Er
stützte seine Ansicht auf das positive Ergebnis von Experimenten, indem es ihm gelang,
Erklärung der Abkürzungen:
A. N. = Amtliche Nachrichten des Reichsversicherungsamtes (R.-V.-A.),
M. f. U. = Monatsschrift für Unfallheilkunde,
A. f. U. = Archiv für Unfallheilkunde,
A. S. V. Z. = Aerztliche Sachverständigenzeitung,
Z. M. B. = Zeitschrift für Medicinalbeamte,
Vj. f. g. M. = Viertel Jahresschrift für gerichtliche Medicin,
A. kl. AI. = Archiv für klinische Medicin,
A. kl. Ch. = Archiv für klinische Chirurgie,
B. kl. W. = Berliner klinische Wochenschrift,
D. m. W. = Deutsche medicinische Wochenschrift,
M. m. W. = Münchener medicinische Wochenschrift,
Z. f. N. :== Zeitschrift für Nervenheilkunde,
V. A. = Virchow's Archiv.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 795
bei hypnotisirten Personen durch einen leichten Schlag Lähmungen hervorzurufen, die
den im Anschluss an Verletzungen entstandenen auch in Bezug auf ihr sensorielles Ver-
halten vollständig glichen; durch die heftige Einwirkung des das Trauma begleitenden
Schreckens befinde sich das Gehirn der traumatisch Hysterischen unter denselben Bedin-
gungen wie das der hypnotisirten Personen.
Oppenheim (Archiv für Psychiatrie 1885) trat der Auffassung Charcot's von dem
Wesen dieser Erkrankungen entgegen und legte dem starken körperlichen Trauma ein
besonderes Gewicht bei. Des Weiteren macht er darauf aufmerksam, dass die psychischen
Störungen, die er an einem grossen Material beobachtet hat, nicht immer in dem Rahmen
der sogenannten hysterischen Psychose sich unterbringen lassen; in späteren Arbeiten aus
den Jahren 1888 und 1889 hebt Oppenheim die Eigenthümlichkeiten des gesammten Sym-
ptomencomplexes immer mehr hervor und kam auf Grund seiner Beobachtungen schliess-
lich zu der Ansicht, dass man die ganze Gruppe von nervösen Functionsstörungen nach
Trauma zu einem einheitlichen Krankheitsbild unter dem Namen „traumatische Neu-
rose" zusammenfassen müsse. Hiemit will Oppenheim also ein Symptomenbild charak-
terisiren, welches, so verschieden Art und Ort der Läsion sein mögen, in sei-
nen hauptsächlichsten Erscheinungsformen stets das gleiche sei, seinen
Hauptsitz in der Grosshirnrinde habe und aus Functionsstörungen im
Gebiet der P syche, Motilität, Sensibilität und de r Sinnescent ren bestehe.
Aus der OpPENHEiM'schen Symptomatologie, die so ziemlich alle Störungen umfasst,
welche bei Neurosen überhaupt vorkommen können, heben wir hier nur jene vier Sym-
ptome hervor, die Oppenheim als sogenannte objective ganz besonders in den Vordergrund
gestellt, da sie nach ihm im Gegensatz zu der nicht in Abrede zu stellenden Möglichkeit
der Nachahmung der übrigen, einer bewussten Beeinflussung durch den Willen des Unter-
suchenden entrückt, die ßeurtheilung des Zustandes und dessen Abgrenzung von der
Simulation ermöglichen sollen:
1. Anästhesien beziehungsweise Hyperästhesien, 2. concentrische Gesichtsfeldeinengung
(„G. F. E."), 3. Pulsbeschleunigung, 4. psychische Anomalien.
Wir werden bei der Symptomatologie noch einmal auf dieselben zurückzukommen
haben.
Strümpell (Berliner Klinik 1888) ist unter Betonung der grossen praktischen Wich-
tigkeit der Erkenntnis des OppENHEm'schen Symptoraencomplexes für die traumatischen
Neurosen eingetreten; ihre Erweiterung hielt er sogar insofern für nöthig, als er den
,,allgemeinen" traumatischen Neurosen, bei deren Entstehung neben der psychischen Ein-
wirkung beim Unfall möghcherweise auch die materielle Erschütterung eine Rolle spielt,
noch die localen gegenüber stellte, obwohl er gleichzeitig zugab, dass diese Trennung
nicht streng durchzuführen sei, da üebergänge und Combinationen nicht selten vorkommen.
Als „locale" traumatische Neurosen bezeichnete er jene Fälle, in welchen nach Verletzun-
gen, welche nur ein Glied treffen, in diesem betroffenen Theil schwere nervöse Störungen
auftreten (Anästhesien, Hyperästhesien, Paresen, Coniracturen, Tremor etc. etc.), Störungen,
die ihre Entstehung rein cerebralen Vorgängen verdanken.
Neben dem psychischen Trauma bei einem Unfall selbst sah Strümpell seinerzeit in
Uebereinstimmung mit den meisten übrigen Autoren als wichtiges Moment für die Fort-
entwicklung und Weiterverlauf der Erkrankung die intensiven Gemüthserregungen, welche
in der Sorge um die Wiedererlangung der Gesundheit und früheren Erwerbsthätigkeit, um
die eigene und der Familie Existenz, die Vorstellung der Vorenthaltung der gesetzmässig
zustehenden Rente an; letzteres besonders in jenen Fällen, in welchen unter den psychi-
schen Erscheinungen das fortwährende Quäruliren und Processiren um die Unfallsrente im
Vordergrunde steht. Pages hatte schon 1885 darauf hingewiesen, dass der specifische Zug
der sogenannten rail way spine nicht durch die besondere Art des körperlichen und psy-
chischen Trauma bedingt ist, sondern durch das hartnäckige Sich-Versenken der Verletzten
in ihre Entschädigungsansprüche. In Deutschland hat Albin Hofman den durch die Unfall-
versicherung hervorgerufenen Ideenkreis der Arbeiter, die eigenartige Interessensphäre, in
der die Verunfallten zu leben gezwungen sind, die langwierigen Verhandlungen der Berufs-
genossenschaften, die Differenzen in der ärztlichen Beurtheilung, die Ungewissheit der Ver-
hältnisse, die auf lange Zeit aus dem Verfahren resultiren, als ursächliche Momente für
jene Abhängigkeit und Befangenheit der Unfallverletzten angesehen, welche den Nährboden
für eine directe, psychische Alteration darstellen, die functionellen Störungen im Organis-
mus theilweise veranlassen, theilweise unterhalten oder verschlimmern, Gesichtspunkte,
die für die En tstehung der Unfalln eur osen von hervorragend er pathoge-
netischer Bedeutung sind (s. Prophylaxe).
Es währte nicht lange, bis sich gewichtige Stimmen sowohl gegen die Auffassung
des OpPENHEiM'schen Symptomenconglomerates als ein typisches, in sich abgeschlossenes
Krankheitsbild, als auch gegen die diagnostische Bedeutung der vier objectiven Symptome
erhoben (Seeligmüller, Eisenlohr u. a.). Insbesondere trat Schultze (Bonn) gegen Oppenheim
auf, als er 1890 auf dem Internat, med. Congress zu Berlin seinen Vortrag dahin resu-
mirte, dass es keine einheitliche scharf begrenzte Krankheitsform, welche auf die Bezeich-
nung „traumatische Neurose'' Anspruch habe, gibt, da wirklich pathognomische Krank-
heitssymptome und objective Kriterien für die Unterscheidung von Simulation und Nicht-
796 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
ßimulation zur Zeit nicht aufgestellt werden können. Auch von der STRÜMPELL'schen „localen"
traumatischen „Neurose" wollte Schultze nicWs wissen, indem er es für die Beurtlieilung
derartiger Fälle als richtiger erachtet, je nach dem am meisten hervortretenden Befund
von Neuralgien, localisirten Krämpfen, Paresen, Contracturen (seien sie nur Refiexerschei-
nungen oder Ausdruck einer bestehenden Hysterie) zu reden, als alles in den bequemen
Schleier der localen traumatischen Neurose zu hüllen. In den hauptsächlichsten Punkten
schloss sich seinen Ausführungen auch Jolly an, der hinsichtlich der Nomenclatur noch
darauf hinwies, dass, wenn auch für die praktische Verständigung eine die ätiologische
Zusammengehörigkeit ausdrückende Bezeichnung, wie traumatische Neurosen, vielleicht
zulässig erscheinen könne, doch die bisher bekannten Neurosen resp. Neuropsychosen
(Hysterie, Hypochondrie, Neurasthenie und deren Mischformen) vollständig zur Classifici-
rung der OppENHEiM'schen Fälle genügen.
Eine Klärung der schwebenden Controversen wurde erst auf dem Wies-
badener Congress für innere Medicin 1893 erzielt, insofern als Ergebnis der
Verhandlungen, in denen Steümpell und Wernicke die Referate übernom-
men hatten, nach längerer Discussion zwischen Hitzig, Bkuns, Sänger,
Jolly, Unverricht u. A. ein gewisser Abschluss in der ganzen Streitfrage
verzeichnet werden konnte. Derselbe ist in nuce dahin zusammenzufassen,
dass man sich hinsichtlich der nosologischen Stellung der Oppenheim'-
schen traumatischen Neurosen den vorerwähnten Ausführungen von Schultze
und Jolly auf dem int. med. Congress in Berlin anschloss. Des Weiteren
stimmte man darüber überein, dass auch nach leichten Traumen nicht selten
allgemeine functionelle Neurosen vorkommen. Die OppENHEiM'schen trau-
matischen Neurosen sind bald Fälle von classischer Hysterie,
Neurasthenie, Hypochondrie, bald auch Krankheitsbilder, die
aus dem Rahmen einer dieser Erkrankung heraustretend sich
mit anderen Symptomen combiniren, so dass je nach dem Vor-
wiegen der einen oder anderen Symptomenverbindung die
äussere Erscheinung des Gesammtzustandes modificirt und
das Krankheitsbild ein äusserlich differentes Gepräge er-
halten kann. Da die Symptome der genannten Krankheitsformen in
der Hauptsache als psychisch bedingt anzusehen sind, haben auch die von
Oppenheim aufgestellten vier sogenannten objectiven Symptome bei aller
Wichtigkeit für die Erkennung derartiger functioneller Neurosen nur den
Wert relativer Objectivität im Gegensatz zu den wirklich objectiven Symptomen
der organischen Nervenerkrankungen. Infolge ihrer psychogenen Entstehung
und der Abhängigkeit von Bewusstseinszuständen *) sind sie hinsichtlich ihrer
Entäusserung auch anderen Regeln unterworfen, als die anatomisch bedingten.
So erklärt sich ihre Inconstanz, das scheinbare Missverhältnis zwischen Inten-
sität des Trauma und In- und Extensität der nervösen Folgezustände des-
selben. Wegen der Unbeständigkeit gewisser Symptome und der Neigung
der Kranken zu absichtlichen Uebertreibungen ist man noch nicht berechtigt,
an der Realität der Krankheitserscheinungen zu zweifeln und Simulation, die
selten und sehr schwierig mit Sicherheit nachzuweisen ist, anzunehmen.
Symptomatologie. Man hat sich zweifellos in den ersten Jahren, als
die „traumatische Neurose" irrthümlicher Weise von so vielen Seiten als
eine bisher unbekannte Krankheit und als ein typisches, in sich abgeschlos-
senes Krankheitsbild betrachtet wurde, bezüglich der Wertschätzung der soge-
nannten vier objectiven Symptome dadurch beeinflussen lassen, dass man in
Ermanglung anderer Kennzeichen diese Symptome als pathognostisch für die
Neurosen traumatischen Ursprunges ansah. Symptome, die ausschliesslich bei
einer Neurose vorkommen, gibt es aber überhaupt nicht und natürlich auch
nicht bei den im Anschluss an ein Trauma sich entwickelnden neurotischen
Störungen, die sich ja, wie wir nochmals betonen wollen, von den übrigen
*) Erst kürzlich hat Sänger an einer Reihe prägnanter Fälle gezeigt, dass die in
Rede stehenden Symptome vollständig ausserhalb der Bewusstseinssphäre vorkommen
und ihren „subjectiven" Charakter ganz verlieren können.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 797
Neurosen doch blos durch ihre Aetiologie, aber nicht durch ihre Sympto-
matologie unterscheiden. Man kann deshalb auch diese Symptome nicht für
den Nachweis des Causalnexus zwischen Neurose und Trauma verwenden;
aber in Voraussetzung wiederholter Nachprüfung einer erstmaligen Unter-
suchung beruht bei Anwendung der neuerdings in wertvoller Weise vervoll-
ständigten Untersuchungsmethoden resp. Cautelen ihre Bedeutung darauf,
dass sie mit gewisser Objectivität auf die Existenz eines von
der Norm abweichenden Zustandes hinweisen, dass sie nach
Schlösser's neuesten Untersuchungen unter Umständen auf tiefer grei-
fende Ernährungsstörungen des Gesammt Organismus zu be-
ziehen sind u. ähnl., kurz, bei erschöpfender Untersuchung erscheinen sie wohl
geeignet, mancherlei Schwierigkeiten für die Beurtheilung eines Falles
zu beseitigen. Entgegen der neuesten, mit seinen Ausführungen auf dem
Wiesbadener Congress in auffallendem Widerspruch stehenden Ansicht von
StrüiMpell über den Wert der objectiven Symptome (s. u.) heben Bruns,
Sänger u. A. deren diagnostische Bedeutung noch in der letzten Zeit
hervor, so dass die Frage nach dem Wert dieser Symptome für die Diagnose
eines neurotischen Zustandes im Allgemeinen, also auch für die Erkennung
einer der Unfallneurosen im Besonderen sicherlich noch actuell genug ist, um
an dieser Stelle einige kurze Bemerkungen über den Nachweis derselben
zu rechtfertigen.
Den quantitativen functionellen Störungen der optischen Sensibilität
(abnorme Ermüdungserscheinungen der Retina, gestörter Farbensinn, gleichmässig concent-
rische Gesichtsfeldeinengung*), die so häufig combinirt sind mit cutanen Anästhesien (ein-
oder doppelseitig, hat man stets grosse Beachtung geschenkt.
Im Gegensatz zu Peters, der weder die Gesichtsfeldeinengung und die übrigen
Ermüdungsphänomene, noch den FÖRSTER'sehen Verschiebungstypus (ein in centripetaler
Richtung in das Gesichtsfeld eingeführtes Object wird weiter peripherisch gesehen als ein
in centrifugaler eingeführtes) für diagnostisch bedeutsam hält, obwohl auch er zugeben
muss, dass die vorgenannten Erscheinungen bei Individuen mit functionellen Nervenkrank-
heiten besonders häufig vorkommen, rechnen Sänger und Wernicke die Gesichtfeldein-
engung zu den objectiven Symptomen bei Berücksichtigung folgender Cautelen und Control-
maassregeln: 1. Verhalten der Farbengesichtsfelder unter einander, d. h. die Reihenfolge
der Farbenausdehnung im Gesichtsfeld mit der speciellen Modification, welche z. B. die
Grenze für Roth gegenüber der Ausdehnung für Blau bei den Neurosen erfährt; 2. die
Projection des Gesichtsfeldes auf grössere Entfernung mittelst der WiLBRAMo'schen Faden-
vorrichtung, bei deren Anwendung es dem zu Untersuchenden auch nach den Prüfungs-
ergebnissen von Freund und jenem von König mit dem modificirten FöRSTER'schen Peri-
meter unmöglich ist, etwa vorhergemerkte simulirte Einschränkungsgrenzen einzuhalten;
bei der campimetrischen Untersuchung (Sghmidt-Rimpler) in vörschiedenen Entfernungen
müssen nach physiologischen Gesetzen stets die entsprechenden Grössenunterschiede her-
vortreten und können Widersprüche gar nicht anders denn als Simulation gedeutet werden ;
3. die WiLBRANo'sche Methode der Untersuchung im Dnnkelraum, am ScHERK'schen Hohl-
kugelperimeter, unter Benutzung selbst leuchtender Untersuchungsobjecte, eine Vervoll-
kommnung des früheren Verfahrens der Gesichtsfelduntersuchung bei diffusem Tageslicht
mit sogenannten Ermüdungstouren im horizontalen Meridian. Sie stützt sich auf die Er-
fahrungsthatsache, dass bei wirklich bestehender Gesichtsfeldeinengung die Erholungsaus-
dehnung des Gesichtsfeldes im Dunkelraum je nach der Schwere des Falles oft vielstün-
digen Aufenthalt im Dunkelraum erfordert. Zwecks detaillirterer Orientirung ist das
Studium der neuesten WiLBRANo'schen Arbeit: „Ueber Erholungsaasdehnung des Gesichts-
feldes unter normalen und pathologischen Bedingungen'* sehr zu empfehlen.
Quantitative Farbensinnprüfungen bei Unfallnervenkranken hat u. a.
Wolfberg angestellt, welcher constant eine eigenthümliche Uebereinstimmung im Verhalten
des Farbensinnes der Macula lutea und dem des Gesichtsfeldes nachweisen konnte.
Während sich nämlich bei normalem quantitativen Farbensinn der Macula auch die Farben-
grenzen innerhalb des normalen Gesichtsfeldes normal verhielten, rückten in den von
Wolfberg untersuchten Fällen die Farbengrenzen von den Aussengrenzen um so stärker
nach dem Fixirpunkt, je mehr der quantitative Farbensinn der Macula lutea sich herab-
gesetzt zeigte.
Zur Prüfung der cutanen Sensibilität empfiehlt sich neben Nadel- und Pinsel-
berührung, Prüfung des Raumsinnes, Feststellung des Grades der elektrocutanen Empfind-
*) Als normale Aussengrenze nimmt man übereinstimmend 90", als normale Innen-
grenze 60" an.
798 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
lichkeit, besonders die GoLDSCHEiDER'sche Methode der Prüfung des Wärme- und Kältesinnes
(Neurol. Centralblatt 1892, Nr. 12) wegen ihrer weit zuverlässigeren Resultate, als solche
die übrigen Methoden ergeben. (Wernicke, Thiem, Jurka.)
Sänger ist für die Anwendung des Influenzfunkens Yon kräftiger Spannung und für
Prüfung mittelst einer von ihm angegebenen besonderen Vorrichtung am Inductionsapparat,
welche gestattet, die Stromstärke an den betreffenden Hautstellen zu steigern oder zu ver-
mindern, ohne dass es der untersuchte sehen kann.
Rumpf (Deutsche med. Wochenschrift 1890) führt als constante Sym-
ptome ferner an: 1. Die sogenannte traumatische Muskelreaction (Wogender
Muskeln mit fibrillären und klonischen Zuckungen nach Oeffnung des fara-
dischen Stromes neben fast vollständig normalem elektrischem Untersuchungs-
befund bei Prüfung der Muskelerregbarkeit); 2. Die traumatische Herzaction
(MANNKOPF'sches Symptom), Pulsveränderung bei Druck auf die als schmerz-
haft bezeichnete Stelle, sowohl was die Zahl als die Regelmässigkeit der Puls-
schläge angeht; 3. die quantitative Herabsetzung der faradischen und gal-
vanischen Erregbarkeit der motorischen Nervenstämme.
In der neuesten Zeit haben indessen Nachprüfungen der RuMPP'schen
Beobachtungen ergeben, dass weder jedem einzelnen, noch der ganzen Sym-
ptomtrias die von Rumpf vindicirte Bedeutung beigelegt werden kann.
(Mendel, Windscheid, Rosenthal etc.). Nach den Untersuchungen des
Letzteren ist das MANNKOPF'schen Symptom sogar selten und auch in den
wenigen Fällen, wo es sich findet, nicht objectiv genug, während er die trau-
matische Reaction in der von Rumpf verlangten Form constant kaum bei
einem seiner 49 Fälle fand.
Von weiteren Symptomen wollen wir noch die von Mann aus der
WERNiCKE'schen Klinik beschriebene Verminderung des galvanischen Leitungs-
widerstandes am Kopf erwähnen, und zwar soll sie wegen ihres besonders
häufigen Auftretens bei den mit Kopfbeschwerden, Schwindel, Sausen,
Schmerzen u. s. w. einhergehenden Formen nach diesem Autor geeignet sein,
das wirkliche Bestehen derartiger Beschwerden sehr wahrscheinlich zu machen.
Auch bei Neurasthenien ohne voraufgegangenes Trauma hatte Eulenberg
dieses Symptom gefunden.
Jacksch betont das häufige Vorkommen von alimentärer Glyco-
surie bei den Unfallneurosen, so dass sie bei positivem Ausfall der Unter-
suchung in zweifelhaften Fällen hinsichtlich der Frage der Simulation Be-
rücksichtigung verdient. (Verabreichung einer wässerigen Lösung von 100^
Traubenzucker in 500 aqua, Untersuchung des Urins in den darauffolgenden
6 Stunden, während welcher sich der zu Untersuchende selbstverständlich
jeder Nahrung enthalten muss.). Auch Mendel jun. hat die alimentäre Gly-
cosurie bei traumatischen Erkrankungen des Nervensystems häufiger beob-
achtet als bei functionellen Neurosen anderen Ursprunges und stimmt hierin
mit SxRtJMPELL überein, der besonders bei Unfallhysterien ein vermindertes
Zuckerverbrennungsvermögen constatirte; er lässt aber nicht ausser Acht, dass
individuelle Momente zweifellos in der ganzen Frage eine grosse Rolle spielen,
da die Assimilationsgrenze nicht nur bei verschiedenen Individuen, sondern
auch bei einem und demselben Individuum oft erheblichen Schwankungen
unterworfen ist. Die definitive Entscheidung der Frage hält er erst an der
Hand eines grösseren Beobachtungsmaterials für möglich, das sich nicht nur
auf traumatische, sondern auch auf andere functionelle Erkrankungen des
Nervensystems zu erstrecken hat.
Das — Sit venia verbo — spontane Auftreten von Zucker im Urin bei
Neurosen traumatischen Ursprungs hat Ebstein, der mit Blasius den wohl
beachtenswerten Rath gibt, den Urin von Unfallverletzten stets auf
Zucker zu untersuchen, schon vor längerer Zeit beobachtet.
Mit den bis jetzt besprochenen Krankheitserscheinungen ist jedoch die
Symptomatologie der Unfallneurosen noch keineswegs erschöpft. Nachdem
wir aber auf eine Detailschilderung der psychischen Symptome der
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
799
cerebralen Neurosen im Anschluss an Trauma nicht näher ein-
zugehen brauchen, da sie sich nicht von jenen ohne traumatische Ursache
entstandenen, welche an anderer Stelle dieses Werkes Besprechung finden,
unterscheiden, können wir uns darauf beschränken, im Folgenden zunächst aus
dem grossen Gebiet der Hysterie nach Trauma, resp. Unfall unter Hin-
weis auf die späteren Bemerkungen über die Prädisposition zu Unfallneurosen
im Allgemeinen einzelne Symptome zur Exemplification hysterischer Störungen
herauszugreifen, hinsichtlich deren Entwicklung und späteren Gestaltung der
Einfluss des Unfalls und der sich nach Maassgabe des Unfallversicherungs-
gesetzes hiemit verquickenden Vorstellungsthätigkeit besonders klar hervor-
tritt, umso eher, als die von einzelnen Autoren vertretene Ansicht, dass das
Trauma meistens ein acutes Einsetzen schwerer hysterischer Symptome be-
dinge, im Gegensatz zu der mehr chronischen Symptomentwicklung bei anderen
ätiologischen Varietäten der Hysterie (z. B. der sogenannten toxischen Hysterie
[Achard I) nur für eine relativ kleine Anzahl von hysterischen Erkrankungen
nach Unfall Giltigkeit zu haben scheint.
Entsprechend unserer Auffassung von der psychogenen Natur der
Hysterie treten sehr häufig am Ort der Verletzung, auf den ja bei der psy-
chischen Erregung natürlicher Weise die Aufmerksamkeit am meisten hin-
gelenkt ist, zuerst die hysterischen Stigmata auf (Sensibilitätsanomalien mit
ihren charakteristischen Begrenzungslinien, Aufhebung des Lage- und Muskel-
gefühles, vasomotorische Störungen, schlaffe Lähmung, Steifigkeit, Muskel-
rigidität, Contracturen), die sich entweder von hier aus weiter verbreiten oder
auch local beschränkt bleiben. In diesem Zusammenhang wollen wir zunächst
die sogenannten Gelenkneurosen auf traumatischer Basis erwähnen, Er-
krankungen, welche stets erst nach einer gewissen Zeit, während welcher sich
der psychische Process entwickelt, resp. ausgebildet hat, nach dem Trauma
auftreten und in ihrer Symptomatologie einer entzündlichen Gelenkaff'ection
durchaus ähneln können, ohne dass jedoch ein anatomisches Substrat hierfür
vorhanden wäre. (Esmarch, Volkmann, Erb, Seligmüller u. A.). Und
thatsächlich hat man auch in Zeiten, als man über das Wesen dieser Gelenk-
leiden noch nicht genügend unterrichtet war, in Verkennung des Krankheits-
bildes eingreifende Operationen vorgenommen (Berger, Petersen, Esmarch).
In differentialdiagn ostischer Hinsicht ist neben den von Brodie eingehend
geschilderten Sensibilitäts- nnd vasomotorischen Störungen, letztere oft in periodischer Ab-
wechslang mit entgegengesetztem Verhalten, nach Esmarch für die Schultergelenksgegend
zu berücksichtigen die Schmerzhaftigkeit des Plexus brachialis in der MoHRENHEUi'schen
Grube, im Gegensatz zur Schmerzhaftigkeit im Sulcus intertubercularis bei wahrer Schulter-
gelenkentzündung, ferner im Allgemeinen die Fixation der Glieder in Streckstellung im
Gegensatz zu den Beugecontracturen bei organischen Gelenkleiden, die Thatsachen, dass
die sonst für Beseitigung pathologisch-anatomisch nachweisbarer Gelenkleiden vortheilliaften
Mittel in diesen Zuständen nutzlos sind, ja sogar das Leiden verschlimmern, der auffallende
Contrast zwischen der Geringfügigkeit der örtlichen Veränderungen und der Heftigkeit und
langen Dauer des Leidens, das Ergebniss der Untersuchung in Narkose, in welcher die
Muskelcontractur schwindet, das Gelenk frei und unbeweglich wird, und ähnl.
Der traumatisch-hysterische Tremor, bei dessen Diagnose natür-
lich alle Erkrankungen auszuschliessen sind, zu deren Symptomen der Tremor
gehört (multiple Sklerose, Paralysis agitans, Tic convulsif Guinon, chronische
Intoxicationen) pflegt entweder unmittelbar nach dem Trauma oder im An-
schluss an einen durch letzteres vermittelten hysterischen Anfall einzutreten
und ist bekanntlich bei der männlichen Hysterie in hemi- oder monoplegischer
Form eine der häufigsten Erscheinungen. Paradigmatische Fälle von solchem
lein und schnell schlägigem Zittern (10—15 Oscillationen in der Secunde)
haben u. a. STRtJMPEU., Heyse, Jolly mitgetheilt; in einer Beobachtung von
Fuchs war bei einer schweren traumatischen Hysterie an Stelle des ursprüng-
lichen feinschlägigen Zitterns eine so gesteigerte Reflexerregbarkeit getreten,
dass schon bei den geringsten Anlässen die heftigsten klonischen Krämpfe
800 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
an den oberen und unteren Extremitäten sieh einstellten, so dass das ganze
Krankheitsbiid Aehnlichkeit mit der Tetanie hatte. Mitunter lässt sich ganz
deutlich die Entwicklung des Leidens verfolgen und speciell, wie zwischen
dem Zeitpunkt des Trauma und dem Ausbruch des Tremor, dem häufig eine
muskulöse Unruhe vorausgeht; ein freier Intervall liegt (im HEYSE'schen Fall
acht Tage), in welchem die Vorstellung von dem infolge des Trauma ein-
getretenen Zitterns auf das seelisch alterirte Individuum so einwirkt, dass all-
mählich ein dauernder Zustand daraus entsteht. Der betreffende Kranke
copirt gewissermaassen die Zitterbewegungen, die während des Trauma aus
ganz anderen Gründen (z. B. als Commotionsersch einungen) aufgetreten sind;
hierin ähnelt also das Bild ganz der Entstehung hysterischer Lähmungen
oder Krämpfe durch Nachahmung. Der freie Intervall ist bei der trauma-
tischen Hysterie fast stets, wenn auch nicht immer scharf begrenzt, nach-
zuweisen.
Nach JoLLY spricht vor allem für die Diagnose, abgesehen von dem Aufhören des
Tremor im Schlaf der Einfluss aller Emmotionszuslände, der Umstand, dass überhaupt
nach einer Emmotion, die vielleicht erst einige Zeit nach der Verletzung entstand, auch
das Schütteln sich entwickelt hat und dann im vreiteren Verlauf immer im Zusammenhang
damit die Zunahme des Schütteins bemerkt wurde, das bei Intention und psychischer Er-
regung hinsichtlich Zahl und Grösse des Ausschlages sich bis zu wahren Schüttelkrämpfen
steigern kann, wobei sich, wie wir noch betonen, oft schon aus der begleitenden starken
congestiven Röthung des Gesichtes erkennen lässt, wie stark die Psyche in solchen Zu-
ständen engagirt ist.
Zur Unterscheidung des vorgetäuschten und krankhaften Zitterns der Extremitäten
hat Fuchs-Bonn (Monatsschrift für Unfallheilkunde 1894, 3) auf eine Methode aufmerksam
gemacht, die sich darauf gründet, dass man normaliter ohne vorherige Einübung nicht
gleichzeitig mit dem rechten und dem linken Arm, oder mit einem Arme und einem Beine
zwei verschiedene Bewegungen ausführen kann, ohne dass diese sich gegenseitig stören.
Die Mitbewegungen an der kranken, angeblich mit Tremor behafteten Hand, durch welche
das Zittern stossweise unterbrochen wird, sind nach dem genannten Autor ein sicheres
Kennzeichen der Simulation. Auch Liotger empfiehlt in seinem über Zittersimulation auf
der Lübecker Naturforscherversammlung 1896 gehaltenen lesenswerten Vortrag die Fuchs'-
sche Methode.
In sehr naher Beziehung zur Hysterie stehen die sogenannten Schreck-
(Emotions-) neurosenlähmungen, bei denen lediglich Erregungs-
zustände depressiver Natur als Trauma wirken. Ein Beispiel hiefür finden
wir u. a. in den Mittheilungen von Nonne (Deutsche medicinische Wochen-
schrift 1892, pag. 629 ff.), welches zeigt, wie ein rein psychischer Shock
schwere und sehr complicirte Krankheitssymptome (spastische Lähmungen,
ausgedehnte Muskelcontracturen, G. F. E., Ageusie, Anosmie, hochgradige
Sensibilitätsstörungen u. ä.) zur Entwicklung: bringen kann.") In einem
anderen Fall (Ellenburg), der von verschiedenen Vorgutachtern als grobe
Simulation aufgefasst worden ist, handelte es sich am linken hyperästhe-
tischem Arm um localisirte, rhytmische, sterotyp wiederkehrende klonische
Zuckungen, durch welche der Arm im Schultergelenk blitzartig vorwärts ge-
schleudert und der meist rechtwinklig gebeugte Vorderarm mit der Hand
rein passiv vorgeschnellt wurde. Aehnliche Beobachtungen hat auch Sachs
gemacht.
Ohne an dieser Stelle auf die noch schwebende Meinungsdifferenz ein-
zugehen, ob das von Friedreich seinerzeit als Paramyocl onus multiplex
beschriebene Krankheitsbild ein selbständiges Leiden sei (Marie) oder nur
eine Variation des Tic convulsif im Sinne von Guinon, oder ob der Para-
myoclonus, wie Moebius und StrüxMPell annehmen, zur Hysterie gehört, für
welch' letztere Ansicht vor allem die Art des Auftretens als Schreckneurose
sowie der Verlauf sprechen, erwähnen wir nur jene Fälle, in w'elchen als
*) Ob man für die sämmtlichen als „Schrecklähmung" beschriebenen Fälle materielle
Läsionen ausschliessen kann, ist zur Zeit noch fraglich. Leyden, Kohts. Brieger beschreiben
Fälle, in welchen sich infolge von Schreck nicht eine functionelle Lähmung, sondern eine
■wirkliche Myelitis entwickelt hat.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 801
Ursache für die Entstehung des genannten Leidens ein Unfall angesprochen
worden ist. So die Mittheilung Goldflams (Neurolog. Centralblatt 1892),
wobei die Frage offen bleibt, ob der Unglücksfall als solcher oder nur der
begleitende Shock Grund der Erkrankung ist. Im Anschluss an eine directe
Verletzung des Centralnervensystems mit anatomisch nachweisbaren structu-
rellen Veränderungen ist Paramyoclonie noch nie beobachtet worden, wie denn
auch der einzige vorliegende Sectionsbefund durchaus negativ ist.
Diagnostisch lehrreich ist der ScHÜTTE'sche Fall (Neurologisches Centralblatt 1897), wo
zur Zeit der vier Jahre nach dem Unfall erfolgten Untersuchung anfangs das Bild einer
traumatischen Hysterie mit allerdings schon vorhandenen, aber nur unbedeutenden fibril-
lären Zuckungen und Contractionen verschiedener Muskeln gegeben war, während bei einer
zwei Jahre sj^äter ebenfalls in der Göttinger psychiatrischen Klinik erfolgten Untersuchung
der ausgesprochene Symptomencomplex des Paramyoclonus multiplex constatirt wurde, in
Gestalt von clonischen, nicht synchronen Zuckungen einer Anzahl symmetrischer, will-
kürlich erschlaffter, idiomusculär .zwar gesteigert, elektrisch jedoch normal erregbarer
Muskeln der oberen und unteren Extremitäten ohne einen anderen locomotorischen Effect, als
Zitterbewegungen der betreffenden Gliedmassen auszulösen, da sie nie synergisch wirkende
Muskelgruppen gleichzeitig betreffen.
Auch isolirte traumatisch hysterische Lähmungen einzelner Nerven
sind bekannt (z. B. Nervus peronealis superficialis).
Differential-diagnostisch ist besonders die normale elektrische Erregbarkeit und die
trotz langen Bestehens der Lähmung geringgradige Abmagerung der betreffenden Muskeln
bei derartigen rein functionellen Lähmungen zu berücksichtigen; ihre weitere Entwicklung
wird, wie auch Ledderhose annimmt, noch durch den mäclitigen Einfluss seelischer Er-
regungen über unrichtige ärztliche Beurtheilung, sehr geringe Unfallsrente, materielle Folgen
der Erwerbsbeschränkung u. s. w. gefördert.
Als hysterische Hämoptoe hat Strümpell in letzter Zeit jenes
hell rosa gefärbte, starkschleimige und nur mit spärlichen eitrigen Beimen-
gungen untermischte, oft ziemlich abundante Sputum beschrieben, wie es
z.B. Unfallkranke nach einem Trauma der Brustgegend lange Zeit hin-
durch unter beständigem Hüsteln und Räuspern zu Tage fördern. Neben Brust-
schmerzen finden sich regelmässig allgemein neurasthenische Symptome vor,
die im Verein mit dem Ergebnis der mikroskopischen Untersuchung Zweifel
hinsichtlich der Provenienz des Sputums nicht mehr bestehen lassen. Nach
STEtJMPELL ist das Primäre die Vorstellung, dass eine Erkrankung der Lunge
oder der Luftwege als Folge des Unfalles zurückgeblieben sei und „dass des-
halb Husten eintreten müsse". Der Gedanke an den Husten ruft alsbald das
Auftreten von Hustenbewegungen hervor, welche, je öfter sie, wenn auch nicht
bei vollem Bewusstsein, willkührlich ausgeführt werden, um so rascher zur
Gewohnheit und zum Zwang werden. Durch das beständige Hüsteln ent-
steht schliesslich ein mechanischer Pieiz, ein wirklich katarrhalischer Zustand
im Bachen, aus dessen gelockerter Schleimhaut die Blutung durch das Husten
veranlasst wird. In anderen Fällen wird das Zahnfleisch durch Saugbewe-
gungen, Reiben mit der Zunge und dergleichen oberflächlich verletzt.
So einleuchtend auch die theoretische Erklärung von der psychogenen
Entstehung dieses Symptoms sein mag, so kann man es bei der forensischen
Begutachtung nur dann als Krankheitserscheinung auffassen, wenn es gleich-
zeitig mit anderen einwandfreieren Symptomen der traumatischen Hysterie
vergesellschaftet ist; bei dem Mangel solcher wird man über die factische
Gleichstellung mit Simulation kaum hinauskommen. In einem von uns seiner-
zeit begutachteten analogen Fall hat die auf unser Gutachten hin erfolgte Sisti-
rung der Rentenauszahlung die Hämoptoe zum Verschwinden gebracht und
die früher vorhandene, vier Jahre bestehende vollständige Erwerbsunfähigkeit
innerhalb recht kurzer Zeit in volle Erwerbsfähigkeit umgewandelt.
Goldschmidt beschreibt (Rf. Mf. U. 1898, 3) aus der MENDEL'schen
Klinik zwei Fälle von hysterischer Tachypnoe (nach Trauma [Con-
tusion] des Brustkorbes); Athemfrequenz bis zu 50 i. M. bei einem Puls von
70 — 80. Die Pathogenese erklärt er sich durch die Annahme, dass das
cerebrale Athmungscentrum durch das psychische Trauma getroffen wird,
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. MeJ. 51
802 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
während das Oblongatacentrum durch die vom Unfall direct betroffenen,
sensiblen Fasern der Brust- und Bauchorgane gereizt wird. Beide Reize, von
denen jeder allein bei einem gesunden Menschen vorübergehend Tachypnoe
erzeugen kann, vereinigen- sich und bringen bei einem „nervösen" Individuum
dauernd Tachypnoe hervor.
Dass auch jene schweren Formen von Hysteria magna mit den
grossen hysterischen Attaken (grands mouvements, arc de cercle,
attitudes passionelles etc.) im Anschluss an ein Trauma zur Entwicklung
kommen können, zeigt u. a. die Beobachtung von Fürbeinger und Neumann
(Archiv für klinische Medicin XII).
Traumatische Reflexhysterie hat Ziehen eine ätiologische Form
der Hysterie genannt, in welcher der hysterische Symptomencomplex auf das
mit materieller Läsion eines peripheren Nerven verbundene Trauma folgt,
die Läsion und später die Narbe des peripheren Nerven im Sinne eines fort-
währenden traumatischen Reizes wirkt und gewissermaassen die Hysterie oder
wenigstens Symptome derselben dauernd unterhält, also ähnlich wie bei der
bekannten und viel häufigeren Reflexepilepsie.
In diagnostischer Hinsicht verdienen noch die rhachialgischen Be-
schwerden (points apophysaires nach Trousseau) infolge Contusionen der
Wirbelsäule erwähnt zu werden, welche man früher nach dem Vorgange von
Strohmeyer als Erscheinungen von Spinalirritation aufgefasst hat, während die-
selben wohl häufig nur hysterische Druckpunkte auf hyperästhetischen Zonen
darstellen. Sie erstrecken sich bald nur auf die Halsregion, am häufigsten aber
über den dorsalen und lumbalen Abschnitt der Wirbelsäule, beschränken sich
speciell auf die Gegend der Dornfortsätze und überschreiten seitlich nicht die
Wirbelrinnen. Schwierig kann ihre Unterscheidung werden von den ersten Ent-
wicklungsstadien wirklicher traumatischer Erkrankungen der Wirbelsäule (siehe
rareficirende Ostitis der Wirbelkörper, Kümmell), welche ebenso wie beginnende
tuberkulöse Spondylitiden nach Trauma (1. c.) anfangs die gleichen Erscheinun-
gen veranlassen können, unter denen besonders jener gefürchtete Schmerz
in der Lendengegend bei gleichzeitiger Rückensteifheit hervorzuheben ist, der
die Verletzten häufig zwingt, Bewegungen der Wirbelsäule vollständig zu ver-
meiden.
Chargot lenkt zur Erkennung der „Simulation hysterique de la maladie de Pott" die
Aufmerksamkeit auf das Auftreten von an die hysterische oder epileptische Aura erinnern-
den Empfindungen (phenomenes sympathiques) bei oberflächlichem Reiben der hyperästhe-
tischen Haut oder Druck auf eine zwischen zwei Finger genommene Hautfalte (Oppres-
sionsgefühl im Epigastrium, „aufsteigende Kugel", Herzpalpitationen, Hämmern in den
Schläfen, Ohrenbrausen ohne Trübung des Bewusstseins), Erscheinungen, welche bei wirk-
lichem malum Potti kaum vorkommen, indem sich die Schmerzen hier regelmässig unter
dem Bild von mehr oder weniger ausgebreiteten Intercostalneuralgien manifestiren.
Aus der mit Elementen anderer Neurosen untermischten und oft un-
bestimmten Neurasthenie nach Trauma hat Friedmann einen ein-
facheren Symptomencomplex herauszuschälen versucht, der sich vollständig
isolirt nach einem Trauma des Nervensystems entwickeln kann, und den er
als vasomotorischen Symptomencomplex bezeichnete. Derselbe
äussert sich in Kopfschmerzparoxysmen, Intoleranz und Insufficienz gegen
Strapazen und Erregungen, Schwindel mit Erbrechen. Hinsichtlich der
Schwindelsensationen wollen wir speciell hervorheben, dass dieselben bei im-
pressionablen Kranken sehr viel zu jener gedrückten, düsteren Stimmungs-
lage beitragen, welche die Kranken zu allerhand ängstigenden Autosuggestionen
betreffs ihres körperlichen Befindens veranlassen, sie muth- und energielos
machen u. s. w.
Als anatomisches Substrat fand Eriedmann bei der mikroskopischen Untersuchung
des Gehirnes in unerwarteter Ausdehnung hochgradige Veränderungen ausschliesslich an
den mittleren und kleineren Gefässen, Dilatation der Lumina und Gefässscheiden, An-
füUung mit Wanderzellen und Pigment; stellenweise hyaline Entartung der Wandungen,
also im Wesentlichen eine Bestätigung des von Bernhardt, Krojmthal und Sperling in
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 803
einem Fall von sogenannter traumatischer Neurose constatirten mikroskopischen Befundes
an den kleineren und kleinsten Hirnarterien mit fleckenweiser Degeneration leichten Grades
in allen Gebieten des weissen Rückenmarksystems.
Hiezu wollen wir bemerken, dass man noch nicht an die Möglichkeit einer Neurose
^sine materia" zu glauben braucht, um sein reservirtes Verhalten diesen Befunden gegen-
über zu rechtfertigen. Dass sich eine Reihe ausgedehnter structureller Veränderungen in
den Nervenapparaten unserer Kenntnis seither vollständig entzogen, haben die neuesten
Aufsehen erregenden mikroskopischen Untersuchungen Nissel's bekanntlich nachgewiesen.
Speciell die vorbeschriebenen Befunde sind aber doch einerseits noch zu vereinzelt bei den
Unfallneurosen gefunden u.nd auf der anderen Seite ist das Vorkommen arteriosklero-
tischer Processe gerade bei der hier in Betracht kommenden Arbeiterbevölkerung zu häufig,
als dass wir sie ohne weiteres als anatomisches Substrat für die Krankheitszustände in
vivo ansehen könnten.
Was das procentuale Verhältniss der Betheiligung der drei
genannten Psy cho-Neurosen an dem grossen Sammelbegriff „Trau-
matische Neurosen" betrifft, so bestehen auch hier grosse Meinungsdifferenzen.
Chakcot und seine Schule, deren Standpunkt im Wesentlichen auch Strümpell
seither vertreten hat (s. u.), halten die Hysterie für die häufigste Krankheits-
form, Thiem hält im Gegensatz zu Seliömüller das hypochondrische Ele-
ment für sehr verbreitet, Horsley und Vibert rechneten den grössten Pro-
centsatz der traumatischen Neurasthenie zu, wobei jedoch ein ganz erheb-
licher Theil ihrer Fälle mit dem Bild der traumatischen Hysterie überein-
stimmt. Nach Ansichten anderer Neurologen scheinen die tjebergänge von
Neurasthenie und Hysterie, die sich in jeder Zwischenform zwischen diesen
beiden centralen Neurosen darstellen können, am verbreitetsten zu sein, und
zwar werden der Hysterie die Druckpunkte, die Sensibilitätsstörungen und Ge-
sichtsfeldveränderungen entlehnt, der Neurasthenie der Kopfdruck, die abnorm
leichte Erschöpfbarkeit, Schlaflosigkeit und reizbare Verstimmung u. s. w.
Im weiteren Verlauf der Unfallneurosen treten schwere
psychische Störungen nicht selten so sehr in den Vordergrund, dass
man direct von einer traumatischen Psychose sprechen muss, die
sich jedoch im Allgemeinen nicht von den auf andere Weise entstandenen
Psychosen unterscheidet. Bald handelt es sich bei diesen secundären trau-
matischen Psychosen (im Gegensatz zu den unten zu besprechenden primären,
die ohne neurotische Vorboten, unmittelbar nach dem Unfall mit schweren
psychischen Erscheinungen einsetzen) um ausgesprochen melancholische Zu-
stände mit hysterisch hypochondrischer Färbung, in welchen der Kranke voll-
ständig unter der Herrschaft eines Krankheitsgefühles, eines pathologischen,
Repressiven Gemüthszustandes und schwerer körperlicher Hemmung steht, bald
um eine mehr weniger beträchtliche Herabsetzung der intellectuellen Fähig-
keiten, steigend bis zur vollständigen Verblödung, bald um ausgesprochene
Formen progressiver Paralyse (Dietz), bald um eine hypochondrische para-
noische Psychose mit verallgemeinerndem Beeinträchtigungs- und Verfolgungs-
wahn, welcher durch seine Beziehungen zu dem Unfall und den
sich daraus ergebenden Rechtsansprüchen sein besonderes
Gepräge erhält. Alle diese Fälle zeigen, wie vorsichtig man im Allge-
meinen mit der Prognose sein soll, da sich die schwersten psychotischen Zu-
stände nach anscheinend geringfügigen Traumen und aus einem anscheinend
ganz verschwommenen Symptomencomplex, der nur zu häufig als Simulation
aufgefasst wird, entwickeln können (PiIChter, Laehr).
Aus meiner früheren Thätigkeit in Darmstadt erinnere ich mich eines Falles, in
■welchem man in einer Universitätsklinik, trotzdem ich in dem Vorgutachten auf die bereits vor-
handenen psychischen Elementarstörungen hingewiesen, den betreffenden Kranken als groben
Simulanten und als arbeitsfähig erklärt hatte, worauf ihm die Berufsgenossenschaft die
Rente entzog und auch die verschiedenen Recursinstanzen im gleichen Sinne entschieden.
Aber schon nach kurzer Zeit machte sich die Geistesstörung (quärulirende Paranoia,
Schwachsinn) in einer Weise geltend, dass auch ein psychiatrischer Laie nicht mehr an
deren Existenz zweifeln konnte. Nach Wiederaufnahme des Verfahrens kam der betreffende
Kranke endlich in den Besitz seiner Rente.
51*
804 TRAUMATISCHE KEANKHEITEN.
Prädispositioii. Schon frühzeitig hat man die Frage aufgeworfen,
ob die sog. traumatischen Neurosen oder nach der richtigeren Bezeichnung
die Unfallsneurosen thatsächlich bei ganz gesunden Menschen häufig seien,
und ob nicht vielmehr eine hereditäre oder erworbene neuropsychopathische
Constitution nothwendig sei.
Oppenheim und Strümpell sprechen in ihren Krankengeschichten ausnahmslos von vor
dem Trauma vollständig gesunden, zu Geistes- resp. Nervenkrankheiten nicht veranlagten
Individuen, während Albin Hofmann und Schultze im entgegengesetzten Sinne betonten,
welch' unglaubliche Folgezustände häufig einem anscheinend geringfügigen Unfall zur Last
gelegt werden und wie wichtig eine, allerdings oft recht zeitraubende, genaue Anamnese
sei. Auch Leppmann hält es für anfechtbar, in dieser Allgemeinheit wie Oppenheim und
Strümpell bei unserer Arbeiterbevölkerung ein rüstiges Nervensystem anzunehmen. Im
Übrigen ist zu berücksichtigen, dass eine positive Anamnese auch hinsichtlich überstan-
dener Krankheiten von den Unfallkranken bekanntlich meist in Abrede gestellt wird, da
bei denselben noch allgemein die Ansicht herrscht, um in den Besitz einer Rente gelangen
zu können, müsse man bis zu dem Unfall vollständig gesund gewesen sein, weil sonst auf
die früher überstandene Erkrankung und nicht auf den Unfall die eventuelle Erwerbs-
beschränkung bezogen werden könne. Indessen genügt es ja bekanntlich nach der Aus-
legung des Gesetzes, dass das Trauma eine concurrirende Ursache unter anderen sei, und der
Schwerpunkt liegt nur in dem Nachweis der bis zu dem Unfall reichenden
Arbeitsfähigkeit. Ist erst einmal bekannt geworden, dass frühere Erkrankungen unter
Umständen sogar eine Präsumption zu Gunsten des Unfallverletzten werden können, so
fallen voraussichtlich derartige anamnestische Schwierigkeiten recht bald fort.
Im Gegensatz zu den oben erwähnten OppENHEiM'schen und Si'RÜMPELL'schen Mit-
theilungen hat Chargot, der (s. o.) auf die Entwicklung von hysterischen Zuständen
im Anschluss an Traumen zuerst aufmerksam machte, dem Trauma in den meisten Fällen
nur die Bedeutung einer Gelegenheitsursache und eines „agent provocateur" für die Krank-
heit oder nur für neue auffällige Symptome mit ihren charakteristischen Localisationen
beigelegt, eine Ansicht, die auch Ziehen, Debove u. A. vertreten, wenn sie es als selten
erachten, dass ein nicht prädisponirter, von allen hysterischen Symptomen vor dem Trauma
freier Mensch durch ein Trauma hysterisch wird. Auch an dem von Albin Hofmann,
beobachteten Material, der unter 17 an Unfallneurosen Erkrankten (die sich ihm gegen-
über insgesammt natürlich von vornherein als früher vollständig gesund erklärt hatten)
nur vier vorher vollkommen Gesunde und Unbelastete eruiren konnte, während bei den
übrigen Epilepsie, Alkoholismus und Syphilis nachgewiesen wurde, tritt die Bedeutung der
Prädisposition genügend hervor. Des weiteren sei daran erinnert, dass erst vor kurzem
Kowalewsky (Arch. f Psych. XXVI) die ätiologischen Beziehungen functioneller Nerven-
krankheiten zur Syphilis eingehender erörtert hat und auch Sänger, der neben den bereits
erwähnten Noxen zur Entstehung functioneller Störungen im Nervensystem noch die Er-
müdung, die Unterernährung, die Arteriosklerose erwähnt, führt in seiner Monographie
über Nervenerkrankungen nach Unfall sprechende Beispiele auf, welche die Nothwendig-
keit der Berücksichtigung eventueller syphilitischer Infection bei Beurtheilung von Unfall-
nervenkranken illustriren. Seligmüller, Nonne u. A. weisen darauf hin, dass chronische
Intoxicationszustände nach Abusus von Tabak (bes. Priemen) und Alkohol vollständig
unter dem gleichen Bild wie traumatische functionelle Nervenstörungen verlaufen können,
und in seiner Casuistik berichtet letzterer von einem instructiven Fall, bei dem das Ur-
theil, ob die nachgewiesenen Störungen durch Potatorium oder Trauma bedingt, in suspensa
gelassen werden musste. Aber auch die psychischen Anomalien beim chronischen
Alkoholismus können durchaus gleichgeartet sein jenen bei den sogenannten traumatischen
Neurosen beobachteten (Tromboni, Kruckenberg, Dümstrey). Bei diesen kurzen Bemerkungen
können wir es wohl bewenden lassen, da sie schon genügsam zeigen, wie sehr die rich-
tige Abwägung der allgemeinen prädisponirenden, causalen und sympto-
matischen Umstände von den rein localen und occasionellen der sprin-
gende Punkt bei der forensischen Beurtheilung der Neurosen ist.
Neueste Ansicht von Strümpell. (M. m. W. 1895, 49 ö\) Speümpell
nimmt neuerdings einen wesentlich anderen, zum Theil sogar entgegeugesetzten
Standpunkt ein als früher. Die sogenannten objectiven Symptome verdienen
nach ihm keine grössere Beobachtung mehr als die subjectiven, die Klagen
und Beschwerden der Verletzten, und er gibt jetzt sogar den Rath, über-
haupt gar nicht mehr darauf zu untersuchen; ferner sieht er nicht mehr be-
ängstigende und beunruhigende Vorstellungen (s. o.) als die Grundlage zur
weiteren Ausbildung der Unfallneurosen an, sondern als psychogenes Moment
stehen für ihn jetzt lediglich die Begehrungsvorstellungen der Un-
fallverletzten nach einer möglichst hohen Rente im Vordergrunde; sie ver-
anlassen nach ihm, den Renten ansprecher auch nach vollständiger Heilung^
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 805
der Unfallverletzung fortgesetzt seine körperliche Leistungsfähigkeit zu prüfen,
auf jede subjective Empfindung zu achten und sich alle die Krankheitssym-
ptome zu suggeriren, die er zu haben wünscht. Nach Maassgabe des hervor-
ragenden Einflusses, den er jetzt den Begehrungsvorstellungen beilegt, be-
tont Strümpell weiter, dass das Verhalten des Kranken nach dem Unfall
der wesentlichste Factor sei; „es kommt alles darauf an, wie der
Kranke seinen Unfall aufiasst und wie er ihn beurtheilt. Es
spielen Verhältnisse hinein, für we Iche wenigstens zum Theil
der Kranke selbstverant wortlich ist." Dementsprechend verwischen
sich auch die Grenzen zwischen Simulation und Krankheit so sehr, dass die
Schwierigkeiten bei der Beurtheilung bis zu einem gewissen Grad unüber-
windlich sind.
Lenhartz, in vielen Beziehungen auch Fürstner, schliessen sich Strümpell an,
während andere Autoren auf Grund ihrer Erfahrungen hiezu nicht in der Lage sind. Sie
erkennen, ebenso wie OrPEKiiEiM selbst, den Einfluss der Begehrungsvorstellungen, die ja
gewiss nichts Neues (wir erinnern an Page's „Frocesssymptome") und Unverständliches
sind, an, verkennen aber andererseits nicht, dass nicht nur vor den Begehrungsvorstellungen,
sondern noch nach deren Auftreten und gleichzeitig mit ihnen mindestens ebenso bedeut-
same psychische Emotionen ängstlicher und hypochondrischer Natur auf das Seelenleben
<ler Verletzten einwirken, denen sich der Betreffende nicht entziehen kann, da sie ihren
sehr realen Untergrund in den prekären socialen Verhältnissen des grössten Theiles der
Arbeiterbevölkerung haben.
Zunächst hat Oppenheim (der Fall N. Berlin 1896) auf die tiefgreifenden Meinungs-
änderungen Strümpell's seit dem Jahr 1888 aufmerksam gemacht und mit Recht neben
anderem die Fragen aufgeworfen, wie man z. B. die früheren localen traumatischen Neu-
rosen Strümpell's aus Begehrungsvorstellungen erklären wolle, ferner warum so grosse
Verschiedenheiten unter den Unfallneurosen selbst bestehen, wenn an der Entstehung doch
lediglich blos Begehrungsvorstellungen Schuld seien, desgleichen stehe Strümpell im Wider-
spruch mit den von Oppenheim u. A. gemachten Beobachtungen des Auftretens von Sen-
sibilitätstörungen unmittelbar nach dem Trauma, also zu einer Zeit, wo sich die von
Strümpell gekennzeichnete Vorstellungsthätigkeit noch nich geltend machen konnte. *)
Flatau (Zeitsch. f. pr. Aerzte 1898, 8.) beschreibt 3 Fälle von Neurosen nach Unfall,
für deren Aetiologie nur das erlittene Trauma in Betracht kommen kann. Obwohl „Be-
gehrungsvorstellungen" im Sinne Strümpells auszuschliessen waren, da Rentenansprüche
nicht erhoben wurden, und es sicher im Interesse der Pat. lag zu gesunden, bestand der
Symptomencomplex in sehr, hartnäckiger Weise lange Zeit fort.
Sänger, Rumpf und- Könne halten ebenfalls den jetzigen SxRüMPELL'schen
Standpunkt für zu extrem, und Bruns, der in seinen bekannten kritischen Re-
feraten in den ScHMiDT'schen Jahrbüchern sagt, dass er gerade in Rücksicht auf
die Begutachtungen immer sehr zufrieden sei, wenn er deutlich sogenannte ob-
jective Symptome (s. o.) nachweisen kann, gedenkt der für Gewährung von Renten-
ansprüchen so bedeutungsvollen Consequenzen, die bei allgemeiner Anerkennung
der STRüMPELL'schen Auffassung gezogen werden müssen, indem Strü.^ipell die
Neurosen nicht mehr als „unvermeidliche" Folgendes Unfalles betrachtet
*) Fälle, welche bekanntlich Oppenheim in der Erkenntnis, dass zu ihrer Erklärung
die CHARCOT'sche Theorie von der Autosuggestion nicht herangezogen werden könne, darauf
zurückführt, dass bei starken Reizen, welche die Hautnerven auf einer Körperseite treffen,
auch in der entgegengesetzten Gehirnhälfte Reize entwickelt werden, die nach dem Gesetz
der Irradiation sich auf die Sensibilitäts-Motilitätscentren der betreffenden Gehirnhälfte
verbreiten und deprimirend, d. h. hemmend auf die dort localisirten Functionen wirken.
Diese OppENHEOi'sche Erklärung acceptirte in der letzten Zeit auch Goldscheider. In
einer erst vor kurzem erschienenen Arbeit (Die Bedeutung der Reize für Pathologie und
Therapie im Lichte der Neuronlehre. Leipzig 1898) betont Goldscheider hinsichtlich,
der Beeinflussung der Neuronschwelle durch ein Trauma, dass die von Charcot ange-
nommene psychogenetische Entwicklung der Unfallneurosen für eine grosse Reihe von
Fällen, in denen es sich um eine unmittelbare Wirkung des Trauma handelt, nicht passt,
„indem hier die Erregbarkeit der Neurone unmittelbar durch die Erschütterung alterirt
und diese Erregungen zu den Centralorganen fortgepflanzt werden." Jolly gibt für solche
Fälle leichte periphere Läsionen als Substrat zu, ohne jedoch für die spätere Gestaltung
des Krankheitsbildes den maassgebenden Einfluss der psychischen Emotionen ausseracht
zu lassen, der den hysteriformen Symptomencomplex producirt. Dieser entsteht nur auf
dem Weg von Vorstellungen, die sich mit dem ursprünglich betroffenen peripheren Gebiet
beschäftigen.
806 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
und die Kranken sogar theilweise für dieselben verantwortlich macht. Mit Recht
hebt Leppmann hervor, dass, gerade wenn man, wie Strümpell, an die psycho-
gene Entstehung der Beschwerden glaube, das Milieu, in welches der Verletzte
durch seine Verunglückung tritt, zur Entfaltung eines freien starken "Willens
und zur Unterdrückung von Begehrungs- und Beunruhigungsvorstellungen das
denkbar ungünstigste ist, zumal wenn, wie wir noch hiezu bemerken wollen,
auf ein vorher durch verschiedenartige Momente in- und ausserhalb der Be-
ruf sthätigkeit bereits habituell geschwächtes Nervensystem mit dem UnfaD
noch accidentelle Schädigungen einwirken.
Simulation. (Vgl. den Specialartikel S. 708) Was im Speciellen die
Frage der Simulation betrifft, so liegt es in der Natur der Sache be-
gründet, dass dieselbe weniger in den ausgesprochenen Fällen von functionellen
Störungen actuelle Bedeutung hat, bei deren Beurtheilung es nicht so sehr
darauf ankommt, ob das eine oder andere Symptom simulirt oder bewusst
übertrieben wird, da die Diagnose noch auf Grund der übrigen Erscheinungen
ermöglicht sein kann, sondern es sind hauptsächlich die leichteren Fälle, wo
sich aus dem unvollkommenen, unausgeprägten, sehr variablen Symptomen-
complex die Specialdiagnose einer der drei vorzugsweise in Betracht kommen-
den centralen Neurosen oder deren Mischformen nicht ohne weiteres ergibt,
also jene Fälle, die man kurz als formes fructes bezeichnet.
Bestimmte Methoden für die Entlarvung von Simulanten lassen sich
natürlich nicht geben. Der Nachweis der Simulation kann sich nach Jolly
(amtl. Nachrichten des Reichsversicherungsamtes XIII, 10) nur darauf stützen,
dass sich unter besonderer Berücksichtigung der Glaubwürdigkeit und des
Charakters des Exploranden bei eingehender, ausgedehnter Beobachtung in
geeigneter, je nach den individuellen Verhältnissen einzurichtender Modi-
lication der Versuchsanordnung derartige Widersprüche in den Angaben und
dem Verhalten des Untersuchten finden, wie sie durch die sonst bekannten
Erfahrungen sich nicht verstehen lassen, wobei immerhin noch der subjec-
tiven Neigung des jedesmaligen Beobachters ein gewisser Spielraum bleiben
wird, Simulation zu vermuthen.
MoEBius gibt im Allgemeinen den Rath, darauf zu achten, ob der Kranke
sich auf die von ihm angegebenen Symptome beschränkt, oder ob er sich zur
Variation und Vermehrung derselben verlocken lässt; doch ist hier nicht
ausseracht zu lassen, wie unberechtigt selbst bei nachgewiesener Simulirung
einzelner Symptome die Annahme sein kann, dass der betreffende Untersuchte
überhaupt nicht krank und speciell nicht psychisch krank sei. Viele dieser
sogenannten Simulanten sind und bleiben, wie der Verlauf zeigt, recht schwer
krank. „Povocation und Fallstricke dürfen angemeldet werden, verwerflich
aber sind alle Foltermittel." Zu diesen gehört insbesondere die.forcirte
Elektrisation; ihre Anwendung ist um so unverantwortlicher und brutaler, als
sehr häufig bei bis dahin nur leicht Erkrankten schwere hysterische Zufälle und
ernste psychische Erkrankungen hieraus entstehen können (Jolly, Eulen-
BUEG u. A.).
Inwieweit unter entsprechenden Kautelen der Untersuchungsmethoden,
die sogenannten objectiven Symptome sich der Simulation entziehen können,
ist oben schon berücksichtigt.
Es ist nicht wunderlich, wenn je nach dem Standpunkte, der hinsichtlich
der Wertschätzung der objectiven Symptome für die Diagnose eingenommen wird,
sich auch die Angaben über die Häufigkeit der Simulation widersprechen:
Seligmüller zählt 257o5 Hofmann 33%, Schultze 367o, Oppenheim 4^/o,
Hitzig und Alt 1'27o.
Man hat aus dem Umstände, dass in Berufskreisen, welche viel Unfällen
ausgesetzt sind, in welchen aber das Interesse überwiegt, die Folgen derselben
zu überwinden und nach wie vor der Berufsthätigkeit nachzugehen, die bei
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 807
vielen Unfallverletzten so häufig dauernden nachtheiligen Folgen des Unfalls
sehr oft vermisst werden, auf die grosse Verbreitung der Simulation unter
den Unfallverletzten geschlossen. Dem gegenüber ist jedoch auf die That-
sache hinzuweisen, dass das Auftreten nervöser Störungen auch bei der vor-
erwähnten Kategorie von Verletzten, die keine Ansprüche auf Entschädigung
zu machen haben, keineswegs seltener ist; die Beschwerden werden nur
weniger bekannt, weil die betreffenden Verletzten meistens ein Interesse daran
haben, Zweifel an ihrer Leistungsfähigkeit nicht aufkommen zu lassen. Also
ganz das Gegentheil wie bei den Unfallneurosen-Verletzten ! Hier kommt,
wie bereits erwähnt (s. o.), der maassgebende Einfluss des Milieu und der
gesammten socialen Verhältnisse in Betracht; man vergisst bei der ersten
Argumentirung vollständig, dass den Unfallneurosen meistens erst durch den
Kampf um Entschädigung jener eigenartige Stempel der Hartnäckigkeit und
Unverbesserlichkeit aufgeprägt wird, der so viele Fälle kennzeichnet. Auch
JoLLY warnt bei Beurtheilung solcher Fälle vor Missbrauch des Wortes Simu-
lation; denn um Simulation, d. h. um bewusste Vortäuschung einer nicht vor-
handenen Krankheit handelt es sich gar nicht, wenn jemand unter dem Bann
der Vorstellung, kränker zu sein, als man ihm glauben will, vorhandene Be-
schwerden übertreibt und sie oft in bizarrer Weise zur Darstellung bringt. Die
krankhaften Vorstellungen können, wie Wichmann treffend in seinem auf der
Lübecker Naturforscherversammlung, Abtheilung Unfallheilkunde, gehaltenen
Vortrag über Suggestion und Autosuggestion Unfallverletzter ausführt, unter
solchen Umständen gar nicht zur Ruhe kommen, sie können nicht abklingen,
weil sie immer wieder künstlich angefacht werden.
JoDLY, Weenicke machen darauf aufmerksam, dass die Simulation von
gar nicht vorhandenen Krankheitszuständen ganz entschieden selten sei im
Vergleich zur Simulation des ursächlichen Zusammenhanges (Sänger), d. h. die
Behauptung, dass irgend welche längst bestehenden Beschwerden erst durch den
späteren Unfall herbeigeführt worden seien, in ihrer Verbindung mit der
häufigen Aggravation dieser Beschwerden.
Dass gelegentlich echte Simulation vorkommt, wird natürlich niemand
bestreiten wollen und können. Wenn aber einzelne Fanatiker der Simulation
im fortgesetzten Bestreben, Simulanten zu entlarven, deren grosse und zu-
nehmende Häufigkeit betonen und in gewissenhafter Wahrung der materiellen
Vortheile der Berufsgenossenschaften vielleicht schon mit Voreingenommenheit
an die Untersuchung des betreffenden Kranken herantreten oder gewisse An-
hänger des sogenannten gesunden Menschenverstandes in extremer Einseitig-
keit alle Unfallverletzten als Simulanten betrachten, da sie, um eine hohe
Rente zu erhalten, zur Uebertreibung und Simulation genöthigt seien, und
wenn auf der anderen Seite nach der entgegengesetzten Richtung gefehlt
wird, indem allen Beschwerden und Klagen volle Glaubwürdigkeit beigelegt
wird, oder man die Aggravation lediglich als Erscheinung einer psychischen
Alienation hält und speciell an deren häufiges Vorkommen bei gewissen nicht
traumatisch entstandenen centralen Neurosen erinnert, so liegt der richtige
Standpunkt zwischen diesen beiden Extremen in der vorurtheilsfreien Würdigung
des Untersuchungsbefundes, in der kritischen Abwägung, inwiew^eit den Be-
schwerden, welche man bei der unzweifelhaft bestehenden Neigung zur Ueber-
treibung und Aggravation mit gewisser Reserve aufnehmen soll, thatsächlich
Glauben beizulegen ist und nicht minder in einer genauen und gründlichen
Erhebung der Anamnese unter Berücksichtigung der oben bei der Prädispo-
sition kurz erwähnten Gesichtspunkte.
Die Vorschläge, welche man zur Bekämpfung der Simulation gemacht,
brauchen nur kurz berücksichtigt zu werden. Selig Müller hat z. B. die Er-
richtung von Unfallkrankenbäusern befürwortet, um die Ansprüche von Inva-
liden und Verletzten von einheitlichen Gesichtspunkten aus prüfen zu können,
808 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
ein Vorschlag, der ja manches für sich hat, ohne dass sich jedoch ein drin-
gendes Bedürfnis nach allgemein und weit verbreiteter Einrichtung solcher
Anstalten bis jetzt geltend machen konnte. Ein zweiter Vorschlag, die Simu-
lanten einem eigens dafür zu erlassenden Strafgesetz zu überweisen; ist
praktisch wohl a priori bedeutungslos; denn die Simulation ist nur in den
seltensten Fällen ein wirklich freier und durchdachter Act der Schlauheit, sie
ist ein aus zahlreichen bewussten Motiven und unbewussten Vorstellungen
gemischtes Compositum, so dass es unmöglich ist, dieselbe in ihre einzelnen
Componenten zu zerlegen und die Straffälligkeit des Betrefienden im richtigen
Grad abzuschätzen (Vergl. auch Artikel „Simulationen" S. 708).
Prophylaxe. Therapie. So divergent bis jetzt noch die Ansichten
über eine Reihe theoretisch und praktisch allerdings recht wichtiger Punkte
in der Lehre von den Unfallneurosen sind, so übereinstimmende Einigung
herrscht doch hinsichtlich der Prophylaxe und Behandlung der Unfallnerven-
kranken.
Einer kleinen Anzahl von Fällen, die durch einfache hydrotherapeutische
Proceduren vielleicht Besserung resp. Heilung finden können, steht die unver-
hältnismässig grosse derjenigen gegenüber, in welchen alle therapeutischen
Maassnahmen, wie sie sonst gegen die entsprechenden auf andere Ursachen
zurückzuführenden Nervenkrankheiten zur Anwendung kommen, nicht nur er-
folglos sind, sondern den Gesammtverlauf geradezu schädlich beeinflussen.
Und für diese ist Wiederaufnahme der Arbeit der einzige Heil-
factor; am erfolgreichsten natürlich noch zu einerZeit, wo die
vollständige Fixirung des psychogenen Symptomencomplexes
noch nicht stattgefunden hat und noch jenes psychische Moment, das
man gewöhnlich Correctivvorstellung nennt, zur Wirkung kommen kann.
Die Realisirung der Vorschläge, die man zur Gewöhnung des
Kranken an die Arbeit gemacht, begegnet nach verschiedenen Richtungen er-
heblichen Schwierigkeiten. Abgesehen von der verlockenden Annehmlichkeit
des Weiterbezuges der Rente sind es gewiss auch die durch lange Unthätig-
keit nach dem Unfall zweifellos herabgesetzte körperliche Leistungsfähigkeit,
das mangelnde Training für körperliche Arbeit, die infolge dessen auftretenden
bis zu Schmerzen sich steigernden lästigen Muskelgefühle, Ermüdungserschei-
nungen aller Art u. s. w., welche an die psychische resp. moralische Kraft
des Betreffenden nicht zu unterschätzende Anforderungen stellen und deren
entsprechende Würdigung gerade bei den ersten Begutachtungen nach Ablauf
der Carenzzeit eine zu rigorose Beurtheilung verhindern sollte, da die letztere
erfahrungsgemäss doch nur geeignet ist bei dem Kranken das sogenannte
Princip des Schmerzensgeldes, d. h. die Ueberzeugung von der gesetzlich ver-
bürgten Rechtmässigkeit der Ansprüche auf Entschädigung nach jedem Unfall
immer mehr in den Vordergrund treten zu lassen und dadurch jenes Moment
hereinzuziehen, das den Verlauf derartiger Fälle so verhängnisvoll gestaltet
und alles andere eher bezweckt, nur nicht die Stärkung der Willensenergie
und die Wiederaufnahme der Arbeit.
Eine weitere Schwierigkeit liegt in dem Umstand, dass bei der Eigen-
art und psychogenen Natur der Symptome die Frage, inwieweit wir berech-
tigt sind, von dem Kranken zu verlangen, dass er sich von dem Einfluss
seines Krankheitsgefühles und der mit demselben zusammenhängenden Vor-
stellungsthätigkeit frei macht und mit derselben die graduelle Schätzung der
Arbeitsfähigkeit als Grundlage für die Rentenbemessung, für welche natürlich
complicirtere Verhältnisse vorliegen, als bei den einfachen mechanischen Ver-
letzungen, in den wesentlichsten Punkten von der subjectiven Stellungnahme
des Gutachters abhängen.
Im Allgemeinen ist in der Beurtheilung des Grades der Arbeitsfähigkeit von den
an ünfallneurosen Erkrankten, für die sich specielle Vorschriften natürlich ebensowenig
geben lassen, wie für die anderweitig entstandenen Neurosen, im Gegensatz zu der früher
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 809
weit verbreiteten Ansicht ihrer ungünstigen Prognose ein Umschwung insofern eingetreten,
als man jetzt in Erkenntniss der hohen Bedeutung der Wiedergewöhnung an die Arbeit
für den weiteren Verlauf derartiger Neurosen auf den Unfallverletzten durch Gewährung
einer nicht zu reich! ich bemessenen Rente einen Druck zur Wiederaufnahme der Arbeit
und zu einer hierdurch allein möglichen neuen Willenskräftigung auszuüben sucht. Wäh-
rend der Rentenansprecher im Falle der partiellen Erwerbsfähigkeit im Stande sein dürfte,
sich mit seinem Verdienst und der Unfallrente zu ernähren, müsste im entgegengesetzten
Falle bald möglichst eine entsprechende Erhöhung der Rente eintreten. Im Uebrigen wird
man bei Verwendung des Untersuchungsbefundes sich natürlich nicht an einzelne Sym-
ptome halten, die wie z. B. Anästhesie, concentrische G. F. E. trotz ihrer Bedeutung
für die klinische Auffassung eines bestimmten Falles bei der forensischen Frage
nach der Erwerbsfähigkeit nur bedingte Berücksichtigung beanspruchen können,
da bekanntlich Individuen mit schweren hysterischen Symptomen trotzdem arbeitsfähig
sein können (Mendel, Golebiewski, Sänger). Anders gestaltet sich jedoch die Sache, wenn
die Würdigung des seelischen und körperlichen Gesanimteindruckes des
Exploranden in den erwähnten Störungen nur den objectiv zu constatirenden Ausdruck,
d. h. den körperlichen Begleitzustand eines tieferen, das gesammte Nervensystem beein-
trächtigenden Leidens erkennen lässt; dann kann wohl von einer nennenswerten Erwerbsfähig-
keit kaum mehr die Rede sein. Insbesondere wird die Wichtigkeit der Berücksichtigung des
körperlichen Ernährungszustandes auch neuerdings von Fürstker hervorgehoben,
da man bei tiefergehenden Störungen im Nervensystem trotz abundanter Nahrungszufuhr
meist ein stetiges Sinken des Körpergewichtes constatiren kann und andererseits erfahrungs-
gemäss gerade diese Fälle eine sehr ungünstige Prognose bieten. Des Weiteren empfiehlt
es sich das Urtheil zu stützen auf Factoren, die auch bei gleichartigen Fällen ohne
materiellen Beigeschmack als wertvoll betrachtet werden; man berücksichtigt also das
etwaige Bestehen einer Disposition zu Erkrankungen des Nervensystems vor dem Unfälle,
etwaige frühere nervöse Erkrankungen, die Art des Trauma, insbesondere, ob dasselbe
überhaupt geeignet war, den Verletzten psychisch in hohem Grad zu erschüttern, die auf
das Trauma unmittelbar folgenden Krankheitssymptome (z. B. Commotionserscheinungen)
und endlich den Verlauf des gesammten Krankenlagers, das sich an den Unfall anschliesst.*)
Neben diesen Schwierigkeiten, die bei der Arbeitsgewöhnung von Unfall-
nervenkranken in Betracht kommen, ist an dritter, aber deshalb nicht minder
wichtiger Stelle zu bedenken, dass bei dem grossen Angebot vollwertiger
Arbeitskräfte und der hieraus resultirenden Abneigung der Arbeitgeber, nur
theilweise leistungsfähige Arbeiter einzustellen, selbst den besten Willen der
Betheiligten vorausgesetzt, meistens die Gelegenheit zu leichterer, passender
Arbeit fehlt. Strümpell, Brandenburg, Jessen treten zwecks Beseitigung
dieses Uebelstandes warm für die Errichtung von staatlichen Arbeits-
nachweisstellen ein und Immelmann hat in einem 1896 im Verein der
Berliner Unfallversicherungsärzte gehaltenen Vortrag bereits beachtenswerte
Vorschläge hinsichtlich der auf staatlichem Wege zu erfolgenden Organisation
solcher Arbeitsnachweisstellen gemacht, deren Aufgabe es ist, den aus dem
Heilverfahren Entlassenen nur theilweise Erwerbsfähigen jeden Berufes eine
für den speciellen Zustand geeignete Arbeit nachzuweisen.
Am Schlüsse sei noch auf die Vorschläge hingewiesen, w^elche Jolly
(Berliner klinische Wochenschrift 1896, 12) zur Abänderung einzelner
Bestimmungen des Unfall Versicherungsgesetzes gemacht hat, die
im Allgemeinen möglichste Beschleunigung des Verfahrens und Einführung
der bereits in den englischen und schweizerischen Haftpflichtgesetzen vor-
gesehenen und thatsächlich in der Mehrzahl der Fälle zuerkannten Capita 1-
abfindung an Stelle der mit der Veränderung des Grades der Arbeits-
unfähigkeit stets w^echselnden Rente betreffen, wodurch also gerade
jene Irritamente in Wegfall kommen, die erfahrungsgemäss den Geisteszustand
der Unfallverletzten so ungünstig beeinflussen. Wenn Kaufmann, Dubois
und Page infolge der in der Schweiz und England gemachten Erfahrungen
zu der entgegengesetzten Ansicht gekommen sind, nämlich, dass die Capital-
entschädigung mit Rücksicht auf die Möglichkeit der Veränderung der für die
*) Auch bei seiner neuesten Theorie von der hervorragenden Wichtigkeit der „Be-
gehrungsvorstellungen- hat sich Strümpell, wie er selbst mittheilt, nie entschliessen
können, die nach einer stärkeren Commotion zurückbleibenden Klagen selbst ohne jeglichen
objectiven Befund mit Sicherheit als unbegründet hinzustellen.
810 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
EntschädiguDg maassgebenden Verhältnisse unbillig sei und wenn sie gerade
für die traumatischen Neurosen die Rentenentschädigung als die einzig rich-
tige Entschädigungsform ansehen, so erkennt dies Jollt gewiss für specielle
Fälle an, ist jedoch generell davon überzeugt, dass sich die Capital-
entschädigung, wenn man erst einmal in der Lage ist, auf Grund eines ent-
sprechenden Materials die Schlussrechnung zu stellen, nicht mehr blos als
das psychisch Hygienische, sondern auch als das wirtschaftlich
Vorth eilhaftere erweisen wird.
Pathogenetisch zweifelhafte Fälle. Obigen Fällen, welche einen rein
psychogenen Ursprung haben, reihen sich solche an, bei welchen trotz
eingehender Untersuchung organische Veränderungen als Folgen des acquirir-
ten Traumas nicht mit der gleichen Bestimmtheit ausgeschlossen werden
können. Man hat dieselben früher, als man die Bezeichnung traumatische
Neurosen noch promiscue auf die verschiedensten Unfallnervenerkrankungen
anwandte, auch unter diesen grossen Sammelbegriff subsummirt. Hiegegen
hat sich natürlich Oppenheim schon von Anfang an verwahrt; er betont in
seinem in der II. Auflage der EuLENBUEG'schen Realencyklopädie erschienenen
Artikel „Rail way spine" ausdrücklich, dass es in manchen Fällen unent-
schieden bleibe, ob eine reine Neurose oder eine palpable materielle Er-
krankung des Centralnervensystems vorliege. Nicht selten kommen bei einem
und demselben Unfallverletzten neben rein nervösen Störungen anatomisch
zu begründende Symptome vor (Opticusatrophie, reflectorische Pupillenstarre
u. s. w.). Lähmungen der Augenmuskeln mit Paresen in Gesichtsast des
Facialis involviren per se noch keineswegs eine organische Entstehungsweise;
denn sie kommen, wenn auch selten, doch immerhin bei Hysterie ebenfalls
vor; eine Beobachtung von grosser Wichtigkeit für die Frage nach Augen-
muskellähmungen auf traumatisch-hysterischer Basis hat z. B.
Hitzig mitgetheilt (Berliner klinische Wochenschrift 1897, 7).
Die Differentialdiagnose zwischen organischen und hysterischen Facialis-Lähmungen
anlangend, wollen wir u. a. nur kurz an den von französischen Autoren zuerst beschriebenen
Pust versuch erinnern, indem bei Schluss der scheinbar kranken Mundhälfte und Blasen
aus der gesunden nach Jolly mit Bestimmtheit der hysterische Charakter der Lähmung
nachgewiesen ist.
Erwähnung verdienen auch jene Fälle, in welchen nach Traumen wesent-
lich oder ausschliesslich Ohrensausen, abnorme Geräusche oder Schwindel-
gefühle auftreten, bei welchen es sich also um eine organische oder auch nur
functionelle Erkrankung der nervösen Gehör- und Gleichgewichtsorgane handelt.
ScHULTZE sagt mit Recht, dass es gewiss nicht Wunder nimmt, wenn nach
einem harten Stoss gegen den Schädel oder den Körper überhaupt gerade
die Gleichgewichtsorgane leiden. Nur wird im concreten Falle die Beurthei-
lung, ob nicht ein altes Ohrenleiden schon an sich zu derartigen Folge-
zuständen geführt hat, recht erschwert sein können, ebenso wie auch ein
derartig primäres Ohrensausen allmählich Schlaf- und Appetitlosigkeit, depri-
mirte Störung bis zur Steigerung eines krankhaften Affectes hervorbringen
kann.
In einer anderen Reihe von Erkrankungen, in welchen nach der ganzen
Art des Trauma, das meist an umschriebener Stelle zur Einwirkung kam,
Blutungen in das Centralorgan sehr wahrscheinlich sind, bestehen oft lange
Zeit gewisse allgemeine cerebrale Störungen, wie Kopfschmerzen, Schwindel-
erscheinungen u. s. w. fort, ohne dass irgend welche Anhaltspunkte für orga-
nische Läsionen zu gewinnen sind.
FÜRSTNER theilt Beobachtungen mit, nach welchen infolge Erschütterung des Kopfes
ohne irgend welche Hirnsymptome sich eine progressive Abnahme der Intelligenz entwickelt,
bestehend in hochgradiger Denkstörung, längere Zeit fortbestehenden, aber doch der Rück-
bildung fähigen Gedächtnisdefecten, ferner Schwindelsensationen bis zu Bewusstseinsverlust,
gleichzeitig mit somatischen Erscheinungen, welche an eine progressive Paralyse denken
lassen, während die später eintretende, anhaltende Besserung im Zustand und das Ver-
schwinden der Krankheitssymptome eine solche Vermuthung nicht gerechtfertigt hat.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 811
Ebenso treten auch nach Erschütterungen der Wirbelsäule Spinalsymptome auf,
deren organische Natur nicht mit Bestimmtheit nachgewiesen werden kann; einzelne Er-
scheinungen, intensive Schmerzen, Blasen- und Mastdarmstörungen, abnorme Hallung be-
stehen auffallend lange Zeit fort, bis sie sich schliesslich wieder mehr oder weniger voll-
ständig ausgleichen.
Anot (Z. f. N. V.) sah in zwei Fällen neben einer Reihe subjectiver und objectiver
hystero-neurasthenischer Erscheinungen eine gekreuzte Hemiparese der linken oberen und
rechten unteren Extremität, combinirt mit Aufhebung resp. Herabsetzung der Gefühls-
empfindung in diesen Theilen und im rechten Quintusgebiet. Pathogenetisch Hess er die
Fälle unentschieden, wenngleich er mehr zur Annahme einer functionellen Störung neigte.
Wenn man auch in der Mehrzahl dieser Fälle bei Berücksichtiguag der
Stärke des Trauma und der Schwere der unmittelbar nachher eintretenden
Hirn- oder Rückenmarksymptome eine schätzenswerte Handhabe für die Beur-
theilung gewinnen kann, so ist doch zu bedenken, dass selbst ganz leichte
Verletzungen der Rückengegend bei einem Unfall, die so gering waren, dass
sie anfangs kaum beachtet wurden, zu einem schweren progressiv verlaufen-
den Rückenmarksleiden, an dessen materieller Natur nicht der geringste
Zweifel mehr besteht, Veranlassung geben können. Desgleichen weist die
Erfahrung darauf hin, dass bei einzelnen Individuen schon leichte Körper-
erschütteruLgen (Heben einer Last, Sprung auf die Füsse etc.) unmittelbar
zu einer Blutung in die Rückenmarksubstanz mit ihren Folgezuständen führen
können.
Einen Symptomencomplex, dessen Entstehung lediglich aus psychischen
Störungen zweifelhaft erscheinen muss, und der viel eher auf eine Localisation
in den Pyramidenseitenstrangbahnen hinweist, hat vor kurzem Füestner im
MENDEL'schen Centralblatt unter Rücksicht auf die wesentlichsten Symptome
als Pseudospastische Parese mit Tremor beschrieben. Analoge Beob-
achtungen liegen bis jetzt von Nonne, Jessen und Onuf vor. Die moto-
rischen Symptome, unter denen die Spasmen so hochgradig auftreten können,
dass einzelne Muskelgruppen reliefartig vorspringen, können ganz isolirt vor-
kommen, ohne Begleitung seitens der sensiblen oder sensorischen Sphäre,
ohne Complication mit Symptomen einer Allgemeinneurose; in anderen Fällen
sind sie vergesellschaftet mit den bekannten sensiblen Störungen einer Spinal-
irritation, oder gleichzeitig mit Erscheinungen schwerer Neurose, wie hoch-
gradige anfallsweise Polyurie, Tachycardie, die sich in einem der NoNNE'schen
Fälle bis zu Delirium cordis steigerte. Erwähnenswert ist noch die Eigenart
des Ganges bei abnorm stark gebeugten Beinen, („high stepping"), die
Nonne durch die Art und Weise erklärt, wie die Kranken die unwillkür-
lichen Muskelcontracturen und den Tremor zu beseitigen suchen. Dieser
Autor fasst das Krankheitsbild im Wesentlichen als functionell bedingt auf,
während Füestner gegenüber der Annahme, dass auch hier entsprechende
Vorstellungen das auslösende Moment sind, sich auf einen Fall seiner Beob-
achtungen stützt, W'O der Verletzte zunächst nach dem Trauma, id est zu einer
Zeit, als der Kranke noch unter einem so intensiven Shock stand, dass der-
artige Einflüsse der Vorstellungsthätigkeit ausgeschlossen werden müssen, die
paretischen und spastischen Erscheinungen gerade am stärksten zeigte und
eine partielle Rückbildung erst später zu constatiren war.
IL
Traumatische Affectioiien des Gehirns und seiner Häute.
3Ieningitis suppurativa. Die Möglichkeit der Entstehung einer
acuten eitrigen Hirnhautentzündung nach Trauma ohne nachweisbare Ver-
letzung der äusseren Bedeckungen des Schädels, als Convexitäts- oder Basilar-
meningitis wird allgemein anerkannt. Dagegen ist die Annahme einer Menin-
gitis lediglich infolge Hirnerschütterung mit unserer gegenwärtigen Auf-
fassung von der Aetiologie und dem Wesen des Eiterungsprocesses nicht ver-
einbar. Wie V. Hofmann (Wiener klinische Wochenschrift 1888) betont, ist der
812 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
aDatomisclie Nachweis eines causalen ZusammenhaLges zwischen Trauma und
Erkrankung nur dann erbracht, wenn es gelingt, darzuthun, dass durch die
Gewalt eine Läsion am Schädeldach u. s. w. gesetzt wurde, durch welche
das Eindringen virulenter Mikroorganismen in die Schädelhöhle ermöglicht
wurde, für welche, wie v. Bergmann in seiner bekannten Monographie über
Kopfverletzungen sagt, keine Wunde zu klein und keine Spalte zu eng ist.
Freilich begegnet der Nachweis von Fissuren, Narben oft sehr grossen
Schwierigkeiten. So berichtet Strassmann, dass ihm das Auffinden der ur-
sächlichen Fissur in einem sicheren Fall von traumatischer Meningitis miss-
glückt sei, trotz genauer Untersuchung des Türkensattels, Nasenrachenraumes,
Paukenhöhle u. s. w., welch letztere in zweifelhaften Fällen stets vorgenommen
werden muss, nicht nur M^eil sich dort verborgene Läsionen finden können,
sondern auch weil katarrhalische und andere Entzündungen dieser Schleim-
häute bekanntlich oft den Ausgangspunkt der Meningitis bilden, resp. deren
Eintritt vermitteln.
Dass man auf den anamnestischen Nachweis der bekannten Erscheinungen
der Basisbrüche (Nasen-, Ohrblutungen, Abfluss von Liquor cerebrospinalis)
achten wird, bedarf wohl nur einer kurzen Andeutung.
Was die Zeit der Entstehung nach dem Trauma betrifft, so
tritt die Entzündung um so rascher und stürmischer auf, je grösser die Ein-
gangspforte, je bessere Chancen für die Ausbreitung der Entzündung eine
umfangreiche Blutinfiltration der Piamaschen liefert.
Der Verlauf der Erkrankung selbst ist für sich nach keiner Rich-
tung maassgebend, insbesondere beweist in Rücksicht auf das häufig spon-
tane Auftreten einerseits und Ausbleiben auch nach stattgehabtem Kopftrauma
andererseits das Auftreten eines der Meningitissymptome auch ganz kurz
nach einem Trauma für sich allein durchaus noch nicht einen causalen Zu-
sammenhang mit diesem.
V. Hofmann empfiehlt bei Begutachtung hierher gehöriger Fälle die
ausdrückliche Erklärung, dass die Meningitis nicht zufolge der allgemeinen
Natur des den Schädel treffenden Trauma, nicht als nothwendige oder gewöhn-
liche Consequenz desselben, sondern nur infolge der als accessorische und
zufällige Complication aufzufassenden Infection der Läsion eingetreten ist.
Gehirnerschütterung. Je weniger sich die Intensität der einwirken-
den Gewalt in der Ueberwindung der Heftigkeit des Schädeldaches erschöpft
(durch Fracturen mit oder ohne grob anatomische Hirnläsionen), um so aus-
gesprochener sind die Commotionserscheinungen. Aus der Gruppe der be-
kannten Erscheinungen, welche zu dem Nachweis einer stattgehabten Commo-
tion verwendet werden können (unmittelbar beim Unfall eintretende Bewusst-
losigkeit von verschieden langer Dauer, Erbrechen etc., etc.), wie sie entweder
uncomplicirt auftreten, oder mit Symptomen des Hirndruckes (Pulsverlang-
samung) oder Hirnverletzung (Herdsymptome) sich vergesellschaften können,
heben wir als keineswegs seltenes Phänomen die von Azam als „Amnesie
retrograde d'origine traumatique" beschriebene Störung des Gedächt-
nisses hervor, welche binnen wenigen Stunden wieder verschwinden kann
(Wollenberg) oder sich auch als längere Zeit anhaltende, meist auf die dem
Unfall zeitlich zunächst liegenden Erlebnisse beschränkt, oder gar als dauernde
Störung repräsentirt.
Neuerdings hat sich Ziehen (Vj. f. g, M. 1897, 3) mit den Gedächtnis-
störungen nach Kopfverletzungen eingehender beschäftigt; er unterscheidet:
1. Eine allgemeine Gedächtnisschwäche, entweder stabil oder progressiv ver-
laufend als wirklicher Intelligenzdefect mit fliessenden üebergangsformen bis
zum ausgesprochenen Schwachsinn. 2. Die sogenannte Amnesie, nicht auf
einer Zerstörung des Hirngewebes beruhend, sondern auf sogenannten Hem-
mungsvorgängen, welche sich allmählich im Verlauf einiger Zeit wieder aus-
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 813
gleichen können, was sich in Rückbildung der Amnesie ausdrückt. Das aus-
lösende Trauma kann ein körperliches und ein psychisches sein. Wir haben
retro-anterograde Amnesie beobachtet unter den bei einem wiederbelebten
Strangulirten aufgetretenen psychischen Störuagen (Zeitschrift für Medicinal-
beamte 1897, 12) und Charcot in einem Fall, in welchem nur ein sehr
intensives psychisches, aber überhaupt kein körperliches Trauma voraus-
ging. 3. Den Verlust einzelner Gruppen von Erinnerungsbildern, deren Cha-
rakter abhängig ist von der Localisation der ihnen zu Grunde liegenden
Hirnveränderung (Blutung, Erweichung), z. B. Verlust von optischen Erinne-
rungsbildern (Seelenblindheit), respective acustischen (Seelentaubheit), je nach
dem Sitz in Hinterhaupt- oder Schläfelappen. Er beschränkt sich blos auf
die Vorstellungen eines bestimmten Sinnesgebietes und unterscheidet sich
dadurch von der allgemeinen Gedächtnisschwäche und Amnesie, welche all-
gemein gesagt, diftuse Veränderungen irgend welcher Art zur Voraussetzung
haben.
Im einzelnen Fall müssen keineswegs stets alle drei Störungen vorhanden
sein, vielmehr findet man oft nur zwei oder auch blos eine.
Traumatische ErweichuDg-; Cystenbildung. Unter den durch nachweis-
bare structurelle Veränderungen bedingten traumatischen Erkrankungen der
Hirnsubstanz, nach welchen nicht selten erhebliche Temperaturdifierenzen
beider Körperhälften vorkommen (1*5 — 2*^ nach Schüller, v. Berg.^iann), er-
wähnen wir nur kurz die Contusionen, die ja bekanntlich auch ohne
jegliche Verletzung der knöchernen Schädelkapsel, dagegen regelmässig mit
inter- respective intrameningealen Blutungen sich finden. Eine erschöpfende
Zusammenstellung der bezüglichen Literatur gibt Zaayer (V. g. M. HI f.
14. Band) und Zeller (D. Z. f. Ch. 37. Band). Für den vorliegenden Zweck
genügt ihre kurze Anführung ebenso wie die ihrer Folgezustände, wie z. B.
der u. a. von Bergmann und Billroth beschriebenen sogenannten gelben
Erweichung im Anschluss an Hirnquetschungen, die noch nach lange er-
folgter Ausheilung der Kopfverletzung unter den verschiedenartigsten, fou-
droyanten Symptomen, die sich aus der topischen Diagnostik des jeweils be-
troffenen Hirntheils ableiten lassen, nach kurzem Verlauf letal endet.
Dass sich aus Blutungen, traumatischen Erweichungsherden u. a. auch
Cysten entwickeln können, oft klaffende Spalten in der Hirnoberfläche, die
anatomisch unter Umständen congenitalen porencephalitischen Defecten gleichen
(Seelhorst), ist ebenfalls bekannt. Räude, Marchand (A. S. Z. 1897, 13)
beschreiben den Fall einer interessanten Kleinhirncyste, welche aus einer
isolirten traumatischen Kleinhirnblutung infolge Sturz auf den Schädel ent-
stand und nach sechs Monaten durch consecutives Oedem des Hirns und
seiner Häute zum Tode führte.
Encephalitis, Polioencephalitis siiperior. Jenen Fällen, in welchen die
Encephalitis als secundärer, reactiver Process nach Verletzungen des Gehirns,
die den Eit-ermikroorganismen keinen Zutritt zu dem Organ verschafft haben,
vorkommen kann, und die dann unter dem Bild ischämischer, respective
hämorrhagischer Erweichung verlaufen, wie die experimentellen Forschungen
(Friedmann, Ziegler) und einige klinische Beobachtungen (Huguenin)
lehren, stehen die Fälle von Bruns (Neurol. Centralblatt XIV), Mauthner,
W^ernicke, Dinkler (Zeitschrift für Nervenheilkunde VII) gegenüber, in
welchen der Entwicklung einer primären hämorrhagischen Encephalitis oder
eines dieser Affection entsprechenden Symptomenbildes eine Kopfverletzung
ohne jegliche äussere Verwundung vorausgegangen war.
Zwischen Verletzung und Ausbruch des Leidens lag ein Zeitraum von
Tagen bis Wochen, im DiNKLER'schen ein viel grösserer, der allerdings nicht
vollständig frei war von Beschwerden und cerebralen Erscheinungen verschie-
dener Art.
814 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
Nach den nur spärlich vorliegenden Beobachtungen wird man Oppenhetm
darin beistimmen müssen, dass die Frage nach der Wertschätzung des Trauma
(ob unmittelbarer Zusammenhang oder nur prädisponirendes Moment durch
Schaffung eines geeigneten Ansiedelungsortes — Contusionsherd — umschrie-
bene Blutung etc.) für die eigentlichen Krankheitserreger bis jetzt noch
nicht zu entscheiden ist. Ganghofner's Fall verlief z. B. unter dem Bild
einer acuten Infectionskrankheit und auch die bei der Autopsie nachgewiesene
acute Nephritis drängt die Vermuthung auf, dass ausser dem Trauma noch ein
anderer Factor im Spiel gewesen sein muss.
Eitrige Encephalitis. Hirnabscess. Unter den Ursachen des Hirn-
abscesses ist das Trauma, weil die häufigste, auch die wichtigste; be-
kanntlich genügt nicht nur jede Verletzung des Schädels, sondern sogar Haut-
schrunden, eine noch so geringfügige Zerstörung der Continuität der Haut,
die dem Patienten unter Umständen ganz verborgen bleiben kann, ungünstigen
Falles um einen secundären Hirnabscess zu erzeugen, der nicht selten nach
bereits längere Zeit schon erfolgter Verheilung der äusseren Wunde mit seinen
Symptomen zur Entwicklung kommt.
Unter 241 Fällen Yon Gowers, welcher ebenfalls wie v. Bergmann das Vorkommen
eines sogenannten idiopathischen Hirnabscesses vollkommen leugnet und die Ansicht ver-
tritt, dass die meisten derartigen Fälle auf ein unbekannt gebliebenes Trauma zurückzu-
führen seien, hatten 2570 eine bestimmt nachweisbare traumatische Entstehung. Die Loca-
lisation des Abscesses ist im Allgemeinen natürlich von dem Ort des Traumas abhängig.
Dementsprechend sind auch die geschützteren an der Basis liegenden Hirntheile und das
Kleinhirn seltener der Sitz traumatischer Hirnabscesse als die verschiedenen Lappen der
Convexität, besonders Stirn- und Scheitellappen, womit natürlich nicht in Abrede gestellt
sein soll, dass selbst die durch Contrecoup getroffenen Hirnstellen den Ort der Eiterung
abgeben können (Gowers, Janeway).
Die hinsichtlich der traumatischen Entstehung des acuten Hirnab-
scesses in Betracht kommenden Gesichtspunkte ergeben sich ohne weiteres,
wenn man bedenkt, dass die Symptome der mit dem Unfall resp. Trauma
verbundenen Commotio, Contusio cerebri beziehungsweise meningealer oder
cerebraler Blutungen ohne deutliche Scheidung in die des Hirnabscesses über-
gehen und somit auch die zeitliche Continuität der Erscheinungen klar zu
Tage liegt.
Bemerkenswerter sind jene Fälle, in welchen die Kopfverletzung selbst
«ine unbedeutende war, etwaige Commotionserscheinungen sich rasch zurück-
bilden, worauf sich nach einem freien Intervall von mehreren Tagen bis zu
zwei oder drei Wochen ganz acut die aus der Hirnpathologie zur Genüge
bekannten Abscesssymptome entwickeln, die bei rasch wechselnden Abscessen
(Maetius beobachtete die Entwicklung eines hühnereigrossen Abscesses in
drei Tagen) bald von den Hirndruckerscheinungen, die in der Regel bei tiefen
Markabscessen deutlicher entwickelt sind, als bei corticalen, Fernwirkungen,
Ausfallerscheinungen (bedingt durch entzündliche Oedeme und Compression)
verdeckt sein können.
Die traumatischen Spät- (chronischen) Abscesse anlangend ist zu
berücksichtigen, dass sich zwischen Termin der Verletzung und Beginn des
Hirnleidens die Periode einer mehr oder weniger reinen I^atenz einschieben
kann, welche Monate, ja selbst Jahre umfasst, indem das zuerst einwirkende
Trauma entweder von Beginn an die Erscheinungen einer purulenten Hirn-
krankheit auslöst, welche jedoch schon nach kurzer Zeit wieder zurücktreten
oder nur zu ganz passageren Commotionserscheinungen Anlass gegeben, nach
deren Ablauf jede Gefahr vorüber zu sein schien und abgesehen von den
meist persistirenden charakterologischen Veränderungen des betreffenden Indi-
viduums kein Symptom das Fortbestehen einer schweren Krankheit verräth.
Gelegentlich treten dann mit und ohne äussere Veranlassung intercurrente
Recrudescenzen, sich äussernd in dumpfem Kopfschmerz, Schwindel, Erbrechen,
auf, welche ebenfalls wieder rückgängig werden können. Plötzlich wird diese
TRAUxMATISCHE KRANKHEITEN. 815
Periode der totalen oder intervallären Latenz, deren Dauer Wernicke, Kauf-
mann u. A. bis über 20 Jahre angeben, durch das stürmische Bild des frischen
Abscesses mit letalem Ausgang (Durchbruch in die Hirnhöhle oder an die
Oberfläche mit eitriger Meningitis) beendigt.
Nicht minder wichtig für die forensische Beurtheilung sind jene Fälle,
in welchen das Trauma zunächst überhaupt gar keine in äussere Erscheinung
tretende Störung der Hirnfunctionen bedingt, das Gehirn also zunächst gar
nicht in Mitleidenschaft gezogen zu sein schien, bis nach Wochen, Monaten
resp. Jahren die Symptome des Hirnleidens zum Vorschein kommen.
Hinsichtlich der gutachtlichen Verwertung des Sectionsergeb-
nisses bei traumatischen chronischen Hirnabscessen beachte man:
1. Aus der Dicke und Festigkeit der Abscessmembran einen Rückschluss
auf den Bestand der Erkrankung und deren Abhängigkeit von einem der Zeit
der Einwirkung nach bekannten Trauma zu ziehen, ist nur insofern angängig,
als die früheste Ausbildung einer vollständigen Abscesskapsel nicht vor der
6. Woche zu Stande kommt (Stkassmann). Das Fehlen derselben spricht aber
nicht gegen die Chronicität des Leidens, weil dieselbe erfahrungsgemäss auch
bei älteren Abscessen fehlen und auch hier das Hirngewebe selbst in mehr
oder weniger grosser Ausdehnung eitrig infiltrirt sein kann.
2. Für einen Gehirnabscess, zu dessen Entstehung keine andere Ursache
vorliegt, muss ein vorher erlittenes Kopftrauma auch dann verantwortlich
gemacht werden, wenn es keine sonstigen Spuren am Kopf hinterlassen hat
(Mendel, Schuster).
Das Trauma kann auch die Bedeutung einet Gelegenheitsursache haben,
indem es einen anderweitig (z. B. durch caries des Felsen-, Siebbeins) ent-
standenen, bislang latent verlaufenen Abscess aus der Latenz herausreisst,
den Eiterherd zum Durchbruch veranlasst u. s. w^
Die Möglichkeit der Entstehung eines tuberkulösen Hirnabscesses durch
ein Schädeltrauma ergibt sich aus den Bemerkungen über die Beziehungen
zwischen Trauma und Tuberkulose (s. u.).
Hirnblutungen. Zur Entscheidung der Frage, ob eine Hirnblutung
traumatisch oder unabhängig von einer etwaigen Verletzung durch innere
Ursachen (Arteriosklerose, Schrumpfniere, Herzhypertrophie)
bedingt ist, kann neben dem Vorhandensein von intrameningealen Blutungen
der Nachweis frischer corticaler Blutungsherde, die Abwesenheit erfahrungs-
gemäss Hirnblutungen bedingender Organveränderungen im ersteren Sinn Ver-
wendung finden.
In der Literatur der Unfallpraxis sind die für unfallrechtliche Be-
urtheilung der Hirnapoplexien (ob Betriebsunfall oder Krankheit) maassge-
benden Gesichtspunkte bereits mehrfach erörtert worden (Strassmann, Liersch,
Thiem, M. f. U. 1897, 9). Bei der Berücksichtigung des so häufig spontanen
Eintretens von Apoplexien, ohne jede äussere Veranlassung, z. B. während des
Schlafes, ist es ersichtlich, dass es sich in vielen Fällen von Apoplexien
während der Berufsarbeit nur um eine zeitliche und nicht um eine ursäch-
Coincidenz handeln kann. Eine solche ist nur bei erbrachtem Nachweis anzu-
nehmen, dass eine Betriebsarbeit begünstigend und beschleunigend auf das
Platzen eines Hirngefässes eingewirkt hat, wenn, wie eine Recursentscheidung
des Beichsversicherungsamtes ausführt, diese Verrichtung mit einer ausser-
gewöhnlichen, über den Rahmen der regelrechten Berufsthätigkeit hinaus-
gehenden plötzlichen Anstrengung verbunden ist. Die Feststellung, inwie-
weit bei länger dauernden Anstrengungen noch der zum Wesen eines Betriebs-
unfalles nöthige Begriff der Plötzlichkeit angenommen werden kann, ist nach
der Ansicht von Thiem nicht Sache des Arztes, sondern des Richters und der
technischen Sachverständigen.
816 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
In einer Entscheidung des R. V. A. vom 28. October 1896 ist auch die Frage nach
der Bedeutung Yon Hitzewirkung für das Zustandekommen von Apoplexien behandelt
worden, insofern das R. V. A. in ständiger Rechtsprechung angenommen hat, dass auch
die schädliche Einwirkung der Hitze als Betriebsunfall angesehen werden kann, immer
nur dann, wenn diese Einwirkung durch Betriebsverhältnisse — ungünstige Lage oder
Beschaffenheit der Arbeitsstelle, die eigenthümlichen Anforderungen der Betriebsthätigkeit
u. dgl. — mit veranlasst worden ist, wobei es gleichgiltig bleibt, ob das betroffene Indivi-
duum auch sonst eine ausgesprochene Anlage zu Schlaganfällen hat, da schon der Nachweis
nur einer mit dem Betrieb in Zusammenhang stehenden Ursache genügt, welche aber
keineswegs die alleinige zu sein braucht. Kann der besagte Causalnexus nicht erwiesen
werden, so muss das Entstehen der Apoplexie aus besonderer körperlicher Veranlagung
angenommen werden, der Schlaganfall ist dann lediglich eine gewöhnliche Entwicklung
einer dem Erkrankten beziehungsweise Getödteten innewohnenden natürlichen Krankheits-
anlage. Eine Entscheidung in diesem Sinne hat das Grossherzogliche Hessische Landes-
versicherungsamt (A. S. V. Z. 1896, 5) getroffen.
LiEKSCH (M. f. U. 1895, 5) empfiehlt hinsichtlich der Beziehungen
zwischen Apoplexie und Unfall die Berücksichtigung folgender Punkte:
1. psychischer Vorgänge (Schreck u. dgl.);
2. atmosphärische Verhältnisse (Insolation sehr hoher oder sehr niedriger
Temperatur, schneller Wechsel des Luftdruckes);
3. Alkoholgenuss;
4. Arbeit resp. Thätigkeit zur Zeit des Unfalles, insbesondere Körper*
Stellung;
5. sonstige Körperbeschaffenheit des Verunfallten.
Hinsichtlich approximativer Altersbestimmungen von Blutungen im Central-
nervensystem und besonders im Gehirn hat Türck (Centralblatt für klin.
Med. 1893) durch experimentelle Untersuchungen festgestellt, dass diffuses
Durchsetzen des Gewebes seitens des Blutfarbstoffes nicht vor der 2. Woche
auftritt, in der 4. Woche beginnt die Umwandlung in Hämatoidin, von der
6. Woche ab fehlt die Eisenreaction und in der 9. Woche findet man neben
bindegewebiger Verdickung, Cysten, plagues jaunes, mikroskopisch nur noch
freie Pigmentkörnchen.
Traumatische Spätapoplexie hat Bollinger (ViRCHOw'sche Festschrift
1891, II) jene Hirnblutungen genannt, die sich erst im Verlauf mehrerer
Wochen im Anschlüsse an Contusionsherde besonders des 4. Ventrikels ent-
wickeln, während unmittelbar nach dem Unfall keine oder nur ganz gering-
fügige Erscheinungen auftreten. Durch die infolge des Traumas bewirkte Com-
pression der Hemisphären wird die Cerebrospinalflüssigkeit aus den Seiten-
ventrikeln plötzlich in den 4. Ventrikel hineingepresst und verursacht an der
Wand des Aquäductus und der 4. Kammer zunächst mechanische Läsionen,
Zerreissungen in den unter dem Ependym gelegenen Wandpartien mit oder
ohne ganz geringfügigen Blutungen, wie dies bereits seit Jahren durch die
experimentellen Untersuchungen von Duret und Gussenbauer nachgewiesen
ist, deren Richtigkeit nunmehr Bollinger mit vier Obductionsbefunden auch
für den Menschen bestätigt hat. Die vorzugsweise als Erweichungsnekrose
auftretende sogenannte traumatische Degeneration führt zu Gefässalterationen
und schliesslich infolge letzterer sowie der veränderten Widerstands- und
Druckverhältnisse zu traumatischen und tödtlichen Apoplexien. Die verän-
derten Druckverhältnisse erklären sich u. a. aus dem Umstand, dass die am
Rand solcher Erweichungsherde verlaufenden arteriellen Gefässe nunmehr des
Aussendruckes entbehren, welchen vorher normale Hirnmasse auf sie aus-
übte, indem ein gewisses Gegengewicht gegen den durch die Blutwelle hervor-
gerufenen Innendruck gegeben war, der die Gefässe jetzt viel eher zum
Bersten bringen kann, als wenn sie von normaler Hirnsubstanz mit guter
Consistenz umgeben sind.
Mag sich auch im Allgemeinen das klinische und anatomische Bild ver-
schiedenartig gestalten, wobei natürlich die Intensität des Traumas, die Rich-
tung der einwirkenden Gewalt, die individuelle Disposition, die Qualität des
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 817
Hirnparenchyms und die Beschafienheit der Gefässe eine grosse Rolle spielen
werden, so wollen wir doch gewissermaassen als Typus einen der BoLLiNGEii'schen
Fälle anführen:
Dreizehnjähriges Mädchen; Sturz anf den Kopf mit kurzer Bewusstlosigkeit. Fünt
Wochen später inmitten vermeintlich vollkommener Gesundheit binnen IV2 Stunden
tödtlich endende foudroyante Apoplexie. Bei der Obduction fanden sich neben dem fri-
schen apoplektischen Herd ein älterer kleiner Bluterguss, Fettkörnchenzellen und in den
Wandungen des vierten Ventrikels starke Anfüllung der Lymphscheiden u. s. w.
Multiple Sklerose siehe unter traumatische Rückenmarkskrank-
heiten.
Ti'aumatische Nuclearlähmung der Augenmuskeln. Nach Ausschluss der
übrigen bei Kernlähmungen der Augenmuskeln in Betracht kommenden
Degenerations-Processe (Syphilis, Tabes, progr. Paralyse, dissem. Sklerose
u. ä.) bleiben noch Fälle übrig, wo die Nuclearlähmung unzweifelhaft nach
einem gegen den Kopf wirkenden Trauma (Fall oder Wurf auf das Hinter-
haupt) aufgetreten ist, so dass man als Art der Läsion nur eine durch das
Trauma gesetzte Blutung in die vom unteren Ende der Brücke bis an die
Hirnschenkel sich erstreckende Augenmuskelkernregion (HL, IV., VI. Gehirn-
nerv) annehmen kann. (Siemerling, Hieschberg, Mooren und Schirmer).
Die Krankheitserscheinungen treten schon nach sehr kurzer Zeit, spä-
testens in einigen Tagen nach dem Unfall ein und bleiben meistens auf
eine Kerngruppe beschränkt, nur in der Beobachtung von Galeczowski fand
fortschreitende Lähmung vom Abducens auf andere in der Nähe liegende
Nerven- (Facialis-) Kerne statt. (Wohl bedingt durch den Facialiskern in
Mitleidenschaft ziehende secundäre Erweichung in der Umgebung des apo-
plektischen Herdes.)
Ohne im Uebrigen auf die Differentialdiagnose zwischen fasciculärer und
nuclearer Lähmung eingehen zu wollen, erwähnen wir blos noch das gleich-
zeitige Auftreten von Diabetes als Stütze für die Annahme einer nuclearen
Lähmungsform.
Die Prognose der traumatischen Kernlähmung der Augenmuskeln ist,
aus den bis jetzt vorliegenden Beobachtungen zu schliessen, eine günstige.
Hirngeschwülste siehe unter Trauma und Geschwulst.
Traumatische Epilejpsie. Dass durch die Einwirkung eines Traumas
mit und ohne begleitende psychische Emotionen und besonders durch ein
Schädeltrauma epileptische Zustände veranlasst werden können, mit allen Va-
rianten der epileptischen Erkrankung, von leichten epileptoiden Zuständen,
Krampfattaken, Absenzen, bis zu den das epileptische Irresein m-' icoyj/v zu-
sammensetzenden Erscheinungsformen, in welcher bekanntlich Individualität,
Charakter der Erkrankung, Verlauf im einzelnen Fall ebensoviele Modificationen
bilden, und endlich bis herab zu jenem unaufhaltsam progressiven intellec-
tuellen Niedergang, der im terminalen Blödsinn seinen Abschluss findet, ist
schon seit längerer Zeit anerkannt. Eulenburg hat besonders darauf auf-
merksam gemacht, dass wahrscheinlich ziemlich viele im frühesten Kindes-
alter auftretende Epilepsien auf ein späterhin unbekanntes Trauma zurück-
zuführen seien, während Neftel wohl zu weit geht, wenn er für die grosse
Mehrzahl aller Fälle von Epilepsie im Kindesalter erlittene Kopfverletzungen
als ätiologisches Moment für die Entstehung ansieht.
Hinsichtlich der Entstehungsmöglichkeit Ton Epilepsie nach Kopftrauma er-
innert JoLLY (Charite-Annalen XX) an die bekannten Versuche Westphal's, bei welchen
durch starke Erschütterung des Kopfes einerseits ohne sichtbare grobe Verletzung des
Gehirns Epilepsie zu Stande kam, virährend andererseits, wenn infolge der Erschütterung Blu-
tungen im Gehirn entstehen, dieselben an den verschiedensten Steilen disseminirt gefunden
werden können, ganz besonders aber in den mehr basal gelegenen Gehirntheilen.
Wo der von Nothnagel als „epileptische Veränderung" bezeichnete Zustand selbst lo-
calisirt ist, resp. ob es überhaupt eine einheitliche Localisation hiefür gibt, darüber sind
wir trotz der zahlreichen hierauf gerichteten Untersuchungen und Experimente noch ganz
im Unklaren. Man weiss allerdings, dass durch Reizung (Hitzig) und Herdbildung in der
Bib 1. med. Wissenschaften, Hygiene u. Ger. Med. O"
818 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
sogenannten motorischen Zone des Gehirns verhältnismässig häufig dieser Zustand herbei-
geführt wird. Aber nicht minder steht fest, dass derselbe auch bei völliger Unversehrtheit
dieser Zone durch Läsion anderer Hirntheile zu Stande kommen kann, so dass selbst dann,
wenn eine traumatische Einwirkung in der Gegend der motorischen Zone vorliegt und
Epilepsie entstanden ist, keineswegs der Schluss statthaft erscheint, dass eine andern
Ort der Hirnverletzung eingetretene Affection auch die Ursache der epi-
leptischen Veränderung sein muss. Der Zustand, welcher die habituelle Wieder-
kehr von Krämpfen bedingt, ist also nicht an die Oertlichkeit gebunden, von welcher ur-
sprünglich der Reiz zu ihrer Entstehung ausgegangen ist.
Kocher hat neuerdings als anatomische Veränderungen in fünf Fällen von trauma-
tischer Epilepsie grössere mit Cerebrospinalflüsssigkeit gefüllte Hohlräume beschrieben und
hält sich zu dem Schluss berechtigt, dass neben der gesteigerten Reizbarkeit des Gehirns
im Allgemeinen die bleibende oder vorübergehende Spannung des Liquor cerebrospinalis zur
Entstehung der Epilepsie disponirt.
Des Weiteren zeigt eine Beobachtung Jolly's, dass auch in einem Fall von soge-
nannter einseitiger oder Rindenepilepsie ein anderes epileptogenes Agens (Alkoholabusus)
mitgewirkt hat, resp. mindestens für die Häufigkeit der Anfälle maassgebend geworden ist,
wie denn überhaupt in allen Fällen traumatischer Epilepsie die bereits vor
der Einwirkung des Traumas bestandene Disposition zur Epilepsie eine
grosse Rolle spielt, insofern traumatische Einwirkungen von gleicher Schwere je nach
der verschiedenen Grösse der Disposition von verschieden grosser Bedeutung sind, und
wenn auch im Allgemeinen mit der Schwere der Läsion und mit der Stärke der Er-
schütterung die Wahrscheinlichkeit des Zustandekommens der Epilepsie wächst, so erhöht
sich doch diese Wahrscheinlichkeit noch ganz ausserordentlich und kann schon bei verhältnis-
mässig geringer, nicht zu graveren Veränderungen führender Erschütterung sich entwickeln,
bei gegebener ausgesprochener Disposition (Heredität, Intoxication, frühere Erkrankungen,
unter welchen besonders die cerebrale Kinderlähmung hervorgeholaen zu werden verdient,
bei welcher nach der einmaligen acuten Attake mit und ohne Krämpfe oft lange Zeit nichts
anderes bestehen bleibt als eine stationäre spastische Hemiplegie ohne Anfälle; noch nach
vielen Jahren kommt durch irgend eine epileptogene Ursache, z. B. Trauma, die Epilepsie
zur Entwicklung, die, wenn auch nicht immer, so doch sehr häufig die gelähmte Seite
stärker ergreift und dann einer primär entstandenen jACKsoN'schen Epilepsie sehr
ähneln kann).
Für den Gutachter kann die Frage nach der Heilbarkeit der
jACKSON'schen Epilepsie durch Operation actuell werden. Die Wahr-
scheinlichkeit eines Erfolges der Operation macht Jolly von dem bestimmten
Nachweis einer Affection der motorischen Zone abhängig, d. h. ob einseitige
Cönvulsionen vorhanden, ob in der vom Krampf ergriffenen Seite Paresen und
Sensibilitätstörungen bestehen, die jedesmal im Anschluss an die Krämpfe
eine Steigerung erfahren, oder auch nur dann vorübergehend hervortreten,
während jene Fälle unheilbar sind, in denen bereits stabile mit Contractur ver-
bundene oder an Stärke und Ausdehnung zunehmende Lähmung besteht, da hier
regelmässig bereits tiefergreifende inoperable secundäre Veränderungen im
Mark Platz gegriffen haben.
Was die Symptomatologie betrifft, so entwickelt sich nach Schädel-
traumen besonders häufig die psychische Epilepsie (IS'S^o), während unter
den nicht traumatischen Fällen nur in Ö^o sich Geistesstörung anschliesst.
Bemerkenswert erscheint ferner die Möglichkeit des Auftretens bi-
lateraler Cönvulsionen auch bei einseitiger Rindenläsion. Sie er-
klärt sich daraus, dass die motorischen Rindencentren auch zu gleichseitigen
Muskelgruppen Beziehungen haben. Vielleicht hat auch eine functionelle
Compensation der Hirnrinde durch andere Hirntheile statt, so bei einer
Beobachtung von Sepilli (intra vitam rechts- und linksseitige Cönvulsionen
trotz totaler Zerstörung der rechtsseitigen Hirnrinde).
Die ersten Anfälle stellen sich meist erst relativ spät nach dem
Trauma ein, zuweilen erst nach Jahr und Tag, weshalb, wie auch Kaufmann
betont, die Forderung des R. V. A. hinsichtlich der zeitlichen („unmittel-
baren") Verbindung zwischen Unfall und Epilepsie vom ärztlichen Standpunkt
aus nicht gebilligt werden kann.
V. Strümpell (Zeitschr. für Nervenheilkunde VIII) hat in einem Fall von trauma-
tischer Epilepsie auf das Vorkommen von retrograder Amnesie aufmerksam gemacht (to-
taler Gedächtnisdefect nicht nur für Eindrücke aus der Zeit zwischen Auftreten der ersten
Krämpfe und dem Höhepunkt der Krankheit, sondern auch für alle Erlebnisse bis zu vier
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 819
Jahren vor dem stattgehabten Trauma mit Ausnahme von zwei fragmentären Erinnerungen).
Nach anderweitigen Erfahrungen (s. unter Gehirnerschütterung) und den Beobachtungen
von Alsheimer in Fällen genuiner Epilepsie erscheint die rnckschreitende Amnesie für die
vorbesprochene Krankheitsform nicht pathognostisch.
Ausser durch Schädel- und Hirntrauma können auch durch traumatische
Läsionen der übrigen Körpertheile epileptogene Reize gesetzt werden (z. B.
■durch Verletzung peripherer Nervenstämme, iDesonders ischiadicus, trigeminus);
in vielen Fällen dieser Form von Reflexepilepsie pflegt bekanntlich eine von
dem betroffenen Gebiet nach dem Kopf aufsteigende aura den Ausgangspunkt
anzuzeigen, während die Narbe selbst keineswegs schmerzhaft zu sein braucht
(Binswanger).
Die Nothwendigkeit des Nachweises, dass Epilepsie nicht bestanden,
l)raucht bei der Diagnose traumatische Epilepsie wohl kaum besonders hervor-
gehoben zu werden, ebensowenig wie die Thatsache, dass der Verlauf einer
bereits bestehenden Epilepsie durch ein Trauma in ungünstiger Weise beein-
flusst werden kann.
Im Uebrigen erinnern wir noch an jene Entscheidungen des R. V. A. (I. 166, II. 401,
VI. 63), wonach Unfälle, welche an Epilepsie leidende Arbeiter in einem während der Be-
triebsarbeit erfolgenden epileptischen Anfall erleiden, in ihren Folgen entschädigungspflichtig
sind, wenn die Verletzungen durch besondere Gefahren des Betriebes verursacht oder be-
•einflusst worden sind.
Traumatische Psychosen (siehe oben über Verlauf der traumatischen
Neurosen).
Der Zusammenhang zwischen Geistesstörung und Trauma hat bereits
mehrfach in der Literatur eingehende Bearbeitung erfahren (Schläger,
Krafft-Ebing, Hartmann, Guder). In den meisten Fällen ist nicht das
Trauma der einzige ätiologische Factor, sondern es handelt sich häufig noch
um das Vorbestehen anderer disponirender Momente, die man kurz als an-
geborene oder erworbene neuropathische Constitution zusammenfassen kann.
Die traumatischen Seelenstörungen repräsentiren ebensowenig wie andere
Krankheiten mit traumatischer Basis besondere Typen, wenngleich man be-
stimmte übereinstimmende Züge und Eigenthümlichkeiten, welche erfahrungs-
gemäss gerade bei Geistesstörungen nach Kopfverletzung zur Beobachtung
kommen, nicht in Abrede stellen kann.
Je nachdem die vollentwickelte Psychose sich unmittelbar an das
Trauma anschliesst oder durch einen längeren oder kürzeren Zwischenraum
von ihm getrennt ist, in welchem neurotische Beschwerden im Vordergrund
stehen, hat man von primärem (acutem, subacutem) und secundärem trauma-
tischem Irresein gesprochen. Luib (A. S. Vz. 1896, 7), der sich im Interesse
der Verständigung und Uebersichtlichkeit ebenfalls für die Beibehaltung dieser
Bezeichnung ausspricht, macht besonders darauf aufmerksam, dass im zweiten
Fall die traumatische Genese nur dann als erwiesen zu erachten ist, wenn
die ersten krankhaften Veränderungen, jener psychonervöse Zustand mit den
Stimmungsanomalien, Charakterveränderungen, psychischer Reizbarkeit mit
und ohne somatische Begleiterscheinungen seitens der Motilität und Sensi-
bilität, sich schon kurze Zeit nach dem Unfall bemerkbar machten, während
die stetige Verschlimmerung dieser Erscheinungen bis zur ausgesprochenen
Psychose einen längeren Zeitraum umfassen kann. In den späteren Ent-
wicklungsstadien der secundären Psychosen herrscht als gemeinsamer Zug
meist das Bild der fortschreitenden Demenz vor.
Was die besonders von Wille (Arch. f. Psych. VIII) genauer charak-
terisirten Fälle von primärem acutem, traumatischem Irresein be-
trifft, so verfällt der in der Regel schwer Verunfallte (Basisbruch, Depressions-
fractur), nachdem nur für kurze Zeit nach der Commotio cerebri das Bewusst-
sein wiederkehrt, bald wieder in schwere Benommenheit und Somnolenz, die
mit mehr weniger grosser Regelmässigkeit besonders in den Abendstunden
von katatonischen oder allgemeinen Erregungszuständen in Form lebhaft ver-
52*
820 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
worrener hallucinatorischer Angstanfälle mit reactiv-aggressivem Charakter,
Neigung zu impulsiven Gewaltacten, planlosem Fort- und Umherlaufen unter-
brochen wird. Im weiteren Verlauf, in dem plötzliches Aufschiessen primärer
Wahnvorstellungen expansiven oder depressiven Inhalts nur selten vorkommt,
kann das Bild der acuten Demenz vorherrschen, bis nach zwei-, resp. drei-
wöchentlichem Bestehen allmählich das Stadium der Reconvalescenz mit zu-
nehmender geistiger Frische und anfangs grösseren, später immer mehr zu-
sammenschrumpfenden antero- und retrograden Erinnerungslücken eintritt^
dessen Fortschreiten parallel erfolgt der Rückbildung der somatischen Sym-
ptome (Schwindel und andere in das Innere des Kopfes verlegte Sensationen,
je nach Sitz und Ausdehnung des traumatischen Localprocesses wechselnde
Innervationsstörungen verschiedenster Art).
Des Weiteren kommen Fälle vor, in welchen sich im Anschluss an das acute Stadium
eine chronische und tiefgreifende geistige Veränderung entwickelt, welche der sogenannten
secundären Demenz entspricht, mit einem der progressiven Paralyse durchaus ähnlichen
Symptomenbild. Ein anderes Mal bleibt die secundäre Demenz auf einer gewissen Stufe
stationär (Ziehen), der Kranke zeigt, abgesehen von massiger Urtheilsschwäche, einer Ver-
armung von complexen und abstracten Begriffen und den dieselben normaliter begleiten-
den complicirteren Gefühlstönen, keine manifesten psychischen Störungen.
Hinsichtlich der günstigen Auffassung der Mehrzahl der acuten traumatischen Psy-
chosen stimmt Wille mit Schule überein, während er sowie andere Autoren (Borchardt,
Jolly) sich diesem nicht anschliessen, wenn er eine besondere Form aufstellt, die gewöhn-
lich nach vier Wochen letal enden soll; denn diese letztere ist nach dem ganzen klinischen
Verlauf, Ausgang, Autopsiebefund nichts anderes als eine protrahirt verlaufende eitrige
Meningitis mit vorwiegend psychischen Symptomen, die man aber deswegen noch nicht
als besondere Form von Geistesstörung gelten lassen kann. Luib, Stolper (Vz. f. g. M.
1897, 2) u. A. halten auch die Prognose der acuten Formen nicht für so günstig und
bezweifeln besonders den längeren Bestand der event. erzielten Genesung.
Besonders schwierig kann sich die forensische Beurtheilung
jener Fälle gestalten, in welchen der Verletzte zunächst Monate oder Jahre
gesund bleibt, abgesehen von den oben erwähnten Veränderungen seiner psy-
chischen Persönlichkeit, die nur bei Vergleich mit dem Verhalten vor dem
Trauma als Anomalien erscheinen, aber noch nicht als Psychose betrachtet
werden können. Die erst nach längerer Zeit durch das Hinzutreten eines
oder mehrerer occasioneller Momente zum Ausbruch gebrachte Seelenstörung
ist also auf einem durch das Trauma prädisponirten Boden entstanden. Ein
geringfügiger Anlass, welcher vor dem Trauma ohne pathologische Reaction
ertragen wurde, führt nach dem Trauma infolge der durch dasselbe geschaf-
fenen neuropsychopathischen Constitution zu einer schweren Psychose. Spe-
ciell in der Pathogenese des Delirium acutum (acute Paralyse) spielt das
Trauma eine grosse Rolle, indem das Leiden hauptsächlich derartig invalid
gewordene Gehirne aufsucht und dann für den Ausbruch dieser so stürmisch
verlaufenden Psychose in einem durch ein früheres Trauma geschwächten
Gehirn schon eine intensive Gemüthsbewegung als alleinige Gelegenheits-
ursache wirksam werden kann (v. Keafpt-Ebing).
In Rücksicht auf die jetzt von den meisten Autoren bereits anerkannte
Möglichkeit einer traumatischen Genese von Hirntumoren haben in der Unfall-
praxis auch jene Psychosen actuellere Bedeutung erlangt, die lediglich als
Symptome von Geschwülsten im Schädelinnern auftreten. Von diesen
durch Neubildung bedingten Psychosen lässt sich eine allgemeine Sympto-
matologie nicht einmal in groben Umrissen geben, da Sitz und Grösse des
Tumors, Wachsthumschnelle, complicirende mechanische Folgewirkungen jeden
Fall so zu sagen zu einem individuellen machen. Das polymorphe, regellos
verlaufende, gewöhnlich aus diffusen und Herderscheinungen gemischte Bild
zeigt im Allgemeinen die Symptome eines mehr minder rasch verlaufenden
Blödsinnes mit den mannigfachsten Druck- und Reizsymptomen, dazwischen
häufig stupid manische, delirant hallucinatorische und auch lucidere Phasen.
lieber die Beeinflussung bereits bestehender Geistesstörung durch
Unfall berichtet Leppmann (A. S. V. Z. 1895, 6) und macht auf die Verschiedenheit der
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 821
Beobachtungen in der Anstaltspraxis aufmerksam, wo man Verblödete und ängstlich Ver-
worrene nach durch Unglücksfall bewirkten Schädigungen auffallend schnell klar werden
sieht, als ob die Erschütterung des Gehirns dazu gedient hätte, wesentliche moleculare
Umgestaltungen in demselben zu verursachen, im Gegensatz zu zwei von ihm selbst begut-
achteten Fällen, in welchen ein Unfall eine bestehende Geistesstörung (Paranoia) zur
Arbeitsunfähigkeit verschlimmert habe. Koppen (Gehirnveränderungen nach Trauma,
Jahressitzung des Vereines deutscher Irrenärzte 1897j hält die moleculären Verschiebungen
bei der Consistenz der Hirnsubstanz für unmöglich, sondern glaubt, wie es auch die Unter-
suchungen von Friedmann u. A. wahrscheinlich machen, an eine Veränderung der Hirn-
gefässe.
Von besonderer Bedeutung aus der speciellen Psychopathologie ist die
Frage nach der traumatischen Entstehung der progressiven Pa-
ralyse.
Oebeke bewertet das Trauma capitis als ätiologisches Moment mit -ö'Yo,
GuDDEN (Arch. f. Psych. XXVI) mit S^/o u. s. w.
Die Gesichtspunkte, welche für die traumatische Genese des Läh-
mungsirreseins bei der Begutachtung zu berücksichtigen sind, hat u. a,
Leppmann (A. S. VZ. 1897, 17) eingehender erörtert. Wir heben hier her-
vor, dass das acute Trauma, eine Schädelverletzung, sowohl eine auslösende
als auch eine prädisponirende Wirkung ausüben kann, wobei sich meist noch
andere Belastungsmomente, seien sie angeboren oder erworben, unter welchen
besonders die Syphilis zu erwähnen ist, ohne dass man ihr deshalb eine so
maassgebende pathogenetische Bedeutung beizulegen braucht, wie dies von
manchen Autoren geschieht, nachweisen lassen.
Am deutlichsten ist der Causalnexus bei directen oder indirecten cen-
tralen Verletzungen, wenn sich die Paralyse, wie dies nach Gudden nicht
selten der Fall ist, in unmittelbarem Anschluss an das Trauma entwickelt
(in 18 unter 46 Beobachtungen). Handelt es sich um die Spätwirkung eines
Traumas, liegt also zwischen diesem und dem Manifestwerden der paralytischen
Seelenstörung ein grosser Zwischenraum von Monaten, so ist eine exacte
Anamnese des Falles unumgänglich nothwendig, die sich auf möglichst genaue
Fixirung des Zeitpunktes des ersten Auftretens der sogenannten prämonito-
rischen Symptome (motorische und vasomotorische Störungen, allerhand Ausfall-
erscheinungen in der psychischen Sphäre mit allmählich sich entwickelnder
geistiger Decadence) erstrecken mrd. Bekanntlich umfasst dieses Entwicklungs-
stadium der Paralyse oft eine erhebliche Reihe von Monaten.
Leppmann (A. S. V. Z 1898, 11) macht auf das Auftreten der dementia pa-
ralytica bei Personen mit langwieriger tabes aufmerksam. Nach ihm kann der psy-
chische Sbock beim Unfall im Anschluss an die vorbestandene organische Erkrankung des
Nervensystems (tabes) eine solche des Gehirns entstehen lassen. Er berichtet z. B. von
einem Mann mit augenscheinlicher tabes, welcher eine Pfanne siedenden Eisens trug, stol-
perte und sich verbrühte; nach 6 Wochen typische Paralyse (s. u. über periphere Ver-
letzungen und Lähmungsirresein).
Was die Frage betrifft, ob ein Kopftrauma die bereits vorbestandene
Geisteskrankheit besonders in den ersten Anfängen wesentlich verschlimmern
kann, so hängt deren Entscheidung in concreto neben der Erheblichkeit der
einwirkenden Gewalt wesentlich ab von dem Nachweis der Verschlimmerung
des Zustandes aus den unmittelbaren Unfallfolgen heraus. Leppmann
gibt theoretisch gewiss die Möglichkeit einer Verschlimmerung im besagten
Sinne zu, erinnert aber in praktischer Hinsicht an die den Irrenärzten zur
Genüge geläufige Erfahrung, dass trotz der häufigen und oft recht erheb-
lichen Kopfverletzungen, die Paralytiker acquiriren, eine mit diesen zeitlich
zusammenhängende wesentliche Steigerung der Krankheit keineswegs zu den
regelmässigen Erscheinungen gehört, während Gudden in seiner 596 Fälle
von progressiver Paralyse umfassenden Casuistik im Anschluss an ein Kopf-
trauma eine wesentliche Beschleunigung des Verlaufes und rasche Steigerung
der Symptome bis zum Höhestadium in 3-57o der Fälle nachgewiesen hat.
In dritter Linie ist zu erwägen, ob ein Zusammenhang zwischen
einer peripheren Verletzung und dem Lähmungsirresein besteht,
822 TIIAÜMATISCHE KRANKHEITEN.
insofern die hauptsächlich seelische Wirkung peripherer Verletzung überdau-
ernden oder häufig wiederkehrenden Schmerzen, Schreck, Sorge, Angst, die
Krankheit auslösen oder die bereits vorbestandene wesentlich beschleunigen
kann. Im Gegensatz zu Simon, der den Einfluss psychischer deprimirender
Momente als nebensächlich erachtet, betont Mendel in seiner bekannten Mo-
nographie über progressive Paralyse entschieden deren Einfluss: „man wird sich
der Möglichkeit solcher psychischer Wirkungen umso weniger verschliessen
können, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch jeder psychische Process
nach unseren gegenwärtigen Anschauungen mit einem materiellen Stoff-
wechsel verbunden ist." Hiehergehörige Fälle sind ferner von Witkowski
(Berl. klin. Wochenschrift 1877) und Leppmann mitgetheilt.
E,efiexpsychosen Köppe's. Den traumatischen Psychosen im engeren
Sinne reihen sich jene ziemlich seltenen Fälle an, in welchen die Verletzung
eines peripheren Körpertheils bei bereits prädisponirten Individuen das aus-
lösende Moment für die Psychose war (Reflexpsychose). Es braucht wohl
kaum die Nothwendigkeit einer strengen Sichtung der hierher zu nehmenden
Fälle betont zu werden. Einwandfreie Beobachtungen enthalten die Fälle von
Arndt und Thomsen (D. A. f. kl. M. 1874).
Thomsen's Beobachtung betrifft einen prädisponirten Mann, bei dem 14 Jahre nach
einer Schussverletzung am rechten Arm zunächst Anfälle gleichzeitiger Schmerzen, dann
Episoden hallucinatorischer Geistesstörung auftraten, die sich regelmässig durch von der
Narbe ausgehende Missempfindungen einleiteten. Zwischen den;sich vereinzelt zu völliger
Verwirrtheit steigernden Anfällen bestand anfangs kurzes und etwas später längeres Inter-
vall mit Uebergangsformen.
Thomsen hält die traumatische Genese dieses Zustandes erwiesen, nicht
nur wegen der von der Narbe ausgehenden aura, der completen Heilung durch
Excision der Narbe, sondern auch durch das Verhalten der (Gesichts-) Hallu-
cinationen, Paresen, sensoriellen und sensiblen Störungen der Haut, Sinnes-
organe etc., welche auf der verletzten rechten Körperseite unverhältnis-
mässig stärker auftreten als links, was der Annahme einer reflectorischen
Wirkung auf eine Hemisphäre durchaus entspricht. Im Uebrigen beweist gerade
das durchweg parallele Verhalten der Anfälle und Hemianästhesie einer-
seits, freie Intervalle und normale Sensibilität anderseits die Zusammen-
gehörigkeit beider Momente, indem mit Nachlassen und Abklingen des Reizes
auch die W^irkung verschwindet.
Delirium tremens und Trauma. Bei der grossen Verbreitung, welche
unter der vorzugsweise traumatischen Schädigungen exponirten Arbeiter-,
bevölkerung der Alkoholismus hat, ist noch kurz der Beziehungen zwischen
Delirium tremens und Trauma zu gedenken. Becker (A. S. Vz. 1895, 18>
hat diese Frage zuerst eingehender bearbeitet. Eine jede Verletzung
kann bei Gewohnheitstrinkern ohne weiteres zu Delirium führen; Schwere
der Verletzung, Alter etc. machen keinen wesentlichen Unterschied. Das
Berliner R. V. A. ist in seiner Spruchpraxis dem von Becker zuerst
urgirten Standpunkt beigetreten, dass die Schuldfrage in der Regel zu ver-
neinen sei, da Delirium nach Verletzungen als eine Folge derselben anzu-
sehen ist; dasselbe stellt den Ausbruch einer Krankheit dar, deren Anlage
dem Verletzten innewohnt, deren Entwicklung durch die Verletzung bedingt
wird, analog der tuberkulösen oder irgend einer sonstigen Disposition. Im
Uebrigen geht aus den bis jetzt vorliegenden Entscheidungen des R. V. A.
hervor, dass der Rentenanspruch genügend begründet erscheint, wenn das
Delirium in den ersten Tagen nach dem Unfall in Erscheinung tritt und
jedenfalls noch zur Zeit der Bettlage der Verunfallten. Heftige Fieber-
erscheinungen, grosser Blutverlust, reichliche Eiterungen als unmittelbare
Folgen der Verletzung erhöhen den Wahrscheinlichkeitsgrad des Causalnexus,
während zu Ungunsten des Verletzten in Erwägung zu ziehen ist, ob er ein
„notorischer" Säufer oder bereits ohne äussere Veranlassung früher an Delirium
JßAÜMATISCHE KRANKHEITEN. 823
erkrankt war. Uns scheint hinsichtlich der letzten beiden Momente ein Wider-
spruch vorzuliegen, insofern sie doch nur ein vorgeschrittenes Stadium jener
dem betretienden Individuum innewohnenden krankhaften Anlage darstellen,
für welche man dasselbe in weniger entwickelten Fällen als „schuldfrei" be-
zeichnet hat. Das Trauma kommt in einem dermaassen geschwächten Gehirn
nur noch viel leichter zur Wirkung.
Pai'alysis agitans (Schüttellähmung). Die Bedeutung des Trauma-
für diese Nervenkrankheit, die noch vielfach als motorische Neurose gilt,
haben u. a. Kaufmann, Eulenburg, Wichmann, Oppenheim in ihren be-
züglichen Arbeiten betont. In letzter Zeit hat Walz (V. f. g, M. 1896,
Octoberheft) unter Mittheilung einer eigenen Beobachtung die bis jetzt be-
kannt gewordenen Fälle traumatischer Schüttellähmung in einer nahezu er-
schöpfenden Casuistik zusammengestellt, welche zeigt, dass die Erkrankung
nach allen möglichen Verletzungen entweder unmittelbar nach der Verletzung,
einige Tage später, oder erst nach einem längeren Zwischenraum einsetzt,
mit Bevorzugung des mittleren und höheren Lebensalters, und zwar um so
rascher, wenn das Trauma gleichzeitig mit seiner psychischen und physischen
Wirkung zur Geltung kommt.
Betreffend den näheren Entstehungsmodua nach peripheren Traumen differiren noch
die Ansichten in der gleichen Weise wie hinsichtlich der eigentlichen Ursache der Krank-
heit selbst, wenn auch neuerdings Bongherini und Eedlig in einigen Fällen Veränderungen
im Rückenmark in Form von perivasculärer Sklerose constatiren konnten. Chargot und
Hitzig nehmen von der Peripherie nach den Centren schreitende entzündliche Processe
an, welche die motorischen Reizerscheinungen hervorrufen, Gowers hält das rein mecha-
nische Moment der Erschütterung an und für sich schon genügend, und Maghot fasst in
wenig überzeugender Hypothese das ganze Krankheitsbild als reactiven Vorgang auf eine
durch starken Nervenreiz entstandene Uebererregung auf.
Unter den prädisponirenden Momenten nennt Jolly, der bei einer bereits vor
dem Unfall bestehenden Erkrankung durch letzteren eine sehr erhebliche Steigerung des
anfangs nur leicht vorhandenen initialen Zitterns eintreten sah, in einem bezüglichen Ober-
gutachten (A. N. des R. V. A. 1898, 1 Febr.) besonders die erbliche Anlage, wie sie sich
theils durch Auftreten der Krankheit bei aufeinanderfolgenden Generationen oder bei Ge-
schwistern äussert, und misst ihr eine grössere Bedeutung bei, als dies in den Lehrbüchern
zu geschehen pflegt. Wenn allerdings auch in einer nicht unerheblichen Reih e von Fällen
die Schüttellähmung ohne jede nachweisbare Ursache entsteht, so muss hereditäre Anlage
doch keineswegs mit Nothwendigkeit zur Krankheit führen, indem unter Umständen erst
durch mehr oder weniger intensive äussere Gewalteinwirkung der Ausbruch der Krankheit
bewirkt wird. Nach Vaudier und Leroux kann ein Trauma nur auf einem durch Here-
dität vorbereiteten Boden agitirende Paralyse erzeugen.
Der Causalnexus tritt besonders klar bei localisir;:en Verletzungen vor,
indem das charakteristische Symptom der Erkrankung, der Tremor, zuerst im
verletzten Glied bemerkbar wird; er ist meist continuirlich mit raschen,
gleichmässig oscillatorischen Bewegungen, bald von geringeren, bald von stär-
keren Excursionen, später bald allgemein, bald in paraplegischer Form auf-
tretend. (Zur Unterscheidung von Zittersimulationen siehe oben die FucHs'sche
Methode unter: traumatische Hysterie.) Auch in jenen Fällen, wo zwischen
Trauma und Krankheitsausbruch eine grössere Latenzperiode liegt, finden sich
gewisse Prodrom alerscheinungen (unbestimmte rheumatoide oder neuralgiforme
Schmerzen, Parästhesien, Schwäche und Steifigkeit) mit Vorliebe im verletzten
Glied localisirt. Bei jenen von Charcot und Bourneville als Formes
frustes beschriebenen, selteneren unvollständigen Formen, in welchen das
Zittersymptom nur schwach ausgebildet ist, wird die Summe der übrigen
Symptome des motorischen Apparates (Muskelrigidität mit der hierdurch be-
dingten eigenthümlichen Körperhaltung, Pro- und Retropulsion, allgemeine
Schwerfälligkeit und Unbeholfenheit u. a.) mit den bekannten charakteristischen
Begleiterscheinungen die Diagnose ermöglichen. Die Prognose ist in gleicher
Weise ungünstig wie bei der nicht traumatischen Form. Bereits frühzeitig
vollständige Erwerbseinbusse.
Periodische Schwankungen der Hirnrinden-Funetionen nennt Stern
(Arch. für Psych. Bd. XXVII) einen Symptomencoraplex, den er als Folgezu-
824 TRAUMATISCHE KEANKHEITEN.
stand nach schweren Kopfverletzungen in drei Fällen beobachten konnte. Seinem
Bericht entnehmen wir, dass für eine oft relativ sehr kurze Zeitdauer eine
Herabsetzung der Sensibilität auf allen Sinnesgebieten, Parese mit Ataxie der
willkürlichen Muskulatur, Abnahme der intellectuellen Leistungsfähigkeit ein-
tritt. Nach seiner Auffassung dürfte diese Störung nicht allein infolge von
Kopfverletzung auftreten, sondern sie stellt eine besondere Art functioneller
Schädigung des Gehirns dar, die auch durch andere Ursachen hervorgerufen
werden kann; er exemplificirt hierbei auf das Vorkommen des sogenannten
cerebralen oder CnEYNE-STOCKEs'schen Athmens.
Weitere analoge Beobachtungen liegen unseres Wissens bis jetzt noch
nicht vor.
Akromegalie. Unyeericht (M. m. Wochschr. 1895, 14) hält in einem
Fall, in welchem bei einem vorher gesunden Arbeiter nach Sturz aus be-
deutender Höhe auf den Rücken im Anschluss an eine durch den Unfall er-
littene Knochenverletzung innerhalb IV2 Jahren das Symptomenbild der Akro-
megalie sich entwickelte, den Zusammenhang mit dem Unfall für wahrschein-
lich. In gutachtlicher Beziehung ist der Fall lehrreich, weil der be-
treffende Verletzte lange Zeit „wegen seiner Hünengestalt" als Simulant
betrachtet wurde; nach Hinzutritt der bekannten nervösen Symptome der
Akromegalie fasste man das Krankheitsbild als „traumatische Neurose" auf.
Neben einer Anzahl von Fällen aus der Literatur, bei welchen ein Trauma
als ätiologisches Moment genannt ist, erinnert Unverricht besonders an eine
Beobachtung von Moebius, bei welcher es sich zwar nicht um Akromegalie,
wohl aber um die mit dieser verwandten Osteo-arthropathie, hypertroph,
pneum. handelte, und schliesst daraus, dass es von Bedeutung ist, wie im
Anschluss an Trauma sich gewisse der Akromegalie verwandte Wucherungs-
processe am Knochengerüst verstärken können.
In gleicher Weise kann unter Bezugnahme auf die bis jetzt in der
Literatur niedergelegten Beobachtungen auch für eine Pteihe anderer Erkran-
kungen des Centralnervensystems gegebenen Falles die Möglichkeit eines
Zusammenhanges mit Trauma nicht von der Hand gewiesen werden: Chorea
(ScHULTZE, Seligmüller), RATNAUD'sche Krankheit (Bernhardt, Dehio),
Hemiatrophia facialis (Moebius, Fromhold), Morbus Basedowii (v. Ziemssen,
Zimmermann).
m.
Traumatische Äff ectionen des Rückenmarkes mid der Rückeiimarkshäute.
Blutungen. Von den auf traumatischem Wege entstandenen Verände-
rungen interessiren uns zunächst die Blutungen, wie sie bald durch Einwir-
kung directer Gewalt (Fall, Stoss auf die Rückengegend) oder auch indirect
(Sprung auf die Füsse, Heben einer schweren Last) zu Stande kommen können.
Eine Reihe von Autoren sind der Ansicht, dass Gefässerkrankungen bei dieser
Genese keine wesentliche Rolle spielen.
Die Blutungen finden sich:
1. zwischen Wirbel und dura mater;
2. nach innen von der dura im Arachnoidealsack (Hämatorrhachis,
Apoplexia canalis spinalis);
3. als Meningealapoplexien im Gewebe der weichen Häute.
Da die sub 1 und 2 erwähnten zu hervorstechenden Symptomen kaum
Veranlassung geben, weil ihre Bedeutung hinter derjenigen der übrigen Com-
plicationen (Wirbel-, Rückenmarksläsionen) zurücktritt, und andererseits nur in
den seltensten Fällen eine extradurale Blutung so mächtig werden kann, dass
sie Compressionserscheinungen des Rückenmarks erzeugt, wenden wir uns zu
der sub 3 erwähnten Meningealapoplexie, die, wie nochmals bemerkt,
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 825
auch durch indirecte Gewalt hervorgerufen und aus Gefässen mit normaler
Wandbeschaiienheit erfolgen kann.
Im Gegensatz zu den Blutungen in die Rückenmarksubstanz selbst (siehe
unter Hämatomyelie) mit den vorwiegenden Lähmungserscheinungen, findet man
hier in erster Linie Reizerscheinungen seitens der Rückenmarkshäute und der
Nervenwurzeln, welche natürlich in Intensität und Vielgestaltung von den
quantitativen und localen Verhältnissen des Blutergusses abhängen müssen,
(Spinalschmerz, Steifigkeit der Wirbelsäule, am deutlichsten über dem Sitz des
Blutergusses, irradiirende Schmerzen, Parästhesien, reflectorische Muskelspasmen,
Blasen-, Mastdarmstörungen u. s. w.).
Diagnostisch wichtig ist:
1. das plötzliche, apoplektische Auftreten, rasche Entwicklung der Sym-
ptome nach meist schnellem Verschwinden des Shock;
2. der eigenthümliche Verlauf, bedingt durch das Anwachsen des Blut-
ergusses, die entzündliche Reaction und Resorption des Ergusses.
Prognose. Vollständige Restitutio ist möglich (Leyden, Hitzig), wofern
nicht besondere Complicationen seitens des Rückenmarks, dessen Betheiligung
meist erst aus dem weiteren Verlauf festgestellt werden kann, gegeben sind.
Schindler (M. U. 1896) macht darauf aufmerksam, dass gerade die
leichten Fälle diagnostisch sehr wichtig seien, indem der centrale Ur-
sprung der Schmerzen oft verkannt wird (Rheumatismus, Muskelzerrung), und
durch eine unangebrachte active Therapie (Massage, Elektricität), wie in zwei
von ihm beobachteten Fällen gesehen, erhebliche Verschlimmerung des Zu-
standes mit irreparablen Paresen herbeigeführt werden können.
Ebenso wie Blutungen in andere Organe sind auch Blutungen in die
Meningen ein locus min. resist., an welchem ein im Körper kreisendes Krank-
heitsgift sich festsetzen und weiter entwickeln kann. Neben dem auch hier
geltenden Causalnexus von Trauma zu Tuberkulose und Syphilis (s. u.) er-
innern wir nur an eine Beobachtung von Freund (M. U. 1894, 3), nach
welcher durch Sturz auf den Rücken zunächst eine Meningealapoplexie und
später eine Vereiterung des Blutergusses durch Influenzagift erfolgt ist.
Meningocele spuria traumatica spinalis. Nach Analogie der trauma-
tischen Meningocelen am Schädel hat zuerst Liniger (M. f. U. 1895, 2)
nach schwerer Gewalteinwirkung in der Rückengegend entstandene, cysti-
sche, mit dem subduralen Raum communicirende, also mit Liquor cere-
brospinalis gefüllte Geschwülste an verschiedenen Abschnitten der Wirbelsäule
beobachtet; sie gehen mit mehr oder weniger ausgesprochenen Erscheinungen
spinaler Reizung auf motorischem und sensiblem Gebiet einher. Ein vierter Fall
ist neuerdings von Schanz (M. f. U. 1897, 2) mitgetheilt. Die Grösse der
Geschwulst ist natürlich sehr variabel und hängt, abgesehen von sonstigen
Eigenthümlichkeiten der Verletzung vor allem von Sitz und Grösse der Riss-
stelle in den Rückenmarkshäuten ab.
Während die Diagnose der grösseren Spinalmeningocelen bei Berücksich-
tigung des Entstehungsmodus, Sitz im Verlauf des Wirbelcanales, Fluctua-
tion, Vorwölbung bei Husten, Verkleinerung bei Druck kaum Schwierigkeiten
begegnen wird, können bei kleineren die objectiven Symptome der cystischen
Geschwulst sehr undeutlich sein, zumal bei Ueberlagerung durch eine dicke
Weichtheilschichte, ein Umstand, der zur Vorsicht bei Beurtheilung der so
häufigen und diagnostisch oft dunklen Fälle von Rücken Verletzungen mahnt.
Unter den drei von Liniger beobachteten Fällen ist in zwei wieder voll-
ständige Erwerbsfähigkeit eingetreten, während im dritten die Meningocele
stationär geworden ist.
Meningitis spinalis erfordert keine besondere Besprechung.
Myelitis traumatica. Dass sich an Compressionen, Zerreissungen,
Quetschungen, intramedulläre Blutergüsse Myelitiden anschliessen können,
826 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
wird allseitig anerkannt. Ihre Symptomatologie ergibt sich aus der Höhen-
localisation und Ausdehnung im Kückenmarkquerschnitt unter Berück-
sichtigung der anatomischen physiologischen Verhältnisse ohne weiteres von
selbst; ebenso sind aus der pathologischen Anatomie die verschiedenen
Stadien im Verlauf der Resorption eines hämorrhagischen Herdes (rothe,
gelbe Erweichung, Vernarbung durch derbes fibröses Gewebe, Bildung einer
grösseren Cyste oder eines von grösseren und kleineren Cysten durchsetzten
porösen Gewebes) bekannt genug. Unter andern beschreibt Buschan (A. S. Z.
1895, 21) einen instructiven Fall von multiplen myelitischen Herden
(disseminirte Myelitis) traumatischen Ursprungs.
Erschütterung, Commotio. Wir subsummiren hier jene Fälle, bei welchen
eine Gewalt direct oder indirect auf die Wirbelsäule einwirkt und sich durch
die intact gebliebenen Hüllen auf das Rückenmark fortpflanzt.
Das pathologisch anatomische Substrat für die häufig zu beobachtenden
schweren Spinalsymptome sind besonders für jene Erscheinungen, die nicht
sofort nach dem Unfall, sondern erst im Verlauf der folgenden Stunden ein-
treten, Blutungen, andererseits sind im ersten Shock letal verlaufene Fälle
mit vollständig negativem Obductionsbefund bekannt, während in anderen
Fällen infolge von Rückenmarkserschütterung diffuse, pseudosystematische
Degenerationen sich entwickelten, die sich unmöglich als Folgezustände von
Blutungen auffassen lassen. Zur Erklärung dieser Fälle kommt man jetzt
wieder auf die bereits von Ollivier vertretene Annahme moleculärer Verände-
rungen zurück; eine Bestätigung derselben scheint besonders in den neuesten
Experimenten von Schmaus, Watson, Bickeles gegeben zu sein, die an erst,
längere Zeit nach experimenteller Rückenmarkserschütterung getödteten
Kaninchen schwere structurelle Veränderungen der Nervenfasern, Ganglien-
zellen, Erweichungsherde u. s. w. nachweisen konnten, im Gegensatz zu dem
Mangel palpabler Veränderungen bei den gleich nach stattgehabter Erschütte-
rung getödteten Kaninchen.
Tritt auch häufig eine vollkommene oder fast vollkommene Heilung ein,
so wird man doch bei Unfallgutachten in Fällen schwerer Erschütterung^
trotz des vielleicht momentan günstigen Zustandes an die Möglichkeit einer
später hinzutretenden Myelitis, secundärer Degeneration, diffuser Strang-
erkrankung denken müssen, wie überhaupt eine einigermaassen abge-
schlosseneBeurtheilung der Erwerbsfähigkeit nach Verletzun-
gen der Wirbelsäule und des Rückenmarks in der Regel erst
1 — IV2 Jahre nach dem Unfall ermöglicht ist.
Hämatomyelie. Die Blutungen in die Rückenmarksubstanz, intramedul-
läre Blutungen, sind theils blutige Infiltrationen (hämorrhagische Erweichung)
theils sogenannte Röhrenblutungen (Hämatomyelie), welche in ihrer eigen-
artigen Verbreitung durch die Structur des Rückenmarks bedingt sind und
nach den experimentellen Untersuchungen von Goldscheidee und Flatau
vorwiegend in derjenigen Richtung stattfinden, wo sie nicht durch Bündel
weisser Markfasern gehindert sind. Der Centralcanal dient der Flüssigkeit
nicht zur Verbreitung.
Die Frage nach dem Sitz der Blutung im Rückenmark selbst kann nur
mit Wahrscheinlichkeit beantwortet werden, da die Localisation der die ein-
zelnen Muskelgruppen versorgenden Innervationscentren im Rückenmark noch
nicht hinreichend sichergestellt ist.
Die Diagnose stützt sich:
1. auf den plötzlichen Beginn analog dem plötzlichen Eintreten einer
Hirnapoplexie,
2. auf die schnell zur Höhe sich entwickelnden Erscheinungen einer
unzweifelhaften Rückenmarkslähmung, in ihrem Grad nach Sitz und Aus-
breitung der Blutung wechselnd und sich wieder steigernd nach wenigen
TRAUMATISCHE KEANKHEITEN. 827
Tagen durch das Hinzutreten der entzündlichen Reactionsvorgänge seitens
der Rückenmarksubstanz,
3. intensive Spinalschmerzen durch Compression der hinteren Wurzeln
oder directe Läsion des Hinterhorns oder auch excentrisch als Gürtelschmerz,
partielle Empfindungslähmung des Schmerz- und Temperaturgefühls, wie bei
Syringomyelie, bedingt durch centrale Verbreitung der Blutung (Minor).
Syringomyelie, MoRVAN'sche Krankheit. Weniger geläufig als die trau-
matische Genese der Hämatomyelie ist die der Syringomyelie. Während
Letden noch in seiner neuesten Bearbeitung der Rückenmarkskrankheiten
(1895) die einzige und alleinige Ursache der Syringomyelie in angebore-
nen Anlagen sieht und speciell hinsichtlich des Traumas bemerkt, dass ein
Beweis für den ursächlichen Zusammenhang dieser Schädlichkeit mit Syringo-
myelie bis jetzt noch fehlt, sind andererseits in der letzten Zeit aus der
Unfallpraxis eine Reihe von Fällen bekannt geworden, in welchen nach
der ganzen Sachlage mindestens ein indirecter Zusammenhang zwischen
Trauma und Syringomyelie angenommen werden muss (Hitzig, Strümpell,
Wichmann, Hofmann, Lahr).
L Kann ein Trauma direct zur Syringomyelie führen?
Ohne auf die verschiedenen Hypothesen von Langhans, Leyden, Schlesinger näher
einzugehen, wollen wir uns hier nur kurz vergegenwärtigen, dass der syringomyelitische
Process von dem den Centralcanal auskleidenden Ependym ausgeht, welches von einer
Stelle aus sich in eine gliöse Wucherung umwandelt, sei es nach Art eines Tumor oder
einer diffusen Neubildung oder eines Infiltrates, woraus sich die vielfachen IModificationen
im klinischen Verlauf ja zur Genüge erklären. Diese Neubildung, wie wir es zunächst
einmal nennen wollen, erstreckt sich theils gegen die Hinterhörner, theils gegen die Vorder-
hömer und hat eine ausgesprochene Neigung zum Zerfall, zur Bildung von Höhlen, welche
gewöhnlich, nachdem sie eine Zeit lang neben dem Centralcanal bestanden, mit letzterem
verschmelzen. Nach unseren bisherigen Auffassungen über die Beziehungen zwischen
Trauma und Tumor (s. u.), die man besonders für gliöse und gliomatöse Wucherungen
schon seit geraumer Zeit anerkannt hat (Gerhardt, Oppenheim), ist es gewiss a priori nicht
unwahrscheinlich, dass embryonale Glianester neben dem Centralcanal im Rückenmark
unter Einwirkung eines Traumas zu weiterer Wucherung mit nachfolgender Höhlenbildung
veranlasst werden können. Im Verlauf von reparatorischen Vorgängen bei traumatischer
Hämatomyelie oder traumatisch myelitischen Herden, besonders, wenn dieselben mit Ver-
wachsungen der Rückenmarkshäute einhergehen, welche als Verdickungen für die schrumpf-
ende Glia gewissermaassen einen festen Punkt abgeben und das Zustandekommen von
Höhlen in analoger Weise begünstigen, wie pleuritische Schwarten dasjenige von Bronchi-
ectasien im cirrhotischen Lungengewebe, kann es zu gliöser Wucherung und Höhlenbildung
im Piückenmark mit einem der Syringomyelie durchaus ähnlichen Symptomencomplex kommen
(Minor). Ferner steht nach den experimentellen Arbeiten von Eichhorst und Naunyn
fest, dass auch diese traumatisch bedingten Spalten- und Höhlenbildungen im Rückenmark
ausgesprochen progressiven Charakter annehmen können. Eine sehr instruc-
tive Beobachtung hat neuerdings Bawli mitgetheilt, indem er neben Blutfarbstoff - Meta-
morphosen noch Knochensplitter am Rand der Höhlenbildungen im Lendenmark und am
Conus in der Höhe der alten Wirbelfractur constatirte und dadurch den exacten Beweis
für den ursächlichen Zusammenhang der syringomyelitischen Höhlenbildung mit den durch
den Unfall veranlassten primären Veränderungen erbrachte.
Bawli hebt u. a. als Eigenthümlichkeiten der primär traumatischen
Syringomyelie hervor:
1. Localisation der hauptsächlichsten Krankheitserscheinungen in den
unteren Extremitäten, häufiges und frühzeitigeres Auftreten von Blasen- und
Mastdarmstörungen, weil die Verletzungen meistens die Lenden- und untere
Brustwirbelsäule treffen und weniger die Halswirbelsäule, während bei nicht
traumatischer Syringomyelie vorzugsweise das Halsmark afficirt ist.
2. Häufiges Vorkommen von vollkommenen Anästhesien (infolge der bei
traumatischer Syringomyelie bevorzugten Höhlenbildung in den Hintersträngen).
n. Trauma bei einer bereits bestehenden Syringomyelie-
Hieher gehört die Mehrzahl der bis jetzt publicirten Fälle, für welche die
Bezeichnung traumatische Syringomyelie nicht mehr passt. Wie die Beob-
achtungen von Lahr, Schultze, Bernhardt u. A. illustriren, sind bei Prüfung
dieser Frage hauptsächlich die bei Syringomyelie so häufigen osteo- und arthro-
828 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
pathischen Processe von Belang, die im Gegensatze zu den analogen Vor-
gängen bei Tabes hauptsächlich die oberen Extremitäten befallen, wo schon
bei einer gleichsam noch physiologischen, die normalen Functionsansprüche
an die Beweguugsorgane nicht überschreitenden Thätigkeit unter Ausbleiben
schmerzhafter Empfindungen die genannten Störungen als erste Krankheits-
zeichen bemerkt werden, was nicht Wunder nimmt, da man auch aus der
ärztlichen Erfahrung ausserhalb der Unfallspraxis weiss, dass die spinale Gliose
Jahre lang vollständig latent verlaufen kann, bis das Auftreten von Muskel-
atrophien oder aber äussere Verletzungen den Kranken zum Arzt und damit
erst zur Entdeckung der Krankheit führen. Schultze erblickt für seinen
Fall, der einen Bäcker betrifft, welcher beim Teigkneten einen Bruch des
rechten Oberarmes, linken radius acquirirte, auf welche Verletzungen er ledig-
lich durch das schlaffe Herabhängen der betreffenden Extremitäten aufmerk-
sam wurde, bei der Abwesenheit eines anatomischen Befundes an den be-
züglichen Knochen die nächste Ursache nicht so sehr in einer Ernährungs-
störung der Knochen, als vielmehr in der Einwirkung der (weil von dem
Kranken wegen seiner syringomyelitischen Sensibilitätsstörungen unterschätzten)
zu brüsken und energischen Muskelcontractionen. Gegebenen Falles kann
der Nachweis von zahlreichen oft erheblichen Hautnarben älteren Datums, die
schon Jahre vorher durch schmerzlose Ulcerationen entstanden, die Existenz
des Leidens schon vor dem Unfall beweisen. Entschädigungspflichtig ist der
Unfall deswegen doch, da nach Entscheidung des ß. V. A. vom 10. October
1895 auch für die Syringomyelie ein ätiologischer Zusammenhang mit einem
Unfall anzunehmen ist, wenn die früher vorhandene Erkrankung durch den Un-
fall manifest, d. h. eine deutliche Verschlimmerung des Zustandes, bestehend
in Verminderung, respective Aufhebung der früheren Erwerbsfähigkeit, ein-
getreten ist. Erwähnt sei hier noch bei der Frage nach der eventuellen Ver-
schlimmerung des Leidens durch traumatische Einflüsse die GßAF'sche Zu-
sammenstellung, nach welcher sich bei Männern erheblich mehr syringomye-
litische Knochen- und Gelenkaffectionen finden, als bei Frauen (26 : 8), ein
Verhältnis, das der Betheiligung der beiden Geschlechter an dieser Krankheit
(2 : 1) nicht entspricht und nur daraus sich erklärt, dass die Männer in höhe-
rem Grad äusseren Schädlichkeiten exponirt sind als die Frauen.
HI. Syri ng om y elie im Anschlu SS an periphere Verletzungen.
In einigen Fällen (Eulenburg, Thiem) konnte als Bindeglied zwischen peri-
pherem Trauma und Rückenmarkserkrankung eine ascendirende Neuritis vom
locus laesionis aus nachgewiesen werden, welche im Rückenmark' zunächst
zu consecutiver Poliomyelitis mit subsequenter Höhlenbildung Veranlassung
gegeben haben soll, in anderen Fällen glaubte man reflectorische oder vaso-
motorische Einflüsse supponiren zu müssen.
Im Gegensatz zu Brasch und Sänger, welche die Entstehung der Syringomyelie nach
peripheren Verletzungen als ganz unwahrscheinlich halten, vertritt Wichmann (M. f. ü.
1897, 6), wie uns scheint mit Recht, die Ansicht, dass für die ärztliche Begutachtung die
Möglichkeit des sub III erwähnten Entstehungsmodus nicht ohne weiteres von der Hand
gewiesen werden kann, so lange trotz der zahlreichen experimentellen Arbeiten auf diesem
Gebiete die Frage noch strittig ist. Im gleichen Sinne äussert sich auch Lahr (Charite-
Annalen XX.).
Für die Diagnostik wird man, abgesehen von der auch bei Syringo-
myelie stets zu erwägenden Möglichkeit einer Ueberlagerung durch
Hysterie berücksichtigen müssen, dass auch bei traumatischer Hysterie
ganz ähnliche Empfindungsstörungen vorkommen, wie bei Syringomyelie und
dass bei Complication von progressiver Muskelatrophie mit Hysterie ein
Syraptomencomplex resultiren kann, welcher der Syringomyelie zum Ver-
wechseln ähnlich sieht (Leyden).
Multiple Sklerose. Das Trauma als ätiologischer Factor wurde be-
reits 1871 von Leube (Arch. f. klin. Med. VHI) erwähnt, unter Mittheilung
eines anatomisch untersuchten Falles, wo sich im Anschluss an einen Sturz
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 829
auf den linken Unterschenkel in der gleichseitigen linken unteren Extremität
Schwäche, schleppender Gang und bereits nach mehreren Monaten die sicheren
Symptome multipler Sklerose entwickelten.
Nach den Arbeiten von Kaiser und Jützler, in deren Zusammenstellung allerdings
Fälle aufgeführt sind, in welchen zwischen Trauma und den ersten sicheren Krankheits-
zeichen eine Reihe von Jahren liegen, hat Mendel (Deutsche medicinische Wochenschrift
1897, 7) vier beweisende Fälle mitgetheilt, und weitere nahezu gleichzeitige Beobachtungen
stammen aus der GERHARDT'schen Klinik von Blumreich & Jacoey (eod. 1897, 28).
Je nach der Localisation des Krankheitsprocesses tritt der cerebro-
spinale oder spinale Typus auf.
Zwecks Erklärung des näheren Zusammenhanges erinnert Mendel, wenn er auch
zugibt, dass eine völlige Uebereinstimmung, ob der Ausgangspunkt des sklerotischen
Processes in den Gefässen in der Neuroglia oder in der Nervensubstanz zu suchen sei, noch
nicht erzielt ist, besonders an die anatomischen Befunde, die in frischen Fällen der Erkrankung
bis jetzt constatirt wurden (GoLDSCHEmER, Williamson, Ribbert), nach welchen Circulations-
störungen den Ausgangspunkt des Processes zu bilden scheinen. Nach der GussENBAUER'schen
mechanischen Theorie von der Wirkung der Erschütterungen der Wirbelsäule auf die
Cerebrospinalflüssigkeit können nach einem Unfall ganz analoge Alterationen des Gefäss-
inhaltes und der Circulation zu Stande kommen, wie die durch die oben erwähnten Autoren
in Fällen nicht traumatischen Ursprungs constatirten. Möglicherweise kommt auch noch
eine congenitale oder erworbene (nach Infectionskrankheiten) Disposition mit zur Wirkung.
Das vorzugsweise Auftreten der sklerotischen Flecke in der weissen Substanz erklärt sich
aus der Gefässanordnung, indem wegen der Endarterien in der weissen Substanz bei unter
dem Einfiuss einer stattgehabten Erschütterung des Organs sich entwickelnden Stasen und
Blutungen hier ein Ausgleich in der Blutversorgung weniger leicht ermöglicht ist. Moeli
stellt nicht das physikalisch-mechanische, sondern das chemische Moment in den Vorder-
grund, er hält unter Hinweis auf die Beziehungen zwischen multipler Sklerose einerseits
und Infectionskrankheiten und chronischen Intoxicationszuständen andererseits auch hier
eine durch das Trauma gesetzte Veränderung des Stoffwechsels um. so plausibler, als
Strümpell solche bereits für die functionellen Unfallnervenkrankheiten in dem Auftreten
der alimentären Glycosurie (s. o.) nachgewiesen hat.
Diesen durch das Trauma direct verursachten Fällen von Sklerose und
den Beobachtungen von Gowees, dass eine disseminirende Sklerose sich an eine
acute oder subacute Herdmyelitis traumatischen Ursprungs anschliessen kann,
reihen sich jene Fälle an, in welchen durch den Unfall eine ungünstige
Beeinflussung resp. volle Ausbildung der bereits vorher schon vor-
handenen Rückenmarksaffection bewirkt wird. Die Entscheidung der Frage
nach dem Erheblichkeitsgrade des Einflusses der traumatischen Schädlichkeit
ist, wie in allen derartigen Fällen, zunächst davon abhängig, ob der Ver-
unfallte, obwohl bereits krank, bis zu dem Unfall noch arbeitsfähig war. Für
den Nachweis sind besonders gewisse initiale Symptome, wie Schwindel,
unsicherer Gang, von Wichtigkeit, da sie leicht einen Unfall veranlassen
können.
Differentialdiagnostisch kommt wieder die Hysterie in Betracht.
In einem Fall Mendel' s (Contusion von Kopf und Rücken) entwickelte sich
bei einem bis dahin vollständig gesunden Menschen unmittelbar an den Unfall
anschliessend ein Symptomencomplex, den Mendel bei dem Mangel eines
objectiven Befundes für einen hysterischen hielt, bis nach Ablauf eines halben
Jahres die bekannten classischen Erscheinungen der multiplen Sklerose auf-
traten. Auch bei der klinischen Analyse vorgeschrittener Fälle hat man sich
zu vergegenwärtigen, dass die Sklerose en plaques mit Hysterie zwei wichtige
Züge gemein hat, nämlich die oft so merkwürdige Combination von Sym-
ptomen, welche einen systemlosen, anatomisch unzusammenhängenden Cha-
rakter zeigen können, und den Wechsel der Kranhheitszeichen, Umstände, die
gerade bei der für beide Nervenkrankheiten möglichen traumatischen Ent-
stehungsweise von Bedeutung sind.
Tabes traumatica. In der Aetiologie des Tabes findet man schon
seit längerer Zeit des Trauma Erwähnung gethan, ohne jedoch diese Be-
ziehungen genauer präcisirt zu haben.
Klemperer ist 1890 an der Hand eines statistischen Materials und gestützt auf
eigene Beobachtungen für die traumatische Genese der Tabes entschieden eingetreten.
830 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
Da sich die Tabesfälle seiner Ansicht nach meistens nach Quetschungen oder Knochen-
brüchen mit ausgedehnten Weichtheilzerreissungen entwickeln, also nach Verletzungen,
in welchen schwere Schädigungen peripherer Nerven nicht auszuschliessen sind, nimmt er
für die Entstehung des tabischen Processes die Vermittlung einer von der Verletzungsstelle
ausgehenden Neuritis ascendens an. Auch Leyden hält gerade vom Standpunkt der
modernen Neuronlehre die traumatische Entstehung der Tabes nicht unwahrscheinlich,
indem es für die ärztliche Vorstellung ganz plausibel sei, den Ausgangspunkt der Er-
krankungen in der Peripherie zu suchen, wo das Nervensystem so mannigfachen Schäd-
lichkeiten ausgesetzt sei.
In einer sehr beachtenswerten Monographie hat Hitzig zur Frage der traumatischen
Tabes Stellung genommen und die KLEMPERER'sche Ansicht nach dem anatomischen Befund
der bis jetzt untersuchten Fälle als nicht stichhältig bezeichnet. Hitzig, welcher den
Beginn der Erkrankung in die Spinalganglien verlegt und in der grauen Degeneration der
Hinterstränge nur den Ausdruck einer secundären Faserveränderung sieht, empfiehlt ebenso
wie Sänger (M. f. ü. 1897) unter kritischer Besprechung der KLEMPERER'schen Zusammenstellung
bei Zurückführung von Tabes auf Trauma grosse Vorsicht. Unter Hinzufügen von zwei
Fällen kommt er zu der Ansicht, dass immerhin einwandfreie Beobachtungen, allerdings
nicht in erheblicher Zahl, bestehen, welche zwar kein typisches, für die traumatische
Tabes lediglich zu construirendes Krankheitsbild bieten, in welchen aber doch der Zu-
sammenhang zwischen Tabes und Trauma ein auffallender und continuirlicher war, irgend
welche andere schädliche Einflüsse sich nicht constatiren Hessen und die ersten Er-
scheinungen der Tabes schon kurze Zeit nach dem Trauma und häufig, aber nicht aus-
nahmslos, zuerst in dem verletzten Theil beginnen, während Moebius im Verfolg der
FouRNiER-ERß'schen Ansicht betrefi^end der Beziehungen zwischen Syphilis und Tabes dem
Trauma jegliche ätiologische Bedeutung abspricht.
Auch die von Hitzig selbst neuerdings aufgestellte Hypothese, nach welcher dem
Trauma nur die Rolle einer Gelegenheitsursache zur Entwicklung der Tabes in einem
durch verschiedene, früher bereits zur Einwirkung gekommene Noxen (Toxine über-
standener Infectionskrankheiten) geschädigten und dadurch vorbereiteten Nervensystem
zukommt, scheint, wie auch Leppmann unter Berücksichtigung der unzweifelhaft fest-
gestellten, oft raschen Einwirkung von durch das Trauma gesetzten Schädlichkeiten
gegenüber der meist sehr langsamen Entwicklung (z. B. bei Syphilis) hervorhebt, nicht
erschöpfend genug; eine allgemein giltige Erklärung für den Causalnexus kann nach dem
gegenwärtigen Stand der Lehre von der Tabesätiologie bis jetzt noch nicht gegeben werden.
Morton Prince, Bernhardt fordern für die Diagnose: traumatische
Tabes, abgesehen von der Erbringung des st rieten Nachweises, dass weder
kurz vor, noch nach dem Unfall Tabes bestanden, nicht nur die Abwesenheit
aller anderen Schädlichkeiten, welche als ätiologische Momente der Tabes eine
Eolle spielen (besonders Syphilis), sondern auch eine bestimmte Intensität
des Traumas, das seiner Natur nach einen erheblichen physischen oder psy-
chischen Eindruck hat machen können (nicht aber z. B. eine massige Con-
tusion), sowie endlich das Manifestwerden der Erkrankung in annehmbarer
Zeit nach dem Unfall, also etwa innerhalb des ersten Jahres.
Beobachtung Hitzigs:
47jähriger, bis zu dem Unfall vollständig gesunder Mann, keinerlei nachweisbare
Ursachen für Tabes; nach Sturz auf die linke Körperseite Distorsion des gleichseitigen
Fusses und Bruch des linken Radius. Drei Wochen nach dem Trauma Gefühl von
Pelzigsein und Eingeschlafensein in den linken Extremitäten, lancinirende Schmerzen,
kurze Zeit später atactische Symptome; sechs Monate nach dem Unfall Blasen-, Mastdarm-
störungen, fortschreitende Zunahme der bekannten Tabessymptome, die ihren Sitz vor-
nehmlich in den beiden verletzten linksseitigen Extremitäten in einem solchen Grad
hatten, dass der Verletzte überhaupt keine Ahnung von der auch auf der anderen Seite
vorhandenen Erkrankung besass.
Von analogen Fällen echter traumatischer Tabes sind jene unverhältnis-
mässig häufigeren zu trennen, welche durch den Unfall nur eine acute Ver-
schlimmerung erfahren und in denen bis zu dem Trauma noch vollständige
Erwerbsfähigkeit bestand;
Dass letztere überhaupt möglich, zeigen die Mittheilungen von Sänger, Bernhard,
Frick. Anamnestisch sind neben den Frühsymptomen (lancinirende Schmerzen, Parästhesien,
leicht eintretende Ermüdbarkeit der Beine, Erhöhung des Bauch- und epigastrischen
Reflexes (Bechterew, Ostankow), Unempfindlichkeit der nn. ulnar, u. tibial. gegen
Druck oder Beklopfen, Unempfindlichkeit gegen Mnskeldruck (Fehlen des normaliter durch
ein Zusammenquetschen des entspannten Wadenmuskels mit den Fingern hervorzurufenden
Schmerzes u. ähnl.), noch die visceralen und besonders die gastrischen Krisen zu berück-
sichtigen und ferner ähnlich wie bei Syringomyelie (s. o.) noch die bekannte Neigung zu
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 831
osteo-, respective arthropathischen Processen, die oft schon zu den ersten Tabessymptomen
gehören (Tillmann's) und durch auffallend geringfügige Veranlassungen ausgelöst werden.
Mendel ist der Ansicht, dass das Trauma als solches nicht allein oder
überhaupt nicht im Stande ist, den tabischen Process in seinem Verlauf zu
beschleunigen, sondern dass vielmehr die äusseren Bedingungen, welche durch
dasselbe gesetzt werden, die alleinige Schuld oder Hauptschuld tragen. Dazu
gehört vor allem eine durch die Art des Traumas (Verletzungen der Beine z. B.)
bedingte lange Bettruhe, indem es eine genügsam bekannte Erfahrungsthat-
sache ist, dass Tabetiker, welche durch von der Tabes unabhängige Ursache
zu längerer Bettruhe genöthigt werden, ihre Beine oft gar nicht oder nur
mehr sehr schlecht gebrauchen können, wenn sie wieder aufstehen sollen.
Poliomyelitis aiit. cliron.*) spin.; progr. Muskelatropliie. Dass längere
Zeit anhaltende intensive physische Anstrengungen und speciell übermässige
Inanspruchnahme gewisser Muskelgruppen, also gewissermaassen chronische
Traumen zur progressiven Muskelatrophie führen können, ist schon lange
bekannt. Anders verhält es sich mit einmaligen und besonders peripheren
Schädigungen, auch wenn sie nicht zu einer palpablen örtlichen Verletzung
des Rückenmarks führen, mit den acuten Traumen, wie sie in das Bereich
der Unfallgesetzgebung fallen.
Die Frage nach dem ursächlichen Zusammenhang mit einem peripheren Trauma ist
erst in der allerjüngsten Zeit wiederholt ventilirt worden; Eulenburg, Thiem (Sammlung
kl. Vortr. N. F. Nr. 149) nehmen als vermittelnden Factor auch hier wieder eine ascen-
dirende Neuritis an, die durch Propagation in die grauen Vorderhörner zur Entartung
der dort befindlichen grossen motorischen Ganglienzellen führt, während Erb die erste
Ursache in einer molecularen Erschütterung des Rückenmarks selbst erblickt. Die zur
Zeit noch offene Frage, ob die Ganglienzellen- oder die Muskelatrophie das Primäre ist,
welch letztere Ansicht Erb vertritt, wenn er annimmt, dass der Nachlass der nutritiven
Functionen der Ganglienzellen sich zuerst in der peripheren Ausbreitung der motorischen
Nerven kenntlich macht, während erst später die charakteristischen Veränderungen in den
Zellen selbst auftreten, kommt für den praktischen Standpunkt des Gutachters zunächst
nicht weiter in Betracht.
In den spärlichen, bis jetzt bekannt gewordenen Fällen progressiver
Muskelatrophie nach Trauma handelt es sich in der Mehrzahl nicht um eigent-
liche periphere Verletzungen, sondern um Fall, Schlag auf den Kopf, Rücken,
weshalb die Annahme einer directen Alteration des Centralnervensystems mit
entsprechenden secundären Degenerationen nicht ausgeschlossen werden kann.
Hinsichtlich des Einflusses peripherer Verletzungen sind
meines Wissens bis jetzt nur die Fälle von Ziehen, Thiem, Erb bekannt
geworden (Schlag auf Brust und Magengegend, Quetschung der Hand, des
Armes u. s. w.)
Gegebenen Falles erfährt die traumatische Entstehungsweise eine Stütze,
wenn andere bekannte Ursachen (Erblichkeit, chronische Intoxicationen, wieder-
holte excessive körperliche Ueberanstrengungen u. s. w.) anamnestisch aus-
zuschliessen sind, und die Erkrankung ein Individuum betrifft in einem
Lebensalter, in dem sie sonst nicht aufzutreten pflegt.
Was den zeitlichen Zusammenhang betrifft, sei daran erinnert, dass man
auf das anamnestisch festgesetzte Datum des ersten Auftretens der Symptome
nur wenig Gewicht legen kann, weil die progressive Muskelatrophie während
der ersten Monate und oft auch über ein Jahr vollständig latent verläuft,
thatsächlich bereits Kranke noch vollständig erwerbsfähig sein können' und
höchstens über rascheres Ermüden klagen. In den beiden ERß'schen Fällen
(XXII. Wanderversammlung südwestdeutscher Neurologen und Irrenärzte)
traten die ersten Krankheitssymptome schon zwei bis vier Wochen nach statt-
gehabtem Trauma auf (poliomyelitis ant. lumbalis mit ihren charakteristischen
Symptomen nach Fall auf das Gesäss, poliomyelitis ant. cervicalis nach star-
ker Zerrung beider Arme).
*) üeber begrenzte Muskelatrophien siehe unter sog. reflectorische Muskelatrophie.
832 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
Bei Würdigung des Verlaufes der Erkrankung ist zu berücksicMigen,
dass nach Beobachtungen von Leyden, Hayem, Seligmüller die sogenannte
essentielle Kinderlähmung zur späteren Entwicklung einer spinalen progres-
siven Muskelatrophie mit atypischer Localisation, monolateralem Auftreten
der Atrophie u. s. w. disponirt, indem sie eine dauernde Alteration der
Ganglienzellen zurücklässt, welche oft viel ausgedehnteren Umfang hat als
man bei Berücksichtigung der schliesslich zurückbleibenden paretischen Er-
scheinungen an den Extremitäten erwarten sollte. Bei solcher Sachlage ist ein
Aufflackern des scheinbar abgeschlossenen Krankheitsprocesses nach Hinzutritt
einer entsprechenden traumatischen Noxe sicher nicht von der Hand zu
weisen.
FßANKE (M. f. U. 1898, 3) theilt einen Fall von Poliomyelitis
anterior acuta nach Unfall mit, der nicht blos durch die Acuität des Ver-
laufes, wofür bis jetzt in der ünfallpraxis keine Beobachtung vorlag, aus-
gezeichnet ist, sondern auch durch die Combination mit einseitiger Facialis-
lähmung, die, wie überhaupt die Betheiligung der Hirnnerven an der Polio-
myelitis anterior bekanntlich selten vorkommt und als Kernlähmung analog
der Affection der Vorderhornzellen aufzufassen ist.
Goldberg (B. kl. W, 1898, 12} beobachtete nach Fall auf das Gesäss aus 3 Meter
Höhe nach wenigen Monaten die ausgesprochenen Erscheinungen der amyotrophischen
Later alsclero se. Unmittelbar nach dem Unfall nur Schmerzen, die nach dem Knie aus-
strahlen, und Schwächegefühl in der unteren Extremität der verletzten Seite. Wegen feh-
lender objectiver Erscheinungen Anfangs Verdacht der Simulation, bis nach 5 Monaten
Atrophie der gleichseitigen Wadenmuskulatur, Fuss- und Patellarclonus, spastisch-paretischer
Gang etc. etc. auftraten.
Rückenmarksläsionen nach plötzlicher Verminderung; des Luftdruckes
(Caissonlähmung). Unter Hinweis auf die als bekannt vorauszusetzende
Lehre von den sogenannten Luftdruckerkrankungen im Allgemeinen, aus deren
Literatur wir hier die Arbeiten von Hoppe-Seylee, Bert, Dräsche (Oester.
Sanitätswesen 1896, Nr. 15), Heller, Mayer, v. Schrötter (Deutsche
med. Wochenschr. 1897, Nr. 24 ff.), v. Wenüsch (Wr. kl. Wochenschr.
1896, Nr. 34), Balser's und unsere eigenen Sectionsbefunde bei ver-
unglückten Caissonarbeitern (Ztschr. f. Md. Beamte 1898, 13) hervorheben
wollen, müssen wir uns an dieser Stelle auf die Erwähnung der Thatsache
beschränken, dass neben Störungen in anderen Körperorganen auch im Central-
nervensystem und vorzugsweise im Eückenmark Ivrankhafte Veränderungen
sich entwickeln bei Arbeitern, die unter Atmosphärenüberdruck gearbeitet,
wie dies in der Caissontechnik pneumatischer Fundirung üblich ist und bei
zu kurz bemessener Ausschleussungszeit, sobald sie aus dem Caisson in die
freie Luft heraustreten, einer jähen Verminderung des Luftdruckes (Decom-
pression) ausgesetzt unter einer Reihe von mehr oder weniger gefährlichen
Zufällen, allgemeinen Erscheinungen seitens des Nervensystems, psychischen
Störungen in Form von passageren Verwirrtheitszuständen auch an apoplek-
tischen Erscheinungen mit Bewusstseinsverlust und sich daran anschliessenden
Lähmungen mit dubiöser Prognose erkranken.
Das Reichsversicherungsamt in Berlin ist in einer Entscheidung vom 5. April 1897
einem von Fürstner in einem Fall von Caissonlähmung, welche durch zu frühes Verlassen
des Ausschleusseraumes herbeigeführt wurde, abgegebenen Gutachten beigetreten und hat
aus der zu früh durch den Vorarbeiter vorgenommenen Ausschleussung der Arbeiter eine
Betriebsstörung hergeleitet, wodurch die Caissonkrankheiten nicht mehr als Berufs- oder
Gewerbekrankheiten, sondern als entschädigungsberichtigte Unfälle im Sinne des Unfall-
gesetzes anzusehen sind.
Das klinische Bild der Caissonlähmung entspricht meistens einer spa-
stischen Paraplegie des Dorsalmarkes mit oder ohne Betheiligung der Hinter-
stränge. Seltener ist ein tabischer Symptomencomplex, der nach dem Ver-
schwinden der anfänglichen Paraplegie zurückbleibt, oder spastische Monoplegie
eines Beines von längerer Dauer.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 833
Die ersten anatomischen Untersuchungen eines derartig erkrankten Rückenmarks
rühren von Leyden und Schultze her. Der LEYDE^'schen Ansicht, dass es sich um Zer-
reissungen oder Spaltbildungen in der Marksubstanz handle, welche durch das plötzliche
Freiwerden von Gasblasen aus Blut- und Plasmaflüssigkeiten bedingt sind, ist in letzter
Zeit besonders Hoche (Berl. kl. Wochenschrift 1897, 22) entgegengetreten, der die ßücken-
marksveränderungen als ischämische Erweichung der weissen und grauen Substanz, ent-
standen durch Verstopfung der Endarterienäste durch Gasembolien auffasst. Die Ver-
theilung der Gasembolien auf die einzelnen Abschnitte des Centralnervensystems ist zum Theil
vom Zufall abhängig. Der mit einer gewissen Gesetzmässigkeit auftretende Haupttypus
der Erkrankung, die dorsale Paraplegie, verdankt seine Entstehung gerade in dieser Form
bestimmten gesetzmässigen Eigenthümlichkeiten in der Anordnung der Blutgefässe des
Rückenmarkes. In neuester Zeit haben v. Schrötter, Mayer, Heller in der III. medicinischen
Klinik zu Wien an zahlreichen experimentell decomprimirten Hunden genaue Unter-
suchungen des Centralnervensystems angestellt und Nekrosen der grauen und weissen
Substanz mit subsequenter Höhlenbildung gefunden, also im Wesentlichen eine Bestätigung
der HoCHE'schen Auffassung.
IV.
Traumatische Aöectionen des peripheren Nervensystems.
Im Gegensatz zu den organischen und functionellen Erkrankungen des
Centralnervensystems nach Trauma erheischen die traumatischen Affectionen
des peripheren Nervensystems nur eine weniger eingehende Besprechung.
Die periphere Nerven treffenden traumatischen Schädigungen bewirken im
Wesentlichen bald Krampfzustände, Contracturen in den versorgten Muskel-
gruppen, bald Lähmungen, Neuralgien oder Neuritiden. Je nach Intensität
und Sitz des einwirkenden Trauma können sie bald auf ein Nervengebiet,
eine bestimmte Muskelgruppe, oder auf einen einzelnen Muskel beschränkt
und isolirt vorkommen, bald entwickeln sich die Störungen in einem
grösseren Umfang, indem auch die anscheinend verschont gebliebenen Nerven
und ihre Gebiete meist eine gewisse Schwäche zeigen, durch welche sie sich
in ihren Functionen deutlich von den entsprechenden Muskeln der unver-
letzten Seite unterscheiden, oder die Störungen treten, wie dies zum Beispiel
von den Lähmungen der Schulter- und Armnerven bekannt ist, in verschieden-
artigen Combinationen und Gruppirungen auf, so dass die wechselndsten
Kraukheitsbilder entstehen (DucHENNE-EEß'scher, KLUMP'scher Typus u. s. w.),
bald liegt eine totale Plexuslähmung vor, bald eine partielle, die sich nur
auf zwei oder drei Nerven zusammen erstreckt, bei Unversehrtheit der übrigen
Plexustheile.
Es kann sich hier nicht darum handeln, aus der speciellen Neuropatho-
logie eine auch nur annähernd erschöpfende Darstellung aller hier eventuell
in Betracht kommenden Vorkommnisse mit ihren Folgezuständen zu geben,
sondern wir müssen uns begnügen, nur einige wenige kurz hervorzuheben.
Was zunächst die Krampf zustände im Gebiete einzelner motori-
scherNerven betrifft, so sei das von ScHULTZE-Boun angeführte im Anschluss an
ein' Trauma der Wadengegend in der dortigen Muskulatur auftretende eigen-
thümliche Muskel wogen (Myokymie) erwähnt.
Einen ähnlichen Symptomencomplex beschrieben als Myoclonus
fibrillaris multiplex Jollt, Kny bei zwei Patienten nach Stoss in die
Leistengegend: clonische fibrilläre Zuckungen mit continuirlichem Wogen und
Wallen der Wadenmuskulatur, während sich die übrige Muskulatur der un-
teren sowie die der oberen Extremität nur wenig afficirt zeigte.
Delorme berichtet im Anschluss an eine Contusion der Oberschenkelmuskulatur über
einen am Ort der Verletzung localisirten Krampf der Beugemuskeln, die man beim Gehen
fest zusammengezogen fühlte, während die Streckmuskulatur schlaff blieb. Beim Ueber-
gang des Unterschenkels aus der Beuge- in die Streckstellung während des Gehactes wird
der erstere in vollständige Streckung geschleudert mit einem Ruck, der sich, der ganzen
betreffenden unteren Extremität mittheilt und Schmerzen im Kniegelenk verursacht
(Genou ä ressort, schnellendes Knie).
Im Bereich des Nervus accessorius werden isolirt auftretende, nur
die Musculi sternocloidei mastoidei et cucullares befallende Krämpfe beobachtet,
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 5o
4^34 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
in anderen Fällen combiniren sich solche Krämpfe mit analogen Zuständen
der Hals- und übrigen Nackenmuskeln, so dass es unter Umständen schwer
werden kann, bei den durch die combinirte Thätigkeit verschiedener Muskeln
hervorgebrachten Wendungen und Drehungen des Kopfes den Grad der Be-
theiligung eines einzelnen Muskels mit Sicherheit festzustellen.
Durch Fall auf den Kopf, Stoss in den Nacken etc. entstehen die unter
dem Namen Spasmus mutans beschriebenen Krämpfe, welche meist die
tiefen Nackenmuskeln, die Kopfnicker und die tiefen, vorderen Halsmuskeln
doppelseitig befallen und das pagodenartige, oft nur wenige Male in der Minute
wiederkehrende, oft aber auch ungemein häufig während dieser Zeit erfolgende
Kopfnicken bewirken (Bernhardt).
NUSSBAUM und Seligmüller berichten über krampfhafte Contractur der Musculi pecto-
rales, sämmtliche Flexoren des Ober- Vorderarmes und der Hand nach Einwirkung einer
stumpfen Gewalt in der Genickgegend. Heilung nach Dehnung der vier unteren Hals-
nerven.
Dass bei der diagnostischen und prognostischen Beurtheilung
der Lähmungen einzelner Nerven neben elektrischer Untersuchung auch eine
sorgsame Prüfung der cutanen Sensibilität von Wichtigkeit ist,
ergibt sich u. a. schoD aus der Thatsache des Vorkommens hystero-trauma-
tischer Lähmungen, besonders an den oberen Extremitäten nach Trauma bei
nervös prädisponirten Individuen (s. o. traumatische Hysterie). Des Weiteren
wird man sich auch an das bei Lähmungen der nn, radial, u. median, nicht
selten vorkommende Fehlen jeder Sensibilitätsstörung erinnern. Letierant
hat zuerst diesen überraschenden Gegensatz im Verhalten von Motilität und
Sensibilität als sensibilite recurrente oder supplee beschrieben und
als vikariirende Sensibilität, Ersatzinnervation des einen Nervenbezirkes durch
einen anderen Armnerven erklärt. Indessen findet sich nach Bernhardt
gerade bei tieferen Medianuslähmuugen das umgekehrte Verhalten, also trotz
erheblicher Modificationen der elektrischen Erregbarkeit wenig geschädigte
Motilität gegenüber den tiefen Störungen der Sensibilität.
Unter den traumatischen Neuralgien, wie sie z. B. nach Quet-
schungen auftreten, die erfahrungsgemäss um so leichter neuralgische Be-
schwerden herbeiführen, je peripherischer die Läsion und je kleiner und feiner
die verletzten Aestchen und Zweige, kommen Ischias, Intercostalneuralgien
(nach Rippenbrüchen), ferner Cervicobrachialneuralgien am häufigsten vor.
Bei den letzteren sind hauptsächlich der an der Uraschlagstelle am Oberarm
relativ frei liegende Nervus radialis und der Nervus ulnaris betheiligt, weniger
der unter den Weichtheilen besser geborgene Nervus medianus.
Die Unterscheidung von einfachen traumatischen Neuralgien (d. h. solchen
ohne besondere anatomische Veränderung der Nerven) von den durch neu-
ritische Processe bedingten, ergibt sich meist nicht schwer aus dem Umstand,
. dass die Formen mit schweren Sensibilitäts- und Motilitätsstörungen, ausgedehnten
vasomotorischen und secretorischen Begleiterscheinungen vorzugsweise nur
bei den nachweisbar entzündlichen mit Degeneration einhergehenden Ver-
änderungen im betreffenden Nerven selbst vorkommen, nicht aber bei den
leichteren Fällen, denen nur die sogenannte neuralgische Veränderung der
Nerven (Moebius) zu Grunde liegt. Was in diesem Zusammenhang speciell
die Störungen im Gebiet des n. ischiadicus betrifft, so betrachtet Biro
(Z. F. N. IX) erhebliche Abschwächung resp. vollständiges Fehlen des
Achillessehnenreflexes als Zeichen für neuritis ischiadica; Reflexsteigerung
kann zwischen Neuralgie und Hysterie schwanken lassen. Dumstrey (M. U,
1896, 8) berichtet über Fälle, in welchen nach erlittenen und gut geheilten
Traumen sehr heftige Schmerzen bestehen blieben, ohne dass auch nur der
geringste objective Befund vorhanden wäre. Als Ursache ist die locale Ein-
wirkung eines Traumas auf ein durch chronischen Alkoholismus geschwächtes
Nervensystem anzunehmen („traumatische Potatoren-Neuralgie").
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 835
Bei Verdacht auf Simulation (z. B. bei Abwesenheit jeglicher objec-
tiver Kriterien, zu denen auch die reflectorischen Spasmen in der benach-
barten Muskulatur zu rechneu sind) kann Erweiterung der Pupille auf der
betroffenen Seite, ferner speciell bei Intercostalneuralgien die constante Stei-
gerung der Bauchreflexe auf der befallenen Seite (Seligmüller), bei trau-
matischer Ischias das Verhalten des gleichseitigen Achillessehnenreflexes
(Bernhardt, Babinsky), sowie des Glutaealreflexes (ausgebreitete rhythmische
Zuckungen bei Druck auf die Gefässmuskulatur der kranken Seite, Joffrot's
phenomene de la hauche), ferner die von Minor beschriebene Bewegungs-
probe bei ischias (D. m. W. 1898, 23) zur Klärung des Falles verwertet
werden.
Von anderen Neuralgien erwähnen wir Neuralgia phrenica nach
heftigem Schlag gegen die Herzgegend (Falkenberg), Neuralgia sper-
matica nach Stoss gegen die Schamgegend (Benda), Hackenschmerz
(Tarsalgie, sogenannte MoRTON'sche Krankheit), ferner die Coccygodynie (s. u.),
Achillodynie, deren Symptomencomplex darin besteht, dass Gehen und Stehen
durch heftigen Schmerz unerträglich wird, während Sitzen und Liegen schmerz-
frei ist. In den meisten Fällen ist die letztere Erkrankung nur ein rein
symptomatisches Leiden (Wiesinger, Rosenthal, Dittmar, bei Er-
krankungen des Calcaneus, der bursa subachillea, Neuromen im retrotendinösen
Raum), im Gegensatz zu den wenigen einwandfreien Fällen, in welchen die
Bezeichnung Neuralgie gerechtfertigt ist.
Parästhesien im Gebiete des Nervus cut. fem. externus traten in
einer (Eigen-)Beobachtung Naecke's auf, bei welcher das ätiologische Moment,
das Trauma (Zerrung des Nerven in der Tiefe des Beckens beim Vortreten
mit dem Fuss) klar zu Tage trat (MENDEL'sches Centralblatt 1895).
In der Aetiologie der Neuritis steht an erster Stelle das Trauma.
Doch sind es je nach der Art der Verletzung zwei verschiedene Ursachen,
welche die traumatische Entzündung der Nerven bewirken. In einem Fall
haben wir die Verletzung nur als Eingangspforte für die die Entzündung
hervorrufende Infection zu betrachten, und nach unseren modernen Anschau-
ungen über Wundverlauf und Infection können wir eine offene Verletzung
eines Nerven nur dann als Ursache einer Neuritis gelten lassen, wenn der
Verlauf der Verletzung sich nicht aseptisch gestaltet hat. Hiemit stehen
auch in Uebereinstimmung die experimentellen Prüfungen von Käst und
Rosenbach, sowie die in der letzten Zeit publicirten wertvollen Beobach-
tungen von Krehl. Diese Neuritiden nach inficirten Wunden (septische Neu-
ritis Kölliker's) treten als ascendirende und descendirende auf, wobei die Aus-
breitung des Processes von dem Sitz der Verletzung aus atypisch und chronisch
schleichend erfolgt; sie haben ferner grosse Tendenz zu Recidiven, noch
grössere zur Chronicität und neigen vor Allem in charakteristischer Weise
zu wandern (Neuritis migrans), wobei oft mehrere Hautäste unbetheiligt
sind, so dass die Sensibilitätsstörungen in ihrer Verbreitung
nicht genau dem Verbreitungsbezirk der betroffenen Nerven-
stämme entspricht.
Was den Verlauf derselben betrifft, so treten unter den bekannten
Symptomen einer solchen Neuritis eines gemischten Nerven (Neuritiden rein
motorischer oder rein sensibler Nerven brauchen wohl kaum speciell berück-
sichtigt zu werden) zuerst die Sensibilitätsstörungen auf und meist erst später
die motorischen Erscheinungen (Reizung, Lähmung, Atrophie), wobei die ver-
schieden lange Dauer der Zeit zwischen Anfangserscheinungen und dem Trauma
bemerkenswert ist. Trophische und vasomotorische Störungen treten erst
relativ spät auf (glossy skin, tiefe Schrundenbildungen an der Stelle der Ver-
letzung, Rissigkeit der Haut u. s. w.). Nauntn machte zuerst in einem Fall
von Neuritis traumatica auf eine bisher noch nicht beobachtete Erscheinung,
53*
836 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN^.
nämlich das aultallend rasche Verschwinden von Tätowirungsliguren am be-
fallenen Arm, bald nach dem Auftreten der Neuritis beginnend, aufmerksam,
während am anderen Arm die Tätowirungen unverändert weiter bestanden.
Die Prognose kann im Einzelfall bei dem oft unberechenbaren Verlauf
der Erkrankung quoad restitutionem nicht mit Sicherheit gestellt werden.
(Die Bedeutung der ascendirenden Neuritis für die Entstehung von
Kückenmarkskrankheiten nach peripheren Traumen s. o.).
Bei der anderen Keihe von Fällen spielt das mechanische Moment Com-
pression, Contusion mit verschiedengradiger Zerstörung der Nervenelemente
die Hauptrolle; hier handelt es sich um meistens localisirt bleibende degene-
rative und regenerative Processe an den Nerven, und wenn auch heftige Schädi-
gungen der Nerven bei solchen subcutan wirkenden Gewalten ab und zu zu voll-
ständiger und irreparabler Degeneration des betroffenen Nerven führen können,
so entspricht es doch mehr der Regel, dass selbst ausgedehnteren Degene-
rationsprocessen am Nerven bei diesen Formen eine Regeneration und voll-
ständige restitutio ad integrum folgt.
V.
Traumatische Affectionen des Bewegungsapparates.
Reflectorische Muskelatrophie, Muskelcollaps. Abgesehen von Muskel-
rupturen, -hernien ist von den durch traumatische Einflüsse bedingten Ver-
änderungen des Muskelparenchyms zunächst die reflectorische Muskel-
atrophie zu nennen (einfache Atrophie des Muskels ohne Entartungs-
reaction, häufig aber nicht immer mit Steigerung der Reflexerregbarkeit, oft
verbunden mit myasthenischer Reaction (Jollt) und Verlagerung der soge-
nannten motorischen Punkte (Bernhaedt), wie sie nach Verletzungen der
Gelenke und besonders häufig der unteren Gliedmassen auftritt, und zwar
nicht nur am Ort der Läsion oder dessen nächster Nähe, sondern es betheiligt
sich an der Atrophie gewöhnlich die Muskulatur des ganzen Gliedes, wobei
auch die vasomotorischen Störungen, Cyanose der Haut an der verletzten
Extremität, weit über den Sitz der Verletzung hinaus reichen können. Bei
lange Zeit bestehendem Muskelschwund muss natürlich auch eine Veränderung
der statischen Verhältnisse eintreten, wobei besonders hinsichtlich der Be-
urtheilung des Grades der Erwerbsfähigkeit Folgezustände, wie
z. B. Spitzfuss, Hackenfuss, Beckenneigungen, zu berücksichtigen sein werden.
Man hat früher solche Atrophien insgesammt einfach als functionelle
Inactivitätsatrophien aufgefasst, obwohl entgegen allen anderen Erfahrungen
über Inactivitätsatrophien trotz regelmässiger und angestrengter Arbeit der
Zustand stationär bleibt und in sicher beobachteten Fällen die Atrophie
schon so kurz nach der Verletzung begann, dass von einer derartigen Wirkung
der Inactivität kaum die Rede sein kann.
Es währte ziemlich lange, bis die von Paget- Vulpiaw zuerst inaugurirte Reflex-
theorie Anerkennung fand. Ohne auf die historische Entwicklung der bezüglichen medi-
cinischen Anschauungen eingehen zu können, erwähnen wir neben den experinaentellen
Untersuchungen von Duplay, Raymond, welche die von Sabouriw aufgestellte Theorie der
Neuritis ascendens widerlegen, da nach ihrem Untersuchungsergebnis ein Fort-
schreiten eines entzündlichen Processes entlang den Nerven stammen in das Rückenmark
nicht stattfindet, und den Mittheilungen von Hoffa aus dem Jahre 1892, hier speciell den
von Charcot vertretenen, jetzt ziemlich allgemein anerkannten Standpunkt, dass die
Gelenkaffection oder die aus einer Verletzung der Gliedmassen resultirenden Folgezustände
auf dem Weg der gereizten Nerven auf das spinale Centralorgan einwirken und daselbst
die Centren in ihrer Thätigkeit hemmen, von welchen die motorischen und die der Muskel-
ernährung vorstehenden Nerven ausgehen. In neuester Zeit hat Klippel structurelle Ver-
änderungen im Rückenmark (Atrophie zahlreicher Nervenzellen in den Vorderhörnern der
grauen Substanz) als Ursache der in Frage stehenden Veränderungen in der Muskelsubstanz
betrachtet.
Caspari (A. f. U. I), der in üebereinstimmung mit der HoRWATH'schen Lehre von
der Muskelkraft bei normaler Ausdehnung der Muskeln das Zustandekommen von Muskel-
4r
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 837
atrophien infolge von Inactivität für unmöglich hält, hat jüngst aus der CJoLEBiEWSKi'schen
Klinik ausgedehnte Untersuchungen (histologische, elektrische mit faradischem, galvanischem,
FRANKLiN'schen Spannungsstfom) über den Muskelschwund angestellt. Er macht darauf
aufmerksam, dass auch das Knochengerüst sich an der Atrophie betheiligen kann,
wie dies speciell für den Calcaneus schon vorher Golebiewski beobachtete, in Fällen, wo
die sonst straff gespannte Haut über der Hacke weicher und der Knochen bedeutend
schmaler als an der gesunden Seite ist. Des Weiteren theilte er als einen bis jetzt noch
nicht von anderer Seite beschriebenen Befund mit, dass in allen Fällen, in welchen die
Einwirkung einer Verletzung selbst bei anscheinend umschriebenen Anlässen sich so intensiv
gestaltete, dass an sämmtlichen Muskeln der betroffenen Extremität der Einflnss des
Trauma sich geltend machte, die Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit nicht blos an
eben diesen Muskeln nachweisbar war, sondern dass bei Verletzungen des Beines die Herab-
setzung auch am Arm und umgekehrt constatirt werden konnte. In manchen Fällen war
die Erregbarkeit auch an der Rumpfmuskulatur und im Facialisgebiet vermindert meist
mit Abnahme der cutanen Sensibilität.
Nach den bis jetzt vorliegenden Erfahrungen scheint die Anwendung der
Influenzmaschine die günstigsten Erfolge zu erzielen.
Als traumatische Myalgien beschrieben Oppolzer, Runge, Senator
Krankheitsbilder, welche genau dem acuten Muskelrheumatismus glichen,
jedoch einem zweifellosen Trauma ihren Ursprung verdanken und zwar nicht
so sehr directen äusseren Gewalten als vielmehr brüsken Bewegungen des
Körpers, ungewohnten Muskelleistungen z. B. beim Heben oder Stemmen
schwerer Gegenstände und Aehnliches. Infolge solcher abnormer Bewegungen
kommt es zu übermässigen Zerrungen der Muskulatur und Sehnen und wohl
auch zu Zerreissungen kleinerer Muskelbündel oder auch nur einzelner Fasern
(Lorenz), eine Annahme, welche zur allgemein herrschenden Ansicht geworden
ist, obwohl anatomische Befunde derzeit hiefür noch nicht vorliegen.
Am häufigsten sind die traumatischen Myalgien der Abdominalmuskulatur
(bes. mm. recti u. des m. ileopsoas.) Die letzteren ähneln bei einseitigem Auf-
treten des Processes oft dem Bild einer Hüftgelenkerkrankung.
Cifcum Scripte traumatische Muskeldegeneration wurde auf der Al-
BERT'schen Klinik in Wien von Schnitzler beobachtet (Centralblatt für
Chirurgie 1895). Diese umschriebene Degeneration und Sequestration einer
kleinen Muskelpartie durch local begrenzten Druck ist verschieden von der
diffusen ischämischen Muskellähmung Volkmann's und Leser's, bei welcher
es sich um die Vermischung von Degenerations- und Entzündungsprocessen
handelt. Bei fortschreitender Degeneration kann es zu völligem Zerfall der
contractilen Muskelelemente kommen, in späteren Stadien zu Resorption und
narbiger Schrumpfung, mehr weniger ausgedehnten ringförmigen traumatischen
Defecten (Winkler M. f. U- 1896, 4), Zustände, für welche Analogien in
dem Caput obstipum von Kindern nach einem beim Geburtsact erfolgten um-
schriebenen Druck auf den Muskel schon von früher her bekannt waren.
Gelenkmäuse. Nachdem die knarrenden, knackenden, auch knisternden
Geräusche nach einem die Schulter oder das Kniegelenk treffenden Trauma
als bedeutungslos anerkannt sind, wenn nicht noch andere berücksichtigens-
werte Symptome einer Gelenkaffection vorliegen, wenden wir uns, soweit
traumatische Gelenkleiden in dem vorliegenden Artikel Berücksichtigung finden
müssen, zu den Gelenkkörpern.
Neben der Entstehung derselben ohne weitere traumatische Schädigung
durch krankhafte Processe (Arthritis deformans) mit ihren zerstörenden und
wuchernden Vorgängen, Verknorpelung und Ablösung von Zotten, Osteochon-
dritis dissecans (König, Riedel, entzündliche Zottenhyperplasien im Gelenk auf
rheumatischer oder syphilitischer Basis), spielt in der Aetiologie der Gelenkmäuse
das Trauma eine Rolle, insofern durch dasselbe knorpel- und knochenhaltige
Stücke abgesprengt werden können, wobei der knöcherne Theil des Sprengstückes
abstirbt, während der knorpelige seine Vitalität bewahrt, die bei einem gross-
blasigen Knorpel geringer ist als bei einem kleinzelligen. ScHtJLLER (A. S. V. Z.
1896, 4) hebt mit Recht hervor, dass beim Lebenden in geradem Wider-
838 TilAUMATISCHE KRANKHEITEN.
Spruch zu den Leichenexperimenten oft nur relativ geringfügige, locale Ge-
walteinwirkungen (Fall, Stoss, Schlag) traumatische Gelenkmäuse erzeugen
können und erklärt dies daraus, dass hier die Verhältnisse (Haltung des
Gelenkes, Spannung und Feststellung desselben) in einem für die Einwirkung
direct oder indirect treffender Gewalten besonders günstigen Winkel durch
die Contrahirten Muskeln, eventuell Combination mit forcirten Bewegungen»
welche für die Entstehung der Gelenkmäuse von besonderer Bedeutung sind
u. dgl, niemals so einfach sich gestalten wie beim Leichenexperiment. Die
Lage des Gelenkkörpers und der Grad seiner Beweglichkeit im
Gelenk ist für die Thätigkeit des Gutachters von grösserer Bedeutung als
der Umfang des Gelenkkörpers selbst. Derselbe kann nach Einwirkung des
Trauma zunächst noch an Kapselfetzen oder Bandfasern hängen bleiben und
sich erst später ablösen, oder das vollständig abgesprengte Stück kommt so
zu liegen, dass die Knochenoberfläche der Gelenkkapsel anliegt und von hier
aus vom Bindegewebe durchwachsen wird (gestielte Gelenkkörper), oder die
Sprengstücke gleiten sofort frei im Gelenke hin und her, bis sie zwischen die
Gelenküächen gerathen und direct die Bewegungen hindern.
Zu erwähnen ist noch, dass auf die durch ein Trauma beschädigten
Knochentheile besonders leicht entzündungserregende Noxen einwirken können,
die zufällig in einem Organ im Körper vorhanden sind; ist doch erfahrungs-
gemäss gerade die Spongiosa der Gelenkenden besonders empfänglich für die
Localisation von im Blut befindlichen Entzündungserregern. Schüller sah
bei chronischer Gonorrhoe, z. B. nach einfachen Gelenktraumen auffallend
starke subacute Entzündung der Synovialis mit Zottenbilduog, welche ihrer-
seits wieder unter Bildung von der regressiven Metamorphose angehörigen
Producten zu Gelenkkörpern führen kann. Auch bei vorbestehender Lungen-
tuberkulose sah FßÄNKEL nach einer geringfügigen Kniecontusion intensive
haemorrhagische synovitis des Kniegelenkes auftreten, ohne dass er den
Nachweis der tuberkulösen Natur dieses Gelenkleidens zunächst erbringen
konnte.
Dass ein Trauma auch auf die Löslösung von durch pathologische Pro-
cesse (s. o.) primär veranlassten resp. vorbereiteten Gelenkkörpern einen un-
günstigen Einfluss haben kann, ist ohne weiteres ersichtlich.
Spondilitls traumatica (Kümmell). Nachdem Beobachtungen von Schede
aus den Achtzigerjahren über zunehmende Erweichung von Knochen-
callus nach Fracturen der Wirbel-, Fusswurzelknochen unbeachtet geblieben
waren, hat Kümmell (D. m. W. 1895) auf analoge krankhafte Zustände neuer-
dings wieder aufmerksam gemacht und dieselben als Spondylitis trau-
matica beschrieben. Vorzugsweise ist die Brustwirbelsäule Sitz der Erkran-
kung, das veranlassende Trauma kann die Wirbelsäule direct treffen oder ein
Zusammenknicken des Oberkörpers und damit eine Compression resp. Contu-
sion von Wirbelkörpern hervorrufen. Nachdem meist auf die ersten Folgen
des Unfalles ein wochen- oder monatelanges Wohlbefinden gefolgt und die
Verunfallten bereits schon seit längerer Zeit wieder arbeitsfähig gewesen,
treten schleichend am Ort der Läsion spontane oder Druckschmerzen auf,
verbunden mit Intercostalneuralgien, allmählich sich entwickelnder habitueller,
vornüber und nach einer Seite geneigter Haltung des Oberkörpers (veran-
lasst durch das instinctive Bestreben, die schmerzende Wirbelsäule zu ent-
lasten), motorische Störungen der unteren Extremitäten und dgl. Nach einiger
Zeit bildet sich mit den compensatorischen Gegenkrümmungen in den benach-
barten Theilen eine ausgesprochene Kyphose mit Gibbus aus („secundäre trau-
matische Kyphose"), die besonders schmerzhaft bei directem Druck und bei
Stoss in der Richtung der Längsachse der Wirbelsäule ist und auch hinsichtlich
ihrer Form (rundbogig oder spitzwinklig) keine Constanten differentialdiagnosti-
schen Merkmale der tuberkulösen Spondylitis gegenüber zeigt. Nach Henle und
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 839
Hatte.aier (Beiträge zur klinischen Chirurgie Bd. XX) können sich die secun-
dären Erscheinungen sehr rasch an die primäre Verletzung anschliessen.
KÜMMELL lässt es vorläufig unentschieden, ob in allen Fällen eine durch das Trauma
veranlasste Wirbelfractur für die zunehmende Erweichung und den fortschreitenden Druk-
schwund (rareficirende Ostitis), pathologische Resorption der Kalksalze mit grösserer oder
geringerer Atrophie der Knochenbälkchen im Anschluss an hyperplastische Processe des
Knochenmarkes (Nielser, Glawitz) verantwortlich zu machen ist. Kaufmann (M. f. ü.
1895, 6) supponirt für alle Fälle eine Wirbelfractur, welche bei den anfangs oft sehr
geringfügigen Symptomen leicht der Diagnose entgehen kann; König, der ebenfalls in allen
Fällen eine Fissur oder Fractur annimmt, erklärt die Deformirung aus der zu frühen
Belastung des noch weichen Callus, während Mikulicz und Henle (Mittheilungen aus den
Grenzgebieten von Medicin und Chirurgie, Bd. I) auch die Annahme einer Fractur zur
Erklärung des Krankheitsbildes noch nicht erschöpfend erachten. Der letzterwähnte Autor
nimmt für seine Beobachtung, die sich von der KÜMMEL'schen überdies noch durch ihren
progredienten Verlauf unterscheidet, trophoneurotische Einflüsse seitens des gleich-
zeitig mit geschädigten Rückenmarks an (Compression der Rückenmarksnervenwurzeln und
SpinalgangHen durch Bluterguss etc.) und stützt seine Ansicht auf die Ergebnisse der
experimentellen Untersuchungen von Goltz, der bei Thieren, welchen Abschnitte des
Rückenmarks excidirt wurden, die Wirbelknochen des entsprechenden Bereiches auffallend
morsch gefunden hatte. Weitere Beobachtungen sind von Heidenhain (M. f. U. 1897, 3)
VuLPiüs (eodem 1897, 7) mitgetheilt.
Die Diagnose der Spondylitis traumatica ist vor der Gibbus-
bildung schwer. Verwechslungen mit Hysterie (s. o.) und Simulation sind,
•wie die bezüglichen Mittheilungen von Helfekich, Mikulicz zeigen, nicht
selten; nach Auftreten des Gibbus kommen differentialdiagnostisch Tumoren,
tuberkulöse und gummöse Processe der Wirbelsäule, Kyphose nach Osteomye-
litis, Arthritis deformans in Betracht.
Prognose dubios; Dauer der Erkrankung unberechenbar, da die
spongiösen Wirbel mit ihrer geringen Periostfläche nur sehr träge Heilungs-
tendenz zeigen.
Da überhaupt nur Schonung und vollständige Entlastung der Wirbel-
säule (durch Suspension) complete Heilung erzielen kann, ist vor Eintritt
derselben auch die Erwerbsunfähigkeit eines solchen Patienten als voll-
kommene zu taxiren.
Dass die in letzter Zeit von Maeie und Astie beschriebene „Kyphose
heredo-traumatique" in Beziehung zu der Spondylitis traumatica (Kümmell)
gebracht werden kann, erscheint uns schon deshalb sehr zweifelhaft, da in
dem Fall der erstgenannten Autoren die Kyphose — allerdings nur in gerin-
gerem Grade — bereits vor dem Unfall vorhanden war und im Uebrigen
auch die Druckempfindlichkeit der Wirbelsäule fehlte.
DupuYTEEN'sche Contractm*. Aponeurositis palmaris nach Bähe.
Die Frage nach der Entstehungsursache derselben und speciell, ob ein Trauma
allein die Erkrankung hervorrufen kann, ist noch nicht völlig geklärt. Analoge
Processe zu jenen an der Palmarfascie kommen auch an der Fusssohlenfascie
vor. Leddeehose, der die Verschiedenheit der Erscheinungen an Hand und
Fuss durch locale anatomische und physiologische Verhältnisse bedingt erklärt,
nimmt für die Erkrankung in erster Linie traumatischen Ursprung an,
indem durch Dehnen oder Zerren ein oder mehrere partielle Einrisse der
Aponeurose entstehen; an den lädirten Stellen entwickelt sich dann hyper-
trophisches Narbengewebe, das später in Atrophie und Schrumpfung verfällt
und so zu der charakteristischen Begleiterscheinung der Fingercontractur
Veranlassung gibt. Eulenbueg, Golebiewski, Caspaei (A. f. U. I) machen
auf den neuropathischen Ursprung aufmerksam, ohne damit die die
Krankheit auslösende Wirkung des Trauma bestreiten zu wollen. In Fällen,
in welchen sich im Anschluss an die Verletzung eine die Fascie in Mitleiden-
schaft ziehende Phlegmone entwickelt, erscheint die Annahme eines neu-
ritischen Ursprunges nicht auffällig; auf Grund von zwei genauer publicirten
Beobachtungen, bei welchen sich im Anschluss an ein Trauma der Wirbel-
säule Aponeurositis an beiden Händen entwickelte, nimmt Caspaei (1. c.) an,
840 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
dass auch spinale Erkrankungen Contracturen der Palmar-Aponeurose ver-
anlassen können.
Dass das bis zu dem Trauma latent verlaufende Leiden durch das
Trauma manifest werden kann, ist u. a. von Bahr bereits hervorgehoben,
der in Uebereinstimmung mit König einer eventuell vorhandenen arthritischen
Diathese mit sklerotischen Processen an den Arterien als unterstützendes
Moment für die Entstehung eine gewisse Bedeutung beilegt.
Traumatische Entzündung der Schleimbeutel. Erwähnt sei hier die durch
den Unfall nicht selten hervorgerufene traumatische Entzündung des
grossen Trochanteren-Schleim beuteis, da sie, wie schon Hüter-
LossEN (Lehrb. d. Chir. lU) hervorhebt, differential-diagnostisch von Interesse
ist, wegen der Möglichkeit einer Verwechslung mit Hüftgelenksentzündung.
Sie greift meist auch auf die Endabschnitte der am grossen Rollhügel und
unterhalb desselben sich ansetzenden Muskeln über und ruft nicht unerheb-
liche Functionsstörungen derselben hervor (Thiem, M. f. U. 1895, 5).
VI.
Traumatische Affectionen des Gefässsystems.
Von den traumatischen Affectionen des Gefässsystems inter-
essiren uns hier nur die Aneurysmen, welche nach traumatischen Schädi-
gungen, wie Contusionen, auch an gesunden, besonders leicht an durch degene-
rative Processe hiezu vorbereiteten kranken Gefässen entstehen.
Der Causalnexus zwischen Trauma und Krankheit wird nicht schwer zu
erkennen sein, wenn bereits wenige Wochen oder Monate nach der Gewalt-
einwirkung die Erscheinungen der aneurysmatischen Gefässdilatation vor-
handen sind. Bei späterem Manifestwerden des Leidens, für das, nebenbei gesagt,
sich eine bestimmte, den Zusammenhang noch als wahrscheinlich erscheinen
lassende zeitliche Grenze bis jetzt nicht feststellen lässt, wird man oft nur
von der Möglichkeit eines ursächlichen Verhältnisses sprechen können, wenn
nicht anamnestisch das Auftreten von Schmerzen am Ort der Läsion, die in
charakteristischer Weise nach der Peripherie ausstrahlen, sich entweder auf
die Zeit des Unfalls selbst oder doch höchstens auf zwei bis drei Monate
zurückführen lässt.
Nicht blos an peripheren, sondern auch an im Innern der Körperhöhlen
gelegenen Arterien hat man als Folgen stumpfer Gewalteinwirkung Aneu-
rysmen beobachtet (Aortenaneurysma nach schwerer Brustcontusion, Aneu-
rysma der Leberarterie nach Hufschlag gegen den Unterleib u. s. w.).
Thiem hat auf der Unfallabtheilung der Lübecker Naturforscherversammlung (1895)
die Frage nach der Entschädigungshöhe der Aneurysmen angeregt. Nach seinem Vor-
schlag hat man bei Aneurysmen der Brust- und Bauchschlagader völlige Erwerbsunfähig-
keit angenommen, da jede einigermaassen anstrengende Thätigkett das Aneurysma zum
Platzen bringen kann. Bei Extremitäten-Aneurysmen könne man eher Arbeiten im Sitzen
gestatten, weshalb man ^a — ^U Invalidität als dem Grad der erlittenen Erwerbsbeschrän-
kung entsprechend angenommen hat.
In Uebereinstimmung mit experimentellen Ergebnissen deutet Leger
einen im Anschluss an heftige Brustcontusion zur Entwicklung gekommenen
acuten Krankheitszustand (Verbreiterung der Dämpfung nach aussen vom
rechten Sternalrand, IL Intercostalraum starke Subclavia- und Carotidenpulsation,
unreiner rauher 1. Aortenton, weicher, massig frequenter Puls) als acute
Aortitis, die eine vorübergehende Erweiterung des Bogens und der aus
demselben tretenden Gefässe zur Folge hat. Weitere analoge Fälle sind noch
nicht bekannt geworden.
vn.
Trauma und Infection.
Während nach unseren jetzigen Vorstellungen das Causalitätsverhältniss
zwischen äusserer Wunde und der sich an dieselbe anschliessenden Infection
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 841
ohne weiteres klar ist, wird der Nachweis des Zusammenhanges schon
schwieriger, wenn Verletzungen subcutan gelegener Theile oder innerer Or-
gane, die je nach ihren structurellen Verhältnissen etc. in dieser Richtung
ganz erhebliche Verschiedenheiten zeigen, zum Ausgangspunkt infectiöser
Processe werden. Stern (Zeitschrift für praktische Aerzte 1896, 19) fasst am
Schluss seiner Erörterungen die hiebei in Betracht kommenden Gesichts-
punkte dahin zusammen, dass
1. das Trauma Infectionserregern eine Eintrittspforte eröffnen kann
(Wundinfectionen).
2. Das Trauma kann in einem bereits inficirten Organismus die Wirk-
samkeit der Infectionserreger erst ermöglichen und die Localisation derselben
bestimmen (Osteomyelitis, ein Theil der sogenannten traumatischen Tuber-
kulosen). Wir erinnern an dieser Stelle an die bekannten ScHüLLEE'schen
Experimente bei tuberkulös gemachten Thieren mit gleichzeitig gesetzten
Gelenktraumen, welche die Bedeutung mechanischer Einflüsse für die Loca-
lisation sprechend illustriren.
Frankhausen (cit. Ref. M. F. ü. 1898, 8 ; ein Fall von acuter traumatischer Staphy-
lomycose) beobachtete bei einem Verunfallten eine complicirte Depressionsfractur am
Schädel und subcutanen Oberarmbruch, an welchem acute Vereiterung durch Staphylo-
coccen eintrat, während die Schädelwunde von Anfang nie eine Spur von Entzündungs-
erscheinungen zeigte. Die Eitererreger mussten also irgend wo im Körper vorhanden
gewesen sein und sich dann an der Stelle des Trauma am Oberarm angesiedelt haben.
3. Das Trauma kann ältere, bis dahin latent gebliebene oder anschei-
nend ausgeheilte Krankheitsherde zu weiterer Ausbreitung veranlassen; z. B.
Recidiv , einer osteomyelitischen tuberkulösen Knochenerkrankung. Unter
Umständen kann auch die Entstehung einer AUgemeininfection (z. B. acute
disseminirte Tuberkulose) von dem verletzten, aber bereits vorinficirten
Krankheitsherd aus ermöglicht werden.
Wir besprechen hier die drei für die Unfallpraxis wichtigen Infections-
krankheiten Tuberkulose, Osteomyelitis, Syphilis, während andere
innere Erkrankungen nach Trauma, bei deren Entwicklung infectiöse Processe
ebenfalls eine Rolle spielen, unter den traumatischen Affectionen des Hirns,
der Brust- resp. Unterleihsorgane erwähnt sind.
Trauma und Tuberciüose. Entsprechend der grossen Verbreitung der
tuberkulösen Processe überhaupt spielen auch unter den Unfallerkrankungen
die tuberkulösen neben den Nervenerkrankungen die Hauptrolle. Es steht
dies nicht im Widerspruch mit dem Ergebnis der experimentellen Forschung,
wonach einerseits, wie oben bereits erwähnt, Traumen Veranlassung zu tuber-
kulösen Herderkrankungen werden, und andererseits lehren bakteriologische
Erfahrungen, dass neben anderen pathogenen Mikroorganismen besonders der
Tuberkelbacillus in alten Krankheitsherden, die in klinischem und zum Theil
auch in anatomisch-pathologischem Sinn als ausgeheilt betrachtet werden
können, viele Jahre seine Virulenz behalten kann, bis durch ein Trauma und
die hiedurch gesetzten Gewebsalterationen (Blutungen, nekrotische Processe)
als hinzutretendes accidentelles Moment von neuem ein günstiges Feld für
die deletären Wirkungen des Bacillus geschaffen wird. Das Trauma gibt also
dann den Anstoss zur Verbreitung der Bacillen, welchen es in dem verletzten
Körpertheil einen geeigneten Angriffspunkt bereitet. Sind sie hier angelangt,
so beginnt deren Vermehrung und die Bildung ihres specifischen Productes
im Körper, des Tuberkelknötchens.
Dass unter den disponirenden Momenten hereditäre Verhältnisse
für die traumatischen Tuberkulosen eine bedeutende Rolle spielen, ist nicht
weiter auffällig, wenn man sich vergegenwärtigt, dass in weit mehr als einem
Drittel aller Fälle von Tuberkulose hereditäre Belastung nachgewiesen wurde,
wobei noch viele der Tuberkulose verdächtige Fälle nicht einmal Berücksich-
tigung gefunden. Die Gesichtspunkte, welche sich bei der Beurtheilung von
842 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
Tuberkulose als Unfall folge dem Gutachter von selbst aufdrängen, sind,
folgende: 1. Bestehen der Erkrankung bereits vor dem Unfall (Verschlim-
merung durch denselben); 2. Entwicklung der Krankheit im Anschluss
an den Unfall. Auftreten am Ort der Läsion.
Eine sorgfältige Zusammenstellung der wichtigsten Beobachtungen über Inoculations-
und Contusionstuberkulose verdanken wir Guder (Vj. ger. Med. 1894).
Von den verschiedenartig localisirten tuberkulösen Erkrankungen sind
die praktisch wichtigeren:
1. Knochen- und Gelenktuberkulose. Unter den hier in Betracht kom-
menden Traumen liefern Ueberanstrengungen und Distorsionen das Haupt-
contingent, und zwar sind infolge der durch den complicirten anato-
mischen Bau des Fusses und dessen Function bedingten grösseren Häu-
figkeit der Distorsionen an den unteren Extremitäten auch die tuberkulösen
Knochen- und Gelenkaffectionen hier häufiger als an den oberen. Wenn auch
gewiss zuzugeben ist, dass oft von den Patienten derartige Affectionen auf
Ursachen zurückgeführt werden, die damit in gar keinem causalen Zusammen-
hang stehen, so ist doch andererseits ebenso sicher, dass jedenfalls noch
häufiger die Gelegenheitsursachen übersehen und wegen ihrer Geringfügigkeit
nicht genügend gewürdigt werden, so dass man leicht dazu kommen kann,
die Bedeutung der Gelegenheitsursachen für die Entwicklung der so häufigen
tuberkulösen Fussgelenk- und Fusswurzelknochen zu unterschätzen.
Spengler macht darauf aufmerksam, dass nicht selten die von dem Patienten zu
Grunde gelegte Ursache (Distorsion) bereits Folge der vorbestehenden Krankheit sei resp. der
durch dieselbe hervorgerufenen Schwäche der betreffenden Extremität; die vermeintliche
Gelegenheitsursache ist dann nur das Mittel, den latenten und schmerzlosen Verlauf der
Affection, wie er ja gerade den tuberkulösen Knochenerkrankungen im Initialstadium eigen
ist, manifest zu machen, indem sie einen acuten Schub des Leidens bewirkt. Dies gilt
namentlich für jene Fälle, wo mehrere gleichwertige oder verschiedene Traumen nach-
einander die Extremität treffen und wo das erste Trauma Gelegenheitsursache, das Zustande-
kommen der folgenden durch die bereits bestehende Schwäche des Fusses z. B. in hohem
Grad begünstigt wird. Man kann dann auch deutlich die jeweilige Steigerung der Sym-
ptome nach dem neuen Trauma erkennen.
Hinsichtlich der Intensität des Trauma ist zu bemerken, dass, wie
oben bereits angedeutet, auch leichtere Traumen Schädigungen hervorbringen
können, die zur wirksamen Einwanderung der fast ubiquitären Tuberkelbacillen
geeignet sind. Ja man hat gerade bei den Knochen- und Gelenktuberkulosen
den leichten Verletzungen ein entschiedenes Uebergewicht beigemessen und
es durchaus nicht als erforderlich erachtet, dass die Verletzung äusserlich
sichtbare Folgen oder unmittelbar schwere Functionsstörungen nach sich
zieht. Zerreissungen von kleinen Gefässen der Spongiosa, der Synovialmem-
bran, Blutextravasate, seröse Durchtränkung der Gelenkkapsel genügen, um
den Boden für die Ablagerung des im Blute kreisenden Tuberkelgiftes und für
seine locale Ausbreitung am Ort der Läsion vorzubereiten, während, wie in
ganz plausibler Weise von Krause in seiner Monographie (Tuberkulose der
Knochen und Gelenke 1891) bemerkt ist, bei starken Verletzungen von
Knochenbrüchen die Heilungsvorgänge in so energischer Weise verlaufen»
dass die Tuberkelbacillen nicht gegen die hiebei auftretenden gewaltigen
Gewebswucherungen anzukämpfen vermögen.
Was im Speciellen den Infectionsmodus bei den traumatischen
Knochen- und Gelenktuberkulosen betrifft, so betrachtet König, da sie vor-
zugsweise bereits anderweitig tuberkulöse Individuen befällt, dieselben als eine
metastatische Tuberkulose, d. h. durch das Trauma wird die Entstehung der
Metastase gerade an der Stelle seiner Einwirkung gefördert. Tritt Knochen-
und Gelenktuberkulose als primäre Erkrankung auf, so erfolgt die Invasion
der Bacillen durch die Schleimhaut des Intestinal- resp. Respirationstractus,
ohne dass aber die Eingangspforten selbst irgend welche Erkrankung zu
zeigen brauchen (Keause).
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 843
Der Verlauf, die klinischen Erscheinungen der traumatischen
tuberkulösen Ostitis und Synovitis unterscheiden sich nicht von dem wech-
selnden Bild des ohne traumatische Gelegenheitsursache zur Entwicklung ge-
kommenen Leidens.
Hinsichtlich des zeitlichen Zusammenhanges mit dem Trauma ist zu
berücksichtigen, dass kleine, im Innern des Knochens und von der Ober-
fläche, resp. einem benachbarten Gelenk noch durch eine ziemlich dicke
Schichte normalen Knochens getrennte ostitische Herde anfangs weder Schmerz
noch Schwellung noch irgend eine andere Störung zu verursachen brauchen,
bis erst bei progredienterem Verlauf der Herd näher an die Oberfläche zu
liegen kommt, und es dann erst möglich wird, durch etwas kräftigen Finger-
druck an den betreffenden Stellen Schmerzen zu erzeugen und so die Existenz
eines in der Tiefe liegenden ostitischen Herdes mit einer an Sicherheit gren-
zenden Wahrscheinlichkeit festzustellen. In anderen typischen Fällen besteht
ein continuirlicher Zusammenhang zwischen Verletzung und ausgeprägtem
Krankheitsbild, nachweisbar durch das Ausbleiben glatter Heilung der ünfalls-
folgen, stetiges Zunehmen der trotz therapeutischer Maassnahmen hartnäckig
persistirenden Schwellung im Gegensatz zu der begleitenden Muskelatrophie,
und in 8 bis 10 Wochen nach der Verletzung sind die Erscheinungen nicht
selten schon unverkennbar.
Beobachtungen über traumatische Kniegelenktuberkulose (fungus, hydrops)
unter speciellem Hinweis auf deren sehr chronischen Verlauf bei Personen des
kräftigen und höheren Alters, um die es sich in der Unfallpraxis meist han-
delt, haben u. a. König, Kaufmann (M. f. 1895, 6) Fübringer, Schütz, mit-
getheilt.
Eine noch grössere Bedeutung als für die Aetiologie der genannten
Knochen- etc. Tuberkulosen hat das Trauma (Heben, Tragen schwerer Lasten,
Fall auf das Gesäss u. s.w.) bei der Tuberkulose der Wirbelkörper
mit ihrer sehr schwammigen Structur, die bei ihrem ausserordentlich chro-
nischen Verlauf oft lange Zeit bestehen kann, bis objective Veränderungen an
der Wirbelsäule manifest werden und als deren einzige Erscheinung oft nur
locale und im Bereich der Intercostalnerven ausstrahlende, an Intensität
wechselnde Schmerzen jahrelang bestehen können, die aber diagnostisch um
so grössere Bedeutung haben, wenn sie bereits unmittelbar nach dem Unfall
an der gleichen Stelle angegeben wurden. Bei dieser Sachlage ist der be-
stimmte und einwandfreie Nachweis des Causalitätsverhältnisses oft mit grossen
Schwierigkeiten verknüpft. Bei der forensischen Beurtheilung wird
man mit besonderer Vorsicht verfahren müssen, besonders bei Beantwortung
der Frage, inwieweit die Wirbelsäule nicht schon vorher tuberkulös war,
da aus bekannt gewordenen Beobachtungen zur Genüge hervorgeht, dass
Menschen mit weit ausgedehnten cariösen Zerstörungen mehrerer Wirbel nicht
nur keine Beschwerden zu haben brauchen, sondern sogar noch erhebliche
Strapazen mit Belastung der Wirbelsäule zu ertragen vermögen. Grawitz
erwähnt in seinem Bericht über Tuberkulose in der preussischen Armee
einen Fall von enormer cariöser Zerstörung der Wirbelsäule, welche den
Mann nicht verhindert hatte, noch acht Tage vor seinem Tode Dienst zu thun,
welche auch in der letzten Zeit keine Erscheinungen hervorgerufen hatte,
vielmehr sich nur durch metastatische acute Miliartuberkulose der Lungen
und Pia bemerkbar machte.
Rieder (D. m.W. 1898, 6) hat die praktische Bedeutung der Caries der Synchon-
drosis sacro-iliaca nach Trauma hervorgehoben; die Synchondrosencaries im
Anschluss an Contusion der Lumbal- und Sacralgegend kann langdauernde und unbestimmte
Schmerzen verursachen, welche die betreffenden Kranken in den Verdacht der Simulation
bringen können. Als charakteristisch für das Leiden hebt der genannte Autor, neben
Schmerzen in ausgesprochenen Fällen Druckempfindlichkeit und Knochenverdickung und
besonders die Atrophie der betreffenden unteren Extremitätenmuskulatur hervor, gegen-
über dem Kreuzschmerz bei traumatischer Neuralgie der nn. clunium z. B.
844 TRAUMATISCHE ^KRANKHEITEN*
Speciell die^ Beziehungen zwischen vorbestandener Phthise der iuungen
und traumatisch veranlasster Knochen- resp. Gelenktuberkulose betreffend ist
zu bemerken, dass nach einem Erkenntnis des R. V. A. Anspruch auf Renten-
gewährung nicht besteht, wenn die letztere zur Zeit des Todes noch weit von
jenem Stadium entfernt ist, in welchem sie das Leben bedrohen kann.
Differential-diagnostisch kann für Wirbelcaries u. a, die KüMMELL'sche
Spondylitis traumatica, Rhachialgie in Betracht kommen. (Siehe die betreffen-
den Capitel.)
2. Tuberkulose der Meningen. Nachdem von den älteren Autoren sich
Niemeter-Seitz und Huguenin bereits dahin ausgesprochen, dass in einigen
Fällen das Trauma mit dem Beginn der Hirnhauttuberkulose in so evidentem
Zusammenhang steht, dass ihm eine veranlassende Rolle kaum abzusprechen
sei, ist in der letzten Zeit durch Beobachtungen von Beol, Salis, Becker,
Schilling etc. die Bedeutung des Trauma im besagten Sinne noch weiter
hervorgehoben worden. Ob die Ausbreitung der Tuberkulose auf die Meningen
von einem kleinen, latent gebliebenen tuberkulösen Herd in deren nächster
Umgebung (Schädelknochen) oder auf metastatischem Weg durch Einschwemmen
der Tuberkelbacillen in die Blutbahn von einem an einer anderen Körper-
stelle gelegenen Herd spontan oder durch die mit dem Trauma verbundene
Körpererschütterung erfolgt, kann natürlich nur durch exacte anatomische,
resp. histologische Untersuchung des Einzelfalles entschieden werden.
DÜRCK und Stern halten den zuletzt angeführten Infectionsmodus besonders in
jenen Fällen für wahrscheinlich, in welchen die tuberkulöse Meningitis nach allgemeinen
Körpererschütterungen oder nach Traumen, welche tuberkulöse Knochen, beziehungsweise
Gelenke betreffen, zum Ausbruch gelangt.
In praktischer Verwertung der BAUMGARTEN'schen Untersuchungsergeb-
nisse hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung der Tuberkelknötchen, welche
uns bekanntlich gezeigt, dass nach Infection der Vorderkaramer des Kaninchen-
auges die Entwicklung der Tuberkelknötchen vier Tage nach Invasion
der Bacillen beginnt und am elften Tag bereits vollkommen ausgebildete
Epithelioidzellentuberkel vorhanden sind, sind wir berechtigt, in allen Fällen,
in welchen eine tuberkulöse Hirnhautentzündung unmittelbar oder einige
Stunden nach einem Trauma zum Ausbruch kommt, einen ursächlichen Zu-
sammenhang beider mit Sicherheit auszuschliessen. Die schweren cerebralen
Krankheitserscheinungen beginnen erst Ende der zweiten Woche nach dem
Trauma.
Einen beweisenden Fall hat Hilbert (Berl. kl. Wchschr. 1891) mitgetheilt: Ausser
Mattigkeit nach Erholung aus der durch den Schlag auf den Kopf verursachten Betäubung
zainächst keine Beschwerden; am dritten Tag unbestimmte Sym.ptome, Kopfschmerzen,
Erbrechen. Am neunten Tag noch keine Zeichen, welche auf eine schwere Erkrankung
hindeuteten; erst am elften Tag pathognostische Symptome (Abducenslähmung etc. etc.).
Bei der tuberkulösen Entzündung der Spinalmeningen ist der langsame
und schleichende Verlauf derselben hervorzuheben. Wegen der Anfangs nur
sehr unbestimmten Symptome ist zu Beginn der Erkrankung, wie die von
Leyden (Archiv f. Psych. VIII) und mir (Vj. f. ger. Med. 1895) veröffent-
lichten Fälle zeigen, Verwechslung mit functionellen Nervenerkrankungen
nicht ausgeschlossen.
3. Lungentuberkulose. Ihre traumatische Entstehung ist erst in den
letzten Jahren Gegenstand eingehenderer wissenschaftlicher Besprechung ge-
worden. Zwar finden sich in der älteren Literatur bereits Mittheilungen,
dass nach Brustverletzung Lungenphthise entstanden sei, indessen entbehren
diese spärlichen älteren Beobachtungen des nöthigen Beweismaterials, um die
Frage nach der traumatischen Genese mit Erfolg discutiren zu können.
Mendelssohn (Ztschr. f. klin. Med. X) hat aus der LEYDEN'schen Klinik
unter dem Namen „traumatische Phthise" eine Reihe hieher gehöriger
Fälle publicirt und erklärt sich das Zustandekommen der Erkrankung durch
das Trauma in der Weise, dass Continuitätstrennungen der Lungen den bis
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 845
ZU einem gewissen Grad ubiquitären Tuberkelbacillen den Zutritt zum Innern
der Lungen eröffnen; in den durch das Trauma hervorgerufenen Blutungs-
und Entzündungsherden sieht er noch weitere, die Entstehung der Krankheit
begünstigende Momente.
Neben Lacher (Friedreichs Blätter 1891) hat besonders Guder im Anschluss an ein
von ihm erstattetes Gutachten die bis jetzt vorhandene Casuistik zusammengestellt. Unter
kritischer Sichtung des gesammten Materials hat Stern in seinem mehrfach citirten Werk
über die traumatische Entstehung innerer Krankheiten als erster die für einen Causal-
zusammenhang zwischen Trauma und Krankheit sprechenden Gesichtspunkte eingehend
erörtert, und wenn er auch für die MENDELSsoHN'schen und JACCOUD'schen Fälle die Wahr-
scheinlichkeit einer traumatischen Genese zugibt, so hält er doch zur einwandfreien Fest-
stellung, dass ein Trauma bei einem vorher gesunden Menschen die Entstehung von
Lungentuberkulose hervorrufen kann, noch weitere exacte, abgeschlossene Beobachtungen
nothwendig, da für keinen der bisher bekannt gewordenen Fälle ein einheitliche ärzliche
Beobachtung von Beginn der Erkrankung an vorliegt. Der jüngst von Schrader (Berl.
klin. Wochschr. 1897, 46), aus dem Knappschaftslazareth Königshütt mitgetheilte Fall kann
nach unserem Ermessen als hinreichend beweiskräftig angesehen werden.
Was die Art der Verletzungen betrifft, so sind es, abgesehen von
den tuberculösen Lungen- resp. Pleuraerkrankungen, wie sie Scholz und
Mendelssohn nach perforirenden Brustwunden beschrieben und die in dem
Rahmen dieser Arbeit keine eingehendere Berücksichtigung finden können,
hauptsächlich Lungenverletzungen bei Brustcontusionen und aus ser-
gewöhnlichen Anstrengungen (Heben, Tragen etc.), kurz körperliche
Leistungen, welche Gefässzerreissungen und Blutergüsse in den Lungen ver-
anlassen können. Dass der Sitz des Leidens speciell der Stelle der Ver-
letzungen entsprechen müsse, ist, nach Analogie der traumatischen Lungen-
entzündung, entgegen der Ansicht von Schrader u. A., nicht nothwendig.
Für den gerichtlich-medicinischen Nachweis des Causalnexus
kommt zunächst der Zustand der Lungen in der ersten Zeit nach der
Verletzung in Betracht, als deren wichtigstes Symptom die sofort oder kurze
Zeit, spätestens aber einige Tage nach dem Trauma auftretende Haemoptoe
genannt werden muss. Existiren über denselben für eine spätere Begut-
achtung keine detailirteren ärztlichen Angaben, so kann ein ursächlicher Zu-
sammenhang nicht mehr als genügend erwiesen angesehen werden und man
wird über die Annahme "einer blossen Möglichkeit resp. Wahrscheinlichkeit
kaum hinaus kommen.
Stern (1. c.) betrachtet diese traumatische Hämoptoe als ein zwar wichtiges aber
durchaus nicht nothwendiges Bindeglied zwischen Trauma und später manifest werdender
Lungentuberkulose. Ein Urtheil, ob sich Lungentuberkulose häufiger und rascher nach
Traumen mit oder nach solchen ohne Hämoptoe entwickelt, ist auf Grund des vorhandenen
Materials z. Z. noch nicht möglich.
Ohne auf die zum Theil widersprechenden Ansichten hinsichtlich des
Entwicklungsganges der Krankheit hier näher eingehen zu können,
recurriren wir in diesem Zusammenhang auf eine Beobachtung Jaccoud's,
wonach der Uebergang einer primär durch das Trauma veranlassten Pneu-
monie mit fehlender oder doch sehr unvollkommener Krise in Lungentuber-
kulose durch die anfangs wiederholt constatirte Abwesenheit von Tuberkel-
bacillen im Sputum erwiesen zu sein scheint, somit eine zweite Erklärung für
die Pathogenese der traumatischen Lungentuberkulose Stütze findet.
In anderen für die Beurtheilung besonders schwierigen Fällen fehlt ein
acutes Stadium vollständig (Stern), so dass es für diese unentschieden bleiben
muss, ob es sich bei diesen zunächst um nicht tuberkulöse, chronische Ent-
zündung handelt, die erst später in Tuberkulose „übergeht" oder aber um
einen von vorneherein tuberkulösen Process. Stets wird jedoch das Schwer-
gewicht für die Begutachtung auf den Nachweis von spätestens wenige
Monate nach der Gewalteinwirkung in die Erscheinung tretenden subjectiven
und objectiven Symptomen zu verlegen sein, da, wie auch Stern bemerkt,
ein viele Monate oder gar Jahre umfassendes Latenzstadium, wie es z. B.
846 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
beim traumatischen Hirnabscess vorkommen kann, nicht nur unerwiesen,
sondern vielmehr unwahrscheinlich ist.
Dass weitere Beobachtungen für die traumatische Phthise gegenüber der
Lungentuberkulose ohne voraufgegangenes Trauma besondere physikalische
Symptome oder Abweichungen im klinischen Verlauf constatiren werden, ist
füglich nicht anzunehmen.
Durch verschiedene Entscheidungen des Keichsversicherungsamtes ist
eine Entschädigungspflicht im Sinne des Unfallgesetzes anerkannt worden für
jene Fälle, in welchen eine v o r bestandene, aber bislang nur sehr protrahirt
verlaufende, die Erwerbsfähigkeit noch nicht wesentlich beeinträchtigende
Lungentuberkulose im Anschluss an ein Trauma eine erhebliche Verschlim-
merung zeigt; einen bezüglichen klaren Fall hat Liersch (M. f. U. 1896, 12)
mitgetheilt.
4. Tuberkulose des Urogenitalapparates. Darunter als die häufigste
die Hoden- und Nebenhodentuberkulose, wie sie nach stumpfer Ge-
w^alteinwirkung, sei es bei bis zu den Unfall vollständig gesunden oder here-
ditär belasteten oder an Tuberkulose anderer Organe bereits leidenden Indi-
viduen, zur Entwicklung kommt. Die Bedeutung vorbestandener tuberkulöser
Erkrankung anderer Organe ist speciell für die Hodentuberkulose aus den
bekannten Befunden von Jani unter Weigert's Leitung ersichtlich, welch'
ersterer bei acht an chronischer Lungentuberkulose Verstorbenen fünfmal in
den Samencanälchen des von tuberkulöser Herderkrankung freien Hodens
Tuberkelbacillen nachgewiesen, unter 6 Fällen auch viermal in der Prostata;
dass die Erkrankung auf den verletzten Hoden beschränkt bleiben oder später
auch auf den gesunden übergreifen und im weiteren Verlauf den gleich un-
günstigen Ausgang zeigen kann, wie jede andere Organtuberkulose, braucht
nicht weiter erwähnt zu werden.
Trauma und Osteomyelitis. Die Stellung des Trauma in der Aetiologie
der Osteomyelitis, welche man insoferne nicht mehr als specifische Infections-
krankheit ansieht, als die Erkrankung auf einer Infection durch verschiedene
pyogene Mikroben (vorzugsweise Staphylo-, Strepto- und Pneumococcen) beruht,
ist auf der Naturforscherversammlung zu Wien 1894 von Thiem eingehend
besprochen worden. Aus seinem in M. F. U. 1894 abgedruckten Vortrag
können wir hier nur das Resume hervorheben: Obwohl die infectiösen Knochen-
haut- und Knochenmarkentzündungen beim Menschen meistens ohne nach-
weisbare traumatische Ursache auftreten, können durch örtliche traumatische
Schädigungen oder Erschütterungen von Extremitäten durch Fall auf die-
selben aus beträchtlicher Höhe, ferner auf eine bestimmte Stelle des Knochens
wirkende Muskelzerrungen, sog. Ueberanstrengungen, endlich auch in sehr
seltenen Fällen starke örtliche Abkühlungen die Localisation der Mikroben,
den Ausbruch der Erkrankung an der geschädigten Stelle begünstigen, und
sind für diese Fälle die Knochenhaut- und Knochenmark entzün-
dungen als Unfall folgen anzusehen, wenn die ersten örtlichen und all-
gemeinen Erscheinungen spätestens 14 Tage nach dem Unfall aufgetreten
sind, Arbeitseinstellung zur Folge gehabt und von dem Arzt [beobachtet und
bekundet sind. Beizufügen ist noch, dass das R. V. A. in jenen Fällen, wo
anderweitige ätiologische Factoren nicht vorhanden sind und das Causalitäts-
verhältnis auch bei längerem Zwischenraum durch locale Schmerzen erwiesen
werden kann, ein zeitliches Intervall zwischen Unfall- und Er-
krankung bis zu zehn Wochen gelten lässt.
Entsprechend der exponirten Lage des Schienbeinschaftes gegenüber
traumatischen Einflüssen, tritt auch die Osteomyelitis mit Vorliebe am Schien-
bein auf.
Der Infectionsmodus selbst lässt sich in einer Anzahl von Fällen
nur vermuthen. Nach Stern u. A. kommen als Eintrittspforten die Haut
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 847
(Eczeme, Furunkel), die Schleimhaut des Rachens (angina) und des Darms
(Enteritis) in Betracht. Gewöhnlich ist die Attection, welche zur Aufnahme
der Infectionserreger geführt haben kann, kurz vor dem Trauma aufgetreten;
dabei können die erwähnten primären Entzündungsherde, von denen auch auf
dem Weg der Blutbahn metastatisch Entzündung am Knochenmark und Periost
erregt wird, manchmal so gering sein, dass sie der Beobachtung entgehen,
oder in einer zweiten Reihe von Fällen liegt zwischen primärer und secun-
därer Erkrankung ein so langer Zeitraum, dass inzwischen schon die Abhei-
lung des ersten Processes erfolgt ist.
Eine weitere Infectionsmöglichkeit ist, wie Kocher in seinen Vorlesungen
über chirurgische Infectionskrankheiten hervorhebt und durch eigene Beobach-
tungen stützt, darin gegeben, dass nach bereits einige Wochen vorher er-
folgtem Trauma die Osteomyelitis an der lädirten Stelle erst nach dem Auf-
treten eines Furunkels an einer anderen Körperstelle zum Ausbruch kommt.
Neben der oft lange bestehenden Latenz des Krankheitsherdes verdienen
bei der Begutachtung besonders die in allen Formen der Erkrankung, einerlei
ob sie als Knochenhaut- und Knochenmarkentzündung mit serösem Erguss
einhergeht oder in der häufigsten Form, der eitrigen, auftritt, oder als
foudroyant verlaufende septische hämorrhagische Form, die ja nur klinisch ver-
schiedenartige Bilder mit graduellen Unterschieden darstellen — an der pri-
mären Stelle wiederkehrenden Recidive Berücksichtigung, dieselben können
nach völliger Ausheilung, nach jahrelangem Wohlbefinden selbst 12—35 Jahre
nach der ersten Erkrankung noch auftreten, wie einige Autoren annehmen.
Schnitzler (Crtbl, f. Bacteriologie 1894) spricht sich für ein ausserordentlich hart-
näckiges Persistiren der Virulenz der pyogenen Mikroorganismen in den alten Krankheits-
' herden aus, während Kraske u. A. der Ansicht sind, dass bei so langer Dauer es sich wohl
um neue Invasion der die Krankheit verursachenden Eiterungserreger handeln müsse.
. Schulten (Ctrlbl. f. Chirurgie 1895) hat in mehreren Fällen auch für die Recidive der Krank-
heit traumatische Einflüsse als concarrirende ätiologische Momente nachgewiesen.
Trauma und Syphilis. Analog der Localisation der tuberkulösen und
osteomyelitischen Krankheitserreger an traumatisch beeinflussten Körperstellen
bildet sich auch das Product der syphilitischen Infection, das Gumma, mit
Vorliebe da am Körper, wo ein Trauma eingewirkt. Auch Lang (Vorlesungen
über Pathologie und Therapie der Syphilis) macht darauf aufmerksam, dass
im Verlauf der Syphilis oberflächlich liegende Knochen (Stirn-, Schlüsselbein,
Schienbeinkamm) weit häufiger erkranken als andere. Hinsichtlich der Be-
gutachtung von Ostitiden und Periostitiden Unfallverletzter betont
Maeechaux (A. S. V. Z. 1896, 2) die Nothwendigkeit genauer Nachforschungen
nach etwa überstandener Lues. Der langwierige, zuweilen über Jahre sich
hinziehende Verlauf der genannten Erkrankungen ist geeignet, den Verdacht
auf Syphilis hervorzurufen, da es im Ganzen selten ist, dass bei einem sonst
gesunden Menschen ein Trauma zu einer primären chronischen Ostitis
führt, vielmehr kommt es nach Verletzungen häufiger zu den acut verlaufen-
den Processen, wie Osteomyelitis, acute Periostitis u. s. w.
Kocher hat auf der LANCENBECK'schen Klinik 2 Fälle von Hodensyphilis im Anschluss
an einen Stoss auf den Hoden beobachtet; ebenso liegen Beobachtungen von typischer
interstitieller Hornhautentzündung bei hereditär Syphilitischen nach vorausgegangenen
Augenverletzungen vor (Bronner).
VIIL
Constitutionsauomalieii und Trauma.
Traumatischer Diabetes. Die ätiologische Bedeutung des Trauma für
den Diabetes mellitus — nach Traumen vorübergehend auftretende Glycosu-
rien bedürfen bei ihrer praktischen Bedeutungslosigkeit keiner weiteren Be-
sprechung — ist in Ergänzung der bekannten von Claude Bernard aus-
geführten Piquüre bereits in grösserem Umfang von vielen Autoren anerkannt
worden. Den Studien Griesinger's über Diabetes (1859), in welchen unter
848 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
225 Beobachtungen in 5-7 7o die Entstehung der Krankheit auf Trauma
zurückgeführt wird, sind später eine Reihe von Mittheilungen über trauma-
tischen Diabetes gefolgt; doch ist die Zahl der beweisenden Fälle nicht so
häufig als man nach der Fülle der Literatur anzunehmen geneigt sein könnte,
da bei vielen ein früheres Bestehen des Diabetes nicht ausgeschlossen ist.
Von den Arbeiten aus den letzten Jahren sind besonders die von Brouardel-Richar-
DiERE, Ebstein (D. A. f. kl. M. 54 B.), Asher (Vj. g. M. 1894) und Brähmer (A. S. V. Z.
1895, 14) hervorzuheben.
An erster Stelle sind die Kopfverletzungen zu nennen, ferner sind Er-
schütterungen des ganzen Körpers, des Centralnervensystems, der Leber
(Teousseau, Feerichs), Magen- wohl auch Nierengegend durch Schlag, Stoss,
Fall geeignet, Zuckerausscheidung herbeizuführen, entweder fast unmittelbar
oder doch wenigstens in relativ kurzer Zeit (Wochen, resp. Monate) nach
Einwirkung des Trauma. Auch Diabetes insipidus (Polyurie-Dipsie) schliesst
sich mitunter Commotionen des Hirns an, nicht blos an directe, sondern auch
an indirecte Schädeltraumen (Fall auf andere Theile mit Contracroup), theils
sofort nach dem Trauma in unmittelbarem Anschluss an das Aufhören der
darnach aufgetretenen Bewusstlosigkeit, theils nach vorangegangener Melliturie,
nach deren Verschwinden die Polyurie eintritt. Wie hier vorausbemerkt,
kommen im Gegensatz zu traumatischem Diabetes nach Kahler bei Diabetes
insipidus Spätformen nicht vor,
Brähmer tritt mit Nothnagel für die Bezeichnung Diabetes nach Trauma (statt trau-
matischer Diabetes) ein, auf Grund seiner Erfahrung, dass sehr häufig nicht das Trauma,
sondern die mit der Entstehung des Trauma verbundene psychische Erregung die eigentliche
Ursache der Krankheit bildet.
Bei der grossen Bedeutung der Prädisposition für die Pathogenese
der Zuckerkrankheit ist hinsichtlich der Annahme eines inneren Zusammen-
hanges mit einer Verletzung grosse Vorsicht geboten, und wir stimmen Blasius
bei, wenn er die Entstehungsmöglichkeit aus dem Lebenswandel, der Körper-
beschaffenheit etc. im gegebenem Fall als ätiologisches Moment höher be-
wertet als eine verhältnismässig geringe periphere Verletzung, besonders
wenn sie eine Stelle betrifft, welche sehr entfernt von den hier in Betracht
kommenden Theilen des Centralnervensystems liegt, auch wenn nach der
Ansicht Brouardels jede Verletzung die Krankheit auslösen kann.
Auch Ebstein rechnet angesichts der Thatsache, dass doch nur ein relativ kleiner
Bruchtheil von Verunfallten diabetisch wird, mindestens mit der Möglichkeit, dass solche
Kranke eine rein individuelle Disposition für den Diabetes haben, dass sie, um seine eigenen
Worte zu gebrauchen, durch eine besondere Anlage ihrer Gewebe mehr zur Erkrankung
an Diabetes neigen als die Personen, welche bei gleichen und schwereren Einwirkungen
frei von dieser Krankheit bleiben.
Nach seiner Ansicht ist es unmöglich, in einem concreten Fall einen bestimmten
Factor als die Ursache des Diabetes anzusprechen; „die Entscheidung des inneren Zusam-
menhanges muss durch das Abwägen von Wahrscheinlichkeiten begründet werden."
Bezüglich des klinischen Verlaufes des traumatischen Diabetes —
sei es in Form von Diabetes insipidus, decipiens mit oder ohne intermitti-
rendem Typus — ist zu bemerken, dass nicht selten die diabetischen Sym-
ptome scharf und brüsk markirt gleich nach dem Unfall hervortreten
können, während andererseits bis zur Entdeckung der Erkrankung oft Monate
und Jahre vergehen können. Gegenüber der von Brouardel und Richardieee
vertretenen Ansicht, dass die acut eintretenden traumatischen Diabeteserkran-
kungen (Diabete precoce, aigu) im Gegensatz zu den von Beginn an chronisch
verlaufenden (Diabete retarde) immer mit Genesung endigen, macht Ebstein
geltend, dass dies wohl für die Mehrzahl der Fälle zutreffen mag, während
er entschieden daran festhält, dass auch unter den acut einsetzenden Fälle
mit letalem Ausgang vorkommen (Beobachtungen von Lindsay, Pottien,
Feerichs). Für die forensische Beurtheilung wird man bei verspätetem Auf-
treten nach Trauma unseres Ermessens dann am ehesten an einen causalen
Zusammenhang denken dürfen, wenn nach dem Trauma eine vollständige Ge-
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 849
sundung und frühere Arbeits- und Leistungsfähigkeit nicht eintritt und wenn
die Störungen derselben durch eine Schwächung der allgemeinen Constitution
oder schwere Störungen des Nervensystems — einerlei ob locale oder allge-
meine — bedingt sind.
Nach Ebstein ist auch zu berücksichtigen, dass das Trauma indirect der Ent-
wicklung des Diabetes mellitus Vorschub leisten kann, insofern es die Widerstands-
fähigkeit des Individuums nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger Beziehung
schädigt.
AsHER zweifelt an der traumatischen Genese bei einem Symptomenfreien Intervall
von 3 bis 5 Jahren. Kaufmann will, dass der Gutachter in allen Fällen, wo keine früh-
zeitige und öftere Harnuntersuchung nach dem Unfall vorgenommen wurde, und speciell
bei vorhandener Disposition zu Diabetes über die Annahme einer blossen Möglichkeit
des Zusammenhanges nicht hinausgehe, sobald Zucker erst nach 1 bis 3 Jahren nach dem
Unfall constatirt würde. Im Uebrigen wird in erster Linie zu berücksichtigen sein, ob der
Kranke bis zum Unfall durchaus arbeitsfähig war, da allgemein anerkannt wird, dass ein
bereits bestehender Diabetes durch die Einwirkung eines entsprechenden Unfalles in acuter
Weise verschärft und sein Verlauf durch den Unfall ungünstig beeinflusst wird.
Ebstein hat auf die nicht seltene Verbindung des Diabetes mellitus
mit dem Symptomenbild der Unfallneurosen aufmerksam gemacht. Für
die diagnostische Würdigung der oft recht vagen, nervösen Beschwerden
solcher Kranker ist der die Diagnose keineswegs erleichternde Umstand von
Bedeutung, dass der Diabetes dann sowohl als decipiens, wie als decipiens
intermittens auftritt. Im Uebrigen hat der genannte Autor die Ansicht, dass
die Glykosurie nicht eine Theilerscheinung der Neurosen zu sein braucht,
sondern sie kann als weitere Folge des Unfalles, unabhängig von den
Neurosen, auftreten.
Traumatische Leukämie. Hierher gehörige Fälle sind von Ebstein
(D. m. W. 1894, 29), Hermann (Jahresbericht 1896 aus dem Breslauer Institut
für Verunfallte) mitgetheilt worden, nachdem schon früher Virchow und
MosLER betont, dass traumatische Schädigungen der Milz resp. Milzgegend,
allgemeine Körpererschütterungen, Läsionen des Knochengerüstes eine leu-
kämische Blutveränderung, bei welcher Milz, Knochenmark, Lymphdrüsen
allein oder zusammen im Zustand hochgradiger Schwellung angetroffen werden,
herbeiführen können. Wenn auch solche Beobachtungen zunächst noch nicht
zu erklären sind, bei dem jetzigen Stand unserer Kenntnisse über die wahre
determinirende Ursache der Leukämie — auf die verschiedenen Erklärungs-
hypothesen von MosLER, Tarschanoff kann nicht eingegangen werden —
wird man gegebenen Falles doch mit der Möglichkeit einer traumatischen
Genese der Leukämie rechnen müssen und auch das Trauma zu den die
Leukämie begünstigenden Momenten zählen, deren es offenbar ausserdem noch
andere gibt.
Die Krankheit kann sich in verschieden grossen Zeiträumen nach dem
Unfall, in welchen oft der Symptomencomplex der Unfallneurosen vorherrscht,
entwickeln, bis sich nach Monaten die Symptome zu einem charakteristischen
Krankheitsbild gestalten, wobei zu berücksichtigen ist, dass die eventuelle
Kürze der Entwicklungsdauer der sonst im Allgemeinen chronisch verlaufenden
Krankheit durchaus nicht gegen eine causale und bedingende Beziehung
zwischen Unfall und Leiden spricht, da auch Fälle von ganz acuter Leukämie
mit den Erscheinungen schwerer hämorrhagischer Diathese, graven Störungen
des Centralnervensystems etc. sich kurze Zeit, oft wenige Wochen nach einem
Trauma entwickeln können (Ebstein, Lüdek).
Greiwer (Berliner kl. Wchschr. 1892) berichtet über Verschlimmerung einer latent be-
stehenden Leukämie durch Unfall. Ueber perniciöse Anämie und Unfall liegt bis jetzt
nur eine Beobachtung vor (Kaufmann, Unfallverletzungen pag. 116).
Den Einfluss von Trauma auf das Auftreten von Gicht sucht Cornillon-Vichy an
drei Beobachtungen nachzuweisen, indem durch das Trauma die Erkrankung manifest
werden soll.
Bibl. med. Wissenscliaften, Hygiene u. Ger. Med. 54
850 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
IX.
Traumatische Geschwülste.
In der Aetiologie der gut- und bösartigen Geschwülste spielt das Trauma
schon seit langer Zeit eine grosse Rolle, wenn auch gewiss nicht mit gleich
grosser Berechtigung. Dass wiederholt und längere Zeit einwirkende Schädi-
gungen bei vorhandener individueller Disposition zu Eeizzuständen in den
Geweben mit darauf folgender Geschwulstbildung Veranlassung geben können,
ist gewiss zuzugeben, und Viechov^ hat bekanntlich selbst in seinem Werk
„Die krankhaften Geschwülste" gerade hinsichtlich einer Form von bösartigen
Neubildungen, dem Krebs, schon betont, dass sich derselbe aus chronischen
Entzündungen, Geschwüren und Narben entwickeln kann, was später auch
mikroskopisch durch den Befund von Hausee's atypischen Epithelwucherungen,
in der Narbe von Magengeschwüren z. B., Bestätigung fand.
Im Folgenden soll aber ausschliesslich die Frage behandelt werden, ob
und inwieweit eine einmalige Gewalteinwirkung, wie sie der vom R. V. A.
gegebenen Definition des Unfalls entspricht, als ätiologisches Moment in Be-
tracht kommen kann. Und hier ist zunächst zu erwähnen, dass diese Frage
nicht an der Hand einer statistischen Zusammenstellung zur Entscheidung
gebracht werden kann, welche hunderte von Fällen aus der Literatur enthält,
bei denen eine Verletzung als veranlassendes Moment angeschuldigt wird,
ebensowenig wie dadurch, dass man die Möglichkeiten erwägt, wie man die
Wirkung des Trauma mit einer der vielen Theorien über Geschwülste —
mögen sie nun von der Vorstellung einer Infection oder von der einer em-
bryonalen Anomalie und dgl. ausgehen, in Einklang bringen kann. Beruht
doch in den meisten dieser tabellarisch zusammengestellten Fälle die An-
nahme ihrer traumatischen Entstehung lediglich auf der Aussage des be-
treffenden Patienten, dass er vor kürzerer oder längerer Zeit eine Verletzung
derjenigen Körpergegend erlitten hat, an der sich später die Geschwulst ent-
wickelte. Stern (Ergebnisse der allgem. Pathologie und pathol. Anatomie der
Menschen und Thiere, 1896) verlangt mit Recht für die Annahme des ur-
sächlichen Zusammenhanges zwischen Trauma und Tumor nicht nur, dass
das Trauma und seine näheren Umstände einwandfrei sichergestellt seien,
sondern dass der Verletzte auch bald nach dem Trauma in sorgfältige ärztliche
Beobachtung kommt, damit einerseits constatirt werden kann, dass zur Zeit
der Verletzung Symptome der Krankheit noch nicht vorhanden waren, anderer-
seits die Entwicklung der letzteren nach der Verletzung genau verfolgt
werden kann.
Das bis jetzt in der Literatur niedergelegte, verwertbare Material ist
geeignet, ein Causalitätsverhältnis zwischen einmaliger Gewalteinwirkung und
Geschwulstbildung nur für die relativ kleine Zahl bestimmter Gefäss- und
Nervengeschwülste, Chondrome (Virchow, Nelaton) und für Sarkome annehmen
zu lassen.
Für die directe Entstehung von Carcinomen aus einem einmaligen
Trauma (z. B. Stoss, Schlag etc.) liegt noch kein einzig s i che r gestellter Fall vor,
und wir stimmen Blasius bei, der sagt, man stehe bislang nur vor Hypo-
thesen, von welchen jede gleichen Wert hat. Gerade die in der letzten Zeit
für die traumatische Genese des Krebses von mehreren Seiten ins Feld ge-
führte Häufigkeit von Krebs, und speciell Brustkrebs bei Weibern infolge
eines einmaligen Stosses oder einer einmaligen Quetschung der Brustgegend
(Löv^ENTHAL, Arch. f. klin. Chir. 49, führt in seiner 800 Fälle umfassenden
Statistik 137 Mammacarcinoma nach vorausgegangenen einmaligem Trauma der
Brust auf!) enthalten in der Unbestimmtheit und Lückenhaftigkeit der ver-
meintlich beweiskräftigen Krankengeschichten Anhaltspunkte im entgegen-
gesetzten Sinne.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 851
Die Möglichkeit eines Causalnexus zwischen Trauma und Carcinom-
bildung kann nach der jetzigen Sachlage indessen ebensowenig in Abrede
gestellt werden.
Nach Boas (Sitzungsprotokoll des Ver. f. innere Medicin, Berlin 1896) kann speciell bei
Intestinalkrebsen ein Trauma ätiologisch in Betracht kommen, wenn es auf einen latent be-
reits anderweitig erkrankten Darmtheil trifft, wodurch ein weiterer Reiz zur Wucherung der
Zellen gesetzt wird. Das zeitliche Minimum für die Entwicklung beträgt ein halbes Jahr, das
Maximum vier bis fünf Jahre in Berücksichtigung des Umstandes, dass sich gerade bei den
Darmcarcinomen die Latenz auf mehrere Jahre erstrecken kann. Den von Pollkow ge-
forderten Nachweis anatomischer Veränderungen, welche auf eine stattgehabte Contusion
hinweisen, hält Boas nicht im gleichen Grad wichtig, da ja zwischen Trauma und Exitus
Jahre liegen können, während welcher die Folgen der Contusion verschwunden sind. Wenn
Boas des Weiteren unter den vorerwähnten Bedingungen schon eine blosse Erschütterung
des Organs als hinreichend zur Carcinombildung hält, wird diese Annahme auf vielen Seiten
Widerspruch finden.
Gockel (Archiv f. Verdauungskrankheiten, 1897) der nebenbei bemerkt in der Frage
nach der traumatischen Entstehung der Carcinome mit seiner Ansicht, dass das Trauma
so häufig Carcinom verursacht, dass es in differentialdiagnostisch schwierigen Fällen sogar
zu Gunsten des Carcinoms spricht, zweifellos recht weit über das Ziel hinaus geht, theilt
einige Fälle von Intestinalcarcinomen mit, in welchen wohl von der Möglichkeit eines
Causalzusammenhanges die Rede sein kann. In einem von Litthauer (Vj. g. Med., III.
Folge IX) und später im gleichen Sinn von Prof. Schönborn (A. N. 1897, 6), welcher Trauma
als Grundursache für die Entwicklung des Krebses ebenfalls nicht anerkennt, ober-
gutachtlich erläuterten Fall hat sich das R. V. A. der Ansicht der genannten Autoren an-
geschlossen, dass nicht der Unfall an sich, oder der primär durch den Unfall veranlasste
Kräfteverlust Vorbedingung für die organische Entwicklung des Krebses ist, sondern dass
die durch den Unfall bewirkte, in ein chronisches Stadium übergetretene Entzündung der
Magenschleimhaut mit oder ohne Zerreissung derselben infolge von Contusion den Boden
für die Krebsentwicklung wahrscheinlicher Weise geschaffen hat.
Berger (Vj. g. Med. 1897) erkennt das Trauma, das weniger ein einmaliges heftiges,
als ein wiederholtes, Contusionen mit Blutergüssen, überhaupt Veränderungen der Er-
nährungsverhältnisse der betreffenden Gewebe bedingendes gewesen sein muss, als prädis-
ponirendes Moment zur Entwicklung des Carcinoms an, sei es, dass dasselbe die Anlage
zur Entwicklung bringt oder den Ort bestimmt. Mit Recht macht er die Annahme eines
Causalzusammenhanges von dem Nachweis einer ununterbrochenen Kette von Krankheits-
erscheinungen im betreffenden Organ, entweder gleich anschliessend an das Trauma oder
doch nur kurze Zeit nach demselben, abhängig. Hinzufügen wollen wir noch, dass die
Wahrscheinlichkeit eines inneren Zusammenhanges zunimmt, wenn das erkrankte Indivi-
duum in einem erfahrungsgemäss von Carcinom nur selten heimgesuchten Lebens-
alter steht.
Eine allgemeinere Anerkennung hat das Trauma, wobei natürlich stets ein
gewisser Erheblichkeitsgrad und sich schon kurze Zeit später geltend machende
Unfallfolgen zu postuliren sind, in der Aetiologie des Sarkoms gefunden
(Lungensarkom nach Brustquetschung, retroperitoneales Sarkom nach heftiger
Bauchquetschung u. ä). Besondere Schwierigkeiten liegen bei den sich
lange Zeit symptomlos entwickelnden Osteosarkomen der langen Röhrenknochen
vor, was v. Bergmann auch veranlasst, einen von Geaser (D. m. Wchschr. 1894)
auf traumatische Entstehung zurückgeführten Fall als nicht beweiskräftig an-
zusehen.
Folgenden klarliegenden, von Anfang an ärztlich beobachteten Fall von
traumatischem Melanosarkom hat Sick (A. S. V. Z. 1897, 15) mitgetheilt:
Einem 51jährigen Steward fiel einige Tage nach einer Verbrennung zweiten Grades
des linken Fusses eine Bank auf die granulirende Wunde. Drei Tage später an der gequetschten
Stelle ein erbsengrosses Knötchen, das rasch wuchs, trotz ausgiebiger operativer Entfernung
zu localen und allgemeinen Recidiven und kaum zehn Monate nach Einwirkung des
Trauma zum Tod führte.
Von den übrigen Geschwulstformen erscheint besonders für die Gliome
das Trauma von Bedeutung (Virchow, Gerhardt, Oppenheim). Gerhardt
sieht in Kopfverletzungen viel häufiger, als man gewöhnlich annimmt, die
wahre Ursache des Glioms, unter elf eigenen Fällen fand er viermal trauma-
tische Veranlassung. Oppenheim erklärt sich die Entstehung der Geschwulst
auf dem Boden einer durch Verletzung bedingten Blutfülle oder Blutung aus
den Hirncapillaren; Kleinhirngeschwülste werden nach dem genannten Autor
54*
852 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
deshalb so häufig bei Kindern beobachtet, weil dieselben durch Fall auf den
Hinterkopf entsprechenden traumatischen Schädigungen ausgesetzt sind.
Dass schon vorbestandene maligne Tumoren unter Umständen durch
das Trauma eine Verschlimmerung erfahren können, wird gegebenen
Falles zu berücksichtigen sein. Altmann (A. S. V. Z. 1896, 14) berichtet
von Beschleunigung der Krebscachexie durch einen Unfall, Carrara (Vj. ger.
Med. 1896) über ein vorher kaum deutliche Symptome verursachendes Neuro-
gliom, das nach Kopfverletzung mit stürmischem Verlauf in drei Monaten
tödtlich endete. Bei vorbestandener Arbeitsfähigkeit wird nach den heutigen
Gepflogenheiten in der Auslegung des Unfallgesetzes auch für diese Fälle Rente
zuerkannt werden müssen.
Die Epithelcysten, beschrieben von Garre (Beitr. f. kl. Chir. XI),
Bruns, Martin u. A., finden sich ausnahmslos bei Leuten, welche trauma-
tischen Insulten ausgesetzt sind. Ein Stückchen Epithel mit den zuführenden
ernährenden Gefässen wird durch Verletzungen, häufig so geringfügiger Natur,
dass sie nicht weiter beobachtet werden, in die Tiefe gerissen und entwickelt sich
dort zu einer Cyste, welche, wie die WöRz'sche Beobachtung auf der BRUNs'schen
Klinik zeigt, bis zu über Kirschgrösse wachsen kann. Neben Epithel in ver-
schiedenen Zerfallsformen enthalten sie seröse Flüssigkeit. Die eventuelle
Differentialdiagnose — Hygrom, Atherom, Dermoid — ergibt sich nicht unschwer^
Ueber traumatische Lyinphcysten nach Gewalteinwirkungen mit
mehr weniger bedeutenden Weichtheilquetschungen berichten Heusner und
Ledderhose (V. A. 137). Die Entstehung führen sie zurück auf Stauung
infolge von ausgedehnter Zerrung der Lymph- und Blutbahnen, auf
mechanische und chemische Reize, welche von durch die Gewalteinwirkung
abgetödteten Gewebstheilchen und Zersetzungsproducten der in das Gewebe
ausgetretenen und daselbst stagnirenden Körperflüssigkeiten ausgehen.
Im Uebrigen siehe Cysten des Gehirns, Magens, Pancreas.
X.
Traumatische Erkrankungen der Brustorgane.
Traumatische Lungenaffectionen. Da die unmittelbaren Folgen des
Trauma hier nicht weiter berücksichtigt zu werden brauchen, wenden wir uns
direct zu jenen Erkrankungen der Lungen, welche sich in den durch das
Trauma geschädigten Lungenpartien entwickeln. Nach unserer heutigen Auf-
fassung handelt es sich um infectiöse Folgekrankheiten im Anschlüsse an ein
Trauma. Stern (Traumatische Entstehung innerer Erkrankungen, Herz und
Lunge, I.Heft) spricht von inneren Wundinfectionskrankheiten. Je
nach der Qualität der Infectionserreger und der Empfänglichkeit des ver-
letzten Organes wird in einem Fall eine Lungenentzündung oder -Gangrän,
-Abscess oder Lungentuberkulose entstehen können.
1. Traumatische Pneumonien. Schon Andral und Grisolle haben auf
die Wahrscheinlichkeit eines ursächlichen Zusammenhanges zwischen Trauma
und Pneumonie hingewiesen. Wir können ihre Ansicht jetzt noch dahin er-
weitern, dass das Trauma auch hier um so mehr wirkt und um so sicherer
einen zur Entstehung einer Pneumonie sich steigernden schädigenden Ein-
fluss auf den menschlichen Körper hat, wenn dieser selbst sich zur Zeit der
Gewalteinwirkung unter abnormen Verhältnissen befindet. Nach Aufrecht
verdient bei der Pneumonie mehr wie bei einer anderen Infectionskrankheit
die individuelle Disposition, deren Dauer nur eine vorübergehend kurze zu
sein braucht, in den Vordergrund gestellt zu werden, und dies gilt natürlich
noch mehr beim Hinzutritt anderer wirksamer Momente, wie z. B. das
Trauma. Disponirend wirken übertriebene und ungewohnte körperliche An-
strengungen, welche hochgradige Ermüdung des gesammten Muskelsystems
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 853
und im Zusammenhang hiemit eine erhöhte Function der Schweissdrüsen zur
Folge haben. Für einen derartigen Zusammenhang sprechen z. B. die Beob-
achtungen von Riebe an der Magdeburger Garnison hinsichtlich der so über-
wiegend häufigen Erkrankungen von Rekruten an Pneumonie im Gegensatz
zu den Mannschaften im 2. resp. 3. Dienstjahr, Unterschiede, die nur in den
bei Beginn der Dienstzeit hochgespannten Anforderungen in betreff mancher
bisher ungewohnter Leistungen ihre Erklärung finden.
Im Uebrigen äussert sich ein weiteres Moment der Prädisposition
für die im Anschluss an eine Brustcontusion sich entwickelnde Lungenent-
zündung auch dadurch, dass mit Vorliebe solche Stellen afficirt werden, wo
bereits ältere Veränderungen (Adhäsionen, Bronchiectasien etc.) ihren Sitz
haben, auch wenn diese Stellen räumlich ganz unabhängig sind von
dem Ort der Gewalteinwirkung. Wie sehr speciell die durch frühere Erkran-
kungen der Lungen verursachte Einbusse, resp. Verminderung der Elasticität
des Lungengewebes in Betracht kommen kann, haben wir bei der Obduction
eines von uns begutachteten Falles (A. S. V. Z. 1896, 6) zu beobachten
Gelegenheit gehabt, wo sich die traumatisch entstandenen acuten pneumoni-
schen Herde vorzugsweise in der nächsten Nähe von alten und bereits längst
abgelaufenen Lungeninfarcten entwickelt hatten.
Was speciell den Infectionsmodus selbst betrifft, so macht Stern
zunächst darauf aufmerksam, dass allerdings die feineren Bronchien und die
Lungenalveolen beim Menschen wahrscheinlich ebenso wenig Mikroorganismen
enthalten wie beim Thier. Aber auf der anderen Seite ist nicht ausseracht
zu lassen, dass wohl kaum sehr viele Menschen eine normale Bronchial-
schleimhaiit haben. Nach Analogie mit anderen infectiösen Schleimhaut-
erkrankungen sind wir ferner zur Annahme berechtigt, dass auch noch längere
Zeit nach einer infectiösen Bronchitis, Krankheitserreger, z. B. Pneumococcen,
zurückbleiben können, ebenso wie das Trauma selbst das Eindringen von
Mikroorganismen in die feineren Luftwege begünstigen kann, indem es zur
Inhalation von kleinsten bacterienhaltigen Flüssigkeits- oder Staubpartikelchen
aus der Mundhöhle resp. Nasenrachenraum führt. Bacteriologische Unter-
suchungen haben aber das Vorkommen von pathogenen Mikroorganismen und
speciell von Pneumococcen im Speichel und den Schleimhäuten der Mund-,
Nasen-, Rachenhöhle bei vielen gesunden Menschen schon vor längerer Zeit
zur Genüge constatirt.
Aus der bis jetzt schon ziemlich reichhaltigen Casuistik über trauma-
tische Pneumonie ergibt sich betreff des klinischen Verlaufes, dass
verschiedene Arten von Lungenentzündungen als Folge von Brustcontusion
auftreten können. Stern theilt dieselben der Uebersicht halber ein:
a) Fälle von typischer croupöser Pneumonie. Ihr Vorkommen ist trotz
des Widerspruches von Demuth (M. m. Wochsch. 1888), der für eine stricte
Unterscheidung zwischen infectiösen und Confusionspneumonien eingetreten,
auch durch klinische Beobachtungen zweifellos festgestellt, abgesehen davon,
dass bekanntlich Weichselbaum in zwei eclatanten Fällen von sogenannten
Contusionspneumonien auch den bacteriologischen Nachweis von Pneumo-
coccen erbracht hat.
l) Fälle mit ausgedehnter Infiltration und atypischem Verlauf (insbeson-
ders Unregelmässigkeit der Curve des oft nur unbedeutenden und kurz dau-
ernden Fiebers, Fehlen des charakteristischen pneumonischen Sputums, wenig
ausgesprochene Allgemeinerkrankungen), Umstände, die sich doch mit Leich-
tigkeit aus einer verminderten Virulenz der Krankheitserreger erklären lassen.
Inwieweit man die physikalischen Erscheinungen der Infiltration auf
entzündliche oder hämorrhagische Vorgänge beziehungsweise auf beide zu-
sammen zurückführen kann, ist in vivo oft schwer zu entscheiden. Im Allge-
meinen ist ja wohl die Entwicklung der Infiltration geeignet, hierüber Auf-
854 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
schluss ZU geben, indem entzündliche Infiltrationen stets Neigung zur Pro-
gredienz zeigen, und des weiteren ein rein blutiges Sputum mehr für hämor-
rhagische Infiltration spricht.
c) Fälle mit circumscripten (wahrscheinlich bronchopneumonischen) In-
filtrationsherden, also jene Fälle, von welchen Liebermeister in seinen Vor-
lesungen über specielle Pathologie und Therapie sagt, dass sie, wie Fremd-
körper-Schluckpneumonien, was anatomisches Verhalten und Gesammtkrank-
heitsbild betrifft, mehr den lobulären Pneumonien entsprechen.
Bei der forensischen Begutachtung handelt es sich, abgesehen
von den bei anderen Krankheiten schon wiederholt erwähnten Gesichtspunkten
(entsprechende Erheblichkeit der Gewalteinwirkung etc. etc.)
1 . um den Nachweis des zeitlichenZusammenhanges. Gegenüber
BiRCH-HiRSCHFELD (M. f. M. 1896, 8), der mit Entschiedenheit betont, dass
die Pneumococcen vier bis höchstens zehn oder zwölf Stunden brauchen, um
sich zu entwickeln, zu vermehren und ihre Virulenz zu bethätigen, und dass
man nicht mehr von einem directen Zusammenhang zwischen Trauma und
Pneumonie sprechen kann, wenn der Schüttelfrost, also der Beginn der Pneu-
monie, nicht schon im Verlauf des ersten Tages eingetreten ist, erkennt Stern"
eine so enge zeitliche Grenze nicht an, da, wie er meines Erachtens richtig be-
merkt, nicht einzusehen ist, warum nicht je nach der Widerstandsfähigkeit des
befallenen Körpers, nach der Virulenz der Infectionserreger und dem Betheili-
gungsgrad anderer maassgebender Momente die Incubationszeit länger sein
kann. In den oben sub 1. erwähnten Fällen gibt der letztgenannte Autor die
Zeit von wenigen Stunden bis zu vier Tagen an, eine Ansicht, der auch das
R. V. A. in einer Recursentscheidung beigetreten ist; für die sub 2 und 3.
charakterisirten Verlaufsvarietäten können bei ihrer so häufigen allmählichen
Entstehung entsprechende Angaben zur Zeit noch nicht gemacht werden.
2. Was die örtlichen Beziehungen zwischen Trauma und Pneu-
monie betrifft, so ist es ebensowenig wie bei der traumatischen Phthise noth-
wendig, dass der Sitz des pneumonischen Processes dem Ort der Gewalt-
einwirkung entspricht, indem die primär von dem Trauma nicht betroffene
Seite auf dem Weg des Contracroup (Beobachtungen von Kuby, Becker und
meine eigene) in Mitleidenschaft gezogen werden kann.
3. Für die diagnostische Verwertbarkeit der unmittelbar oder
spätestens innerhalb der ersten Tage nach stattgehabter Gewaltein wirkung-
auftretenden traumatischen Hämoptoe gilt das Gleiche, was bei der trau-
matischen Lungentuberkulose bereits besprochen (1. c).
4. Durchgreifende pathognostische Unterschiede im anatomischen
und klinischen Verhalten zwischen traumatischer und nicht traumatischer
Pneumonie existiren nicht. Der von Demuth als charakteristisch hingestellte
anatomische Befund stellt vielmehr lediglich eine hämorrhagische Infiltration
des Lungengewebes traumatischen Ursprunges dar.
Dass die acute, traumatisch entstandene Pneumonie (in gleicher Weisö
wie die nicht traumatische) in eine chronische Form, Tuberkulose, Gangrän
übergehen kann, steht nach Beobachtungen aus der Unfallpraxis fest.
Indirecte Beziehungen zwischen Trauma und Pneumonie bestehen in
dem Auftreten einer hypostatischen Pneumonie im Verlauf des an irgend eine
Verletzung sich anschliessenden längeren Krankenlagers, einer metastatischen
Pneumonie bei pyämischer Allgemeininfection nach einem Trauma, einer
Aspirationspneumonie etc.
Falck und neuerdings Flatten heben neuroparalytische Einflüsse hervor, indem gerade
bei Schädel- resp. Hirnverletzungen eine hochgradige Gefässdilatation in einena mehr oder
minder grossen Lungenabschnitt hervorgerufen wird, welcher den von ihr befallenen
Lnngentheil jeder anderen weiteren Erkrankung geneigter, beziehungsweise jeder Schädlich-
keit gegenüber weniger widerstandsfähig macht. Platten stützt seine Ansicht durch einen
von ihm beobachteten Fall eines durch die linke Kopfhälfte geschossenen, innerhalb des
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 855
ersten Tages bereits verstorbenen Mannes, bei dem also überhaupt von Contusion der
Lunge nicht die Rede sein kann und bei welchem der rechte Unterlappen der nicht öde-
matösen Lunge im Zustand extremer Blutüberfüllung gefunden wurde. Mikroskopisch
zeigte sich pralle Capillarfüllung, die Alveolarräume zum überwiegenden Theil leer, ebenso
die übrigen Lungentheile normal bei intactem Gefässsystem. Der Befund entspricht dem
von Schiff experimentell durch Vagusdurchschneidung erzeugten.
2. Fälle von primärem Lungengangrän nach Brustcontusionen (infolge
Infection des gequetschten Lungenparenchyms durch Fäulnisserregerj sind
ebenfalls bereits beschrieben. In einer eigenen Beobachtung aus meiner
Assistentenzeit bei Professor v. Zenker entsprach eine mit circumscripter,
secundärer fibrinös-eitriger Pleuritis einhergehende, etwa handtellergrosse,
stark fötid riechende Gangränescenz im Mittellappen der sonst völlig intacten
rechten Lunge eines zwölf Tage nach schwerer Brustquetschung verstorbenen
jungen Arbeiters genau dem durch subcutane Blutung und Rippenbrüche ge-
kennzeichneten Ort der Gewalteinwirkung, während bei anderen Beobachtungen
der örtliche Zusammenhang nicht so klar zu Tage tritt. Der Gesam mt-
verlauf ist wie bei der gleichen Erkrankung ohne traumatische Aetiologie
sehr wechselvoll. In unserem vorerwähnten Fall wurde Lungengangrän be-
reits am fünften Tag diagnosticirt, in anderen Fällen werden die gangränösen
Sputa erst 2 bis 3 Wochen nach stattgehabter Einwirkung producirt. Stern
citirt zur Stütze seiner Behauptung, dass die Infection eines durch Quetschung
erzeugten Blutherdes in der Lunge oft noch Monate nach dem Trauma möglich
ist, eine Beobachtung von Woillez, wo die putride Infection des aus umfang-
reicher Lungenzerreissung resultirenden Blutherdes erst V2 J^l^i" ß^ch dem
Trauma stattfand.
3. Traumatische Lungentuberkulose s. Trauma und Infection.
4. Traumatische Pleuritis. Dieselbe tritt nach Brustquetschungen als
coordinirte, selbständige Erkrankung mit oder ohne gleichzeitige Entzündung
des Lungengewebes auf; einerseits kann sie secundär durch traumatische
Lungenerkrankungen bedingt sein, andererseits sind auch Fälle denkbar, in
welchen die Entzündung von der primär erkrankten Pleura auf das Lungen-
gewebe übergreift. Sie ist viel häufiger als die Contusionspneumonien, ja
nach Stern überhaupt bei weitem die häufigste unter den traumatischen
Erkrankungen der Brustorgane.
Wie bei der traumatischen Pericarditis, verursacht auch die Entzündung
der Pleura entweder nur einen fibrinösen Belag oder einen meist allmählich
sich entwickelnden serösen Erguss in den Brustfellsack. Ob dieser seröse
Erguss auch in dem Entwicklungsgang einer einfach entzündlichen (id est
nicht infectiösen) Pleuritis auftreten kann, oder ob er nicht vielmehr in-
folge einer vorbestehenden latenten Lungentuberkulose tuberkulöser Natur
ist, diese Frage muss zur Zeit offen bleiben. Praktisch wichtig ist die Erfah-
rungsthatsache, dass tuberkulöse Pleuritiden vollständig ausheilen können
(Netter- Chauffard), so dass sich die betreffenden Individuen später der
besten Gesundheit erfreuen. Zur Bildung von Empyem als Folge einer nicht
weiter complicirten Brustquetschung scheint es, nach den literarisch gesammelten
Fällen zu urtheilen, nur selten zu kommen.
Für die gutachtliche Beurtheilung ist die Berücksichtigung der
Möglichkeit des Uebergangs in die chronische Form *) mit ihren bekannten
Folgezuständen (Schwielen, abgesackte Exsudatreste, Thorax-Deformitäten mit
secundären Veränderungen der Brustorgane und ähnliche) von Bedeutung.
Einen Fall, wo eine Brustquetschung, ohne in der ersten Zeit nach der Gewalt-
einwirkung erhebliche Folgen zu hinterlassen, einen die Erwerbsfähigkeit aus-
*) Eine Bezeichnung, die natürlich nicht s. s. genommen werden kann, da ja be-
kanntlich auch langsam und unmerklich sich entwickelnde Exsudate oft einen schnellen
Verlauf nehmen und in kurzer Zeit zur Resorption kommen können.
856 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
^cUiessenden, ungünstigen Verlauf genommen, hat Stern (1. c. pag. 181)
aus der Breslauer Klinik mitgetheilt.
Die nach abgeheilter Pleuritis oft noch lange Zeit persistirenden Schmerzen
und ihr Zusammenhang mit pleuritischen Adhäsionen sind mutatis mutandis
in gleicher Weise zu beurtheilen, wie die pericardialen Verwachsungen und
ihre Folgezustände (1. c).
Für die Diagnose pleuritischer Verwachsungen und der hiemit in Ver-
bindung stehenden Behinderung der Lungenthätigkeit ist das LiTTEN'sche
Zwerchfellphänomen von Bedeutung, indem auf der erkrankten Seite die Aus-
schlagsweite des Zwerchfells je nach Sitz und Ausdehnung der Adhäsionen
erheblich herabgesetzt ist. Man sieht, wie Staby (A. S. V. Z. 1896, 18) mit-
theilt, das Phänomen nicht in Form einer geraden Linie um den Thorax
verlaufen, sondern dasselbe erscheint in unregelmässiger, zackiger, verzerrter
Form mit an einzelnen Stellen mehr oder minder deutlicher Einziehung.
5. Inwieweit für die Entstehung von Lungentumoren traumatische Ein-
flüsse als ätiologische Factoren in Betracht kommen siehe unter traumatische
Geschwülste.
Dass vor bestehende Lungenkrankheiten durch Trauma ungünstig be-
einflusst werden können, ergibt sich zunächst für die mit Gewebsinfiltrationen
einhergehenden Erkrankungen ohne weiteres u. a. schon aus der blossen
Erwägung, dass infolge der durch die Verdichtungsprocesse bedingten Ein-
busse resp. Verminderung der Gewebselasticität viel leichter Zerreissungen etc.
entstehen können als bei intactem Parenchym.
Ueber ungünstige Beeinflussung der Lungentuberkulose durch Trauma s. o.
Unfallsweise Verschlimmerung eines vorbestehenden Lungen-
emphysems, insbesondere bei coexistirenden secundären Herzstörungen, ist
wiederholt in Recursentscheidungen des R. V. A. anerkannt worden.
Traumatische Herzkrankheiten. Die grosse Mehrzahl der in der älteren
Literatur niedergelegten Fälle von traumatischen Herzaffectionen ist wegen
der Lückenhaftigkeit der Beobachtungen und unvollständigen Anamnese über
den Zustand des Herzens vor Einwirkung des Trauma nicht einwandfrei
genug. Erst in den jüngsten Jahren ist man der Frage nach der trauma-
tischen Genese der Herzkrankheiten und den für die forensische Beurtheilung
derartiger Fälle maassgebenden Gesichtspunkten näher getreten, und Stern
bleibt das Verdienst, in seiner mehrfach erwähnten Monographie uns eine
zusammenfassende klinische Darstellung der traumatischen Herzaffectionen
mit eingehender Berücksichtigung ihrer Beziehungen zur Unfallgesetzgebung
gegeben zu haben.
Von den verschiedenen traumatischen Schädigungen brauchen die pene-
trirende Herzwunden verursachenden nicht erwähnt zu werden. In das Bereich
unserer Betrachtungen fallen vielmehr blos jene Veränderungen des Herzens,
wie sie nach heftiger Compression, Contusion und Thoraxerschütterung in
Erscheinung treten, wobei, wie ja bekannt, das Herz oft in schwerster Weise
in Mitleidenschaft gezogen werden kann, ohne dass äusserlich irgend welche
Spuren stattgehabter Gewalteinwirkung vorhanden zu sein brauchen. Die
Gewalteinwirkung wird durch die gewaltsam zurückgedrängten Bippen nach
dem Herzen fortgeleitet. Bei entsprechender Vehemenz prallt das Herz
hinten gegen die Wirbelsäule an, oder es kommt zu einer Quetschung des-
selben zwischen Brustbein-, Rippen und Wirbelsäule; letztere wird um so
eher eintreten, wenn sich das Herz zur Zeit des Trauma in der Diastole
befindet.
Unter den Traumen im legislatorischen Sinne der Unfallgesetzgebung
sind auch plötzliche und intensive körperliche Ueberanstrengungen, welche
durch brüske Steigerung des intrathoracalen Druckes wirken, hervorzuheben.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 857
Bei folgender Besprechung berücksichtigen Avir zunächst die Einwirkung
des Trauma auf ein vorher gesundes Herz.
1. Acute Endocarditis. Ihre traumatische Genese ist möglich:
a) Durch Gewalteinwirkungen werden Läsionen, Zerreissungen und
Quetschungen des Endocards, (sub)-endocardiale Blutungen auch ohne sonstige
schwere Verletzungen des Herzens, wie Klappen-, Sehnenfäden-, Papillarmuskel-
rupturen, geschaffen, aus welchen eine einfache „reactive" Endocarditis her-
vorgeht.
h) Die Contusionseffecte am Endocard bilden für die in der Blutbahn
(schon vor dem Trauma) circulirenden Infectionserreger einen zur Ansiedlung
derselben geeigneten Locus minoris resistentiae, so dass wir es also mit einer
acuten Infection der durch das Trauma gesetzten Wunde des Endocards zu
thun haben.
Wenn auch die Möglichkeit einer traumatischen Entstehung der infectiösen Endo-
carditis nach Analogie anderer infectiöser Vorgänge im Körper und deren Beeinflussung
durch das Trauma gewiss zugegeben werden muss, sind die Beobachtungen noch zu ver-
einzelt, als dass man diese Frage als gelöst bezeichnen könnte. Die Erscheinungen der
acuten Endocarditis müssen unmittelbar oder doch nur kurze Zeit nach der Gewaltein-
wirkung auftreten, wie in den Beobachtungen von Biggs und Lügkinger (M. m. W. 1893),
undimUebrigen müssen ältere endocarditis che Veränderungen mit Sicherheit ausgeschlossen
werden können, weshalb auch Stern die LEYDEN'sche {Charite-Annalen 1894) und Riedinger'-
sche Beobachtung (M f. U. 1894) nicht für beweiskräftig hält. A. Fränkel verlangt unter
Betonung der grossen diagnostischen Schwierigkeiten der acuten Endocarditis im Gegen-
satz zu Leyden und Litten für den Nachweis ausser dem Herzgeräusch noch das Auf-
treten von länger dauerndem Fieber im Anschluss an das Trauma.
c) Die Endocarditis ist Theil er scheinung einer durch das Trauma ver-
anlassten pyämischen Allgemeininfiltration, Fälle, die man zweckmässig aus
dem Begriff der traumatischen Endocarditis im engeren Sinne ausscheidet.
2. Subacute, beziehungsweise chronische Endocarditis. Die traumatische
Entstehung desselben hält Leyden für erwiesen, da nach einer Brustcontusion
sehr leicht ein wochenlanges Incubationsstadium vergehen kann, bis die
Endocarditis bemerkbar wird. Auch Steen (M. f. U. 1897, 9) tritt mit Ent-
schiedenheit für das Vorkommen der subacuten Form ein, indem er einen
Fall mittheilt, der kaum anders zu deuten ist:
Nach Sturz auf Rücken und Hinterkopf stetig zunehmende Schmerzen in der Herz-
gegend, Beklemmungsgefühl, zeitweise Athemnoth. Ausser massiger Pulsbeschleunigung in
den ersten Wochen bei wiederholter Untersuchung kein weiterer Befund; l^/g Monate
nach dem Unfall Auftreten von Herzger aus eh; nach drei Monaten ausgesprochene
Hypertrophie des linken Ventrikels, lautes systolisches Geräusch über dem Aorten-
ostium, daselbst auch systolisches Schwirren fühlbar.
In jenen Fällen, wo sich die Erscheinungen von Klappenfehler nach
Unfall ganz allmählich ausbilden und speciell unmittelbar nach der Gewalt-
einwirkung alle Erscheinungen fehlten, welche die Annahme einer trauma-
tischen Klappenruptur stützen könnten, muss man wohl zur Erklärung des
später erhobenen Befundes von Klappenfehler auf eine chronische, ganz
schleichend verlaufende Endocarditis recurriren, deren Existenz eben erst
später durch den hieraus resultirenden Herzklappenfehler erkannt werden kann.
Ob es sich um Producte einfacher oder infectiöser Entzündungen handelt, ist
zur Zeit noch ganz unaufgeklärt, Sie finden ein Analogen an den chronischen,
mitunter gänzlich fieberlos verlaufenden Entzündungen anderer innerer Organe.
Für eine abgeschlossene forensische Begutachtung bieten der-
artige Fälle zum Theil unüberwindliche Schwierigkeiten, und man wird meistens
nur mit Möglichkeiten, beziehungsweise Wahrscheinlichkeiten rechnen können,
indem bei ihrem schleichenden Verlauf die positiven Befunde meistens zu
spät nach dem Trauma erhoben werden. Im Uebrigen äussern FtJRBEiNGER
und Stern auch selbst für ganz glaubwürdige Angaben von Verunfallten über
den Mangel von Herzstörungen vor dem Unfall laute Zweifel, indem sie
daran erinnern, dass man gar nicht selten auch ohne traumatische Aetiologie
858 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
bei der Untersuchung zufällig einen Herzklappenfehler findet, ohne dass sich
durch die Anamnese beachtenswerte Herzbeschwerden feststellen liessen,
welche das betreffende Individuum auf das Bestehen der Erkrankung auf-
merksam zu machen geeignet waren.
Soweit aus den bis jetzt vorliegenden Beobachtungen von traumatischer
Endocarditis mit Klappenfehler Schlüsse berechtigt erscheinen können, sind
Stenosen häufiger als Insufficienzen; die Casuistik ist noch zu spärlich, um
unter Ausschluss von Zufälligkeiten einen inneren Zusammenhang für erwiesen
erachten zu können.
3. Traumatische Klappenrupturen mit consecutiver Endocarditis. Seit
den Arbeiten von Barie und Durosiez ist die Möglichkeit einer trauma-
tischen Klappenruptur im Gegensatz zu den „spontanen" nicht mehr
bezweifelt worden. Dieselbe ist unseres Wissens auch an allen Klappen be-
obachtet worden, mit Ausnahme der Pulmonalis. Die Kuptur betrifft die
Klappenzipfel, Segeltaschen, Papillarmuskel, Sehnenfäden.
Unter traumatischen Klappenrupturen im engeren Sinne fasst Gerhardt die durch
äussere Gewalteinwirkung veranlassten zusammen, zum Unterschied von jenen viel häu-
figeren, welche durch die Einwirkung von über das Maass gesteigertem intrathoracalem
Druck (starke, körperliche Anstrengung) zu Stande kommen. Bei beiden Entstehungsarten,
die im klinischen Verlauf selbstredend keine Verschiedenheiten involviren und unseres Er-
achtens wegen der so häufigen Coincidenz überhaupt kaum scharf getrennt werden können,
betreffen sie am häufigsten die Aortenklappen, in zweiter und dritter Linie die Mitralis
beziehungsweise Tricuspidalis.
Was den näheren Entstehungsmodus selbst betrifft, so erfolgt, wie
schon Nelaton betont, die Ruptur am Orte des geringsten Widerstandes. Aus
den umgekehrten Spannungsverhältnissen des nicht contrahirbaren Endocard und
der bekanntlich nur Duplicaturen desselben darstellenden Klappenzipfel einer-
seits und dem nach Systole und Diastole wechselnden Contractionszustand
des Herzmuskels andererseits ergibt sich, dass das übrige Endocard vorzüglich
nur in der zweiten Hälfte der Diastole, die Klappenapparate aber während
der ganzen Diastole der hinter ihnen liegenden Herzkammer für Rupturen
günstige Verhältnisse bieten; deshalb zeigen auch die Klappen, welche den
Rupturen günstigen Momenten während grösserer Zeitdauer einer jeden Phase
der Herzthätigkeit ausgesetzt sind als das übrige Endocard oder gar das
Myocard, eine grössere Neigung zu Rupturen als die übrigen Theile des
Herzens.
Hinsichtlich der Symptome der Herzklappenzerreissungen
ist zu erwähnen, dass die unmittelbare Wirkung der Ruptur natürlich Insuf-
ficienz des betroffenen Klappenapparates ist. Die Diagnose einer trau-
matischen Klappenruptur ist nur dann mit einiger Sicherheit zu stellen, wenn
bei einem gesunden Menschen kurze Zeit nach stattgehabter Gewalteinwirkung
der auscultatorische Befund einer Klappeninsufficienz nachzuweisen ist. In
den meisten Fällen kommt es zu unmittelbaren Erscheinungen seitens des
Herzens, die sich als typische Zeichen nicht compensirter Insufficienzen
charakterisiren. Neben schon kurze Zeit nach der Verletzung oder in unmittel-
barem Anschluss an diese auftretenden schweren Shockersch einungen infolge
jähen Sinkens des Blutdruckes herrschen im Krankheitsbild ausser dem
„Gefühl von Zerreissung in der Brust", das uns da, wo es sich findet, ein
sehr schätzbares Kriterium bieten kann, besonders Beklemmungsgefühle,
Athemnoth, Herzklopfen vor. Das den betreffenden Herzfehler bezeichnende
Herzgeräusch ist oft besonders stark accentuirt, dabei entweder rauh oder
auch von musikalischem Timbre, bald nur bei aufrechter Stellung hörbar und
in der Rückenlage verschwindend.
Potain und Barie führen wohl mit Recht den rauhen Charakter auf Vibrationen
der durch den Blutstrom bewegten losgerissenen Klappenenden zurück. In anderen Fällen
(Bernstein, Ztschr. f. kl. Med. 1896) verstreicht nach dem Trauma eine längere Zeit bis
zum ersten Auftreten der Herzsymptome. Zur Erklärung erinnert Bernstein an die be-
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 859
kannten Versuche von de Jager, Godard, Rosenbacit, welche mit Nothwendigkeit zur
Annahme eines Reservefonds von Arbeitsvermögen im Herzmuskel, der ein zu rapides Sinken
des arteriellen Blutdruckes, speciell z. B. nach Rupturen der Aortenklappen verhindern
kann, führen; von seiner Grösse und dem Verhältnis zu den für Ueberwindung der durch
das Trauma geschaffenen acuten Circulationsstörungen hängt es ab, ob bei seiner Erschöpfung
Compensation eintritt oder nicht.
Als Maximum für die Dauer eines durch Klappenruptur entstandenen
Vitium cordis berechnet Bernstein aus den literarisch gesammelten Fällen
drei Jahre.
Zur genaueren Bestimmung des Sitzes der Ruptur an den Aortenklappen gibt Foster
als charakteristisch für eine Läsion der linken valvula sigmoidea besonders lautes Hervor-
treten des Geräusches über der Herzspitze an; Verbreiterung des Geräusches nach dem
Schwertfortsatz hin und der Gegend der rechten Herzhälfte spricht für Sitz der Ruptur an
der rechten Klappe.
In dem einen Fall fällt das regurgitirende Blutquantum auf die ünterfläche der
Mitralis und wird nach der Spitze geführt, im andern Falle soll sie das Septum treffen.
4. Ueber die traumatischen Affectionen des Myocards liegen nur spär-
liche Mittheilungen vor (Stern, Riegel, Pelvet). Sie sind combinirt mit
traumatischer Endocarditis, ihr isolirtes Auftreten ist bis jetzt noch nicht
sicher constatirt und erscheint auch nach den obigen Bemerkungen über die
Spannungsverhältnisse der einzelnen Herzschichten in Systole und Diastole
nicht sehr wahrscheinlich.
Hochhaus (D. A. kl. Med. 1893) sieht als das Primäre der traumatisch
veranlassten Myocarditis Zerreissungen und Blutungen im Herzfleisch an, die
in kurzer Zeit schon die Function des Herzens beeinträchtigen können (un-
regelmässiger Puls, Beklemmung, Herzschwäche). Ob neben Herzmuskel-
erkrankuhg noch ein organischer Klappenfehler besteht, ist oft schwer zu ent-
scheiden, da die im Gefolge von myocarditischen Processen sich nicht selten
ausbildende Herzdilatation zu relativer Insufficienz des betreffenden Klappen-
apparates führen und entsprechende auscultatorische Phänomene bedingen kann.
Auch hinsichtlich der anatomischen Grundlage und besonders darüber,
ob es entzündliche oder degenerative Vorgänge sind, welche zu schwieliger
Myocarditis, bezw. Entwicklung chronischer partieller Herzaneu-
rysmen führen, fehlt uns noch die nöthige Zahl einwandfreier Beobach-
tungen.
Acute Herzdilatation nach grosser und anstrengender Arbeit haben
Besnaed und Wagner auf der ZiEMSSEN'schen Klinik und Friedrich (W. kl.
th. Wchschr. 1898) beobachtet. Sie kann nach ungewöhnlich grosser Muskel-
arbeit auch bei einem bis dahin völlig intacten Herzen auftreten und
erscheint nach Friedrich als charakteristisches Krankheitsbild, welches sich
aus subjectiven Erscheinungen mit variabler Constanz und folgenden objectiv
nachweisbaren Symptomen zusammensetzt: Cyanose und Dyspnoe, Carotiden-
eventuell Halsvenen-Puls, diffuse heftige Herz- und epigastrische Pulsation,
Oedem und Ascites an den verschiedensten Körperstellen, physikalischer Be-
fund der Herzdilatation, schwacher leerer und frequenter Puls bei ent-
sprechenden ab und zu von Geräuschen unterbrochenen Herztönen, Arythmie
und die ganze Reihe der bekannten Stauungserscheinungen seitens der Unter-
leibsorgane.
Die excentrisch hypertrophirte Muskulatur des Herzens war im
WAGNER'schen Fall blass, brüchig und zeigte bei mikroskopischer Untersuchung
staubige Trübung.
Friedrich hält bei rechtzeitiger Diagnose die Prognose nicht ungünstig,
wenn sich der Kranke entsprechend lange Zeit jeglicher Arbeit ent-
halten kann.
5. Die durch Unfälle veranlassten functionellen (sog. nervösen) Herz-
störungen unterscheiden sich in keiner Weise von den nervösen Herzaffec-
tionen anderen Ursprunges. Sie sind stets Theilerscheinung einer durch
860 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
das Trauma acquirirten oder durch dasselbe gesteigerten neuropathischen
Constitution, und man findet sie demgemäss auch stets in Gemeinschaft mit
anderweitigen psychoneurotischen Symptomen vor.
Die Wichtigkeit der aus der inneren Medicin bekannten Differential-
diagnose, die vornehmlich in der ersten Zeit nach einer Brustcontusion
Schwierigkeiten bereiten kann, ergibt sich für den Gutachter schon aus der
Verschiedenheit der beiden Krankheiten zukommenden Prognose und even-
tuell einzuleitenden therapeutischen Maassnahmen. Dass functionelle Erkran-
kungen auch gleichzeitig mit organischen vorkommen können, braucht kaum
weiter ausgeführt zu werden.
Es erübrigen uns noch hier einige kurze Bemerkungen über die un-
fallrechtliche Seite der vorerwähnten traumatischen Herzaffectionen,
wenn der Verdacht eines bereits vorbestehenden Herzleidens vorliegt.
Hier handelt es sich um Würdigung des Zustandes bis unmittelbar vor dem
Trauma und um den Nachweis der erheblichen Verschlimmerung
durch dasselbe. Dass in solchen Fällen ein körperliches und psychisches
Trauma von geringerer Intensität schon ausreicht, um das labile Gleich-
gewicht des klappenkranken aber bis dahin gut compensirten Herzens zu
stören und mit einem Schlag das vorher latente Krankheitsbild des Herz-
fehlers zu einem offenkundigen zu machen, ist ohne weiteres klar. Käst
(A. N. 1897, 8j hat in einem Obergutachten betreffend einen durch starke
Anstrengung des Herzens verursachten Todesfall unter Hinweis auf
die so verschiedene Reaction von Herzkranken gegenüber körperlichen An-
strengungen eingehend erläutert, dass es sich in solchen Fällen durchaus
n i c h t um Feststellung des absoluten Maasses und der Grösse der Körper-
anstrengung handeln kann, sondern dass bei chronisch herzkranken Individuen
auch schon eine das Maass der gewöhnlichen Muskelleistung überschreitende
Bewegung, also eine relative Ueberanstrengung genügt, um die vollkommene
Ermüdung, Dehnung und schliesslich Lähmung des vorher dauernd über-
anstrengten Herzmuskels zu veranlassen.
Von Momenten, welche die Wirkung des Trauma auf das Herz oft in
unvorhergesehener ungünstigster Weise zu verändern im Stande sind, nennen
wir noch die durch Potatorium und Nephritis veranlassten Schwächungen des
Herzmuskels.
6. Pericarditis. Ihre traumatische Genese mit oder ohne Betheiligung
der oberflächlichen Schichten des Myocards ist schon seit langer Zeit be-
kannt. Die traumatische Pericarditis kann als trockene oder exsudative auf-
treten und unterscheidet sich in Symptomatologie und Verlauf nicht von der
anderweitig entstandenen Pericarditis.
Die primär am Pericard durch das Trauma gesetzten Veränderungen, an
welche sich die Pericarditis anschliessen kann, bestehen entweder in Blu-
tungen oder mehr weniger ausgedehnten Einrissen des Herzbeutels. Insbe-
sondere erklärt sich das Zustandekommen der letztern aus der anatomischen
Anordnung der Bänder, durch welche das Pericard mit den benachbarten Knochen
in Verbindung steht. Das wichtigste von ihnen ist das von Luschka beschriebene
Ligamentum sternopericardiacum superius et inferius zwei bis drei constant vor-
kommende Zellstoffbündel, die, vom Pericard zum oberen, resp. unteren Ende
des Brustbeins ziehend, sich durch ihre geringe Dehnbarkeit auszeichnen.
Nach Beenstein vollzieht sich nun die Wirkung so, dass sie bei einem von
vorneher gegen die Brust gerichteten Stoss oder Schlag straff gespannt
werden, während das Herz eine kleine Strecke weit nach hinten geschleudert
wird. Die gleiche Function für die von oben oder hinten her einwirkenden
Traumen haben die BERAND'schen Ligamente zum dritten Halswirbel und
PtiCHET's Pseudoaponeurosis cervicopericardiaca zum Zungenbein. Das zwischen
dem in der Piichtung der Contusion geworfenen Herzen und dem im ent-
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 861
gegengesetzten Sinne wirkenden Ligament befindliche Pericard wird straff ge-
spannt, gezerrt und reisst in diesem Zustande natürlich leichter als im
schlaffen.
Für den Gutachter besonders wichtig sind die als Folgezustände re-
sultirenden pericardialen Adhäsionen, seien sie an der Aussen- oder
Innenfläche des Herzbeutels. Sie können erhebliche Functionsstörungen be-
dingen, besonders wenn neben ihnen noch myocarditische Veränderungen ent-
weder als unmittelbare Folgen des Trauma oder erst secundär durch Fort-
leitung der Entzündung hervorgerufen, bestehen. Auch recht ausgedehnte
und noch vielmehr kleinere circumscripte Adhäsionen entziehen sich bei der
in vielen Fällen oft nur subjectiven Seite des Befundes (Schmerzen) leicht
der Diagnose, so dass infolge des Missverhältnisses zwischen objectiven Be-
fund und Klagen des Verunfallten oft an Simulation gedacht wird. Der peri-
cardiale Ursprung dieser Schmerzen kann in den erst längere Zeit nach dem
Unfall zur Begutachtung gekommenen Fällen nur dann mit entsprechender
Sicherheit behauptet werden, wenn in der ersten Zeit nach dem Unfall an-
dere Erscheinungen von Pericarditis ärztlich nachgewiesen wurden.
Auf das häufige Vorkommen pericardialer Geräusche bei an-
scheinend gesundem Herzen hat Butteesack (Jubiläumsfestschrift des
Friedrich-Wilhelms-Institutes, citirt nach Referat in der A S. V. Z. 1896, 9)
hingewiesen. Ueber gleichzeitige subjective Beschwerden (Herzklopfen, Kurz-
athmigkeit) klagten selbst bei sehr intensiven körperlichen Anstrengungen nur
auffallend wenige der von ihm Untersuchten.
Die forensische Beurtheilung solcher Fälle empfiehlt der genannte
Autor davon abhängig zu machen, ob von der das Geräusch hinterlassenden
früheren Erkrankung her auch der Herzmuskel afficirt ist, also vor allem
Beobachtung der Herzthätigkeit. Ist auch bei kleineren, vorübergehenden
Störungen der subjectiven Auffassung des einzelnen Gutachters ein grösserer
Spielraum belassen, .so ist doch nicht ausseracht zu lassen, dass durch
fernere häufige und grosse Anstrengungen ursprünglich kleinere myocardi-
tische Herde sich vergrössern und im Laufe der Zeit zu Herzinsufficienz führen
können.
Die traumatische Genese anderer Erkrankungen, wie Chylothorax
(Beobachtung Wiesinger's), Emphysem des Mediastinum (Petersson),
bedarf bei der Einfachheit der in Betracht kommenden Verhältnisse und der
grossen Seltenheit dieser Leiden nur der namentlichen Erwähnung.
XI.
Traumatische Erkraiikiiiigen der Bauchorgane.
Von den auf traumatische Genese zurückzuführenden Affectionen der
Unterleibsorgane scheiden zunächst alle Folgezustände, wie sie sich an pene-
trirende Bauchverletzungen anschliessen können, für die Besprechung aus.
Es können nur jene Erkrankungen berücksichtigt werden, die sich nach
subcutanen Verletzungen vorzugsweise der parenchymatösen Unterleibs-
organe entwickeln. Sie sind durchwegs Contusionsverletzungen, entstehen
entweder durch directe Einwirkung einer stumpfen Gewalt (Fall, Stoss, Schlag,
Ueberfahrenwerden), welche eine grössere Unterleibsfläche trifft, ohne zu einer
Trennung der elastischen Bauchwandungen zu führen, oder auch auf indirectem
Weg (Contrecoup) bei Sturz aus grösserer Höhe auf Gesäss, Füsse etc.
Die procentuale Betheiligung der einzelnen Organe steht im directen
Verhältnis zum Volumen der einzelnen Organe; am häufigsten sind Leber-
verletzungen, dann kommen in absteigender Reihenfolge die Verletzungen der
Nieren, Milz, Bauchspeicheldrüse etc.
Leber- und Gallenblase. Leichte Contusionen und oberflächliche Ein-
risse des Parenchyms können bei Fernhaltung accidenteller Schädlichkeiten
862 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
symptomlos verheilen ohne auch später zu weiteren gesundheitlichen Beein-
trächtigungen Veranlassung zu geben. Bei entsprechender Intensität der
einwirkenden Gewalt können schwerere Läsionen zu Stande kommen unter
allen möglichen Combinationen von Hyperämie mit bedeutender Volumzunahme
des Organes, nicht selten combinirt mit umfangreicheren Blutungen nach
Berstung der Kapsel, Einrissen des Gewebes, Ablösung des serösen Ueber-
zuges durch Blutextravasate zwischen diesem und dem Parenchym, oder
Blutungen in das mehr weniger zerstörte Lebergewebe selbst („Leberapoplexie").
Der aus solchen primären Veränderungen resultirende Folgezustand verläuft
als Hepatitis traumatica (einfach-reactive Entzündung) oder unter com-
plicirender Mitwirkung pyogener Mikroben als Leberabscess oft in ver-
schiedener Weise.
Hinsichtlich der Provenienz der Entzündungserreger bemerken wir unter
Hinweis auf die Ausführungen über die Entstehung von infectiösen Entzün-
dungen in anderen inneren Organen, nach welchen subseröse oder intra-
parenchymatöse Blutextravasate einen günstigen Nährboden darstellen, auf
welchem die im Organismus kreisenden Mikroorganismen sich ansiedeln und
zu entwickeln vermögen, dass schon infolge der Nachbarschaft des (con-
tundirten und für Bacterien seines Inhaltes durchgängiger gewordenen)
Darmes hinreichende Gelegenheit zur Infection von Leberwunden gegeben
ist. HiLDEBEAND berichtet von einem 6 Tage nach einem Stoss in die
Lebergegend laparotomirten Kranken, bei welchem in dem blutig-eitrigen
Inhalt eines Leberabscesses zahlreiche Colibacillen nachgewiesen wurden.
Die klinischen Erscheinungen der traumatischen Hepatitis (schon kurz
nach der Gewalteinwirkung entstehende Druckempfindlichkeit der Leber-
gegend, Gefühl von Völle und Schwere, percussorisch und palpatorisch nach-
weisbare Vergrösserung, Icterus, nicht selten Glycosurie, galliges Erbrechen,
ferner der charakteristische rechtsseitige Schulterschmerz) bedürfen hier keiner
weiteren Besprechung. Es sei hier nur noch kurz daraji erinnert, dass beim
Sitz des Entzündungsherdes im oberen convexen Theil durch Fortsetzung der
Entzündung per contiguitatem auf dem Weg der Lymphspalten des Zwerch-
felles auch secundär die Pleura, resp. das Lungengewebe in Mitleidenschaft
gezogen werden kann, oder es kommt zur Bildung circumscripter peritonealer
Abscesse (subphrenische A.) zwischen convexer Leber- und Zwerchfellfläche.
Dass seitens unvollständig zur Resorption gelangter Blutherde noch
nach Monaten oder später die Infectionsmöglichkeit durch pyogene Mikroben
vorliegen kann, wird man in concreto beim Nachweis des zeitlichen Zusammen-
hanges zwischen Trauma und Krankheit zu berücksichtigen haben.
Ob auch für Fälle von chronischer Entzündung des Organs mit Ausgang in
Schrumpfung traumatische Schädigungen als ätiologische Momente angesprochen werden
dürfen, ist in Rücksicht auf die Spärlichkeit des vorliegenden Materials zur Zeit noch strittig.
Stern und Löwenstein führen als weitere aus Leberquetschungen resultirende Unfall-
folgen an:
Pfortader verschliessung (nach wiederholter Einwirkung stumpfer Gewalt), Wander-
leber bei vorbestehender Disposition infolge Hängebauch, traumatische Gallenblasen-
entzündung mit Cholelithiasis.
Betreff der Zerreissungen von Gallenblase und Ergiessen von Galle in
den freien Bauchfellraum hatte man lange Zeit die Ansicht, dass unter dem
Entzündung bewirkenden Reiz der Galle ausserordentlich schnell eine ganz
besonders heftige, eitrige Peritonitis auftreten könne. Nach den neueren For-
schungen kann jedoch die Galle an sich überhaupt keine entzündlichen Er-
scheinungen zeitigen, da sie nicht blos aseptisch ist, sondern auch, wie durch
ihre die Fäulnisprocesse im Darm herabsetzende physiologische Thätigkeit
schon nahe gelegt wird, auch antiseptisch wirkt.
Nieren. Wanderniere: Die Möglichkeit einer Lageveränderung ist bei der
Niere in viel höherem Maass gegeben als bei der Leber. Küster (Deutsche
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 863
Chirurgie) sieht in dem gehäuften Auftreten des Leidens in der Zeit zwischen
20 und 40 Jahren, wo mit der stärksten Ausnützung der Körperkräfte auch
die aus schwerer körperlicher Arbeit erwachsenden Gefahren am meisten im
Vordergrund stehen, einen Beweis für die traumatische Aetiologie der Wander-
niere. Auch Güterbock (A. f. kl. Ch. 1895) hält die traumatische Wander-
niere häufiger als Wagner und Blasius und macht besonders auf ihre Ent-
stehung im Anschluss an langsam zur Resorption gelangende umfangreiche
circumrenale Blutungen aus der Kranzblutader der Nierenkapsel und deren
Yerbindungszweige mit der Nierensubstanz aufmerksam. Je nach der Grösse
dieser Blutungen wird die Niere mehr oder weniger vollständig aus ihrer
Kapsel ausgeschält, und wenn sich die Verbindung zwischen ihr und der
Kapsel nicht wiederherstellt, wird sie nach Verlust ihres dauernden Haltes
zu Lageveränderungen geneigt. Unter Hinzutritt von weiteren Momenten
(nach infolge des Trauma sich entwickelnden Veränderungen im Volumen
und Gewicht der dislocirten Niere durch Entzündung und urinöse Rückstauung)
werden auch noch die anderweitigen Befestigungsmittel und speciell der
Nierenstiel (die Nierengefässe) insufficient, wodurch die weitere Ausbildung
des Zustandes der Wanderniere begünstigt wird.
Ebenso wie eine ganz plötzliche, einmalige, brüske Muskelzusammen-
ziehung, kann auch eine zwar langsamer erfolgende, aber allmählich zur
stärksten Inanspruchnahme der Muskulatur führende Zusammenziehung (Heben
schwerer Lasten z. B.) eine Verschiebung der Niere (gewöhnlich unter einem
„deutlich gefühlten Ruck") erzeugen.
Das bevorzugte Auftreten der Wanderniere auf der rechten
Seite erklärt sich aus den anatomischen Verhältnissen und speciell aus der
bedeutenden Ueberlegenheit der Befestigungsmittel der linken Niere gegen-
über der rechtsseitigen. Im Uebrigen kommt auch hier, wie bei allen trau-
matischen Nierenaffectionen die Ausfüllung des rechten Hypochondrium durch
die mächtige Drüsenmasse der Leber in Betracht, während das linke Hypo-
chondrium bei der relativen Kleinheit der Milz im wesentlichen gashaltige
Organe enthält.
Auch bei der traumatisch entstandenen Wanderniere kann es durch
Stauung der Blutzufuhr zu Schrumpfen und Atrophiren des dislocirten Or-
ganes kommen (unter Entwicklung einer compensatorischen Hypertrophie der
zweiten Niere), ferner durch Abknickung oder Torsion des Urether zu Hydro-
nephrose mit anfallsweisem Auftreten (intermittirende H.) oder permanentem
Bestehen der bekannten klinischen Erscheinungen. Nach Abknickung des
Nierenstieles wurde Reflexkrampf in den Gefässen der zweiten Niere beob-
achtet, der zu vollständiger Sistirung der ürinsecretion und urämischen Er-
scheinungen führen kann.
Dass auch durch die einfache nicht complicirte Wanderniere eine
totale Einbusse der Erwerbsfähigkeit veranlasst werden kann, beweisen zwei
Beobachtungen von Küster.
s. ferner unter Peritonitis.
Nierenruptui' entsteht durch directe oder indirecte Gewalteinwirkung,
welch' letztere entweder den ganzen Körper gleichzeitig treffen oder sich von
einem anderen Körpertheil auf die Niere fortpflanzen kann. Die Richtung
der Gewalteinwirkung ist meistens seitlich in die Lenden- oder Nierengegend.
Nach Bramann und Sladowsky finden sich bei indirecten Gewalteinwirkungen meistens
Risse am Hilus, nach directen häufiger unregelmässige Zerreissungen an der Nierenvorder-
fläche, eine Ansicht, welche die experimentellen Untersuchungen von Herzog und Tillmann's
auch bestätigt haben.
Küster erklärt sich die Nierenrupturen aus dem Zusammenwirken zweier Umstände :
einmal durch eine plötzliche, stossweise Adductionsbewegung der beiden unteren beweg-
lichen Rippen gegen die Wirbelsäule und zweitens durch die hydraulische Pressung der
in den Nieren enthaltenen Flüssigkeiten. (Wirft man eine frisch esstirpirte Niere auf den
Boden, so entsteht keine Ruptur, dagegen wird eine solche mit Leichtigkeit hervorgerufen,
864 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
wenn das Organ mit Wasser gefüllt ist.) Der Grund für den vorzugsweise beobachteten
queren und radiären Verlauf der Nierenrupturen liegt nach Grawitz im Bau der Niere,
welche im Fötalleben aus 12 — 15 renculi bekanntlich zusammenwächst, die sich erst spät
und oft nur unvollkommen zu einer glatten Oberfläche vereinigen. Auch wenn sie ver-
wachsen, bilden diese Furchungen noch einen locus min. resist. Die grösseren Einrisse
entstehen meistens am Hilus oder in seiner Nähe, weil hier die Niere wegen ihrer gerin-
geren Breite auch nur einen entsprechend geringen Widerstand zu leisten vermag.
Bei gleichzeitigen Einrissen der Faserkapsel der Niere ergiesst sich das
Blut in das pararenale und retroperitoneale Bindegewebe, woselbst diese
Ansammlung zu umfangreichen Hämatomen führen kann, die nach Bramann
mitunter aufwärts bis zum Zwerchfell und abwärts bis in das Becken reichen.
Krankheitsverlauf und Symptomatologie ist bei den Nierenrupturen sehr
variabel. Neben leichteren Fällen, die rasch heilen, so dass derartig Ver-
unfallte oft schon nach wenigen Tagen frei von Symptomen sind (König),
finden sich solche, in welchen die Krankheitserscheinungen (Hämaturie,
Nierenschmerz etc. etc.) sich auf eine Reihe von Wochen ausdehnen können,
ebenso wie eine dritte Gruppe von Fällen, in welchen sich plötzlich wieder
Blutbeimischungen im Urin einstellen, nach dem derselbe schon seit längerer
Zeit blutfrei war (Thrombenlösung und secundäre Blutung aus den zerrisse-
nen Gefässen), oder ein perirenaler Bluterguss kann noch spät in das Nieren-
becken durchbrechen, wodurch dann wieder eine neue, zweite Hämaturie er-
zeugt wird, welche sich auch klinisch von der eben erwähnten Nachblutung,
die wie die primäre auftritt, schon dadurch unterscheidet, dass das Blut bei
den in Rede stehenden Spätblutungen bräunlich ist und Blutkörperchen in
den verschiedensten Zerfallstadien unter dem Mikroskop erkennen lässt. Mit
der „Spätblutung" geht dann gewöhnlich auch Schmerz und Fieber zurück,
die Schwellung in der Nierengegend wird geringer, doch können bis zu voll-
ständiger Rückbildung Monate vergehen (Tuffier).
Die aus Nierenrupturen entstehenden Complicationen sind traumatische
Pyonephrose, Nierenabscesse, peri- und paranephritische Abscesse, Pseudo-
hydronephrose (die nach Quetschung der Nierengegend entstandene Ansamm-
lung von Urin rings um die Niere), ferner Hydronephrose, z. B. bedingt durch
Compression des Urether seitens eines perirenalen oder periurethralen Ergusses
u. s. w.
Die traumatische Nephritis ist nach Küster durch Albuminurie mit
Polyurie ausgezeichnet. Während die Anwesenheit der Cylinder und der
ihnen anhaftenden Epithelien auf eine Betheiligung seitens der Harncanälchen
hinweist (parenchymatöse Nephritis), spricht die gesteigerte Harnsecretion
nach der Ansicht einiger Autoren mehr für eine Betheiligung des inter-
stitiellen Gewebes, während wieder andere das Krankheitsbild aus einer
Mischform beider Entzündungsgruppen erklären. Eine weitere Eigenthümlich-
keit soll in dem zuweilen ungewöhnlich schnellen Auftreten von ödematösen
Anschwellungen der Füsse, des Gesichts oder Hydrops universalis bestehen.
Traumatische Hydronephrose. (Paul Wagner, Berl. Klinik 1894;
Nathrat, J. D. Bonn 1897).
Die in Betracht kommenden, zum Theil schon im Vorstehenden er-
wähnten Entstehungsmöglichkeiten sind folgende:
1. Verletzung des Urethers mit nachträglicher Stricturbildung.
2. Verstopfen durch ein Blutgerinnsel, das entweder mit der Zeit weg-
gespült wird oder, wenn organisirt, einen dauernden Verschluss bilden kann.
3. Lockerung eines Nierensteines durch ein Trauma; Verlegung des
Urethers und Einkeilung in denselben.
4. Compression des Urether durch periurethrale oder perirenale Blut-
resp. Harnergüsse.
5. Traumatische Nierenverlagerung mit consecutiver Abknickung des
Urethers.
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 865
Thiem erwähnt als charakteristisch für die echte traumatische Hydronephrose die
allmähliche, etwa innerhalb eines Monates sich abspielende Entwicklang der Geschwulst
in der Lenden-Nierengegend.
Neplirolithiasis. Müller (A. f. Ch. Bd. 50) hat aus der BRAMANN'schen
Klinik in Halle eine Reihe von Fällen von NierensteinbilduDg nach Wirbel-
fracturen mit Itückenmarksläsionen combinirt, veröffentlicht. Unter zehn fand
er achtmal beiderseits Concrementbildung im Nierenbecken. Nach experi-
mentell erzeugter Rückenmarkquetschung hat er ausgedehnte Verfettung des
Nierenparenchyms mit Albuminurie eintreten sehen.
Zur Pathogenese äussert sich der genannte Autor dahin, dass infolge
der Rückenmarkläsion als trophische Störung eine acute nekrotisirende Ne-
phritis auftritt und dass das abgestorbene, durch den Harn fortgeschwemmte
Stroma mit Epithelcylindern das Gerüst bildet, in dem sich die im alkalischen
Harn suspendirten Sedimente ablagern. Im Gegensatz hinzu legt Stern (Er-
gebnisse der allgemeinen Pathologie 1896) einer aus der Blase aufsteigenden
infectiösen Entzündung, wie sie ja so häufig nach Wirbel Verletzung auftritt,
eine grössere ätiologische Bedeutung bei.
Weber (M. m. W. 1897, 12) erklärt in einem von ihm beobachteten Fall von doppel-
seitiger Nierensteinbildung, im Anschluss an eine Nierencontusion entstanden, die Nephro-
lithiasis durch Inkrustirung der traumatisch veranlassten Blutextravasate und Entzündungs-
herde mit Harnsalzen.
Ueber Verschlimmerung vorbestehender chronischer Nierenleiden
durch Unfallereignisse berichtet Albu (A. f. U. 1897).
Milz. Die ätiologische Bedeutung subcutaner Milzläsionen für die
Leukämie siehe oben.
Im Uebrigen ist hier, da die meisten Fälle von Milzrupturen schon
nach kurzer Zeit letal endigen, neben entzündlicher Anschwellung des Organes,
Abscess, Cystenbildung, Perisplenitis mit den verschiedenen Stadien der
regressiven Metamorphose, welche die fibrinösen Auflagerungen auf der Milz-
kapsel durchmachen können. Zustände, deren traumatische Genese und Sym-
ptomatologie ohne weiteres klar ist, nur die Wandermilz kurz zu besprechen.
Nach Leddeehose bildet sich allerdings in den meisten Fällen die
Wandermilz ganz allmählich aus, indem mit der langsam fortschreitenden
Dehnung der Aufhängebänder die Ortsveränderung Hand in Hand geht, aber
auf der anderen Seite hält er es doch durch klinische und anatomische Er-
fahrungen für erwiesen, dass äussere Gewalteinwirkung (Fall, Sprung etc.)
im Stande ist, Dislocation der Milz durch partielle Einrisse der Ligamente
herbeizuführen, und verweist auf die Beobachtung von Pirotaix.
Die eine Lageveränderung der Milz begünstigende Wirkung eines vorbestehenden
Milztumors wird durch eine Beobachtung von Rezeck illustrirt, wonach sich eine Inter-
mittensmilz nach Fall von einer Treppe in die Gegend des Beckeneinganges gesenkt hat und
daselbst allseitig verschieblich lag.
Die durch Stieltorsionen hervorgerufenen Circulationsstörungen ent-
sprechen vollständig den analogen Krankheitszuständen der Nieren (s. o.).
Wie leicht die Wandermilz zu erheblicher Erwerbsbeschränkung führen
kann, ergibt sich schon aus ihrer Symptomatologie.
Magen. Die Beziehungen zwischen Magenerkrankungen und Trauma
hat in jüngster Zeit Ebstein (Göttingen) mit besonderer Rücksichtnahme auf
das Unfallversicherungsgesetz zum Gegenstand einer lesenswerten Abhandlung
gemacht (D. A. kl. M. Bd. 54). Die die Magengegend treffenden Traumen,
welche den Magen schädigen, indem sie Magenblutungen, resp. Geschwüre
veranlassen, bestehen in Druck, Fall und Contusion. Als primäre traumatische
Veränderungen der Magenschleimhaut finden sich blasige hämorrhagische
Abhebung derselben, mit blutiger Suffusion des umgebenden Gewebes, hieran
anschliessend Zustände entzündlicher Reizung. Unvollkommene Durch-
trennungen der Magenschichten kommen selten vor, indem bei Contusions-
rupturen der Riss meistens durch sämmtliche Häute geht. Dass für die
Bibl. med, Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. OO
866 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
traumatische Genese solcher Yeränderuugen der jeweilige Füllungszustand
des Magens von maassgebender Bedeutung werden kann, braucht hier nur
kurz erwähnt zu werden.
Hinsichtlicli der Häufigkeit der nach. Trauma zur Entwicklung gekommenen Magen-
blutungen, resp. Magengeschwüre differiren die Angaben der Beobachter bedeutend. Ebstein
bewertet die traumatischen Magengeschwüre auf 3'8%; da es ihm zweifelhaft erscheint,
ob es sich bei einer nach Trauma auftretenden Hämatemesis immer um Magengeschwüre
gehandelt, wie die meisten Beobachter annehmen, empfiehlt er, wenn nicht die Diagnose
aus anderen Zeichen mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit gestellt werden
kann, sich mit der symptomatischen Diagnose „Bluterbrechen nach Trauma" vorerst zu
begnügen.
In einer Beobachtung von Leube (Ctrbl. f. med. Wiss. 1886) traten unmittelbar nach
dem Trauma die ersten Magenbeschwerden auf und schon nach kurzer Zeit die charakte-
ristischen Ulcus-Symptome (u. a. circum scripter Schmerz, Druckempfindlichkeit, Steigerung
der Schmerzen durch linke Seitenlage etc.).
Die Entstehung des Magengeschwüres erklärt man sich aus der peptischen
Wirkung des Magensaftes auf die hämorrhagischen Infiltrate und die in ihren
Ernährungsverhältnissen durch die Circulationsstörungen beeinträchtigte Magen-
schleimhaut. Gerade die Prädilectionsstellen des Geschwüres, insbesondere
die kleine Curvatur, werden, wenn ein Trauma den durch Ingesta oder Gas
stark ausgedehnten Magen trifft, am meisten gefährdet, da an dieser Stelle
der volle Magen dicht der Wirbelsäule anliegt.
In einem von Pauly und Ponfick (A. S. V. Z. 1898, 2) mitgetheilten Fall ist die
traumatische Genese durch die besondere Gestaltung des Substanzverlustes unverkennbar,
der entgegen dem sonstigen Befund bei runden Magengeschwüren (also ohne traumatische
Aetiologie) einem nach aussen sich erweiternden Trichter gleicht; die durch das Trauma
in stärkerer Weise in Mitleidenschaft gezogenen äusseren Schichten des Magens zeigten
infolge der hiedurch veranlassten geringeren Widerstandsfähigkeit auch rascheren und
ausgedehnteren Zerfall.
PacHARDiERE, PaEGEL (NOTHNAGELS spec. Pathol. uud Therap. XVI) betonen in üeber-
einstimmung mit experimentellen Ergebnissen zunächst die grosse Tendenz der Magen-
schleimhaut zur Heilung. Nach ihrer Ansicht bedarf es noch weiterer Factoren, damit auf
dem Boden einer traumatisch-hämorrhagischen Infiltration ein chronisches Magengeschwür
entstehe. Die genannten Autoren unterscheiden beim traumatischen Ulcus zwei verschie-
dene Verlaufsweisen; die eine Gruppe geht rasch, nach zumeist sehr heftigen Erscheinungen
in Heilung über, während die zweite einen sich länger hinziehenden Verlauf zeigt, wie ihn
gewöhnlich das klassische Ulcus ventriculi aufweist. Pichardiere glaubt den Grund dieser
Verschiedenheit in dem differenten Verhalten des Magensaftes suchen zu sollen, indem bei
normalem Magensaft die lädirte Magenschleimhaut ebenso rasch verheilt, wie eine andere
einfache Wunde. Bei erhöhter Acidität des Magensaftes aber geht die Affection in das
typische Magengeschwür über.
Ueber den unterstützenden Einfluss von Chlorose, Anämie, oder
Zuständen, die an und für sich schon zu einer Hyperämie der Magenschleim-
haut führen, wie acuter oder chronischer Katarrh, Störungen im Pfortader-
kreislauf etc. weitere Bemerkungen zu machen, ist wohl kaum nöthig, eben-
sowenig wie über die ungünstige Beeinflussung vorbestehender Magen- resp.
Darmgeschwüre durch eine Contusion des Abdomens.
Merycismns (Rumination) nach Stoss in die Magengegend mit einer
Deichsel hat Dufoup. bei einem bis zum Unfall vollständig gesunden Mann
beobachtet. Auch PiIegel (1. c.) erwähnt bei der Aetiologie der Rumination
das Trauma. Nach unserem Erachten bedarf es für das Zustandekommen
dieser Motilitätsneurose des Magens einer vorbestehenden nervösen Dispo-
sition.
ZiGLER (M. m. W. 1894, 6) berichtet über eine traumatische Magenwandcy s te,
entstanden innerhalb der Magenhäute, welche sich von einander durch die Quetschung des
Magens zwischen den Puffern eines Eisenbahnwagens getrennt hatten. Bei der Entstehung
des Hohlraumes sind die Blätter der Magenwand ursprünglich offenbar in geringerer Aus-
dehnung abgehoben gewesen als zur Zeit der Operation. Die Geschwulst bildete sich erst
allmählich durch die weitere Füllung und durch die von der letzteren hervorgerufene
w^eitere Ablösung der Blätter des Magens, da sonst der Inhalt des Hohlraumes geronnene
Blutklumpen und nicht eine mit Blut vermischte Flüssigkeit hätte enthalten können.
Darm. Von den durch traumatische Schädigungen zu Stande kommen-
den Darmerkrankungen brauchen jene, welche einen sofortigen chirurgischen
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN 867
Eingriff bedingen (Ruptur, innere Einklemmung etc.), nicht berücksichtigt zu
werden. Zu erwähnen sind hier:
1. Ulcus diiodeni traumaticum, für dessen Entstehung die gleichen Ver-
hältnisse maassgebend sind, wie für das Ulcus ventriculi träum atici.
2. Die traiiniatisclie Enteritis mit Bildung von Narbenstenosen. Hieher-
gehörige Fälle finden sich in der unter Stern's Leitung verfassten Dissertation
von Epstein aus der Breslauer Klinik mitgetheilt; in allen diesen Fällen
(citirt nach Ref. A. S. V. Z. 1895, 4) schloss sich die Enteritis unmittelbar
an das Trauma (Bauchcontusion) an; in drei Fällen wurde die Diagnose durch
die Section, in einem durch die Operation bestätigt.
3. Eine Betheiligung des Peritoneum am Entzündungsprocess findet bei
Typhlitis, Peri- und Paratyphlitis nach Trauma statt. Leichtere Fälle
gehen in Heilung über, in schwereren wurden tödtliche Blutungen, gan-
gränöser Zerfall von ganzen Darmabschnitten, Bildung von anus praeternaturalis
etc. beobachtet.
4. Für die von einzelnen Autoren erwähnte traumatische Darm-
lähmung und Invagination, deren Möglichkeit theoretisch ja zuzugeben ist,
liegt eine einwandfreie Casuistik bis jetzt noch nicht vor.
Traumatische Hernien. Bei der Häufigkeit des Vorkommens von
Brüchen und speciell von Leistenbrüchen unter der arbeitenden Bevölkerung
ist die Frage nach der acuten traumatischen Entstehung der Brüche schon
seit längerer Zeit actuell. Da die Bildung eines Bruches zur nothwendigen
Voraussetzung die Anwesenheit eines Bruchsackes hat (bei den Leistenbrüchen
der persistirende Theil des Processus vaginalis peritonei), so ist zunächst klar,
dass diese Ausstülpung des Bauchfells, dieser congenital präformirte, spätere
Bruchsack, nicht durch ein Trauma entstehen kann, wie man es in der Un-
fallpraxis als Betriebsunfall definirt hat.
Wenn nach der Ansicht von Roser, Socin u. A. ein Brachschaden als Unfall über-
haupt nicht in Betracht kommen kann und auch Blasius die plötzliche Entstehung eines
Leistenbruches ohne gleichzeitige Zerreissung des Leistenringes oder Einklemmung des
Bruchinhaltes in Abrede stellt, so hat doch das R. V. A. unter Bezugnahme auf eine Ent-
scheidung des Reichsgerichtes in einem einen Bruchschaden betreffenden Haftpflichtfall
und im Einklang mit der Auffassung anderer Autoren (Thiem, Kaufmann etc.) wiederholt
in seiner Judicatur die Thatskche des Brachaustrittes unter Umständen als entschädigungs-
pflichtig anerkannt, indem es in seiner bezüglichen Entscheidung dahin gestellt sein lässt,
ob das plötzliche Entstehen eines Bruches lediglich auf traumatischem Weg und ohne vor-
gängige Brachanlage denkbar ist oder aus dem Gebiet der pathologischen Möglichkeiten
herausfällt. Nicht die bestehende Anlage z. B. zu einem Leistenbruch, sondern das sog.
Austreten des Bruches, d. h. eines Theiles der Eingeweide durch die Bruchpforte des
Leistencanals oder auch die Einklemmung eines Eingeweidetheiles in einen Bruchsack wird
unter Umständen als Unfall betrachtet werden müssen. Das Auftreten eines Bruches in
•diesem Sinn bringt nicht nur gegenüber dem Umstand eines vollständig gesunden, sondern
auch gegenüber demjenigen eines mit Bruchanlage behafteten Menschen eine die Erwerbs-
fähigkeit mindernde Verschlimmerung des körperlichen Gesammtbefindens hervor. Das
Hervortreten eines Theiles der Eingeweide durch den Leistencanal aus der Unterleibshöhle
bei vorhandener Bruchanlage vollzieht sich häufig dur.cli eine Kette kleinerer oder grösserer
Anstrengungen allmählich, es kann aber auch im Anschluss an schwere körperliche Arbeit
oder ungewöhnliche Anstrengung plötzlich erfolgen. Im ersteren Fall stellt es keinen Un-
fall dar, wohl aber im letzteren.
Bei der stets wachsenden Zahl von Entschädigungsansprüchen wegen
acut traumatisch entstandener Brüche hat das R. V. A., gegenüber dessen
Auffassung besonders Blasius wiederholt seine Bedenken geäussert, sich ver-
anlasst gesehen, die Momente, von welchen die Rentenbewilligung abhängig
ist, noch genauer zu präcisiren. Es verlangt besonders den „fast zwingen-
den" Nachweis eines mit mehr als betriebsüblicher Anstrengung
verbundenen und zeitlich bestimmten Betriebsereignisses, „welches so ge-
artet ist, dass es als Ursache für den Austritt des Bruches nach wissenschaft-
lichen Grundsätzen und praktischer Erfahrung angesehen werden kann."
Nach einer Rec entsch. v. 2. XI. 1897 kann auch eine betriebsübliche Arbeit Ver-
.anlassung zu Bruchaustritt werden, sofern die begleitenden Umstände dessen plötzliche
Herbeiführung durch eine solche Arbeit wahrscheinlich machen. . ,
868 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
Aus dem vorliegenden sehr reichhaltigen Spruchmaterial ergibt sich,
dass nur ausnahmsweise eigentliche Unfallsereignisse (directe Gewalteinwir-
kung auf die Leistengegend, Ausgleiten oder Fallen beim Heben oder Werfen
von schweren Gegenständen und Lasten) in Betracht kommen, sondern meist
handelt es sich, wie Kaufmann (1. c.) betont, um ungewöhnliche Anstren-
gungen (sei es dass schwere, jedoch geläufige Arbeiten unter ausnahmsweise
ungünstigen Umständen verrichtet werden müssen, sei es dass ungewohnte
Anstrengung oder über den Rahmen der gewöhnlichen Betriebsarbeit hinaus-
gehende Anstrengung vorliegt).
Für die Praxis des Gutachters ergeben sich Schwierigkeiten nicht sa
sehr aus der Qualification der fraglichen Körperleistung, also aus dem Nach-
weis der acut zur Wirkung gekommenen maximalen intraabdominalen Druck-
steigerung, sondern vielmehr bei der Construction des directen Causalnexus
zwischen Anstrengung und Bruchaustritt, da die Behauptung des Verunfallten
an sich begreiflicher Weise nicht mehr Bedeutung hat als etwaige Zeugen-
aussagen. Das Charakteristische für die acute Entstehung besteht ausschliess-
lich in dem plötzlich auftretenden, heftigen, kaum erträglichen Schmerz, der
sich aus dem plötzlich geschaffenen räumlichen Missverhältnis zwischen der
Capacität des vorbestandenen Bruchsackes und dem Volumen des neuen In-
haltes desselben erklärt, den Verunfallten mindestens zur Unterbrechung der
Arbeit nöthigt; nur für ausserordentlich kräftige und abgehärtete, gegen
Schmerzen nicht empfindliche Individuen hat das R. V. A. (IX, 301) die
Möglichkeit zugegeben, dass sie bei plötzlicher Entstehung eines Bruches noch
weiter zu arbeiten vermögen. Im Uebrigen spricht in allen Fällen, wo das
Vorhandengewesensein des durch seine Intensität charakteristischen Bruch-
schmerzes zweifelhaft erscheinen muss, die Vermuthung dafür, dass die Ar-
beit, welche mit der Bruchentstehung in Verbindung gebracht wird, nur Ver-
anlassung für Entdeckung des Bruches, nicht aber Ursache für Entstehung
des Bruchleidens ist, und das ist offenbar die weitaus grösste Zahl dieser so-
genannten Unfallbrüche.
Bei der praktisch so wichtigen, aber mitunter auch ebenso schwer zu
lösenden Frage nach dem approximativen Alter eines Bruches ist u. a. zu
berücksichtigen:
1. Nachweis, ob früher schon eine Bandage getragen. (Hautveränderungen
über der Bruchpforte durch eventuellen Pelottendruck, Druckspuren an benach-
barten Körperstellen.)
2. Grösse des Bruches. Kaufmann schliesst einen frischen Bruch aus
bei und über citronengrosser Bruchgeschwulst.
3. Irreponibilität trotz Abwesenheit frischer Incarceration.
4. Besondere anatomische Verhältnisse des Leistencanals, Beschaffenheit
des Brüchsackes, etwaige Adhäsionen mit dem Hoden.
Die von mancher Seite postulirte Untersuchung beim Eintritt in die Ar-
beit und deren Wiederholung in bestimmten kürzeren Zeiträumen behält kaum>
andere als theoretische Bedeutung.
Aus der die Rechtssprechung des R. V. A. bei Bruchschäden behan-
delnden Arbeit von Kums (A. S. V. Z. 1895, 19) sei noch erwähnt, dass im
allgemeinen gegen eine unfallsweise, also gegen eine acut traumatische
Entstehung spricht:
1. Vorhandensein eines doppelten Leistenbruches, soweit nicht ganz
exceptionelle Verhältnisse vorliegen.
2. Bei einseitigem Bruch, Existenz einer erheblichen Bruchanlage, welche
die allmähliche Entstehung begünstigt, auch auf der gesunden Seite.
3. gleichzeitiges Vorkommen von Leistenbruch mit Leistenhoden
(Kaufmann).
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 869
Ferner vorgerücktes Alter des Verunfallten, seit Jahren geübte Verrich-
tung schwerer Arbeiten und ähnliches.
Die traumatische Entstehung der sogenannten interstitiellen Leisten-
brüche betreffend, verweisen wir auf eine Beobachtung Kocher's, der in einem
bezüglichen Fall die Präexistenz eines leeren Bruchsackes in Abrede stellt,
eine Anlage zur Bruchbildung aber in der auf der gesunden Seite deutlich
nachweisbaren Schwäche der vorderen Wand des Leistencanals erblickt.
Eine weitere Beziehung zwischen Trauma und Bruch ist in der Mög-
lichkeit einer Bruchsackruptur, Darmverletzung eines schon alten, gefüllten
Bruches durch ein Trauma gegeben. (Beobachtung v. Sick, D. Ztschr. f
Chir. 47).
Die Gefahr der Einklemmung eines vorbestandenen Bruches durch ein
Trauma bedarf keiner weiteren Besprechung.
Von den übrigen Bruchformen kann man wegen der Seltenheit ihrer
traumatischen Entstehung die Nabelbrüche übergehen.
Im Gegensatz zu der negirenden Ansicht von Görtz (M. U. 1896, 12) gibt Kaufmann
hinsichtlich der unfallrechtlichen Bedeutung der Schenkelbrüche deren acut trauma-
tische Genese zu. Eine solche wird auch für die in der weissen Bruchlinie oberhalb des
Nabels vorkommenden epigastrischen Brüche — wegen ihrer verhältnismässig starken,
mit dem Magen Beziehung habende Beschwerden auch Magenbrüche genannt — von
Seydel unter speciellem Hinweis auf die WixzEL'sche Arbeit als häufig angenommen, Rinne
hält ihre traumatische Entstehung für verhältnismässig selten und ist der Ansicht, dass
Bauchbrüche nur nach heftigen Traumen (Stoss, Hufschlag, Fall, Ueberfahren- resp. Ver-
schüttetwerden) aus den hiedurch bewirkten Zerreissungen der bindegewebig muskulösen
Bauchwand unmittelbar und plötzlich entstehen, während in dritter Linie König entschieden
an der congenitalen Natur der als Bruchpforte dienenden Defecte, Querspalten in der Linea
alba festhält, deren Entstehungsmodus durch ein äusseres Trauma oder durch ein inneres,
in Gestalt sehr erhöhten abdominalen Druckes bis jetzt noch in keiner Weise erwiesen
ist (A. N. 1897, 7). Uebereinstimmung herrscht unter den genannten Autoren nur
hinsichtlich der häufigen ungünstigen Beeinflussung vor bestandener Magen-
brüche durch äussere Veranlassungen (Anstrengungen, directe Gewalteinwir-
kungen), wenn im unmittelbaren Anschluss an ein Trauma unter Vergrösserung des Bruches
sich vermehrte Reizerscheinnngen einstellen.
Pankreas. Infolge der wohlgeschützten Lage des Pankreas kommen
traumatische Schädigungen desselben nur selten vor. Am häufigsten ent-
stehen solche durch üeberfahrenwerden. Praktische Bedeutung haben nur die
Cysten.
Nach der Ansicht von Beeg und Heineichs entstehen durch eine Gewalt-
einwirkung, welche das Organ direct von vorne nach hinten trifft in dem
Theil, w^o das Pankreas auf der Wirbelsäule liegt, Einrisse der Drüse, Blutung,
Secretabsonderung in die Peritonealhöhle (Bursa omentalis), welche zur Folge
haben, dass sich durch den Reiz eine entzündliche Kapsel um das ergossene
Secret herum bildet, die sich nach und nach immer mehr füllt und erheb-
liche Grösse erreichen kann.
Die von einzelnen Autoren vertretene Ansicht, es handle sich um Reten-
tionstumoren (Einfluss der verdauenden Kraft des Pankreassaftes) ist bis jetzt
keineswegs allgemein anerkannt. Jedenfalls ist der Umstand, dass ein Hohl-
raum im Bauch Pankreassaft enthält, noch kein Beweis dafür, dass diese
Höhle aus Pankreasgew^ebe entstanden ist; der besagte Befund beweist nur,
dass die Cyste mit dem Pankreas in Verbindung steht.
Traumatische Blutcysten des Mesenteriums haben Hahn, Socin be-
schrieben.
Männliche Geschlechtsorgane. Von den forensisch belangreichen Er-
krankungen der männlichen Geschlechtsorgane (Ambrosius, Vj. g. Med.
HL f. 12) erwähnen war, abgesehen von den schon oben (s. ,; Trauma und
Infection'') besprochenen tuberkulösen, resp. syphilitischen Hoden- und Neben-
hodenerkrankungen nur die traumatische Entstehung von Hydrocele, Spermato-
cele, (meist am Kopf des Nebenhodens sitzend oder mit dem corpus Highmori,
resp. den Vasa aberrantia in Verbindung stehende Samencysten als Folge-
870 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
zustände einer erlittenen Hoden-, Nebenhodencontusion). Ferner Varicocele, inso-
fern eine erwerbsmindernde Verschlimmerung durch die Contusion eintreten
kann. Hinsichtlich der unfallsweisen Entstehung der beiden zuerst genannten
liegen Recursentscheidungen des R. V. A. (VH, 111; VHI, 59; IX, 214) vor.
Weibliche Geschlechtsorgane. Auf die Erkrankungen der weiblichen
Geschlechtsorgane als Unfallfolgen (wichtig wegen der zahlreichen in Land-
wirthschaft, Textilindustrie beschäftigten Arbeiterinnen) hat zuerst Thiem in
einem auf der Braunschweiger Naturforscherversammlung gehaltenen Vortrag
(M. f. U. 1897, 10) aufmerksam gemacht. Kurze Zeit darauf hat die gleiche
Materie Schwarze (A. S. V. Z.1898, 4 und 5) behandelt. Im Allgemeinen
pflichtet er den TniEivi'schen Ausführungen bei, wenngleich er bei einzelnen
Arten von gynäkologischen Verletzungen zu anderen Schlüssen kommt. Wir
wollen im Folgenden die zur allgemeinen Orientirung nöthigen Gesichts-
punkte aus den beiden genannten Arbeiten, unseres Wissens den einzigen bis
jetzt auf diesem Gebiet erschienenen, kurz hervorheben, ohne dass wir jedoch
dabei auf die aus diesen Zuständen sich entwickelnden mittelbaren Unfall-
folgen näher eingehen können.
1. Retroflexio (-versio). Die Rückwärtslagerung des nicht schwangeren
Uterus mit ihren graduell so vielfachen Uebergangsformen scheidet Thiem
als Unfallfolge aus. Schwarze (1. c.) und v. Herff (A. L. V. Z. 1898, 7) fassen
dagegen ihre Ansicht über die plötzliche Entstehung der Retroflexio in
Uebereinstimmung mit Küstner dahin zusammen, dass sich wohl die meisten
derartigen Fälle als incorrecte Beobachtungen oder als Verschlimmerung eines
bereits vorbestandenen, wenn auch bislang ohne ausgesprochene Erscheinungen
verlaufenden Zustandes entpuppen, während sie doch — wenn auch allerdings
nur für seltenere Fälle — die traumatische Genese nicht in Abrede stellen. Sie
erachten insbesondere in jenen Fällen, in w^elchen trotz später ungestörter
Arbeitsfähigkeit die Retroflexio aus der Entwicklungszeit stammt, den Nachweis
einer traumatischen Schädigung im Sinne des Unfallgesetzes als erbracht, wenn
im Anschluss an einen an sich geeigneten Unfall (Sturz auf das Gesäss, plötz-
liche aussergewöhnliche Anstrengung) aus demselben eine starke Zerrung der
Gebärmutter resultiren kann, sich ohne weitere nachweisbare Veranlassung
Dysmenorrhoe, Kreuz- oder andere bis nach dem Magen ausstrahlende
Schmerzen, Symptome von Endometritis einstellen.
2. Anteflexio (-versio) ist nur unter ganz besonderen Verhältnissen
(gleichzeitiges Tiefertreten der Gebärmutter) als Verschlimmerung eines be-
reits vorbestandenen Leidens unfallrechtlich zu berücksichtigen.
3. Vorfall von Scheide und Gebärmutter. Hier ist in erster Linie mög-
lichst genaue Anamnese über den vorherigen Körperzustand der Verunfallten
und ihrer Leistungsfähigkeit vor dem Unfall zu erheben. Dass im Uebrigen
differentialdiagnostisch für frische und alte Vorfälle vor allem der Zustand
der Scheidenschleimhaut und der Portio Berücksichtigung erheischt, ist sattsam
bekannt. In Berücksichtigung des Umstandes, dass die Entwicklung der
Prolapse in weitaus den meisten Fällen eine allmähliche ist, ist ferner bei der
unfallrechtlichen Würdigung dieses Leidens streng zu unterscheiden zwischen
Frauen, die geboren, und solchen, die nicht geboren haben. Nur bei letzteren
liegt die hohe Wahrscheinlichkeit der plötzlichen Entstehung eines Vorfalles
durch ein bestimmt nachzuweisendes Unfallsmoment und aussergewöhnliche
Betriebsanstrengung vor, also Umstände, wie sie auch bei der traumatischen
Entstehung von Unterleibsbrüchen von maassgebender Bedeutung sind.
Bei geboren habenden Frauen dagegen und bei Greisinnen genügt die
Feststellung eines Vorfalles allein auch bei aussergewöhnlicher Betriebs-
leistung oder nach einem anderweitigen bestimmten Unfallsmoment noch
nicht für den Nachweis eines Causalnexus, sondern es ist hier vielmehr stets
zu fordern, dass die Verunfallte im directen Anschluss an den Unfall in er-
TRAUMATISCHE KRANKHEITEN. 871
heblicbem Grad in ihrer Erwerbsfähigkeit dauernd, resp. längere Zeit wesent-
lich geschädigt worden ist. Vorfälle geringen Grades bedingen hier keine
erhebliche oder dauernde Schädigung der Erwerbsfähigkeit; sie deuten viel-
mehr mit Sicherheit auf ein Vorbestehen des Leidens hin.
Keine Verschlimmerung im unfallrechtlichen Sinn erfährt completer
Scheiden- und üterusprolaps mit Cysto-, resp. Rectocele.
Bei angeblich traumatisch entstandenem Vorfall einer schwangeren
Gebärmutter ist eine abgeschlossene Beurtheilung erst nach stattgehabter
Entbindung möglich.
4. Häinatocele feminae (Hämatom des lig. rotund.) kann durch schweres
Heben und directe Gewalteinwirkung zu Stande kommen, ebenso wie auch
Hvdrocele (Ansammlung seröser Flüssigkeit infolge traumatisch veranlasster
Entzündung); Chiaki und Pollack theilen derartige Fälle mit, deren trau-
matische Genese in Rücksicht auf den infolge Entwicklungshemmungen per-
sistirenden Hohlraum in dem ursprünglich einen Hohlmuskel darstellenden
runden Mutterband, a priori wahrscheinlich erscheint, indem in den präfor-
mirten Hohlraum die traumatisch erzeugte Blutung, resp. der entzündlich-
seröse Erguss erfolgt.
.5. Coecygodynie, mitunter sehr heftige, namentlich bei Berührung und
Lageveränderung des Steissbeines sich steigernde neuralgische Schmerzen im
Gebiet des Plexus coccygeus, können entstehen durch Fall auf das Gesäss
Fracturen etc. Bei der gerichtsärztlichen Beweisführung des inneren Zusammen-
hanges ist zu berücksichtigen
a) ob die Verletzung wirklich das Steissbein getroffen haben kann,
h) eventuell und insbesondere bei geboren habenden Frauen Vorbestehen
des Leidens.
6. Traum atis che Affectionen der Gebärmutter, Ovarien.
Directe Unfallfolgen, soweit sie hier zu berücksichtigen sind, kommen
bei der gedeckten Lage der nicht vergrösserten Gebärmutter wohl kaum in
Betracht.
Die Verjauchung eines Myoms infolge eines directen Trauma ist als
Unfallfolge anzuerkennen bei continuirlichem Zusammenhang der Krankheits-
erscheinungen. Nach Analogie unserer Ansicht über die Beeinflussung an-
derer Unterleibsorgane durch stumpf einwirkende Gewalt finden die eiter-
erregenden Mikroben, deren Durchtritt durch die traumatisch geschädigte
Darmschleimhaut erleichtert ist, in der durch traumatische Blutungen, ander-
weitige Gewebsläsionen etc. disponirter gewordenen Geschwulst entsprechend
günstige A^erhältnisse für ihre Weiterentwicklung.
Von den aus Gewalteinwirkung auf die schwangere Gebärmutter resul-
tirenden Folgezuständen sind zu nennen:
a) Aborte; der Zusammenhang ist bekannt genug, wenn auch die Häufig-
keit der im hier zu besprechenden Sinne traumatisch provocirten Aborta nicht
so gross ist, als man ohne weiteres anzunehmen geneigt ist.
b) Uterusruptur, zu deren richtiger Würdigung Schwärze die genaue
Berücksichtigung des ganzen Unfallherganges und des weiteren Verlaufes für
unerlässlich hält; im Uebrigen erheischt dieselbe ebenso wie
c) vorzeitige Placentarlösung, Platzen und Einreissen von Ovarialcystomen
und eine Pteihe von anderen Afiectionen, sofortiges Eingreifen, und gehört
deren weitere Besprechung deshalb nicht mehr in den Pahmen dieser Arbeit.
7. Traumatische Erkrankuugen der Gebärmutteranhänge.
Bis zu dem Unfall gesunde Adnexe sind von vorneherein auszuscheiden.
Bei schon erkrankten (meist gonorrhoisch inficirten) Anhängen können, wie
leicht erklärlich, durch indirecte Gewalteinwirkungen schwere Folgezustände
hervorgerufen werden.
872 TRAUMATISCHE KRANKHEITEN.
Schwarze (1. c.) erörtert die Folgen der für die oft recht schwierige
forensische Beurtheilung maassgebenden Gesichtspunkte:
a) Bei noch bestehender gonorrhoischer Infection ist der Nachweis einer
unfallsweisen Verschlimmerung in der Regel unmöglich, da die gonorrhoische
Infection an und für sich schon etappenartige, plötzliche Verschlimmerungen
und Fortschritte macht, ganz unabhängig von äusseren Einflüssen.
b) Bei mangelndem Beweis einer noch bestehenden gonorrhoischen In-
fection ist eine bestimmte aussergewöhnliche Gewalteinwirkung oder Betriebs-
anstrengung zu verlangen, weil bei allen chronischen Entztindungszuständen
der Adnexe schon durch geringfügige, gesunde Frauen in keiner Weise schä-
digende Anstrengungen, plötzliche Verschlimmerung eintreten kann.
c) bei einem Missverhältnis zwischen Schwere des Unfalls und Erheblich-
keit der Verschlimmerung ist ein ursächlicher Zusammenhang auszuschliessen.
d) Die Verschlimmerung muss sich unmittelbar an den behaup-
teten Unfall anschliessen, ein freier Zwischenraum von mehreren Tagen lässt
den Zusammenhang mindestens schon zweifelhaft erscheinen.
e) genaueste Berücksichtigung des Grades, Dauer, Gesammtverlaufes der
vorbestandenen Erkrankung.
Peritonitis. Dass eine Contusion des Abdomens auch ohne äussere Wunde
und Zusammenhangstrennung eines der Unterleibsorgane zu allgemeiner oder
localisirter Bauchfellentzündung führen kann, wird heutzutage nicht mehr
bezweifelt. Hinsichtlich der Provenienz der Entzündungserreger verweisen
wir u. a. auf die sub Leber und Gallenblase stehenden Ausführungen. Die
gutachtliche Seite der acuten traumatischen Peritonitis erfordert keine be-
sondere Besprechung.
Die praktische Wichtigkeit der als Residuen einer acuten traumatischen
Peritonitis oder als Endstadien einer von Beginn an chronisch und schleichend
verlaufenden Adhäsiv-Peritonitis persistirenden peritonealen Verwach-
sungen haben u. a. Riedel (Langenbecks Archiv Bd. 47) und neuerdings
FtJßBßiNGER (A. S. V. Z. 1897, 7) hervorgehoben. Wenn auch in der Mehr-
zahl der Fälle die chronischen peritonealen Verwachsungen fast oder ganz
symptomlos sind, so bleibt doch noch eine stattliche Zahl übrig, in denen,
von der Gefahr des Ileus abgesehen, die heftigsten Schmerzen thatsächlich
vorhanden sind, und zwar steht die Intensität der durch die Verwachsungen
veranlassten Beschwerden meist in einem nur mangelhaften Verhältnis zur
Ausdehnung derselben.
Riedel (27. Congr. der D. G. f. Chir.) würdigt die chronische Peritonitis als ätiolo-
gischen Factor der Wanderniere (s. o.). In Fällen weiter vorgeschrittener Nephroptose
ist eine Verwechslung der herunter getretenen Niere mit der prall gefüllten Gallenblase
möglich, um so mehr als oft gleichzeitig infolge von Abknickung des Duodenum durch das
Heruntersinken der Niere Icterus besteht.
Inwieweit wirkliche Visceralneuralgien vorliegen, oder ob ein Theil der
Beschwerden aus der durch den Unfall mit veranlassten reizbaren Schwäche
des Nervensystems, die in neurasthenischer oder hypochondrischer Färbung des
Gesammtkrankheitsbildes sich ausdrückt, resultirt, diese Fragen können nur in-
dividualisirend in Erwägung gezogen werden. Jedenfalls mahnt die Schwierig-
keit einer exacten Diagnose in concreto mit dem Urtheil Simulation vor-
sichtig zu sein.
Walthard (Corr. bl. f. Schw. Aerzte 1898) referirt über eine interessante Beobachtung,
wo nach einer klinisch einzig und allein mit dem Symptom „Schmerz" verlaufenden
Affection anatomisch eine circumscripte Peritonitis zu Grunde lag, wie die Laparotomie er-
geben hat. Auch er warnt bei einem durch Trauma auf das Abdomen Verunfallten vor
der übereilten Diagnose: traumatische Neurose oder Simulation.
Prognostisch ist zu erwähnen, dass, nach den bis jetzt erzielten
Operationserfolgen zu urtheilen (Crede, Lauenstein), die post operationem
zunächst eintretende günstige Wendung und Besserung in dem Befinden
noch nicht die definitive Heilung gewährleistet. e. schäffer.
TROPENIIYGIENE, 873
Tropenhygiene. Erst seit dem letzten Decennium findet man das Wort
„Tropenhygiene" in der Literatur mehr ausgesprochen und die Tendenz, die
Hygiene in den Tropen zu specialisiren. Hervorgerufen wurden diese Be-
strebungen unabhängig von einander durch die verschiedensten Forscher und
Tropenärzte, welche einsahen, dass die für die Länder aussertropischer Zone
geltende allgemeine Hygiene nicht ohne weiteres auf tropische Oertlichkeiten
angewandt werden konnte, vielmehr auf die den Tropen anhaftenden eigen-
thümlichen Schädlichkeiten zugepasst werden müsse. Dazu kommt noch in
den Tropen die private Hygiene, l'hygiene privee ou individuelle der Fran-
zosen, welche die allgemeine Hygiene nicht kennt. Die Tropenhygiene könnte
man darnach als einen Z^veig der allgemeinen Hygiene betrachten, auf deren
wissenschaftlicher Grundlage sie steht. Wenn die Aufgabe der Hygiene in
Europa in der Stärkung und Bewahrung der Gesundheit der Bevölkerung
besteht, so deckt sich damit die Aufgabe der Hygiene in den Tropen eigent-
lich nur in Bezug auf die Eingeborenen, denn für Europäer ist dort eine
Stärkung der Gesundheit, wie sie in Europa war, trotz aller Kunst nicht zu
erzielen gewesen, und auch die hygienischen Maassnahmen, die Gesundheit zu
bewahren, stossen wenigstens im Tropentieflande auf die grössten Schwierig-
keiten. Indem man stets auf eine Akklimatisation der Europäer in Tropen-
ländern sein Augenmerk richtete und darüber Untersuchungen anstellte, deren
Resultate theils einander widersprechend, theils ungenauer Art sind, trennte
man Akklimatisation von Tropenhygiene. Die Aufgaben der Akklimatisation,
d. h. des Zuthuns der Europäer zur Anpassung an die Tropen, bestehen aber
wesentlich in der Bewahrung der früheren Gesundheit und Kraft in den neuen,
veränderten und gefährlichen Verhältnissen. Die Fragen, welche sie in sich
enthalten, kann jedoch nur die Hygiene beantworten, welche allein dazu be-
rufen ist, einschlägige Maassnahmen zur Erreichung eines solchen Zweckes
vorzunehmen.
Nachdem schon Virchow und Hirsch auf Grand statistischer und anthropologischer
Studien, die Möglichkeit einer Akklimatisation der weissen Rasse in den Tropenländern in
Abrede stellten und eine Anzahl von Untersuchern in den Tropen, wie Moore, Bondin,
Treille, PtoCHARD sich grösstentheils in ungünstigem Sinne darüber äusserten, Yon Deutschen
auch KoHLSTOCK für Ostafrika-eine Akklimatisation der Europäer verneint, habe ich, neben
dem Franzosen Navarre, in mehreren ausführlichen Arbeiten die ganze Nichtigkeit der
bisherigen Akklimatisationsfrage, speciell soweit sie sich auf das Tropentiefland bezieht,
nachgewiesen und festgestellt, dass da, wo in einem Gebiete mit ausgesprochenem tropischen
Charakter Europäer in grösserer Anzahl colonisirten und seit langer Zeit kräftigen Nach-
wuchs erzielten, es sich stets um eine Mischrasse handelt, welche in einzelnen Ländern, wie
z. B. im spanischen Südamerika, auf einigen Inseln des ostindischen Archipels, bei Aus-
schluss fremden Blutes zuletzt einen bestimmten Typus zeigt, der indessen mit dem euro-
päischen oft wenig gemein hat. Eine scheinbare Ausnahme von dieser Regel macht Queens-
land in Australien, an der Tropengrenze gelegen, wo Europäer in grosser Anzahl sich un-
vermischt und kräftig erhalten haben, allein Queensland hat keinen tropischen Charakter,
es ist wie das Kapland subtropisch zu nennen, hat eine wenig feuchte Luft, ist nicht mit
tropischem Urwald besetzt, sondern ähnelt einer Parklandschaft, so dass, wie Schellong
betont, die Sonnenstrahlen tief in die Erde eindringen können, und Nachts die Erdwärme
ausstrahlt.
Diejenigen, welche noch immer an der Akklimatisationsfähigkeit des Euro-
päers in den Tropen festhalten, berufen sich wie Stokvis auf einzelne Fälle,
wo Europäer anscheinen gesund blieben und sich mehrere Generationen hin-
durch fortpflanzten. Aber auch in solchen Fällen ist gewöhnlich fremdes
Blut nachzuweisen und Zufuhr des weiblichen Theiles aus Europa, oder es
handelt sich um Ungenauigkeiten. Ausserdem halten sich wohlhabende
Familien meistens in dem gesünderen und kühleren Hochgebirge auf und
lassen ihre Kinder in Europa erziehen. Diese w-enigen Fälle, auch wenn sie
ganz rein w^ären, sind, gegenüber den Massenbeweisen, hinfällig, und wir
sind demnach nicht berechtigt, von einer irgendwie erfolgenden Tropen-
akklimatisation von Weissen zu sprechen, vielmehr die Fragen obenan zu
stellen: Worin liegen die Einflüsse auf die Gesundheit des Europäers in
874 TROPENHYGIENE.
den Tropen: I. soweit nur das Milieu an sich, abgesehen von Infections-
keimen, in Betracht kommt; II. wie äussern sie sich; III. wie können ihre
Schädlichkeiten, besonders die auf Infection beruhenden gemindert werden,
so dass der Europäer es möglichst lange aushalf? Wenn man der Definition,
welche Rubner vom Klima gibt, folgt, Klima bedeutet hygienisch „alle die
durch Lage eines Ortes bedingten Einflüsse auf die Gesundheit", so muss
meine Ausdrucksweise in der eben gegebenen Fragestellung nicht überraschen,
denn die Einflüsse der Tropen auf die Gesundheit liegen weniger in der
hohen Wärme der Tropenluft, nicht allein in ihrem Feuchtigkeitsgehalte, in
ihren Bewegungen (Winden), dem Regenfall, als in der Combination des
sogenannten Klimas mit Bodeneinflüssen und in den mehr äquatorialen
Gebieten zugleich in dem Constantbleiben der Hauptfactoren des Klimas,
worunter der europäische Organismus leidet, weil ihm abwechselnder Kälte-
und Wärmereiz fehlt, dessen seine nervösen Centren bedürfen, um nicht
gewollte Bewegungen, wie z. B. tieferes Athmen, auszulösen. Man könnte darnach
versucht werden, die Blässe des Gesichtes der Weissen in den Tropen auf die
geringeren Reize, welche die Lungenvagusnerven treffen, zurückzuführen. Auch
der Schlaf des Europäers in den Tropen ist ein durchaus ungenügender und
nicht annähernd so tief als in Europa. Hier tritt uns zu starke Reizwirkung
der heissen und feuchten Tropenluft auf das Gehirn entgegen. Man wird
nach obigen Ausführungen und ähnlichen vielfältigen, hier des Raumes wegen
nicht auszudehnenden Beispielen zugeben, dass die Hygiene in Europa mit
solchen Vorkommnissen und Einflüssen auf die Gesundheit jahrein, jahraus
nicht zu rechnen hat. Noch anders stellt es sich, wenn man berücksichtigt,
welche Einflüsse schädlicher Art den Europäer von Seiten der Eingeborenen
treffen, besonders wenn er gezwungen ist, mit ihnen enger zusammenzuleben,
sie, die meistens die einfachsten und natürlichsten Regeln der Hygiene nicht
befolgen oder kennen, dabei doch kräftig sind und sich so fortpflanzen. Hier
in diesem Aufsatze sollen die Eingeborenen nur vorübergehend, auch in der pri-
vaten Hygiene, welche wir hervorheben möchten, erwähnt werden. Es ist
auch leicht zu folgern, dass in einer menschlichen Ansiedlung mit solcher
gemischter Bevölkeruog, trotz geschriebener Gesetze, die Schwarzen sowohl
Wohnungen, als den Boden durch Unrath aller Art verpesten, noch mehr auf
Expeditionen und Karawanenzügen, wo der Europäer mit ihnen in noch engerem
Connex steht. Durch die w^eitere Ausführung dieser Thatsachen soll die
Beantwortung der sich aufdrängenden Hauptfragen erfolgen. Man beobachtete
methodisch seit 20 Jahren bereits, dass, wie schon angedeutet, die
meteorischen Factoren des Begriffes „Klima" nicht allein einen besonders
schädlichen Einfluss auf die Gesundheit des Europäers in den Tropen aus-
üben. Um diesen Einfluss zu studiren, kann man den Tropenboden aus-
schalten, indem Schiffsmannschaften, welche in der Nähe der Küste jahre-
lang auf Schiffen zubringen, beobachtet werden.
VAN Leent, Generalarzt der niederländischen Marine, hat darüber vor allen Anderen
zuerst interessante Resultate erbracht. Es geht daraus hervor, dass die an 3600 Mann
(Europäer) betragende Besatzung holländischer Kriegsschiffe, welche ohne Unterbrechung
drei bis fünf Jahre im Geschwaderverbande im indischen Archipel bleiben müssen und
meistens zur Blokade, besonders an der Atjehküste, verwandt werden, mit der Zeit eine
geringere — vom Verfasser mit dem Dynamometer gemessene — Muskel- und Hubkraft
zeigen und, im Ganzen genommen, erschlaffen, sonst aber gesund bleiben, da sie sehr selten
an Land kommen und dort logiren. Selbst die Mariniers, Seesoldaten, welche bei kriege-
rischen Operationen am Lande ausgeschifft werden und ab und zu en masse länger als
einen Tag an Land bleiben müssen, wurden nur nach solchem Aufenthalte und Anstren-
gungen in bemerkenswerter Weise krank, sonst kamen, wenn sie grösstentheils an Bord
blieben, bestimmte, eigentliche Erkrankungen nicht viel mehr vor als ausserhalb der Tropen.
Durch eine Reihe anderer Forscher, sowie meine eigenen Beobachtungen
wurden van Leent's Resultate nur bestätigt, seitens der Franzosen wurde,
was als indirecter Beweis für die hygienisch günstige Ausschaltung des Tropen-
TROPENHYGIENE. 875
bodens gelten kann, neuerdings auf die überaus günstigen Resultate hin-
gewiesen, welche sie in den letzten lünf Jahren, nach Einführung von eigenen
Krankenschitfen, bei tropenkranken Europäern machten, eine Einrichtung, die
bei den Engländern und Niederländern ebenfalls, aber in anderer Weise
besteht, nämlich so, dass bei ihnen der Patient in den Tropen bleibt, bei den
Franzosen aber eine Reise bis Europa macht und währenddessen häufig schon
gesundet. Es ist, um nicht in diesem Artikel weitschweifig zu werden, aus
diesen und anderen Beobachtungen ersichtlich, dass die meteorischen Factoren
des Tropenklimas also keinen bedeutenden oder direct gefährlichen Einfluss auf
die Gesundheit des Europäers ausüben, vorausgesetzt, dass er sich gegen die
intensiven Sonnenstrahlen, wie auf Schiffen durch die Bedeckung des Kopfes
vorgesehen, schützt. Indessen ist nicht zu leugnen, dass bei einzelnen Schiffs-
bewohnern in den Tropen sich ein höherer Grad von Schwäche nach längerer
Zeit herausbilden kann, der unter Umständen die Repatriirung nothwendig
erscheinen lässt; häufig sind diese Fälle aber nicht, sie sind eher zu den
Ausnahmen zu rechnen, gewöhnlich ist nur eine geringe Abschwächung der
Muskelkraft und der vitalen Energie.
Wenn schon diese Schiffsbevölkerung sowohl durch das Fehlen des in
der Heimat gewohnten Kältereizes und des in dem Wechsel der Witterung
liegenden, welche unser Nervensystem verlangt, leidet und dadurch, wie durch
die schwierigere physikalische W'ärmeregulirung erschlafft, so noch in viel
höherem Grade der Landbewohner, besonders an der flachen Küste und im
Tieflande der Tropen. Hier macht sich die frische Seebrise nicht in dem
Maasse bemerkbar, wie auf dem Meere, selbst in der Küstennähe, welche
noch durch die Vorwärtsbewegung der Kreuzerschiffe erhöht wird und die
Wärmeabgabe und Verdunstung erleichtert, hier erwärmt die von der tropischen
Sonne bestrahlte Erde durch Rückstrahlung und Leitung die unteren Luft-
schichten in noch höherem Maasse als auf dem Meere und Waldungen halten
die Luftströmungen nur auf. Die auf dem Meere, fehlenden Mosquitos rauben
Nachts dem Weissen nicht allein den an sich schon mangelhaften und nicht
tiefen Schlaf, sondern verletzen die Haut in empfindlicher Weise, Insulte,
denen die Haut des pigmentirten Tropenbewohners wenig ausgesetzt ist. Das
Sättigungsdeficit der Luft am Strande der Tropenländer, wo die meisten Euro-
päer sich aufhalten müssen, ist nicht grösser als auf dem Meere selbst. Alle
diese Momente bedingen, dass der Europäer im tropischen Strandklima die
vom Körper erzeugte Wärme, welche, wie eine Reihe von Forschern fest-
stellte, im Blut sich auf derselben Höhe (37-2'^ C.) hält als in Europa, nur
schwierig und stets nur unter Zuhilfenahme ausgiebigster Schweissverdunstung
an die umgebende, feuchtheisse, wenig bewegte Luft abgeben kann, schwieriger
noch als auf den mit Sonnensegeln versehenen Schiffen. Dazu kommt, dass
die Bewegungen des Schiffspersonals kurz andauernde genannt w^erden können.
Der Raum beengt, anders am Lande, wo der Europäer grössere Strecken
zurücklegt, sei es zu Pferde oder zu Fuss. Expeditionsmitglieder und Sol-
daten haben täglich lang andauernde Körperbewegungen auszuführen, die eine
grössere Wärmebildung im Organismus veranlassen, welche durch die physika-
lische Wärmeregulirung zur Erhaltung der erwähnten Wärmebilauz nur schwie-
rig ausgeglichen werden kann, trotz günstig ausgewählter Kleidung. Selbst in
der Ruhe producirt der Weisse eine bei uns im heissen Sommer ungewöhn-
lich grosse Menge von Schweiss. Es ist nachgewiesen, dass 957o der von
der Haut abzugebenden Wärme zur Verdunstung des Schweisses verwandt
werden, 5% beziehen sich auf Strahlung, Leitung und Perspiratio insensi-
bilis. Hieraus ist die grosse Menge der durch Bewegung und anstrengende
Arbeit in den Tropen erzeugten VVärme zu ermessen, die nicht ein gewisses
Maass übersteigen darf, weil sie nicht abgegeben werden kann und so durch
W^ärmestauung das Leben gefährden würde. Der Europäer ist deshalb in den
876 TROPENHYGIENE.
Tropen nicht völlig arbeitsfähig und muss sein Thun auf ein Mindestmaass
beschränken. Alle Pulse klopfen schon bei massiger, andauernder Bewegung.
Ich habe anderenorts meine darauf bezüglichen Beobachtungen an einem grossen
Soldatenmaterial publicirt und sie mit solchen an schwer arbeitenden Eingeborenen, wie
mit den gleiche Arbeit — Märsche — leistenden eingeborenen Soldaten verglichen. Bei
Weissen stieg die Pulszahl während des Marsches auf 100 pro Minute schon nach
30 Minuten und nahm erst nach längerer Ruhe bis auf 82 ab, Schwarze hatten höchstens
90 p. M. und waren nach mehrstündigem Marsch noch frisch und munter, während die
Weissen öfters, wenn auch nur ganz kurz, rasteten. Dieses gilt für das Strandklima.
Der Weisse befindet sich also in den Tropen im steten Kampfe mit der
Hyperthermie, der Ueberhitzung seines Blutes, und dieses ist das Punctum
saliens in der Würdigung der Schädlichkeiten des Klimas für den Europäer.
Durch die Untersuchungen Eykmann's, Glogner's, Lehmann's, auch des Ver-
fassers, ist festgestellt, dass der Europäer in den Tropen trotz verschiedenartiger
Nahrung nicht weniger Wärme producirt als in Europa und nicht mehr als
der Eingeborene. Die chemische Wärmeregulirung des Europäers erleidet in
den Tropen keine irgendwie bedeutende Veränderung. Wird demnach vom
Europäer in den Tropen dieselbe Wärmequantität erzeugt wie in Europa, und
bleibt trotz höherer Tropenluftwärme seine Körpertemperatur, wie erwähnt,
dieselbe, so ist dieses Constantbleiben nicht der chemischen, sondern der
physikalischen Wärmeregulirung (Rubner) zuzuschreiben. Hierdurch aber,
d. h. durch die geschilderte hochgespannte Regulirung, bei erschwerter Wärme-
abgabe, sammelt sich, wie festgestellt, das Blut in der Bauchhöhle an, und es
steigert sich die Arbeit innerer Organe, besonders die des Herzens und auch
der stärker bluthaltigen Leber, welche in den Tropen in nicht unbeträcht-
lichem Maasse ihre Schutzkraft gegen Toxine einbüsst, und so wird der im
Kampfe gegen die Hyperthermie geschwächte Weisse leichter eine Beute
der tropischen Infectionskrankheiten, wie der klimatischen Krankheiten, welchen
der Eingeborene leichter widersteht, da bei ihm diese Folgezustände nicht
eintreten und er im Stande ist, trotz anstrengender Arbeit seine Wärmeab-
gabe unbelästigt zu besorgen. Ein weiteres Eingehen auf die Beantwortung
der oben gestellten Fragen nach den Einflüssen des Tropenklimas auf den
Weissen und wie sie sich äussern, mag hier unterbleiben; es muss auf meine
früher publicirten Abhandlungen in den „Grundzügen der Tropenhygiene",
„Französische und niederländische Tropenhygiene" und in mehreren Fachzeit-
schriften zerstreute Arbeiten hingewiesen werden. Zu bemerken wäre aber
des Verständnisses wegen, dass, wenn auch der Stoffwechsel und die Wärme-
production des Europäers auf Grund experimenteller Untersuchungen gegen-
über der in Europa bei annähernd gleichartig ernährten Soldaten unverändert
befunden wurde, doch Schwankungen nicht ausgeschlossen sind, und es muss
darauf hingewiesen werden, dass die gesteigerte Arbeit innerer Organe auch
eine Arbeitsleistung ist, die mit erhöhter Wärmeproduction einhergeht.
Die praktische Frage, wie einem solchen Zustande des Europäers in den
Tropen abzuhelfen sei, wenigstens insoweit, dass er befähigt ist, längere Zeit
dort auszuhalten, ist nach dem vorgehend Erläuterten nicht so schwer zu
beantworten. Einmal soll seine Arbeitsleistung keine körperlich dauernd an-
strengende sein, weil sonst gefährliche Zustände wie Hitzschlag, Gehirncon-
gestion, Collaps erfolgen können; körperliche Uebungen auszuschliessen, w^äre
aber fehlerhaft, sie dürfen nur nicht zu lange dauern und zur Erschöpfung
leiten und müssen zu passender Tageszeit im Schatten ausgeführt werden.
Die Nahrung sei nicht zu reichlich und nicht zu fettreich, da Fett bekanntlich
mehr Wärme im Körper erzeugt. Niemals sollte das kalte Bad fehlen, am
besten badet man zweimal täglich in den Tropen und versuche, auf harten
guten Wärmeleitern zu schlafen, am besten auf Korkunterlagen. Die
normale Nervenspannung und die der Centralorgane wird man durch solche
Mittel und Verhalten kaum völlig herstellen; übrigens ist ein heiteres Gemüth
und das Aufsuchen damit begabter Menschen sehr zu empfehlen, alle anderen
TROPENHYGIENE. 877
lasse man möglichst ganz bei Seite und lasse ihre oft zur Bösartigkeit ge-
steigerte Hysterie nicht auf sich einwirken. Alle diese Mittel sind palliative;
will man ernstlich den Europäer unter bessere Verhältnisse bringen, so ist
der dauernde Aufenthalt im Strandklima der Tropen auszuschliessen, so dass
er möglichst nur kürzere Zeit am Tage sich dort befindet und dann mit Be-
nützung modernster Verkehrsmittel in die den Tropenküsten fast ausnahmslos
nahen Gebirge oder Vorberge zurückkehrt, wo eine kühlere, trockenere Luft
ihn empfängt, die Nächte angenehmer sind, wo auch Mosquitos fehlen und
wo er sich subjectiv wohl fühlt. Auch das Verweilen auf Schiffen oder Hulks
mag als ein Aushilfsmittel gelten.
Wir haben in dieser Abhandlung die Frage nach der Einwirkung des
Tropenklimas speciell der Niederungen vorangestellt, einmal, weil dadurch die
eingewurzelten Unklarheiten der Akklimatisationslehre beleuchtet und besei-
tigt werden und weil es für das Verständnis der Hygiene in den Tropen un-
umgänglich nöthig erscheint, schon um zu wissen, um was es sich hier
eigentlich handelt und mit welchem Menschenmaterial der Hygieniker und
Arzt zu thun haben.
Die weiteren praktischen Fragen, wie wir den durch das Tropenklima
an sich schon geschwächten Europäer vor bestimmten Krankheiten schützen
sollen, werden uns auf die Capitel der Hygiene: Wohnung, Krankenhaus-
anlagen, Ernährung, Quarantainemaassregeln, Trinkwasser etc. hinleiten, w^elche
aber hier nur gestreift oder skizzirt werden können.
Die hauptsächlich in Betracht kommenden direct krankmachenden Schäd-
lichkeiten der Tropenländer beruhen nach vielfältigen Erfahrungen im Boden
und in vom Boden und Pflanzen abhängigen Thieren, resp. blutsaugenden
Insecten. Wir sehen die Malariakrankheit als die häufigste und verderblichste
für den Weissen in den Tropen, ebenso die Beri-Beri-Krankheit als von
Bodeneinflüssen bedingte Krankheiten an, weil sie nur an gewissen Oertlich-
keiten entstehen und bei Ausschaltung dieses Bodens am besten heilen.
Nach Erdarbeiten in grossem Stil, wie auch nach Erdbeben mit Aufreissen
des Bodens sieht man an früher wenig von Malaria und Beri-Beri heimgesuchten
Orten diese Krankheiten epidemieartig auftreten. Dysenterie entsteht durch das
Trinken inficirten Oberflächenwassers, die Keime (Amöben) halten sich in den
Dejecten von Dysenteriekranken lange Zeit am Boden lebendig, werden vom
Ptegenwasser aufgenommen und oft aus Pfützen getrunken, oder sie gelangen direct
oder indirect in das Brunnenw^asser, resp. in das von Cisternen, von wo aus sie in den
menschlichen Magen und Darm gelangen. Es hat den Anschein, als ob auch
diese Keime durch die Piegengüsse der Tropen in die wasserhaltige, bis 2*5 m
tiefe Bodenschicht gelangen, w^o besonders Eingeborene sich Wasserlöcher
hineingraben.
Die niederländische Regierung hat eine Verordnung erlassen, wonach keine Privat-
person in Niederländisch-Indien ohne besondere Erlaubnis auf weniger als 35 m Tiefe dem
Boden Trinkwasser durch Brunnenanlagen entnehmen darf. Ausserdem sind an den Haupt-
plätzen artesische Brunnen angelegt, welche unter Staatsaufsicht stehen. Hierdurch ist
z. B. die Mortalität an Dysenterie unter den Truppen, welche 1828 noch 17 % betrug, bis
zum Jahre 1892 auf 0"2% heruntergegangen. An den Garnisonplätzen, welche seit 10 Jahren
mit gutem Trinkwasser versorgt sind, ist die Dysenterie so gut wie verschwunden.
Nicht so einfach wie mit den hygienischen Erfolgen bei Dysenterie steht
es mit der Malaria. Zur Abwehr aller am Boden haftenden Krankheitskeime, wozu,
wie neuerdings festgestellt wurde, auch die der Pest gehören, indem die Ratten
den Infectionsstoff placiren, tritt in erster Linie die Wohnungshygiene und
die Auswahl des W^ohnplatzes, nebst etwaiger Bodenassanirung hervor. Da die
Malaria auf enorm grosse Strecken Landes in den Tropen verbreitet ist, auch ohne
dass sich Sümpfe finden, so hat die Hygiene zwei Wege einzuschlagen, entweder
den Boden zu assaniren und passende Wohnhäuser darauf zu errichten, in denen
in bestimmter Höhe über dem Boden gewohnt wird, oder sie hat malariafreieu
Boden aufzusuchen und als solchen zu bestimmen. Der eigentlichen ärzt-
878 TROPENHYGIENE.
liehen Thätigkeit ist es vorbelialten, die Krankheiten selbst zu behandeln, aber
in den Tropen stellt ein Höhensanatoriuni auf gesundem oder sterilem Boden
eine praktisch-hygienische Anstalt dar, weil dort nicht allein malariakranke
Europäer ohne ärztliches Eingreifen gesunden, sondern auch der durch das
Tropentiefiand geschwächte, abnorm functionirende Organismus in ein für ihn
passendes Klima kommt, in dem er sich erholt und frische Kräfte schöpfen
kann. Der Boden selbst, je nach seiner Zusammensetzung und dem Gefälle,
kann jedoch nur in seinen oberflächlichen Schichten als Nährboden für Malaria-
keime oder als Brutstätte derselben seitens blutsaugender Insecten gedacht werden.
Die Theorie R. Koch's, wonach Malaria wahrscheinlich durch Mosquitos über-
tragen wird, wäre mit genannten Befunden wohl zu vereinbaren.
Die Wirkungen des tropischen Höhenklimas auf den Europäer und ihre Ursachen
sind von mir früher auch an Ort und Stelle, sowohl in Indien als m Afrika studirt worden;
in neuester Zeit von Kohlbrügge auf dem 1700 m hoch auf Java gelegenen Sanatorium
Tosari und dem etwas niedrigeren Poespoe an grossem Material, ausserdem von einigen
Militärärzten auf hochgelegenen Orten des indischen Archipels. Daraus erhellt, dass bei
gesunden Personen aus der Ebene der Hämoglobingehalt und die Zahl der rothen Blut-
körperchen derselbe bleibt, also ganz im Gegensatz zu den Wirkungen des Höhenklimas
in Europa, wo derselbe sich erhöht, dass beides aber sich vermehrt bei Besserung des Zustandes
kranker, blutarmer Patienten. Nicht ganz 24% von Malariakranken verloren das Fieber
nicht und mussten die Höhen verlassen, um meistens, wenn noch möglich, Europa aufzu-
suchen; die übrigen verlieren auf bestimmten Plätzen, so auf Tosari, das Fieber vom
Tage ihrer Ankunft an; es kehrt in den ersten drei bis vier Wochen wieder, wenn
die Patienten anstrengende und andauernde Bewegungen, Bergpartien, grössere Spazier-
fahrten etc. machen, in der Ruhe nicht. In letzterem Falle bemerkt man im peripheren
Blut nur ausnahmsweise active Malariaparasiten, nach Anstrengungen gelangen sie in
grösseren Mengen aus den inneren Organen, besonders der Milz und aus dem Knochen-
mark, wieder in die Circulation, sporiiliren und rufen so wieder Fieberanfälle hervor
(Beobachtung von Kohlbrügge und Anderen). Wenn dagegen mehrere Wochen der grössten,
am besten absoluter Ruhe verflossen sind und der Patient dann beginnt, nicht oder wenig
anstrengende Märsche mit Ruhepausen zu machen, und so fort, so kehrt das Fieber nicht
wieder, die Malariaparasiten bleiben latent oder verschwinden ganz auch aus den Organen.
Das Milzblut zeigt sich frei davon. Ausserdem nimmt der Patient an Körpergewicht von
Woche zu Woche zu.
Die von KoHLBRtJGGE, Eykmann und Anderen in Indien ausgeführten
Blutkörperchenzählungen und Hämoglobinbestimmungen sind indessen nicht
absolut genau, weil die Trockensubstanz des Blutes nicht bestimmt und dabei
in Rechnung gezogen wurde, auch nicht das specifische Gewicht des Serums.
Ich habe früher nachgewiesen und in verschiedenen Arbeiten darauf auf-
merksam gemacht, dass Europäer, welche längere Zeit in den Tropen lebten,
eine Verminderung des Wassergehaltes ihres Blutes zeigten und relative Er-
höhung der Trockensubstanz, ausserdem ist bei Vergleichen zwischen Blut-
körperchengehalt in den Tropen und Europa und in verschiedener Höhe hier
wie dort der geringere Druck auf die Zählkammer in Betracht zu ziehen, der
in bedeutender Höhe und auch noch in der Tropenebene bei leichterer Luft
vorwaltet. Wenn daher ein jahrelang in den Tropen verweilender und thä-
tiger Europäer dort noch annähernd so viel Blutkörperchenzahl aufweist als
normaler W^eise in Europa, so ist daraus noch nicht der Schluss zu ziehen,
dass nicht die geringste Anämie vorhanden sei.
Die günstige Wirkung des tropischen Hochgebirgsaufenthaltes auf die
Malariakrankheit bei Europäern haben jedoch keineswegs die günstigere,
kühlere, an wenig waldreichen Orten weniger feuchte, vom Bergwind be-
wegte Luft und die kühlen erfrischenden Nächte zur Ursache. Es kommt
dabei vielmehr auf die örtliche Lage im Hochgebirge an, mit malariafreiem
Boden, so dass der Patient nicht hier wie anderswo täglich Neuinfectionen,
wie wir grösstentheils annehmen, durch Einathmung keimhaltiger Luft vom
Malariaboden hervorgebracht, erleidet.
Es ist von mir zuerst darauf hingewiesen, dass jedes Terrain in den Höhen, wo in
grosser Ausdehnung nackter Felsboden oder Vulkanschlacken sich befinden, malariafrei
ist, dass aber da, wo Humusschichten vorherrschen, die Höhe nichts ausmacht, sondern
nur einzig und allein die abschüssige Lage des Ortes und die damit verbundene lebhaftere
TROPENHYGIENE. 879
Wasserbewegung in der mit der Luft noch communicir enden, wasserhaltigen, bis
1 bis 1-2 VI tiefen Bodenschicht, der die circa 25 ati hohe, zeitweise trockene, poröse Oberschicht
aufliegt. Auf dem Gipfel eines Berges, der flach genug ist und keine ausreichende natürliche
Drainage hat, ist gewiss Malaria endemisch, ebenso auf Plateaus mit oft geradezu sumpfigen
Strichen. Hingegen sind gemäss diesen gesetzmässig sich in den Tropen wiederfindenden
Verbältnissen abschüssige Höhenlagen frei von Malaria, vorausgesetzt, dass nicht weiter unten
stauungbefördernde Factoren auftreten, die technisch nicht zu überwinden sind. Man
misst die Ausgiebigkeit der Wasserbewegung in der betreffenden Bodenschicht nach Bohrungen
in verschiedenen geraden Linien nach unten durch die Höhe des sich ansammelnden Wassers-
Versuche, welche ich früher mit Salzen machte, die an einem Funkte in den Boden ge-
bracht wurden und nun weiter unten in bestimmter Zeit nachgewiesen werden konnten
sind nicht absolut sicher, aber sie beweisen doch die Weiterbewegung des sonst auf flachem
Terrain slagnirenden Wassers, welches gerade zur Bildung von Keimen nothwendicr zu sein
scheint, indem es durch längeres Verweilen an einer Stelle an den, wie Hildegard in seinen
Bodenuntersuchungen betont, in den Tropen bedeutend gesteigerten, chemischen Zersetzuncrs-
processen des Bodens mehr theilnimmt, als es bei in steter Bewegung befindlichen Wasser-
theilchen der Fall ist. Um in verticaler Richtung den Grundwasserspiegel zu erreichen,
dazu braucht das Wasser dieser in den Tropen meistens feinporigen Bodenschicht, Jahre!
Wie ich darch Versuche im hiesigen landwirtschaftlichem Laboratorium der Universität
neuerdings nachwies, eignet sich das schwefelsaure Natron am besten zur Bestimmuno- der
Geschwindigkeit der Wasserbewegung im geneigten Boden, während verschiedene andere
Salze resorbirt werden. Es ist recht wohl denkbar, dass, worauf ich schon in früheren
Arbeiten hinwies, Mosquitos die am Boden haftenden Malariaerreger aufnehmen und ver-
breiten, wenn auch nicht immer, weil auf der flachen Höhe von Bergen, wie Nieuwe^-huis
KoLiLBRÜGGE und ich beobachteten, Malaria endemisch sein kann, ohne Vorhandensein von
Mosquitos, während der abschüssige Gebirgsabhang davon frei ist, deren Bewohner sich.
wie genaue Nachforschungen erwiesen, oben gelegentlich inficirt haben mussten.
Meine hier noch einmal zusammengefassten Beobachtungsresultate, aus
denen betreffs der Anlage von Wohnplätzen, Sanatorien etc. auf malariafreiem
Höhenterrain ein bestimmtes Gesetz für die Tropen resultirt, sind durch
KoHLBKüGGE neuerdings und Nieuwenhuis auf Borneo durch die Praxis
und auf Forschungsreisen reichlich bewiesen worden. Man hat es daher in
der Hand, in den Tropen Exemtionsgebiete darnach auszuwählen und genau
als solche zu bestimmen, daher nicht mehr Avie bisher und noch immer
sich auf die Aussagen und sogenannte Erfahrung zu verlassen, dass an einem
namhaften Orte keine Malaria vorkomme, ohne zu wissen, warum. Das Suchen
nach Exemtionsgebieten ist durch Kohlbrüc^ge's und meine Studien, sowie des
Franzosen SiMOND, auf eine planmässige, wissenschaftliche Basis gestellt, die noch
vervollkommnet werden kann. Die Beri-Beri-Patienten erholen sich am besten in
hochgelegenen Gegenden oder in Europa, auch an nicht malariafreien Orten.
Einer Malariaprophylaxis in der Ebene, respective im Strandklima kann die
Wohnungshygiene in so erfolgreicher Weise wie in der Höhe nicht annähernd
dienen, ja selbst die grösste Mühe und Kunst schützt nicht vor der Malaria-
infection, da der Hausbewohner doch die eventuell insectenfreie Wohnung
verlässt und dann der Infection ausgesetzt ist. In kleineren Plätzen kann
man den Boden feststampfen und ihn ausserdem noch mit Cement belegen.
Es muss dieses, wenigstens das Feststampfen, in grösserer räumlicher Aus-
dehnung, als Haus und Nebengebäude einnehmen, geschehen, am besten in
dreifacher. Ueber den Haus- und Krankenhausbau in den Tropen habe ich
seit dem Jahre 1888 in verschiedenen Arbeiten mich eingehend ausgesprochen,
es sei besonders in dieser Beziehung auf mein Buch „Die Grundzüge der
Tropenhygiene", Verlag von J. F. Lehmann, München 1895, verwiesen. Hier
mag es genügen, darauf aufmerksam zu machen, dass, um nicht noch Boden-
bestandtheile enthaltende Luft oder Staub einzuathmen und damit, sowie mit
der vom Boden rasch aufsteigenden warmen Tropenluft etwaige Malaria-
keime, auch um nicht hochfliegende Insecten abzuhalten, zum Wohnen
nur hochgelegene Zimmer benutzt werden sollten. Meistens ist dieses
in den Tropen auch der Fall, man wohnt nach Art der Eingeborenen
hoch; ohne zu wissen, warum, haben Laien schon die Erfahrung gemacht, dass,
je höher die Pfahlbauten waren, desto geringer das Vorkommen von Malaria bei
ihren oft europäischen Bewohnern. Unterkellerungen sind in den Tropen, be-
880 TROPENHYGIENE.
sonders im Tieflande und auf nicht abschüssigem Terrain zu vermeiden, am
besten ist es, auf Steinsäulen zu bauen und den Boden ringsherum vor dem
Weiterbau feststampfen und cementiren zu lassen. Die Bodenassanirung in
grösserem Maassstabe ist sehr kostspielig und nur auf dem Wege der Gesetz-
gebung auf Java ins Werk gesetzt, indem die Eingeborenen ihre Reisfelder
an den Vorbergen so anlegen müssen, dass das sie berieselnde Quell- und
Regenwasser auf das nächst unten gelegene abgelassen wird, und indem ein
Theil von Batavia drainirt wurde, ebenso andere europäische Centren in den
Tropen. Nichts leistet aber so viel, als der Aufenthalt oder das Wohnen an
Gebirgsabhängen vorhin genauer beschriebenen Charakters; schon eine Höhe
von 500 m setzt nicht allein die Malariagefahr herab, sondern mildert zugleich
den Kampf des Europäers gegen die Hyperthermie.
Für die Expeditions- undKarawanenhygiene in den Tropen ist es von
grosser Wichtigkeit, die A'orhin beschriebenen gesetzmässig wiederkehrenden
Beziehungen zwischen Terrainbeschaffenheit und Malaria zu kennen. Um z. B.
den Lagerplatz auszuwählen, ist es wahrlich nicht gleichgiltig, zu wissen, ob
man ihn in einem Stauungsgebiet, Kessel etc. aufzuschlagen hat. Die Wasser-
verhältnisse, Quellen, Flüsse, Teiche in der Umgebung geben in Bezug auf
ihren difierenten Hochstand schon Fingerzeige, auch kann man darnach und
nach der Neigung des Terrains genau bestimmen, an welcher Flussseite das
Lager aufzuschlagen ist. Die Fehler, welche in dieser Richtung gemacht
wurden und noch gemacht werden, kosten manchem Europäer Leben und
Gesundheit, und manche gerade sehr grosse Expedition verlor so, ohne dass
ihre Aerzte die nöthigen Kenntnisse besassen, durch Malaria viele Leute.
Die ernsthaft colonisirenden Nationen, wie England und Holland, in neuester
Zeit auch Frankreich und Russland, förderten die Tropenhygiene, und kost-
spielige Anlagen werden nicht gescheut. Um so mehr ist es zu verwerfen,
wenn eine Nation sich durch scheinbare, jedesmal nicht theure Anlagen und
Untersuchungen ihren Verpflichtungen gegenüber sich selbst und den Colo-
nisten, besonders den privaten, zu entziehen sucht, die grossartigeren und durch-
greifenden Veranstaltungen genannter Völker verkleinert, die ihr zum Vorbild
zu dienen hätten, und so sich selbst schadet.
Als Kleidung des Europäers ist am meisten Seide oder Halbseide,
wenigstens als Unterkleidung, zu empfehlen, sonst Baumwolle. Der Tropen-
helm soll niemals fehlen, um die senkrecht auffallenden Sonnenstrahlen vom
Kopfe direct abzuhalten.
In Europa ist in der Hygiene bei dem Capitel Beleuchtung der oberste
Grundsatz, dass man am Tage beim Lesen von seinem Platze aus den Himmel
sehen müsse. In den Tropen ist das direct auffallende Himmelslicht zu grell,
nur an Orten, wo wie im Gebirge, z. B. auf Tosari, starke Bewölkung vor-
herrscht, ist dieser Grundsatz maassgebend. Dass die künstliche Beleuchtung
Abends die geringste Wärmebildung im Auge haben muss, ist selbstverständlich,
dazu wäre am besten Acetylen in den Tropen zu verwenden.
Kalte Bäder im Bassin, noch besser im Meere, früh Morgens, kurz nach
Sonnenaufgang, Sturzbäder, oder beides combinirt, sind, wie schon erwähnt, in
den Tropen zur Erhaltung der Gesundheit durchaus täglich nothwendig, was
bei uns in Europa nicht in dem Maasse zutrifft. In den Tropen dienen sie
ausserdem zur Hautpflege, die nicht zu vernachlässigen ist.
Die Ernährungsfrage für Europäer ist in den Tropen nicht so wichtig,
als man früher annahm, da, wie Eykmann's Untersuchungen lehren, eine
chemische Wärmeregulirung in den Tropen kaum in Betracht kommt. Eine
zu reichliche Fleischkost, besonders fettreiche, vermehrt nur noch die schon
vorhandene Blutfülle der Leber und des Darmes. Excesse in baccho rächen
sich oft schwer durch folgende Magendarmkatarrhe und Hepatitis, Erkran-
kungen, die durchaus nicht so gutartig in den Tropen verlaufen als die
gleichbenannten in Europa, auch sich pathologisch anatomisch unterscheiden
TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE. 881
und im günstigsten Falle mit der sogenannten tropischen Diarrhoe endigen,
ein Leiden, welches langwierig ist und die Kräfte des Europäers erschöpft.
Am meisten zu empfehlen ist gemischte leichte Kost, man passe sie möglichst
der der Eingeborenen an. Wo Reis gebaut wird, soll dieser als Zuspeise täglich
genossen werden. Massiger Alkoholgenuss ist in den Tropen nicht zu ver-
bieten, er ist bei Europäern, welche regelmässig täglich körperlich arbeiten,
wie Militärs, kaum zu entbehren, noch dazu da diese sich zu Tages- und Nacht-
zeit anderen Berufsarten ungekannten Gefahren in den Tropen aussetzen
müssen, welche ein Stimulans erfordern. Bei vielen Krankheiten ist der Wein
in den Tropen nicht zu entbehren. Nicht zu übersehen hat die Hygiene in
den Tropen die Behandlung der Schwangeren und Gebärenden, wenn auch hier
die eigentlich ärztliche Thätigkeit in ihr Recht tritt. Die Blutansammlung im
Abdomen bei weissen Frauen, die Ectasien der Venen der unteren Extremi-
täten sind ganz bedeutend. In Anstalten wie privatim soll eine darauf ge-
richtete Massage mit den Bädern verbunden werden. Die Ernährung ist so
zu regeln, dass bei nicht zu compacter Nahrung in der ersten Zeit der Gra-
vidität doch genügend Nahrungsstoffe der Frau zugeführt werden, nebst leichtem
Wein in kleinen Mengen. Im ganzen Verlaufe der Schwangerschaft ist eine
massige Bewegung anzurathen, mit Höhenaufenthalt. Die Geburten selbst er-
folgen, wenn auch oft langsamer, doch in gleicher Weise als in Europa.
tjeber die Desinfection der Genitalien bei eingeborenen Frauen kann be-
merkt werden, dass Malayinnen und Chinesinnen die Genitalien sehr reinlich
halten, sogar die spärlichen Schamhaare exstirpiren. Scheideninjectionen werden
am besten mit kaltem Wasser in den Tropen vorgenommen.
Eigenthümlich ist für die Tropen der günstige Ablauf des Wundheilungs-
processes, worüber ich von Deutschen zuerst genauere Arbeiten veröffentlichte.
Ganz besonders günstig sind pigmentirte Tropenbewohner gestellt, dann folgen
Mischlinge. Aber auch bei Weissen ist die Wundheilung günstiger und sel-
tener complicirt als in Europa. Bei Eingeborenen, auch ohne Asepsis behan-
delt, beobachtet man häufig in Europa für unmöglich gehaltene Heilungen.
Das was die Chirurgie in den Tropen gefährlich complicirt, ist der Tetanus
und die Blutungen. Das Nähere findet sich in der Literatur über Tropen-
chirurgie. Ob in den Tropen die Eitererreger seltener sind oder ob ein
anderer Grund als Rassenimmunität in dieser Hinsicht vorliegt, bleibt vor-
läufig unentschieden. Meine eigenen Untersuchungen erwiesen die Ab-
schwächung der Virulenz der Eitercoccen in den Tropen und eine rasch ein-
tretende Resistenz des Granulationsgewebes des pigmentirten Tropenbe-
wohners.
Dass bei verheerend auftretenden Krankheiten in den Tropen, wie bei
Cholera, Bubonenpest, Quarantainemaassregeln wie bei uns in Europa gehand-
werden, ist selbstredend; seit einigen Jahren hat die brasilianische Regierung
auch für Reisende aus Gelbfieberplätzen, wo die Krankheit acut epidemisch
ist, die Quarantaine verhängt und genaueste Desinfection der Schiffe. Die
Leprakrankheit in den Tropen und Subtropen vermehrt sich nur, wo die
Regierung nicht thatkräftig auf Durchführung der Isolirung der Kranken in
Anstalten vorgeht. Die in den Tropen in eigener Weise auftretende Syphilis
decimirt zuweilen, wie in Südafrika an der Tropengrenze, ganze Stämme Ein-
geborener. Untersuchungen auf den Geisteszustand von Europäern in den
Tropen sollten häufiger vorgenommen werden, die häufigen Geisteskrankheiten
werden dort gewöhnlich erst im ausgebildeten Stadium erkannt.
CAEL DÄUBLEK (Berlin).
Trunksucht und Trinker-Asyle. Der verderbliche Einfluss, welchen
die Trunksucht, d. h. die übertriebene Neigung zum unmässigen Genuss wein-
geisthaltiger Getränke in allen heutigen Staaten auf die öffentliche Gesund-
heit und Sittlichkeit ausübt, ist aus der zur öffentlichen Kenntnis gelangenden
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. OD
882 TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE.
Krankheits- und Sterblichkeitsstatistik nicht zu ersehen, weil dort nur die
dem Tode unmittelbar vorhergehenden Todesursachen, als Schlagfluss, Herz-
oder Lungenlähmung, chronisches Leber- oder Nierenleiden, Wassersucht
u. s. w., nicht aber die lange bestandene Trunksucht als Todesursache an-
gegeben zu werden pflegt. Sogar die an ausgebildetem Säuferwahnsinn und
Alkoholismus erfolgenden Todesfälle müssen durchgehends bei der amtlichen
Statistik in Colonne „unbekannte, nicht angegebene Todesursachen" geführt
werden. Dass aber ein sehr hoher Procentsatz der in die Irrenanstalten ge-
lieferten Kranken durch langjährige Trunksucht in ausgebildete
Geisteskrankheit verfallen sind, wird durch die in den Anstalten geführte
Statistik, betreffend Krankheitsursachen, unzweifelhaft nachgewiesen, sowie
auch die neueste betreffende preussische Strafanstaltsstatistik ergibt, dass
mindestens TO^/o aller Verbrechen und Vergehen in ursächlichem Zusammen-
hange mit der Trunksucht stehen.
So befanden sich beispielsweise in der Strafanstalt zu Vechta 76"22°/o entschiedene
Trunkenbolde und nach der Publication des königlich-sächsischen statistischen Bureaus
waren SO^/o der in die dortigen Ärbeitsanstalten Verwiesenen Gewohnheitstrinker. Der
Generalinspector der belgischen Gefängnisse versicherte, dass nach seiner bezüglichen 25-
jährigen Erfahrung *l^ der heutigen Verbrechen und des socialen Elends aus der Trunk-
sucht stamme und erhielt auch 1877 das bairische Oberhaus von 24; Gefängnisvorständen
ähnliche Antworten. Nach einem ministeriellen Bericht soll der Spirituosenverbrauch in
den nordamerikanischen Freistaaten von 1870 — 1880 ungefähr 30.000 Menschenleben zerstört,
100.000 Kinder in die Armenhäuser, 150.000 Erwachsene eben dahin oder ins Gefängnis
gebracht, mehr wie in 1000 Fällen Wahnsinn, und in 2000 Fällen Selbstmord herbeigeführt,
endlich 200.000 Witwen und eine Million Waisen geschaffen haben (Köln. Volkszeitung
vom 6. März 1888, 2, Bl.). Brüning berechnet die Ausgaben für Branntwein in Preussen
auf 261 Millionen Mark pro Jahr.
In vielen Fällen beruht nach ärztlicher Erfahrung die Trunksucht auf
einer krankhaft nervösen (psychopathischen) Anlage, die ererbt oder er-
worben sein kann und schon in früher Jugend zu künstlichen Reizmitteln,
namentlich zum unmässigen Genuss alkoholhaltiger Getränke treibt. Nicht
selten tritt auch der krankhafte Drang zu reizenden Getränken nur perio-
disch auf und können dann derartige Kranke in den freien Zwischenräumen
sich des unmässigen Genusses von Spirituosen enthalten und ihren Berufs-
geschäften mit Besonnenheit und mit gutem Erfolge nachgehen. Im gewöhn-
lichen Leben pflegt man derartige periodische Trinker als Quartalsäufer
zu bezeichnen.
In den bei weitem meisten Fällen entwickelt sich aber die Trunksucht
ohne krankhafte Anlage unter dem Einfluss einer ungeeigneten häuslichen
Erziehung und dem natürlichen Triebe der Jugend, das von den Eltern
und Erziehern gegebene Beispiel, überhaupt die bei Erwachsenen üblichen
Trinksitten anzunehmen. — Sehr zutreffend und mit der ärztlichen Er-
fahrung übereinstimmend wird die häusliche Erziehung in den vom deutschen
Verein gegen den Missbrauch geistiger Getränke herausgegebenen Mässigkeits-
blättern (Jahrgang 1888, Nr, 3) von Dr. Wilhelm Bode geschildert.
„Es ist noch in den meisten Häusern Brauch, dass auch die Kinder gelegentlich
oder regelmässig Wein oder Bier trinken. Sie thun es bei und zwischen den Mahlzeiten,
damit sie kräftiger und gesünder werden sollen. Manche Eltern freuen sich, wenn ihre
Kleinen schon einen guten Schluck haben und grosse Mengen scheinbar ertragen können.
Selbst Säuglinge bekommen schon Zusätze von Cognac und Wein in ihre Milch, Brannt-
wein durch den sogenannten Lutscher; wenige Jahre alte Kinder lässt man am Branntwein-
glase nippen oder gibt ihnen mit Branntwein durchtränktes Brod. Bei Festen und Lust-
barkeiten lässt man in allen Schichten der Gesellschaft die Kinder mittrinken ; die Gäste
freuen sich darüber, wenn die Kinder erregt werden, einen sogenannten Spitz bekommen;
man schleppt die Kinder bis in den späten Abend in die Biergärten und Restaurationen,
wo die Jungen den Alten bald nachahmen, da die Nachahmungssucht für Kinder das
stärkste angeborene Erziehungsmittel ist."
Der in der Kindheit erlernte gewohnheitsmässige Genuss geistiger
Getränke wird fortgesetzt von dem eben aus der Schule entlassenen Arbeiter
in den Branntweinschänken, von unserer studirenden Jugend in den Kneip-
TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE. 883
localen der verschiedenen Corps oder sonstigen akademischen Vereine, deren
Geselligkeit sich hauptsächlich um das Zu- und Nachtrinken oder die gemein-
schaftliche, möglichst beschleunigte Entleerung gefüllter ßierschoppen zu
drehen pflegt. Es ist aber durch die allgemeine Erfahrung der Aerzte und
Lehrer, sowie durch überzeugende wissenschaftliche Versuche unzweifelhaft
nachgewiesen, dass der gewohnheitsgemässe Genuss von Spirituosen für das
jugendliche Alter unbedingt nachtheilig ist und die normale körperliche und
geistige Entwicklung aufs schädlichste beeinflusst. Bezüglich der physio-
logischen Wirkung des Alkohols muss hier auf den Artikel im Band
„Pharmakologie" S. 349 verwiesen werden. Nach den neuen Untersuchungen
ist die Grundwirkung der alkoholhaltigen Getränke nur eine scheinbar
anregende und belebende, die sehr bald als eine lähmende und schwä-
chende sich kundgibt. Auch die Vermehrung der Athemzüge und Puls-
schläge nach Alkoholgenuss beruht auf Lähmung der centralen Herznerven.
Nach den Untersuchungen des Prof. Fick (Würzburg) kann es nicht
zweifelhaft sein, dass im frühen Kindesalter, wo die Gewebselemente des Hirns
noch in der Entwicklung begriffen sind, auch die kleinsten Gaben al-
koholischer Getränke schädlich wirken. Nach Prof. Thomas, dem als
Director einer pädiatrischen Klinik in Freiburg reiche Erfahrungen zur Ver-
fügung stehen, verlieren selbst ältere Kinder durch gewohnheitsgemässen
Genuss geistiger Getränke ihre körperliche und geistige Frische, werden
blutarm und lernen ungenügend. Auch auf den Charakter der Kinder wirkt
der Alkohol nachtheilig; sanftmüthige und lenksame Kinder werden durch
den Alkohol unlenksam und erst durch Alkohol-Entziehung wieder
gebessert.
Bei Gelegenheit des elften internationalen med. Congresses in Moskau wurde durch ein
Referat des Dr. Gendre (Paris) in der inneren Section bestätigt, dass der Alkohol krank-
hafte Verfettung erzeuge, die Verdauung störe und den normalen Stoffwechsel verzögere.
„Quant ä l'alcool, il est bien etabli, qu'il favorise la lipomation en produisant la
dyspepsie et en relentissant la nutrition" (la Semaine medicale 1897, Nr. 45).
Die Trunksucht pflegt vorzugsweise im mittleren Lebensalter, in
welchem der normale Mensch durch die in der Jugend erlernte Berufsarbeit
sich selbst und seine Familie ernähren muss, „körperliches und geistiges mit
Erwerbsunfähigkeit verbundenes Siechthum und durch krankhafte Ent-
artung des Herzens, der Leber und Nieren, schliesslich vorzeitigen Tod
herbeizuführen. -— Nach dem Ausspruch eines erfahrenen Pädagogen, des
Prof. Rein in Jena ist es nicht zu berechnen, was durch regelmässigen Genuss
alkoholischer Getränke, namentlich durch übermässigen Biergenuss in
der Jugend unserem Volke an geistiger Kraft und Wirksamkeit verloren
geht. — Die Trunksucht herrscht allerdings vorzugsweise bei der auf den
Genuss der billigeren Branntweine und Liqueure, in Frankreich und Belgien
des dort allgemein verbreiteten Absynt-Liqueures, angewiesenen Arbeiter-
bevölkerung; kommt aber verhältnismässig ebenso häufig bei Fabrikanten und
Gross-Kaufleuten, sowie bei allen übrigen Berufsständen: Aerzten, Juristen,
Theologen, Verwaltungsbeamten und Ofticieren u. s. w. vor und richtet um
so grösseres Unheil an, je höher und einfiussreicher die Berufsstellung des
vom Alkoholismus Befallenen war.
Weil der übermässige Genuss alkoholischer Getränke nicht nur die
geistigen Fähigkeiten, Verstand, Willenskraft und die ethischen Gefühle ab-
schwächt, die Geschlechtstriebe aber steigert und zu geschlechtlichen Excessen
verleitet, werden hauptsächlich durch Alkoholisten die syphilitischen und gonor-
rhoischen Krankheiten in die Familien eingeschleppt und weiter verbreitet.
Zu einer möglichst wirksamen Bekämpfung des in allen Staaten sich
mehr oder weniger bemerkbar machenden gemeingefährlichen Alkohol-
missbrauchs hat bekanntlich in Brüssel im vorigen Jahre ein fünf Tage
dauernder internationaler Congress getagt, an welchem sich Mitglieder aller
56*
884 TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE.
Berufsstände: Geistliche, Lehrer, Aerzte, Juristen, Verwaltungsbeamte, Volks-
wirthe u. s. w. betheiligten und 55 betreffende Themate besprochen wurden.
Auch der deutsche Verein für öö'entliche Gesundheitspflege, der schon 1891
einen Gesetz-Entwurf zur Bekämpfung der Trunksucht an den deutschen
Keichstag einreichte, der aber leider im Plenum nicht zur Berathung gelangte,
hat auf die Tagesordnung seiner vorjährigen VersammluDg die Bekämpfung
des Alkoholmissbrauchs gesetzt, und kann hier nur auf das sachgemässe,
ausführliche Referat des Medicinalraths Prof. Tuczek (Marburg) verwiesen
werden (Deutsche Vierteljahrschrift für öffentliche Gesundheitspflege, Band XXX,
Heft 2). Es sind aber folgende vom Herrn Referenten zur Bekämpfung der
Trunksucht in Vorschlag gebrachten Maassregeln von besonderem Interesse:
1. Die Verhütung und Beseitigung der socialen Folgen der Trunksucht bedarf der
staatlichen Intervention: Unterbringung der Trinker in geeignete Anstalten,
Entmündigung derselben, Zwangserziehung der Kinder von Trinkern, Bestrafung der öffent-
lichen, Aergernis erregenden Trunkenheit. 2. Zum Zwecke der Heilung der Trinker ist
die Errichtung von Trinkerheilanstalten unter staatlicher Aufsicht und ärzt-
licher Leitung erforderlich. Die Aufnahme in dieselben muss unter ausreichender
Garantie auch gegen den Willen der Trinker stattfinden können und darf von der
vorausgegangenen Entmündigung nicht abhängig gemacht werden. Die Trinkerasyle dürfen
nicht als Straforte behandelt werden. 3. Geheilte Trinker müssen sich des Alkohols voll-
ständig enthalten; ferner ist die absolute Abstinenz nöthig für Kinder und alle
diejenigen, welche aus Gründen krankhafter Anlage den Alkohol schlecht vertragen und
bald die Kraft verlieren, dem Reizmittel zu entsagen. Weiter gehende Forderungen totaler
Enthaltsamkeit gehen über das Gebot der Hygiene hinaus. 4. Die Mitwirkung der Gesetz-
gebung bei Bekämpfung des Alkoholmissbrauchs ist unentbehrlich und hat sich be-
währt (in der Schweiz, Schweden, Norwegen, Holland etc.). Die in Deutschland geltenden,
gegen die Trunksucht gerichteten gesetzlichen Bestimmungen sind nicht ausreichend.
Ein Reichsgesetz dieser Art ist zu erstreben unbeschadet der Bestimmungen durch
Landesgesetz und Statut.
Jeder erfahrene Arzt wird nun dem Herrn Prof. Tuczek beistimmen,
dass die Trunksucht durch specifische Arzneimittel und eine in den gewohnten
häuslichen Verhältnissen zu gebrauchende Cur nicht geheilt zu werden pflegt
und deshalb die Errichtung besonderer Trinkerheilanstalten ein dringendes
Bedürfnis unserer Zeit geworden ist. Es sind nun auch bereits mehrere
Trinkerasyle errichtet, von denen aber in Deutschland nur einzelne
von Aerzten, die meisten aber von Laien, vorzugsweise evangelischen Geist-
lichen betrieben werden. Da die Trunksüchtigen, wie früher gezeigt, ent-
weder ursprünglich (primär) nervenkrank oder durch den übermässigen (jenuss
alkoholhaltiger Getränke erst secundär krank geworden sind, so können auch
die bisher von Privatpersonen errichteten Trinkerasyle nur als concessions-
pflichtige Privatkr ankenanstalten im Sinne der deutschen Gewerbe-
ordnung angesehen werden. Die zuständige höhere Verwaltungsbehörde ist
dann aber befugt, nebst den übrigen für den hygienischen Anstaltsbetrieb
erforderlichen Einrichtungen auch die verantwortliche Leitung durch einen
zuverlässigen, approbirten Arzt vorzuschreiben, wodurch in dieser
Beziehung den Anforderungen des Herrn Referenten auch unter der bestehen-
den Gesetzgebung genügt werden könnte. Da ausserdem nach bisheriger
Erfahrung die Trunksüchtigen sich durchgehends freiwillig zum Gebrauch
einer Anstaltscur entschliessen und auch bei freiwilligem Ausharren in
der Anstalt die günstigsten Chancen zur Genesung bieten, würde zwangsweise
Aufnahme und Zurückhaltung sich nur für solche Trunksüchtige empfehlen,
die in häuslichen Verhältnissen sich als gefährlich oder öffentliches
Aergernis erregend gezeigt haben. Für solche Fälle würden die für zwangs-
weise Behandlung Kranker in Irrenanstalten erlassenen Vorschriften ge-
nügen. — Die eventuelle zwangsweise Aufnahme und Zurückhaltung Trunk-
süchtiger in den Anstalten wurde durch den Leiter einer Anstalt für Nerven-
kranke, Dr. Anton Schmitz (Bonn), wiederholt in den Jahres- Versammlungen
des deutschen Vereines gegen den Missbrauch geistiger Getränke als noth-
wendige Maassregel vertreten. Auch Prof. Tuczek sprach sich in seinem er-
TRUNKSUCHT UND TRINKER-ASYLE. 885
wähnteD Referat dahin aus, dass die Trinkerasyle erst dann ihre volle Wir-
kung entfalten würden, wenn die Kranken allgemeiner in früheren Stadien
darin Heilung suchen und aus der Anstalt nicht vorzeitig, ehe sie genügend
widerstandsfähig geworden seien, entlassen würden. An dem Fehlen eines
gesetzlichen Mittels hierzu seien bisher die von philanthropischer Seite und
von Aerzten errichteten Heilanstalten gescheitert, während gerade in den
freiesten Staaten: England, Amerika und der Schweiz die Trunksucht als
gemeingefährliche Krankheit betrachtet werde und dieser Auffassung
entsprechende Gesetze erlassen seien.
Nach den Ausführungen des Privatdocenten Dr. Aschaffenberg (Heidel-
berg) zum Referat des Prof. Tuczek sind die Heilungen in den Schweizer
Trinkerasylen weit häufiger, als man im Allgemeinen anzunehmen pflege und
wurden von Dr. Jordy (Bern) sogar auf 757o geschätzt. Wenn Dr. Jordy
aber die staatliche Aufsicht und die Ueberweisung der Kranken im Ver-
waltungswege möglichst zu umgehen anräth, um die Unterbringung derartiger
Kranken thunlichst zu erleichtern, so kann kein geordnetes Staatswesen auf
die Oberaufsicht über die für das allgemeine Gesundheitswohl besonders
wichtigen Krankenanstalten Verzicht leisten, welche Aufsicht aber erfahrungs-
gemäss in einer möglichst wenig belästigenden und keinerlei Aufsehen er-
regenden Art für die Betheiligten ausgeführt werden kann. Es genügt für
die Aufnahme ein in vorgeschriebener Form ausgestelltes Attest des Haus-
arztes und eine unvermuthete Revision der vorgeschriebenen Einrichtungen,
sowie des Anstaltsbetriebes durch einen unbetheiligten, sachverstän-
digen Beamten, durch welche Revision weder der Leiter der Anstalt, noch
die Kranken, noch deren Angehörige belästigt zu werden brauchen. Nach dies-
seitiger Erfahrung wünschen die leitenden Anstaltsärzte eine derartige
staatliche Revision, um vor den bekanntlich nicht seltenen unbegründeten Klagen
und Beschwerden mehr geschützt zu sein. Eine entsprechende Mitwirkung von
Geistlichen bei der psychischen Krankenbehandlung ist durch die ärzt-
liche Leitung der Trinkerasyle keineswegs ausgeschlossen und kann nach einer
betreffenden Mittheilung des Dr. Schmitz für die Krankenheilung sich als sehr
nützlich erweisen.
Da vor zwei Jahren "die Errichtung von Trinkerheilanstalten in Deutsch-
land, namentlich für die Aufnahme unbemittelter Kfanker, welche in den
ausschliesslich für bemittelte Kranke eingerichteten Privatanstalten nicht auf-
genommen werden, von einem in Frankfurt gebildeten Centralcomite dringend
empfohlen wurde, wird die Mittheilung von Interesse sein, dass im nordameri-
kanischen Staate Massachusetts durch besonderes Gesetz von 1889 eine staat-
liche Heilanstalt für bemittelte und unbemittelte Trunksüchtige errichtet
und die Kosten für den erforderliehen Landerwerb, Gebäude, Inventar etc. auf
die Staatscasse angewiesen worden sind.
Die Aufnahme der Trunksüchtigen in die Anstalt findet auf Zeugnis zweier Aerzte
und richterliches Erkenntnis für zwei Jahre statt und kann nach Ablauf dieser Zeit wider-
ruflich die Freiheit wieder gegeben werden; Appell an höhere gerichtliche Instanz ist
aber zulässig. Die für die Heilanstalt bestimmten Personen müssen abgesehen von ihrer
Krankheit nicht in schlechtem Rufe stehen und keine Verbrechen begangen haben. Die
Kosten der Anstalt betrugen 37.000 Pfund, 3000 Pfund für Inventar. Beim Bau wurde
das Cottagesystem befolgt, mit besonderen Gebäuden für Speisezimmer, Küche, Wasch-
küche und Verwaltung. Es fehlten Mauern und fanden deshalb anfangs viele Fluchtversuche
statt, welche sich vermindert haben, seit die Kranken in verschiedenen Abtheilungen be-
handelt werden. Eine Abtheilung ist bestimmt für weniger Fügsame, welche in ge-
schlossenen Räumen überwacht und nur zur Speisung frei gelassen werden. Die übrigen
Abtheilungen geniessen möglichst grosse Freiheit und werden ihrem Zustand entsprechend
beschäftigt mit Haus- und Feldarbeiten, sowie verschiedenen Handwerken. Diejenigen,
welche durch Gymnastik behandelt werden, erhalten auch Brausebäder von entsprechender
Temperatur. Eine genaue Angabe über die Fortschritte der Heilung oder Verschlimmerung
wird für jeden Aufgenommenen geführt. Die vorgenannten Maassregeln haben sich bisher
als sehr erfolgreich gezeigt. Von 119 Kranken, welche vor Mai lö94 entlassen wurden,
haben 31 als geheilt, 13 als gebessert sich gezeigt. Im ersten Betriebsjahre betrug die
886 UNFALLVERHÜTUNG.
Krankenzahl täglich 101 'S. Das Durchschnittsalter der Kranken war: 32 Jahre, 2 unter
15, 35 zwischen 50 bis 76 Jahren.
Die Ausgaben des ersten Jahres betrugen: 9581 Pfd.
„ Einnahmen für Arbeiten 134 „
„ „ „ von der Oekonomie 152 „
„ „ , von der Gemeinde für arme Kranke 1332 „
Staats-Zuschuss 8775 „
Selbstzahlende Kranke 453 „
Aus anderen Quellen 89 „
(British Medical Journal 1896, Nr. 4, p. 229).
Nach diesseitiger Erfahrung würde die Mitwirkung richterlicher
Behörden, wie solche in den amerikanischen Anstalten stattfindet, die recht-
zeitige Aufnahme Trunksüchtiger in die Heilanstalten verzögern und auf
die Heilerfolge der Anstalt ungünstig einwirken. Ebensowenig kann ein
unbedingt auf zwei Jahre bestimmter Aufenthalt in der Anstalt empfohlen
werden, da auch der erfahrenste Arzt die Zeit der Genesung bei chronischen
Erkrankungen nicht so genau vorher bestimmen kann und in der hiesigen
Bonner Anstalt auch schon nach einem durchschnittlichen Anstaltsaufenthalt
von 3 Monaten Genesungen einzutreten pflegen. Für eine irgendwie zuver-
lässige Statistik, betreflfend die aus den Anstalten als geheilt, gebessert oder
ungeheilt entlassenen Kranken, fehlt es leider noch an gleichmässig zu
beachtenden Vorschriften, weshalb die von den Privatanstalten publicirten
Erfolge nur mit grosser Vorsicht verwertet werden können, Dr. Schmitz
versicherte mir, dass er nur solche Fälle als Heilungen bezeichne, wo er
nach einer mehrjährigen Probezeit in häuslichen Verhältnissen die fort-
bestehende Heilung von den aus der Anstalt Entlassenen und deren Angehörigen
positiv erfahren habe.
Da es leider zur Zeit in Deutschland noch nicht möglich geworden ist,
unbemittelte Trunksüchtige in geeigneten Heilanstalten unterzubringen,
so werden Behörden und Wohlthätigkeitsvereine um so eifriger bemüht sein
müssen, die hauptsächlichen Ursachen der Trunksucht nach Möglichkeit zu
beseitigen, um der unter der Arbeiterbevölkerung grassirenden Trunksucht
vorzubeugen. Das wird am wirksamsten geschehen durch Beschaffung ge-
sunder Wohnungen, die ein geordnetes Familienleben möglich machen
und durch eine bessere gesundheitsgemässe Ernährung der Arbeiter-
familien in ihrer eigenen Häuslichkeit. Die gemeinnützigen Bau-
vereine und menschenfreundlichen Arbeitgeber, die für gesunde Arbeiter-
wohnungen, sowie die Vereine, die für nahrhafte billige Speisen und den
Branntwein ersetzende Getränke sorgen, erwerben sich gleichzeitig die grössten
Verdienste um die Beschränkung der gemeinschädlichen Trunksucht. Wie
sollten auch die aus den Trinkerasylen als geheilt entlassenen Arbeiter vor
Kückfällen in die Trunksucht geschützt werden, wenn, wie im Artikel „Fabrik-
hygiene" p. 237 zutreffend angegeben ist, Männer und Plauen, halbwüchsige
Knaben und Mädchen morgens nüchtern vom Hause in die Fabrik gehen
und sich erst während der Frühstückspausen durch Schnapstrinken zu
stärken suchen? Wenn die Wohnungs- und Ernährungsverhältnisse, wie solche
in dem vorgenannten Artikel beschrieben sind, sich nicht bessern, werden
auch alle heutigen Heilstätten gegen Tuberkulose oder Trunksucht, die so oft
gleichzeitig die Arbeiterfamilien befallen, dauernde Erfolge nicht erzielen
können. schwartz.
Unfallverhütung. Unter „Unfallverhütung" versteht man die Ge-
sammtheit aller Einrichtungen (gesetzlicher und administrativer Natur), welche
die Bestimmung haben, eriahrungsgemäss vorkommende Unfälle durch zweck-
entsprechende Vorkehrungen zu verhüten.
Die Unfallverhütung bildet sonach den prophylactischen Theil des
Rettungswesens, und wird sich dieselbe auf alle Gebiete erstrecken müssen,
UNFALLVERHÜTUNG. 887
welche im Capitel „Rettungswesen" (s. d. S. 648) des Näheren angeführt sind; es
können daher die Maassnahmen für Unfallverhütung, ganz analog den Rettungs-
einrichtungen für bereits stattgehabte Unfälle, gruppirt werden, und dies zwar
in solche, welche schon im gewöhnlichen Leben und im täglichen Verkehre
erforderlich sind, und in solche, welche der gewerbliche und industrielle Be-
trieb erheischt.
Der Zweck einer geeigneten Verhütung von Unfällen aller Art wird
einerseits durch technische Sicherheitsvorkehrungen, andererseits durch
zweckentsprechende Vorschriften erreicht.
Die Unfall- Verhütungsmaasregeln im gewöhnlichen Leben bestehen vor-
zugsweise in behördlichen Erlässen und polizeilichen Verordnungen.
Hierher gehören in erster Linie die feuerpolizeilichen Vorschriften,
welche sich im Allgemeinen erstrecken 1. auf den Umgang mit Feuer und
Licht, insbesondere auf den Dachböden und in Kellerräumen, Reinigung der
Schornsteine und Unterbringung von feuergefährlichen Gegenständen; zu
letzteren sind auch diejenigen Stoffe zu zählen, welche bei ihrer Lagerung in
grossen Mengen, bei dichter Verpackung oder hoher Belastung durch schwere
Gegenstände zur Selbstentzündung geneigt sind, wie Heu, Stroh, Sägespäne,
Dünger, Hanf, Flachs, geölte oder fettige Lappen, Wolle, Baumwolle u. a.;
2. Auf die feuersichere Bauart, Dachung, Schornstein- und J'euerungs-
anlagen, feuergefährliche Betriebe in Gebäuden u. s. w.
In diese Kategorie müssen auch eingereiht werden: die vorgeschriebene
Stiegenbeleuchtung in Häusern bei eintretender Dunkelheit, die Anbringung
der Leitstangen in den Stiegenhäusern, die Bedeckung von Gruben- und
Kelleröffnungen, die Reinigung der Dächer von Schnee, die Bestreuung der
Trottoire bei Glatteis, das Verbot des Hinauswerfens von Gegenständen aus
den Fenstern, die Anwendung von Sicherheitsgürteln beim Fensterputzen in
Stockwerken, das Anseilen bei Arbeiten auf den Dächern und viele andere
im Wege der Polizei oder der städtischen Behörde erlassene Verordnungen
und Vorschriften.
Für die Ausführung von Bauten bestehen in den Städten den jeweiligen
örtlichen Verhältnissen angepasste Bauordnungen, welche von den Bau-
behörden erlassen werden. Die diesbezüglichen Anordnungen beziehen sich
theils auf die Beschaffenheit der Bauten selbst, theils auf die Sicherheit der
bei denselben in Verwendung stehenden Arbeiter. Die Herstellung von Bau-
anlagen, ja selbst von Bauveränderungen oder grösseren Adaptirungen wird
in der Regel von der vorherigen obrigkeitlichen Prüfung und Genehmigung
des Planes abhängig gemacht.
Die jeweiligen örtlichen Bauordnungen schreiben unter anderem Yor: Die Tiefe der
vorzunehmenden Fundamentirung, die erforderliche Beschaffenheit des Materials, die min-
deste Stärke des Mauer- und Balkenwerks, die Tragfähigkeit der in Gebrauch kommenden
Traversen, die Anlegung von Feuerstätten, Rauchfängen u. s. w. — Es wird darüber ge-
wacht, dass das Leben und die Gesundheit der Arbeiter, der Vorübergehenden und der
späteren Bewohner der Häuser nicht leide. Zu diesem Zwecke wird die Einplankung von
Neubauten vorgeschrieben, auf eine vorschriftsmässige Herstellung der Gerüste Rücksicht
genommen, bei den Erdarbeiten Pölzungen angeordnet und auch bezüglich des bei diesen
Sicherungsarbeiten in Verwendung zu nehmenden Materiales das Entsprechende verfügt.
Für den Bau solcher Objecto, in welchen grosse Menschenansammlungen
stattfinden, also Theater, Gircus, sowie überhaupt für solche Anlagen, welche
in Bezug auf den Zuschauerraum ähnliche Einrichtungen wie die Theater
bedingen, wurden erst in den letzten Jahren behufs Verhütung von Unfällen,
welche hier zumeist durch Paniken oder Feuersgefahr hervorgerufen werden,
wirksame Vorschriften erlassen.
Den dJrecten Anstoss hiezu gab die entsetzliche Katastrophe des Ringtheaterbrandes
in Wien am 8. December 1881. — Es muss geradezu als Wunder bezeichnet werden, dass
es erst dieses schrecklichen Unglückes bedurfte, um die maassgebenden Factoren aus ihrer
Lethargie aufzurütteln; sind doch von den 1500 Theatern, welche beiläufig in Europa
888 UNFALLVERHÜTUNG.
esistiren, in diesem Jahrhunderte allein mehr als 500 grössere Theater bis auf den Grund
niedergebrannt, wobei mehr als 4000 Menschen zum Opfer fielen! — Li den Jahren 1871
bis 1881 sind durchschnittlich im Jahre 18 Theater abgebrannt.
Im Jahre 1882 kamen nicht weniger als 21 Theaterbrände vor und zwar:
Am 7. März: Das czechische Nationaltheater in Prag.
,, 17. „ Das Krystallpalasttheater in Marseille.
„ 19. „ Das Livadia-Operntheater in Petersburg.
„ 19. „ Das Grandetheater in Algier.
„ 16. April: Das Hoftheater in Schwerin.
„ 17. „ Prince's Theater in Portsmouth.
„ 6. Mai: Das Theater zu Sibibel-Abbes in Algier.
„ 6. „ Moore's Opernhaus in Nevada.
„ 18. Juni: Das Royal-Courttheater in Liverpool.
., 26. „ Das Stadttheater in Riga.
,, 4. Juli: Das Arcadiatheater in Petersburg.
,; 6. „ Das Theater de los Recreos Martinenses in Madrid.
„ 1. September: Das Theater zu Nowaja Russa in Russland.
„5. „ Das Theater zu Islington.
., 11. „ Das Theater in Löwen (Belgien).
;, 22. „ Das Theater in Orebro (Schweden).
j, 7. October: Melisson's Theaterhalle in Brighton.
„ 30. „ Abbey's Parktheater in New- York.
„ 30. „ Das Theater Mariui in Barcelona.
., 28. November: Das Westendtheater in South-Shilds (England).
„ 7. December: Das Alhambratheater in London.
Im letzten Decennium sind die Theaterbrände seltener geworden, was
gewiss nicht in letzter Linie den allerorts getroffenen Sicherheitsvorkehrungen
zu danken ist. Der im Vorjahre in Paris stattgehabte Brand eines Wohl-
thätigkeitsbazars, bei welchem leider wieder so viele Menschenleben zu be-
klagen waren, hat aber wieder die traurige Gewissheit an den Tag gefördert,
dass die Durchführung der schon vielfach bewährten Maassnahmen zur Ver-
hütung von solchen Katastrophen noch nicht überall zur vollen Geltung ge-
langt ist.
In Oesterreich wurden von Regierungswegen am 1. Juli 1882 „Die Be-
dingungen zur Veranstaltung theatralischer Vorstellungen in neuen Theater-
gebäuden, ferner die Bedingungen für die Einrichtung und den Betrieb der
Theater überhaupt und die Ueberwachung der genauen Einhaltung derselben"
herausgegeben.
Diese Bedingungen beziehen sich im Hauptsächlichen auf die Lage der Theater (nach
allen Seiten freistehend, wenigstens 15 m vom Nachbarobjecte entfernt), auf feuersichere
Constructionen, auf direct ins Freie mündende geradearmige Stiegen, auf nach aussen
aufgehende Thüren, auf die Anbringung eines feuersicheren Vorhanges zur Trennung des
Bühnenraumes vom Zuschauerräume (eiserne Courtine), auf die Imprägnirung der nicht
feuersicheren Bestandtheile der Maschinerien und Gerüstungen der Bühne, des Schnür-
bodens und der Unterbühne, auf die Zwischengänge im Zuschauerräume (1— 1'25 m
Breite), auf die Beleuchtung, die Nothbeleuchtung (Nothlampen), die Beheizung (unbedingt
Central-Heizungsanlage) und endlich auf die Unterbringung von Wasserwechsel, Feuer-
telegraphen und Feuer-Löschrequisiten. — Auch hinsichtlich des Betriebes der Theater sind
genaue Vorschriften in diesen Bedingungen enthalten, und obliegt die Ueberwachung der
Einhaltung aller dieser Maassnahmen den Theater-Landescommissionen. — Ein behördlicher
Functionär hat die Pflicht, eine Stunde vor jeder Vorstellung die Revision aller Räume des
Theaters in Bezug auf die Sicherheit der Personen, sowie die Feuersicherheit überhaupt,
vorzunehmen und wahrgenommene Uebelstände sofort abzustellen.
In allen anderen Staaten wurden gleichfalls ähnlich lautende Theater-
vorschriften erlassen, und es kann als gewiss angenommen werden, dass durch
dieselben schon manches Unheil verhütet wurde.
Bei grossen Volkszusammenkünften, Feierlichkeiten, Volksbelustigungen
in den Strassen oder auf grossen Plätzen, wo sich die Zuschauer auf Tri-
bünen versammeln, bestehen in nahezu allen Städten in Bezug auf die Er-
richtung von Tribünen und auf die Erprobung derselben durch Sachverständige
strenge Vorschriften, und wird die Errichtung sogenannter fliegender Schau-
gerüste zumeist polizeilich verboten.
UNFALLVERHÜTUNG. 889
Die meisten Unfälle im gewöhnlichen Leben entstehen durch die in Ge-
brauch stehenden öÖentlichen Fuhrwerke, P'iaker, Omnibusse, Tramway,
Lastwagen, Fahrräder, Eisenbahnen etc.
Die Maassnahmen zur Verhütung der durch diese Verkehrsmittel hervor-
gerufenen Unfälle erstrecken sich theils auf die Construction der Fuhrwerke
selbst (Bremsvorrichtungen, liadschuhe, Schutzvorrichtungen bei Tramway's,
Beleuchtung der Wagen zur Nachtzeit), theils auf die Handhabung der-
selben durch die Lenker (Verbot des Schnellfahrens auf Kreuzungspunkten,
Fahrprüfung der Kutscher), und endlich auch auf allgemeine Vorschriften
(Verbot des unbeaufsichtigten Stehenlassens von Gefährten, Vorschrift der
Herstellung sogenannter Rettungsplätze an besonders frequenten Punkten etc.).
In grossen Städten ist es zumeist die Polizeibehörde, welche ein eigenes
Lohnfuhramt unterhält, dem die Erlassung aller diesbezüglicher Vorschriften
und die Ueberwachung der stricten Einhaltung derselben durch die Polizei-
organe zusteht.
Die Verhütung von Unfällen im Eisenbahnverkehre geschieht durch die
möglichst erhöhte Betriebssicherheit und durch strenge Handhabung der Ver-
kehrsvorschriften für die Reisenden sowohl als auch für die Bahnbediensteten.
Nebst dem Bergbau und dem Baugewerbe rangirt der Eisenbahnver-
kehr in der Unfallstatistik zu denjenigen Berufsgruppen, welche percentuarisch
das grösste Contingent an Verunglückungen liefern.
Im Jahre 1890 kamen nach dem Berichte der Section für Eisenbahnhygiene des
internationalen Congresses in Berlin 2461 Betriebsunfälle vor, und zwar 313 Entgleisungen,
258 Zusammenstösse und 1890 sonstige Betriebsunfälle. — Hiebei sind 2202 Personen ver-
unglückt, wovon 500 (darunter 30 Reisende) getödtet und 1702 (darunter 117 Reisende)
verletzt wurden.
Von einer Million beförderten Reisenden wurden O'll Personen getödtet und 0'43
Personen verletzt.
Zur Erhöhung der Betriebssicherheit sind in neuerer Zeit durch die
Eisenbahnverwaltungen verschiedene Einrichtungen getroffen worden. — Dass
in erster Linie ein solider Ober- und Unterbau der Strecken erforderlich ist,
ist selbstverständlich. — Bezüglich des Oberbaues wird das System mit den
hölzernen Querbalken für das sicherste gehalten.
Die Einführung der -elektrischen Weichenstellen in den Hauptstationen,
ferner das Blocksystem im stärkeren Verkehre sind als wichtige Unfall-Ver-
hütungsvorkehrungen anzusehen. — Ein Mittel, die Betriebssicherheit zu er-
höhen, bilden elektrische Läutepfosten an den Wegübergängen, welche die Bahn-
strecke kreuzen. Dieselben sind auf den amerikanischen Bahnen eingeführt.
Dadurch, dass der Zug in entsprechender Entfernung von der Wegkreuzung
einen Radtaster niederdrückt, wird eine Klingel in Gang gesetzt, welche so
lange läutet, bis die Berührung eines zweiten Radtasters durch den weiter-
fahrenden Zug den Strom öffnet.
Zu den Unfall-Verhütungsmaassregeln auf Eisenbahnen sind noch zu
zählen: die permanente Bewachung der Strecke durch Streckenwächter, die
Vorschriften und Unterweisungen des Bahnpersonales, die Untersuchung der
Radreifen und der Achsen, die Nothleine in Personenzügen und schliesslich
die strenge Einhaltung der polizeilichen Vorschriften für die Reisenden.
Die im Vorjahre so häufig vorgekommenen Einsenbahnunfälle haben
gezeigt, dass die Betriebssicherheit im Eisenbahnverkehr noch Vieles zu
"Wünschen übrig lässt, und ist die Ueberlastung der Eisenbahnbediensteten in
ihrem schweren und verantwortungsvollen Dienste als eine der Hauptursachen
hiefür anzusehen.
Nur eine Vermehrung des Personales könnte hier Abhilfe schaffen.
Auch auf dem internationalen Congress in Berlin 1890 hat der ungarische
Delegirte von Csatary erklärt, dass die Erschöpfung der Bediensteten in-
folge Ueberanstrengung, namentlich des Fahrpersonales, zu Unglücksfällen
Anlass gebe.
890 UNFALLVERHÜTUNG.
Der in jüngster Zeit erflossene Erlass des österreichischen Eisenbahn-
Ministeriums, der die Ueberanstrengung der Eisenbahnbediensteten durch
Aenderungen in dem Dienstreglement zu vermeiden bezweckt, ist als dankens-
werte Initiative auf diesem Gebiete zu bezeichnen.
Die Schutzvorrichtungen zur Verhütung von Unglücksfällen im
gewerblichen oder industriellen Betriebe sind theils allgemeiner
Natur, theils beziehen sie sich auf besondere, gefahrbringende Theile von
Maschinen.
Ihre Anbringung ist in einzelnen Staaten durch gesetzliche Bestimmungen
vorgeschrieben, wie z. B. in Deutschland durch das Unfall-Versicherungsgesetz
vom 6. Juli 1884 und durch die Keichs-Gewerbeordnung vom 1. Juni 1891
§ 120 ff, anderenorts, wie beispielsweise in Oesterreich, wo die Unfallverhütung
nicht im Gesetzwege geregelt ist, werden von den Behörden den Besitzern von
gewerblichen Etablissements mit maschinellem Betriebe in Form eines „Rath-
schlages" diejenigen Bedingungen vorgezeichnet, unter welchen der jeweilige
Betrieb gestattet ist. Die Ueberwachung des Vorhandenseins und des rich-
tigen Functionirens dieser Schutzvorrichtungen obliegt den technischen Be-
amten der Gewerbeinspection.
Zu den Sicherheitsvorkehrungen allgemeiner Natur gehören alle Apparate
zur automatischen Anzeige von Gefahren aller Art, die sogenannten Alarm-
apparate, dann alle Einrichtungen in Fabriken, um eine etwa entstehende
Feuersbrunst hintanzuhalten oder um sich derselben möglichst rasch ent-
ziehen zu können, endlich alle Vorschriften in Bezug auf die Anlage einer
Fabrik, über das zur Verwendung kommende Baumaterial, die Beheizung,
Beleuchtung etc.
Zu den gefährlichsten industriellen Betrieben gehört unstreitig der
Bergbau.
Die Massenverunglückungen durch schlagende Wetter, Grubenbrände,
Schachteinstürze, Wassereinbrüche etc. sind allgemein bekannt und erklären
zur Genüge die hohe Zahl der Menschenopfer, die der Bergbau alljährlich fordert.
Durchschnittlich circa 8'5^/o der Arbeiter verunglücken jährlich in
diesem Betriebe. Die tödtlichen Unfälle bilden in Preussen nicht weniger als
23°/o aller Sterbefälle der Bergleute.
Schlagwetter kommen fast nur in Steinkohlengruben vor und be-
dingen die grössere Gefährlichkeit dieser Betriebe gegenüber anderen Bergbauen.
Aber nicht nur durch Entzündung schlagender Wetter kommen Explo-
sionen in Bergwerken zustande; auch durch Entzündung des Kohlen-
staubes werden brennbare Gase entwickelt, die zu verheerenden Kohlenstaub-
explosionen Veranlassung geben. Die Ursachen dieser Explosionen sind ent-
weder Entzündung durch Lampen oder durch Sprengschüsse.
Die Maassnahmen zur Unfallverhütung gehen nun dahin, durch Ver-
besserung der technisch-hygienischen Einrichtungen, durch Ueberwachung und
Belehrung der Arbeiter die Betriebssicherheit zu erhöhen. Und in der That
sind diese Bestrebungen in einigen Ländern nicht ganz ohne Erfolg geblieben.
So hat die Durchschnittszahl der verunglückten Bergarbeiter in Belgien,
Frankreich und England um circa 2*'/o abgenommen.
Die Vorschrift, durch die Beleuchtung keine Veranlassung zu Explo-
sionen zu geben, hat zur Construction von Sicherheitslampen geführt,
die auf dem Principe beruhen, dass eine von einem Drahtmantel umschlossene
Flamme die im Räume angesammelten Gase nicht entzünden kann (Davy's
Sicherheitslampe).
Die Sicherheit derselben ist jedoch nur eine beschränkte, da das
Drahtnetz sich schliesslich so stark erhitzt, dass es die Flamme durchlässt;
insbesondere kann die Flamme bei heftiger Luftbewegung durch das Gitter
herausschlagen.
UNFALLVERHÜTUNG. 891
Eine der häufigsten Ursachen der Explosionen ist das Wiederanzünden der ans
irgend einem Grunde verlöschten Lampe. Trotz aller Belehrungen, Verbote und Strafen
geschieht es immer wieder, dass leichtsinnige Bergleute ihre verlöschte Lampe öffnen, um
dieselbe mittelst eines Zündholzes wieder zu entzünden. Man hat daher Lampen construirt,
die man in der Grube gar nicht öffnen kann; andere Lampen wieder hat man mit einer
mechanischen Vorrichtung versehen, welche ein Anzünden gestatten, ohne dass die Lampen
geöffnet zu werden brauchen (WoLFF'sche Benzinlampe). Gegenwärtig sind im Ostrau-
Karwiner Kohlenrevier elektrische (Accumulatoren-) Lampen in Verwendung.
Eine weitere sehr häufige I-rsache der Explosionen ist die Entzündung
durch Sprengschüsse. Die Verwendung von Sprengmitteln ist in einigen be-
sonders g<9fährdeten Gruben in Oesterreich, England und Belgien behördlich
verboten. Die Verwendung von Sprengmitteln lässt sich jedoch in vielen
Kohlen werken kaum entbehren.
Die Gefährlichkeit der verschiedenen Sprengstoffe ist eine ungleiche; die langsam
esplodirenden Sprengstoffe, wie das Schwarzpulver, sind die allergefährlichsten, der Gebrauch
des letzteren ist daher auch vielfach untersagt. In neuerer Zeit wird das ungeheuer rasch
explodirende Dynamit wegen der geringen Gefährlichkeit zu Sprengzwecken verwendet.
Auch das Entzünden der Sprengladung kommt in Betracht. Sprühende Zündschnüre
sind zu meiden; am sichersten eignen sich hiezu elektrische oder Frictionsznnder.
Ferner ist auch der Besatz der Ladung (das ist das Material, welches zum Ver-
stopfen des Bohrloches oberhalb der Sprengladung verwendet wird) von Bedeutung. Ist
ein Sprengschuss schlecht besetzt, so wirft er ähnlich einem Flintenschusse den Besatz heraus
und eine oft mehrere Meter lange Flamme folgt, welche den aufgewirbelten Kohlenstaub
entzündet und zur Explosion bringt. Als besten „Besatz" empfiehlt die österreichische
Schlagwettercommission feuchtes Moos und Sand. Aber oft genügen schon die Funken, welche
durch die Schläge der stählernen Werkzeuge gegen die Gussstücke, oder durch Stoss der
Spatenspitze gegen einen harten Stein entstehen, um eine Explosion in dem mit Schlag-
wettern erfüllten Räume zu verursachen. Es sind deshalb die Signalapparate zu empfehlen,
welche die Anwesenheit schlagender Wetter anzeigen (AwsELL'sche Alarmglocke, Alarm-
Pfeifenmanometer von Fromont). Dieselben beruhen auf dem Principe, dass der Kohlen-
stoff schneller durch poröse Wände diffundirt als die Luft, wodurch auf ein Manometer
ein Druck ausgeübt wird, welcher ein Signal auslöst. Beim Erschallen des Signals ist die
Arbeit sofort einzustellen, eventuell sind die Gruben zu verlassen.
Das wichtigste Mittel zur Verhütung von Schlagwettern ist die mög-
lichste Verhinderung zur Ansammlung und die Entfernung angesammelter
Schlagwetter. Dies geschieht durch eine geeignete Ventilation, die sogenannte
Gruben wetterung.
Die Menge der deni Schachte zuzuführenden Luft wird per Kopf der
Belegschaft und Stunde auf 100 bis 120 m^ berechnet; bei Entwicklung von
Schlagwettern erhöht sich das erforderliche Luftquantum auf das Doppelte
und Dreifache.
Während früher für die Ventilation sogenannte Wetteröfen in Verwen-
dung standen, hat man jetzt behufs Erzielung einer ausgiebigen Ventilation
zu maschinellen Hilfsmitteln (Ventilatoren) gegriffen. Durch Anlage von
Wetterthüren wird die beim Förderschachte einströmende Luft auf Umwegen
durch alle Strecken geleitet. Durch die im Karwiner Kohlenbezirk von Herrn
Cameraldirector von Walcher vorgenommenen Untersuchungen ist es sicher-
gestellt, dass die Schlagwetterentwicklung mit den Schwankungen des Luft-
druckes in Zusammenhang stehe. Die Untersuchungen zeigten, dass mit dem
Eintreten von starken Barometerstürzen oder bei künstlich erzeugtem Druck-
abfall in der Grube die Schlagwetterentwicklung beträchtlich in die Höhe ging.
Auf Grund dieser Erfahrungen wird den Barometerständen genauere Beachtung
geschenkt, und man lässt daher bei eintretendem Barometersturz doppelte
Vorsicht walten, indem man die Schiessarbeit und an besonders gefährlichen
Punkten die Arbeit überhaupt ganz einstellt.
Director von Walcher Hess sich ein Barometer construiren, welches ein jähes Sinken
des Barometerstandes durch eine Signalglocke anzeigt. Beim Ertönen des Signals hat der
amtirende Beamte die Betriebsleiter sämmtlicher Schachte von der drohenden Gefahr zu
verständigen.
Statt der Ventilatoren, welche die Luft aufsaugen und dadurch Luft-
druckdepressionen herbeiführen, die ein Ausströmen der Schlagwetter begün-
892 .UNFALLVERHÜTUNG.
stigen, verwendet man in neuerer Zeit grosse Compressoren, mit welchen Aussen-
luft in die Grube gepresst wird.
Zur Verhinderung von Kohlenstaubexplosionen werden die ge-
fährdeten Strecken in ihrer ganzen Länge mit Wasser bespritzt. Die Be-
spritzung erfolgt mittelst Röhrenleitungen, welche Druckwasser von oben
führen und mit entsprechenden Ausflüssen (Brausen) versehen sind. In
manchen Revieren ist die Befeuchtung behördlich vorgeschrieben.
Die so häufig wiederkehrenden Massenkatastrophen in Bergwerken haben
die Regierungen veranlasst, im Gesetzeswege Normen und Vorschriften für die
Sicherheit der Bergleute festzustellen und die Einhaltung dieser Vorschriften
durch besondere, mit einer gewissen Machtvollkommenheit ausgerüstete Organe
(Bergwerksinspectoren) überwachen zu lassen. So haben Oesterreich, Deutsch-
land und England specielle Berggesetze erlassen, welche den neuen Erfah-
rungen und Verbesserungen entsprechend durch behördliche Erlässe ergänzt
werden.
Die mächtige Entwicklung, welche die Elektrotechnik in den letzten
Decennien genommen, hat auch in diesem Berufe der Unfallverhütung ein
neues Gebiet eröffnet.
Die elektrischen Starkstrom-Anlagen bringen gewisse Gefahren mit sich,
und die Zahl der durch elektrische Betriebe herbeigeführten Unglücks-
fall eist keine geringe. Die Veranlassungen zu den durch Elektricität herbei-
geführten Unfällen sind verschieden. Entweder berührt ein daselbst Be-
schäftigter zufällig einen Leitungsdraht, die Polklemmen oder sonst einen
leitenden Theil in der Centralanstalt, oder es reisst ein Draht und berührt
dabei einen Menschen, oder es gelangt durch Schadhaftwerden eines Trans-
formators, statt eines niedrig gespannten, plötzlich ein hochgespannter Strom
in eine Hausleitung etc. Man hat daher schon vor einem Decennium die
Nothwendigkeit erkannt, gegen die sich häufenden elektrischen Unfälle Schutz-
maassnahmen zu treffen. In allen Staaten wurde die Errichtung und der
Betrieb von Elektricitätswerken der staatlichen Controle unterworfen, welche
die Anlagen überwacht und die zum Schutze der Beschäftigten nothwendigen
Vorkehrungen anordnet.
Die Bestimmungen, welche sehr detaillirt gehalten sind, erstrecken sich
auf zureichende Isolirungen der einzelnen Theile der Anlagen und Leitungen,
auf die Beschaffenheit und Verlegung der Kabel, auf Abschmelzsicherungen,
zulässige Maximalstromstärke, Isolationswiderstand der ganzen Anlage etc.
Ferner werden Belehrungen herausgegeben, wie durch den elektrischen Strom
verunglückte Personen von den elektrischen Drähten zu befreien sind und
welche rationelle Hilfe denselben zu leisten ist. Sehr empfehlenswerte Vor-
schriften hat der „Elektrotechniker" veröffentlicht, welche auch hier mit-
theil enswert erscheinen. Sie lauten:
1. Man unterbreche sofort den elektrischen Strom, wenn ein Mittel hiezu nahe zur
Hand ist und man damit umzugehen versteht.
2. Ist dies nicht der Fall, so hüte man sich, den Körper des Verunglückten mit der
Hand zu berühren. Wenn Gummi-Handschuhe nicht zur Stelle sind, so ziehe man den
Verunglückten an seinen Rockschössen aus den Drähten. Oder man balle seinen eigenen
Rock oder eine trockene Decke in zwei oder drei dicke Lagen zusammen und benütze
dies zum Anfassen des Körpers, um denselben sofort herauszuziehen.
3. Wenn es unmöglich ist, den Verunglückten aus den Drähten herauszubringen, so
hebe man mit bedeckten Händen denjenigen Theil des Körpers des Verunglückten, der
mit der Erde oder mit einem der Pole in Berührung steht. Dadurch wird der elektrische
Strom unterbrochen, und es wird gewöhnlich möglich, den Verunglückten herauszubekommen.
4. Wenn dies Alles nicht gelingen sollte, so mache man aus einem trockenen Tuche
noch ein anderes Kissen, welches man dann unter denjenigen Theil des Körpers schiebt,
der auf dem Boden liegt. Dann trachte man den Körper, wie vorerwähnt, aus den Drähten
zu befreien.
5. Ist der Körper vom elektrischen Drahte frei, so entferne man am Halse alle
Bekleidung und mache Wiederbelebungsversuche wie bei einem Ertrunkenen.
UNFALLVERHÜTUNG. 893
6. Man wehre alle Versuche der Umstehenden ab, den Verunglückten Branntwein
oder dergleichen einzugeben, sondern behandle ihn so, wie gesagt, bis ein Arzt er-
schienen ist.
Die Sicherheits- und Schutzvorrichtungen an den Maschinen oder
Maschinentheilen sind so mannigfach, wie diese selbst. Hier hat der erfin-
derische Geist schon Vieles geschaffen, meist Zweckmässiges, oft auch Solches,
das sich im Gebrauche als unpraktisch gezeigt hat.
Im Grossen und Ganzen ist ein gewisser passiver Widerstand der
Arbeiter selbst gegen alle an Maschinen angebrachte Schutzvorrichtungen
nicht zu leugnen, und es ist deshalb als erste diesbezügliche Forderung
geltend gemacht worden, dass sämmtliche gesundheitsschützenden Anlagen
dem Arbeiter nicht zugänglich sein sollen und dass ein Schutzapparat an
Maschinen automatisch wirken müsse, oder dass die Construction der Ma-
schinen selbst möglichst eine solche sei, dass Unfälle sich nicht leicht er-
eignen können.
Die Maschinen von vorneherein auf die Weise zu construiren, ist aber
derzeit noch ein rein ideales Bestreben, und wenn man dem Bestehenden
Rechnung trägt, so muss jede praktische Vorrichtung, welche zur Verhütung
von Unfällen im maschinellen Betriebe beiträgt, mit Freude begrüsst werden.
In Wien hat sich im Jahre 1889 ein „Verein zur Pflege des gewerbe-hygienischen
Museums'- gebildet, dessen Zweck folgender ist:
Zur Herbeiführung thunlichster Sicherheit, gegen Gefahren des Lebens und der Ge-
sundheit im Gewerbebetriebe beizutragen, hierauf gerichtete Bestrebungen zu unterstützen,
und in Bezug auf Einführung, Verbreitung und Gestaltung von Arbeiter-Wohlfahrtsein-
richtungen anregend und rathend zu dienen.
Als Mittel zur Erreichung dieses Zweckes betrachtet der Verein unter Anderem:
Systematische Sammlung von in Modellen, Zeichnungen und Beschreibungen vor-
geführten Schutzvorkehrungen im Gewerbebetriebe; Veranlassung fachmännischer Prüfung
derselben, sei es im Wege der Discussion oder seitens industrieller planmässig vorgenom-
mener Erprobung; sorgfältige Sammlung der Ergebnisse derartiger Prüfungen ; Zugänglich-
machen der Musealobjecte und deren Erläuterung durch Wort und Schrift; Abhaltung von
Vorträgen; Eath- und Auskunftsertheilung an Industrielle, Behörden und Männer der For-
schung; Veranstaltung von Wander-Ausstellungen; Ausschreibung und Ertheilung von
Prämien für bestimmte Schutzvorkehrungen; Abfassung von in Fabriken anzuschlagenden,
auf die Verhütung von Unfällen abzielenden Vorschriften, Belehrungen und Warnungen,
Anlegung und planmässige Pflege einer Fachbibliothek; systematische Sammlung und Ver-
arbeitung von Daten aus dem Gebiete der Unfallstatistik.^
Die Wirksamkeit dieses Vereines ist eine überaus segensreiche und die Sammlungen
desselben, welche dem Publicum allgemein zugänglich sind, bilden eine Sehenswürdigkeit.
Im Deutschen Reiche, w^o, wie erwähnt, die Unfall-Verhütungsvorschriften
gesetzlich geregelt sind, ist es den verschiedenen Berufs-Genossenschaften
überlassen, Unfall- Verhütungsvorschriften zu erlassen und von dieser Befugnis
hat auch die Mehrheit dieser Corporationen (59 von 90) Gebrauch gemacht.
Es wurden gemeinsame Unfall-Verhütungsvorschriften für sämmtliche
Berufs-Genossenschaften ausgearbeitet und dann besondere Vorschriften für
die einzelnen Industriezweige.
Aus der Unfallstatistik der gewerblichen Berufs-Genossenschaften ergibt sich,
dass im Jahre 1887 in 319.453 versicherten Betrieben mit 3,861.560 versicherten gewerb-
lichen Arbeitern 106 001 Unfälle gemeldet wurden. Die Verletzungen bestaiiden in 851
Fällen in Verbrennungen, Verbrühungen und Aetzungen und in 14.840 Fällen in verschie-
denen Wunden und Knochenbrüchen; in 114 Fällen erstickten und in 147 Fällen ertranken
Personen. Die Zahl der Verletzten, für welche Entschädigungen bezahlt werden mussten,
belief sich auf 15.970.
Was die Art des Zustandekommens der Verletzungen betrifft, so kommen auf Ver-
letzungen durch Maschinen 4287 Fälle = 26-84ö/o und auf anderweitige Verletzungen
11.683 Fälle = 73-16''/o.
Unter den Verletzungen durch Maschinen nehmen der absoluten Zahl nach die durch
Arbeitsmaschinen verursachten = 2803 die erste Stelle ein. Dann folgen die durch Fahr-
stühle und Aufzüge verursachten Unfälle mit 899, die durch Transmissionen mit 369 und
die durch Motoren mit 216 Unfällen.
Unter den anderweitigen Verletzungen stehen an erster Stelle die durch Zusammen-
bruch und Einsturz von Fels-, Sand- und Erdmassen, Gerüsten etc. mit 3322 Fällen.
894 UNFALLVERHÜTUNG.
Hiernach kommen die Unfälle durch den Sturz der Arbeiter von Treppen, Leitern, Ge-
rüste, in Vertiefungen u. s. w. mit 2313 Fällen.
In Oesterreich, wo, wie bereits hervorgehoben, gesetzliche Vorschriften für
Unfallverhütung nicht bestehen, sind die verschiedenen Betriebe gebunden,
ihre Arbeiter gegen Unfall versichern zu lassen, und die sogenannten Gewerbe-
inspectoren sind damit betraut, die verschiedenen gewerblichen und indu-
striellen Etablissements zu inspiciren und zu überwachen.
Die Arbeiter-Unfallversicherungsanstalt von Niederösterreich hat bisher
nur eine Belehrung zur Verhütung von Unfällen bei landwirtschaftlichen
Maschinen herausgegeben, die, wie es in der Einleitung zu dieser Broschüre
heisst, „der landwirtschaftlichen Bevölkerung in unverbindlicher Art an
die Hand gehen soll", damit Unfälle soweit als möglich vermieden werden.
Die Statistik derselben Arbeiter-Ünfallversicherungsgesellschaft weist im Jahre
1896 aus:
Zahl der versicherten landwirtschaftlichen Betriebe 18.327 mit 58.974 Personen.
Zahl der versicherten gewerblichen Betriebe 15.806 mit 290.895 Personen.
Zahl der freiwillig versicherten Betriebe: 27 mit 844 Personen.
Die Anzahl der im Jahre 1896 Verletzten, für welche eine ünfallsanzeige überhaupt
erstattet wurde, betrug 25.488; die Anzahl der Personen, welche von einem, eine Ent-
schädigung begründenden Unfälle betroffen wurden, betrug 5184.
Hierunter nach der Ursache des Unfalles 181 Fälle durch Verschulden des
Verunglückten, drei Fälle durch Verschulden des Betriebsunternehmers, 26 Fälle durch
Verschulden eines Dritten, 4970 durch unvorhergesehene Zufälle, und vier durch unauf-
geklärte Ursachen.
Nach den Folgen der Verletzungen war: Vorübergehende Erwerbsunfähigkeit in
3018 Fällen, dauernde Erwerbsunfähigkeit in 1984 Fällen und Tod in 182 Fällen,
Laut dem Berichte der Gewerb einspectoren in Wien gelangten im
Jahre 1896 53.471 Unfälle aus gewerblichen Betrieben zur Anmeldung, mit
490 Todesfällen. Hieran werden in dem genannten Berichte die nachfolgen-
den Bemerkungen geknüpft, welche so charakteristisch und lehrreich sind,
dass wir dieselben hier wörtlich citiren:
„Eine Reihe von Wahrnehmungen gibt Zeugnis dafür, dass die Pflege der Unfall-
verhütung und die Beachtung der diesfalls nöthigen Vorsichtsmaassregeln noch nicht zum
Bewusstsein derjenigen Organe gelangt ist, welche vor allem berufen erscheinen, diesem
Gegenstande ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Nach wie vor findet man in
den Betrieben Aufsichtsorgane, welche, die Gefahr nicht achtend, ihr Leben oder aber ihre
gesunden Glieder, aufs Spiel setzen.
Die Mehrzahl der Berichterstatter befindet sich in der angenehmen Lage, über zweck-
mässige Schutzvorkehrungen Mittheilung zu machen, welche im Berichtsjahre angebracht,
beziehungsweise in Verwendung genommen wurden. Es waren aber auch Schutzvor-
kehrungen angebracht, welche ihrem Zwecke nicht entsprachen. In solchen Fällen lag die
Schuld entweder an der unzweckmässigen Construction, oder aber an der Art der An-
bringung derselben an der betreffenden Maschine, beziehungsweise Werkvorrichtung, und
wurde selbstverständlich sofort Abhilfe veranlasst.
Fast alle Berichterstatter verzeichnen verschiedene Wahrnehmungen, welche dafür
sprechen, dass die Vorschriften betreffend Aufstellung, Erprobung, Revision und Wartung
der Dampfkessel nicht überall beachtet werden. Noch immer kommt es vor, dass das
Kesselhaus als Arbeitsraum oder zu anderen Zwecken, hauptsächlich aber als Trockenraum
und das Kesselplateau als Trockenböden benützt wird; einmal war der Dampfkessel so
ungünstig situirt, dass eine schnelle Flucht der Bedienungsmannschaft im Falle der Gefahr
sehr erschwert war. Anlässlich der Inspectionen wurden Kessel vorgefunden, welche ausser-
halb jeder behördlichen Revision standen; auch gibt es noch Betriebe, in welchem die
Dampfkessel in gewölbten oder überbauten Räumen untergebracht sind; einmal fehlte das
Kesselcertificat; einzelne Kessel wurden von ungeprüften Heizern gewartet; in einigen Be-
trieben war der Mangel an Reserveheizern zu beanstanden, welcher Mangel zur Folge hatte,
dass der Kessel oft längere Zeit ohne Aufsicht, in einem Falle sogar nicht gespeist war;
einige Male waren die Sicherheitsventile überlastet; einmal war die Bedienung des Dampf-
kessels und gleichzeitig auch die Bedienung einer 25-pferdigen Dampfmaschine, welche in
einem vom Kesselhause 30 Schritte entfernten Gebäude aufgestellt war, einem und dem-
selben Wärter anvertraut; ein anderes Mal, und zwar in einem bergmännisch betriebenen
Schieferbruche, hatte der Kesselwärter, welcher als Maschinist nicht geprüft war, auch die
im Nebenlocale befindliche Fördermaschine zu bedienen; überhaupt wurde mehrere Male
constatirt, dass die Kesselwärter auch noch zu anderen, mit der Kesselwartung nicht zu-
sammenhängenden Leistungen herangezogen werden.
UNFALLVERHÜTUNG. 895
"Wie unvorsichtig beim Kesselbetriebe vorgegangen wird, dafür sprechen die vielen
Verbrühungen, welche in zwei Fällen den Tod der Verletzten zur Folge hatten.
Im Berichtsjahre kamen zwei Dampfkessel-Explosionen vor, welche sich als Kata-
strophen in grossem Umfange darstellen; denselben fielen — von den sonstigen Verletzten
abgesehen — neun Alenschenleben zum Opfer. In dem einen dieser Fälle dürfte die Explo-
sion durch Wassermangel veranlasst gewesen sein und wird vermuthet, dass die Unter-
lassung der Speisung auf eine optische Täuschung des verunglückten, ausserordentlich
pflichttreuen und verlässlichen Kesselwärters bei Beobachtung des Wasserstandes zurück-
zuführen ist. Würde sich diese Vermnthung bestätigen, dann würde diese Katastrophe,
welche vier Menschenleben forderte, nur zu deutlich dafür sprechen, dass man der Frage
der guten Beleuchtung des Kesselhauses, insbesondere aber der guten Beleuchtung der
Sicherheitsarmatur und der leichten Erkennbarkeit des Wasserstandes, sowie überhaupt der
rechtzeitigen Speisung des Kessels nicht genug Aufmerksamkeit schenken kann.
Gleichwie in den Vorjahren schenkten mehrere Berichterstatter dem Betriebe der
Dampfapparate ihre besondere Aufmerksamkeit. Wenn auch die in den Einzelnberichten
mitgetheilten Fälle dafür sprechen, dass es dringend nothwendig erscheint, alle Apparate,
welche unter Druck arbeiten, ebenso wie Dampfkessel unter behördliche Controle zu stellen,
so kennzeichnen sie auch die Schwierigkeiten, welche der Erlassung allgemeiner Sicherheits-
vorschriften entgegenstehen, zumal es sich darum handelt, neben der Betriebssicherheit
auch die Betriebsmöglichkeit nicht aus dem Auge zu verlieren.
Der Aufschwung, welcher namentlich in Wien im Baugewerbe zu verzeichnen ist,
war Anlass zur Eröffnung neuer und zum forcirten Betriebe bereits eröffneter Steinbrüche,
Schotter- und Sandgruben. Leider fand hierbei der Arbeiterschutz nicht immer die wün-
schenswerte Beachtung, wofür die zahlreichen Unfälle sprechen, welche sich daselbst er-
eigneten. In dieser Beziehung lässt nicht blos die Art des Vorganges beim Abbaue,
sondern auch die Aufbewahrung und Verwendung der Sprengmittel sehr viel zu wünschen
übrig.
In Bezug auf den Schutz der Schleifsteine wissen einzelne Berichte Erfreuliches zu
verzeichnen: namentlich gilt dies von einem Bremsregulator und der Construction eines
Mantels, welcher zum Schutze der Schleifer gegen die beim Bersten eines Steines herum-
fliegenden Bruchstücke bestimmt ist.
Andererseits wird berichtet, dass der Schutz der Schleifsteine einem hartnäckigen
Widerstände begegnet. Ein Unternehmer, in dessen Betriebe sich infolge Berstens von
grossen Schleifsteinen mehrere Unfälle mit tödtlichem Ausgange ereigneten, war zur An-
bringung entsprechender Schutzvorkehrungen erst dann zu bewegen, als mit der Ein-
stellung seines Betriebes vorgegangen wurde; diese energische Maassregel bestimmte auch
die anderen Unternehmer, der ihnen durch § 74 der Gewerbeordnung auferlegten Ver-
pflichtung zu entsprechen.
Mannigfaltig sind die bezüglich der Schutzbrillen gemachten Wahrnehmungan. Fast
übereinstimmend war der Widerstand hervorgehoben, welchen die Arbeiter der Benützung
derselben entgegenstellen; bald sind sie ihnen zu schwer, bald laufen sie an, bald sind sie
Ursache, dass die Augen schwitzen u. s. w. Es macht keinen Unterschied, ob es sich um
Gussputzer, Kesselschmiede, Steinmetze oder Schotterschläger handelt.
Wie sonst, gab auch im Berichtsjahre der Schutz der Holzbearbeitungsmaschinen,
insbesondere aber der Kreissäge viel zu schaffen. Vielfach wird über ungenügende und
auch unzweckmässige Vorrichtungen geklagt. Unter solchen Umständen ist es erklärlich,
dass dieselben theilweise oder ganz ausser Function gesetzt sind, nachdem sie weder der
Beschaffenheit des Sägeapparates, noch der Art der zu leistenden Arbeit entsprechen, diese
vielmehr behindern.
Dem entgegen wird von einer Doppelsaumsäge berichtet, die ungefähr doppelt so
leistungsfähig als die gewöhnliche Kreissäge und in ihrer Handhabung vollkommen ge-
fahrlos ist.
Auch sonst noch wird von einer zweckmässigen Schutzvorrichtung an Kreissägen
Mittheilung gemacht, welche in einer Bürstenholz-Erzeugung angetroffen wurde.
Grossen Widerstand setzen die Unternehmer der Anbringung von „Schützenfängern"
entgegen. Ist es richtig, dass die Schützen nur bei schlecht montirten Stühlen heraus-
fliegen, so liegt es an der Hand jedes einzelnen Unternehmers, dem Herausfliegen der
Schützen durch gut montirte Stühle zu begegnen. Uebrigens scheinen die Unternehmer
die Richtigkeit dieser Behauptung selbst in Zweifel zu ziehen, weil sie die Fensterscheiben
ihrer Webereien durch Drahtgitter schützen, was sie gewiss nicht thäten, wenn sie das
Herausfliegen der Schützen nicht befürchten würden. Was also seitens der Gewerbein-
spectoren im Sinne des § 74 der Gewerbeordnung als Arbeiterschutz intendirt wird,
wird als Fensterschutz durchgeführt, ohne dass es gleichzeitig dem Arbeiterschutze
dienen würde.
Der Widerstand der Unternehmer gegen die Schützenfänger wird genährt durch den
Widerstand der alten Weber, welche behaupten, dass sie durch dieselben in der Arbeit be-
hindert werden. Wie wenig begründet diese Behauptung ist, dafür spricht die Thatsache,
dass es den in jüngerer Zeit ausgelernten Webern, die doch auch im Stücklohne stehen,
896 VENTILATION.
nicht beifällt, den Schiitzenfänger vom Stuhle za entfernen. Selbstverständlich muss man
darauf bedacht sein, unter den verschiedenen Constructionen die richtige Auswahl zu treffen.
Auch das Baugewerbe gab im Berichtsjahre Anlass zu Klagen, und zwar betrafen
dieselben ebenso die Gerüste als die Baumaschinen."
Dieser Bericht der Gewerbeinspectoren in Wien drängt wohl jeder-
mann die Ueberzeugung auf, dass auf dem Gebiete der Unfallverhütung im
gewerblichen und industriellen Betriebe noch sehr Vieles wird geleistet werden
müssen.
Jedenfalls ist die Schaffung eines diesbezüglichen Gesetzes eine höchst
dringende Nothwendigkeit.
In Deutschland ist der Widerstand, den die Fabrikanten anfänglich der
Einführung von Schutzvorkehrungen und den damit verbundenen Inspicirungen
ihrer Etablissements durch behördliche Organe entgegensetzten, heute bei-
nahe völlig geschwunden. Die Haftpflicht der Arbeitgeber wurde vom Staate
strictest durchgeführt, und die Unternehmer lernten es einsehen, dass sie die
hohen Beträge, die sie oft zahlen mussten, beim Vorhandensein oft nur um
minimalen Preis anzuschaffender Schutzvorrichtungen sehr leicht hätten er-
sparen können.
Auch der Einwand, dass seit Einführung der Schutzvorrichtungen laut
der Statistik eher ein Zu- als Abnehmen der Unfälle zu beobachten sei, ist
hinfällig. Wohl scheint dies auf den ersten Anblick der Zahlen der Fall zu
sein, allein es muss erwogen werden, dass, während früher die Unfallsanmel-
duDg eine mangelhafte war, dieselbe nunmehr seit Schaffung des Unfall- Ver-
sicherungszwanges einen bedeutenden Aufschwung genommen hat, wenn sie
auch heute noch lange nicht auf jener Stufe steht, welche sie im Interesse
einer ausreichenden Unfallstatistik hätte erreicht haben sollen.
Die Unfallstatistik hat nämlich neben ihrer besonderen Bedeutung für
die Socialpolitik auch noch insoferne ein hervorragendes Interesse für sich,
als ihr die Aufgabe zufällt, die bei den Unfällen concurrirenden verschiedenen
Factoren festzustellen und so die nöthigen Grundlagen für eine erfolgreiche
Prophylaxe zu beschaffen.
Erst mit einer allerseits möglichst einheitlich organisirten Unfalls-
Anzeigep flicht wird eine wirklich brauchbare Statistik zu Stande kommen,
und mit dieser Hand in Hand wird die Unfallverhütung, welche ein Product der
modernen socialpolitischen Bestrebungen ist, mit der zunehmenden Aner-
kennung und Verwirklichung dieser Bestrebungen die ihr gebührende Be-
achtung finden. charas.
Ventilation. Zweck der Ventilation ist, die Luft bewohnter Räume
dauernd in möglichst derselben Beschaffenheit zu erhalten, wie die Luft
des Freien. Erstere unterscheidet sich von letzterer durch Verunreini-
gungen, die ihr insbesondere durch den Aufenthalt der Bewohner und den
„Haushalt" derselben zugeführt werden. Eine ideale Lösung der Ventilations-
aufgabe würde darin bestehen, ständig Frischluft in derselben Menge ein-
zuführen, als verunreinigte Luft entsteht, und zwar so, dass die Frischluft
auch den Ort wieder einnimmt, den die verunreinigte Luft soeben verlassen
hat. Dieser Lösung kann man auch mit den vollkommensten Hilfsmitteln der
Technik nur nahe kommen, sie ganz zu erreichen ist unthunlich.
Die atmosphärische Luft ist ein Gemisch aus circa 79 Raumtheilen Stickstoff
und 21 Raumtheilen Sauerstoff. Dem Gewichte nach besteht atmosphärische Luft zu 77%
aus N und 23% aus 0. Einige neuerdings in der Luft in minimalen Mengen auf-
gefundene, mit dem Stickstoff' in schwerlöslicher Verbindung befindliche andere Stoffe
sind für die gesundheitliche Beschaffenheit derselben von keiner Bedeutung. Wichtig sind
dagegen die in der Luft zufällig vorkommenden anderweitigen Stoffe, und unter diesen
insbesondere die stets anzutreffende Kohlensäure, der Was serdampfundder gewöhnlich
ebenfalls vorhandene Staub. Accidentell in der freien Luft vorkommende Stoffe sind
ferner Russ, schweflige Säure und Schwefelsäure, Kohlenoxyd, Ammoniak,
salpetrige Säure und Salpetersäure, Kohlenwasserstoffe, Chlor, Ozon
das Product elektrischer Entladungen, Spalt- und Schimmelpilze.
VENTILATION. 897
Was zunächst die Spalt- und Schimmelpilze betrifft, so sind sie im Allgemeinen nur
wenig zahlreich in der freien Luft vorhanden; der Grund davon ist, dass sie am Staube
haften und mit diesem leicht zu Boden fallen. Allen bisherigen Beobachtungen nach
kommt den in der freien Luft enthaltenen Pilzen gesundheitlich nur geringe Bedeutung
zu. Petri fand in der Strassenluft vor einem Berliner Hause 710 — 800, in der Hofluft hinter
dem Hause 32.000 und in der Luft über dem Hausdache 330 — 510 Keime. Im Park von
Montsouris ward die Keimzahl zu 300, die Zahl der Schimmelpilze zu 205 ermittelt und
in der Pariser Strassenluft im Jahresmittel zu 5445 Keime und 1689 Schimmelpilzen; alle
diese Zahlen beziehen sich auf 1 ;»/• Luft. Als Regel scheint zu gelten, dass je höher die
Feuchtigkeit, desto höher auch die Keimzahl der Luft. Aber nach Versuchen, die im
Park von Montsouris angestellt sind, darf angenommen werden, dass Spaltpilze auch im
trockenen Staube ihre Lebensfähigkeit und Virulenz viele Jahre hindurch bewahren können.
Die genaue Bestimmung von Staub mengen der Luft bietet grosse Schwierigkeiten;
ein völlig sicheres Verfahren dazu ist bisher nicht gefunden worden, üebrigens sind die
Staubmengen im Freien nach Oertlichkeit und Zeit sehr wechselnd und geringer, als man
nach dem blossen Augenschein annehmen möchte. Fodor fand in Budapest im Winter
0'24 })ig, im Frühjahr 0"35 mg, im Sommer 0*55 mg und im Herbst 0'24 mg in 1 m^ Luft.
Russ (unverbrannte Kohlentheile und Flugasche) findet sich in grösseren Mengen
in der Luft von Fabriksstädten. Auch die genaue Bestimmung der Rassmengen der Luft
ist mit besonderen Schwierigkeiten verknüpft. In 1,000.000 m^ Luft über der amerikanischen
Stadt Cleveland wurden von 1-5—34 gr Russ gefanden, und in Würzburg ermittelte
Kejm die auf 1 w* Fläche in 24 Stunden ausgeschiedene Russmenge zu 93—214 mg.
Luft aus der Fabriksstadt Chemnitz ergab die höchste Zahl mit 260 mg. In 1,000 000 m*
Luft über der Stadt Cleveland fand man von 303— 1373 gr freies Ammoniak, 16—34 gr
Schwefelsäure und 54 — 1216 gr salpetrige und Salpetersäure.
Bei der Entnahme von Frischluft für Ventilationszwecke sind Stellen, an
welchen Staub, Russ und andere Verunreinigungen in grösseren Mengen vor-
kommen, zu vermeiden. Wo das nicht thunlich ist, rauss die zugefiihrte Luft
durch Filtern oder Waschen von diesen Fremdstoffen möglichst befreit
werden. Die grössten Staubmengen finden sich dicht über der Geländeober-
fläche, die grössten Russmengen in der Höhe über den Gebäudedächern; die
geringsten Staubmengen werden an geschützten Stellen, etwa unter Bäumen
oder Gesträuchern angetroffen. Die Entnahmestellen von Frischluft sollen
daher einige Meter hoch über Gelände Oberfläche an vor Luft-
strömungen geschützten Stellen liegen. Die erhöhte Lage schützt auch vor
Einführung von Stoffen oder Gerüchen, die der Luft unmittelbar über Gelände-
höhe beigemischt sind. Wo günstige Oertlichkeiten für Entnahme von Frischluft
einige Meter über Geländehöhe fehlen, ist es am besten, die Luft in etwas
grösserer Höhe, vielleicht der Höhe des ersten oder zweiten Geschosses von
Wohngebäuden, zu entnehmen.
Viel grössere Staubmengen und ebenso ungleich höhere Keimzahlen als
im Freien werden in der Luft geschlossener Räume angetroffen, die
höchsten Staubmengen in der Luft gewisser gewerblicher Betriebe. Theils
erfolgt die gesundheitsschädliche Wirkung des Staubes in einer mechanischen
Weise, theils kommen auch chemische Wirkungen in Betracht, die von der
speciellen Beschaffenheit des Staubes abhängig sind.
Hesse fand in der Luft eines Wohnzimmers 1-6, in derjenigen einer Hutfabrik 6_'4
und in der Luft des Hadernsaales einer Papierfabrik wechselnd von 3*8— 24*9 mg Staub in.
1 m^ Luft.
Durch das Oeffnen von Fenstern und Thüren wird bereits abgelagerter
Staub von neuem der Luft beigemischt, und dasselbe geschieht durch die
Ventilation, deren Wirksamkeit Luftbewegung, und stellenweise sogar stärkere
Luftströmungen voraussetzt. Es folgt daraus, dass man Staub in geschlossenen
Räumen durch Ventilation nur in geringem Maasse oder kaum bekämpfen
kann, möglichste Staubfreiheit hier vielmehr durch Aufnehmen desselben mit
feuchten Tüchern u. s. w. geschaffen werden muss.
Während in der freien Luft das Vorkommen infectiöser Keime
kaum zu fürchten ist, muss mit dieser Gefahr in geschlossenen Räumen aller-
dings gerechnet w^erden. Dies gilt insbesondere für Krankenzimmer in
Wohngebäuden, Kranken- und Operationssälen in Hospitälern. In der Luft
solcher Räume sind mehrere Arten von infectiösen Keimen, insbesondere
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. o7
898 VENTILATION.
Eitercoccen und Tuberkelbacillen, ferner die Erreger von Lungenentzündung
und Wundstarrkrampf sicher nachgewiesen worden. Uebrigens haben Luft-
untersuchungen in Krankenhaussälen Keimzahlen, die zwischen 3000 und
80.000 in 1 m^ w^echseln, ergeben. Da die Keime nicht selbständig in
der Luft vorhanden sind, sondern von Staub th eilchen getragen werden, gilt
bezüglich ihrer Entfernung durch Ventilation dasselbe, was oben hinsichtlich
der Fernhaltung von Staub angegeben ist. Bei der gesteigerten Wichtigkeit,
welche die Ventilation für Krankenräume besitzt, ist hier, neben Entfernung
des Staubes durchfeuchte Reinigung, nachdrücklich gegen die Entstehung
von Staub zu wirken. Dies kann insbesondere durch Wahl von nicht oder
nur möglichst wenig abnutzbaren Baustoffen zu Fussböden, Wänden und
Möbeln geschehen.
Der Einführung der anderen oben genannten zufälligen Luftverunreini-
gungen in geschlossenen Räumen kann nur in der Weise entgegengewirkt
werden, dass die Entnahme der Frischluft an Stellen, wo dieselben in grösseren
Mengen vorkommen, vermieden wird.
Wasserdampf und Kohlensäure beeinflussen das Gewicht der Luft in
entgegengesetzter Weise. Da die Antheile, welche sie in der Luft bilden,
relativ gering sind, kann bei Berechnungen über den Luftwechsel in Räumen
dieser Einfluss als bedeutungslos angesehen werden. Die Menge des
Wasserdampfes in der freien Luft bleibt meist hinter dem Maximum (so-
genannter Thaupunkt) zurück. Als „trocken" bezeichnet man Luft, welche
von 40 — 60 7o der Sättigungsmenge enthält, „mittelfeucht" ist Luft mit
60 — 807o und „feucht" ist Luft mit über 80% der Sättigungsmenge. Die Luft
von reinlich gehaltenen und massig besetzten Wohnräumen wird in der Regel
als „trocken" gelten müssen, während stark besetzte Räume, namentlich wenn
dieselben mit künstlicher Beleuchtung versehen sind, die (wie Gas) viel Wasser
erzeugt, mittelfeuchte und sogar feuchte Luft enthalten können.
Die specifische Bedeutung, welche dem Feuchtigkeitsgehalt dei* Athemluft für die
Körpergesundheit zukommt, ist nicht näher bekannt. Es wird aber beobachtet, dass
feucht-warme Luft (Extrem z. B. die Luft in Treibhäusern), weil sie die Entwärmung
und Wasserabgabe des Körpers durch die Haut hindert, das Gefühl drückender Schwüle
hervorruft, warme trockene Luft dagegen meist angenehm empfunden wird und das-
selbe von kalter trockener Luft gilt. Hingegen steigert feucht-kalte Luft das Frost-
gefühl, weil dabei die Entwärmung des Körpers zu stark begünstigt wird, und ruft die so-
genannten Erkältungskrankheiten hervor. Da zwischen den angegebenen vier Zuständen
der Luft keine scharfen Grenzen bestehen, da weiter die Wirkungen dieser Zustände in
hohem Maasse davon abhängen, ob die Luft sich in Ruhe befindet, oder bewegt ist, da auch
Ruhe, bezw. körperliche Thätigkeit, und endlich Individualität und Gewöhnung eine grosse
Rolle spielen, so ist klar, dass für die Zuträglichkeit der Luft, so weit dieselbe von dem
Gehalt derselben an Wasserdampf abhängt, nicht eine bestimmte Norm angebbar ist, sondern
nur Grenzwerte, die weit auseinander liegen. Im Allgemeinen gilt Zimmerluft für
zuträglich, wenn sie von 40 — 60°lo der Sättigungsmenge an Wasserdampf enthält, also
nach der oben gegebenen Bezeichnungsweise „trocken" ist.
Der wichtigste Nebenbestandtheil der Luft ist die Kohlensäure, die
sich überall in derselben in gewissen, wenig wechselnden Mengen findet.
Kleine Wechsel finden nach der Höhe und nach der Jahreszeit statt. Unmittel-
bar über Geländeoberfläche ist der COg-Antheil grösser als in höheren
Schichten.
In freien Lagen, nahe dem Meer und im Gebirge, werden nur 0'22— 0 25 Raum-
theile in 1000 Raumtheilen Luft angetroffen, in luftigen Strassen und auf freien Plätzen
in Städten von 0"26 — 0"32 Raumtheile, in engen Strassen und Höfen dagegen bis 06 Raum-
theile; durchschnittlich kann man in der Stadt OSO -045 Raumtheile rechnen; doch wird
unter normalen Verhältnissen der Antheil der unteren Grenze meist näher liegen als der
oberen.
Viel grössere Mengen von CO2 werden in geschlossenen Räumen, namentlich in so-
genannten Massenlokalen (Schulen, Auditorien, Restaurants, Theatern und Concertsälen,
Arbeitsräumen, dicht besetzten Schlafräumen u. s. w.) angetroffen. In einem Schulzimmer,
das ohne besondere Ventilationseinrichtungen war, ermittelte Hesse, mit der Unterrichts-
dauer wachsend, von 0'3— 42 Raumtheile COg und ähnliche Mengen, nämlich zwischen
2-61 und 5"31 fand H. Wolpert in einer Anzahl Berliner Restaurants.
VENTILATION. 899
Die besondere Wichtigkeit des COg-Antheiles in der Luft beruht nicht
in der besonderen Schädlichkeit desselben, vielmehr darin, dass dieser
Antheil (infolge Mangels einer anderen besseren Bestimmungsmethode) als
Maassstab für die Luftverunreinigung benutzt wird. Für die Wahl
dieses Maassstabes gibt es drei Gründe, nämlich:
1. dass in bewohnten Räumen der C02-Gehalt der Luft etwa in dem-
selben Verhältnis wächst, wie die Bewohnerzahl;
2. dass wahrscheinlich in demselben Maasse, als der CO2 -Gehalt zu-
nimmt, auch die Menge der Verunreinigungen der Luft zunimmt.
3. dass die COg -Bestimmung relativ einfach ist, im Vergleich zu einer
einigermaassen vollständigen Luftanalyse; gewisse Verunreinigungen sind
bisher überhaupt nicht quantitativ bestimmbar.
Hiernach ergibt sich, dass die COa-Menge weiter nichts als ein Indicator
ist und selbst als solcher keine unbeschränkte Geltung hat, weil er nur auf die
Menge derjenigen Stoffe einen Schluss erlaubt, die vom Menschen selbst
herrühren, während die aus sonstigen Quellen fliessenden Verunreinigungen
unberücksichtigt bleiben.
Pettenkofer hat nun nach vielfachen Beobachtungen namentlich an sich
selbst festgestellt, dass, wenn eine Zimmerluft behaglich wirken soll, der CO2-
Antheil nicht über 0'7 Raumtheile, d. i. etwa das Doppelte der in der freien
Atmosphäre der Städte vorkommenden Menge, hinausgehen darf, und dass bei
der Menge von 1 Raumtheil empfindliche Personen solche Luft mit Wider-
streben einathmen.
Die Festhaltung von 0'7 Raumtheilen stellt an den Luftwechsel von
Räumen im Allgemeinen recht hohe Ansprüche; in manchen Fällen kann den-
selben (wie weiterhin nachgewiesen wird) nicht genügt werden, ohne unzu-
lässige Nachtheile in den Kauf zu nehmen. Dies gilt für stark besetzte
Massenlocale, namentlich auch Schulen; deshalb wollen andere Autoren einen
höheren Antheil von CO2 zulassen, so z. B. FLtJGGE 1 Raumtheil und
RiETSCHEL für Schulen speciell sogar 1*5 Raumtheile.
Diese gemilderten Ansprüche können, abgesehen von Fällen, in denen
z. B. wie bei Krankenhäusern, grundsätzlich die höchsten Ansprüche gestellt
werden müssen, nicht leicht von der Hand gewiesen werden, umso weniger,
als es an einer exacten Festsetzung darüber, bei welchem Antheil die CO2
anfängt, nicht blos unangenehm empfunden zu werden, sondern positiv schäd-
lich wirkt, bisher fehlt. Abgesehen von den oben bereits mitgetheilten hohen
Zahlen sind auch zahlreiche Fälle bekannt, in welchen viel höhere An-
theile ohne Schaden ertragen wurden. An der Durchbohrung des Gotthard
wurde bei einem Antheil von 9*6 Raumtheilen gearbeitet, in preussischen
Bergwerken wurde früher dauernd bei 5 Raumtheilen gearbeitet, und in
Münchener Wohnräumen enthielt die Luft (nach Oertel) 9*4 Raumtheile.
Darnach und nach anderweitigen Feststellungen sollen nach Flügge 10 Raum-
theile längere Zeit hindurch und 50 bis 100 Raumtheile vorüber-
gehend ohne Gesundheitsschäden ertragen werden können.
Die hier eingeführte Abstufung nach der Dauer des Aufent-
haltes ist jedenfalls gut begründet.
Wie bei sehr hohen Anth eilen von CO2 Gesundheit und Leben ge-
fährdet sind, so hört auch das Brennen einer Flamme in einer stark kohlen-
säurehaltigen und dadurch sauerstoffärmer gemachten Luft auf. Nach
Einigen soll die Flamme schon bei etwa 30 Raumtheilen, nach Anderen erst bei
60 bis 80 Raumtheilen erlöschen. Die „Lichtprobe" ist daher ein gegen
Vergiftungsgefahren durch CO2 sehr sicherndes Mittel.
Die COa-Menge, welche durch die Athmung abgegeben wird, ist nach Alter und Ge-
schlecht, nach Schlaf, Ruhe, Bewegung oder Arbeit der betreffenden Person sehr verschie-
den. Als Durchschnittszahl hat sich nach den bisher vorliegenden Beobachtungen
etwa 18 l pro Stunde ergeben, mit den Grenzwerten von 36 3 und 97. Das Nähere enthält
die folgende Tabelle: 57*
900
VENTILATION.
Kräftiger Mann während der Arbeit.
derselbe in der Ruhe
Mann • . .
Frau
Jüngling
Jungfrau
Knabe
Mädchen
Alter der
Person
Jahre
Körper-
gewicht
hg
Stündliche
CO2 Aus-
scheidung
l
28
28
28
35
16
17
9-75
10
72
72
82
65
57-75
55-75
22
23
363
22-6
18-6
17-0
17-4
12-9
10-3
9-7
Nach neuerlichen Untersuchungen von H. Wolpert übt die Temperatur auf die
COs-Ausscheidung innerhalb der Grenzen der Beobachtung (5°— 25") keinen Einfluss, wo-
gegen ein bedeutender Einfluss der Thätigkeit sich geltend machte; bei Schlaf z. B.
ist die C02-Ausscheidung am geringsten. Wird die bei Schlaf ausgeschiedene Menge = 1
gesetzt, so ermittelte Wolpert folgende Verhältniszahlen: Schlaf: 1, Ruhe: 1*25, Ar-
beit: 3,
Bei gewerblichen Arbeitern, verschiedener Berufe, fand Wolpert die während
der Thätigkeit ausgeschiedenen CO,-Mengen, nach den Verhältniszahlen, welche folgen:
1 : 1-12 :^1-18 : 135 : 1-41 : 1-77 : 2-06.
Es ergibt sich demnach, dass es bei Ventilationsanlagen unzulässig ist,
mit einer einzigen Zahl für die COg- Ausscheidung zu rechnen, dass dabei
vielmehr Alter, Geschlecht, Thätigkeit, Ruhe oder Schlaf in Betracht gezogen
werden müssen. Die kleinste Kohlensäureerzeugung findet in Schulen, die
grösste in Arbeitssälen gewerblicher Arbeiter statt; für Concert- und Theater-
säle erscheinen mittlere Zahlen passend zu sein. Entsprechend mag man
mit etwa 9 beziehungsweise 36 und 20 l COg-Erzeugung pro Kopf und
Stunde rechnen.
Vom wissenschaftlichen sowohl als praktischen Standpunkte aus würde
vor der indirecten Bestimmung der Luftverunreinigung durch den COg-Gehalt
das directe Verfahren der Bestimmung der Verunreinigungsstoffe selbst
den Vorzug verdienen. Insoweit die Verunreinigungen von dem Menschen
herstammen (Ausathmungsproducte, Darmgase, Hautausdünstungen und Ab-
fälle u. s. w.), handelt es sich um organische Stoffe. Man hat sich bemüht,
die Menge derselben zu ermitteln, und zwar nach der sogenannten Chamäleon-
probe, welche die Menge des zur Oxydation der organischen Stoffe erforder-
lichen Sauerstoffes angibt. Diese Methode gibt aber, auf Untersuchungen von
Luft angewendet, so unsichere Resultate, dass sie hier zu unanwendbar er-
scheint, und daher bei Ventilationszwecken ausscheidet.
Der Aufenthalt von Menschen in geschlossenen Räumen kann nicht nur
durch unzuträgliche Beschaffenheit der Luft, sondern auch durch zu
hohe Temperaturen der Luft zuträglicher Beschaffenheit behindert
werden, beziehungsweise lästig sein. Und zwar ist es möglich, dass die Be-
lästigung durch hohe Temperatur schon früher eintritt, als Belästigungen
durch unreine Beschaffenheit der Luft sich geltend machen. In der Regel
wird dieser Fall bei starker Besetzung von Räumen, die mit reichlicher Be-
leuchtung — insbesondere durch Gas — aasgestattet sind, eintreten, z. B.
in Theatern, Concertsälen, Restaurants, Auditorien und Abendschulräumen.
Gestützt hierauf hat Rietschel den nicht von der Hand zu weisenden Vor-
schlag gemacht, den Ventilationsbedarf derartiger Räume nicht nur aus
der Luftverunreinigung, sondern auch aus der Temperaturerhöhung zu
ermitteln, und die Einrichtung alsdann so zu treffen, dass sie den höheren
von den beiden Anforderungen, die sich auf den beiden Grundlagen ergeben
haben, genügt.
VENTILATION.
901
Ueber die Verunreinigungen speciell der Luft geschlossener Räume
folgendes :
Bei normaler Athmung werden in einer Minute 15 bis 16 Athemzüge gemacht, und
durch jeden derselben 0-4 bis Oö Z, stündlich daher 360 bis 480? und im Laufe von
24 Stunden 9000 bis 12.000 l Luft in die Lungen eingeführt, eine gute Mittelzahl wird 10.000 l
sein. In letzterer Menge werden
eingeathmet
Sauerstoff .
Stickstoff .
Kohlensäure
2096 l
7900 „
4 „
10.000 l
ausgeathmet
1603 l
4900 „
440 „
9943 l
weniger 493 l
mehr 436
Unterschied 57 l
Durch die Athmung wird hiernach die Raumluft in doppelter Weise verschlechtert:
durch die Verminderung des Sauerstoffes um ca. ^4 '^^^^ Vermehrung der CO2 auf
mehr als das Hundertfache. Ausserdem gelangen durch die Exspiration organische Stoffe
in die Luft, welchen von einigen ganz besondere gesundheitliche Bedeutung beigelegt wird,
weil man in ihnen ein specielles Athemgift (Anthropotoxin), Umsetzungsgifte vermuthet,
oder für nachgewiesen hält. Die Frage ist noch nicht spruchreif, und noch immer mit
den drei Möglichkeiten zu rechnen, dass die Athemluft entweder giftfrei ist, oder Gifte
enthält, oder auch Stoffe, die erst nach der Ausathmung zu Giften werden.
Mit der Athmung gelangt auch Wasserdampf in die Luft. Die Menge desselben be-
trägt pro Kopf in 24 Stunden 025 bis 0 35 l Wasser. Da durch Verdunstung von der
Körperoberfiäche noch 0'6 bis 0-7 1 abgegeben werden, so ist die in Dampfform an die
Luft der Umgebung abgegebene Wassermenge einer Person 0.85 bis 105 Z, oder rund 11.
Diese Menge genügt, um folgende Mengen trockener Luft auf halbe Sättigung zu
bringen.
Luft von 10» Temperatur 213^3
. „ 20° „ 116 „
„ . 250 , 87 „ _
ist daher gross genug, nm bei unzureichender Lüftung und reichlicher Besetzung eines
Raumes die Umschliessung desselben, insbesondere Fenster und Aussen wände feucht zu
machen, und auch Unreinlichkeit zu befördern, sowie Ansiedlungen von Pilzen zu erzeugen,
beides Umstände, die ihrerseits wiederum luftverschlechternd wirken.
Andere und unter Umständen recht grosse Wasserdampfmengen werden von künst-
licher Beleuchtung an die Luft abgegeben, und zwar gleichzeitig mit Kohlensäure
lind Wärme. Für die gebräuchlichsten Beleuchtungsmittel sind die stündlich erzeugten
Wasserdampf-, Kohlensäure- und Wärmemengen in der nachstehenden Zusammenstellung
angegeben. Zu den Angaben ist aber zu bemerken, dass dieselben nicht in strengem
Sinne verstanden werden dürfen, weil mit der Einrichtung der Brenner, mit der
besonderen Beschaffenheit des Leuchtstoffes, und mit der Temperatur u. s. w. vielfache und
sehr grosse Wechsel möglich sind. Andererseits ist die durch die Beleuchtungsmittel be-
wirkte Luftverschlechterung nicht auf die Erzeugung gewisser Mengen von Wärme, Wasser-
dampf und Kohlensäure beschränkt, sondern wird dadurch vergrössert, dass bei der Licht-
erzeugung ein gewisser Sauerstoffverbrauch stattfindet, der aus der umgebenden Luft ge-
deckt werden muss. Leuchtgas enthält Kohlenoxyd, aber auch von den übrigen Leucht-
stoffen kann bei unvollkommener Verbrennung Kohlenoxyd an die Raumluft abgegeben
werden, und ausserdem können noch andere giftige Verbrennungsproducte entstehen.
Für je 10 Normalkerzen Lichtstärke werden stündlich entwickelt: (Siehe Tabelle
Seite 602).
Wenn man die für die CO2 - Erzeugung geltenden Zahlen dieser Tabelle mit den An-
gaben S. 900 vergleicht, so ergibt sich, dass durch Gas- und Petroleumflammen mittlerer
Leuchtkraft die Raumluft 2 — 6 mal so stark mit CO2 angereichert wird als durch 1 Kopf
der Bewohnerschaft.
Hingegen findet bei der Wassererzeugung zwischen den einzelnen Flammen und der-
jenigen für 1 Kopf der Bewohnerschaft nur ein geringerer Unterschied statt; im Allgemeinen
beträgt die Wassererzeugung einer Flamme mittlerer Stärke, derselben Art wie vor, das
1 bis 2^/2fache der Wasserdampfabgabe eines Menschen im Ruhezustande. Durch Arbeit
sowohl als erhöhte Temperatur kann indess nach den Untersuchungen Wolpert's beim
Menschen eine Erhöhung soweit eintreten, dass der Unterschied völlig verschwindet. In-
dessen haben Temperaturerhöhungen auch bei Flammen Erhöhung der Wassererzeugung zur
Folge, worüber jedoch genauere Feststellungen bisher nicht vorliegen.
Andere Verunreinigungen der Zimmerluft ergeben sich durch die Heizung, ins-
besondere wo eiserne Heizkörper angewendet werden. Wenn auf überhitzte Flächentheile
902
VENTILATION.
Wasser Kohlensäure
Wärm eeinh eiten
auf 1 m^
Wasser bezogen.
Elektrisches Bogenlicht . .
„ Glühlicht . . .
Leuchtgas, Argandbrenner .
„ Zweilochbrenner
Siemen's Regenerativbrenner
Auerbrenner
Petroleum-Rundbrenner . .
Flachbrenner
Paraffin
Stearin .
0-086
0-214
0-064
0-037
0-080
0-099
0-104
Spuren
46
114
35
44
95
122
130
5—15
15-45
440
500
230
67-106
200
eiserner Oefen Staub fällt, so -wird der organische Antheil des Staubes versengt und
verbreitet unangenehme brenzliche Gerüche. Ob durch glühende Wände eiserner Oefen
Kohlenoxyd diffundiren kann, ist ebenso oft behauptet als bestritten worden. Aber auch,
wenn die Frage im bejahenden Sinne zu beantworten wäre, würde von Oefen, die in den
zu heizenden Räumen selbst aufgestellt sind (directe Heizung), keine Gefahr von Luftvergif-
tung zu befürchten sein, weil die Luftströmungen im Zimmer dem Ofen zu- und nicht
abgekehrt sind. Hingegen sind bei ausserhalb des Raumes stehenden eisernen Oefen
Luftvergiftungen durch CO eventuell möglich; es muss daher bei den eisernen Oefen der
sogenannten Luftheizungen mit besonderer Vorsicht gegen Glühendwerden der Ofenwände
vorgekehrt werden.
Als letzte Quelle der Luftverunreinigung in bewohnten Räumen kommt die beson-
dere Disposition und Construction des Gebäudes, sowie die Benützungs weise
desselben in Betracht. Räume, von welchen üble Gerüche ausgehen, sind z. B. Koch- und
Waschküchen, Werkstätten mancherlei Art und Aborte. Bestehen zwischen denselben und
den eigentlichen Wohnräumen nicht ausreichend dichte Trennimgen, so können von solchen
Räumen aus sich schlimme Luftverunreinigungen verbreiten. Dasselbe gilt von Kellern mit
nicht luftdichter Sohle und mit durchlässigen Aussenmauern, in welchen sich feuchte, muffige
Luft bildet und mehr oder weniger starke CO2 - Bildungen stattfinden. Feuchtigkeit der
Wände und mangelhafte Fenster bringen nothwendig Schmutzanhäufungen und Luftver-
derbnis mit sich. Solche ergibt sich aber auch in Räumen, die unzureichendes Tageslicht
haben, wenn dieselben nicht häufig gelüftet werden. Gleichwie stagnirendes Wasser bald
verdiri)t, so auch die Luft geschlossener Räume, wenn sie nicht öfter ausgewechselt und
insbesondere, wenn sie nicht vom directen Sonnenlicht erreicht wird. Es ist hierbei an
die desinficirende Wirkung des directen Sonnenlichtes zu denken, das chemische Wirkungen
äussert und auch genügt, um eine Anzahl von pathogenen Mikroben zu vernichten, be-
ziehungsweise ihre Vermehrung zu hindern.
Aus dem Yorstehenclen ersieht sich, dass die Bestimmung der Luft-
verunreinigung in geschlossenen Räumen aus dem C02-Gehalt streng ge-
nommen nur für den besonderen Fall einigermaassen zuverlässig ist, dass es
sich um einen reinlich gehaltenen, massig besetzten Raum handelt, der Ver-
unreinigungen von anderen Räumen nicht zugeführt erhält. Einen angenähert
richtigen Maassstab bildet die Kohlensäuremenge aber auch noch unter etwas
weniger günstigen Umständen, wenn, wie es die Regel ist, bei Berechnung
des Ventilationsbedarfes diejenigen Frischluftmengen ausser Ansatz bleiben,
die durch Wände, Fenster und Thüren uncontrolirbar in den Raum
eintreten.
Sei die pro Kopf und Stunde zur Verhütung der Ueberschreitung eines
gewissen COg-Antheiles p zuzuführende Luftmenge L, sei ferner a die in
1 w3 Frischluft enthaltene, und K die von 1 Person stündlich ausgeathmete
COa-Menge (alle Maasse in m^ verstanden), so ist La ~{- K die stündlich
eingeführte und Lp die nicht zu überschreitende COg-Menge und darnach:
La -\- K=: Lp, woraus:
VENTILATION.
903
K
p — a
(1)
Wenn noch aus anderen Quellen, wie z. B. der Beleuchtung stündlich
die Menge K^^ von CO., zugeführt wird, ist entsprechend :
^ p — a ^ '
Mit Hilfe dieser beiden Gleichungen lassen sich alle Aufgaben über die Ven-
tilationsgrösse bequem lösen, abgesehen von der Bestimmung von L oder L^ z. B.
auch diejenige zu ermitteln, welcher Antheil von CO2 in der Frischluft nicht
überschritten sein darf, wenn in einem Raum von gegebenem Inhalt und ge-
gebener Besetzung in einer bestimmten Zeit der COg-Gehalt der Luft nicht
über einen bestimmten Satz = p hinausgehen soll, oder die andere, zu berechnen,
welche Besetzung und Flammenzahl ein Raum höchstens haben darf, wenn der
COo-Antheil in einer bestimmten Anzahl von Stunden = t den bestimmten Satz
■^ p nicht überschreiten soll, oder auch, welcher Antheil =^9 in einer be-
stimmten Stundenzahl = t bei gegebener Besetzung und Flammenzahl des
Raumes erreicht wird u. s. w.
Hier soll die Gleichung 1 nur zur Berechnung einer Tabelle benutzt
werden, die den stündlichen Frischluftbedarf L für Personen verschiedener
Art unter Voraussetzung gewisser COg-Mengen, die von denselben erzeugt
werden, und unter drei Voraussetzungen über den zulässigen Antheil j?, den
die CO2 erreichen darf, angibt. Es wird angenommen, dass py =■ 0"0007,
P2 =2 0-0010,^3 = 0-0015 und der Gehalt der Frischluft a^ = O'OOOo, a^ =
0-0004 sei. Die Tabelle ist folgende:
Stündlicli
ausge-
athmete
COo
CO2-G ehalt
der
Frischluft
Stündlicher Frisch-
luftbedarf, m^,
beim zulässigen CO2
Gehalt der Eaumluft
0,0007 0,001 0,0015
Kräftiger Arbeiter, arbeitend .
desgl. ruhend . .
Schwächlicher Arbeiter, ruhend
Mann
Frau
Jüngling
Jungfrau
Aelterer Knabe
desgl. Mädchen
Jüngerer Knabe
desgl. Mädchen
0-030
0-0-20
0-016
0-020
0-017
0018
0013
0 012
0011
0.009
0-008
0-0003
0,0004
0.0003
0.0004
0-0003
0U004
0-0003
0-0004
0-0003
0-0004
0-0003
00004
00003
0-0004
0 0003
00004
00003
00004
0-0003
00004
00003
0-0004
75
100
50
67
40
53
50
67
43
57
45
60
33
43
30
40
28
37
23
30
20
27
43
50
29
33
23
27
29
33
24
28
26
30
19
22
17
20
16
18
13
15
11
13
25
27
17
18
13
14
17
18
14
15
15
16
11
12
10
11
9
10
8
8
7
7
904 VENTILATION.
Die Zahlen in den drei letzten Spalten gelten der Voraussetzung nach
nur für den Fall der Tageslüftung, d. h. dass keine künstliehe Beleuchtung
vorhanden ist. Wo diese vorliegt, würde man eine andere gleichartige Tabelle
nach der obigen Gleichung 2 berechnen können.
In der Tabelle tritt der Einfluss, welchen die verschiedenen Factoren
(Alter, Geschlecht, Ruhe oder Bewegung und Beschaffenheit der Frischluft)
üben, deutlich hervor. Die Zulassung des Antheils 0-0015 von COg gegen
0-0007 setzt den Frischluftbedarf auf Vi bis Vs lierab, während der um O'OOOl
höhere Antheil der Frischluft an COg eine Vermehrung der nothwendigen
Menge Frischluft im Maximum in dem Verhältnis von etwa 4 : 3 bedingt.
Der erste, welcher zahlenmässige Angaben über das Frischluftbedürfnis pro Kopf
machte, war der französische General Morin. Seine Zahlen haben sich bis heute in
Geltung erhalten, und stimmen auch mit denjenigen späterer Autoren nahe überein. Eine
von RiETSCHEL gegebene Tabelle, welche, den wechselnden Verhältnissen entsprechend, für
jeden einzelnen Fall Maximal- und Minimalzahlen enthält, ist folgende :
Kleinste Grösste
Frischluftmenge pro Stunde und Kopf in m^
Krankeuräume für Erwachsene 75 75
„ „ Kinder 35 35
Schulräume für Kinder unter 10 Jahren . 10 17
„ „ über „ „ . . 16 28
Auditorien, Versammlungssäle 17 30
Theater-, Concert- und Festsäle .... 25 30
Gefängnisse und Kasernen 20 30
Oeffentliche Kassenräume 15 20
Geschäftsräume bei starker Besetzung . . 17 30
Desgleichen bei schwacher „ ... 20 —
Die Berechnung des Ventilationbedarfes stark besetzter und
künstlich beleuchteter Bäume aus der Temperatur gestaltet sich
wie folgt:
Die Wärmemenge, welche der Raum enthält, setzt sich aus drei
Theilen zusammen, und zwar:
TFi, derjenigen Wärmemenge, welche von den im Raum sich aufhaltenden
Personen abgegeben wird,
TFg: derjenigen Wärmemenge, welche durch die Beleuchtung erzeugt wird,
TFg, derjenigen Wärmemenge, welche durch die Umschliessungen des
Raumes entweder von aussen aufgenommen oder nach aussen abgegeben wird.
Die Summe ist: W = W^ ^ W^ ± W,.
Alle Werte sind auf die Stunde als Einheit zu beziehen. Müssen nun
stündlich L (m^) Luft der Temperatur t^ eingeführt werden und ist t die
zuzulassende Raumtemperatur, so ist die Temperaturerhöhung, welche diese
Luft erfährt t — ^^ und die dazu erforderliche Wärmemenge 0-306 {t — t^) L.
Da dieselbe von der im Raum erzeugten Wärmemenge hergegeben
werden muss, und dieses bei dem Ausdehnungscoefficienten 0-003665 der Luft
(TF (1 + 0-003665 0,
erfordert, so besteht die Bedingung:
0-306 (t—t,) L= Tf (1 -j- 0-003665 t), woraus:
jß ^ ^(1 +0-003665 t)
~ 0-306 (t-tj ' • • \'^)
Die Unterschiede in den nothwendigen Ventilationsgrössen, je nachdem
bei der Rechnung die COg -Erzeugung oder die Temperaturerhöhung zu
Grunde gelegt wird, können leicht an einem Beispiel anschaulich gemacht
werden.
Es sei ein Saal von 30 m Länge, 20 m Breite und 8 m Höhe =^ 4800 m^ Inhalt gegeben,
der 300 Personen fasst, und mit 60 offenen Flammen beleuchtet ist. Es soll wegen der nur
vorübergehenden Besetzung ein COa-Gehalt von 00015 zugelassen werden, und es habe
die Frischluft den COg-Gehalt von 0-0004. Dann ist nach Gleichung 2 (S. 903) die stündlich
einzuführende Frischluftmenge :
VENTILATION. 905
300.0-020+ 60.0-114
= 11673 m^
11673
die beim Saalinhalt von 4800 m^ stündlich eine /uno'» etwa 2\'o mahge Lufterneuerung be-
0 0015 — 0-0004
116
4800
deuten.
Bei Berechnung nach der Temperatur werde angenommen, dass die Temperatur am
Fussboden 15" betrage und für je 1 m Höhe um 2° zunehme, so dass sie in Kopfhöhe 19"
und an der Decke 15 + 2 . 8 = 31», daher in halber Höhe —IP+IL =23" betrage. Es
werde ferner die Aussentemperatur t = 12-5 gesetzt und angenommen, dass der Saal rund-
herum eingebaut sei, so dass durch die Umschliessungen weder Wärme zu- noch abströmt,
also W^ = 0 ist. Dann hat man
W = 300 . 100 + 60 . 500 ± 0 = 60000 W. E., daher nach Gleichung (3)
60000 (1 + 0003665 . 23)
0 306 (23 — 12-5)
20248 »^^
20248
die eine — .oqq ^ 4-2 malige Lufterneuerung in der Stunde bedeuten.
In diesem Falle stellt also die VermeiduDg einer belästigenden Tem-
peraturhöhe beinahe doppelt so grosse Anforderungen an den Luftwechsel,
als die Vermeidung eines unzulässig hohen COo-Gehaltes. In Wirklichkeit
ist allerdings die Sachlage so, dass der Unterschied weniger gross sein wird,
weil der vorausgesetzte Zustand: dass durch die Umschliessungen des Raumes
keine Luft ein- oder ausströmt, nicht erfüllt sein kann, daher der Luft-
wechsel um das Maass der durch Wände, Thüren u. s. w. freiwillig ein- oder
austretenden Luftmengen sich ändert. Immerhin lehrt das Beispiel, dass bei
Massenlocalen mit künstlichen Beleuchtungseinrichtungen die Grenze,
von welcher ab die Regelung der Temperatur höhere An-
forderungen an die Ventilation stellt, als die Erhaltung einer
zuträglichen Luftbeschaffenheit, ziemlich nahe liegt.
Das Beispiel erweist ferner die grosse zweifache Bedeutung, die
bei künstlicher Beleuchtung die A r t derselben besitzt. Bei Wahl von Auer-
brennern anstatt offener Brenner würden (Tabelle S. 902) die stündlich ein-
zuführenden Luftmengen sich auf 7365^3 oder etwa 63% bezw. 13148 w^
oder etwa 60°/o ermässigen. Bei Beleuchtung mit elektrischem Glüh-
licht würden gar nur 5450 m^ bezw. 10800 m^ Frischluft nöthig sein, d. h.
der Luftbedarf würde sich auf etwa 50% ermässigen.
Wenn man nach dem Vorstehenden im Stande ist, in jedem besonderen
Falle diejenigen Frischluftmengen, welche einen Räume entweder zur Erhaltung
einer gewissen L u f tb eschaffenheit oder einer gewissen Lufttemperatur
zugeführt werden müssen, auf rechnerischem Wege mit hinreichender An-
näherung zu bestimmen, so fragt es sich, welche Mittel, d. h. welche beson-
deren technischen Einrichtungen zu dieser Leistung erforderlich sind, und
nachdem diese Frage entschieden ist, ob etwa Gründe ausserhalb der Sache
vorhanden sind, welche zu einer Ermässigung der Ansprüche an den Luft-
wechsel nöthigen.
Von den technischen Einrichtungen wird weiterhin die Rede sein; die
zuletzt aufgeworfene Frage führt zu einer Betrachtung über den sogenannten
Luftcubus, d. i. die auf iKopfder Bewohnerschaft entfallende
Raumgrösse, oder den Wert i?, wenn i? den cubischen Inhalt des Raumes
— nach Abzug der Möbel — und n die Bewohnerzahl desselben bezeichnet.
In demselben Maasse, als der Luftcubus kleiner oder grösser wird, in dem-
selben Verhältnis muss die Zahl der auf eine Stunde entfallenden Luft-
erneuerungen des Raumes zu-, beziehungsweise abnehmen. Ist z. B. die auf
1 Kopf und Stunde entfallende Frischluftmenge zu 40 m^ ermittelt, und be-
trägt auch der Luftcubus 40 ni^, so wird die Luft des Raumes stündlich ein-
mal auszuwechseln sein. Wenn dagegen der Luftcubus entweder 10 oder
906 VENTILATION.
20 m^ ist, SO wird die Häufigkeit der stündlichen Lufterneuerungen 4, be-
ziehungsweise 2 sein müssen. Je grösser aber die Häufigkeitszahl, je
grösser die Geschwindigkeit, mit der die Frischluft denRaum
durchströmt, umso eher stellt sich Zugbelästigung der Bewohner
ein. Freilich spielt hiebei auch die Temperatur der Frischluft eine Rolle.
Durch niedere Temperaturen wird die Zugempfindung bedeutend gesteigert,
durch höhere gemildert. Immerhin gibt es eine, zwar individuell verschieden
liegende Grenze, an welcher bei jeder Temperatur Zugbelästigung merkbar
wird. Aus diesem Grunde ist die Möglichkeit einer Ventilationseinrichtung,
durch die x m^ Luft in 1 Stunde eingeführt werden sollen, durch die Be-
dingung beschränkt, dass der Luftcubus gross genug sei, damit die Anzahl
der stündlichen Lufterneuerungen nicht diejenige Grenze erreiche, bei welcher
Zugbelästigung eintritt. Diese Grenze muss bei Räumen für dauernden
Aufenthalt niedriger liegen, als bei solchen für kurzen Aufenthalt; sie kann
auch bei Räumen von besonderer Grösse, namentlich grosser Höhe, mit ent-
sprechend grosser Entfernung der Oeffnungen für den Lufteintritt, etwas
höher liegen als bei Räumen von gewöhnlicher Grösse und Höhe.
Im Allgemeinen sieht man etwa folgende Häufigkeitszahlen der stünd-
lichen Lufterneuerung als angemessen an:
für Wohn- und für Geschäftsräume mit nicht grosser Benützung 1—2,
„ Vorräume und Treppenhäuser je nach der Benützung . . 1 — 4,
„ Küchen und Aborte 3 — 5.
Die Häufigkeitszahl 2 — 3 kann als eine mittlere, auch für Räume an-
derer Bestimmung geltende angesehen werden.
Luft von ungleicher Temperatur lagert sich nach dem Unterschiede der
Schwere gewissermaassen schichtenweise über einander; die schwerste, am
niedrigsten temperirte Luft zu unterst. An Aussenwänden und Fenstern, welche
dauernd kälter als die Raumluft sind, befindet sich die Luft in Abwärts-
bewegung; an Innenwänden, die wärmer als die Raumluft sind, ist die Luft
in aufsteigender Bewegung. Ob und in welcher Höhenzone eines geschlossenen
Raumes Luft von aussen eindringt, ob und in welcher anderen Höhenzone Luft
nach aussen abgegeben wird, hängt vom Druck der auf beiden Seiten der
Raumumschliessung befindlichen Luft ab, der seinerseits nach dem Maeiotte-
schen Gesetz zum Luftgewicht in der Beziehung steht:
PI = Pi'h = P2 Y2 = Constante.
2^ bezeichnet den Druck (Spannung), -y das Gewicht der Luft.
Nach dieser Bedingung gehört zu dem kleineren Gewicht y erwärmter
Luft der höhere Druck 2^, und zu dem höheren Gewicht 71 kälterer Luft der
kleinere Druck p^, d. h. es wird im unteren Theile eines geschlossenen
Raumes, der Luft von nicht überall gleicher Temperatur enthält, von. aussen
nach innen gerichteter Druck — sogenannter Unter druck — herrschen, wäh-
rend im oberen Theil von innen nach aussen gerichteter Druck — sogenann-
ter Ueberdruck — stattfindet. Es wird entsprechend durch den unteren Theil
der Wände und am Fussboden Luft eintreten und durch den oberen Theil
der Wände und die Decke Luft austreten. Zwischen der oberen und
unteren Zone muss es nothwendig eine Schicht von der Dicke = 0 geben,
die man — uneigentlich — als neutrale Zone bezeichnet, in welcher weder
Lufteintritt noch -Austritt stattfindet, also Ruhe herrscht. Die Lage der neu-
tralen Zone ist von grosser Bedeutung für die Wirksamkeit einer Lüftungs-
einrichtung, und sie muss nach der Art derselben verschieden
sein. Es ist die Aufgabe des Constructeurs, je nach der Be-
stimmung der Räume, die neutrale Zone in einer bestimmten
Höhe zu fixiren.
VENTILATION. 907
In Wohnräumen muss die neutrale Zone in der Höhe der Fenster-
brüstung liegen, weil bei dieser Lage die Fenster keine kalte Luft von aussen
eintreten lassen, vielmehr warme Luft durch die Fenster nach aussen ab-
gegeben wird. — In Küchen, Aborten, Werkstätten, in welchen üble
Gerüche herrschen, desgleichen in Krankenräumen muss die neutrale
Zone unmittelbar unter der Decke liegen, so dass in der ganzen Höhe der
Räume Unterdruck besteht, der bewirkt, dass von allen Seiten Luft eindringt
und dadurch verhindert, dass sich die unreine Luft der genannten Räume
durch Wände und Thüren hindurch in benachbart liegende Räume verbreitet.
In Theater- und Concertsälen, Versammlungsräumen u. s. w. muss umgekehrt
der ganzen Höhe nach Ueberdruck herrschen, insbesondere damit bei Been-
digung des Aufenthaltes durch die geöffneten Zugänge nicht Lufteintritt statt-
finden und heftige Zugströmungen hervorrufen kann. Dasselbe gilt für Kirchen
und andere Räume von besonderer Höhe.
Beiläufig mag in Bezug auf die Heizung der beiden letztgenannten Gebäudearten
hier bemerkt werden, dass die Erwärmung der Räume bereit s vollendet sein sollte,
wenn die Besucher eintreten, damit der Ueberdruck. von vornherein vorhanden ist
und sich nicht erst später etablirt; denn es werden bis zu diesem Zeitpunkte die Besucher
durch Strömungen kalter Luft, die sich als Folge des herrschenden ünterdruckes ergeben,
belästigt werden. Bei Theater- und Concertsälen, sowie Versammlungsräumen, die mit
Pulsionslüftung ausgestattet sind, sollte der Lüftungsbetrieb nicht mit dem Augenblick,
wo das Publikum die Räume verlässt, aufhören, sondern, u. zw. besonders kräftig
während der ganzen Dauer der Leerung fortgesetzt werden, um den bis dahin bestan-
denen Ueberdruck, der die Zugbelästigung beim Oeffnen der Thüren verhindert, aufrecht
zu erhalten.
Die Fixirung der neutralen Zone geschieht durch Anlage der Oeff-
nungen, sei es für Luftzuführung, sei es für Luftabführung in der Höhe
dieser Zone.
Da in Räumen, aus welchen die unreine Luft durch Absaugen ent-
fernt wird (Aspirationslüftung), Unterdruck herrscht, so ist diese Lüf-
tungsweise für alle Räume, in welchen — nach dem Obigen — Unterdruck
nothwendig oder erwünscht ist, besonders angezeigt. Umgekehrt muss Druck-
lüftung grundsätzlich da angewendet werden, wo Ueberdruck im Räume
nothwendig oder erwünscht ist.
Die Frischluft kann entweder mit der Temperatur des Freien, oder mehr
oder weniger erwärmt zugeführt werden. Ersterer Modus ist für viele Fälle,
namentlich bei kleinen Räumen auszuschliessen, weil er grosse Temperatur-
verschiedenheiten im Räume hervor bringen kann. Er mag aber zulässig sein,
wenn es angeht, die Frischluft an einer Mehrzahl von Stellen in feiner Yer-
theilung in den Raum einzuführen, sowie namentlich bei grossen und hohen
Räumen, wenn die Luft auf ihrem Wege bis in die Athmungssphäre der Per-
sonen, die sich im Räume aufhalten, Gelegenheit hat, höhere Temperatur
anzunehmen. Dies findet statt, wenn die Einströmungsöffnungen in der Höhe
angeordnet werden.
Bei strengeren Anforderungen an die Lüftung ist aber Vorwärmung
der Frischluft nothwendig. Durch dieselbe wird die Luft relativ trocken,
bedarf also der Anfeuchtung, z. B. enthält Luft von der Temperatur 0 beim
Sättigungszustande in 1 m^ 4-9 gr Wasser; im Zustande halber Sättigung
enthält dagegen Luft von 20° Temperatur 8-6 gr Wasser; mithin fehlen
der von der Temperatur 0 auf 20^* erwärmten Luft unter diesen Ver-
hältnissen 3-1 gr, für 40 ni^ stündliche Zuführung also etwa 150 ^r Wasser.
Es handelt sich also in gewissen Jahreszeiten um recht bedeutende Wasser-
mengen, welche der Frischluft zugeführt werden müssen, soll die Zimmer-
luft nicht „trocken" sein.
Das meist angewendete Mittel, die Befeuchtung durch Wassergefässe
zu bewirken, welche in dem Zuge der Frischluft aufgestellt werden, wirkt
gewöhnlich nur unvollkommen, entweder in dem Sinne, dass die Be-
908 VENTILATION.
feuchtung ungenügend ist, oder in dem anderen, dass sie sich den Wechseln
im Feuchtigkeitsgehalt der Aussenluft nicht nahe genug anschliesst. Zu
ersterem Punkte kommt es sowohl auf den richtigen Aufstellungsort
der Wassergefässe, als die Grösse der luftberührten Wasserfläche an; die
Gefässe müssen an einer Stelle stehen, wo die Temperatur der vorbei-
streichenden Luft hoch genug ist, um die nöthige Energie der Verdampfung
zu erzeugen, und es sind hinreichend grosse Spiegelflächen nothwendig, um
bei der bestimmten Energie der Verdampfung die nöthige Dampfmenge her-
geben zu können. Wo, wie z. B. in manchen gewerblichen Betrieben, die
Einhaltung einer gewissen Luftfeuchtigkeit von Bedeutung ist, wird die Be-
feuchtung durch Einblasen eines Dampfstrahles in den Luftweg erzeugt, ein
Verfahren, das aber auch in anderen Fällen gute Dienste thut.
Zur Messung des Feuchtigkeitsgehaltes der Luft gibt es eine Anzahl von Instru-
menten. Das verbreitetste darunter ist das Hygrometer von Saussure, das indess öfter
auf die Richtigkeit seiner Angaben controlirt, bezw. berichtigt werden muss. Genaue An-
gaben liefert jederzeit das AuGUST'sche Hygrometer oder Psychrometer, das aus der Com-
bination eines trockenen und eines feuchten Thermometers besteht. Krell hat diesen
Apparat in eine für die Praxis besonders brauchbare Form gebracht.
Wenn die Frischluft nicht staubfrei zur Verfügung steht, muss die-
selbe vor dem Eintritt in den Raum vom Staub befreit werden. Das ein-
fachste Mittel dazu bilden die sogenannten „Staubkammern": Räume von
grossem Querschnitt, die in den Weg der Luft eingebaut sind. Dadurch, dass
in der Staubkammer die Geschwindigkeit der Luft ermässigt wird, fällt in
derselben der Staub zu Boden. Da es aber bei feinen und leichten Staub-
theilchen hiezu längerer Zeit bedarf, und da auch infolge von Wirbelströ-
mungen bereits abgelagerter Staub der Luft von neuem beigemischt werden
kann, leisten Staubkammern nur Unvollkommenes. — Wattefilter, durch die
man die Luft streichen lässt, werden in kurzer Zeit durch Füllung der Hohl-
räume mit Staub dienstunfähig; alsdann kann der Luftdurchgang nicht
nur vollständig stocken, sondern es kann auch bei Windstössen ein Theil des
bereits abgelagerten Staubes der Luft wieder beigemischt werden. Immer
nimmt die durchstreichende Luft aus einem verschmutzten Wattafilter Scbmutz-
theile auf. — Passiren der Luft durch einen sogenannten Wasser schleier,
der den Staub auswäscht, desgleichen seitliches Einblasen eines Wasser- oder
Dampfstrahles in den Strom der Frischluft bringt den Uebelstand mit sich,
dass die Luft zu stark angefeuchtet wird, auch sich in dem Waschraum
nasser Schmutz ablagern, zum Theil in Fäulnis übergehen und üble Gerüche
aussenden kann. Aehnliches ist gegen noch andere Einrichtungen zum Waschen
der Luft einzuwenden. Die bisher besten Einrichtungen zum Entstäuben der
Luft sind Filter aus Geweben mit rauher Oberfläche, die in geräumigen
Staubkammern aufgehängt werden. Sie werden entweder mehrfach gefaltet
oder, wie die MöLLEü'schen Luftfilter, mit sogen. Taschen versehen, durch
welche die Luft passiren muss. Bei der Raschheit, mit welcher Luftfilter
verstaubt werden, ist es von grosser Wichtigkeit, dieselben so einzubauen,
dass sie bequem auswechselbar sind.
Dass die Entstäubung der Luft nicht gleichbedeutend mit Keim-
freiheit ist, leuchtet von selbst ein. Uebrigens setzen Luftfilter jeder Art
der Luftbewegung einen Widerstand (Reibung und Richtungsänderungen)
entgegen, der zu gross ist, um diese Art der Luftreinigung bei Lüftungen,
die blos auf Temperaturunterschieden beruhen, anwendbar zu machen.
Ob eine Lüftungseinrichtung dasjenige leistet, worauf sie berechnet ist,
kann auf verschiedene Weise controlirt werden.
Laufend angestellte Proben über den COo-Gehalt der Raumluft geben directen
Aufschluss über die "Wirkung der Anlage, während Messungen der Luftgeschwindigkeit an
geeigneten Stellen im Zuge derselben Aufschluss über die Luftmengen, welche einpassiren,
gewähren. Zu den Messungen werden Anemometer benützt, die indess der häufigen
VENTILATION. 909
Prüfung auf die Richtigkeit ihrer Angaben bedürfen. Sonstige Apparate zur Bestimmung
der Luftgeschwindigkeit mögen hier nur andeutungsweise berührt werden. Ein Mittel zur
laufenden Controle der Leistung einer Ventilationsanlage bietet ein Apparat von
Eecknagel, dessen Haupttheil eine leichte Platte ist, die in den Strom der Frischluft
gehängt, und deren Ablenkung aus der senkrechten Lage auf einem Gradbogen an-
gegeben wird.
Ob die Frischluft mit der Temperatur des Freien oder vorgewärmt ein-
geführt werden soll, ist Sache des besonderen Falles. Eine gewisse Tem-
peraturerhöhung wird sich in kalter Jahreszeit beim Passiren durch die Canäle
von selbst herausstellen, hingegen in warmer Jahreszeit öfter eine Temperatur-
ermässigung; beide x4enderungen sind aber gering.
Wird die P^ischluft concentrirt, d. h. an nur einer oder an wenigen
Stellen in einen grösseren Raum eingeführt, so bewirkt sie in kalter Jahres-
zeit in der Nähe der Einströmungsstellen leicht lästiges Zug- und Kälte-
gefühl, Weniger stark wird das empfunden, wenn mehrere kleine Ein-
strömungsöffnungen vorhanden sind. Je mehr man aber auf Vollkommenheit
der Lüftungsanlage hinausgeht, umso nothwendiger wird Vorwärmung der
Frischluft. Da in der Vorwärmung auch ein Mittel zur Bewegung der Luft
geschaffen wird, so bildet bei allen besseren Anlagen Vorwärmung die Regel.
Bei Lüftung von Küchen und überhaupt von Räumen, in welchen die Luft
feucht ist, hat die Einführung vorgew^ärmter Frischluft überdies den Vortheil,
dass sie lufttrocknend wirkt.
Kühlung der Frischluft, die nur in Ausnahmefällen angewendet wird,
kann erzielt werden, indem man die Luft über Eispackungen streichen lässt.
Dies Mittel ist wenig empfehlenswert, weil sich auf das Eis Schmutz nieder-
schlägt, der Modergeruch abgibt, und auch weil die Luft vielleicht zu stark
angefeuchtet wird. Die Kühlung dadurch, dass man die Luft durch einen
Wasserregen strömen lässt, bringt ähnliche Nachtheile wie die Eiskühlung
hervor. W^o Maschinenbetrieb vorhanden ist, kann man der Luft einen Strahl
von abgekühlter, gepresster Luft beimischen; durch die Aufhebung der
Pressung wird die Temperatur derselben herabgesetzt. Umständlich ist das
Mittel, die Luft einen Raum passiren zu lassen, der von Röhren durchzogen
ist, in welchen sich kaltes Wasser, eventuell eine noch stärker kühlende
Flüssigkeit, wie z. B. eine Chlorcalciumlösung, bewegt.
Vieles kann zur Temperirung der Frischluft in allen Jahreszeiten durch
sorgfältige Auswahl der Entnahmestellen derselben geschehen,
da an einem vor Windströmungen geschützten schattigen Ort im Winter die
Temperatur der Luft nicht so weit sinkt, und im Sommer nicht so hoch
steigt als im ungeschützten Freien. Am besten liegen auch von diesem Ge-
sichtspunkte aus die Entnahmestellen der Frischluft entweder in all- oder
mehrseitig umschlossenen, doch von der Sonne erreichten Höfen, wenn an
dieselben keine Räume mit stark verunreinigter Luft anstossen. Die beste
Stelle ist die unter nicht zu dichten und nicht zu hohen Gruppen von
Gesträuchern oder Bäumen.
Jede Luftbewegung beruht auf einer Störung des Gleichgewichtes.
Dieselbe kann entweder durch Auflockerung, Verdünnung oder durch
Verdichten bewirkt werden. Für ersteren Zweck stehen Erwärmung
oder Absaugung, für letzteren entgegengesetzt, Abkühlung und Pressung
zur Verfügung.
Je höher die Erwärmung an einer Stelle getrieben wird, umso grösser
wird der Unterschied zwischen der Lufttemperatur an dieser Stelle und der-
jenigen an einer benachbarten Stelle, umso stärker die Luftbewegung sein.
Dasselbe gilt für Absaugung, Abkühlung und Pressung.
Wird der Temperaturunterschied durch die Heizung des Raumes
hervorgebracht, so ist derselbe von den Wechseln der Heizung und demjenigen
der Aussentemperatur abhängig, und hört zu Zeiten ganz auf. Lüftungen,
910 VENTILATION.
die nur auf Temperaturunterschieden beruhen, sind demnach durch Unbe-
ständigkeit charakterisirt. In kalter Jahreszeit mag der Luftwechsel zu
reichlich, in warmer zu gering, und zu anderen Jahreszeiten gleich Null sein.
Dieser Einwand richtet sich nicht nur gegen Anlagen, bei denen die Erwär-
mung durch in den Räumen selbst aufgestellte Heizkörper erfolgt: Local-
heizung, sondern auch gegen die Erwärmung mittelst der sogenannten Luft-
heizung, die sehr verschiedene Ausführungsformen haben kann. Darnach sind
Lüftungsanlagen, die nur auf der Heizung, und der Thätigkeit von Lüftungs-
schachten (Canälen) in der Wand beruhen, einerlei, ob die Heizung Local-
oder Luftheizung ist, überall da unanwendbar, wo auf Gleichmässigkeit
der Wirkung Wert zu legen ist. Will man bei Benützung von Wärme Voll-
kommenes erzielen, so müssen Heizung und Lüftung vollständig
getrennt werden.
Ein gewisser Luftwechsel, der auf Temperaturunterschieden beruht, voll-
zieht sich ohne jegliches Zuthun, vermöge Porosität der Raum- üm-
schliessungen, sowie Undichtheiten und gelegentliches Oeffnen
von Thüren und Fenstern; man bezeichnet diesen Luftwechsel
wohl als „freiwilligen", „selbstthätigen" oder „natürlichen". Aber hierbei
gesellen sich den Wechsein in den Temperaturunterschieden noch zeitliche
grosse Wechsel in der Wandporosität und in den Wechseln, die der
Winddruck aufweist, hinzu. Erstere können sowohl von Wärmewechseln, als
von Wechseln des Feuchtigkeitszustandes verursacht werden. Und da in dem
Oeffnen von Thüren und Fenstern keinerlei Gesetzmässigkeit herrscht, so er-
sieht es sich, dass bei dieser Art von Lüftung das Charakteristische in der
gänzlichen Regellosigkeit besteht. Nichtsdestoweniger ist die natürliche
Ventilation von grosser Bedeutung für Gesundheit und Wohlbefinden, da sie
für die ganz überwiegende Zahl aller Wohnungen die einzige Lüftung
bildet. Dies gilt insbesondere von den Wohnungen der geringeren Classen,
für welche künstliche Einrichtungen zu kostspielig, oder im Betriebe zu um-
ständlich sind. Vielleicht darf es als ein „glücklicher Umstand" bezeichnet
werden, dass gerade bei dieser Art von Wohnungen vermöge ihrer weniger
soliden Bauweise die natürliche Lüftung mehr leistet als bei den Wohnungen
besserer Art. Immerhin ist es sehr zu wünschen, dass der Aufgabe der Schaffung
verbesserter Lüftungseinrichtungen gerade für die niederen Wohnungen in
Zukunft mehr Aufmerksamkeit zu Theil werde, als derselben bis zur Gegen-
wart leider nur zugewendet worden ist.
Dafür, dass Mauern für Luft durchlässig sind, hat zuerst Pettenkofer
den Beweis durch seinen allbekannten Versuch erbracht. Leider ist das Er-
gebnis dieses Versuches nicht geeignet, um aus demselben mit nur irgend
einem Grade von Annäherung einen Schluss auf die Grösse der stündlich
durch eine Wand von gegebener Dicke und Beschaffenheit gehenden Luft-
menge ableiten zu können, weil Pettenkofer bei seinem Versuch so hohen
Luftdruck benützte, wie er unter natürlichen Verhältnissen niemals vor-
kommt. Und da es ebensowenig möglich ist, zu bestimmen, welche Luft-
mengen durch Undichtheiten von Thüren und Fenstern, sowie gelegentliches
Oeffnen derselben ein- oder austreten, so ist es schlechterdings unmöglich,
von der Grösse des natürlichen Luftwechsels auf andere Weise als durch Ver-
suche in jedem Einzelfalle sich ein Bild zu verschaffen.
Gewöhnlich wird der natürliche Luftwechsel sich ausser durch Wände,
Thüren und Fenster auch durch Fussboden und Decke des Raumes voll-
ziehen. Nach einem Versuche Recknagel's kamen von einem natürlichen
Luftwechsel von 45'5 m^ mehr als 667o auf Fussboden und Decke. Wenn
es auch ausgeschlossen ist, das Ergebnis zu verallgemeinern, so ist
dasselbe doch ausreichend, um die Forderung zu begründen, dass Fussboden
und Decken von Wohnräumen möglichst luftdicht sein sollen, wogegen
i
VENTILATION. 911
die Aussenwände weniger luftdicht, als es zuweilen der Fall ist, zu sein
brauchen, weil durch Fussboden und Decke fast nur verunreinigte Zimmer-
luft, durch die Aussenwände dagegen die bessere Luft aus dem Freien eintritt.
Eine sehr grosse Rolle spielt bei dem natürlichen Luftwechsel der
Wind. Vom Winde bestrichene oder getroffene Wände lassen erheblich
mehr Luft aus- bezw. eintreten, als vor Windströmungen geschützt liegende
Wände. Daher sind in Bezug auf den natürlichen Luftwechsel freistehende
und insbesondere kleine freistehende Wohnhäuser in v i e 1 günstigerer Lage,
als sogenannte eingebaute und namentlich grosse eingebaute Wohnhäuser.
Eine zweite Art des natürlichen Luftwechsels wird durch die Ofen-
heizung bewirkt, findet daher nur in kalter Jahreszeit statt. Sie entsteht
durch den Luftverbrauch der Ofenfeuerung. Sind Menge und Art des Brenn-
stoffes bekannt, so kann man, da man die zur Verbrennung einer bestimmten
Menge von bestimmtem Brennstoff nöthige Luftmenge kennt, diesen Luft-
wechsel annähernd genau bestimmen. Doch übt dabei die Ofenconstruction
einen grossen Einfluss. Bei manchen Constructionen geschieht die Ver-
brennung unvollständig, bei anderen vollständig. Bei ersterer bleibt der
Luftverbrauch unter dem normalen; bei letzterer wird dieser Verbrauch nicht
nur erreicht, sondern gewöhnlich mehr oder weniger überschritten. Eine
noch weitere, in unserem Sinne günstige Vermehrung tritt durch Undicht-
heiten des Ofens und unnöthiges Offenstehenlassen des Ofenverschlusses ein.
Eine im technischen Sinne vollständige Lüftungseinrichtung muss neben
Einrichtungen für den Eintritt der Frischluft, auch „Zuluft" genannt, solche
für den Austritt der verdorbenen Luft — Abluft — besitzen. Nach dieser Regel
beurtheilt, sind z. ß. Oeffnungen und Canäle nur für die Abluft oder auch
nur für die Zuluft, die mit der Ofenheizung verbunden werden, ferner die so-
genannten V.entilationslichter, die Sonnenbrenner, Canäle in den Wänden, nur
für Zuluft oder nur für Abluft, auch erwärmte Lüftungsschlote, Luftscheiben
und Jalousien in den Fenstern, und andere ähnliche Einrichtungen, als un-
vollständige zu bezeichnen. Bei den grossen Schwankungen, welchen
ihre Leistungen unterworfen sind, kann auf eine geordnete Wirksamkeit
jener, gewissermaassen nur halben Einrichtungen nicht gerechnet werden.
Damit soll indessen der grosse Nutzen, den sie in besonderen Fällen schaffen,
nicht in Zweifel gestellt sein. Relativ grossen Nutzen darf man namentlich
den Ventilationslichtern und Sonnenbrennern beilegen, insofern, als dieselben
dazu dienen, die Verbrennungsproducte des Leuchtgases vor ihrer Mischung
mit den tiefer lagernden Luftschichten, und ausserdem die hoch temperirte
Luft der oberen Schichten aus dem Räume zu entfernen.
Von mangelhafter Wirksamkeit ist auch die einfachste Einrichtung zur
künstlichen Lüftung, welche darin besteht, dass man ein mehr oder weniger
grosses Stück der Fenster, oder ein ganzes Fenster so construirt, dass das Auf-
sperren für kürzere oder längere Zeit möglich ist. Denn beim Oeffnen bilden
sich in der Oeö'nung zwei entgegengesetzte Strömungen, eine ausgehende in
der oberen Fensterhälfte, eine eingehende in der unteren, und beide hemmen
sich gegenseitig, so dass die Wirkung sehr gering ausfallen kann. Voll-
ständigkeit der Wirkung wird erzielt, wenn gleichzeitig mit dem Fenster
eine in einer inneren Zimmerwand liegende Thür geöffnet wird, wobei das
entsteht, was man kurz als Durchlüftung bezeichnet hat. Die Durch-
lüftung ist nach speciellen Beobachtungen, die darüber angestellt wurden, von
fast unerwartet rascher Wirksamkeit. Aus der Nichtbeachtung dieser
Thatsache mag die geringe Würdigung erklärt werden, welche der Durchlüftung
selbst in Fällen, wo sie ganz besondere Empfehlung verdient, bisher nur
zu Theil wird. In der Regel wird ein grosser Wärmeverlust gefürchtet, und
dieser tritt in der That ein, wenn die Durchlüftung unzweckmässig betrieben
wird. Nach Versuchen in Dresdener Schulclassen ist die nur 5—6 Minuten
912 VENTILATION.
lange Wirksamkeit der Durchlüftung vollkommen zur Lufterneuerung aus-
reichend, das Hinausgehen über diese Zeit daher nicht allein ohne Nutzen,
sondern nur zum Schaden für die Temperatur des Raumes. Wird nach 5 bis
6 Minuten Dauer die Durchlüftung eingestellt, so haben bis dahin die Um-
schliessungen des Raumes nur so wenig von ihrer zuvorigen Temperatur ein-
gebüsst, dass innerhalb weniger Minuten und mit den minimalsten Kosten-
aufwande wieder die normale Temperatur erreicht wird, wogegen bei längerem
Inganghalten der Durchlüftung die Raumumschliessungen allerdings ent-
sprechend grössere Wärmemengen abgeben, und es längerer Zeit, sowie
grösseren Brennstofiaufwandes bedarf, um die vorher bestandene Raum-
temperatur wieder zu erreichen. Es muss daher als Regel für die Durch-
lüftung gelten, dass dieselbe immer nur die Dauer weniger Mi-
nuten haben, dagegen in kurzen Zeitabständen (etwa stündlich)
in Wirksamkeit gesetzt werden soll.
Bei den im engeren Sinne als „künstliche" geltenden Lüftungseinrich-
tungen werden Saug- und Drucklüftungen (Aspirations- und Pulsionslüftun-
gen) unterschieden. Einiges über den Unterschied der Wirkungsweise, und über
die Rücksichten, nach welchen die Auswahl zu treffen ist, wurde bereits auf
S. 907 bei Besprechung der Druckvertheilung im geschlossenen Räume mit-
getheilt. Ergänzend ist an dieser Stelle hinzuzufügen, dass Drucklüftungen
im Allgemeinen nur bei einer gewissen Grösse der Anlage vorkommen, daher
z. B. bei grossen Unterrichtsgebäuden, grossen Theater- und Concertsälen,
Parlamentsgebäuden u. s. w., ausserdem in Arbeitssälen der Industrie.
Der Grund für diese Erscheinung liegt in der Schwierigkeit der Installation
der Maschinen kraft, die man braucht, vermehrt durch die Nothwendig-
keit, eine gewisse Reserve bei Störungen u. s. w. zur Hand zu haben, in
dem Geräusch des Maschinenbetriebes, endlich in der Nothwendigkeit sach-
verständiger Bedienung. Alles dies gestaltet sich bei der Sauglüftung viel
einfacher und weniger lästig, weil man hierbei mit Anlagen die nur für die
Erwärmung der Luft dienen, ausreicht.
Grundsätzlich ist die Drucklüftung vor der Sauglüftung im Vorzuge
durch die Möglichkeit engerer Anpassung an das wechselnde Bedürfnis,
und durch bessereBeherrschungder Luftbewegung im Räume. W^ährend
bei der Sauglüftung, wenn die Ein- und Austrittsstellen der Luft nicht in
weitgehender Weise decentralisirt sind, sich leicht sogenannte „todte Ecken"
bilden, Räume, in welchen die Luft unausgewechselt bleibt, ist man bei Druck-
lüftung im Stande, die Luft mit Sicherheit in alle Theile eines Raumes zu
vertheilen. Und es mag noch weiter zu diesem Punkte angemerkt werden,
dass die Bedienung von Sauglüftungen im Sommer, aus Rücksicht auf Kosten-
ersparnis und aus sonstigen Gründen leicht eingestellt wird, wogegen der
Betrieb einer Drucklüftung, weil weniger leicht unterbrechbar und wieder-
aufnehmbar, im Gange erhalten wird. Da mit der immer weitergehenden Ein-
führung des elektrischen Betriebes ein Theil der bei der Drucklüftung
vorhandenen Schwierigkeiten in Wegfall kommt, kann man wohl darauf
rechnen, dass mit der Zeit die Drucklüftung sich ein grösseres als das bis-
her eingenommene Gebiet erobern wird.
Die Canäle für die Frischluft sind theils nach der Rücksicht anzu-
ordnen, dass sie der Luftbewegung den geringsten Widerstand bereiten, theils
nach der anderen, dass die Luft in den Raum so eingeführt wird, dass sie
sich in geregelter Weise und gleichförmig in dem Räume vertheilt.
Nach ersterer Rücksicht sind die Canäle auf kürzestem und gerade-
stem Wege zu führen, namentlich horizontale Strecken und scharfe Bie-
gungen zu vermeiden. Canäle von grossem Querschnitt sind für die Luft-
bewegung günstiger als enge Canäle. Es müssen deshalb die engeren Ver-
VENTILATION. 913
zweigungen der Canäle möglichst kurz gehalten, d. h. der Hauptcanal aus
dem Freien, welcher die gesammte für das Gebäude nothwendige Luftmenge
zuleitet, möglichst weit in das Gebäude hineingeführt werden.
Am günstigsten ist die Anordnung, dass dieser Canal unter dem ganzen Ge-
bäude sich erstreckt und von ihm aus möglichst in senkrechter
Richtung die nach den einzelnen Räumen führenden Zweigcanäle aufsteigen.
Weiter ist bei der Führung aller Canäle zu beachten, dass dieselben
leicht reinigungs fähig sind, da sich an den Wänden derselben Staub,
und bei kalter Lage der Canäle auch feuchter Schmutz absetzen kann. Um
dem möglichst entgegenzuwirken, soll die Wand der Canäle möglichst glatt
sein. Damit die Wand selbst nicht Verunreinigungen an die durchströmende
Luft abgibt, soll sie aus dem am wenigsten abnutzbarem Material be-
stehen. Hiernach ist Verputz der Canal wände im Nachtheil z. B. gegen Mauer-
werk aus hartgebrannten Ziegeln mit glatter Oberfläche. Vorzüglich ge-
eignet zu Luftleitungen sind glasirte Thonröhren, sehr gut aber auch
Röhren aus Zink. Von grosser Wichtigkeit ist es, dass die Wandungen der
Canäle möglichst luftdicht sind, sowie dass Eingänge und Verschlüsse
so liegen, dass sie nicht als Zutrittsstellen für verunreinigte Luft aus dem
Gebäude selbst, oder dessen Umgebung dienen können. Mit dieser Gefahr
ist ganz besonders zu rechnen, wenn die Bewegung der Luft in den Canälen
durch Aspiration (Luftverdünnung) bewirkt wird; hier ist die „Wahrung''
der eingeleiteten Frischluft eine Aufgabe von hoher Wichtigkeit.
Die Weite der Canäle ist durch die Luftmengen, welche dieselben zu
führen haben, und deren Geschwindigkeit bestimmt. Vielfach wird angegeben,
dass die Luftgeschwindigkeit an den Austrittsstellen nicht über 1 m betragen solle.
Diese Angabe ist willkürlich. Denn die Empfindlichkeit gegen Zug, der durch
ermässigte EinStrömungsgeschwindigkeit vermieden werden soll, ist nach der In-
dividualität, sehr verschieden, und es besteht zudem die Thatsache, dass im
Freien Luftströmungen von mehreren Metern Geschwindigkeit ohne unan-
genehmes Gefühl ertragen werden. Es kommt dabei besonders auf den Unter-
schied zwischen der Körpertemperatur und der Temperatur der bewegten
Luft an. Je grösser dieser, umso geringer muss die Luftgeschwindigkeit
sein, und umgekehrt. Ausserdem spielt die „Mächtigkeit" des Luftstromes,
d. h. der Querschnitt desselben, eine grosse Rolle. Nach allen diesen Rück-
sichten ergibt sich, dass, je weniger die Temperatur der Frischluft von der
Raumtemperatur abweicht, umso grösser die Eintrittsgeschwindigkeit derselben
gewählt werden kann, und umgekehrt, dass eine einzige feste Regel dafür,
wie die obige, keinen Sinn hat. Uebrigens kommt es bei der Vermeidung
auch sehr auf die Lage der Einströmungsöffnungen an. Je näher die-
selben sich der Athmungssphäre befinden, umso geringer muss im Allgemeinen
die Eintrittsgeschwindigkeit der Luft sein.
In Wohnräumen pflegt man die Eintrittsstellen in etwa 2 m Höhe an-
zuordnen; diejenige Höhenlage, bei welcher es vermieden wird, dass kalte
Luft durch die Fenster eintritt, ist bereits auf S. 907 angegeben. Nach den
dort gemachten anderweitigen Angaben über die Luftdruckverth eilung im Räume
ist auch in anderen Fällen die Höhenlage der Eintrittsöffnungen zu bestimmen.
Immer fällt mit derselben die Lage der neutralen Zone zu-
sammen. Indessen können für die Höhenlage der Einströmungsöffnungen
auch noch andere Rücksichten maassgebend sein, wie z. B. diejenige auf die
Beleuchtung durch Flammen, ferner bei Versammlungsräumen der Umstand,
ob in denselben die Personen sich sitzend aufhalten oder in Bewegung sind.
Im ersteren Falle wird man, wie es z. B. bei Theatersälen, Auditorien u, s. w.
geschieht, die Eintrittsöffnungen am zweckmässigsten in den Futterstufen der
treppenförmig angeordneten Sitzreihen anordnen, in anderen von der — sonst
zweckmässigen — Anordnung im Fussboden Abstand nehmen, weil mit dem
Bibl. med. Wissenschaften, Hygiene u. Ger. Med. 58
914 VENTILATION.
Eintritt hier den Uebelstand verknüpft wäre, dass die Luft Staub aufwirbelt,
auch dass durch die Eintrittsöffnungen Schmutz in die Einführungscanäle der
Frischluft gelangt. In Krankenräumen wird die Frischluft zweckmässig in
etwa Betthöhe eingeführt.
Besondere Wichtigkeit kommt bei der Lage der Canäle einerseits für
Zuluft, andererseits für Abluft dem Umstände zu, ob die Kaumumschliessungen
theils Aussen-, theils Innenwände, oder auch nur Aussen- oder nur Innen-
wände sind, weil darnach die Temperatur der Wände sich richtet. Wird vor-
gewärmte Frischluft eingeführt, so müssen die Canäle in derartiger Lage zu
einander angeordnet werden, dass die Luft sich gegen den oberen Theil der
kalten Wände bewegt, um an denselben wieder herabzusinken und in der
Nähe des Ausgangspunktes wieder abgeführt zu werden. Sind alle vier Wände
warm, so besteht in der Disposition über die Lage der beiden Arten von Ca-
nälen relativ viel Freiheit; sind alle vier Wände kalt, so werden Ein- und
Austritt zweckmässig etwa in der Mitte des Raumes anzuordnen sein.
Wie der Eintritt der Luft durch den Fussboden oder in geringer Höhe
über demselben zweckmässig sein kann, so auch der Austritt derselben. Die
Fälle liegen nach der Höhe und nach der Bestimmung der Räume so sehr
verschieden, dass ein noch weiteres Eingehen auf die Lage der beiden Canal-
arten, sowie der Oeffnungen für Ein- und Austritt der Luft nicht ohne Bei-
gabe von Abbildungen durchführbar sein würde. Als ausnahmslos gil-
tige Regel mag aber noch die hier angeführt werden, dass die
Luft immer so dirigirt werden muss, dass die Abluft nicht
wieder in die Athmungssphäre der Bewohner, die sich in dem
Räume aufhalten, gelangt.
Von grossem Einfluss auf die richtige Luftbewegung sind die regel-
baren Verschlüsse, welche an den Ein- und Austrittsöffnungen angebracht
werden; unter denselben findet sich oft Unzweckmässiges. Vielfach fallen
diese Theile recht ungeeignet aus, weil sie bei der künstlerischen Ausstattung
der Räume eine gewisse Rolle spielen, oder auch weil sie im Bauplane nicht
berücksichtigt worden sind, oder endlich, weil später an die Stelle der ur-
sprünglichen Benützung des Raumes eine andere tritt, zu der sie nicht
passen. Auch diese Theile einer Lüftungseinrichtung sind hier nicht weiter
als bloss andeutungsweise zu behandeln.
Ein verschiedentlich aufgetauchter Vorschlag zur Einrichtung einer möglichst voll-
kommenen Lüftung (und gleichzeitig Heizung) mag hier kurz berührt werden, der dahin
geht, vor kalten Aussenwänden des Raumes innen eine zweite dünne Wand mit Zwischen-
raum aufzuführen, und den Zwischenraum als Canal für die Abluft zu benutzen. Die Aus-
führung ist kostspielig; in einzelnen Fällen aber können die Kosten sehr wohl in an-
gemessenen Grenzen bleiben, zumal an den Kosten der Heizung dadurch wieder einiges
eingebracht wird, dass die Wärme der Abluft zu einem Theile für die Erwärmung des
Raumes wieder nutzbar wird.
Einige Bemerkungen mögen hier schliesslich den maschinellen
Apparaten, die bei Lüftungsanlagen Verwendung finden, gewidmet werden.
Bei Drucklüftungen finden zur Zuführung der Luft Strahlappa-
rate, Schraubenbläser und Flügelbläser, Anwendung. Erstere sind
nur für kleinere Anlagen verwendbar und der Betrieb verursacht belästigendes
Geräuseh. Die Strahlapparate werden mit Wasser betrieben, das entweder
in geschlossenem oder getheiltem Strahl aus einer Douche tritt; die Luft wird
daher unter gewissen Umständen in zu reichlichem Maasse angefeuchtet.
Strahlapparate sind sowohl für Druck- als Sauglüftung verwendbar, je nach-
dem sie in die Leitung der Zu- oder Abluft eingeschaltet werden. Es gibt
jedoch auch eine Form, die bei jeder der beiden Aufstellungen sowohl für
Druck- als Sauglüftung benutzbar ist. — Schraubenbläser sind in ihrer
Grundform übereinstimmend mit der Schiffsschraube. Sie können durch
Wasser, Dampf, Warmluft angetrieben werden und kommen in jeder
VENTILATION. 915
Grösse vor, so dass sie eventuell auch in Fenster, Decken oder Wände
einsetzbar sind. Aehnliches gilt von Flügelbläsern, welche die Luft
durch Wirkung der Centrifugalkraft fortbewegen. Neuerdings wird für
kleinere Schrauben- und Flügelbläser, aber auch für grosse, der elek-
trische Antrieb beliebt, der die „Installation" ausserordentlich erleichtert.
Darnach darf man hoffen, dass die kleineren Apparate dieser Art in Zukunft
sich ein grösseres Feld der Anwendung als bisher erobern werden. Leider
arbeiten auch die Schrauben- und Flügelbläser nicht geräuschlos. Beide aber
können sowohl durch Absaugen als Pressen ihren Zweck erfüllen.
Zum Betriebe von Sauglüftungen dient aber meist Wärme. In ein-
fachster Weise wird dieselbe durch Flammen erzeugt, die man unter oder vor
den Oeffnungen von Abluftcanälen, oder in diesen selbst anbringt; grössere
Wirkungen sind erst durch eine grössere Anzahl von Flammen, wie sie z. B.
in Kronleuchtern und sogenannten Sonnenbrennern sich finden, erreichbar.
Oft lassen sich Rauchröhren für Sauglüftungen in der Weise nutzbar machen,
dass man neben ein Rauchrohr, nur durch eine sogenannte Zunge aus Eisen-
blech oder Gusseisen davon getrennt, einen Abluftcanal legt. Wegen der nur
geringen Wärmemengen, die der Luft im Abluftcanal durch die Zunge hin-
durch zugeführt werden, ist die Wirkung auch dieser Einrichtung gering.
Zu grösseren Leistungen sind Fabriks- und Bäckerei-Schornsteine im Stande,
wenn in den Mauerwerkskörper ein Eisenrohr mit Zwischenraum eingesetzt
wird, das den Rauch abführt, während der ringförmige Zwischenraum für die
Abluft dient. Aehnliche Schlote werden auch wohl für grössere Gebäude
besonders, angelegt, und erhalten dann am Fusse eine sogenannte Lock-
feuerung.
Die Wirkung aller genannten Einrichtungen lässt sich durch Aufsetzen
einer sogenannten Lufthaube auf das obere Ende des Abluftrohres etwas
verstärken, da die Lufthauben derart eingerichtet sind, dass die Kraft des
Windes für die Aufwärtsbewegung im Abluftcanal nutzbar gemacht wird. Bei
der Unregelmässigkeit des Windregimes mangelt der Wirkung jedoch selbst
nur ein minimaler Grad von Beständigkeit. Von der Anbringung von Luft-
hauben auf unerwärmten' Abluftcanälen darf man sich nur sehr geringe
Wirkung versprechen, wenn die betreffende Gegend nicht zufällig besonders
windreich ist.
In dem Falle, dass in einer Lüftungsanlage Druck- und Sauglüftung
gleichzeitig zur Anwendung kommen und zu beiden Maschinenbetrieb be-
nutzt wird, ist es nothwendig, den Gang der beiden — getrennt aufgestellten
— Maschinen in möglichst genaue Uebereinstimmung zu bringen. Für diesen
Zweck gibt der elektrische Betrieb die vollkommenste Leistung.
Die vorstehend besprochenen Einrichtungen der Ventilation passen nur für die
Wohnungen unter den gemässigten und kalten Himmelsstrichen; es erübrigen daher
einige Bemerkungen über Ventilationseinrichtungen für Wohnungen unter h e i s s e n Himmels-
strichen.
Bei ihnen kommt mit dem Fortfall der Heizung auch die Sauge-( Aspirations ■)Lüftung
in Fortfall; die anwendbar bleibende Druck-(Pulsions-)Lüftung erfordert aber einen maschi-
nellen Apparat. Wichtiger als die Einführung von Frischluft ist unter den Tropen die
Erhaltung einer massigen Temperatur in den Wohnräumen; es liegt daher
dort im Allgemeinen die umgekehrte Aufgabe vor, als diejenige, welche mit Bezug auf
Heizung und Ventilation in den Wohnungen der gemässigten und der kalten Zone zu
lösen ist.
Man wird der in den Tropen gestellten Aufgabe bisher nur durch Besonderheiten
in der Disposition und Construction der Wohngebäude selbst gerecht: Die
Häuser werden allseitig freistehend, klein und niedrig, mit Vermeidung freier Eintheilungen
und desgleichen mit Vermeidung von hofartigen Einschlüssen angelegt. Die ümschliessungen
sind dünn, und der Schutz gegen die Sonnenbestrahlung wird durch einen halb offenen
Eingang und ein das Haus weit überspannendes, bis nahe zum Fussboden herabreichendes
Dach angestrebt. (Die zuweilen noch ausgeführte Stellung des Hauses auf Pfähle, so dass
auch der Fussboden von der Aussenluft bestrichen wird, leistet mit Bezug auf Wärme-
abhaltung nichts.) Die Fenster- und Thüröffnungen reichen möglichst vom Fussboden bis
58*
916 VERGIFTUNGEN.
zur Decke der — hoch auszuführenden — Räume hinauf. Sie müssen einander gegenüber
liegen, so dass eine wirksame Durchlüftung (S. 911) ermöglicht ist, die namentlich
während der Nachtstunden im Gange erhalten wird. Gerade das, was man in den ge-
mässigten Klimaten zu vermeiden wünscht : Z u g, bildet in den Tropen die Hauptanforderung
an die Wohnung, zumal durch die Erfüllung derselben gleichzeitig Schutz gegen die
Musquito-Plage geschaffen wird. Wo die beschriebenen Einrichtungen des Hauses noch
nicht genügen, wird zur Erzielung von Luftzug die sogenannte Punkha, ein grosses Stück
Stoff, das man in schwingende Bewegung versetzt, benutzt.
Zur Lüftung und gleichzeitig Anfeuchtung der Luft verwendet man grosse Geflechte
aus Pflanzenfasern mit weiten Maschen, durch welche die eingeführte Luft passiren muss;
diese Geflechte werden nass gehalten. F. BÜSING.
Vergiftungen vom gericMlich-medicinischen Standpunkte.
Gesetzliche Bestimmungen.
Oesterr. St.-G. § 135: Arten des Mordes sind: 1. Meuchelmord, welcher durch
Gift oder sonst tückischer Weise geschieht ....
Oesterr. St.-P.-O. § 131: Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so sind der
Erhebung des Thatbestandes nebst den Aerzten nach Thunlichkeit auch zwei Chemiker bei-
zuziehen. Die Untersuchung der Gifte selbst aber kann nach Umständen auch von den
Chemikern allein in einem hiezu geeigneten Locale vorgenommen werden.
Deutsches St.-G. § 229: Wer vorsätzlich einem Anderen, um dessen Gesundheit zu
beschädigen, Gift oder andere Stoffe beibringt, welche die Gesundheit zu zerstören geeignet
sind, wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren bestraft.
Ist durch die Handlung eine schwere Körperverletzung verursacht worden, so ist
auf Zuchthaus nicht unter fünf Jahren, wenn durch die Handlung der Tod verursacht
worden, auf Zuchthaus nicht unter zehn Jahren oder auf lebenslängliches Zuchthaus zu
erkennen.
Deutsche St.-P.-O. § 91: Liegt der Verdacht einer Vergiftung vor, so ist die
Untersuchung der in der Leiche oder sonst gefundenen verdächtigen Stoffe durch einen
Chemiker oder durch eine für solche Untersuchungen bestehende Fachbehörde vorzu-
nehmen. Der Richter kann anordnen, dass diese Untersuchung unter Mitwirkung oder
Leitung eines Arztes stattzufinden habe.
Allgemeines.
Der Begriff Gift hat für den Laien die Bedeutung eines Körpers, welcher
unter allen Umständen, dem Organismus einverleibt, schädliche Wirkungen
äussert oder den Tod herbeiführt, oder mit anderen Worten, der Laie kennt
nur unbedingte Gifte: Arsenik, Phosphor, Blausäure u. s. w. Für die Wissen-
schaft gibt es solche unbedingt schädlich wirkende Körper überhaupt nicht,
sie kennt nur relative Gifte. Denn es gibt von jedem noch so heftig wirken-
den Giftkörper irgend eine Menge, welche als unschädlich, ja vom thera-
peutischen Standpunkte aus als nützlicher Arzneikörper bezeichnet werden
muss.
Es sind viele Definitionen, was ein Gift sei, schon aufgestellt worden. Am zu-
treffendsten ist wohl die Definition Kobert's, welche den Errungenschaften der modernen
Toxikologie vollkommen Rechnung trägt. Er sagt: „Gifte sind solche, theils unorganische,
theils organische, im Organismus entstehende oder von aussen eingeführte, theils künstlich
dargestellte, theils in der Natur vorgebildete, nicht organisirte Stoffe, welche durch ihre
chemische Natur unter gewissen Bedingungen irgend welche Organe lebender Wesen so
beeinträchtigen, dass die Gesundheit oder das relative Wohlbefinden dieser Wesen dadurch
vorübergehend oder dauernd schwer beeinträchtigt wird." Es wäre dieser Definition viel-
leicht noch beizufügen, dass die Beeinträchtigung der Gesundheit schon durch verhältnis-
mässig kleine Gaben erfolgt, weil sonst, wenn die Gabe als unbeschränkt grosse gedacht
würde, schliesslich jeder Körper ausnahmslos als Gift bezeichnet werden müsste. Für die
forensische Praxis trifft daher wohl auch die Definition von Ohlshausen (Commentar zum
deutschen Pieichs-Strafgesetzbuch) zu, welcher sagt: .,Gift ist ein Stoff, welcher in kleiner
Dose durch seine chemische Beschaffenheit die Gesundheit oder das Leben zu zerstören
geeignet ist."
Die in der Natur vorkommenden Gifte haben sehr verschiedene Bedeu-
tung; soviel wir bis heute darüber wissen, haben sie theils die Bedeutung
von Abfallstoffen, beziehungsweise Stoffwechselproducten, theils sind es Reserve-
stoffe, theils Schutzstoffe zur Vertheidigung oder Waffen beim Angriffe, theils
Krankheitsproducte, theils postmortale Zersetzungskörper.
VERGIFTUNGEN. 917
Die Giftwirkung ist an eine Reihe von Bedingungen geknüpft, und
zwar kommen vonseiten der Aussenwelt zunächst in Betracht die Temperatur
und der Luftdruck, eventuell auch die Zusammensetzung der Luft; es wirkt
beispielsweise Alkohol in kalter Umgebung tödtlich, während die gleichen
Mengen oder noch grössere in warmer Umgebung ohne Schaden überstanden
werden. Für die Giftwirkung ist zweitens von Belang die Beschaffenheit der
Substanz, und zwar zunächst die allgemein- chemischen Eigenschaften derselben,
die chemische Constitution, die chemischen Wirkungen und Affinitäten, ferner
der Aggregatzustand, die Löslichkeit, die Reinheit, die Concentration. Von
Wesenheit ist auch das Alter des Giftes, indem manche Giftkörper durch
Verflüchtigung der wirksamen Substanz (z. B. Sabina) ihre Giftigkeit allmählich
verlieren. Die grösste Bedeutung kommt der Menge des einverleibten Giftes
zu. Wir bezeichnen jene Menge eines Giftkörpers, welche bereits schädliche
Wirkungen hervorbringt, als D o s i s toxica, jene Menge, welche den Tod eines
Menschen bewirkt, als Dosis toxica letalis.
Auch die Art der Beibringung ist von Bedeutung, und zwar hier wieder
einerseits das Vehikel andererseits der Weg. Bezüglich des ersteren ist es
keineswegs gleichgiltig, ob die Substanz in demselben löslich oder unlöslich
ist. Es kann schon durch die Wahl des Vehikels allein die Giftwirkung
theils abgeschwächt, theils verstärkt werden. Würde beispielsweise Cyan-
kalium in eine saure Flüssigkeit gebracht und so einverleibt werden, so
würde seine Wirkung wiegen der raschen Entbindung der Blausäure viel stärker
sein, als wenn dasselbe Gift etwa in Substanz und mit Eiweiss oder Fett
eingehüllt genommen würde. Die Abschwächung der Giftwirkung erfolgt theils
durch Verdünnung, durch Vertheilung, theils durch Einhüllung der Substanz
oder auch durch chemische Bindung. Ein Beispiel für letzteres v/äre die
Abschwächung der Sublimatwirkung bei gleichzeitiger Darreichung von Eiweiss
oder die Abschwächung der Alkaloidwirkung, wenn gleichzeitig tanninhältige
Substanzen eingeführt werden. Die Wege der Gifteinführung sind entweder
die Verdauungsorgane oder die Injection, After, Scheide, Haut, Athmungs-
organe. Der Weg ist durchaus nicht gleichgiltig; am schnellsten tritt die
Wirkung in der Regel ein, wenn das Gift unmittelbar in den Kreislauf ge-
bracht wurde. Es gibt jedoch von dieser Regel auch Ausnahmen. So wirken
Strychnin, Arsenik, Brechweinstein vom Magen aus viel intensiver als bei
directer Einbringung in die Blutbahn. Umgekehrt verhalten sich die Kalium-
salze; diese sind, wenn sie direct in den Kreislauf gebracht w^erden, heftige
Herzgifte; vom Magen aus sind sie eigentlich als ungiftige Körper zu be-
zeichnen. Auch vom Curare ist es bekannt, dass es erst in grossen Dosen
wirkt, wenn man es verschluckt, während Bruchtheile dieser Mengen injicirt
schwere Vergiftungserscheinungen auslösen.
Für die Wirkung eines Giftes sind endlich noch von Belang gewisse
individuelle Verhältnisse, zunächst das Alter. Im Allgemeinen sind Kinder,
besonders neugeborene, gegen Gifte unendlich viel empfindlicher als Erw^ach-
sene. Bekannt ist beispielsweise die hohe Empfindlichkeit der Kinder gegen
Opiate. Der Gesundheitszustand eines Menschen bedingt gleichfalls Ver-
schiedenheiten der Giftwirkung in dem Sinne, dass in der Regel kranke,
herabgekommene, marastische, geschwächte Menschen für dieselben Giftgaben
ungleich empfindlicher sind als gesunde. Wichtig ist es auch, ob ein Mensch
an ein Gift gewöhnt ist oder nicht; es gibt bekanntlich Angewöhnung an
mancherlei Gifte, wie dies die Arsenikesser, die Opiumraucher und Morphio-
phagen, sowie die Alkoholisten beweisen. Wesentlich ist auch der Zustand
des Magens. Der leere Magen verstärkt in der Regel, beziehungsweise be-
schleunigt die Giftwirkung, während umgekehrt ein gefüllter Magen sie ab-
schwächt. Es ist auch nicht gleichgiltig, ob die Magenwand gesund oder
krank ist; hier begünstigt die gesunde Beschaffenheit meist die Giftwirkung,
918 YERGIFTUNGEN.
während die kranke dieselbe verringert. Von Bedeutung kann auch die che-
mische Beschaffenheit des Mageninhaltes sein, namentlich ob dieser mehr oder
weniger sauer, neutral oder vielleicht gar alkalisch reagirt.
Der forensische Beweis einer stattgehabten Vergiftung
stützt sich auf dreierlei: 1. Die Krankheitserscheinungen; 2. die Leichen-
befunde, 3. die chemische Untersuchung. Pro foro kann in der Regel nur
selten bloss aus den Krankheitserscheinungen allein oder bloss aus den Leichen-
befunden oder nur durch die chemische Untersuchung der Nachweis einer
stattgehabten Vergiftung als erbracht angesehen werden; der forensische Nach-
weis hat sich vielmehr auf die ganze Trias zu stützen.
1. Die Krankheitserscheinungen.
Die Krankheitserscheinungen, welche Gifte herbeiführen, sind ausser-
ordentlich mannigfaltig, so dass man wohl sagen kann, es sei je nach der
Beschaffenheit des Giftes kein Organ und kein Organsystem, welches nicht
afficirt werden würde. Gleichwohl lassen sich die Krankheitserscheinungen
gewissermaassen in drei Gruppen bringen in dem Sinne, dass wir eben nur
die zumeist in das Auge fallenden Symptome ins Auge fassen, nicht aber in
dem Sinne, dass etwa gar keine andere Wirkung einträte. Ein Theil der
Gifte verändert in hohem Grade die Stelle der unmittelbaren Einwirkung,
und da die meisten Gifte doch vom Munde aus eingeführt werden, so sind
es vorwiegend Störungen der Verdauungswege, welche zur Beobachtung ge-
langen. Es treten die Erscheinungen der Entzündung der Verdauungsorgane
auf, es entwickelt sich das Bild einer Gastroenteritis, welche, weil durch Gifte
erzeugt, als Gastroenteritis toxica zu bezeichnen sein wird. Gifte mit
solcher Wirkung sind beispielsweise die ätzenden Säuren und Alkalien, viele
Salze u. s. w.
Bei anderen Giften kommt es zwar auch zu grob-anatomischen Störungen,
allein diese treten nicht am Orte der Einwirkung oder da nur in schwacher
Ausprägung hervor; die Veränderungen finden sich vielmehr an entfernten
Organen. Es ist dies nur möglich, wenn die betreffenden Giftkörper zunächst
zur Aufsaugung gelangen und auf dem Wege der Lymph- und Blutbahnen
den unmittelbar nicht zugänglichen Organen zugeführt werden. Es wird also
in letzterem Falle der Stoffwechsel in den Organen schwer beeinträchtigt und
demgemäss sind auch die ausgelösten Krankheitsbilder nicht örtliche Affec-
tionen der Verdauungswege, wenigstens nicht vorwaltend, sondern die schwerer
Organerkrankungen. Solche Wirkungen hat beispielsweise der Phosphor, der
Arsenik u. s. w.
Eine weitere Gruppe von Giften bewirkt örtlich gar keine, auch nicht
die geringsten Veränderungen, sondern die Wirkung besteht in Aufnahme in
das Blut und in dadurch hervorgerufenen Veränderungen entweder im Blute
oder im Nervensystem, so dass die vorwaltenden Krankheitserscheinungen in
der Regel als Affection der Kreislauforgane oder als Affection des Nerven-
systems hervortreten. Hieher gehören Gifte wie etwa das Kohlenoxyd, dann
die narkotischen Gifte u. s. w.
Es gibt nun eine grosse Reihe von natürlichen Erkrankungen, welche
ähnliche Symptome haben wie die eben kurz geschilderten Vergiftungen.
Diese Erkrankungen können also leicht mit Vergiftungen verwechselt werden.
So zeigen den Symptomencomplex der Gastroenteritis der acute Magen-
Darmkatarrh, die Incarceration, die Peritonitis, besonders die Peritonitis per-
forativa, Cholera, Typhus. Die Erscheinungen der toxischen Stoffwechsel-
erkrankungen können verwechselt werden mit der Sepsis, dem katarrhalischen
Icterus, dem acuten Gastrointestinalkatarrh, der gelben Leberatrophie. Der
dritte Symptomencomplex der Vergiftungen, wo es zu vorwaltender Affection
des Centralnervensystems kommt, hat täuschende Aehnlichkeit mit den Krank-
VERGIFTUNGEN. 919
heitsbildern, wie wir sie beobachten bei der Herzlähmung, der Herzruptur, der
Haemorrhagia cerebri, bei Embolie oder Urämie.
Es wäre falsch, sich vorzustellen, dass diese Giftwirkungen immer nur
beschränkt wären auf einzelne Organe oder Organsysteme. Man hat sich
vielmehr vorzustellen, dass jedes Gift irgend eine Gesammtwirkung äussert,
und dass es nur die am meisten ins Auge fallenden Erscheinungen sind, nach
welchen wir die betreffenden Gifte unterordnen, oder mit anderen Worten,
sehr viele Gifte haben combinirte örtliche und allgemeine Wirkung. Bei den
örtlich wirkenden Giften ist wohl ausnahmslos der Zeitpunkt des Eintrittes
der Krankheitserscheinungen ein sehr früher, das heisst, mit der Einver-
leibung des Giftes treten zugleich auch die ersten Wirkungen ein. Bei den-
jenigen Giften, welche erst resorbirt werden müssen, um ihre Wirkung zu
äussern, verstreicht eine gewisse, allerdings auch schwankende Zeit zwischen
der Einverleibung und dem Auftreten der ersten Vergiftungserscheinungen.
Es kann der Eintritt der Giftwirkung bis zu einer halben Stunde, einer
Stunde, ja selbst bis zu mehreren Stunden nach der Einverleibung verzögert
sein. Eine sehr rasche Wirkung beobachten wir in der Ptegel bei den Giften,
welche durch Einathmung aufgenommen werden, also bei den giftigen Gasen.
Was die Dauer der Vergiftungserscheinungen anlangt, so ist auch diese bei
den einzelnen Giften sehr verschieden. Wir beobachten nicht selten sehr
vehementen Verlauf, unter Umständen innerhalb weniger Minuten (Blau-
säure, Arsenwasserstoff), oder einen Verlauf innerhalb von Stunden oder Tagen.
Dabei werden oft Steigerungen, aber auch Remissionen der Krankheits-
erscheinungen beobachtet. So ist es beispielsweise für die Phosphorvergiftung
fast typisch, dass nach den ersten stürmischen Erscheinungen in der Regel
eine weitgehende, vielfach täuschende Remission eintritt.
Der Ausgang der Vergiftung ist Genesung (gänzlich oder unvoll-
ständig) oder Tod. Die erstere hat zur Voraussetzung die Ausscheidung der
Gifte aus dem Organismus oder die Unschädlichmachung derselben innerhalb
des Organismus. Ausscheidungswege für die Gifte sind die Nieren, die Speichel-
drüsen, die Galle, der Darracanal, die Haut, die Lungen. Viele Gifte, z. B. sämmt-
liche Pflanzenalkaloide, werden unverändert ausgeschieden. Bei anderen treten
im Körper selbst chemische Veränderungen ein. Diese sind Schutzmaassregeln
des Organismus gegen den eingedrungenen Fremdkörper. Die chemischen Vor-
gänge, deren Zweck die Entgiftung des Körpers ist, sind in neuerer Zeit
Gegenstand eingehender und interessanter Untersuchungen geworden, welche
festgestellt haben, dass es eine Entgiftung durch Neutralisation, durch Oxy-
dation, durch Reduction, durch Paarung und durch Spaltung gibt. Als Bei-
spiel der Entgiftung durch Neutralisation kann das Verhalten der Säuren
angezogen werden, welche innerhalb des Organismus in ihre meist weniger
giftigen oder ganz ungiftigen Alkalisalze umgewandelt werden, soweit dies
möglich ist. Umgekehrt sucht der Organismus überschüssige Alkalien im
Magen durch Magensäure, im Blute durch Zerfall von Blutkörperchen zu
decken, indem dabei Glycerinphosphorsäure aus dem Lecithin gebildet wird.
Ein Beispiel der Entgiftung durch Oxydation bietet der Phosphor, welcher in
Phosphate übergeführt wird. Entgiftung durch Reduction findet bei den
chlorsauren und überchlorsauren sowie jodsauren Salzen statt, die als Chloride
und Jodide, welche weit weniger giftig sind, ausgeschieden werden. Entgiftung
durch Paarung (von Baumann 1879 gefunden) ist eine hochinteressante That-
sache der physiologischen Chemie. Es kann sich durch Paarung ein Gift
zunächst mit Schwefelsäure, beziehungsweise mit Sulfaten verbinden. Auf
diese Weise wird z. B. aus der giftigen Carbolsäure das ungiftige phenol-
ätherschwefelsaure Kalium, ferner gibt es eine Paarung mit Glykuronsäure,
so wird z. B. das Chloralhydrat zunächst zu Trichloräthylalkohol reducirt und
dann zu Trichloräthylglykuronsäure (Urochloralsäure) gepaart. Paarung mit
920 VERGIFTUNGEN.
Glykokoll findet tbeilweise statt bei Benzoesäure und Salicylsäure; den ungif-
tigen Paarung nennt man bei der Benzoesäure Hippursäure, bei der Salicylsäure
Salicylursäure. Entgiftung durch Spaltung des giftigen Moleküls in zwei oder
mehrere Moleküle ungiftiger Substanzen findet bei manchen Glykosiden statt.
In seltenen Fällen sind die chemischen Veränderungen im Organismus nicht
Entgiftungsvorgänge sondern Bildung von giftigen Producten aus eingeführten
ungiftigen Substanzen; so wird Salol in Carbolsäure und Salicylsäure, das
ungiftige Krotonglycerid in die giftige Krotonolsäure umgewandelt.
Dem Verlaufe nach unterscheidet man acute und chronische Ver-
giftungen. Erstere setzen plötzlich ein, letztere fangen allmählich an. Be-
züglich des Ausganges sind sowohl bei den acuten, wie auch bei den chro-
nischen Vergiftungen drei Fälle möglich: Tod, vollkommene Genesung oder
Ausgang in ein Siechthum. Die letzte Ursache des Todes ist sehr verschieden.
Er kann hervorgerufen werden durch centrale Athmungslähmung oder allge-
meine Gehirnlähmung, Herzlähmung, Lungenödem, tödtliche Abkühlung, Glottis-
ödem, Verblutung aus angeätzten Gefässen, Verlegung der Harncanäle und
durch allgemeine Erschöpfung.
Bleibende Folgen bei nicht tödtlichem Ausgange, wenn es aber auch
nicht zur völligen Wiederherstellung gekommen ist, sind abnorme Empfind-
lichkeit einzelner Organe, wie der Lunge, der Haut, der Nieren, des Magens,
des Gehirnes, Atrophie und Degeneration von Organen oder Organtheilen, wie
Schwund der Magendrüsen, Degeneration der Leber und der Nieren oder von
Muskeln, Gehirn u. s. w., bindegewebige Schrumpfungen und Narbenretrac-
tionen, Verlust einzelner Sinnesorgane, nekrotische Abstossung einzelner
Körpertheile und allgemeiner Marasmus.
Für die klinische Diagnose einer Vergiftung können auch die
äusseren Umstände oft eine Bedeutung erlangen. Das unerwartet plötzliche
Auftreten von schweren Erkrankungen bei vorhin ganz gesunden Menschen,
das gleichzeitige Erkranken mehrerer Personen unter völlig gleichen Erschei-
nungen, besonders nachdem alle Erkrankten von derselben Speise genossen,
sind sehr häufige Momente, welche zu allererst den Verdacht einer Vergiftung
rege machen.
2. Die Leichenbefunde.
Ueber die sachgemässe Eröffnung von Leichen Vergifteter sowäe über die
für die nachfolgende chemische Untersuchung nothwendige Entnahme von
Körpertheilen und Inhaltsmassen bestehen ausführliche Vorschriften: Oester-
reichisches Regulativ vom 2. August 1856, R.-G.-B. Nr. 145, 3. Abschnitt
§§ 98 bis 111 enthalten die besonderen Regeln, welche bei der Untersuchung
von Leichen mit dem Verdachte einer stattgehal3ten Vergiftung zu beobachten
sind. Inhaltlich wesentlich gleich, jedoch in kürzerer Fassung finden sich
diese Bestimmungen im deutschen Regulativ vom 13. Februar 1857 § 22,
welcher lautet:
„Bei Verdacht einer Vergiftung beginnt die innere Besichtigung mit der Bauchhöhle.
Es ist daher vor jedem weiteren Eingriff das äussere Aussehen der oberen Baucheinge-
weide, ihre Lage und Ausdehnung, die Füllung ihrer Gefässe und der etwaige Geruch zu
ermitteln.
In Bezug auf die Gefässe ist hier, wie an anderen wichtigen Organen, stets festzu-
stellen, ob es sich um Arterien oder Venen handelt, ob auch die kleineren Verzweigungen
oder nur Stämme und Stämmchen bis zu einer gewissen Grösse gefüllt sind und ob die
Ausdehnung der Gefässlichtung eine beträchtliche ist oder nicht.
Alsdann werden um den untersten Theil der Speiseröhre dicht über dem Magen-
munde, sowie um den Zwölffingerdarm unterhalb der Einmündung des Gallenganges
doppelte Ligaturen gelegt und beide Organe zwischen denselben durchschnitten. Hierauf
wird der Magen im Zusammenhange mit dem Zwölffingerdarm herausgeschnitten, wobei
jede Verletzung derselben sorgfältig zu vermeiden ist. Die Oeffnung geschieht in der im
§ 21 angegebenen Weise.
Es wird sofort der Inhalt nach Menge, Consistenz, Farbe, Zusammensetzung, Keaction
und Geruch bestimmt und in ein reines Gefäss von Porzellan oder Glas gethan.
VERGIFTUNGEN. 921
Sodann wird die Schleimhaut abgespült und ihre Dicke, Farbe, Oberfläche, Zusammen-
hang untersucht, wobei sowohl dem Zustande der Blutgefässe, als auch dem Gefüge der
Schleimhaut besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden und jeder Hauptabschnitt für sich zu
behandeln ist. Ganz besonders ist festzustellen, ob das vorhandene Blut innerhalb von
Gefässen enthalten oder aus den Gefässen ausgetreten ist, ob es frisch oder durch Fäulnis
oder Erweichung (Gährung) verändert und in diesem Zustande in benachbarte Gewebe ein-
gedrungen (imbibirt) ist. Ist es herausgetreten, so ist festzustellen, wo es liegt, ob auf
der Oberfläche oder im Gewebe, ob es geronnen ist oder nicht u. s. w.
Endlich ist besondere Sorgfalt zu verwenden auf die Untersuchung des Zusammen-
hanges der Oberfläche, namentlich darauf, ob Substanzverinste, Abschürfungen (Erosionen),
Geschwüre vorhanden sind. Die Frage, ob gewisse Veränderungen möglicherweise durch
den natürlichen Gang der Zersetzung nach dem Tode, namentlich unter Einwirkung gäh-
renden Mageninhalts, zustande gekommen sind, ist stets im Auge zu behalten.
Nach Beendigung dieser Untersuchung werden der Magen und der Zwölffingerdarm
in dasselbe Gefäss mit dem Mageninhalt (s. oben) gethan und dem Richter zur weiteren
Veranlassung übergeben. In dasselbe Gefäss ist auch später die Speiseröhre, nachdem sie
nahe am Halse unterbunden und über der Ligatur durchschnitten worden, nach vorgän-
giger anatomischer Untersuchung, sowie in dem Falle, dass wenig Mageninhalt vorhanden
ist, der Inhalt des Leerdarmes zu bringen.
Endlich sind auch andere Substanzen und Organtheile, wie Blut, Harn, Stücke der
Leber, Nieren u. s. w. aus der Leiche zu entnehmen und dem Richter abgesondert zur
weiteren Veranlassung zu übergeben. Der Harn ist für sich in einem Gefässe zu bewahren,
Blut nur in dem Falle, dass von einer spectralanalytischen Untersuchung ein besonderer
Aufschluss erwartet werden kann. Alle übrigen Theile sind zusammen in ein Gefäss zu
bringen.
Jedes dieser Gefässe wird verschlossen, versiegelt und bezeichnet.
Ergibt die Betrachtung mit blossem Auge, dass die Magenschleimhaut durch beson-
dere Trübung und Schwellung ausgezeichnet ist, so ist jedesmal, und zwar möglichst bald
eine mikroskopische Untersuchung der Schleimhaut, namentlich in Bezug auf das Verhalten
der Labdrüsen, zu veranstalten.
Auch in den Fällen, wo sich im Mageninhalt verdächtige Körper, z. B. Bestandtheile
von Blättern oder sonstige Pflanzentheile, Ueberreste von thierischer Nahrung finden, sind
dieselben einer mikroskopischen Untersuchung zu unterwerfen.
Bei Verdacht einer Trichinenvergiftung hat sich die mikroskopische Untersuchung
zunächst mit dem Inhalt des Magens und des oberen Dünndarms zu beschäftigen, jedoch ist
zugleich ein Theil der Muskulatur (Zwerchfell, Hals- und Brustmuskeln) zur weiteren
Prüfung zurückzulegen."
Schon die äussere Besichtigung der Leichen Vergifteter kann
Anhaltspunkte für die Diagnose geben; solche sind: ikterische Hautfärbung bei
Phosphorvergiftung, hellrothe Färbung bei der Kohlenoxydvergiftung, ver-
schorfte Lippen und Mundwinkel, insbesondere auch lederartig vertrocknete,
vom Mundwinkel gegen Kinn und Hals herabziehende braune Streifen bei Vergif-
tungen mit ätzenden Substanzen, ein bestimmter Geruch der Leiche bei Blau-
säure-, eventuell Chloroform Vergiftung.
Beider inneren Untersuchung der Leiche gestalten sich die Be-
funde wesentlich verschieden, je nachdem es sich um örtlich wirkende ätzende
Gifte oder um solche handelt, welche nur durch Resorption zur Wirkung ge-
langten und schwerere oder auch gar keine nennenswerten Veränderungen in
den entfernteren Organen veranlasst haben. Bei der erstgenannten Gruppe der
Gifte ist die Untersuchung der Magenwand und des Mageninhaltes vor allem
wichtig und sind die dabei erhobenen Befunde oft von ausschlaggebender Be-
deutung. Nach der in vorgeschriebener Weise vorgenommenen Oeffnung des
Magens wird zunächst der Inhalt untersucht, wobei auffallende Eigenschaften
desselben zu beachten sind: Der Geruch ist nicht selten charakteristisch,
es kann dies der Fall sein bei der Phosphorvergiftung, bei der Blausäure-
vergiftung, wo der bekannte Geruch nach bitteren Mandeln wahrzunehmen
ist, bei der Alkohol-, Chloroform-, Sabinavergiftung, w^o stets der Mageninhalt
mehr w^eniger deutlich den specifischen Geruch dieser Substanzen zeigt. In
vielen Fällen ist dem Mageninhalt Blut beigemengt, welches von Läsionen der
Blutgefässe herrührt; diese Beimengung kann mitunter auch erst postmortal ent-
standen sein. Dabei hat das Blut fast niemals seine ursprüngliche Farbe,
sondern es sind wesentliche Veränderungen eingetreten, weshalb die Be-
922 VERGIFTUNGEN.
Stimmung der Farbe des Mageninhaltes wichtig ist; er ist mitunter schwarz-
braun bis schwarz (Schwefelsäurevergiftung) oder auffallend roth (Cyankalium-
vergiftung) oder grün, wenn die Vergiftung durch chlorophyllhältige Pflanzen-
theile oder grüne Farben vorgenommen wurde (Juniperus Sabina, Arsengrün),
oder gelb bei Vergiftung mit chromsauren Salzen, Jod oder Tinctura opii
crocata, blau bei der Kupfervitriolvergiftung.
Immer wird auch die Reaction zu prüfen sein, und es gehört Lakmus-
papier zu den unerlässlichen Dingen bei der Vornahme der Obduction Ver-
gifteter. Die entweder übermässig saure oder übermässig alkalische Reaction
deutet auf die Anwesenheit freier Säure, also auf Säurevergiftung, oder von
Alkalien hin, auch bei Cyankaliumvergiftung ist die stark alkalische Reaction
wahrnehmbar.
Stets muss auch auf die Beimengung etwa vorhandener, verdächtiger
fremder Substanzen im Mageninhalt gesehen werden. Deren Auslese ist für die
nachfolgende chemische Untersuchung wichtig und sichert manchmal die
Diagnose schon am Leichentisch. So findet man z. B. recht häufig ungelösten
weissen oder gelben Arsenik in Form sandiger weisser oder gelber Beimen-
gungen oder in Form grösserer oder kleinerer Stücke dieser Substanz. Bei
der nicht allzu seltenen Vergiftung mit Sabina-Abkochung können Bestand-
theile dieser Pflanzen aufgefunden werden, oder es werden andere charakte-
ristische Pflanzentheile nachgewiesen, so etwa bei der Opiumvergiftung Theile
der Mohnpflanze. Die Kantharidenvergiftung verräth sich, wenn Kanthariden-
pulver verwendet wurde, durch anwesende Bruchstücke der grünglänzenden
Flügeldecken dieser Insecten.
An der Magenwand finden sich bei den Aetzgiften immer mehr minder
tiefgehende und oft auch für sich charakteristische, daher diagnostisch wich-
tige Veränderungen vor. Es ist nach Abspülung derselben mit destillirtem
Wasser die Ausbreitung der etwa vorhandenen Verschorfungen und Ver-
ätzungen genau aufzunehmen. Nicht immer sind alle Theile der Magen-
schleimhaut in gleicher Weise verändert. Wurde ein Gift im Stehen oder
Sitzen genommen, so ist es meist die Pyloruspartie der grossen Curvatur oder
die kleine Curvatur, wo die tiefgehendsten Veränderungen vorhanden sind,
während bei der Einverleibung im Liegen hauptsächlich der Fundus und die
hintere Magenwand verätzt sind. Sehr häufig sind ausgebreitete Ecchymosirungen
vorhanden und reactiv-entzündliche Veränderungen der Schleimhaut. Hat die
Vergiftung etwas länger angedauert, so ist nicht selten schon trübe Schwel-
lung der Schleimhaut vorhanden. Ganz ähnliche, nur quantitativ verschiedene
Veränderungen wie im Magen finden sich bei den Aetzgiften auch in den an-
grenzenden Partien der Gedärme, namentlich im Zwölffingerdarme, sowie in
der Speiseröhre und in der Mundhöhle.
Auch bei den Aetzgiften können die Leichenbefunde zu Verwechslungen
mit anderen krankhaften Processen Anlass geben. Namentlich sind es katar-
rhalische Entzündungen, auch die physiologische Verdauungsröthe der Magen-
schleimhaut, ferner die bei der Erstickung manchmal auftretende Röthung
und Ecchymosirung und die Diphtherie der Magenschleimhaut, welche solche
irrthümliche Auffassungen möglich machen. Auch Leichenerscheinungen, wie
die schwarze Verfärbung der Magenschleimhaut, welche als cadaveröse Mela-
nose bekannt ist, ferner die sogenannte weisse Magenerweichung sind schon
für Vergiftungseffecte gehalten worden.
Bei den nicht ätzenden Giften treten diese örtlichen Erscheinungen in
den Hintergrund, indem die örtlichen Veränderungen nicht besonders j stark
oder gar nicht vorhanden sind. Wurden schwere pathologische Veränderungen
in entfernten Organen gesetzt, wie beispielsweise bei der Phosphorvergiftung,
so sind namentlich diese Veränderungen von diagnostischer Bedeutung, vor
VERGIFTUNGEN. 923
allem also fettige Entartung der Leber, der Nieren, des Herzfleisches, der Ge-
fässe und Muskeln.
Viele Gifte bedingen Veränderungen des Blutes. So ist bekannt die hell-
rothe Färbung des Blutes bei Kohlenoxydgasvergiftung, die braune bei der
Vergiftung mit Chrom, mit chlorsaurem Kalium und anderen Methämoglobin
bildenden Giften.
Zahlreiche Gifte, wie insbesondere die ganze wichtige Gruppe der
Pflanzenalkaloide und die meisten Narkotica und Anaesthetica bewirken gar
keine so hervorstechenden Veränderungen, dass die Leichenbefunde allein ge-
nügende Anhaltspunkte für die Diagnose liefern würden. Wir finden in diesen
Fällen zumeist nur die allgemeinen Erstickungsbefunde, nämlich Hyperveno-
sität des Blutes, Ansammlung desselben in den Brustorganen, ab und zu auch
wie bei den mechanischen Erstickungen, Ecchymosen. Man kann demnach
sagen, dass die anatomischen Befunde nur für einen Theil der Vergiftungen
diagnostisch ausschlaggebend sind.
3. Der chemische Nachweis.
Die zu Gerichtshanden genommenen Leichentheile, welche in der Regel
der Magen und sein Inhalt, ferner Gedärme sammt Inhalt, Theile der Leber,
Milz, Nieren, Lungen, des Gehirns oder Harn und Blut sind, werden vor-
schriftsmässig verwahrt, dem Gerichtschemiker übergeben. Die chemische
Untersuchung kann naturgemäss nur in entsprechend eingerichteten Labora-
torien von eigenen chemischen Sachverständigen vorgenommen werden.
Das Ergebnis dieser Untersuchungen ist jedoch wieder Gegenstand des
gerichtsärztlichen Urtheiles, indem sich das Gutachten auf den chemischen
Befund zu stützen hat. Vielfach ist der Irrthum verbreitet, dass der foren-
sische BcAveis einer stattgehabten Vergiftung als erbracht angesehen werden
müsse, wenii in der Leiche ein Gift gefunden wurde, und umgekehrt, dass
eine Vergiftung nicht vorhanden wäre, wenn das Ergebnis der chemischen
Untersuchung negativ ausgefallen ist.
Diese Meinung ist völlig irrthümlich, vielmehr ist es Sache gerichts-
ärztlicher Erwägungen, ob trotz der Anwesenheit eines Giftes der Mensch
thatsächlich an dieser oder überhaupt an einer Vergiftung gestorben ist, und
umgekehrt ist wohl zu beachten, dass ebenso auch bei einem negativen Aus-
fall der chemischen Untersuchung gleichwohl eine Vergiftung thatsächlich vor-
liegen kann.
Zunächst ist ^ die Möglichkeit zu denken, dass gar nicht selten Gift-
spuren im Körper vorhanden sind, ohne dass der Mensch an Vergiftung ge-
storben ist. Werden doch so viele, in grösserer Dosis als Gifte wirkende
Körper auch als Arzneien verwendet. So können also auch in Leichen oder
Leichentheilen kleine Mengen von Arsen, von Alkaloiden, von Metallsalzen
u. s. w. vorhanden sein, welche als Medicamente dem Lebenden verabfolgt
wurden. Ebenso können kleine Mengen giftiger Körper auch von aussen in
die Leiche gekommen sein. Es ist das namentlich dann möglich, wenn Leichen
schon längere Zeit begraben waren, und erst später der aufgetauchte Verdacht
einer Vergiftung eine Ausgrabung nothwendig machte. Bei ausgegrabenen
Leichen kann insbesondere Arsen entweder von arsenhaltiger Friedhoferde
oder von arsenhaltigen Gegenständen, welche der Leiche beigelegt waren, wie
von künstlichen Blumen, Kränzen, grüngefärbten Blättern die Quelle für die
Beimengung von Spuren dieses Giftes sein. Dass nicht etwa durch die An-
wendung unreiner Reagentien das Ergebnis einer chemischen Untersuchung
getrübt werde, dafür haben die chemischen Sachverständigen durch die An-
wendung absolut chemisch reiner Substanzen bei ihren Untersuchungen Vor-
sorge zu treffen.
924 VERGIFTUNGEN.
Aber auch der negative Ausfall der chemischen Untersuchung beweist,
wie schon gesagt wurde, noch durchaus nicht, dass keine Vergiftung statt-
gefunden haben könne. So können einmal Gifte durch vollständige Aus-
scheidung aus dem Körper hinausgekommen sein, oder sie sind durch die
Fäulnis zerstört worden, oder endlich kann es sich auch um Körper handeln,
deren chemischer Nachweis unmöglich oder unsicher ist.
In vielen Fällen muss der chemische Nachweis noch durch das physio-
logische Experiment gestützt werden; es ist dies vornehmlich beim Nachweis
von Alkaloiden der Fall. Dabei ist auch die Wahl des Versuchsthieres von
Wichtigkeit, da sich erfahrungsgemäss die verschiedenen Thiergattungen gegen
gleiche Mengen eines und desselben Giftes verschieden verhalten. So ist
beispielsweise für den physiologischen Nachweis des Strychnins der so oft
verwendete Frosch ein keineswegs geeignetes Versuchsthier, weil die Strychnin-
krärapfe bei ihm oft erst durch verhältnismässig grosse Dosen sicher aus-
gelöst werden. Unendlich viel empfindlicher für Strychnin ist z. B. die weisse
Maus, für Atropin ist nicht das Kaninchen geeignet, sondern entweder das
Auge eines Menschen oder einer Katze.
In besonderen Fällen ist noch eine spectroskopische Untersuchung vor-
zunehmen und in manchen Fällen wird der Beweis einer Vergiftung nur durch
mikroskopische Untersuchung zu erbringen sein.
Die Vergiftungen im Einzebien.
Man hat die Gifte in verschiedener Weise eingetheilt, so nach ihrer
Herkunft in anorganische und organische, oder in Mineral-,
Pflanzen- und Thiergifte, oder man hat sie nach rein chemischen Ge-
sichtspunkten geordnet. Vom Standpunkte der Medicinalpolizei gruppiren
sich die Intoxicationen nach ätiologischen Gesichtspunkten als Giftmorde,
Giftselbstmorde, gewerbliche Vergiftungen, technische, öko-
nomische und Medicinal-Vergiftungen. Die innere Medicin unter-
scheidet heute ziemlich allgemein zwischen Giften, welche von aussen bei-
gebracht werden, und Giften, welche im Körper selbst entstanden sind, indem
sie zwei grosse Gruppen aufstellt, die endogenen und exogenen Intoxi-
cationen (System von Jaksch). In manchen Lehrbüchern ist jede systema-
tische Eintheilung unterlassen. Für das Verständnis und die klare Darstellung
der Vergiftungen scheint jedoch ein System unerlässlich zu sein, wenngleich
es heute keine vollständig sachlich begründete und allgemein giltige Ein-
theilung gibt. Für unsere Zwecke und das richtige Verständnis der Ver-
giftungen ist eine Eintheilung nach den Giftwirkungen wohl das Zweck-
massigste. Es ist hiebei ebenso Bedacht genommen auf die klinischen wie
auf die pathologisch-anatomischen Veränderungen und so können wir zwang-
los folgende Gruppen aufstellen:
I. Aetzgifte.
IL Parenchymgifte.
III. Blutgifte.
IV. Herzgifte.
V. Nervengifte.
I. Die Aetzgifte.
Darunter sind solche Gifte zu verstehen, welche vorwaltend die Applica-
tionsstellen verändern, also am Orte der Einwirkung schwere anatomische
Läsionen hervorrufen. Es gehören dahin die ätzenden Säuren, die ätzenden
Alkalien, die ätzenden Salze, die ätzenden Gase und Dämpfe und endlich
ätzende organische Substanzen, welche ihrer chemischen Constitution nach
weder Säuren, noch Basen, noch Salze sind.
VERGIFTUNGEN. 925
'.() Säurevergiftungen.
Sämmtliche hieher gehörigen Körper, welche theils anorganische, theils
organische Säuren sind, rufen im Munde, in der Speiseröhre, im Magen und
meist auch in den Gedärmen eine fast momentane Reizung hervor, welche
man als Aetzung zu bezeichnen pflegt. Eine reine Aetzung bekommt übrigens
nur der Experimentator beim Thierversuch zu sehen. Das, was der Gerichts-
arzt an der Leiche beobachtet, ist fast immer ein zusammengesetztes Bild,
bestehend aus der Aetzung des lebenden Gewebes, aus der reactiven Ent-
zündung und aus den durch das Aetzmittel postmortal gesetzten Veränderungen.
Die gemeinsame Wirkung der ätzenden Säuren beruht auf der Eiweiss-
umwandlung, Wasserentziehung und Temperaturerhöhung. Jedes dieser drei
Momente allein genommen ist im Stande, Schleimhauttheile zum Absterben zu
bringen. So ist es begreiflich, dass alle drei zusammen, falls die Säure con-
centrirt ist, geradezu furchtbare Wirkungen erzeugen. Es hängt daher die
Schwere einer Säurevergiftung, wenigstens in Bezug auf die sogenannte Aetz-
wirkung, nicht so sehr von der absoluten Menge, als von der Concentra-
tion ab.
Schwefelsäure, HgSO^ -|- x HgO. Die Vergiftung mit dieser ist das Pro-
totyp aller Säurevergiftungen. Die Dosis letalis der concentrirten Säure wird
bei leerem Magen auf 4 — 5 (/ geschätzt. Die Vergiftungserscheinungen treten
augenblicklich ein und bestehen in intensivem Schmerz und Brennen der Zunge,
im Munde, im Rachen und in der Speiseröhre sowie im Magen. Sehr bald
kommen dazu grosser Durst, Erbrechen brauner Massen, Schluckbeschwerden,
Leibschneiden, Koliken, Durchfall, Auftreibung des Abdomens, Sinken der
Körpertemperatur und allgemeiner Collaps. Der Harn ist auffallend sauer,
wird unter brennenden Schmerzen entleert und enthält sehr bald Eiweiss,
oder sogar Hämatin. Dabei ist das Bewusstsein fast bis zum Tode erhalten.
Dieser tritt entweder schon nach zwei bis drei Stunden unter Collapserschei-
nungen ein, oder es ist ein protrahirter Verlauf vorhanden, so dass sich die
Vergiftung auch über mehrere Tage hinziehen kann. In letzterem Falle
kommt es auf dem Wege der demarkirenden Entzündung um die verätzten
Schleimhautpartien zur Abstossung von nekrotisirten Gewebstheilen aus der
Speiseröhre und dem Magen, welche manchesmal in Schlauchform durch
Brechbewegungen ausgestossen werden. Bei protrahirtem Verlauf gesellen
sich nicht selten pneumonische Processe hinzu.
Die Leichenbefunde zeigen äusserlich mitunter braune, lederartige
Streifen, welche von den Mundwinkeln herabziehen, Verschorfungen der Lippen,
innerlich ist weissgraue Verfärbung der Schleimhaut der Mundhöhle und des
Rachens vorhanden, sogenannte weisse Verschorfung; es sehen diese Theile
wie gekocht aus, und sind es auch thatsächlich infolge der Temperaturerhö-
hung, die bei der Vermengung der wässerigen Bestandtheile der Gewebe mit
der eingeführten Säure entsteht. Der Magen ist in der Regel schon äusserlich
schiefergrau gefärbt, die Wandungen sind verdickt, die Blutgefässe treten
häufig als schwarze Streifen und Netze hervor. Nicht allzu selten ist das
Blut in den Gefässen theerartig eingedickt oder ganz erstarrt in Form braun-
rother Cylinder. Der Mageninhalt reagirt stark sauer, er enthält freie Säure,
welche dadurch nachgewiesen werden kann, dass man einige Tropfen des fil-
trirten Inhaltes auf doppeltkohlensaures Natron giesst, wodurch Aufbrausen
entsteht. Die Inhaltsmassen sind theils breiig, theils flüssig und haben die
Farbe von Kaffeesatz. Diese Färbung rührt von beigemengtem Blute her,
dessen Farbstoff durch die anwesende Säure in dunkles Säurehämatin umge-
wandelt ist. Auf dieselbe Ursache ist auch die oft über die ganze Magen-
schleimhaut sich erstreckende schwarze Verfärbung der Schorfe zu beziehen,
ein Befund, den man ehemals missverständlich als Verkohlung bezeichnete.
Die Schorfe sind starr, brüchig, es besteht eine sogenannte feste Mortification
926 VERGIFTUNGEN.
im Gegensatz zu der durch kaustische Alkalien bedingten Erweichung oder
Verflüssigung. Die Verschorfung ist in der Regel am intensivsten am Magen-
grund und an der hinteren Magenwand. In einzelnen Fällen kann es auch
zur Perforation kommen, einer Erscheinung, die übrigens wohl ausnahmslos
als Leichenerscheinung aufzufassen sein wird, da ja die chemischen Eigen-
schaften der Säure auch nach dem Tode fortwirken. In diesem Falle ist
freie Säure in den Bauchfellsack ergossen und sind die angrenzenden
Organe, namentlich die Oberfläche der Leber, die Gedärme u. s. w. von aussen
her in ähnlicher Weise verändert wie die Magenschleimhaut von innen. In
der Nähe des Magens reagirt in der Regel alles Blut, welches theerartig be-
schaffen ist, sauer. Oft ist es in den Kranzgefässen des Magens, ja selbst in
der unteren Hohlvene und manchmal im rechten Herzen zu einer brüchigen
Masse eingedickt. Auch das ist nur eine Leichenerscheinung. Bei etwas
längerer Dauer der Vergiftung besteht trübe Schwellung in den Meren, wo
bereits Fibrincylinder angetroffen werden. Tritt der Tod nicht acut ein, so
kommt es zu Nachkrankheiten, und zwar zu Stricturen und Dilatationen der
Speiseröhre, des Magens und zu Pylorusstenosen, zu chronischem Vomitus,
hartnäckigen Neuralgien, namentlich Intercostalneuralgien; auch Fixationen
des Kinns auf der Brust, Narbencontracturen im Munde, theilweise Verödung
des Nierenparenchyms und bei Einspritzung in die Vagina Atresien dieser
sind beobachtet worden.
Die Häufigkeit der Schwefelsäurevergiftung scheint in wesentlichem
Rückgange begriffen zu sein. Gleichwohl kommen durch die in der Technik
in Verwendung stehende unreine Schwefelsäure, das Nordhäuser Vitriolöl, aber
auch durch die reine, concentrirte Säure Vergiftungen für Selbstmordzwecke
oder noch häufiger als zufällige Vergiftungen ab und zu vor.
Aehnliche Wirkungen wie die Säure haben auch einige Salze derselben,
so das saure, schwefelsaure Kalium (KHS O4) und das neutrale schwefel-
saure Kalium (Ko SO4), welches in der Pharmakopoe als Sal polychrestum
Glaseri bekannt ist und auch als Abortivum in Gebrauch steht.
Der chemische Nachweis beruht auf dem Befund freier Säure im Magen
durch Fällung des wässerigen Auszuges mit Baryumchlorid oder essigsaurem
Bleioxyd, wobei Baryumsulfat, beziehungsweise Bleisulfat als schweres, weisses
Pulver ausfällt.
Salpetersäure, HNO3. Die Salpetersäurevergiftung, im Wesen gleich der
Schwefelsäurevergiftung, ist dadurch charakteristisch unterschieden, dass das
Eiweiss unter der Wirkung dieser Säure schon sehr bald in gelb gefärbte
Xanthoproteinsäure übergeführt wird. Darauf beruht es, dass die verätzten Stellen
von den Lippen angefangen bis in den Dünndarm hinab mehr weniger intensiv
gelb verfärbt sind, ein Befund, der neben der starren Beschaffenheit der tief-
gehenden Schorfe bei intensiv saurer Reaction des mitunter schon ähnlich
gefärbten Mageninhaltes und der erbrochenen Massen die Diagnose vollständig
sichert. (Vergl. Ipsen, Salpetersäure Vergiftung.) Die tödtliche Dosis beträgt
nach KoBERT etwa 8 g. Auch bei dieser Vergiftung kann man in den Nieren
acute parenchymatöse Nephritis finden. Der Nachweis geschieht, indem der
wässerige oder alkoholische Auszug mit Eisenvitriol und concentrirter Schwefel-
säure versetzt wird, wodurch beim Ueberschichten ein dunkelvioletter Ring
entsteht. Brucin in concentrirter Schwefelsäure ruft bei Berührung mit Salpeter-
säure eine purpurrothe Färbung hervor. Forensich interessant ist die Ver-
wendung der Salpetersäure als Fruchtabtreibungssmittel in den südlichen
Theilen Russlands. (Bellten.) Es wird rohe, oft arsenhaltige Säure in Dosen
von 10 Tropfen bis zu 15 ^ pro die mitunter Monate lang genommen, wobei
es zu einer sehr schweren chronischen Vergiftung kommt, welche durch tiefe
Ernährungsstörungen, hochgradige Anämie, Schlaflosigkeit, Tremor, Erbrechen,
Koliken und Abortus charakterisirt ist.
VERGIFTUNGEN. 927
Salzsäure, HCl. Die 30— 40'^/oige rauchende Salzsäure des Handels,
welche meist mit Arsenik und Eisen, manchmal auch mit Antimon verun-
reinigt ist, wird gleichfalls für Vergiftungszwecke verwendet. So starben in
England allein im Jahre 1890 sechs Menschen an Salzsäurevergiftung; gleich-
wohl kann diese Vergiftung als eine im Ganzen seltene, bezeichnet werden.
Sie hat die grösste Aehnlichkeit mit der Schwefelsäurevergiftung, wobei in-
folge der sich entwickelnden Dämpfe auch eine starke entzündliche Alfection
der oberen Luftwege hinzukommt, so dass die Veränderungen im Rachen
und Kehlkopf oft täuschend diphtheritischen Entzündungen ähneln.
Oxalsäure, Co Ho 0,^. Die Oxalsäure, auch Klee- oder Zucker säure ge-
nannt, und ihr saures Kalisalz, das saure Oxalsäure Kalium oder Klee salz, auch
Bittersalz (KHC2O4) sind im Haushalte und in der Industrie zum Färben,
Bleichen, Verfertigung der blauen Tinte, zum Putzen von Messing- und Kupfer-
geräthen, zur Entfernung von Tintenflecken aus der Wäschen, s. w. in Verwendung.
Die dadurch bedingte leichte Zugänglichkeit erklärt auch die relative Häufigkeit
dieser Vergiftung in neuerer Zeit. Die tödtliche Dosis beträgt 5 g, doch sind
wiederholt auch viel grössere Gaben überstanden worden. Die Erscheinungen
bestehen in intensiv saurem Geschmack, Brennen im Magen, häufigem Er-
brechen saurer dunkelbrauner bis schwarzer Massen mit reichlicher Beimen-
gung von Schleim, in Schlingbeschwerden und Schmerzen im Epigastrium und
über den ganzen Unterleib, ja ausstrahlend bis in die Extremitäten. Dazu
gesellen sich Erscheinungen, welche auf eine Mitaffection des Nervensystems
hinweisen, wodurch sich überhaupt die organischen Säuren in ihren Wirkungen
von den anorganischen unterscheiden. Diese Symptome sind Krämpfe in Form
von Trismus, Tetanus und anderweitigen Convulsionen. Sehr bald tritt Collaps
ein, die Haut wird cyanotisch und kalt, bedeckt sich mit klebrigem Schweiss,
der Puls wird unfühlbar, und es erfolgt unter Coma der Tod. Der Harn kann
Methäraoglobin und Hämatin enthalten, manchesmal ist die Harnsecretion voll-
ständig unterdrückt, meist wird ausserdem noch Eiweiss, Zucker und eine
reiche Menge von Calciumoxalatkrystallen im Harn beobachtet. Der Leichen-
befund weist auffallend stark angeätzte, weissgrau verfärbte Schleimbaut der
Speiseröhre und des Duodenums nach, während der Magen oft auffallender-
weise relativ frei von Verätzung sein kann. (Lesser.) Manchesmal finden
sich punktförmige bis linsengrosse Hämorrhagien in der Magenschleimhaut
und auf ihr oft Niederschläge von Calciumoxalat in Form von Nadeln, Garben-
bündeln, Blättchen und wetzsteinartigen Gebilden. Diese Sedimente sind
reichlich auch in den Harncanälchen vorhanden, während die Glomeruli der
Nieren stets frei von Krystallen gefunden werden.
Carbolsäui-e, C^H-^. OH. Auch diese Säure, in neuerer Zeit vielfach
verwendet, ist nicht unschwer zugänglich; ihre Wirkung besteht in der Coagu-
lation von Eiweiss; sie ruft also wie die übrigen Säuren eine Coagulations-
nekrose hervor. Ausser dieser örtlichen Wirkung hat sie eine centrale auf
Gehirn und Rückenmark. Sie wird selbst von der unverletzten äusseren Haut
aus schnell aufgenommen; die Dosis letalis liegt bei Einführung per os etwa bei
10 y. Bei directer Einführung in Körperhöhlen sogar bei 1 g. Der Organismus
des Menschen und der Säugethiere paart die Carbolsäure zu Phenolätherschwefel-
säure, und wenn grosse Mengen vorhanden sind, zu Phenolglykuronsäure. Die
Nieren werden beim Durchgange der gepaarten Säuren gereizt, weshalb auch
hyaline Cylinder und Eiweiss im Harn gefunden werden.
Die Vergiftungserscheinungen gleichen denen der übrigen ätzenden
Säuren. Dazu kommen noch Schwindel, Ohrensausen, Blasswerden, Ohnmacht,
Aussetzen von Puls und Athmung sowie Delirien, Eingenommensein des Kopfes,
Mattigkeit, Pupillenverengung und profuse Schweisse. Der Patient riecht
nach Carbolsäure, der Harn ist meist schwarzgrün verfärbt, hat Phenolgeruch
und gibt auf Chlorbaryumzusatz keinen Niederschlag von Baryumsulfat wie
928 VERGIFTUNGEN.
der normale Harn, da alle Sulfate des Organismus zur Bildung der Phenol-
ätherschwefelsäure herangezogen sind.
Aehnlich wie das Phenol selbst wirken auch seine Abkömmlinge, so das Methyl-
derivat oder Kresol, dann die Dihydrosylbenzole, das Hydrochinon, Brenzkatechin und
Resorcin, ferner der Methyläther des Brenzkatechins, das Guajakol, sowie das Trihydroxyl-
benzol oder Pyrogallol.
b) Alkalienvergiftungen.
Die ätzenden Alkalien bewirken auf der lebenden Schleimhaut gleich-
falls eine Nekrose, welche jedoch ganz anderer Art ist als die durch Säuren
bedingte. Die geätzten Partien sind hier nicht trocken und brüchig, sondern
weich und schmierig. Die Aetzung besteht in der Bildung von Alkalialbumi-
naten, welche gelatinös aufquellen, ja bei Anwesenheit von viel Wasser sich
sogar, wenigstens theilweise, lösen können. Dieser Vorgang wird in der Patho-
logie CoUiquation genannt. Im Uebrigen gleichen die Erscheinungen ganz
ausserordentlich denen der Säurevergiftung.
Es gehören hieher zunächst die Laugen, und zwar die Aetzlauge
(KHO), auch Seifensiederlauge, Liquor kalii hydrici; dann die Natronlauge
(Na HO), Laugenessenz, auch Seifenstein genannt. Die Laugenessenz ist eine
Lösung des unreinen Natronhydrates und wie die Kalilauge sehr leicht zu-
gänglich und in Haushaltungen vielfach für ökonomische Zwecke in Gebrauch.
Aber nicht nur die kaustischen, sondern auch die kohlensauren Alkalien haben
dieselbe toxische Wirkung, nur mit dem Unterschiede, dass ihre Wirkung
etwas schwächer ist. Das kohlensaure Kalium (Kg CO3) oder die Pottasche,
ferner das kohlensaure Natrium, Soda (Na^ CO3) gehören hieher.
Aetzlaugen. Die Aetzlaugenvergiftung ist neuerer Zeit ziemlich häufig als
Selbstmordart zu beobachten (Hofmann), meist bei Weibern vorkommend; es
sind auch schon Fälle von Mord beobachtet worden. Die Vergiftungserschei-
nungen treten wie bei den Säuren sehr rasch auf, der Verlauf ist jedoch in
der Regel ein etwas verzögerter; gewöhnlich verläuft die Vergiftunng in zwei
bis drei Tagen, gar nicht selten erfolgt der Tod erst secundär, infolge der
mit Recht so gefürchteten Oesophagus- und Pylorusstricturen. Die Haupt-
erscheinungen sind intensiv laugenhafter, brennender Geschmack, Erbrechen
schmieriger, sehr zäher, alkalisch reagirender Massen. Bei der Kalilaugen-
vergiftung, welche wegen der Wirkung des Kaliums auf das Herz besonders
gefährlich ist, treten noch Ohnmächten und Krämpfe sowie eine rasch zu-
nehmende Herzschwäche hinzu. Im Weiteren gesellt sich in der Regel Durch-
fall hinzu, welcher aber auch mitunter fehlen kann. Die Diagnose am
Lebenden wird gesichert durch das Erbrechen stark alkalisch reagirender und
gelatinös gequollener Massen, denen mitunter gequollene Fetzen von Schleim-
häuten der oberen Verdauungswege beigemengt sind. Die Leichenbefunde be-
stehen in Verätzungen des Mundes, Schlundes und der Speiseröhre, des
Magens, und des angrenzenden Zwölffingerdarmes. Am meisten ist wieder die
Magenschleimhaut verändert. Das Epithel der Mundhöhle und der Speise-
röhre ist grau verfärbt, getrübt, gequollen, die Schleimhaut missfärbig. Die
Wandungen des Magens sind beträchtlich verdickt, zusammengezogen, blutig
infiltrirt, mit schleimigen, gelatinösen, transparenten Massen überzogen. Diese
stark alkalischen Massen enthalten die oft schwarzbraun verfärbte Schleim-
haut, welche des Epithels beraubt ist, oder es besteht starke Röthung; die
ganze Wand fühlt sich seifenartig an. Die Verschorfung geht in der Regel
nicht so tief wie bei den Säuren, obwohl auch die Alkalien sehr tiefe Ver-
ätzungen hervorbringen können; sogar Perforationen, welche wahrscheinlich
immer erst postmortal entstanden sind, sind beobachtet worden. Auch kommt
es postmortal zur Transsudation der Lauge durch die Magenwand hindurch,
und es werden demgemäss die angrenzenden Gewebe neben alkalischer Reac-
tion auch die bekannte Quell ung der Epithelien nicht selten zeigen. Die
VERGIFTUNGEN. 929
braune Veränderung des ausgetretenen Blutes wird durch die Umwandlung
des Hämoglobins in dunkles Alkalihämatin bewirkt. In den Coronargefässen
des Magens ist das Blut meist locker geronnen und schmierig.
Bei etwas verzögertem Verlaufe kommt es zur Abstossung nekrotischer
Schleimhaut, welche nicht nur in Fetzen, sondern selbst in Röhren abgeht.
In diesen Fällen finden sich auch Veränderungen der Nieren in Form von
trüber Schwellung der Epithelien aller Nierenabschnitte, ferner der Leber-
zellen und der Muskelzellen bis zur vollkommenen fettigen Entartung der-
selben. Auch bei den Alkalienvergiftungen gesellen sich nicht selten pneu-
monische Processe hinzu. Die Diagnose ist ausserdem noch gesichert durch
die intensiv alkalische Reaction des Mageninhaltes und der Magenwand, ferner
durch den sehr starkalkalischen Harn, welcher meist Krystalle von phosphor-
saurer Magnesia und phosphorsaurer Ammoniakmagnesia in Mengen enthält.
Aiiimomak. Das Ammoniakgas löst sich in Wasser 32V2%ig; diese
oder auch dünnere Lösungen werden Aetzammoniak oder Salmiakgeist ge-
nannt (Liquor ammonii caustici). Auch in Spiritus ist das Gas löslich und
liefert so den Liquor ammonii caustici alcoholicus. Diese Flüssigkeiten finden
vielfach Verwendung in Kattundruckereien, Bleichereien, Lack- und Farben-
fabriken, bei der Eisfabrikation, in chemischen Laboratorien und auch als
Arzneimittel. Das Ammoniak wird bekanntlich als Nebenproduct bei der
Leuchtgasfabrikation in grossen Mengen gewonnen. Es ist eine nicht ganz
geringe Zahl von theils ökonomischen Vergiftungen, theils Giftselbstmorden mit
dieser Flüssigkeit beobachtet worden, namentlich in England. Die Sterblichkeit
wird mit 507o angegeben.
Das Trinken von Ammoniakflüssigkeit bewirkt Aetzungen des Ver-
dauungstracts, Entzündungen der oberen Athmungswege infolge des Eindringens
von Dämpfen der Ammoniakflüssigkeit in den Respirationstract und Allgemein-
erscheinungen. Die Verätzung entsteht, indem Ammoniak die in den Epi-
thelien enthaltenen Hornsubstanzen auflöst und die Eiweisskörper in Ammoniak-
albuminat umwandelt; der Blutfarbstoff wird in alkalisches Hämatin über-
geführt.
Dem entsprechend sind die Krankheitserscheinungen, welche un-
mittelbar nach der Einverleibung auftreten, rasende Schmerzen, Schwellung
und Blasenbildung im Munde, Salivation, Erbrechen von Blut und Schleim,
blutige, dünne Stuhlentleerungen, also wieder das bekannte Bild einer hef-
tigen, acuten, toxischen Gastro-enteritis, und dazu gesellen sich Symptome
von Seiten der Athmungsorgane: Stimmlosigkeit, Husten, Dyspnoe, Brustbe-
klemmung, Erstickungsanfälle und Expectoration von blutigeiterigen Sputen
und Croupmembranen. Aus der Allgemeinwirkung des Ammoniaks ergibt
sich noch eine dritte Symptomenreihe in Form psychischer Erregungszustände,
klonischer Krämpfe mit bald eintretender Lähmung, namentlich der Extremi-
täten, Mattigkeit, Gliederschmerzen und Bewusstlosigkeit. Der Athem riecht
stark nach Ammoniak; im stark alkalischen Harn sind Ammoniaksalze, sehr
bald auch Eiweiss und Hämatin enthalten.
Die Leichenerscheinungen bestehen in Verätzung der Schling-
wege und des Magens, Schwellung der Schleimhaut der Mundhöhle, Röthung
und fetziger Ablösung fast aller Schleimhäute der oberen Verdauungs- und
Luftwege. Die letzteren können ödematös, infiltrirt und geröthet oder sogar
mit croupartigen Pseudomembranen belegt sein; in den Lungen sind häufig
pneumonische Herde vorhanden, in den Nieren sieht man Glomerulonephritis
nnd fettige Degeneration.
Aehnlich wirkt das kohlensaure Ammoniak, Ammonium carbontciim, flüchtiges
Laugensalz, auch gereinigtes Hirschhornsalz genannt, sowie das Ammonium
carhoniciim pyrooleosum, auch Sal volatile cornu certi (flüchtiges Hirschhornsalz
oder brenzliches kohlensaures Ammoniak). Alle Erscheinungen sowie die Leichenverän-
derungen sind aber wesentlich weniger intensiv.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. 59
930 VERGIFTUNGEN,
Den Aetzalkalien ähnliche Vergiftungserscheinungen und Verätzungen bewirken auch
die alkalischen Erden, unter denen insbesondere der Aetzkalk oder gebrannte
Kalk, ferner der gelöschte Kalk und die Kalkmilch wichtig sind.
Baiyiimverbin düngen. Aetzbaryt oder Baryumhydroxyd [Ba(0H)2]
hat bisher keine Vergiftungen erzeugt, wenigstens sind solche nicht bekannt
worden, wohl aber Schwefelbaryum, BaS, welches unter dem Namen
Böttcher's Depilatorium oder Thompson's Haar mittel in Handel
kommt; ferner kommen Vergiftungen vor durch Chlorbaryum, BaClg, kohlen-
sauren Baryt oder Witherit, BaCOg, und salpetersaures Baryum, Ba(N03)2, so-
wie schwefelsauren Baryt, BaS04, welcher zur Darstellung weisser Farben
(Pergam entweiss), zur Verfälschung von Bleiweiss, Mehl u. s. w. benutzt wird
und in der Natur als Schwerspat vorkommt. Die Zahl der von Bary und
Koppel gesammelten Fälle beträgt 26. In allen handelt es sich theils um
fahrläsisige Vermischung mit Arznei- oder Nahrungsmitteln, theils um Selbst-
morde, theils um zu hohe medicinale Dosen. Die Wirkung der Barytsalze
besteht nach Kobeet örtlich in Ekel, Nausea, Speichelfluss, Erbrechen und
Leibschneiden, Koliken und heftigen Durchfällen, ferner in Reizung der Hirn-
krampfcentren, Störung der Contraction der Muskelsubstauz, digitalinartiger
Beeinflussung des Herzens und der Gefässe, katarrhalischer Affection der Con-
junctiven und der Schleimhäute des Respirationstractes, namentlich der Nase.
Es bilden sich im Organismus unlösliche Barytsalze, das Phosphat, Sulfat und
Carbonat, u. zw. im Blute und in den ausscheidenden Drüsen, welche ver-
stopft werden.
c) Vergiftungen durch ätzende Salze.
Die Wirkung von sehr vielen Salzen, namentlich der schweren Metalle,
besteht in der Umwandlung des lebenden Organeiweisses in todtes Metall-
albuminat und in der Säureätzung durch die hiebei frei werdende Säure. Der
hiebei gebildete Schorf ist in der Regel weit weniger tief, als bei den Säuren und
Alkalien, er ist trocken und mehr flächenhaft ausgebreitet als in die Tiefe gehend.
Oft ist der Schorf, welchen das Metalloxyd mit den Gewebstheilen bildet, weich,
die verschorften Partien sind in einen halbflüssigen Brei verwandelt. Die
Wirkung der bei der Bildung der Metallalbuminate frei werdenden Säure ist
je nach ihrem Mengenverhältnis, in dem sie im betreffenden Salze vorhanden
war, auch sehr verschieden. Sie fällt namentlich ins Gewicht bei den Metall-
chloriden, bei denen nicht unbeträchtliche Mengen von Salzsäure nach der
Einverleibung frei werden. Zu den ätzenden Salzen 'gehören die Quecksilber-,
Silber-, Zink-, Kupfer-, Chrom- und Zinnsalze. Wir wollen als praktisch
wichtig nur die Quecksilber-, Kupfer- und Chromvergiftung kurz behandeln.
Qiiecksilbersalze. Das wichtigste und gefährlichste Salz des Quecksilbers
hinsichtlich seiner ätzenden Kraft ist Aetz Sublimat, RgGl^, Hydrargi/r um
bichloratum corrosivum; es haben aber noch ätzende Wirkung auch der rot he
Präcipitat, HgO , Rydrargyrum oxydatum rubrum ,derweissePräcipitat,
Hydrargijrum hichloratum ammoniatum, NHgHg Cl, und andere, jedoch selten
gebrauchte Salze des Quecksilbers. Eine grosse Zahl aller Quecksilbervergif-
tungen sind namentlich in neuerer Zeit Medicinalvergiftungen, welche durch
alle Arten der Anwendung zum Zwecke des Wundverbandes und bei der
Syphilisbehandlung zustande kommen können. Wiederholt sind auch gewerb-
liche Vergiftungen vorgekommen, schliesslich auch nicht zu selten absichtlich
herbeigeführte zu Selbstmordzwecken. Das Quecksilberoxyd sowie das Chlorid
und Jodid besitzen grosse Neigung, sich mit den stickstoffhaltigen Gewebsbestand-
theilen des Menschen- und Thierkörpers zu verbinden, wobei eine Ertödtung der
Zellen erfolgt. Die abgetödtete Zellschichte bildet aber keine feste, undurchlässige
Decke, wie etwa der Silberschorf, sondern gestattet dem Aetzmittel das Vordringen
in die Tiefe. Man nimmt gewöhnlich an, dass ausser der örtlichen Wirkung die
bekannte Allgemeinwirkuog der Mercurialien, welche wir als chronische Mer-
VERGIFTUNGEN. 931
curialvergiftung auftreten sehen, dadurch hervorgerufen werde, dass Queck-
silberchloridalb uminat oder Chlornatrium-Quecksilberoxydalbuminat im Orga-
nismus kreist. Das resorbirte Quecksilber gelangt auf den Schleimhäuten der
Anfangs- und Endtheile des Verdauungsschlauches hauptsächlich zur Aus-
scheidung, daher entwickelt sich die bekannte Stomatitis und Quecksilber-
dysenterie.
Die forensische Medicin hat nur an der acuten Quecksilbervergiftung
Interesse, welche, da sie in der überwiegenden Anzahl aller Fälle durch
Sublimat hervorgerufen wird, man könnte sagen pars pro toto, in der Regel
schlechtweg als Sublimatvergiftung bezeichnet wird.
Bei innerlicher Sublimatvergiftung treten die Vergiftungserscheinungen
augenblicklich auf. Sie bestehen in widerlichem Metallgeschmack, Brennen im
Schlund, grauweisser Verfärbung der Zunge und des Schlundes, Würgen und
Erbrechen weisser, oft blutiger und mit Schleimhautfetzen untermengter Massen,
in blutigen Durchfällen, welche die Form einer scheinbar echten Dysenterie
zeigen können, Tenesmus, Unterdrückung der Harnabsonderung, Albuminurie,
ferner sind kleiner Puls, Ohnmächten und Collaps zu beobachten. Der Ver-
lauf ist mitunter sehr stürmisch, selbst in einer halben Stunde hat man schon
den Tod eintreten gesehen (Welch). In der Mehrzahl der Fälle dauert die
Krankheit einige Tage, wobei sich gewöhnlich secundäre heftige Entzündung
des Schlundes, Glossitis, Speichelfluss, Lockerung und Bluten des Zahn-
fleisches mit P^etor ex ore zur ursprünglichen Gastroenteritis hinzugesellen.
Bei nicht tödtlichem Ausgange kommt es nach oft tagelanger Anurie
zur Entleerung eiweissreichen Harnes, die Albuminurie kann Monate, selbst
Jahre dauern, da die Entgiftung eines mit Quecksiber vergifteten mensch-
lichen Organismus sehr langsam vor sich geht.
Die Dosis letalis beträgt für Sublimat bei innerlicher Darreichung 0-18^,
durch Kunsthilfe kann jedoch unter Umständen selbst bei zwanzigfacher
Menge das Leben erhalten bleiben. Merkwürdig ist die bisher nicht klar-
gestellte Thatsache, dass Opiumesser grosse Mengen von Sublimat vertragen,
ohne zu erkranken, nach Rigler 1-8^ pro die.
Leichenerscheinungen. Bei der Obduction findet man einen schwarzen
Saum am Zahnfleische, hochgradige'iEntzündung und Ecchymosirung des Magens,
seine Schleimhautist in der Regel mit einem rissigen, grauweissen Schorf bedeckt.
Diese flächenhafte; graue Verschorfung findet sich auch schon längs des ganzen
Oesophagus und an der Zungen- und Mundhöhlenschleimhaut vor. Nur dann, wenn
die Vergiftung wenigstens einige Tage angedauert hat, finden sich schwere ent-
zündliche Veränderungen im Darmcanal, und dysenterische Geschwüre
auf der Dickdarmschleimhaut entwickeln sich in der Regel erst nach wenigstens
einer halben Woche. Hat die Vergiftung beiläufig eine Woche angedauert,
dann sind die Dickdarmveränderungen in so hohem Grade vorhanden, dass
sie, wie selbst Virchow erklärte, von gewöhnlicher Dysenterie kaum zu unter-
scheiden sind. Die Differentialdiagnose kann aber in zweifelhaften Fällen
jedesmal leicht durch eine chemische Untersuchung der betreflenden Schleim-
hauttheile, welche stets quecksilberhaltig sind, gemacht werden. Die Ver-
änderungen der Nieren, von Weichselbaum übersichtlich zusammengestellt,
bestehen sowohl beim Menschen wie bei den Versuchsthieren in einer Ab-
lagerung von Kalksalzen in der Art, dass es zur Kalkincrustation des secer-
nirenden Parenchyms, also der Canaliculi contorti kommen kann. Die Kalk-
salze stammen nach Prevost aus aufgelösten Knochen, was allerdings
Klemperer bestreitet.
Der chemische Nachweis kann unter Umständen durch eine sehr
einfache Reaction gleich am Leichentische ausgeführt werden, indem in den
angesäuerten Magen- und Darminhalt oder in den salzsauren Auszug der
Magen- und Darmwand blankes Kupferblech oder blanker Kupferdraht ein-
59*
932 VERGIFTUNGEN.
gelegt wird. Bei Anwesenheit auch nur von Queeksilberspuren beschlägt sich
durch elektrolytische Abscheidung von Quecksilbermetall am Kupferpol dieser
mit einem grauen Belag.
Kupfersalze. Die praktisch-forensische Bedeutung der Kupfersalze ist
bedeutend zurückgegangen, da sie als Selbstmordmittel fast ganz ausser Ge-
brauch gekommen sind. Welchen Umfang die Kupfervergiftungen in früheren
Zeiten hatten, geht aus einer Darstellung Taedieu's hervor, der aus einem
einzigen Jahrzent unter 670 verbrecherischen Vergiftungen in Frankreich 110
durch Kupfer ausgeführte aufzählen konnte.
Die wichtigsten Kupfersalze, welche zu Vergiftungen Anlass geben
können, sind der Kupfervitriol, CuSO^ -|- 5 H2O, Cuprum sulfuricum,
blauer Vitriol oder auch Galitzenstein genannt, ferner die verschiedenen Grün-
spanarten, das halbbasische, einfachbasische und zweifachbasische essigsaure
Kupfer, und, wenn auch minder stark wirkend, das kohlensaure Kupfer, CuCOg .
Vergiftungen können wohl auch durch das in neuerer Zeit von Hygienikern
protegirte Kupfern der Gemüseconserven bedingt sein (Tschirch).
Die tödtliche Dosis der ätzenden Kupfersalze wird sehr verschieden an-
gegeben. Van Hasselt bestimmt sie mit 0-4 bis 0'5 g, Seydel auf 1 g,
Taedieu auf 2 bis 3 g, andere, namentlich neuere, darunter auch Husemann,
nehmen erst Dosen von 30 bis 60 g als tödtlich an.
Auch bei der Kupfervergiftung bestehen neben örtlichen Störungen
Allgemein Wirkungen, welche durch Resorption des Kupfers zustande kommen.
Die Symptome treten in der Regel sehr bald auf und bestehen in gastrischen
Erscheinungen, namentlich in heftigem Erbrechen, Metallgeschmack, Er-
brechen grün-blauer Massen, Speichelfluss, Schmerzen im Magen und Darm,
Aufgetriebenheit des Leibes, Koliken und Diarrhöen, Tenesmus. Der Tod er-
folgt in der Regel selten am ersten, meist am dritten, vierten, oft erst am
achten Tage. Es sind zahlreiche Fälle von Genesung, selbst nach der Ein-
verleibung von grossen Dosen beobachtet worden.
Von Leichenbefunden würde diagnostisch wichtig sein namentlich
die grünblaue Verfärbung der Magen- und Speiseröhrenschleimhaut neben
oberflächlicher Verschorfung und reactiv- entzündlicher Schwellung, Hyperämisi-
rung und Ecchymosirung der Magenschleimhaut. Meist wird ein leichter
Icterus beobachtet, auch Ecchymosen in den serösen Häuten und bei über
mehrere Tage andauernder Vergiftung beginnende Verfettung der Nieren,
parenchymatöse Nephritis. In einzelnen Fällen sind auch Perforationen im
Magen, Dünndarm und Rectum durch daselbst entstandene Geschwüre beob-
achtet worden.
Chromverbindung-en. Die acute Chromvergiftung kann sowohl durch die
Chromoxydsalze, wie das Chromchlorid, den Chromalaun und das
Chromgrün hervorgerufen werden, als auch, was viel häufiger ist, durch
die Salze der Chromsäure, namentlich das Kaliumsalz, Kaliumchromat
oder neutrale chromsaure Kalium, KgCrO^, oder durch das saure, chrom-
saure Kalium, Kaliumbichromat, Kg Crg 0^, sowie auch durch die Blei-
salze der Chromsäure, das Chromgelb, Chromroth und Chromorange.
Meist handelt es sich wohl um ökonomische Vergiftungen, namentlich in
Fabriksbetrieben, wo mit Chromsalzen gearbeitet wird. Die Aetzwirkung be-
ruht gerade so wie bei den anderen Metallsalzen auf der eiweissfällenden
Eigenschaft der Chromsäure sowie ihrer Salze. Die Fernwirkungen treten in
den Ausscheidungsstellen, namentlich in den Nieren und im Dickdarm auf.
Vom Kaliumbichromat werden schon 30 mg im Tage nicht mehr vertragen, es
tritt Trockenheit im Munde, Rachen, Erbrechen und Ueblichkeit auf. Charak-
terisirt ist die toxische Gastritis bei der Chromvergiftung durch das Er-
brechen von blaugrauen oder grüngefärbten Massen, indem die gelbgefärbten
chromsauren Salze bei inniger Berührung mit organischen Substanzen im
VERGIFTUNGEN. 933
Munde und im Magen reducirt und in grünes Chromoxyd übergeführt werden.
Hat diese Umwandlung noch nicht stattgefunden, was zu Beginn der Vergil-
tung der Fall ist, so ist die Farbe des Erbrochenen charakteristisch gelb.
Gerade der Wechsel der Farbe würde die Diagnose unzweifelhaft sichern.
Charakteristische Leichenbefunde sind nicht bekannt, es würde auch
nur die Färbung der nicht allzutief verätzten Magenschleimhaut auffällig sein.
Im Uebrigen sind die Erscheinungen der Gastritis wie bei den anderen Aetzgiften
vorhanden. Nekrotische Veränderungen finden sich weiters in der Niere, in-
dem die gewundenen Canäle reichlich Cylinderbildung zeigen, auch Aus-
schwitzungen in die Kapseln der Glomeruli kommen vor.
d) Aetzende Gase und Dämpfe.
Gase und Dämpfe, welche beim Einathmen örtliche Reizerscheinungen
und im Weiteren mehr weniger heftige, acut verlaufende und gefährliche Ver-
giftungserscheinungen auslösen, sind folgende: Ammoniakdämpfe, die Dämpfe
von Chlor, allenfalls von Brom, Jod, Fluor, Salzsäure, von schwefeliger Säure
und Schwefelwasserstoff. Vom praktisch-toxikologischen Standpunkt aus kommt
nur die Vergiftung durch Ammoniakdämpfe und die Vergiftung durch Schwefel-
wasserstoff in Betracht. In Bezug auf die Wirkung der Ammoniakdämpfe ver-
weisen wir auf das schon bei der Aetzammoniakvergiftung Gesagte.
Schwefelwasserstoff, Hg S. Die Vergiftung mit reinem Schwefelwasser-
stoffgas kommt wohl nur in chemischen Laboratorien vor; in praxi handelt
es sich um Cloaken-, Latrinen- oder Mistgrubengasvergiftung, also um Ver-
giftung mit einem Gasgemenge, in welchem 2^2 bis zu 8% Schwefelwasser-
stoflgas enthalten sind. Die örtliche Wirkung des Schwefelwasserstoffgases
besteht in hochgradiger Irritation der Schleimhäute der Respirationsorgane,
daneben aber hat dieses Gas auch eine auffällige Wirkung auf das centrale
Nervensystem und auf das Blut.
Wird Luft eingeathmet, die einige Procente Schwefelwasserstoff enthält,
so stürzt der Mensch in wenigen Minuten zusammen, es tritt sehr bald Be-
wusstlosigkeit ein, und er stirbt unter Umständen ohne vorausgehende Krämpfe.
Diese acuteste Form der Schwefelwasserstoffvergiftung wird apoplektische Form
genannt (Van Hasselt). Bei geringerer Menge von Schwefelwasserstoffgas
tritt nach Lehmann starkes, quälendes Reissen der Augen sowie der Nasen-
rachenschleimhaut in fünf bis acht Minuten ein, weiters heftige katarrhalische
Entzündung der Nasenschleimhaut und der Schleimhaut der oberen Luftwege
mit heftigen Hustenanfällen, Dyspnoe, Herzklopfen, Schwindel, Zittern der Ex-
tremitäten, hochgradige Mattigkeit, intracranielles Druckgefühl, Blässe, kalter
Schweiss, Kopfschmerz. Lehmann nimmt an, dass bei 0-07— 0-087o Schwefel-
wasserstoffgas der Mensch nach einigen Stunden lebensgefährlich erkrankt und
bei O'l — O'lö^o Schwefelwasserstoff in der Luft rasch stirbt.
Bei der Obduction von blitzartig schnell Gestorbenen kann man unter
Umständen auch gar keine Veränderungen vorfinden. Ist der Tod etwas lang-
samer eingetreten, so zeigen die Organe den Geruch nach Schwefelwasserstoff,
ferner ist mehr weniger grüne Verfärbung der ganzen Leiche und grünliche
Verfärbung der inneren Organe infolge der durch das Gift herbeigeführten
Veränderung des Blutes vorhanden, welche in der Bildung von Schwefelmethä-
moglobin besteht ; aber auch bei sofort vorgenommener spectraler Unter-
suchung des Blutes eines an Schwefelwasserstoövergiftung Gestorbenen kann das
Schwefelmethämoglobin nicht mehr nachgewiesen werden, weil die Verbindung
im Gegensatz zum Kohlen oxydhämoglobin sehr lose ist.
e) Organische Aetzstoffe.
Es gibt eine ganze Reihe von organischen Giften, theils thierischer,
theils pflanzlicher Herkunft, theils auch künstlich erzeugter Stoffe, welche, ob-
2;war sie chemisch sehr verschieden constituirt sind, nach ihrer Wirkung zu
934 VERGIFTUNGEN.
den Aetzgiften gezählt werden müssen, da sie am Orte der Einwirkung aus-
nahmslos mehr weniger intensive Entzündung mit nachfolgender Eiterung ver-
anlassen. Alle hiehergehörigen Stoffe haben das Gemeinsame, dass sie theils
auf der äusseren Haut, theils auf Schleimhäuten, im ünterhautzell- und Binde-
gewebe zunächst Gefässerweiterung veranlassen; diese führt zu Hyperämie, zu
Röthung und Schwellung, Temperaturerhöhung der betreffenden Stelle, weiter
zum Austritte gerinnungsfähigen Serums oder Plasmas aus den Capillaren,
wodurch der Abfluss der normalen Ernährungsflüssigkeit der Gewebe nicht
mehr in gewöhnlicher Weise erfolgt, es entsteht also Oedem. Dem Austritt
von Plasma folgt sehr bald die Auswanderung weisser Blutkörperchen, es
kommt zur Eiterung. Von den überaus zahlreichen, hieher gehörigen Thier-
und Pflanzengiften wollen wir nur die Kanthariden, die Filixsäure und die
Sabina einer kurzen Besprechung unterziehen.
Kanthariden. Die spanischeFliege, Lytta vesicatoria oder Kantharis,
ist weder eine Fliege, noch stammt sie aus Spanien; sie ist ein Käfer von
schön grüner Farbe, der hauptsächlich in Südrussland aber auch im Süden von
Deutschland häufig vorkommt. Der wirksame Bestandtheil ist das Kantharidin,
welches im Wasser sehr schwer löslich ist, leicht dagegen in Alkohol, Aether,
Chloroform und in fetten Oelen. Es ist in chemischer Hinsicht das Anhydrid
der Kantharidinsäure. Es wirkt örtlich ausserordentlich heftig entzündungs-
erregend, seine Fernwirkung besteht auch bei der Einverleibung durch den Mund
in einer ungewöhnlich starken Hyperämisirung der Harnwege und der Genital-
organe, ausserdem werden auch Gehirn und Rückenmark gereizt. Auf der Haut
entstehen die bekannten Vesicatorblasen. Der Wirkung auf das Urogenitalsystem
verdanken die Kanthariden ihre ausgebreitete Verwendung als Aphrodisiacum
und Abortivum; verwendet wird hiezu sowohl das Kantharidenpulver, das heisst
die gepulverten, trockenen Insecten, dann Kantharidentinctur, allenfalls das
reine Kantharidin.
Je nach der Form der Darreichung treten die Krankheitserschei-
nungen verschieden rasch, meist in wenigen Stunden auf, bestehen in Brennen
und Blasenbildung im Munde und Rachen, Schluckbeschwerden, die sich bis zur
förmlichen Hydrophobie steigern können, Speichelfluss, heftigem Durstgefühl,
in Erbrechen und Durchfall oft mit blutigen Beimengungen, Schmerzen in
der Nierengegend, Harndrang, Brennen in der Harnröhre, Kopfschmerz
Schwindel und Convulsionen. Unter oft tetanischen Krämpfen tritt der Tod
im Coma ein. Bei Männern wird schmerzhafter Priapismus, bei Frauen
Nymphomanie erzeugt. Die tödtliche Dosis beträgt Vh g Kantharidenpulver,
30^ der Kantharidentinctur, 15^ des Pflasters, 10 bis 20 mg vom Kantharidin.
Die anatomische Diagnose würde nur durch den eigenthümlichen Geruch
der Kantharidenpräparate und durch den eventuellen Befund von Theilen des
gepulverten Insectes, namentlich der so charakteristisch gefärbten Flügel-
decken gesichert werden können. Sonst sind nur heftige Entzündungserschei-
nungen der ganzen Magendarmschleimhaut und ungewöhnliche Hyperämisirung
der Nierenschleimhaut und der Genitalwege noch bemerkenswert.
Wurmfarnvergiftung. In den Wurzelstöcken vieler in- und ausländischer
Farnkräuter ist eine wirksame Substanz enthalten, welche im Auszuge als
Extractumfilicis maris (aether eum), ein geschätztes Wurmmittel, in allen Ländern
officinell ist. Durch ungeschickte Anwendung, nicht entsprechende Dosirung
und ungewöhnliche Idiosynkrasie sind schon wiederholt Vergiftungen von
Kindern und Erwachsenen, und zwar auch tödtlich verlaufene bedingt
worden. Die tödtliche Dosis des Extractes schwankt nach dem Alter,
nach der Bezugsquelle und Darstellungsweise sehr beträchtlich. Bei
Kindern tritt der Tod nach 7—10 g, bei Erwachsenen nach 40—50 g
Extract ein. Nach Paulssen soll die toxische Wirkung auf der amorphen Filix-
säure (C35 H42 Ol 3) beruhen. Kobeet hingegen fand das ätherische Oel toxisch.
VERGIFTUNGEN. 935
Die K rank lieitser seil einungen bestehen in Erbrechen und Durch-
fall, Schwere der Glieder und Schwächegefühl, Ohnmachtsan Wandlungen, Som-
nolenz, Pupillenerweiterung, Albuminurie und Krämpfen.
Die Leichenbefunde zeigen wohl nichts Charakteristisches. Es ist
Eöthung der Magen- und Darmschleimhaut beobachtet worden mit zahlreichen
Blutaustritten, welche besonders auf der Höhe der Falten vorhanden waren.
Im Gehirn und Rückenmark können Zeichen eines acuten Oedems vorhanden
sein, auch Blutaustritte in die Meningen und in die Retina kommen vor, die
Niere zeigt wie bei so vielen anderen Vergiftungen das Bild einer parenchy-
matösen Nephritis, Leber und Milz sind blutüberfüllt, die Lungen ödematös.
Sadebaum. Die Endzweige von Juniperus Sahina, Sadebaum, auch Seven-
baum, woraus hierzulande fälschlich Segenbaum gemacht M^urde, gelten unter
allen drastisch wirkenden Mitteln dieser Gruppe als ein besonders zur Herbei-
führung des Abortus in hohem Grade geeignetes, örtlich reizendes Mittel. Es
ist daher als Abortivum in weiten Ländergebieten in Gebrauch. Das wirk-
same Princip ist bekanntlich das scharfe ätherische Oel, welches in eigenen
Oeldrüsen an der Hinterseite der kleinen, dachziegelförmig übereinander gelegten
Blättchen aufbewahrt ist. Wegen der Flüchtigkeit desselben geht an der
trockenen Pflanze die Wirksamkeit allmählich verloren. Sowohl die Zweige
(Frondes Sabinae) als noch mehr das reine ätherische Oel besitzen einen
höchst widerwärtigen Geruch.
Die Wirkung der Sabina ist gemischt, indem einmal heftige Reizerschei-
nungen im Darmcanal, in den Nieren und den Genitalien auftreten, anderer-
seits aber auch narkotische Wirkungen auf das Gehirn entstehen. Der Frucht-
abgang erfolgt keineswegs immer sicher, ja es sind Fälle mit tödtlichem Aus-
gange bekannt geworden, ohne dass Abortus eingetreten wäre. Die Erschei-
nungen, welche meist erst eine oder mehrere Stunden nach dem Genüsse einer
Abkochung . — diese ist die häufigst gewählte Form der Gifteinführung — ein-
treten, sind Erbrechen von stark nach Sabina riechenden Massen, blutige
Durchfälle, Harnzwang, mitunter blutiges Erbrechen und Hämaturie. Es
gesellen sich Krämpfe, Gefühl- und Bewusstlosigkeit und manchesmal die
Symptome der Peritonitis. hinzu; der Tod kann schon nach zwölf Stunden ein-
treten, erfolgt aber manchesmal erst nach Tagen.
Die Leichenöffnung liefert keinen charakteristischen Befund, es sind
nur die Erscheinungen einer mehr weniger hochgradigen Entzündung des
Magens und Darmcanals sowie Hyperämie aller Unterleibsorgane, Ecchymo-
sirung von Nieren, Blase und Uterus vorhanden, auch soll manchesmal allge-
meine Peritonitis beobachtet worden sein. Neben einer grünen Verfärbung
der Magenwand durch das Chlorophyll der Pflanze und neben den vielleicht
noch mitunter wenigstens im Darm vorhandenen grünlichen Massen der ein-
geführten Abkochung würden insbesondere etwa aufgefundene Theile der be-
kanntlich höchst charakteristischen Pflanze sowie der specifische Geruch die
Diagnose sichern können.
II. Die Parenchymgifte.
Das Wesen der Giftwirkung der hieher gehörigen Körper besteht darin,
dass sie erst auf dem Wege der Resorption zur eigentlichen Wirkung ge-
langen, während die örtliche Einwirkung immerhin viel geringer ist als bei den
eigentlichen Aetzgiften. Es scheint sich, wenigstens nach den Ausführungen
von Low (Ein natürliches System der Giftwirkung), um Störungen im Stoff-
wechsel der Zellen durch Entziehung des Sauerstoffes zu handeln, der inter-
mediäre Stoffwechsel ist infolge mangelnden Sauerstoffes in den Säften gestört,
es tritt gewissermaassen eine Protoplasmaerstickung ein. Das Protoplasma,
welches nicht genügend oder keinen Sauerstoff mehr zugeführt erhält, reagirt
auf diesen Mangel durch weitgehende Ernährungsstörungen, die sich in end-
936 VERGIFTUNGEN.
lichem Zerfall der Zellen, welcher durch die sogenannte körnige und fettige
Degeneration eingeleitet wird, äussert. Low nennt mit Recht, die hieher zu
beziehenden Körper Oxydationsgifte. Es ist vor allem der Phosphor, ein solcher
Giftkörper und gewissermaassen das Prototyp eines Oxydations- oder
Parenchymgiftes. Die fortgesetzte Oxydation des Phosphors entzieht dem Orga-
nismus in den lebenden Zellen den Sauerstoff; der Phosphor wird zu
phosphoriger Säure und Phosphorsäure oxydirt, dafür aber das Protoplasma
der Zellen in der gedachten deletären Weise infolge des Sauerstoffmangels
in den Parenchymen verändert. Ausser dem Phosphor wären in diese Gruppe
noch zu stellen Arsen, Blei und Mutterkorn.
Phosphor. Phosphorvergiftungen sind, wenigstens in einigem
Umfang, erst bekannt geworden seit der Erfindung der Phosphorzündhölzchen im
Jahre 1833, während die schon um 150 Jahre früher gemachte Entdeckung des
Elementes, bevor die erwähnte, so ausgebreitete technische Anwendung platz-
griff, nicht zu Vergiftungen führte.
Die Zahl der Phosphorvergiftungen ist recht gross und wenigstens in
unseren Ländern ziffermässig fast ebenso hoch als die der Arsenikvergif-
tungen. Meistens handelt es sich um Selbstmorde, viel seltener um Morde
oder unglückliche Zufälle; auch Medicinalvergiftungen sind infolge von Ueber-
schreitungen der Maximaldosis beobachtet worden. Ausserdem findet Phosphor
leider noch immer eine ausgebreitete Anwendung als Fruchtabtreibungsmittel,
häufig mit tödtlichem Ausgange. Benützt werden fast ausschliesslich die
Köpfchen der Phosphorzündhölzchen, die ein Gemenge von gelbem Phosphor
mit Bleinitrat, Bleisuperoxyd, Salpeter, chlorsaurem Kalium, Kreide und Farb-
stoff darstellen. Auch das Phosphoröl, Oleum phosphoratum, sowie die
Phosphorpillen haben schon zu Vergiftungen geführt, sowie auch die Phosphor-
paste. Die kleinste tödtliche Gabe des Phosphors beträgt, wenn er gut vertheilt
oder gelöst ist, 0-05 f/, aber schon 0-015 </ können schwere Vergiftungserschei-
nungen veranlassen. Auf ein gewöhnliches Zündholzköpfchen kommen etwa
3 — b tng gelben Phosphors, so dass schon 16 Zündhölzchen zur Vergiftung
eines Erwachsenen genügen. Die tödtliche Wirkung des Phosphors kommt
ihm selbst und auch noch den Wasserstoffverbindungen (Phosphorwasserstoff),
nicht aber seinen Sauerstoff Verbindungen zu. Die Phosphorsäure würde
im concentrirten Zustande, wie jede andere concentrirte Mineralsäure als Aetz-
gift wirken. Auch die Wirkung des Phosphorwasserstoö's ist von jener des
Phosphors selbst verschieden, es kommt ihm übrigens eine praktische Be-
deutung als Gift wohl nicht zu.
Die Symptome der Phosphorvergiftung sind gut bekannt. Einige
Zeit, meist erst einige Stunden nach der Einverleibung, tritt Schmerz und
Brennen in der Magengegend, knoblauchartig riechendes Aufstossen, endlich
Erbrechen nach Knoblauch riechender und im Dunkeln leuchtender Massen
ein, schliesslich wird Galle erbrochen. Nach den ersten stürmischen Erschei-
nungen erfolgt nahezu ausnahmslos eine weitgehende Remission, welche zwei
bis drei Tage andauern kann. Dann treten erst deutlich die Erscheinungen
hervor, welche durch die tiefgehenden Veränderungen in den Parenchymen
innerer Organe hervorgerufen werden. Es entsteht Icterus mit Schmerzhaf-
tigkeit im ganzen Unterleib, es kommt neuerlich zu Magenschmerzen, Erbrechen
galliger und selbst blutig gefärbter Massen, es tritt Durchfall ein, die Zunge
ist belegt und man kann unter Umständen ein Leuchten des Athems im
Dunkeln wahrnehmen. Die Leberdämpfung ist sehr stark vergrössert, es be-
steht jetzt ein ausgedehnter, intensiver Icterus, der Puls ist klein und schnell,
die Herztöne sind leise und unscharf abgegrenzt, der Harn enthält Eiweiss,
Pepton, Gallenfarbstoff", Gallensäure, Leucin und Tyrosin, manchesmal auch
Hämoglobin und phosphorhaltige Ptomatine. Die Dauer der Erkrankung ist
verschieden, es kann beim Einnehmen einer Phosphorlösung oder einer Emul-
VERGIFTUNGEN. 937
sion von Phosphor der Tod auch schon innerhalb von Stunden, 6, 10, 20
Stunden eintreten, oder in Tagen, drei bis acht Tagen. Er erfolgt durch
primäre Herzlähmung, wobei mitunter dem Tode ein starkes Absinken der
Temperatur vorausgeht. Bei längerer Dauer der Erkrankung können auch
äusserlich wahrnehmbare Blutungen im Unterhautzellgewebe, in den Binde-
häuten und Lidern auftreten.
Auch Ausgang in Genesung kommt vor; in diesen Fällen ist der Verlauf über viele
Wochen ausgedehnt. In zwei von mir beobachteten Fällen von nicht tödtlichem Ausgang
der Phosphorvergiftung, wo es sich jedesmal um intendirte Fruchtabtreibung gehandelt
hat, hat der Icterus über sechs und acht Wochen angedauert. Die Genesung war aber
dann eine vollständige und es ist auffallender Weise in keinem der beiden Fälle Abortus
eingetreten, sondern die Frauenspersonen haben am normalen Ende der Schwangerschaft
ausgetragene Kinder geboren.
Dem verschiedenen Verlaufe der Phosphorvergiftung entsprechend sind
die Leichenbefunde keineswegs einheitlich, so sehr das auch in den Lehr-
büchern oft gegentheilig dargestellt wird. Es bestehen vielmehr wesentliche
Unterschiede in den Veränderungen der Organe, je nach der Zeit, welche die
Vergiftung angedauert hat. Bei der alleracutesten Form ist die bekannte
fettige Entartung der Leber noch kaum erkennbar. Ebenso sind noch nicht
sehr weit gediehen die Veränderungen am Herzen, dagegen sind in diesen
Fällen meist ziemlich intensive Reizerscheinungen in den Verdauungswegen,
namentlich im Magen, ausgebildet. Das typische Bild der pathologischen
Veränderungen bei Phosphorvergiftung findet man in der Regel erst, wenn
die Vergiftung drei bis fünf Tage gedauert hat. Diese sind: beträchtliche
Vergrösserung der Leber infolge fettiger Entartung des ganzen Parenchyms,
fettige Entartung des Herzfleisches, dieselbe Degeneration in den Nieren,
ferner in den Stamm- und Gliedmassenmuskeln und fettige Entartung der
Capillaren. Diese letztere Veränderung bedingt eine leichte Brüchigkeit und
es treten nun Blutungen auf, welche in Bezug auf ihre Localisation vorwiegend
von mechanischen Vorgängen abhängen. Wir finden daher in den binde-
gewebigen Scheiden zwischen den Muskeln, namentlich den stark in Anspruch
genommenen Hebe- und Beugemuskeln der Oberarme und der Schenkel, ferner
zwischen den Bauchmuskeln, welche bei der Athmung fortgesetzt thätig sind,
meist linsengrosse oft auch bis kreuzergrosse, Ecchymosen ähnliche Blutaustritte
vor. Blutungen sind weiters vorhanden im Netz, zwischen den Blättern der
Gekröse, am Pericard und Endocard, wo sie einen den Erstickungsecchymosen
ganz ähnlichen Charakter zeigen. Auch im Gehirne, bezw. seinen Häuten
kommen aus derselben Ursache Blutungen vor, ja es sind schon umfäng-
lichere Hämorrhagien auf Grund der fettigen Entartung von Capillaren im
Gehirn beobachtet worden, so zwar, dass unter Umständen die Gehirnblutung
zur unmittelbaren Todesursache bei der Phosphorvergiftung wird. Es sei
noch bemerkt, dass die Blutungen auch vollständig fehlen können, und sie
fehlen sogar in der Regel bei früh eingetretenem Tode. Es ist das auch
ganz leicht verständlich, weil zu dieser Zeit eben die Verfettung der Endothe-
lien noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass die Haargefässe dem Blut-
drucke nicht mehr Widerstand leisten konnten.
Die Phosphorvergiftung hat eine unverkennbare Aehnlichkeit mit einer Krankheit,
welche Icterus gravis oder acute gelbe Leberatrophie heisst. Die Aehnlichkeit in den
Symptomen und im Verlaufe beider Erkrankungen ist so gross, dass es bis vor kurzem
noch Autoren gab, welche behaupteten, dass die acute gelbe Leberatrophie überhaupt eine
Phosphorvergiftung sei, wo die Veränderungen in der Leber über die fettige Entartung hinaus
zum Zerfalle des Parenchyms und dadurch hervorgerufener Verkleinerung der Leber vor-
geschritten wäre. Diese Auffassung ist gewiss nicht haltbar, vielmehr ist die acute gelbe
Leberatrophie eine Erkrankung eigener Art, deren Aetiologie allerdings noch keineswegs
sichergestellt ist; wohl am meisten Zustimmung dürfte die Annahme finden, dass es sich um
einen acuten, schweren septischen Process handelt, der durch Infection vom Darme aus
hervorgerufen wird. In klinischer Beziehung unterscheidet sich die gelbe Leberatrophie
durch die schon in vivo zu beobachtende Verkleinerung der Leber, während die Leber-
dämpfung bei der Phosphorvergiftung fortwährend zunimmt, ferner durch viel stärkere
938 VERGIFTUNGEN.
Fieberbewegungen, einen schnelleren Kräfteverfall, den Mangel des knoblauchartigen Ge-
ruchs und Leuchtens der Ausathmungsluft. Das pathologisch-anatomische Bild der gelben
Leberatrophie zeigt ein zusammengefallenes, schlaffes, oft geradezu fast zunderartig zer-
fallendes, dabei nicht eigentlich fetthaltiges Parenchym mit starkem Lebericterus und bei
der mikroskopischen Untersuchung Zerfallsproducte, wie sie bei der Phosphorvergiftung in
der Leber nicht gefunden werden. Namentlich ist bei der gelben Leberatrophie schon
in der Leber Leucin und Tyrosin in grosser Menge anzutreffen.
Der Nachweis erfolgt im Erbrochenen, oder in den Stühlen, oder im
Magen- und Darminhalt, der bei der Obduction gewonnen wurde, durch De-
stillation des Phosphors und Beobachtung der übergehenden, im Dunkeln
leuchtenden Dämpfe. Es können, da die Erscheinung der Phosphorescenz
sehr auffällig ist und lange anhält, auch sehr geringe Spuren von unoxy-
dirtem Phosphor nachgewiesen werden. Ist aber einmal die Oxydation vollzogen,
was in einigen Tagen geschehen ist, dann ist der chemische Nachweis eigent-
lich gar nicht mehr möglich, weil die gebildeten Oxydationsproducte, die
phosphorige Säure und Phosphorsäure, ja normale ßestandtheile der mensch-
lichen Gewebe sind.
Arsen. Neben Phosphor gehört entschieden Arsen, bezw. seine giftigen
Verbindungen zu den allerwichtigsten Giften. Die Arsenikalien eignen
sich schon aus dem Grunde in ganz besonders hohem Grade zu Giftmorden,
weil sie einerseits keinen specifischen Geruch besitzen, andererseits in der
Farbe zumeist so beschaffen sind, dass sie Speisen, namentlich dem Mehle,
unbemerkt beigemengt werden können. Kaum irgend ein anderer Körper
kann darum so leicht heimtückisch jemandem beigebracht werden. Es ist
daher begreiflich, dass schon vor Jahrhunderten gerade dieser Stoff vielfach
zu Giftmordzwecken Anwendung gefunden hat; so sind die nachgewiesenen,
mehr als 600 Giftmorde, welche durch die berüchtigte Giftmischerin Tofana
im 17. Jahrhundert verübt worden sind, durch ein Arsenikpräparat ausgeführt
worden. Sie gab Thieren Arsenik ein, aus deren verfaultem Speichel sie die
Acquetta di Napoli oder Aqua Tofana, offenbar ein arsenhaltiges Ptomatin, be-
reitete. In den Alpenländern ist der weisse und gelbe Arsenik sehr weit im
Volke verbreitet und das nahezu ausschliessliche Gift, dessen sich die Menschen
hier bedienen. Namentlich Steiermark ist ein Land, in welchem die Arsenik-
vergiftungen sehr häufig vorkommen, so dass die Zahl der durch Arsenik
herbeigeführten Todesfälle die durch alle anderen Gifte veranlassten weit
übersteigt.
Die in Betracht kommenden chemischen Körper sind:
1. Metallisches Arsen (Fliegenstein, Scherbenkobalt auch Näpfchenkobalt), ist
als chemisch reine Substanz ungiftig; allein die Oberfläche ist wohl ausnahmslos oxydirt,
so dass auch Fliegen steinpulver giftige Eigenschaften besitzt.
2. Weisser Arsenik, Arsentrioxyd, AsjOg, Hüttenrauch (dialectisch verunstaltet
in Hüttrach), ist das Anhydrid der arsenigen Säure, welches in glasigen Stücken mit glänzen-
dem, muscheligem Bruch oder als weisses Pulver, sogenanntes Giftmehl oder Rattengift im
Handel vorkommt.
3. Arsensäure, Hg ASO4, wird inder Anilintechnik verwendet. — Beide Säuren bilden
mit Alkalien sehr leicht wasserlösliche Salze, welche namentlich für die Herstellung der
pharmakologischem Präparate verwendet werden. So ist die Solutio arsenicalis Fowleri
eine Lösung von Kaliumarsenit, der Liquor Pearsonii eine Lösung von Natriumarsenat und
der Liquor Bietti von Ammoniumarsenat.
4. Gelber Arsenik, Arsentrisulfid, AsgSs, Auripigment, Operment, Rauschgelb, ist
in chemisch reinem Zustande eine unlösliche und daher ungiftige Verbindung des Arsens.
Das Handelsproduct ist aber im Grossen dargestellt durch Destillation eines Gemenges von
Schwefel und arseniger Säure; dieser gelbe Arsenik des Handels enthält immer reiche
Mengen von arseniger Säure, welche bis zu 75°Iq des Präparates und noch mehr betragen
kann. Darauf beruht die Giftigkeit des gewöhnlichen gelben Arseniks, durch welchen zahl-
reiche Vergiftungen ausgeführt werden. Der gelbe Arsenik ist beim Landvolke der Alpen-
länder vielleicht noch weiter verbreitet als der weisse. Gelber Arsenik mit gelöschtem
Kalk und Wasser zu einem Brei angerührt, bildet das bei den Mohammedanern gebräuch-
liche Rhusma tartarum. In den Malerfarben Neugelb und Königsgelb ist immer Arsen-
trisulfid enthalten.
VERGIFTUNGEN. 939
5. Rotlier Arsenik, Arsendisulfid, AsaS.,, Realgar, Rauschroth, Rubinschwefel,
Sandarak der Alten, ist im chemisch reinen Zustande ebenfalls ungiftig. Das künstliche,
durch Destillation von Schwefelkies mit Arsenikkies dargestellte Präparat ist wegen seines
Gehaltes an arseniger Säure giftig.
6. Die grünen arsenhaltigen Farben, und zwar Kupferarsenit oder Scheel'-
sches Grün und Schweinfurter Grün, ein Gemenge von Kupferarsenit und Kupferacetat,
sowie die unter dem Namen Kaisergrün, Pariser Grün, Mitisgrün u. s. w. bekannten
Malerfarben, welche sämmtlich solche Gemenge von Kupferarsenit und Kupferacetat sind.
7. Anilinfarben und andere Farbstoffe enthalten sehr häufig Arsenverbindungen,
da bei der technischen Darstellung dieser Farben arsenige Säure oder Arsensäure ver-
wendet wird, namentlich Anilinroth und Fuchsin, dann aber auch Königsblau, Kobalt-
ultramarin, Smalte, Cochenilleroth, Wiener Roth.
8. In der Natur kommt eine giftige Arsenverbindnng vor, die sogenannte Kutten-
berg er Erde in Böhmen, d. i. arsenigsaures Eisen.
9. Arsenwasserstoff ist höchst giftig, in Bezug auf seine Wirkung müsste er
jedoch eine andere Stellung erhalten. Es ist ein höchst intensiv und rasch wirkendes Blut-
gift. Der Tod der Chemiker Gehlen und Britton wurde durch diesen, wohl nur in Labo-
ratorien erzeugten Körper veranlasst.
Die tödtliche Dosis von arseniger Säure kann von 0"1 ^ aufwärts ange-
nommen werden, wenngleich auch Fälle bekannt sind, in denen grössere
Mengen den Tod nicht bewirkt haben. Als Dosis toxica muss aber schon
eine Gabe von 1 — öcg bezeichnet werden. Die zulässigen Maximaldosen der
Pharmakopoen sind als Einzelgabe in Deutschland 5, als Maximaltagesgabe
10 mg, in Oesterreich 6 und 12 mg.
Die Wirkung besteht nach Resorption des Giftes in vasomotorischer
Lähmung der Enden des Splanchnicus, dadurch hervorgerufenem Sinken des
Blutdruckes und Erzeugung einer enormen Hyperämie der Unterleibsorgane.
Dadurch kommt es zu ungewöhnlich reichlichen wässerigen Ausscheidungen
auf den Schleimhäuten des Magens und der Gedärme, die noch dadurch ver-
mehrt werden, dass die Darmdrüsen auch als Ausscheidungsorgan für das im
Blute circulirende Gift dienen. Die dadurch hervorgerufene, wenn auch
nur massige örtliche Reizung steigert noch die Erscheinungen der Gastro-
enteritis. Von der Darmwirkung abgesehen, kommt es aber noch zu ähnlichen
schweren Stoffwechselstörungen wie bei der Phosphorvergiftung, welche in
fettiger Entartung des Parenchyms der Leber, der Nieren, des Herzens, des
Zwerchfelles und der Darmepithelien, sowie der Intima aller Gefässe bestehen.
Es kann dadurch bei etwas längerer Dauer der Vergiftung zu vielfachen Blut-
austritten in verschiedenen Organen kommen, und es erfolgt in diesen Fällen
der Tod durch Herzlähmung.
Das Krankheitsbild der acuten Arsenikvergiftung ist ein zwei-
faches. Bei der einen Form, welche dann zur Beobachtung kommt, wenn das
Gift gelöst eingeführt wurde und sehr rasch in grosser Menge in die Circu-
lation kommt, ist schon frühzeitig das centrale Nervensystem vorwiegend
in Mitleidenschaft gezogen, es treten Schwindel, Kopfschmerzen, Ziehen in den
Gliedern, Mydriase, Ohnmacht, Betäubung, Delirien, Krämpfe und Lähmungen
auf. Diese Form der acutesten Vergiftung wird deswegen als Arsenicismus
cerebrospinalis bezeichnet; der Tod kann dabei schon in einer Stunde ein-
treten, erfolgt aber meist in 3, 6 bis 12 Stunden.
Die viel häufigere Form ist die gastrointestinale, Arsenicismus gastro-
intestinalis, welcher gewöhnlich innerhalb von 2 bis 5 und 10 Tagen verläuft,
und zwar unter dem ausgesprochenen Bilde einer Gastro-enteritis mit den be-
kannten choleraähnlichen Erscheinungen, nämlich dem wiederholten Erbrechen
und den Durchfällen, welche in massigen Entleerungen reiswasserähnlicher
Darmabsonderungen bestehen. In der Regel erst am zweiten oder dritten Tage
kommt es auch zu cerebralen Erscheinungen, als Eingenommenheit, Bewusst-
seinstrübung, Krämpfen, namentlich in Form von Wadenkrämpfen. Bei etwas
protrahirterem Verlaufe gesellt sich parenchymatöse Nephritis, fettige Ent-
artung der Leber und infolge dessen Icterus hinzu.
940 VERGIFTUNGEN.
Die Leichenbefunde sind : äusserlich : eingefallene, halonirte Augen,
Cyanose des Gesichtes, Trockenheit der ganzen Leiche, in der Regel auch
kleienartige Abschilferung der Haut; innerlich sind in der j, Mundhöhle, im
Rachen, in der Speiseröhre in der Regel gar keine Veränderungen vorhanden.
Der Mageninhalt kann mitunter etwas Blut beigemengt enthalten. Die Magen-
schleimhaut ist meist mehr weniger stark geröthet, sammtartig glänzend, ge-
schwellt, verdickt und mit ziemlich viel Schleim belegt. Zwischen den mehr
weniger starren Falten findet man nicht selten im Schleim eingebettet Par-
tikelchen der genommenen Verbindungen, auf deren Auffindung umso mehr
Gewicht zu legen ist, als dadurch die Diagnose rasch gesichert wird. In den
meisten Fällen ist auch eine starke Hyperämisirung der Schleimhaut vor-
handen. Eine eigentliche Verätzung, wie sie vielfach behauptet wird, findet
nicht statt. In manchen Fällen, namentlich wenn gelöstes Gift eingenommen
wurde, sind die örtlichen Erscheinungen im Magen sehr schwach entwickelt.
Aber auch in diesen Fällen, wo die gröberen makroskopischen Veränderungen
fehlen, findet sich Infiltration des Gewebes mit Rundzellen (Gastro-enteritis
arsenicalis parenchymatosa Virchow^). Die Darmbefunde, welche hauptsäch-
lich im Duodenum und Jejunum ausgesprochen sind, bestehen in der Regel
in Röthung, namentlich aber Schwellung und Auswässerung, beziehungsweise
Maceration der Schleimhaut, deren Epithelien in grosser Menge abgestossen,
den flüssigen Ausscheidungen beigemengt eben die molkenähnliche Beschaffen-
heit des Darminhaltes bedingen. Die solitären Drüsen und PATEß'schen
Plaques sind markig infiltrirt. Bei längerer Dauer endlich sind die Leber,
Nieren und selbst das Herz verschieden stark fettig degenerirt.
Der chemische Nachweis erfolgt nach Zerstörung der organischen
Substanzen mittels Salzsäure und chlorsauren Kaliums durch Ausfällung mit
Schwefelwasserstoff und Erzeugung eines Arsenspiegels auf trockenem Wege
oder durch den MARsn'schen Apparat. Da Arsen wie alle Metallgilte der
Fäulnis widersteht, so ist ein positives Ergebnis des chemischen Nachweises
noch nach Jahren möglich, wobei nur die Vorsicht zu beobachten ist, dass
nicht etwa durch arsenhaltige Friedhoferde oder durch künstlich gefärbte
Blumen oder durch andere der Leiche beigegebene Gegenstände Arsen von
aussen in die Leiche kommt. Die so oft behauptete Mumification der mit
Arsenik vergifteten Leichen habe ich bei zahlreichen Untersuchungen und
Exhumirungen niemals beobachten können.
Zum Schlüsse sei noch bemerkt, dass auch nach einmaliger Einverlei-
bung einer grösseren Arsenmenge, wenn die Vergiftung nicht tödtlich ver-
laufen ist, sich das Bild der chronischen Arsenikvergiftung, welche
als Tahes arsenicalis (Falck) bezeichnet wurde, entwickeln kann. Dies ist
leicht verständlich, wenn man bedenkt, dass Arsenik wegen seiner grossen
Affinität zu den Eiweissubstanzen lange zurückgehalten wird, so dass die
Ausscheidung Wochen und Monate in Anspruch nehmen kann.
Die Antimon- und Bleiverbindungen erzeugen annähernd ähnliche Ver-
giftungsbilder; eine praktische Bedeutung kommt ihnen weniger zu, da acute
Vergiftungen wohl nur selten zur Beobachtung gelangen.
Mutterkorn. Ein wichtiges Parenchymgift ist das Mutterkorn, Seeale
cornutum, bekanntlich das Dauermycelium eines Pilzes, Claviceps purpurea,
welches vielfach als Fruchtabtreibungsmittel in Anwendung gezogen wird.
Das Mutterkorn enthält drei Bestandtheile, die Sphacelinsäure, das Cornutin
und die Ergotinsäure ; nur die beiden erstgenannten Substanzen sind nach
den Untersuchungen von Dragendorfp, Robert u. A. giftig, während die
Ergotinsäure ungiftig ist. Die experimentelle Toxikologie hat festgestellt,
dass die Sphacelinsäure jene Erscheinungen der Seealewirkung bedingt, welche
2i\^ Ergotismus gangraenosus bezeichnet werden, und die in kaltem Brande
peripherer Körpertheile, so der Finger und Zehen, und in der Abstossung
VERGIFTUNGEN. 941
dieser bestehen. Das Cornutin dagegen bewirkt hauptsächlich jene Verände-
rungen, wegen welcher das Mutterkorn in entsprechender Dosis auch in der
Therapie so vielfache Anwendung findet. Diese Wirkung besteht in einer
Reizung des Krampfcentruras im Gehirne, ferner des Vaguscentrums, des
vasomotorischen Centrums und der Centren für die Uteruscontractionen im
Rückenmark. Die Reizung des Vaguscentrums führt zu Pulsverlangsamung
und später durch Lähmung zur Pulsbeschleunigung. Durch die Reizung des
vasomotorischen Centrums kommt es zu beträchtlicher Blutdrucksteigerung,
die später wieder in Lähmung umschlägt. Die Reizung der Krampfcentren des
Gehirns bewirkt nach vorangehendem Kriebeln (daher Kriebelkrankheit)
stundenlang andauernde tonische und klonische Krämpfe (Ergotisnms convul-
sious). Bei fortgesetztem Gebrauche kommt es zur Entwicklung der sogenann-
ten Mutterkorntabes und zu Verblödung; das letztere wird nur bei chronischer
Vergiftung im Falle von lange fortgesetztem Genuss von mutterkornhaltigem
Mehle beobachtet.
Die Obduction ergibt, wenn nicht etwa Theile des Mutterkornes noch
gefunden werden, keine sicheren Anhaltspunkte für die Diagnose dieser Ver-
giftung. Es sind nur ähnliche Veränderungen, wie nach Blei, Arsenik oder
Phosphor, die sich insbesondere auch auf das centrale Nervensystem erstrecken,
bei der chronischen Mutterkornvergiftung beobachtet worden. Der Nachweis
kann durch das Auftreten des Geruches nach Trimethylamin bei Zusatz von
Kalilauge, sowie durch die Auffindung des in der Aussenschichte des Mutter-
korns enthaltenen Farbstoffes, des Sklererythrins geführt werden.
in. Blutgifte.
Die gemeinsame Wirkung der hieher gehörigen Körper besteht in Ver-
änderungen des Blutes, welche allerdings wieder mannigfacher Art sind. So
gibt es Gifte, welche durch Störung der Blutcirculation Gefässverlegung ver-
anlassen, wie das Wasserstoffsuperoxyd, oder welche Fibringerinnung erzeugen.
Andere lösen rothe Blutkörperchen auf, wie das in heimischen Giftschwämmen
enthaltene Phallin und die Helvellasäure, auch Arsen- und Antimonwasser-
stoff; andere bilden Methämoglobin, wie das chlorsaure Kalium und Nitro-
glycerin, die Pikrinsäure, Anilin und Schwefelkohlenstoff'; endlich gibt es
Blutgifte, welche den Blutfarbstoff" binden, beziehungsweise mit ihm neue Ver-
bindungen eingehen, wie Schwefelwasserstoff, Blausäure und Kohlenoxyd. Nur
wenige hieher gehörige Gifte haben ein praktisch-toxikologisches Interesse.
Chlorsaiu'Bs Kalium, KCIO3. Durch innerliche Darreichung zu grosser
Dosen dieser Substanz sind bedauerlicher Weise ziemlich zahlreiche Medicinal-
vergiftungen hervorgerufen worden. Nachdem man gegenwärtig die Gefähr-
lichkeit dieses Körpers erkannt hat und dadurch vorsichtig geworden ist,
wird diese Vergiftung fast nicht mehr beobachtet. Die Dosis toxica liegt
über einigen Grammen, die Dosis letalis über 5 bis 10^. Bei der Vergiftung
wurden Erbrechen, profuse Diarrhöen, hochgradige Dyspnoe, tiefe Cyanose und
Herzschwäche beobachtet, im Falle etwas protrahirteren Verlaufes infolge Zer-
falles der rothen Blutkörperchen auch Icterus, ferner Functionsstörungen der
Nieren und Störungen des Nervensystems, indem urämieähnliche Erschei-
nungen auftraten. Die Leichenbefunde sind einigermaassen charakteristisch
durch die Braunfärbung des Blutes infolge des gebildeten Methämoglobins
und durch eine mehr minder, ausgesprochene braune Verfärbung aller Organe.
Blausäure, Cyanwasserstoff, CNH. Sie ist im Pflanzenreich, im Thier-
reich und in künstlich dargestellten Substanzen vorhanden. Für Vergiftungen
wird in der Regel das in der Technik und in den Gewerben mehrfach ge-
brauchte Cyankalium verwendet. Es können aber auch Vergiftungen durch
Cyansilber, Cyangold und Cyanquecksilber vorkommen. Die Doppelsalze der
Blausäure, das rothe und gelbe Blutlaugen salz, sind trotz ihrer Löslichkeit
942 VERGIFTUNGEN.
ungiftig, es könnten Vergiftungen nur bei gleichzeitiger Darreichung concen-
trirter Mineralsäuren, welche Blausäure frei machen, erfolgen, und solche
Fälle sind auch schon beobachtet worden. Auch pharmakologische Präparate,
welche Blausäure enthalten, können zu Vergiftungen Anlass geben, so
Aqua amygdalarum amararum. Aqua laurocerasi und Aqua cerasorum
nigrorum. Giftmorde sind wegen des Geruches weniger leicht ausführbar und
daher auch in der That viel seltener als die Selbstmorde und zufälligen Ver-
giftungen.
Die Erscheinungen sind ungemein stürmisch ; sie bestehen in rasch
auftretender Dyspnoe, Bewusstlosigkeit, Zusammenstürzen, in heftigen klonischen
Krämpfen und Tod unter den Erscheinungen der Erstickung, mitunter in
wenigen Minuten.
Es ist heute durch Untersuchungen von Schönbein, Bernard, Preyer, Geppert,
Zillessen, Kobert u. A. wohl ausser Zweifel gestellt, dass die Blausäure eine eigenthüm-
liche Veränderung des Blutes hervorbringt; während nämlich im normalen Blute die Blut-
körperchen das Wasserstoffsuperoxyd mit Leichtigkeit in Wasser und Sauerstoff zersetzen,
wird diese Zersetzung schon durch sehr kleine Mengen von Blausäure verhindert. Nach
Geppert ist es erwiesen, dass der Organismus unter der Einwirkung der Cyanwasserstoff-
säure weniger Sauerstoff aufnimmt und weniger Kohlensäure bildet als normal, selbst dann,
wenn Sauerstoff in reichlicher Menge künstlich zugeführt wird. Es ist somit die Blausäure-
vergiftung eine innere Erstickung der Organe.
Die Vergiftung verläuft unter Schwindel, Bewusstseinstrübung, Kopf-
schmerz, Präcordialangst, Störungen der Athmung und Krämpfen; in den
acutesten Formen tritt sogleich das asphyktische Stadium ein, indem der
Patient unter Pupillenerweiterung bewusstlos zusammenstürzt, und nach zwei
bis drei krampfhaften Athemzügen und Convulsionen sein Tod erfolgt.
Bezüglich der Leichenbefunde ist zu unterscheiden zwischen der
reinen Blausäure- und Cyankalium Vergiftung. Im ersten Falle besteht nur
eine ziemlich allgemein vorhandene mehr weniger starke, hellrothe Färbung
des Blutes und leichte Röthung der Magenschleimhaut nebst allgemeinen Er-
stickungsbefunden.
Bei der Cyankalium Vergiftung dagegen besteht eine viel inten-
sivere Ptöthung, welche sich von der Mundhöhle und vom Schlünde durch die
ganze Speiseröhre und ganze Magenschleimhaut und Schleimhaut des oberen
Dünndarmes erstreckt ; dabei sind Ecchymosirungen und streifenförmige sub-
mucöse Blutaustretungen im Magen nahezu Ptegel. Es kommt aber hier auch
die Kaliumwirkung in Betracht, infolge welcher die Schleimhaut gallertartig
gequollen, transparent und seifenartig anzufühlen und in ihren oberfläch-
lichen Schichten in eine gelatinöse Masse verwandelt ist, ganz ähnlich wie
bei den Alkalienvergiftungen. Zum Unterschiede von diesen ist jedoch die
Färbung der Magenwand hellroth. So ist auch die Schleimhaut der oberen
Luftwege, namentlich im Kehlkopfeingang und im Kehlkopfe gefärbt. Die
anatomische Diagnose wird vor allem noch durch den charakteristischen Ge-
ruch nach bitteren Mandeln, welcher oft schon vor Eröffnung der Leiche,
sicher aber bei der Eröffnung der Körperhöhlen wahrgenommen wird, erleichtert.
Der Nachweis des Giftes erfolgt durch Destillation und durch die
Darstellung von unlöslichem Berlinerblau mittels zugefügter Kalilauge und
Eisenvitriollösung, oder mittels der Bhodankaliumreaction, indem das Destillat
mit Schwefelammonium abgedampft und dann mit einem Tropfen Eisenchlorid-
lösung versetzt wird, wobei blutrothe Färbung eintritt. Das von Kobert
entdeckte eigenthümliche Blutspectrum von Cyanmethämoglobin ist im Leichen-
blute nicht so ganz sicher auffindbar.
Kohlenoxydgas, CO. Zur Vergiftung mit diesem Gase gibt Anlass das
Ausströmen von Kohlendunst bei unvollständiger Verbrennung in Oefen, in
offenen Kohlenbecken, Kohlenmeilern, Kalk- und Ziegelbrennereien, Giesse-
reien, dann das Ausströmen von Leuchtgas und die Einathmung des soge-
nannten Wassergases. Es sind zumeist unabsichtliche, zufällige Vergiftungen,
VERGIFTUNGEN. 943
aber auch Selbstmorde sind auf diese Weise schon ausgeführt worden. Der
Kohlen dun st ist ein Gasgemenge, welches je nach dem Brennmaterial und
der Art der Verbrennung verschiedene Mengen von Kohlenoxydgas, meist jedoch
nur wenige Procente enthält. Ebenso ist im Leuchtgase das Kohlenoxyd in
verschiedener Menge, und zwar beiläufig in den verschiedenen Gasarten zu
5 bis 257o enthalten. Im Wassergase, welches neuestens auch ab und zu
für Beleuchtungszwecke verwendet wird, finden sich 50 und mehr Procent
Kohlenoxydgas vor. Die Giftwirkung beruht auf der Bildung einer schwer
lösbaren Verbindung des eingeathmeten Gases mit dem Hämoglobin (Kohlen-
oxydhämoglobin). Indem dadurch grössere Blutmengen ihrer physiologischen
Function entzogen werden, da das Kohlenoxydhämoglobin nicht mehr fähig
ist, Sauerstoff aufzunehmen, so kommt es zu dyspnoischen Erscheinungen und
schliesslich zur inneren Erstickung. Die beobachteten Symptome bestehen in
Kopfschmerz, Schwindel, Mattigkeit, Betäubung, Bewusstlosigkeit, reflectori-
schem Erbrechen, Athembeklemmung, Coma, Sopor und Tod. Wegen der
schweren Lösbarkeit des Kohlenoxydhämoglol3ins geht die Abgabe nur all-
mählich und langsam vonstatten und es erfolgt nicht selten der Tod, auch
nachdem der Mensch in gute Luft gebracht und einer rationellen Behandlung
zugeführt worden ist; der Tod kann noch nach vielen Tagen eintreten.
Die Leichenbefunde sind sehr charakteristisch. Sie bestehen in
heller Färbung des Blutes, was zur Folge hat, dass schon das äussere An-
sehen der Leichen ein auffallend frisches ist; sie haben ein Colorit, welches
an das des lebenden Körpers erinnert. Auch die Todtenflecke sind hellroth;
dieselbe auffallend hellrothe Färbung zeigen auch alle inneren Organe, das
Gehirn ist meist rosenroth gefärbt, ähnlich die serösen Häute; die Parenchyme
der Organe zeigen in der Regel mehr weniger ausgesprochene hellrothe bis
zinnoberrothe Färbung.
Der Nachweis erfolgt durch das bekannte spectrale Verhalten des
Kohlenoxydblutes, indem das Spectrum die bekannten zwei Absorptionsstreifen
zwischen den Frauenhofer'schen Linien D und E zeigt, welche durch die Ein-
wirkung reducirender Mittel, namentlich des Schwefelammoniums nicht wie die
zwei ähnlichen Streifen des Oxyhämoglobins zu einem breiten Absorptions-
bande verschmelzen, sondern nach Zusatz des Reagens als getrennte Streifen
erhalten bleiben. Ausserdem kann die Anwesenheit von Kohlenoxydgas im
Blute noch durch einfache chemische Reactionen erwiesen werden, so nament-
lich durch den Zusatz von Natronlauge (Natronprobe), wobei gewöhnliches
Blut braun verfärbt wird, während Kohlenoxydblut hellroth bleibt. Aehnlich
verhält es sich beim Zusatz von Schwefelwasserstoff, Schwefelammon und
Kupfervitriol.
IV. Die Herzgifte.
Die Herzgifte sind Körper, welche primär das Herz in der Weise an-
greifen, dass durch Erregung des Vaguscentrums und directe Beeinflussung
der Herzmuskulatur eine Pulsverlangsamung und beträchtliche Blutdruck-
steigerung herbeigeführt wird; bei Darreichung toxischer Mengen erfolgt nun
bald der Umschlag in das Gegentheil und Tod durch Herzlähmung. Die Herz-
gifte, zu denen neben Digitalis auch Helleborus, ferner das Muscarin des
Fliegenpilzes gezählt wird, haben doch im ganzen mehr theoretische als
praktische Bedeutung. Vergiftungen mit ihnen kommen wohl nur selten zur
Beobachtung, da heute auch die giftigen Eigenschaften des Fliegenpilzes
ziemlich allgemein bekannt sind.
V. Die Nervengifte.
Dahin gehören zunächst die als Narcotica und Anästhetica bekannten,
im Heilschatze vielfach verwendeten Körper, so das Opium und seine Alkaloide,
namentlich Morphin, ferner Chloroform, Chloralhydrat, Alkohol, Aether, dann
944 VERGIFTUNGEN.
die pflanzlichen Alkaloide, Strychnin, Pikrotoxin, Nikotin, Atropin, Daturin,
Hyoscyamin. Eine grössere forensische Bedeutung kommt nur einigen dieser
Körper zu.
Opium und Morphium. Der Absud von Mohnköpfen, leider noch hie
und da zur Beruhigung von Säuglingen und kleinen Kindern verwendet, führt
ebenso wie das nicht allzu schwer zugängliche Opium des Handels, sowie
die pharmakologischen Opiumpräparate (Opiumpulver, Opiumtinctur), dann das
therapeutisch so vielfach angewendete Morphin, zu absichtlichen oder unab-
sichtlichen Vergiftungen.
Die Vergiftungserscheinungen spielen sich in zwei Stadien ab,
einem Excitations- und einem Depressionsstadium. Im ersten sind Schwindel,
Schwere des Kopfes, rauschartige Aufregung, Sinnesdelirien, Empfindlichkeit
gegen Licht und Schall, Hautjucken, Ueblichkeiten und Erbrechen zu beob-
achten, im zweiten fortschreitende Betäubung bis zum Eintritte von Bewusst-
losigkeit, tiefer, pathologischer Schlaf, Sopor. Der Puls ist infolge von Vagus-
lähmung frequent, die Ausscheidungen sind sistirt (Blasenlähmung), die Pupillen
hochgradig verengt. Unter den Erscheinungen der centralen Lähmung erfolgt
der Tod bei der acuten Vergiftung in der Regel innerhalb von fünf bis zwölf
Stunden.
Die Leichenbefunde bieten nichts Charakteristisches, es sei denn
dass bei der Verwendung von Opium und seinen Präparaten der bezeichnende
Opiumgeruch im Mageninhalte wahrgenommen würde. Ab und zu könnte die
Anwesenheit von Bestandtheilen der Pflanze im Mageninhalte die Diagnose
sichern. Bei der Verwendung der Tinctura opii crocata wäre die safrangelbe
Färbung des Mageninhaltes und der Magenwand auffällig. Bei der Morphium-
vergiftung sind ausser den allgemeinen Erstickungsbefunden gar keine Ver-
änderungen sinnlich wahrnehmbar; der Beweis der stattgehabten Vergiftung
fusst ausser auf den beobachteten Krankheitserscheinungen auf dem chemischen
Nachweise, der durch das umständliche Verfahren von Stas-Otto oder nach
DßAGENDOEFF ausgeführt wird. Die Identitätsreactionen werden mittels des
FEöHDE'schen Reagens oder durch die HusEMANN'sche Reaction bewerkstelligt.
Atropin. Dieses heftig wirkende Alkaloid der einheimischen Tollkirsche,
Atropa Belladona, ist schon in Mengen von 7 bis Qcg tödtlich. Die nach
wenigen Minuten eintretenden Vergiftungserscheinungen bestehen in
Muskelzittern, Betäubung, rauschartigem Erregungszustande, tobsuchtartiger Auf-
regung, heiteren Delirien, Pulsbeschleunigung und maximaler Pupillenerwei-
terung; unter Convulsionen tritt Tod durch Lähmung ein. Der Sections-
befund ist negativ, der Nachweis der Vergiftung nur auf chemisch-physio-
logischem Wege möglich.
Strychnin. Neben dem Opium und Morphin kommt unter den Alka-
loiden dem Strychnin wohl die grösste praktisch-toxikologische Bedeutung zu.
Das Alkaloid, bekanntlich in der Brechnuss, Nux vomica, welche gepulvert als
Krähenaugenpulver bekannt ist, neben Brucin enthalten, wird nicht allzu selten
zu Selbstmorden verwendet, auch Giftmorde, darunter sehr sensationelle
(Process Palmer und Demme-Trümpy) sind damit ausgeführt worden.
Die Vergiftungserscheinungen stellen sich bald nach der Ein-
verleibung, in etwa 15 bis 20 Minuten ein; sie bestehen in allgemeinem
Uebelbefinden, Unruhe, Muskelziehen, Steifwerden, Erstickungsgefühl, endlich
ausgesprochenem Trismus, Opisthotonus und allgemeinem Tetanus. Dabei ist
im Gegensatz zur Wirkung der übrigen Alkaloide das Bewusstsein erhalten.
Der Tod erfolgt unter hochgradiger Cyanose auf der Höhe eines langdauern-
den tetanischen Anfalles.
Der Sectionsbefund ist negativ. Auch die mehrfach behauptete auf-
fallend hochgradige Todtenstarre ist wenigstens keineswegs in allen Fällen
VERLETZUNGEN. 945
•
vorhanden. Ich habe sogar bei Leichen, die zur Sommerzeit etwas länger
gelegen waren, das Gegentheil beobachten können. Jedenfalls bildet das Ver-
halten der Todtenstarre kein auch nur einigermaassen verlässliches anatomisches
Kennzeichen der stattgehabten Strychninvergiltung. Auch die inneren Befunde
sind negativ, es sind nur allgemeine Erstickungsbefunde vorhanden. Der
Nachweis des Giftes geschieht nach Isolirung durch das SxAS-OTTo'sche
oder DRAGENDORFF'sche Verfahren mittels concentrirter Schwefelsäure und
chromsauren Kaliums, wobei intensive Violettfärbung auftritt, die rasch in
weinrothe Färbung übergeht, und durch den physiologischen Versuch.
J. KEATTER.
Verletzungen. Das weite Gebiet der Körperverletzungen um-
fasst einen grossen Theil der gerichtsärztlichen Thätigkeit. Statistisch be-
trachtet kommt die Summe aller anderen den Gerichtsarzt beschäftigenden
Fälle nicht annähernd der Zahl der körperlichen Beschädigungen gleich; ihre
Beurtheilung ist eine ständige Aufgabe des gerichtlichen Mediciners. Diese
Aufgabe ist, so sehr auch selbst bei Aerzten vielfach eine gegentheilige Mei-
nung herrscht, keineswegs selbstverständlich oder leicht, ja in sehr vielen
Fällen sogar für den Erfahrenen ungemein schwierig. Die so selten richtig er-
kannten gerichtsärztlichen Endziele sind ganz andere wie die heilärztlichen.
Treffend hat dies Schauenstein mit folgenden Worten charakterisirt: „Für
den Heilzweck ist eine Wunde eine Veränderung am Körper, deren mögliche
üble Folgen für den Verletzten der Chirurg zu verhüten sucht; für den
Gerichtsarzt ist die Wunde eine Wirkung, deren Ursache er genau zu er-
forschen streben muss, eine Thatsache, deren Causalnexus mit einer bestimmten
Handlung er logisch zu entwickeln hat."
Um dieser forensischen Aufgabe bei der Beurtheilung der Körperver-
letzungen gerecht werden zu können, müssen dieselben stets in dreifacher
Richtung betrachtet und analysirt werden: 1. nach ihrer Art, d. h. nach dem
verletzenden Werkzeuge, mit dem sie beigebracht wurden; 2. nach ihrem
Sitze; 3. nach den Folgen, welche sie nach sich gezogen haben. Die Be-
gründung liegt in den praktischen Forderungen der Rechtspflege, welche ja
überhaupt den Rahmen darstellt, den die Medicin mit einem entsprechenden
Inhalt zu versehen hat.
Die Frage nach dem Verletzungswerkzeuge ist eine ganz und gar
selbstverständliche; sie muss in erster Linie erörtert werden; von ihrer Be-
antwortung hängen nicht selten der Gang der Untersuchung, die richterliche
Qualification und die Höhe der Strafzumessung ab. Die Körpergegend, welche
den Sitz einer Verletzung bildet, ist bedeutungsvoll wegen der grossen Ver-
schiedenheit der anatomisch-physiologischen Dignität der einzelnen Körper-
regionen. Ein und dieselbe Verletzung mit dem gleichen Werkzeuge, z. B.
einem Messer, beigebracht, hat eine ganz andere Bedeutung, je nachdem der
Stich am Kopfe oder am Halse, am Gesäss oder in der Herzgegend sitzt.
Von den thatsächlich eingetretenen Verletzungsfolgen endlich hängt zumeist
das Schicksal des Angeklagten ab, nachdem alle Strafgesetzgebungen den
Grundsatz vertreten, dass jedermann für die Folgen seiner Handlungen oder
auch Unterlassungen verantwortlich sei.
I. Die Art der Verletzungen.
Sämmtliche Verletzungen sind nach der Art ihrer Zufügung entweder
mit schneidenden oder stechenden Instrumenten, mit Schusswafien oder
stumpfen Werkzeugen gesetzt worden. Je nach der verschiedenen Führung
der Waffe, der besonderen Beschaffenheit oder der Kraft der Einwirkung sind
die thatsächlichen Effecte mannigfach abgestuft, und ergeben sich dadurch
noch besonders bezeichnete Verletzungsarten als Untergruppen.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. oU
946 VERLETZUNGEN.
a) Verletzungen mit schneidenden Werkzeugen.
a) Schnittwunden. Wirkt ein schneidendes Werkzeug tangential, d. h.
durch Zug auf die Körperoberfläche ein, so entsteht eine Zusammenhangs -
trennung, welche als Schnittwunde bezeichnet wird. Die Schnittwunde ist
gekennzeichnet durch glatte Beschaffenheit der Ränder, spitze Winkel und
reinen, nicht gequetschten Grund. Da jede Schnittwaffe einen Keil mit un-
terer, sehr spitzwinkeliger Kante und gegenüberliegendem, verschieden breitem
Rücken darstellt, so ist der Querschnitt jeder Schnittwunde keilförmig, die
Schnittwunde verjüngt sich nach der Tiefe. Zudem hat die typische Schnitt-
wunde einen] geradlinigen Verlauf. Diese Merkmale treffen aber nur dann
vollkommen zu, wenn das Instrument senkrecht zur Körperoberfläche gestellt
und die getroffene Stelle eben oder wenig gekrümmt ist. Fällt es jedoch
nicht im rechten, sondern im stumpfen Winkel ein, so sind die Wundränder
am Einfallswinkel entsprechend abgeschrägt; der dem stumpfen Einfallswinkel
zugekehrte W^undrand ist nach oben, der andere nach unten zugeschärft.
Auf diese Weise entstehen schliesslich Lappenwunden. Die Grösse der
gebildeten Lappen ist von der Neigung des Werkzeuges, der Krümmung der
getroffenen Körperstelle, der Länge und Schärfe des Instrumentes, sowie von
dem Druck und der Geschwindigkeit abhängig, womit es über die Körper-
oberfläche geführt wird. Wird die Neigung so gross, dass die Fläche des
Messers zur Körperoberfläche parallel oder nahezu parallel gestellt ist, so
kann ein Theil der letzteren ganz abgetragen werden, es entsteht eine
Flächenwunde. Solche Schnittflächen können auch bei mehr weniger senk-
rechter Stellung der Waffe dann gebildet werden, wenn hervorragende und
kleine Körpertheile, wie Ohren, Nase, Finger, Zehen, getroffen werden. Für
die Beurtheilung der Stellung des Angreifers, sowie der eigenen oder fremden
Schuld ist die genaue Betrachtung der Wundbeschaffenheit von grosser Wich-
tigkeit.
Von den Eigenschaften einer Schnittwunde sind endlich noch in Betracht
zu ziehen die Klaffung und die Tiefe derselben. Der Grad der Klaffung wird
von der Faserrichtung und dem Retractionsvermögen der verletzten Haut-
stelle bedingt und wechselt dementsprechend; die Tiefe hängt von der Schärfe
des Werkzeuges und der Kraft der Führung, sowie von anatomischen Ver-
hältnissen ab. Knochen hemmen in der Regel das Tieferdringen selbst bei
grossem Kraftaufwand.
Die Wirkung einer Schnittverletzung ist ganz und gar abhängig von
der physiologischen Dignität der verletzten Gewebe. Wir bezeichnen den
Effect durch Nennung des getroffenen Theiles und sprechen demgemäss von
Haut-, Muskel-, Sehnen-, Gefäss-, Nerven-, Knochenwunden u. s. w.
Forensisch beachtenswert ist auch die Thatsache, dass manchesmal durch
einen einzigen Schnitt zwei oder mehrere getrennte Wunden entstehen können.
Es ist dies bei Faltungen der Haut, z. B. am Halse, ganz leicht möglich oder
wenn eine Klinge durch einen starken Widerstand abgelenkt wird oder wäh-
rend der Führung abbricht.
ß. Hiebwunden. Wirkt das schneidende Werkzeug nicht durch Zug,
sondern durch Druck, beziehungsweise Fall, indem es auf die Körperober-
fläche senkrecht eingetrieben wird, so entsteht eine Zusammenhangstrennung,
welche als Hiebwunde bezeichnet wird. Während zum Schnitte alle Arten
der Messer, vom schlechtest beschaffenen Taschenmesser bis zum Dolche
und Hirschfänger verwendet werden, sind die Hiebwaffen in der Regel längere
und schwerere schneidende Werkzeuge, wie Säbel, Faschinenmesser, Beile.
Die Hiebwunde zeigt als eine ebenfalls durch ein schneidendes Werk-
zeug hervorgebrachte Verletzung in der Regel alle Merkmale einer Schnitt-
wunde. Sie unterscheidet sich von dieser nur dadurch, dass infolge der
Schwere des Hiebwerkzeuges nicht selten die Wundränder gequetscht sind
VERLETZUNGEN. 947
und die Wunde eine viel grössere Tiefe besitzt. Deswegen sind Hiebwunden
auch in der Regel weit gefährlicher als reine Schnittwunden. Während dem
Schnitte fast ausnahmslos durch Knochen ein unüberschreitbares Ziel nach
der Tiefe zu gesetzt wird, dringen Hiebwaffen sehr häufig in den Knochen
ein und spalten oder zertrümmern ihn. Besonders gefährlich sind deswegen
Kopfhiebwunden, insbesondere solche mit Beilen, schweren Cavalleriesäbeln
und Haubajonetten. Splitterungen der knöchernen Schädelkapsel, sowie Ver-
letzungen der Hirnhäute und des Gehirns sind nebst manchesmal auch starker
Quetschung der Weichtheile die gefürchteten Folgen derselben.
Eine Hiebwaffe ist umso gefährlicher, je mehr sie wiegt und je weiter
ihr Schwerpunkt nach vorne zu gerückt ist. Darum ist der studentische
Schläger; dessen Schwerpunkt im Korbe liegt, eine verhältnismässig wenig
gefährliche Hiebwaffe, der Säbel eine schwerere, weil sein Unterstützungs-
punkt sich meist schon nahe der Mitte der Klinge befindet, und das Beil
die schwerste, weil bei ihm der Schwerpunkt im vordersten Teile, gerade über
der Schneide liegt. Stumpfe Hieb Werkzeuge, z. B. ungeschliffene, schwere,
militärische Seitenwaffen und stumpfe Beile, sind wegen der Weichtheil-
quetschung und Knochensplitterung in der Regel, namentlich am Kopfe ge-
fährlicher, als scharfschneidende. Bei der Beurtheilung von Hiebwunden
werden neben der physiologischen Wertigkeit der verletzten Theile auch diese
Eigenschaften der Waffe zu beachten sein.
b) Verletzungen mit stechenden Werkzeugen.
y) Stichwunden. Alle mit einer Spitze versehenen Werkzeuge und
Waffen, mögen sie sonst was immer für eine Gestalt besitzen, können, in der
Richtung ihrer Längsachse gegen die Körperoberfläche gestossen, diese durch-
trennen und in den Körper eindringen. Die in solcher Weise erzeugten Zu-
sammenhangstrennungen werden Stichwunden genannt. Man unterscheidet
an ihnen eine Einstichöffnung und einen Stichcanal.
Die Einstichöffnung ist stets ein spaltförmiger Hautschlitz mit
spitzen Winkeln und glatten Rändern, gleichgiltig, ob das Werkzeug ein
conischer Stachel mit kreisrundem Querschnitt, eine reine Stichwaffe, ein
einschneidiges oder zweischneidiges Instrument (Messer, Dolch) ist; nur bei
der im ganzen recht seltenen Verwendung von drei- und mehrkantigen Stich-
werkzeugen werden sternförmige Stichöffnungen mit der Kantenzahl ent-
sprechenden Zacken gebildet. Bei vielkantigen, nicht gekehlten Instrumenten
werden die Zacken wegen der durch den grossen Kantenwinkel bedingten
Stumpfheit der einzelnen Kante undeutlich, und es können auch durch sie
von den typischen Einstichen kaum zu unterscheidende Schlitze gebildet
werden. Die Form der Eingangsöffnung ist also nur bis zu einem gewissen
Grade von der Beschaffenheit des Werkzeuges abhängig; sie hat niemals eine
dem Querschnitte desselben genau entsprechende Gestalt. Das so häufig ver-
wendete einschneidige Messer mit Rücken, der zweischneidige Dolch, der
conische Stachel und der Stossdegen erzeugen gleiche Verletzungsfiguren der
Einstichöffnung.
Diese befremdende Thatsache hängt mit der schon von Dupuytren und
Malgaigne gekannten, durch Langer eingehend studirten Spaltbarkeit der
Haut zusammen. Der Faserverlauf ist an verschiedenen Stellen der Haut
wohl verschieden, aber sehr regelmässig. Parallel der Richtung des Faser-
verlaufes weicht die Haut auseinander, wenn ein spitzes Instrument eindringt,
und so kommt es, dass ein Dorn oder Stachel, an jeder Stelle der Körper-
oberfläche eingestossen, immer eine spaltförmige, spitzwinkelige und scharf-
randige Wunde erzeugt.
Reine Stichwerkzeuge, das sind solche, die nur eine Spitze, aber keine
-Schneide besitzen, kommen verhältnismässig sehr selten zur Anwendung. Die
60*
948 VERLETZUNGEN.
meisten Stich Verletzungen werden durch Messer gesetzt, sind also eine Ver-
bindung von Stich und Schnitt. Wir bezeichnen daher auch die so häufig
zur gerichtsärztlichen Beurtheilung kommenden Messerstich Verletzungen als
Stich-Schnittwunden. Bei diesen zeigt der Einstich nicht selten ein
besonderes, wohl zu beachtendes Verhalten. Einmal ist die Wundrichtung
von der physiologischen Spaltbarkeit der Haut unabhängig, die Fasern werden
eben in der Richtung, in welcher das Messer gestellt ist, durchschnitten; es
hängt also die Stellung des Schlitzes ganz von der Stellung des Messers und
nicht von der Faserrichtung ab. Dagegen ist der Grad der Klaffung der
Wunde hinwiederum davon abhängig, ob das Messer in der Richtung des
Faserverlaufes oder auf diesen quergestellt eingedrungen ist. In letzterem
Falle klafft die Wunde stärker wie im ersten. Bei starker Klaffung kann
es sogar geschehen, dass eine Verkürzung der Wunde eintritt und die Ein-
stichöffnung um 1 — 2 mm kürzer ist, als die grösste Breite des Messers be-
trägt. Diese Wund Verkürzung wird bei Messerstich wunden auch noch durch
Einstülpung und Dehnung der elastischen Haut durch den Rücken des Messers
hervorgerufen; der eingestülpte und gedehnte Theil kehrt nach dem Heraus-
ziehen wieder in seine frühere Lage zurück. Es ist dies ein höchst beach-
tenswertes Verhalten und mahnt zur Vorsicht bei der Beurtheilung der Frage,
ob eine Wunde durch ein bestimmtes vorliegendes Messer beigebracht werden
konnte oder nicht.
Aber häufiger als eine Verkleinerung findet durch Messerstiche eine
Vergrösserung der Wunde beim Rückziehen des Messers statt. Dabei wird
nicht selten die Richtung geändert und das Messer in einer anderen Ebene
zurückgezogen, als wie es eingestochen wurde. Dadurch entstehen nicht nur
grosse, sondern auch winkelige Einstichöffnungen.
Der Stichcanal ist eine der Stichrichtung entsprechende, geradlinige
Durchtrennung der tieferen Gewebe und inneren Organe. Seine Länge hängt
ab von der Grösse und Schärfe der Klinge und von der Kraft des Stosses.
Knochen setzen nicht selten auch dem Vordringen von Stichwerkzeugen ein
Ziel. Oft dringt aber ein solches, wenn es mit entsprechender Kraft geführt
wurde, auch noch in den Knochen ein und durch diesen hindurch, z. B. ins
Schädelinnere. Wurde Knochen oder Knorpel getroffen, so ist dies für die
Beurtheilung der Stellung des Angreifers und der Stossrichtung von entschei-
dender Wichtigkeit. Während die schlitzförmige Hautwunde nicht erkennen
lässt, wohin die Schneide und wohin der Rücken des Messers gekehrt war,
lässt die Knochen- oder Knorpel wunde darüber keinen Zweifel; sie hat (bei
Messern mit Rücken) stets die Keilform und spiegelt überhaupt den Quer-
schnitt des eingedrungenen Verletzungswerkzeuges wider.
Bei den anderen Geweben und den inneren Organen ist dies nicht der
Fall. Hier kommt wieder vielfach die Faserrichtung und Spaltbarkeit in der
Beschaffenheit der Verletzungsfiguren zum Ausdrucke, so beispielsweise beim
Magen und Darm, wo nicht selten entsprechend der verschiedenen Faserrichtung,
die Serosa in anderer Richtung gespalten ist als die Muscularis. Die Ver-
letzungsfiguren der Gewebe mit ausgesprochener Faserrichtung sind beinahe
ausnahmslos mehr weniger spitzwinkelige Spalten und Schlitze; in nicht ge-
schichteten Organen, wie Gehirn, Leber, Lungen, Milz, Nieren erscheinen die
Stichcanäle oft als nicht scharf begrenzte, mit Blut und Gewebstrümmern aus-
gefüllte Zerstörungsgänge.
Manchesmal wird auch bei eindringenden Stichverletzungen kein Stich-
canal gebildet, sondern die schräg eingestossene Waffe schlitzt die Organe nur
auf, ohne in dieselben vorzudringen; es finden sich dann rinnenförmige Ge-
websdurchtrennungen an der Oberfläche, z. B. der Leber, der Lungen, des
Herzens vor. Auch die Haut kann bei sehr schräg auffallendem Werkzeug
VERLETZUNGEN. 949
in ähnlicher Weise rinnenförmig gespalten werden. Eine solche Stichver-
letzung gleicht dann vollkommen einer Schnittwunde.
Zu beachten wäre schliesslich noch die Möglichkeit der Ablenkung des
Stichwerkzeuges durch Knochen, wie etwa die Rippen. Dadurch kann der
Stichcanal eine Richtung bekommen, welche ganz und gar abweicht von der
eigentlichen Stichrichtung, Ich habe bei einem Messerstich ins Gesicht ein
solches Abspringen des Messers von einem Zahn auf die rechte Wange ge-
sehen. Es wurde dadurch ausser einer der ursprünglichen Stichrichtung ent-
sprechenden Spaltung der Oberlippe noch eine tiefe Lappenwunde der Wange
erzeugt. Beide Wunden waren drei Querfinger von einander entfernt und doch
durch einen Act erzeugt worden.
c) Verletzungen durch Schuss waffen.
o) Schiisswimden. An typischen Schuss wunden ist dreierlei zu unter-
scheiden : Der Einschuss, der Schusscanal und der Ausschuss.
Die Einschussöffnung verhält sich wesentlich verschieden, je nach-
dem der Schuss aus der Nähe oder aus grösserer Entfernung abgegeben
wurde. Vom Standpunkte der forensischen Praxis ist die Unterscheidung von
Nah- und Fernschüssen von grosser Wichtigkeit. Als Naheschuss wird der-
jenige bezeichnet, bei welchem sich an der Einschussöffnung noch die Explo-
sions- und Flammenwirkung bemerkbar macht. Der Abstand, in welchem dies
geschieht, ist für die verschiedenen Waffengattungen verschieden gross; er
wird umso grösser, je besser die Construction der Waffe und je stärker die
Pulverladung ist. Versuche haben ergeben, dass mit modernen Militärgewehren
Papier noch auf Entfernungen von anderthalb Meter und darüber in Brand
geschossen werden kann, während bei Revolvern gewöhnlicher Art dies oft
schon in einem Abstand von einem halben Meter nicht mehr der Fall ist. Im
Durchschnitt werden die charakteristischen Merkmale des Naheschusses in der
Regel nicht mehr ausgeprägt sein, wenn die Mündung der Waffe über einen
Meter von der Körperoberfläche entfernt ist. Ein Fernschuss schliesst die
eigene Handanlegung aus.
Die Untersuchung einer Einschussöffnung hat sich zu erstrecken auf die
Form und Grösse der Zusammenhangstrennung und auf die Beschaffenheit der
Umgebung.
Der Einschuss ist keineswegs immer, ja nicht einmal in der Mehrzahl
der Fälle, eine kreisrunde, dem Querschnitt des Projectils entsprechende
Oeffnung, sondern hat insbesondere beim Naheschuss mannigfach abweichende
Gestalten. So kommen durch die Explosivwirkung der Pulvergase mitunter
Zerreissungen der Haut nach verschiedenen Richtungen vor; es entstehen stern-
förmige Verletzungsfiguren oder die Berstung der Haut erfolgt in der Richtung
ihrer Spaltbarkeit, so dass schlitzförmige Einschussöffnungen erzeugt werden.
Das erstere geschieht nicht selten durch Gewehre, namentlich Militärgewehre,
welche ausgedehnte Zerreissungen der Haut herbeiführen können, letzteres ist
fast Regel bei den kleinen Spitzkugeln der Revolver. Die schlitzförmigen Ein-
schüsse können Stichwunden so sehr ähnlich sein, dass Verwechslungen nicht
nur möglich, sondern thatsächlich schon wiederholt vorgekommen sind, so im
bekannten Falle der Ermordung des Schriftstellers Victor Noir durch den
Prinzen Peter Bonaparte.
Was die Grösse der Einschussöffnung anlangt, so ist dieselbe mitunter
grösser oder gleich gross, wie der grösste Querschnitt des eingetretenen Pro-
jectils; in vielen Fällen jedoch sogar um etwas kleiner. Diese wiederholt zu
beobachtende Thatsache wird verständlich aus der bekannten grossen Dehn-
barkeit und Elasticität der Haut. Wird ein Projectil gegen die Haut getrieben,
so stülpt sich diese unter der Wirkung des drückenden stumpfen Körpers zu-
nächst trichterförmig nach innen, wobei sie maximal gedehnt wird; endlich
950 VERLETZUNGEN.
reisst der Trichter an seiner Spitze ein, das Projectil schiesst unter Dehnung
der kleinen Oeffnung hindurch, und die Haut kehrt dann wieder in ihre
Gleichgewichtslage zurück. Auf diese Weise kann eine Eingangsöffnung ent-
stehen, deren Durchmesser bis zu zwei Millimeter geringer ist, als der Durch-
messer des eingetretenen Projectils. Solche kleinere Einschussöffnungen kommen
sowohl bei Kugel- wie bei Spitzkugelschüssen vor. Experimentell ist diese
Thatsache durch Versuche von Busch mitiSchüssen gegen Kautschuckplatten
beleuchtet worden. Er fand dabei stets e n winziges Loch, welches kaum ein
Drittel des Durchmessers der Kugel hatte, aber einen dem Kugeldurchmesser
entsprechenden schwarzen Hof besass. Dieser Hof entspricht der als Brand-
saum bezeichneten innersten Zone der Umgebung des Einschusses, wovon noch
im weiteren die Rede sein wird.
Die Umgebung der Einschussöffinung ist für die Diagnose des Nahe-
schusses von entscheidender Bedeutung. Zunächst ist die Haut im Umkreise
von ein oder mehreren Centimetern, je nach der Grösse des Zerstreuungs-
kegels durch Pulverschmauch geschwärzt. Diese Schwärzung kann weggewischt
werden. Ist dies geschehen, so gewahrt man meist ziemlich zahlreiche, in die
Haut eingesprengte Pulverkörner, so dass die Umgebung der Wunde auf
einige Entfernung ein gesprenkeltes Aussehen hat. Die Pulverkörner können
nicht weggewischt werden ; sie sitzen in der Lederhaut fest. In dieser ganzen
Strecke sind die Haare versengt. Der innerste, unmittelbar an der Wunde
liegende Theil der Umgebung ist in der Regel ein mehrere Millimeter breiter
Hautsaum, dessen Epidermis abgängig und der lederartig vertrocknet ist.
V. Hopmann erklärte diese Erscheinung rein mechanisch durch Quetschung
und Abschürfung der Haut von Seiten des durchtretenden Projectils und
nicht als Verbrennung, so dass die Bezeichnung „Brandsaum" unzutreffend
wäre. Als ein besonderes Kennzeichen des Naheschusses hat R. Paltauf noch
die Entwicklung der hellrothen Kohlenoxydfärbung des Blutes und der Musku-
latur der Umgebung namhaft gemacht. Diese Erscheinung ist mitunter sehr
schön entwickelt, in der Mehrzahl der Fälle ist sie jedoch nicht ausgeprägt.
Nur kohlenreiche Pulverarten entwickeln bei der Explosion Kohlenoxydgas in
jener Menge, um dem extra vasirten Blute die bleibende hellrothe Färbung
des Kohlenoxydhämoglobins zu geben.
Der Schusscanal ist meistentheils eine geradlinige Fortsetzung der
Schussrichtung im Innern des Körpers. Denkt man sich den Schusscanal nach
aussen geradlinig verlängert, so erhält man die Richtung, aus welcher der
Schuss abgefeuert wurde. Allerdings erhält der Schusscanal nicht selten Ab-
lenkungen von der ursprünglichen Richtung. Es ist dies besonders dann
häufig der Fall, wenn die Kugel auf Knochen stösst. Dabei kann sie einer-
seits selbst aus der Richtung gebracht werden, anderseits bilden die abge-
rissenen Knochensplitter neue secundäre Projectile, welche nach verschiedenen
Richtungen ins Gewebe eingetrieben werden und mitunter umfängliche Zer-
störungen der Organe, namentlich des Gehirns und der Lungen herbeiführen
können. Auch die sogenannten Ringel-, Bogen- oder Contourschüsse stellen
Ablenkungen von der geraden Bahn dar. Das Projectil wird, auf Knochen an-
schlagend, im Bogen abgelenkt und kann dann längs einer natürlichen ge-
krümmten Wand, z. B. an der Concavität des Schädeldaches hinlaufen. Be-
achtenswert ist auch für die Beurtheilung der Schussrichtung aus dem Ver-
laufe des Schusscanals, dass der Körper auch durch ein Geschoss getroffen
werden kann, welches ursprünglich gar nicht gegen ihn gerichtet war, son-
dern welches auf seinem Wege durch Aufschlagen auf einen harten Gegen-
stand aus seiner anfänglichen Richtung unter einem Winkel abgelenkt worden
ist. Diese indirecten Schüsse werden Rico che t-Schüsse genannt. In man-
chen Fällen ist der Schusscanal kein Canal, sondern eine Rinne, an der Ober-
fläche innerer Organe, ähnlich wie die rinnenförmigen Stichcanäle. Durch Verschie-
VERLETZUNGEN. 951
biingen der verletzten Organe, namentlich der Lungen und noch mehr der
Gedärme, kann der Schusscanal derart verzerrt werden, dass die Reconstruction
der eigentlichen Schussrichtung manchmal eine ziemlich schwierige Aufgabe
ist. Manchesmal ist überhaupt kein Schusscanal, sondern nur ein Zerstöruugs-
herd vorhanden, so nicht selten bei Naheschüssen (Selbstmorden) aus Militär-
gewehren, wenn der Schuss den Kopf getroffen hat. Durch das Eintreiben der
Pulvergase in das Schädelinnere wird eine solche Sprengwirkung erzeugt, dass
vollkommene Berstungen des Schädelgehäuses und gänzliche Zertrümmerung
des Gehirnes entstehen. Steassmann bildet einen derartigen Fall ab.
Auch für die Beurtheilung der Entfernung, aus welcher der Schuss ab-
gegeben wurde, ist die Beschaffenheit des Schusscanals von Bedeutung. Bei
Naheschüssen ist die Wirkung der Pulverflamme auch noch im Schusscanal
bemerkbar. Derselbe ist in nach innen zu abnehmendem Grade geschwärzt,
zeigt oft noch zahlreiche eingesprengte Pulverkörner. Nicht selten ist durch
die Wirkung der Entladungsgase das umgebende Gewebe aufgewühlt und in
einigem Umfange zertrümmert. Im Canale befinden sich oft mitgerissene
fremde Gewebstrümmer, Knochensplitter, Kleiderfetzen und vom Pfropfe, dem
Mantel oder auch der Hülse herrührende Theile. Finden sich im Schusscanal
von aussen hereingekommene Dinge, so sind dieselben bei zweifelhaften Todes-
fällen zu sammeln und auf ihre Herkunft zu untersuchen. Mitunter können dar-
aus Aufschlüsse über den Thäter, sowie über die Frage der eigenen oder fremden
Schuld gewonnen werden. In vielen Fällen endet der Schusscanal innerhalb
des Körpers; dann findet man am blinden Ende desselben das Projectil. Dieses
hat aber recht häufig Formveränderungen erlitten, namentlich beim Durch-
schlagen der Knochen; es wird plattgedrückt, zerkratzt oder nicht selten ge-
spalten, so dass man bei einem Ptevolverschuss Bleistückchen im Körper
finden kann, als wäre gehacktes Blei zur Ladung verwendet worden.
Läuft der Schusscanal durch Knochen hindurch, so werden stets höchst
charakteristische Durchlochungen erzeugt, welche auf die Schussrichtung einen
untrüglichen Schluss gestatten. Der Schusscanal im Knochen ist nämlich aus-
nahmslos an der Auffallseite des Projectils zugeschärft und gegen den Aus-
trittsort abgeschrägt. Der-Substanzverlust wird in der Richtung des Schusses
immer grösser; er ist an der Aufschlagstelle am kleinsten, an der Austritt-
stelle am grössten. Auch nur an einem Theile eines Schusscanales im Knochen
kann dadurch die Schussrichtung mit grösster Sicherheit bestimmt werden.
Die Knochen werden aber nicht blos durchlöchert, sondern oft auch noch
sonst fracturirt. Röhrenknochen splittern meist der Länge nach, die glatten
Schädelknochen zeigen manchmal vom Schussloch ausgehende Sprünge, die
sich mitunter über einen grossen Theil der Schädelkapsel erstrecken; es sind
Berstungsbrüche durch Sprengwirkung und werden insbesondere bei den
modernen Militärwaffen beobachtet. Busch, Wahl, Küster, Richter, Kocher,
Beck, Bruns, Hubert und viele Andere haben zahlreiche bezügliche Beob-
achtungen und Versuche mitgetheilt. Auf diese Weise erklären sich auch
nach Messerer die indirecten Schussfracturen, welche bei Kopfschüssen nicht
selten an den Orbitaldächern beobachtet werden.
Hat ein Schuss einen Körpertheil durchdrungen, so ist auch ein Aus-
schuss vorhanden. Es erwächst dann die Aufgabe, zu bestimmen, welche
Wunde der Einschuss, welche der Ausschuss ist. Von ihrer richtigen Lösung
hängt oft die Entscheidung über die Schuldfrage ab. Es gibt zahlreiche
Körperstellen, wo die eigene Handanlegung vollkommen ausgeschlossen, andere,
wo sie wenigstens höchst selten und daher unwahrscheinlich ist. Bei Nahe-
schüssen ist die Entscheidung über Ein- und Ausschuss nach dem Dargelegten
völlig klar, anders bei Fernschüssen. Hier kommen alle Merkmale des Ein-
schusses in Wegfall. Auch ein contusionirter und excoriirter Hautsaum fehlt
meistens; die in den Büchern oft behauptete Einstülpung der Haut kann nicht
952 VERLETZUNGEN.
nur fehlen, sondern durcli vorquellendes Unterhautfettgewebe geradezu in
das Gegentheil verkehrt sein, die Einschussöffnung ist dann von einem vor-
gestülpten Wundsaum begrenzt. In solchen zweifelhaften Fällen ist die Grösse
der Oeffnung von Wichtigkeit, indem bei Fernschüssen die Eingangsöffnung
fast immer kleiner ist als die Austrittsöffnung. Oft wird die sichere Ent-
scheidung erst durch genaueste Untersuchung des Schusscanals ermöglicht.
An jedem penetrirten Organ, namentlich an durchgeschlagenen Knochen wieder-
holt sich das Gesetz: Eintrittsöffnung kleiner, Austrittsöffnung grösser. Bei
den Weichtheilwunden ist dies aber meist weit weniger sinnenfällig als bei
Knochenwunden.
Schlägt ein mattes Geschoss stumpfwinkelig an den Körper an, ohne ein-
zudringen, so nennt man das einen Prellschuss. Prellschüsse können ohne
nennenswerte äussere Verletzungen Contusionirungen innerer Organe, z. B. der
Lungen oder des Herzens hervorrufen. Auch Zerreissungen der Innenhaut
grosser Arterien sah v. Hofmann auf indirectem Wege durch das knapp am
Gefässrohr vorbeistreifende Geschoss entstehen.
Trifft ein Projectil die Körperoberfläche tangential, dann dringt es eben-
falls nicht in den Körper ein, sondern erzeugt eine rinnenförmige oder streifen-
förmige Verletzung der Haut, eine Risswunde, welche einer Schnittwunde zum
Verwechseln ähnlich sein kann. Diese Schüsse werden Streifschüsse
genannt.
Wohl kaum noch den Schuss Verletzungen zuzählen kann man die durch
Sprengmittel, wie Dynamit, Dualin, Jahnit erzeugten, ausgedehnten Zer-
reissungen und Zertrümmerungen des Körpers, wie solche sowohl in ver-
brecherischer (Fall Thomas in Bremen) und in selbstmörderischer Absicht
(Blumenstok), wie als Verunglückungen vorgekommen sind.
d) Verletzungen mit stumpfen Werkzeugen.
Die hier in Betracht kommenden Werkzeuge sind ungemein mannigfach.
Es gibt keinen Gegenstand, der leicht zur Hand ist, welcher nicht schon als
Verletzungswerkzeug gedient hätte; Steine, Stöcke, Prügel, Holzscheite, Ge-
fässe aller Art, Sessel, Bänke, Stuhlbeine, Lampen, Leuchter, Schlüsseln,
Schaufeln, Hammer, Mistgabeln u. s. w., dann besonders gefertigte Werk-
zeuge, wie Todtschläger, Schlagringe, endlich die den Menschen von der
Natur verliehenen Waffen, Hände, Fäuste, Füsse, Nägel und Zähne. Stumpfe
und stumpfkantige Körper wirken auch ein beim Ueb erfahrenwerden, beim
Absturz, bei Verschüttungen, beim Einsturz von Gebäuden, Gerüsten und Ge-
bälk, sowie beim Anfallen und Anschleudern an harte, stumpfe und kantige
Gegenstände.
Dementsprechend sind auch die Wirkungen ungemein mannigfach, so
dass die durch stumpfe Gewalten gesetzten Verletzungen qualitativ und quan-
titativ alle Stufen von den leichtesten bis zu den schwersten Graden durch-
laufen. Gleichwohl lassen sich dieselben ungezwungen auf drei Haupttypen
zurückführen: Quetschungen, Zerreissungen, Erschütterungen.
e) Quetschungen. Stumpfe Gewalten können derart auf den Körper
einwirken, dass eine Durchtrennung der allgemeinen Decke nicht erfolgt —
einfache Quetschung, Contusiou — oder sie führen eine Berstung der Haut
herbei, es entsteht eine Wunde, die nach ihrer Entstehung als Quetsch-
wunde bezeichnet wird. Die einfache Quetschung ist besonders durch zwei
Merkmale gekennzeichnet: die Blutunterlaufung und die Hautabschürfung.
1. Blutunterlaufungen sind wohl die allgemeinsten, fast niemals fehlen-
den Folgen stumpfer Gewalteinwirkungen. Durch die plötzliche, gewaltsame
Verschiebung der Haut kommt es vorwiegend im Unterhautzellgewebe zu
Gefässzerreissungen und Austritt von Blut in die Umgebung. Die Suffusion
kann für sich allein, als einziger Effect des Traumas besteben, oder sie ist
VERLETZUNGEN. 953
Begleiterscheinung anderweitiger, oft sehr schwerer Veränderungen. Ihre
Grösse schwankt innerhalb weiter Grenzen und hängt ab von der Wucht der
ausgeübten Gewalt, Zerreissbarkeit, Grösse und Art der verletzten Gefässe
(Capillaren, Venen, Arterien), sowie der Beschaffenheit der betroffenen Körper-
stelle. Bekannt ist die leichte Zerreissbarkeit der Gefässe von Kindern,
zarten Frauen und sehr alten Individuen, bei denen oft nach geringfügigen
Einwirkungen Blutunterlaufungen entstehen. Desgleichen wissen wir, dass
Blutaustritte in der Kopfhaut, wo ein straffes Bindegewebe vorhanden ist,
stets eine geringere Ausdehnung besitzen als solche an Stellen mit lockerem
und grobmaschigem Zellgewebe, wie unter der Galea, an den Augenlidern,
dem Hodensack und den grossen Schamlippen. Für die verschiedenen Formen
und Grössen sind die Bezeichnungen Petechien und Ecchymosen (Blutpunkte
und -Flecke), Sugillation (Blutunterlaufung), Suffusion (Bluterguss), Hämatom
(Blutbeule) üblich.
Nicht jede Blutaustretung ist traumatischen Ursprunges, sondern es gibt
auch durch pathologische Processe bedingte spontane Blutergüsse, sowohl in
der Haut, wie an den Schleimhäuten und inneren Organen. Es ist dies der
möglichen falschen Deutung wegen besonders zu beachten. Solche Blutungen
kommen vor beim Scorbut, der Hämophilie, Phosphorvergiftung, Sepsis,
Variola haemorrhagica, Purpura, Erythema nodosum (contusiforme).
Die gewöhnliche Form der Blutergüsse ist die rundliche, und können
Werkzeuge der verschiedensten Art gleichgeformte Blutaustritte hervorbringen;
in manchen Fällen haben jedoch die Blutunterlaufungen ein das Verletzungs-
werkzeug unzweifelhaft charakterisirendes Gepräge. Dahin gehören die
striemenförmigen Sugillationen nach Stockhieben und Peitschenhieben und
die pinselförmigen nach Ruthenhieben. Der Rückschluss auf die Art der Ein-
wirkung wird noch durch die Lage der Striemen am Rücken, dem Gesäss, den
Oberschenkeln, ein besonders sicherer. Durch Form und Lage in ihrer Ent-
stehungsart genau gekennzeichnete Blutaustretungen sind auch die durch
W^ürgen entstehenden Druckflecke am Hals.
Eine forensisch bemerkenswerte Thatsache ist auch die mitunter vor-
kommende Wanderung des extravasirten Blutes, die Blutsenkung, sodass die
Suffusion nach einiger Zeit an anderer Stelle gefunden werden kann, als wo
sie entstanden ist. Diese Blutsenkungen erfolgen auf anatomisch vorgezeich-
neten Wegen längs der Fascien und ^Auskelscheiden. Ich habe einen Fall
begutachtet, wo bei der gerichtsärztlichen Untersuchung in der unteren Hals-
gegend vorgefundene blaue und rothe Flecke für Würgespuren erklärt worden
sind, obwohl dieselben nichts anderes waren als gesenktes Blut von einer
Schnittwunde der Wange; durch Zeugen war unzweifelhaft festgestellt worden,
dass der Gestochene am Halse absolut nicht berührt worden war.
Auch die Beurtheilung des Alters eines Blutergusses ist Aufgabe des
Gerichtsarztes. Die frische Blutunterlaufung ist eine geschwollene, druck-
empfindliche, blauroth gefärbte, stark gespannte Hautstelle. Durch Aufsau-
gung der flüssigen Antheile des ausgetretenen Blutes schwillt die Stelle all-
mählich meist schon in 24 Stunden deutlich merkbar ab, die Haut wird ent-
spannt und dadurch leicht gerunzelt. Die Farbe des Fleckes ändert sich in
den nächsten Tagen vom Rande her von blauschwarz und blaugrau und
roth w^eiter ins Grünliche und Gelbliche. Diese Farbenveränderung, anfäng-
lich durch die Eindickung des Blutes bewirkt, erfolgt später durch die Um-
wandlung des Blutfarbstoffes in braunes Methämoglobin, in braunrothes
Hämatin, dann in rostfarbenes, amorphes und krystallisirtes Hämatoidin und
endlich in Pigment. Bei Altersbestimmungen an Leichen können diese Ver-
änderungen durch directe Untersuchung des Extravasates noch genauer fest-
gestellt werden. Anfangs ist das Blut von theerartiger Beschaffenheit, die
rothen Blutkörperchen sind noch erhalten; das Extravasat wird immer trockener.
954 YERLETZUNGEN.
zerreiblich; die Blutkörperchen zerfallen; es treten contractile Zellen auf,
>Yelclie die Blutkörperchen und den Blutfarbstoff einschliessen; in ihnen voll-
zieht sich die Umsetzung in Pigment. Verhältnismässig frühzeitig können
Hämatoidinkrystalle gefunden werden. Solche sah Viechow in Amputations-
lappen schon am 4., in Extravasaten am 17. Tage. Nach Eschv^eiler
hätte die Farbenveränderung der Blutbeulen gar nichts mit der Umwandlung
des Farbstoffes zu schaffen, sondern sei lediglich bedingt durch die mehr oder
weniger oberflächliche Lage und Dicke der Blutschicht.
So wichtig die Blutunterlaufungen in forensischer Hinsicht sind, so ge-
ring ist in der Regel ihre gesundheitliche Bedeutung. Nur grosse Hämatome,
die nicht mehr aufgesaugt werden können und etwa gar brandig zerfallen,
bedingen für sich längere Gesundheitsstörung. Auch kleinere, gleichzeitig
entstandene, zahlreiche Sugillationen können durch ihr Zusammenwirken unter
Umständen selbst lebensgefährlich werden, wegen der heftigen Reizung zahl-
reicher sensibler Nervenendigungen und dadurch bedingter reflectorischer Er-
regung, Uebererregung und Erschöpfung lebenswichtiger Nervencentren; Züch-
tigungen mit Ruthen, Peitschen und Stäben, Stockschläge, Lynchen, Spiess-
ruthenlaufen und Bastonaden auf die Fusssohlen mit ihren lebensgefährlichen
und selbst tödtlichen Folgen sind bekannte Belege hieftir.
2. Haiitabschüi-fungen sind ein fast ebenso häufiger Effect der Ein-
wirkung stumpfer Gewalten, wie die Blutunterlaufungen. Sie kommen meist
durch tangentiale oder schräge Einwirkung zu Stande, die Oberhaut wird ab-
gestreift, abgeschunden, abgekratzt. Sie können allein oder mit anderen Ver-
letzungen zusammen vorkommen. In jedem Falle sind sie an sich chirurgisch
unbedeutende, forensisch aber meist sehr wichtige Veränderungen. Sie be-
zeichnen einmal die Stelle einer stattgehabten Gewalteinwirkung und durch
Form und Lage mitunter auch die Art derselben. So sind die sogenannten
Kratzwunden — in Wirklichkeit sind es nur Excoriationen — durch die
Streifenform oder als linsenförmige Abschindungen oder halbmondförmige
Nägeleindrücke deutlich gekennzeichnet und durch ihre Lage an den Händen,
im Gesichte oder am Halse oft von höchster diagnostischer Bedeutung als
Zeichen geleisteter Gegenwehr oder stattgehabten Würgens.
Die frische Hautabschürfung blutet in der Regel etwas, sie kann aber
auch eine ganz unblutige Abstreifung des Oberhäutchens sein. Die Blutung
rührt von verletzten Capillaren des Papillarkörpers der Haut her. Zuerst
bedeckt sich die abgeschundene Stelle mit ausgetretener Gewebsflüssigkeit,
welche bald eintrocknet und eine gelbe oder, wenn Blutung vorhanden war,
braun-rothe Borke bildet. Diese fällt in fünf, acht bis zehn Tagen ab. Die
Heilung erfolgt ohne Eiterung und ohne Narbenbildung, doch ist auch nach
dem Abfallen der Borke die verletzte Stelle geröthet und dadurch oft noch
nach Wochen erkennbar.
An der Leiche stellt die Excoriation eine derbe, harte, beim Anschlagen
tönende, gelbe, gelbbraune oder braunrothe, lederartige Hautstelle dar, welche
schwer schneidbar ist. Diese Beschaffenheit einer erst kurz vor dem Tode
entstandenen Hautabschindung ist eine Leichenerscheinung, welche auf post-
mortaler Vertrocknung beruht. Da alle im Leben feuchten und der Epi-
dermis beraubten Hautstellen diese Veränderung erfahren, ist Anlass zu
vielleicht verhängnisvollen Verkennungen gegeben, umso mehr, als es keines-
wegs immer möglich ist, die intravitale Entstehung einer Hautabschürfung
sicherzustellen. Blutunterlaufung würde dieselbe unzweifelhaft beweisen,
weswegen stets durch Einschneiden darnach zu suchen ist; allein sie kann
auch fehlen, denn nicht jede während des Lebens entstandene Excoriation ist
sugillirt. Bei längerem Bestände, wenn sich bereits eine Borke gebildet hat,
oder wenn in der Schwarte selbst capilläre Blutaustritte vorhanden sind, kann
ein Zweifel allerdings nicht bestehen.
VERLETZUNGEN. 955
Verwechslungen sind möglich mit Brandwunden, Druckbrand und den
Wirkungen von Vesicantien, Reibungen und anderen agonal oder schon post-
mortal gemachten Eingritten zur Wiederbelebung.
3. Wunden, nach ihrer Entstehung als Quetschwunden bezeichnet,
sind ein höherer Grad der durch stumpfe Gewalten bewirkten Veränderungen.
Die Haut und oft noch darunter liegende Weichtheile sind in verschiedener
Ausdehnung durchtrennt, zerrissen, zertrümmert. In der Regel hat daher
die Quetschwunde unebene, gezackte, eingekerbte Ränder und einen auf-
gewühlten, breiten Grund; zum Unterschiede von der Schnittwunde verjüngt
sie sich nicht, sondern nimmt nach der Tiefe meist an Breite zu, indem die ge-
borstene Haut oft in beträchtlichem Umfange losgelöst und bei schräger Ein -
Wirkung als Lappen abgehoben ist. Nicht selten erfolgt jedoch die Berstung
der Haut in der Richtung ihrer Spaltbarkeit auch bei der Einwirkung stumpfer
und stumpfkantiger Körper ganz linear und scharfrandig, so dass eine Quetsch-
wunde mitunter das Aussehen einer Schnittverletzung zeigen kann. Es kommt
dies namentlich da zu Stande, wo die Haut prall über Knochen gespannt
ist, wie am Kopf und am Schienbein. Eine sehr sorgfältige Untersuchung
Avird allerdings auch in diesen Fällen die Genese sicherstellen können, denn
vollkommen scharfrandig sind solche Wunden nie, die Durchtrennung der
Gewebe ist nach ihrer verschiedenen Zerreissbarkeit oft stellenweise unvoll-
ständig, so dass die Wunde häufig von Balken nicht durchtrennter Theile durch-
zogen ist, welche wie Brücken zv/ischen den Wänden der Wunde ausgespannt
sind. Dazu kommt wohl ausnahmslos eine umfänglichere Suffundirung der
(.Quetschwunden und recht häufig Excoriation ihrer Ränder.
Die gequetschten Wunden sind weit gefährlicher als geschnittene. Sie
heilen meist durch Granulation und Narbenbildung, sehr selten durch erste
Vereinigung. Oft kommt es zur Nekrose gequetschter Gewebspartien und zu
länger dauernden Eiterungen behufs Abstossung derselben. Viel leichter als
Schnittwunden und (nicht penetrirende) Stichwunden können Quetschwunden
Eingangspforten für W^undinfectionskrankheiten werden.
Eine besonder^ Art von Quetschwunden sind die durch Zähne bewirkten — die
Bisswunden. Die Zähne sind stumpfe und kantige Werkzeuge, welche ihrer Grösse und
ihrem Baue entsprechende Quetschungen und Wunden erzeugen können. Einerseits ge-
braucht gar nicht so selten der Mensch diese ihm ¥on der Natur gegebene Waffe zum
Angriff und zur Vertheidigung, anderseits können auch Bisse von Thieren, wie Pferden,
Hunden, Schweinen, selbst von Ratten und Mäusen, Objecto forensischer Untersuchungen
werden. Die Ränder von Bisswunden oder die durch Abtrennungen kleiner Körpertheile
(Nase, Ohren, Finger) gebildeten Wundflächen sind stark sugillirt und zerquetscht und
lassen häufig die Abdrücke der Zähne so deutlich erkennen, dass die Herkunft der Ver-
letzung sogleich sichergestellt werden kann. Ja selbst die Thierspecies ist oft sicher zu
erkennen, wie z. B. die eigenthümlichen, parallelstreifigen Abschabungen der Ränder von
Nagethierbisswunden. ■
Bisswunden von Menschen und von Thieren sind oft recht gefährliche Verletzungen.
Nicht selten sind sie gefolgt von Entzündung, Phlegmone, Gangrän, Sepsis. Die Biss-
wunden grosser Thiere, namentlich von Hunden sind oft ausgebreitete Zerreissungen, Ver-
letzungen, die durch Verblutung acut tödtlich werden können. Endlich erwächst aus dem
Hundebiss noch die Gefahr der möglichen Uebertragung der mit Recht so gefürchteten
Hundswuth (Lyssa) auf den Menschen.
C. Zerreissungen. Grosse stumpfe Gewalten, die den Körper treffen,
bewirken entweder umfänglichere, äussere Zusammenhangstrennungen: Riss-
wunden — oder Zerreissungen innerer Theile: Organrupturen, Knochen-
brüche und Verrenkungen — oder eine Verbindung beider: Zertrümmerung
und Abtrennung ganzer Körpertheile. Die zur Erzielung dieser schweren
Verletzungsetfecte geeigneten Einwirkungen sind Sturz von der Höhe, Ver-
schüttungen, Ueberfahrenwerden, Verunglückungen bei Eisenbahnen, Maschinen-
betrieben und Explosionen.
1. Risswunden kommen durch in Bewegung befindliche, stumpfe und
kantige Körper zu Stande, Avelche im Zuge wirken und dadurch Zerrungen
der Haut hervorrufen, denen dieselbe trotz ihrer hohen Dehnbarkeit nicht
956 VERLETZUNGEN.
mehr nachzukommen vermag, sie reisst ein. Eecht häufig geschieht dies in
der Pachtung ihrer physiologischen Spaltbarkeit. Noch viel häufiger als die
Quetschwunden haben daher die Risswunden scharfe, wie geschnittene Ränder;
dass eine Zerreissung vorliegt, ist oft nur an der Quetschung und unregel-
mässigen Absetzung der tiefer gelegenen Weichtheile zu erkennen. Die Blut-
unterlaufungen können wegen der durch die hochgradige Zerrung bedingten
Rückpressung des Blutes und der Einrollung der Innenhaut gerissener Ge-
fässe namentlich bei rasch tödtlichem Verlaufe oft recht geringfügig sein,
und stehen häufig im schreienden Missverhältnisse zur Grösse der Wunde.
In allem Übrigen gleichen die Risswunden völlig den Quetschwunden, von
denen sie auch meist nicht scharf getrennt werden können. Wie wir daher
von Stichschnittverletzungen sprechen, so gebrauchen wir auch häufig die
zutreffende Bezeichnung Quetschriss wunde.
2. Organrupturen, das sind Berstungen innerer Organe, kommen durch
directen Stoss oder indirect durch eine fortgepflanzte Stoss- oder Druckwir-
kung zu Stande. Je nach ihrer Grösse, mehr oder weniger ungeschützten
Lage und der Festigkeit oder Brüchigkeit ihrer Gewebe zerreissen die Organe
sehr ungleich leicht und häufig. Daraus ergibt sich eine natürliche Häufig-
keitsscala, welche von der Erfahrung durchwegs bestätigt wird. Am häufigsten
sind demnach Zerreissungen der Leber, dann folgen abfallend die Milz, die
Nieren, die Lungen, die Luftröhre, das Herz und die grossen Gefässe, der
Magen, die Gedärme, die Speiseröhre, die Beckenorgane und am seltensten
das stark geschützte Gehirn. Dennoch sind auch schon Zerreissungen des
Gehirns bei intacter Schädelkapsel beobachtet worden, so von Casper-Liman,
COOPER u. A.
Die Organrupturen verlaufen meistentheils tödtlich, indem entweder
innere Verblutung eintritt, wenn blutreiche parenchymatöse Organe (Leber,
Milz, Nieren), die Lungen oder das Herz und grosse Gefässe zerrissen sind,
oder Infectionen und Autointoxicationen herbeigeführt werden, wie durch
Magendarm-, Blasen- und Harnröhrenzerreissungen, oder das centrale Nerven-
system ausser Function gesetzt wird (Gehirnruptur). Nur ganz oberflächliche
Zerreissungen von Organen können heilen. In dieser Richtung erweist sich
das Gehirn als das widerstandsfähigste Organ. Oberflächliche Verletzungen
werden quoad vitam verhältnismässig gut vertragen und kommen häufig zur
Ausheilung. (Hämorrhagische Narben und Cysten, Plaques jaunes.)
Erkrankte Organe zerreissen in der Regel viel leichter als gesunde, und
kommen bei pathologischen Veränderungen Organrupturen manchesmal selbst
auf geringfügige Einwirkungen zu Stande, so Zerreissungen von Milztumoren,
der fettig entarteten Leber, des degenerirten Herzens, atheromatöser Gefässe,
der mit Geschw^üren besetzten Magen- oder Darmwand u. s. w. Auch selbst
physiologische Zustände können die Disposition zu Zerreissungen erhöhen, wie
Füllung des Magens, Schwangerschaft. Endlich ist noch an die Spontan-
rupturen erkrankter Organe zu erinnern, welche auch zu falschen Deutungen
Anlass geben können.
Wichtig ist die Thatsache, dass Organzerreissungen, ja hochgradige
Quetschungen und Zermalmungen innerer Organe bei unverletzten Haut-
decken zur Entwicklung gelangen können, so dass äusserlich mitunter gar
keine Spuren der stattgehabten Gewalteinwirkung vorhanden sind.
3. Knochenbrüche und Verrenkungen sind eine häufig vorkommende
Art der Verletzung innerer Theile. Sie werden durch grobe Gewalteinwir-
kungen, wie sie oben namhaft gemacht wurden, veranlasst. Bei dem Um-
stände, als gerade die Kenntnis dieser Verletzungen ärztliches Gemeingut ist,
kann an dieser Stelle wohl von einer weiteren Erörterung Umgang genommen
werden. Es sei nur in praktisch-forensischer Beziehung bemerkt, dass ich
wiederholt die Frage zu erörtern hatte, ob ein Knochenbruch durch Fall oder
VERLETZUNGEN. 957
Schlag entstanden sei. Dies lässt sich manchmal schwer entscheiden; meist
ist aber die Stelle der Einwirkung durch Blutung, Hautabschindung oder
Quetschrisswunden so gekennzeichnet, dass ein Zweifel nicht bestehen kann. Zu-
dem brechen die Knochen beim Fall bekanntlich fast immer an typischen,
anatomisch vorbereiteten Stellen. Die Fractur durch Schlag entsteht an jeder
Stelle, die getroffen wird.
4. Abreissung und Zermalniung- ganzer Körpertheile kommen bei
Eisenbahnunglücksfällen, Ueberfahrenwerden durch Eisenbahnzüge, Maschinen-
verunglückungen, Explosionen, Sturz von sehr grosser Höhe und Verschüttungen
vor. Oft findet man bei diesen schwersten Einwirkungen Organe und ganze
Körpertheile geradezu in einen Brei verwandelt, die Körperhüllen geborsten,
die darin befindlichen Organe herausgerissen, zertrümmert und oft weit weg-
geschleudert. Dabei bewährt sich immer wieder die grosse Widerstands-
fähigkeit der Haut. Ich habe Menschen gesehen, über welche Eisenbahnzüge
hinweggegangen sind, ohne dass die Haut vollständig durchgequetscht worden
wäre, alles darunter liegende, mit Einschluss der Knochen, war zu Brei zer-
malmt.
7). Erschütterungen. Es gibt Fälle von traumatischer Einwirkung,
wo ohne oder wenigstens ohne wichtige anatomische Läsionen schwere func-
tionelle Störungen im centralen Nervensystem ausgelöst werden. Diese führen
entweder sofort oder nach kurzer Zeit zum Tode: Gehirnerschütterung,
Shok, oder es entwickeln sich Folgezustände in Form schwerer allgemeiner
oder örtlicher Nervenkrankheiten: traumatische Neurosen und Psychosen,
Hysterie, Epilepsie, Aphasie, Reilway spine, Lähmungen. Im Folgenden
wird Gelegenheit sein, diese wichtigen Verletzungseffecte noch eingehender zu
würdigen.
IL Der Sitz der Verletzungen.
Für die Betrachtung der Localisation der Verletzungen ergibt sich die
natürliche anatomische Gliederung in Kopfverletzungen, Verletzungen des
Halses, der Brust, des Unterleibes, des Beckens und der Gliedmassen.
a) Kopfverletzungen.
Sie gliedern sich naturgeraäss in die Verletzungen des Schädels, des
Gesichtes und der Sinnesorgane.
1. Die Schädelverletzungen beanspruchen unser ganzes Interesse so-
wohl wegen der Häufigkeit ihres Vorkommens, als wegen der oft über-
raschenden Eigenthümlichkeiten ihres Verlaufes. Nichts ist schwieriger und
unsicherer, als die Prognose einer Schädelverletzung. Wenn wir die beiden
Extreme ins Auge fassen, so kommt Folgendes vor: Es sind anfänglich gar
keine nennenswerten oder schweren Erscheinungen vorhanden; der Verletzte
zeigt keine Krankheitssymptome, er geht sogar seinem Berufe nach. Erst
nach Tagen, manchesmal selbst nach Ablauf von Wochen kommt es zu schweren
und bedrohlichen Zufällen und zu tödtlichem Ausgang, während mittlerweile
die Verletzung schon als eine leichte erklärt worden ist. Anderseits geschieht
es, dass schwerste Anfangserscheinungen vorhanden sind, man befürchtet das
schlimmste Ende und nach wenigen Tagen ist der Kranke wieder vollkommen
hergestellt, während der Arzt dem Richter schon den Tod aufs bestimmteste
vorhergesagt hat. In der forensischen Beurtheilung dieser so ungemein zahl-
reichen Verletzungen ist daher die grösste Vorsicht geboten, und sollte es als
Regel gelten, ein abschliessendes und bestimmtes Gutachten erst dann abzu-
geben, wenn unzweifelhaft vollkommene Heilung eingetreten ist. Auch eine
kleine, aber noch eiternde Weichtheilwunde der Kopfhaut kann noch durch
Infection lebensgefährlich werden, daher der hippokratische Spruch noch heute
giltig ist: „Nullum vulnus capitis contemnendum."
958 VERLETZUNGEN.
Die unmittelbaren Erscheinungen einer jeden Schädelverletzung
hängen von dem Grade und der Art der Mitbetheiligung des Gehirnes ab.
Diese kann eine dreifache sein. Sie besteht entweder in Zerreissungen der
Substanz des Gehirns, in Blutungen oder in Gehirnerschütterung.
Zerreissungen der Gehirnsubstanz können sowohl bei unver-
letztem Schädelgehäuse, sowie als Theilerscheinung von Schädelbrüchen zu
Stande kommen. Letzteres ist wohl häufiger, als ersteres. Sie sind qualitativ
und quantitativ ganz ausserordentlich verschieden und können auch die ver-
schiedensten Theile des Gehirns betreffen. Sie sitzen allerdings naturgemäss
viel häufiger an der Peripherie des Gehirns, wie im Innern. Lieblingsstellen
der peripheren Gehirnquetschungen und -zerreissungen sind die Spitzen und
die Unterseite der Stirnlappen, die tiefsten Stellen der Schläfelappen und die
Enden der Hinterhauptslappen. Aber auch alle andern Partien der Gehirn-
oberfläche, namentlich auch die verletzenden Gewalten so leicht zugänglichen
Centralwindungen sind gelegentlich Sitze von traumatischen Läsionen. Be-
sonders geschützt durch seine Lage ist das Kleinhirn.
Es ergibt sich daraus, dass die durch Läsionen des Gehirns bedingten
Erscheinungen ausserordentlich verschieden sein werden, je nach der func-
tionellen Bedeutung der verletzten Stelle und der Grösse des Zertrümmerungs-
herdes. Alle Arten von Lähmungen der verschiedensten Muskelgruppen, Sensi-
bilitätsstörungen, Krämpfe, Störungen der Sprache, der Sinnesorgane, der Coordi-
nationen und psychischen Functionen des Denkens, Vorstellens und Erinnerns
können gelegentlich ausgelöst werden. Die Gehirnzerreissungen lösen sehr viel-
gestaltige Krankheitsbilder aus; unter allen Umständen sind es aber Herd-
symptome, so dass wir sagen können, die Zerreissungen der Gehirnsubstanz sind
durch das Auftreten von Herdsymptomen charakterisirt.
Ganz andere Wirkungen äussern die intracraniellen Blutungen. Sie
bewirken, da die Schädelkapsel unnachgiebig ist, durch Vermehrung des Inhaltes
einen Druck auf das Gehirn; es werden die bekannten und mit Recht ge-
fürchteten, weil fast immer tödtlich verlaufenden Erscheinungen des Hirn-
drucks, der Compressio cerebri, hervorgerufen. Dabei können die Anfangs-
erscheinungen gleich Null sein. Unmittelbar nach der Verletzung treten
keinerlei bemerkbare Symptome auf. Man erkennt zunächst nicht, dass dem
Verletzten etwas Ernstliches zugestossen sei. Je nach dem Caliber des ver-
letzten Gefässes rascher oder weniger rasch, oft erst nach vielen Stunden
treten Drucksymptome, erst meist geringfügige Reizungen von Muskeln,
Krämpfe, dann Lähmungen mit unaufhaltsam progressivem Charakter auf. Der
Tod kann nach Stunden aber auch erst nach Tagen eintreten. Forensisch
wichtig kann die Frage nach der zeitlichen Entstehung werden, d. h. ob der
Mensch nach Erhalt der tödtlichen Verletzung noch dies und das thun,
sprechen, nach Hause gehen u. s. w. konnte. Gerichtsärztliche Irrungen in
dieser Richtung sind mir wiederholt bekannt geworden.
Vom anatomischen Standpunkte aus betrachtet, unterscheiden wir mehrere
Arten der intracraniellen Blutergüsse. Die Blutung erfolgt einmal zwischen
dem Knochen und der harten Hirnhaut durch Zerreissung eines Duragefässes,
namentlich der Arteria meningea media und ihrer zahlreichen Aeste, es ent-
steht durch Ablösung der harten Hirnhaut vom Knochen ein supradurales
Hämatom (Haematoma durae matris externum); oder das Blut ist unterhalb
der Dura über dem Gehirn ausgebreitet, es ist ein infradurales Hämatom
gebildet worden (Haematoma durae matris internum); oder die Blutung ist
durch Zerreissung von Piagefässen in die subarachnoidealen Räume zu Stande
gekommen, was wir als intermeningeale Hämorrhagie bezeichnen. Endlich
kann auch ein Gehirngefäss selbst zerreissen und einen Zertrümmerungsherd
erzeugen; es entsteht eine traumatische Hämorrhagia cerebri oder durch Ver-
letzung der Adergeflechte ein Bluterguss in die Gehirnkammern.
VERLETZUNGEN. 9ö9
Die dritte Art der Mitbetheiligurig des Gehirns an Schädeltraumen be-
steht in der Erschütterung desselben. Die Gehirnerschütterung kann
sowohl für sich allein wie als Begleiterscheinung anderer Gehirnverletzungen
auftreten. Die reine Gehirnerschütterung kann anatomisch nicht begründet
werden, sie gehört zweifellos in das Gebiet der functionellen Störungen,
welche man in verschiedener Art zu erklären versucht hat. Nach Fischer
ist sie eine traumatische Reflexparalyse der Hirngefässe, nach Koch's und
Filehne's interessanten Verhämmerungsversuchen stellt sie sich als eine
Reflexparalyse des vasomotorischen Centrums dar, Duret und Gussenbauer
sind geneigt, aus der mechanischen Reizung des Bodens der vierten Kammer
und der Corpora restiformia durch das gewaltsame Andrängen des compri-
mirten Liquor cerebri die Erscheinungen der Gehirnerschütterung abzuleiten.
Welcher Hypothese man immer beipflichten mag, jedenfalls stellt sich die
Hirnerschütterung als vasomotorische Neurose dar. Wenn in einzelnen Fällen
auch capilläre Hämorrhagien gefunden wurden, so darf man in diesen keines-
wegs die anatomische Grundlage der Hirnerschütterung erblicken wollen. Sie
besteht viel öfter ohne, als mit diesen kleinsten Blutaustritten.
Ihre Symptome sind sofortige Bewusstlosigkeit, verlangsamter Puls selbst
bis unter 40, Blässe der Haut, träge reagirende Pupillen, Erloschensein der
Reflexe, schwache, mitunter unregelmässige Respiration, reflectorisches Er-
brechen und Krämpfe. Die Erscheinungen gleichen vielfach denen der Alkohol-
vergiftung, was umso beachtenswerter ist, als viele Verletzungen gerade im
Rausche erfolgen. Wiederholt sind schwer Betrunkene für Schädelverletzte
und diese für Betrunkene erklärt worden, ein mitunter verhängnisvoller Irr-
thum. DiiJerential-diagnostisch wären die bei der Alkoholintoxication er-
höhte Pulsfrequenz, der Turgor des Gesichtes, die strotzende Füllung der Con-
junctivalgefässe verwerthbar, nicht aber der Geruch nach Alkohol, weil ja die
meisten Raufexcesse von Menschen verübt werden, die Alkohol genossen haben.
Die Hirnerschütterung kann für sich allein zum Tode führen; die Er-
scheinungen gehen nach stunden- ja selbst tagelangem Bestand in Coma und
Sopor über, oder es tritt Heilung ein. Mitunter dauern die Erscheinungen
nur wenige Minuten an. 'Auch die leichten Grade stellen an sich schwere,
die schweren unter allen Umständen lebensgefährliche Verletzungen dar.
Im Einzelnen betrachtet haben wir zunächst die Verletzungen der
weichen Schädeldecken kurz zu erörtern. Sie sind ausserordentlich
häufig, weil der Kopf mehr als jeder andere Körper theil Angriffsobject aller
Arten von Gewalteinwirkungen ist. Die ohne Zusammenhangstrennung der
Kopfschwarte bestehenden Quetschungen, die Hautabschürfungen und Blut-
unterlauf ungen sind in der Regel ohne jede Bedeutung. Nur die grösseren
Blutbeulen und namentlich Blutergüsse unter das Pericranium kommen mit-
unter nicht zur Resorption, vereitern und können selbst Necrosen des Knochens
veranlassen. Von den Wunden der Kopfschwarte sind wegen der meist schart-
randigen Berstungen, die durch stumpfe Gewalteinwirkungen hervorgerufen
werden, die Quetschwunden von den Schnittwunden mitunter nicht leicht zu
unterscheiden und sind irrthümliche Beurtheilungen in Bezug auf das verletzende
Werkzeug meinen Erfahrungen nach geradezu recht häutig. Sonst sind die
Weichtheilwunden am Schädel leicht zu beurtheilen. Die Blutungen sind,
wenn nicht gerade die Schläfenarterie oder Hinterhauptschlagader verletzt
wurden, meist nicht besonders stark, jedenfalls kaum je lebensgefährlich. Doch
sah ich nach Entstehung eines traumatischen Aneurysmas eine lebensgefähr-
liche Nachblutung eintreten.
Ein besonderes Interesse erregten von jeher die Verletzungen des
knöchernen Schädelgehäuses, die Schädelbrüche. Und dies mit Recht.
Sie stellen in der Regel lebensgefährliche und nicht selten tödtliche Ver-
letzungen dar, und zeigen beachtenswerthe Eigenthümlichkeiten bezüglich ihrer
960 VERLETZUNGEN.
Entstehung, welche oft recht sichere Rückschlüsse auf die Zufügungsart ge-
statten. An sich ist allerdings ein Schädelbruch ein Knochenbruch wie jeder
andere und würde dieselben Aussichten auf Heilung bieten, wenn nicht die
Mitbetheiligung des Gehirns und seiner Häute wäre. Dadurch wird jeder
Schädelbruch zu einer viel schwereren und gefährlicheren Verletzung wie ein
anderer Beinbruch.
Sowohl gerichtlich-medicinische, wie chirurgische Erfahrungen und Ver-
suchsergebnisse haben in den letzten Decennien wichtige Aufschlüsse über
den Mechanismus und die Bedeutung der verschiedenen Bruchformen gebracht,
so insbesondere die von P. Beuns, Messerer, Hermann, Schranz, A. Paltaup
und V. Hofmann (Lehrb.). Zunächst hat Messerer die vielen und verschieden-
artig bezeichneten Schädelbrüche (Fissur, Lochbruch, Einbruch, Stückbruch,
Sternbruch, Impression, Depression) auf zwei Grundformen zurückgeführt:
Berstungsbrüche und Einbrüche.
Wirkt eine Gewalt auf irgend eine von aussen zugängliche Stelle des
Schädels ein, so wird derselbe in der Stossrichtung zusammengepresst, der
Durchmesser in dieser Richtung verkürzt, in der darauf senkrechten verlängert
bis zum Auseinanderweichen der Knochen, zur Berstung: es entsteht eine von
der Einwirkungsstelle ausgehende Fissur oder einfache Fractur. Denkt man
sich die Angriffsstelle als Pol, so verlaufen die Berstungsbrüche von hier aus
stets in der Richtung von Meridianen am Schädelsphäroid. Diese Erkenntnis
ist von grosser Wichtigkeit. Es können also beispielsweise Querfracturen der
Schädelbasis, diese so besonders gefährlichen und gefürchteten Brüche wohl
entstehen durch seitliche Einwirkungen oder durch Gewalten, welche den
Scheitel treffen, nicht aber von der Stirne oder vom Hinterhaupte aus. Ge-
walten, welche hier angreifen, bewirken wohl Längsfracturen der Basis, aber
niemals Querbrüche. Darnach erscheint das von Aran aufgestellte Gesetz, dass
die Fissuren jedesmal von der getroffenen Stelle aus auf dem kürzesten Wege
zur Basis verlaufen, wesentlich modificirt; nur das ist richtig, dass der Aus-
gangspunkt der Fissuren fast immer die direct getroffene Stelle ist. Von
dieser aus können sie nach allen Richtungen hin am Schädelsphäroid ver-
laufen; hiebei folgen sie häufig den physiologisch schwachen Stellen des Schädel-
gehäuses, wie den tiefen Gefässfurchen und den dünnen Stellen der Schläfen-
schuppe und des Schädelgrundes. Darum die so häufige (aber durchaus nicht
ausnahmslose) Verlaufsrichtung der Fissuren zur Schädelbasis.
Die zweite Art der Brüche des Schädels, die Einbrüche, entstehen durch
Uebereinanderschieben der Theile. Diese Brüche verlaufen nicht im Sinne
von Meridianen, sondern im Sinne von Breitekreisen; sie stehen senkrecht
zur Stossrichtung. Seltener ist ein gleichzeitiges Vorkommen von Sprengung
und Uebereinanderschiebung der Theile. Die Einbrüche haben ein erhöhtes
forensisches Interesse dadurch, dass sie häufig charakteristische Formen
darbieten, welche die Angriffsfläche des Verletzungswerkzeuges widerspiegeln.
Man kann daraus oft mit grosser Bestimmtheit auf die Beschaffenheit der
Waffe rückschliessen. Bekannt sind die charakteristischen Lochbrüche durch
Schuss-, Stich- und Hiebwaffen, die runden und viereckigen Einbrüche
durch Todtschläger und Hämmer, die terrassenförmigen durch Hufschläge und
Steine. Es kann im Allgemeinen als Regel gelten, dass Lochbrüche und Ein-
brüche meist sehr genau den Querschnitt der Angriffsfläche des verletzenden
Werkzeuges zeigen. Beispiele dieser Art sind zahlreich in der forensischen
Literatur verzeichnet und durch Abbildungen von Lesser (Atlas), v. Hofmann,
A. Paltauf, Strassmann illustrirt.
Eine besondere Art der Schädelbrüche stellen diejenigen vor, welche
sich an einer von der Angriffsstelle entfernten, ihr meist mehr oder weniger
diagonal gegenüberliegenden Stelle des Schädelgehäuses finden, Brüche, deren
Entstehung man sich bis vor Kurzem durch die sogenannte Gegenstosswirkung
VERLETZUNGEN. 961
(Contrecoup) erklärte. Namentlich Messerer's, von Anderen bestätigte Ver-
suche haben lilargelegt, dass es Schädelbrüche durch Gegenstosswirkung im
Sinne der Theorie von Saucerotte überhaupt nicht gibt. Nach Saucerotte
sollten vom direct getroffenen Orte Wellen ausgehen, sich gleichmässig über
den ganzen Schädel verbreiten und durch ihr Confluiren an der gerade ent-
gegengesetzten Stelle des Schädels eine solche Erschütterung hervorrufen,
dass hier der Bruch entsteht. Namentlich die Ringbrüche ums grosse Hinter-
hauptsloch und die so häufigen Fracturen der Orbitaldächer hat man sich
auf diese Weise zu erklären versucht. Messerer hat gezeigt, dass erstere
überhaupt keine indirecten, sondern directe Brüche sind, die dadurch ent-
stehen, dass die Wirbelsäule, sei es durch Schlag auf den Scheitel oder durch
Fall aufs Gesäss in das Schädelinnere eingetrieben wird, wobei es zu kreis-
förmigen Einbrüchen des Hinterhauptsbeines kommt.
Die unleugbar vorkommenden indirecten Brüche namentlich der vor-
deren Schädelgruben, seltener des Clivus und der Schläfengruben sind theil-
weise auch nur scheinbar indirect entstanden. So kommen bei den Schüssen
infolge der Eintreibung der Pulvergase in die Schädelkapsel durch den
starken allseitigen Innendruck die Berstungen der Orbitaldächer als der
schwächsten Theile zu Stande. Für die durch Druck und Stoss erzeugten,
allerdings seltenen indirecten Brüche gibt Messerer folgende zutreffende Er-
klärung: Zu ihrem Zustandekommen ist stets nöthig, dass die Gewalteinwirkung
auf relativ starke Schädeltheile statthat, welche den Angriff auszuhalten und
denselben auf entferntere, schwächere Theile zu übertragen vermögen. Hier
entsteht dann der indirecte Bruch. Der Mechanismus eines solchen kann
ebenso, wie jener der directen Brüche ein zweifacher sein. Die entfernt vom
directen Gewaltangriffe liegenden Theile des Schädels bersten entweder, sie
reissen auseinander, oder sie werden gegen einander geschoben, sie biegen
und brechen ein.
Bekannt und wegen ihrer Lebensgefährlichkeit mit Recht gefürchtet
sind die Infectionen des Schädelinneren, welche durch Fissuren besonders be-
günstigt werden. Die mit Aussen wunden combinirten Brüche der
Augenhöhlendächer, Brüche des Siebbeines und der Felsenbeine sind wegen der
naheliegenden Infectionsgefahr sehr gefährlich; natürlich können alle Schädel-
wunden Ausgangspunkte und alle Brüche Eingangspforten für Eitererreger
werden, welche Pachy- und Leptomeningitis und Encephalitis hervorrufen.
Die überaus zahlreichen nicht tödtlichen Verletzungsfolgen des Gehirns
und seiner Adnexe, die traumatischen Psychosen, die Epilepsie, Aphasie, die
functionellen Störungen der Sinnesorgane werden in einem folgenden Ab-
schnitte kurz erörtert werden.
2. Die Verletzungen des Gesichtes. Im Allgemeinen sind dieselben
nicht besonders schwerer Art. Sie werden jedoch gerichtsärztlich bedeutsam
wegen ihrer zum Theil engen Beziehungen zu den Sinnesorganen und weil
sie infolge der exponirten Lage des Gesichtes in ihren Folgen nicht selten
eine „auffallende" Verunstaltung darstellen.
Bruch der Nasenbeine ist eine häufige, wohl an sich schwere Verletzung,
welche jedoch in der Regel keine länger dauernde Gesundheits- oder Berufs-
störung im Gefolge hat. Eine besondere Entstellung ist das wiederholt beob-
achtete Abbeissen der Nase. Nasenblutung kann für sich oder mit Brüchen
der Nasenbeine und des Siebbeins vorkommen; sie ist in der Regel bedeu-
tungslos, kann aber mitunter lebensgefährliche Dimensionen annehmen, da
sie, je nach dem Sitz der verletzten Stelle, manchmal selbst durch Tampo-
nade des Nasenrachenraumes nicht sicher gestillt werden kann.
Ebenso bewirken Stich- und Schnittwunden der gefässreichen Lippen und
der Zunge oft bedeutende Blutungen; weniger Biss-, Riss- und Quetschwunden,
welche jedoch meist durch Eiterung heilen und hässliche und die Functionen
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 61
962 VERLETZUNGEN.
der Theile hindernde Narben hinterlassen können. Von geringerer Bedeutung
sind in der Regel die Wunden der übrigen Gesichtshaut, doch erzeugen um-
fängliche Zerreissungen, z. B. durch Hundebiss, dann Verätzungen und Ver-
brennungen, höchst entstellende Narben als bleibende „auffallende" Ver-
unstaltungen. Dahin würden auch die Fisteln des Ausführungsganges der
Ohrspeicheldrüsen nach Verletzung des Ductus Stenonianus gehören. Die
Quetschungen und Wunden der Ohrspeicheldrüsen selbst bedingen schwere
Parotitiden.
Die entweder allein oder mit Schädelbrüchen vergesellschafteten Brüche
der Gesichtsknochen kommen nicht selten vor. Isolirte Gesichtsknochenbrüche
heilen meist gut ohne bleibende Folgen; nur nach gleichzeitigen Nerven-
läsionen bleiben mitunter Lähmungen von Gesichtsmuskeln, namentlich Facialis-
lähmungen und -Paresen zurück.
Das Einschlagen der Zähne ist eine ziemlich häufige Verletzung
und deswegen von einiger praktischer Bedeutung. Doll und Schuh-
macher haben lebhaft gestritten, ob der Verlust eines oder mehrerer Zähne
eine schwere oder eine leichte Verletzung sei. Der Kernpunkt dieser Streit-
frage liegt in etwas anderem. So kann die Frage überhaupt nicht gestellt
und beantwortet werden. Es kommt eben auf die Beschaöenheit des ver-
letzten Zahnes an. Der Verlust eines schadhaften Zahnes mit atrophischer
Wurzel oder eines Milchzahnes ist ganz etwas anderes, wie das Einschlagen
kräftiger gesunder Dauerzähne, welches in der Regel nur unter gleichzeitigem
Bruch des Zahnfächers erfolgt. Bei der Beurtheilung dieser Verletzung wird
daher meiner Meinung nach, die auch Mauczka aufgenommen hat, stets
strenge individualisirt werden müssen. Es wird auch ein Unterschied zu
machen sein, ob nur ein oder ob mehrere Zähne verloren gegangen sind, ob
dies vordere oder hintere Zähne waren, endlich ob und wie ein künstlicher
Ersatz möglich ist und welcher Art die Gewalteinwirkung war. Man wird
diese Verletzung also nach den wechselnden Umständen einmal als an sich
schwer, das andere Mal als leicht zu qualificiren haben.
3. Die Verletzungen der Sinnesorgane, ot) Die Augen sind sehr
zahlreichen traumatischen Einwirkungen ausgesetzt, welche wieder sehr viel-
fach abgestufte Folgen nach sich ziehen. So können durch die Einwirkung
stumpfer Gewalten Quetschungen und Erschütterungen aller Theile des Auges
und seiner äusseren Schutzgebilde erzeugt werden. Häufig sind die Blut-
unterlaufungen der Lider, die für sich bestehen können, oder als Theilerschei-
nung tieferer Verletzungen, namentlich des Gesichts- oder Schädelskelettes
auftreten. Das „blaue Auge" ist eine allbekannte Erscheinung. Manchesmal
entwickeln sich wahre Hämatome der Lider. An sich ziemlich bedeutungs-
los, haben sie gleichwohl nicht selten diagnostischen Werth. In ähnlicher Weise
entstehen durch stumpfe Traumen Blutungen in die Bindehäute und in die
Augenkammern, in und hinter die Netzhaut mit den gefürchteten Abhebungen
derselben, sowie endlich in die Scheide der Sehnerven. Aber auch Berstungen
und Zerreissungen des Bulbus und einzelner Theile des Auges können durch
stumpfe Gewalteinwirkungen veranlasst werden, so namentlich Berstungen
der Sklera, Zerreissungen der Iris und der Zonula Zinii mit Luxation der
Linse nach aussen oder in den Glaskörper. Eine besondere Art der Augen-
verletzungen durch stumpfe Gewalten ist das Augenaushebeln, eine durch
Einsetzen des Daumens in den innern Augenwinkel bewirkte Luxation des
ganzen Bulbus. Diese jetzt sehr selten gewordene Verletzung war früher in
einigen Gegenden Tirols landesüblich und wurde bewusst und mit Geschick
beim Raufen ausgeführt.
Die spitzen und schneidenden Werkzeuge erzeugen entsprechende Wunden
der Lider, der Bindehaut, der Hornhaut, Sklera, Iris, Linse, des Glaskörpers,
der Choroidea und der Netzhaut. In ihren Folgen schlimmer als die ein-
VERLETZUNGEN. 963
lachen Stich- und Schnittwunden, sind die durch eingedrungene und liegen-
gebliebene Fremdkörper erzeugten Wunden. Sind dieselben septisch, so
können sehr leicht Panophthalmie und selbst Meningitis veranlasst werden. Er-
blindung oder wesentliche Beeinträchtigung der Sehi'unction ist eine sehr
häufige bleibende Folge solcher schon nach ihrer allgemeinen Natur und den
unmittelbar geiolgten Krankheitserscheinungen schweren Verletzungen.
Nicht ganz selten ist die Simulation von einseitiger Erblindung nach
einem äusseren Trauma, sowie die absichtliche Erzeugung von Augenkrank-
heiten. (Vergl. Simulationen.)
ß) Die Ohren sind gleichfalls häufigen traumatischen Einwirkungen
ausgesetzt, am häutigsten das äussere Ohr: die Ohrmuschel. Reissen, Ziehen,
Schlagen, Beissen, Kratzen, Stechen, Hauen, Schneiden sind nicht seltene
Verletzungsarten dieses hervorstehenden, und für gewisse Angriffsarten ge-
radezu anatomisch prädestinirten Körpertheiles. Eine öfter vorkommende
schwerere Folge des Reissens, Ziehens oder Stossens am Ohre ist die Bildung von
grossen Blutunterlaufungen. Die dadurch entstandene Geschwulst wird Oh r-
blutgeschwulst (Haematoma auriculae, Othaematom) genannt. Die Othä-
matome heilen im günstigsten Falle mit Hinterlassung deformirter Ohrmuscheln,
nicht selten kommt es zu jauchigem Zerfall und Nekrose des Knorpels, sogar
tödtlicher Ausgang ist schon beobachtet worden. Durch Verletzungen miss-
gestaltete oder verloren gegangene Ohrmuscheln würden als „auffallende" Ver-
unstaltungen zu qualificiren sein.
Die Verletzungen des äusseren Gehörganges werden entweder durch ein-
dringende Fremdkörper oder Verletzungswerkzeuge direct erzeugt, oder sie
entstehen indirect durch Fall, Stoss, Schlag auf den Unterkiefer, wodurch
Fracturen der vorderen Wand des knöchernen Gehörganges zu Stande kommen.
Die Fremdkörper im Ohre, nicht immer durch die eigene, sondern auch
durch fremde Hand eingeführt, beanspruchen einiges forensisches Interesse.
Es ist einmal die häufigste Art zur absichtlichen Erzeugung von Ohrenflüssen,
eine beliebte Simulation, um vom Militärdienste loszukommen, dann aber auch
eine besonders raffinirte Tödtungsart. Mokison, Rau, Osiander, Taylor und
Seydeler theilen Fälle von Morden durch Eingiessen von geschmolzenem
Blei ins Ohr mit, Trautmann sah schwere eitrige Entzündung entstehen nach
Einlegen von Kreosotwatte ins Ohr behufs Stillung von Zahnschmerzen.
Zufällig oder absichtlich ins Ohr gelangte Fremdkörper werden wegen
der hochgradigen örtlichen Entzündung, die leicht aufs Mittelohr und schliess-
lich selbst aufs innere Ohr übergreifen kann, gefährlich. Anderseits können
freilich auch eingedrungene Fremdkörper als unschädliche Ohrsteine Jahre und
Jahrzehnte ohne wesentliche Nachtheile im Gehörgang liegen bleiben. Man fand
da schon Bohnen, Erbsen, Hafergrannen, Kirschkerne, Kaffeebohnen, Pfeffer-
körner, Glasperlen, Zähne, Knochenstücke, Korallen, kleine Steine, Elfenbein-
knöpfe, Schieferstifte und viele andere Dinge. Ein Recrut hat sich zur Vor-
täuschung eines stinkenden Ausflusses wiederholt Käse mit Eigelb ins Ohr
gestopft (Trautmann).
Trommelfellverletzungen werden entweder gleichfalls direct durch
eindringende Körper oder Werkzeuge, namentlich spitze, wie Nadeln u. dgl.,
bedingt, oder sie entstehen indirect durch Gewalten, welche das äussere Ohr
selbst oder andere Theile des Schädels treffen. So kommen sie nicht allzu
selten als Begleiterscheinungen von Basisfracturen vor. Die Entstehung einer
Trommelfellzerreissung ist mit so grossem Schmerze verbunden, dass Menschen
manchmal davon ohnmächtig werden. Da die einfachen Fissuren oft in kurzer
Zeit heilen, kann man sie nur als an sich leichte Verletzungen betrachten,
welche jedoch nicht selten durch nachfolgende Infection länger dauernde Eite-
rungen und auch bleibende Hörbeeinträchtigungen zur Folge haben. So
können allerdings selbst durch Ohrfeigen, die indirecte Trommelfellrupturen.
61*
964 VERLETZUNGEN.
erzeugt hatten, wie es infolge strarker Compression der Luft im Gehörgang
manchmal vorkommt, in weiterer Folge schwere Erkrankungen des Ohres und
selbst Gefährdungen des Lebens bewirkt werden.
Es treten aber schwere und bleibende Folgen thatsächlich viel seltener
ein, als sie behauptet werden. Die Simulation von einseitiger Taubheit nach
Ohrfeigen, Faustschlägen u. dgl. in der Regel doch leichten Beschädigungen
ist geradezu sehr häufig. (Vergl. Simulationen.)
Auch das Mittelohr kann direct vom äusseren Gehörgang aus durch das
Trommelfell, sowie vom Nasenrachenraum durch die Ohrtrompete verletzt
werden. Grosse Gefahren bringen eingedrungene Fremdkörper. Die Mittel-
ohrentzündungen und -Eiterungen bedingen Zeit ihres Bestandes Lebens-
gefahr wegen des leichten Uebergreifens der Eiterung auf den Sinus petrosus
(Sinusthrombose) oder auf die Meningen.
Der schallempfindende Apparat kann nach seiner geschützten Lage immer
nur mittelbar beschädigt werden. Heftige Erschütterungen des Schädels oder
Schläge hinter das Ohr sind Gewalteinwirkungen, welche ihn verletzen und
Taubheit bewirken können. Die doppelseitige Taubheit ist aber auch schon
vorgetäuscht worden. (Vergl. Simulationen.)
Die übrigen Sinnesorgane geniessen nicht den Schutz der Strafgesetze.
Keines derselben berücksichtigt den Verlust des Geruchs oder Geschmaks als
einer besonderen Verletzungsfolge. Die forensische Medicin hat daher auch
keine Veranlassung, auf die Beschädigungen dieser Sinne, die auch wenig
bekannt sind, einzugehen.
h) Verletzungen des Halses.
Schläge, Stösse, Tritte und andere stumpfe Gewalten vermögen nach
Fischer auch ohne sonstige Beschädigungen, bloss auf dem Wege der
Erschütterung des nervenreichen Kehlkopfes reflectorisch Tod durch Shock
oder Glottiskrampf zu erzeugen (Commotio laryngis), oder Erschütterungen
des Halsmarkes hervorzurufen.
Die Wunden des Halses, seien es Stich-, Schnitt-, Hieb-, Schuss oder
was allerdings am Halse seltener vorkommt, Quetsch- und Risswunden, sind
im Allgemeinen wegen der vielen wichtigen und wenig geschützten Halsorgane
meist sehr gefährlich; sie bedingen oft Lebensgefahr und führen nicht selten
den Tod herbei. Zu den gefährlichsten, meist tödtlich verlaufenden gehören
die Gefässwunden, ferner die Wunden des Kehlkopfes und der Luftröhre,
welche meist Erstickungsgefahr durch Blutaspiration oder Schluckpneumonie
bedingen, dann die Wunden der Nerven. Was Verletzungen des Vagus,
Sympathicus, Laryngeus superior und Recurrens bedeuten, ist allgemein be-
kannt. Stechende Werkzeugö und Projectile von Schusswaffen können auch
bis in den Wirbelcanal vordringen und das Halsmark verletzen. Meist sofor-
tiger Tod wird durch Verletzung des verlängerten Markes hervorgerufen,
welches vom Genick aus für Stichwerkzeuge nicht unschwer zu erreichen ist
(Genickfang). Nicht tödtlich endende Fälle von Verletzung des obersten Hals-
markes, wie V. Hofmann einen beschreibt, sind seltenste Ausnahmen.
Fast gleich gefährlich sind Brüche des Zungenbeines, des Kehlkopfes,
der Luftröhrenknorpel und der Halswirbelsäule, welche durch Würgen,
Drosseln und stumpfe Gewalten aller Art entstehen. Die Zungenbein- und
Kehlkopfbrüche sind hauptsächlich wegen der durch die Verschiebung der
Bruchenden, die Quetschungen der anliegenden Theile, das Glottisödem und
das meist bald hinzutretende Emphysem der Weichtheile des Halses hervor-
gerufenen acuten Erstickungsgefahr sehr gefährlich, v. Hofmann gibt die Zahl
der Todesfälle nach Kehlkopf brüchen mit 80 7o an. Isolirte Zerreissungen der
Luftröhre gehören wohl zu den sehr seltenen Verletzungen; vereint mit
anderen schweren Verletzungen bis zum vollkommenen Abreissen (Quer- und
VERLETZUNGEN. 965
Längsrisse) habe ich wiederholt, aber stets nur bei tödtlich gewordenen Fällen
beobachtet. Lauenstein beschreibt einen Fall von Heilung eines wahrschein-
lichen Querrisses der Trachea nach Hufschlag.
Durch plötzliche Gewalteinwirkungen auf den Hinterkopf, wie Fall,
Niederdrücken des Kopfes oder Aufheben des Körpers durch Anfassen am
Kopfe, Zerren an den Haaren und plötzliche Drehungen können Verren-
kungen, namentlich der obersten Halswirbel-Gelenke, erzeugt werden, und
zwar doppelseitige, einseitige und unvollständige. Meist zur Heilung gelangen
die Subluxationen, schon viel gefährlicher sind die unilateralen und fast immer
tödtlich die bilateralen Luxationen des Kopfgelenkes.
c) Brustverletzungen.
Ab und zu rufen stumpfe Gewalten, welche die vordere Brustgegend,
namentlich die Herzgrube getroffen haben, wahrscheinlich durch Uebererregung
von Vagusenden ohne Verletzung der Brusteingeweide, reflectorisch Herzstill-
stand (Shock) hervor.
Viel häufiger veranlassen die schweren stumpfen' Gewalten, wie
Ueberfahren, Absturz, Verschüttung, Auffallen schwerer Lasten Knochen-
brüche und Organ rupturen. Erstere sind nicht selten in mehrfacher
Zahl vorhanden, wenn es sich um schwere Traumen handelt. Man findet dann
die Thoraxwand einseitig oder beiderseitig eingedrückt, alle oder einen grossen
Theil der Rippen einer oder beider Seiten, einfach oder mehrfach, mit und
ohne Zerreissung der Pleura gebrochen. Ebenso sind nicht selten Brustbein-
und Schlüsselbeinbrüche, desgleichen Brüche der Brustwirbelsäule. Je nach
der Grösse der einwirkenden Gewalt, der Angriffsfläche und der Lage der
Angriffsstelle kommen diese Brüche einzeln oder in mehrfacher Zahl vor.
Durch allerschwerste Gewalten können selbst Berstungen der Brusthöhle und
Herausschleudern der abgerissenen Langen und des Herzens erzeugt werden.
Ich sah letzteres bei einem zwischen die Puffer schwer beladener Lastwagen
gerathenen Arbeiter; Casper, v. Hofmann und Fischer berichten gleichfalls
über Fälle von Abreissen und Herausschleudern des Herzens aus dem gebor-
stenen Thorax.
Aber auch ohne Eröffnung der Brusthöhle kommen Zerreissungen der
Organe zu Stande. Am häufigsten sind Verletzungen der Lungen bei compli-
cirten Piippenbrüchen, viel seltener Berstungen des Herzens oder der grossen
Gefässe. Bei Abgestürzten und Ueberfahrenen beobachtete ich auch Ab-
reissungen der Luftröhre, eines und beider Hauptbronchien und vollständige
Abreissung der Speiseröhre, eine wegen der geschützten Lage höchst seltene
Verletzung, sowie Ptuptur der Aorta.
Sind diese sehr schweren Beschädigungen, sowie die von mir auch schon
beobachtete gänzliche Zermalmung der Brustorgane immerhin selten, so
sind dagegen Quetschungen der Lungen oft genug zu beobachten. Die Lungen-
quetschung, meist oberflächlich unter der direct getroffenen Stelle gelegen,
ist durch Blutung charakterisirt. Es kommt zur Hämoptoe, entzündlicher
Verdichtung und blutiger Infiltration der verletzten Theile und ihrer Umge-
bung (Contusionspneumonie, Demuth). Es können sich aber nach Ver-
letzungen auch echte croupöse Lungenentzündungen entwickeln. Das Trauma
ist dann das auslösende Moment; es schafft einen Angriffspunkt (Locus minoris
resistentiae) für die in den unverletzten Luftwegen häufig genug vorhandenen,
latenten Entzündungserreger: Pneumococcen Friedländer, Fränkel- Weich-
selbaum; vergl. auch Diffen, Petit u. A. In selteneren Fällen kommen
die Contusionen der Lunge auch an Stellen zu Stande, welche von der An-
griffsstelle mehr weniger weit abliegen (indirecte Lungenquetschung). Es ge-
schieht dies, indem beim Zusammendrücken des Thorax Luft so gewaltsam in ab-
liegende Theile der Lungen eingepresst wird, dass daselbst das Gewebe einreisst.
966 VERLETZUNGEN.
Ziemlich grosse praktische Bedeutung haben die Verletzungen des
Rückenmarkes, welche entweder in Compressionen als Theilerscheinung von
Brüchen der Wirbelsäule oder in Contusionen des Markes und seiner Hüllen
bestehen. Die sog. Compressionsmyelitis mit ihren bekannten Folgen (Lähmung
der unteren Extremitäten, oft auch der Blase, des Mastdarms und der Becken-
muskulatur) führt sehr häufig zu chronischem Siechthum und Tod, meist nach
langer Krankheitsdauer. Günstiger ist die Vorhersage, wenn keine Ab-
quetschung des Markes stattfand, sondern die Compression durch Bluterguss
bedingt ist, weil es allmählich doch zur Aufsaugung des Blutes und dadurch
zum Rückgang der Erscheinungen, wenn auch nur selten zur vollständigen
Wiederherstellung kommt. Neben diesen gröberen anatomischen Veränderungen
gibt es aber auch eine Form der Rückenmarkserschütterung, welche
darin besteht, dass aus unscheinbaren, kleinen Läsionen (capillaren Hämor-
rhagien) oder erst gar nicht nachweisbaren, molekularen Verschiebungen
chronisch-entzündliche Processe (Meningo-Myelitis) entstehen, welche schwere
Functionsstörungen, namentlich Lähmungen sowie hysteroide, hypochondrische
und paralytische Zustände im Gefolge haben. Dieses oft vielgestaltige, aus
physischen und psychischen Symptomen zusammengesetzte Krankheitsbild wird
nach der häufigsten Ursache, den Eisenbahnuufällen, als „Eisenbahnlähmung'^
(Railway spine) bezeichnet (Erichsen, Erb, Riegler, Thomsen, Meynert,
Charcot, Vibert, Strümpell, Oppenheim u. A.). In neuester Zeit glaubt man,
dass selbst wirkliche multiple Sklerose aus Erschütterungen des Rückenmarkes
hervorgehen könne (Westphal u. A.).
Zahlreich sind Stich- und Schnittverletzungen der Brust. Sie
sind, wenn nur die äusseren Weichtheile treffend, in der Regel von 'geringer
Bedeutung. Bedenklich sind die meisten mit stärkeren Messern, Dolchen, Säbeln,
Stossdegen erzeugten Stichverletzungen der vorderen und seitlichen Brust-
wände wegen des verhältnismässig leichten Eindringens der Verletzungswerk-
zeuge in die Brusthöhle. Dadurch kommt es zu meist lebensgefährlichen
Beschädigungen des Herzens, der grossen Gefässe und der Lungen. Weniger
leicht entstehen penetrirende Stichverletzungen von der hinteren Thoraxwand
aus, wo der Schutz der Wirbelsäule und der Schulterblätter vorhanden ist,
obwohl auch dieser kein absoluter ist. Besonders gefährlich sind Stiche in
den Schlüsselbeingruben wegen der von hier aus ungeinein leicht zu er-
reichenden grossen Blutgefässe, deren Verletzung wohl unausbleiblich Ver-
blutungstod in wenigen Minuten bedingt. Oft verhütet nur das zufällige Auf-
treffen der Klinge auf eine Rippe, das Brustbein oder Schlüsselbein die sicht-
liche Lebensgefahr. Daher wird der Gerichtsarzt meist auch die an sich nur
leichten Bruststichwunden als mit einem gemeiniglich lebensgefährlichen
Werkzeuge und auf lebensgefährliche Art erzeugte Verletzungen zu bezeichnen
haben (§ 155 a österr. St.-G.).
Lungen Stichwunden bedingen Pneumothorax und Bluterguss. Da-
durch entsteht meist acute Lebensgefahr. Es hängt nur von der Zahl und
Grösse der getroffenen Gefässe ab, ob in kurzer Zeit Tod durch innere Ver-
blutung eintritt oder die Blutung beschränkt bleibt und nicht tödtlich wird.
Auch der Pneumothorax muss keineswegs unbedingt zum Tode führen, son-
dern kann durch Aufsaugung der Luft und Verschluss der Wunde zur Aus-
heilung kommen. Die Prognose ist ungleich günstiger, wenn die Lungen an-
gewachsen, als wenn sie frei wären. Das Gleiche gilt von den Schuss-
wunden der Lungen.
Die Stichwunden des Herzens gehören zu den allergefährlichsten,
in der Regel innerhalb weniger Augenblicke durch innere Verblutung oder
noch häufiger durch Herzdruck tödtlich verlaufenden Verletzungen. Ist nur
eine Herzwand eröffnet, wie es gewöhnlich geschieht, und erfolgt der Blut-
erguss nur in den Herzbeutel, dann füllt sich dieser rasch mit Blut, so dass
VERLETZUNGEN. 967
die Bewegungen des Herzens mechanisch durch Druck von aussen behindert
werden. Der Tod tritt dadurch früher ein, als es durch den Blutverlust ge-
schehen müsste. Wir finden dann in der Leiche auch keineswegs allgemeine
Blutleere der Organe und grossen Gefässe, wie beim wirklichen Verblutungs-
tod. Gleichwohl wäre die Vorstellung falsch, dass Herzstichwunden oder Stich-
wunden der grossen Gefässe sofortiges Zusammenstürzen oder augenblicklichen
Tod zur Folge hätten. Es ist sogar das Gegentheil häutig; Menschen führen
noch Bewegungen aus, klappen das Messer zusammen, gehen oder laufen noch
eine Strecke, bringen Kleider in Ordnung u. s. w.
Dieselben Folgen haben auch die Schusswunden des Herzens,
welche je nach ihrer Lage und Grösse in derselben Weise augenblicklich oder
erst nach einer, wenn auch meist sehr kurzen Zeit den Tod durch Herzdruck
oder innere Verblutung herbeiführen. Uebrigens enden keineswegs alle Herz-
wunden mit dem Tode, wie aus der interessanten Zusammenstellung von
Fischer hervorgeht, der unter 452 Fällen von Herzverletzungen 72 Fälle von
Heilung fand! Von diesen waren 36 durch Sectionen sichergestellt, 36 aus
Symptomen vermuthet; in 12 Fällen fanden sich Fremdkörper eingeheilt und
zwar sechsmal Nadeln, fünfmal Kugeln, einmal ein Dorn.
Verletzungen des Zwerchfelles kommen sowohl von aussen als
von innen zustande, u. z. durch alle Arten der Gewalteinwirkung. Durch
stumpfe Gewalten werden Abreissungen und Zerreissungen bewirkt; sind die
Zwerchfellrisse an der Kuppe und complet, so kommt es zu Verlagerung von
Unterleibseingeweiden in die Brusthöhle (Traumatische Zwerchfellhernien).
Stiche und Schüsse erzeugen Durchbohrungen, welche nicht selten in mehr-
facher Zahl bei einer einzigen Einwirkung entstehen. Es ist dies leicht ver-
ständlich aus der anatomischen Lage des Zwerchfells. Uebrigens können
mehrfache Stich- und selbst Schussverletzungen von einer einzigen Eingangs-
öffnung aus am Herzen und den Lungen zustande kommen, wenn nämlich
wiederholt durch dieselbe äussere Oeffnung aber in geänderter Richtung ge-
stochen oder geschossen wurde, was schon einigemale beobachtet worden ist
(v. Hofmann).
d) Verletzungen des Unterleibes.
1. Bauchorgane. Stumpfe Gewalten, welche den Unterleib, namentlich
die Magengegend oder die Gegend der Bauchgeflechte stark treffen, können
ebenfalls ohne Zerreissungen Shocktod hervorrufen. Stösse, Tritte, Schläge
und Fall auf den Unterleib sind solche Veranlassungen. Viel häufiger kommt
es durch solche Einwirkungen zu Organzerreissungen.
Unter diesen stehen obenan die Leberrupturen. Die Leber ist
infolge ihrer Lage, Grösse und ihrer Brüchigkeit das am meisten gefähr-
dete Organ., Von kleinen, oberflächlichen Kapselrissen bis zur völligen Zer-
trümmerung kommen alle Abstufungen vor. Häufig erfolgen die Einrisse und
Brüche an den natürlichen Furchen, es kann aber auch jede andere Stelle,
auf welche sich ein Stoss unmittelbar fortpflanzt, einreissen; es sind daher
namentlich auch die Ptisse der Oberfläche des rechten Leberlappens nicht
selten. Manchmal kommt es zu Abhebungen der Kapsel und mehr weniger
umfänglichen Blutungen unter dieselbe. Die so entstehenden Hämatome der
Leber werden hauptsächlich bei Neugeborenen als natürliche Folge schwerer
Geburten oder ungeschickter und gew^altsamer Eingriffe bei der Hilfeleistung
beobachtet. Die Leberrupturen tödten meistens durch innere Verblutung,
welche bei kleineren Zerreissungen oft erst nach mehreren Stunden eintritt.
Nur ganz kleine Kapselrisse und sehr oberflächliche Parenchymrisse können
möglicherweise heilen.
Etwas weniger häufig sind die Milzzerreissungen. Die Risse be-
finden sich auch hier vorwiegend auf der Unterseite des Organes. Milzrisse
968 VERLETZUNGEN.
kommen wohl niemals zur Heilung. Der Tod erfolgt gleichfalls durch Ver-
blutung.
Weit geschützter liegen die Nieren, welche infolge dessen auch sel-
tener zerreissen. Die Nierenrisse betreffen meist die Oberfläche und finden
sich nicht selten in mehrfacher Zahl oft als ganz feine Fissuren der Rinde
vor. Seltener sind Einrisse vom Hilus her und Verletzungen des Beckens.
Die durch Blutharnen schon während des Lebens sich bemerkbar machenden
Nierenzerreissungen sind gleichfalls nahezu ausnahmslos tödtlich, wenn nicht
durch Verblutung in kurzer Zeit, so durch Urämie, Nephritis und Abscess
im weiteren Verlaufe,
Zerreissungen des Magens, der Gedärme und Gekröse
habe ich ebenfalls wiederholt beobachtet, wenngleich sie seltener sind als
jene der drüsigen Organe. Magen und Gedärme zeigen mitunter unvoll-
ständige Einrisse der Schleimhaut oder des Bauchfellüberzuges. Im ersteren
Falle kann es zur Entwicklung von Magen- oder Darmgeschwüren kommen
(Leube, Duplay, Ritter, Chiari). Schleimhautrisse des Magens können
auch durch ungeschickte Magenspülungen erzeugt werden (Key-Aberg). Sind
Magen- und Darmwände ganz durchrissen, so tritt der infectiöse Inhalt in
den Bauchfellsack und erfolgt, wenn nicht sehr rasch chirurgische Hilfe zur
Hand ist, Tod durch Peritonitis. Einrisse des Gekröses und Abreissungen
desselben von der Wirbelsäule, wie ich es durch Schlag einer Mühlrad-
schaufel zustande kommen sah, tödten durch Verblutung.
Für die Stich- und Schussverletzungen der Bauchorgane gilt ganz das-
selbe. Sie bedingen immer Lebensgefahr und tödten ungemein häufig durch
Verblutung oder septische Infection. Die nur die Bauchwandungen betreffen-
den Stich-, Schnitt- und Schusswunden sind allerdings in der Regel an sich
leichte Verletzungen, sie werden jedoch wegen der besonders leicht möglichen
Perforation der Bauchdecken durch spitze, schneidende Werkzeuge und Schuss-
waffen meistentheils im Sinne des § 155 a österr. St.-G. als „auf gemeiniglich
lebensgefährliche Art unternommen" zu qualificiren sein.
2. Beckenorgane. Durch Einwirkung sehr grosser, stumpfer Gewalten
kommt es neben oft umfänglichen Quetschungen der äusseren Weichtheile
auch zu Brüchen des Beckens und der Lendenwirbelsäule. Diese werden
namentlich bei Abgestürzten, Verschütteten und Ueberfahrenen beobachtet. Die
Beckenbrüche erfolgen nicht selten in einer ganz typischen Art. Es wird die
Schamfuge und das Kreuzbein eingedrückt und gegen das Beckeninnere ver-
schoben. Dabei brechen die horizontalen Schambein- und die aufsteigenden
Sitzbeinäste sowie die Flügel des Kreuzbeines. An diesen Stellen laufen in der
Mehrzahl der Beckenbrüche die Bruchlinien hindurch. Infolge der Ver-
schiebung der Bruchenden kommt es gar nicht selten zu gleichzeitiger Zer-
reissung des häutigen Theiles der Harnröhre bis zur völligen Abreissung,
wohl auch zur Blasenruptur. Bei seitlicher Gewalteinwirkung sind Brüche
und ZerschmetteruDgen der Darmbeine gewöhnlich. Isolirte Rupturen der
Harnblase sind selten.
Mastdarmverletzungen kommen unabsichtlich durch ungeschickte
Hantirungen beim Klystiren, durch Einführung von Fremdkörpern für masturba-
torische und päderastische Zwecke, sowie durch päderastische Gewaltacte oft
in ausgebreiteter Weise zustande; Spontanrupturen des mit Meconium ge-
füllten Dickdarms sind bei Neugeborenen mit und ohne Atresia ani wieder-
holt beobachtet worden (Zillner, A. Paltauf, A. Ludev^ig). In seltenen
Fällen kommen auch absichtliche Verletzungen des Mastdarms vor. Be-
kannt ist, dass König Eduard IL von England durch Einstossen eines
glühenden Eisens in den Mastdarm getödtet wurde; v. Hofmann erzählt einen
Fall, in welchem einem Manne, der einem Bauernweibe nachgestiegen war.
VERLETZUNGEN. 969
von dem Gatten desselben unter Beihilfe mehrerer Anderen mit einem Steine
ein Holzpflock in den After eingetrieben worden ist.
Bezüglich der Hernien als Verletzungsfolge ist schon unter „Simu-
lationen" abgehandelt worden.
3. Geschlechtsorgane. Die männlichen Geschlechtsorgane sind
schon durch ihre Lage Verletzungen häufig ausgesetzt. Zerrungen, Quet-
schungen, Zerreissungen, aber auch Stich-, Schnitt-, Hieb- und Schussver-
letzungen kommen an den äusseren Geschlechtsorganen zur Beobachtung. In
forensischer Hinsicht sind die dadurch bedingten F'olgen, welche nicht selten
in Verlust des Zeugungsvermögens bestehen, beachtenswert.
In fahrlässiger Weise können Verletzungen des Penis mit schweren Folgen
durch die rituelle Beschneidung herbeigeführt werden. So wurde sogar Tuber-
kulose und Syphilis durch Verwendung unreiner Messer übertragen, sowäe
Erysipel und Gangrän erzeugt. Die Stich- und Schnittwunden des Penis sind
wegen der Blutungen aus den verletzten Schw^ellkörpern, sowie aus den grossen
Dorsalgefässen, besonders gefährlich.
Die weiblichen Geschlechtsorgane sind Verletzungen hauptsäch-
lich ausgesetzt durch mechanische Fruchtabtreibungsversuche. (Das Nähere siehe
Art. „Fruchtabtreibung" S. 267). Verletzungen der äusseren Genitalien
durch Fall, Stoss, Schlag, Stich, Schnitt können infolge der starken Blutungen
lebensgefährlich werden; es gilt dies insbesondere von den Verwundungen des
Kitzlers und der Wasserlefzen. Lebensgefährliche Blutungen sind auch schon
durch den ersten Beischlaf veranlasst w^orden. Die forensische Literatur kennt
auch Fälle von absichtlichen Verletzungen der weiblichen Genitalien durch
Schnitte und Stiche oder gewaltsames Eintreiben von Fremdkörpern in die
Scheide zum Zwecke der Tödtung. Fälle dieser Art führen Watton, Mitchel
Hill, Schauenstein und v. Maschka an. Ueber die Verschneidungen der
äusseren weiblichen Geschlechtstheile bei der religiösen Secte der Skopzen in
Russland berichtet Pelikan.
Ueber Scheiden- und Gebärmuttervorfälle als Folgen von Ver-
letzungen vergleiche man Art. „Simulationen" S. 708.
e) Verletzungen der Glied maassen.
Sie sind ungemein häufig; es finden sich alle Arten und alle Grade vor.
Für die gerichtliche Medicin und Unfallheilkunde liegt die Bedeutung der
Extremitätenverletzungen darin, ob dadurch der Gebrauch der Arme, Hände,
Beine oder Füsse zeitweilig oder dauernd beeinträchtigt oder ganz aufgehoben
wird. Die Dauer der Berufsunfähigkeit oder der Grad der dadurch bewirkten
verminderten Arbeitsfähigkeit sind die bei der Beurtheilung hauptsächlich in
Betracht kommenden forensischen Fragen.
Die Dignität der Verletzungen hängt in erster Linie davon ab, was ver-
letzt worden ist. Hautabschürfungen, kleinere Blutaustritte, Wunden der
Haut und des Zellgewebes sind meist leicht und heilen ohne bleibende Folgen.
Je tiefer eine Wunde in die Muskulatur eindringt, desto bedenklicher wird
sie, weil nicht selten die Heilung nur auf dem Wege der Eiterung erfolgt
und Muskelnarben oft wesentliche Beeinträchtigungen der Function des ver-
letzten Muskels herbeiführen. Sehnendurchtrennungen sind immer schw^ere
Verletzungen, welche ohne Sehnennaht überhaupt nicht heilen und auch im
letzteren Falle mitunter Beschränkungen der Brauchbarkeit herbeiführen
können, welche sogar dem Verluste einer Hand, eines Fingers oder eines
Fusses gleicherachtet w^erden müssen. Die Nervenwunden bedingen Be-
wegungs- und Gefühlslähmungen der vom verletzten Nerv versorgten Muskeln
und Hautgebiete. Sie können, wenn sie nicht zur Heilung gelangen, Muskel-
atrophie und dauernde Functionsstörungen begründen. Kunsthilfe, recht-
zeitig angewendet, vermag diese Folgen meist völlig abzuwenden. Gefäss-
970 VERLETZUNGEN.
wunden sind nach der Grösse des verletzten Gefässes zu beurtheilen. Durch-
schneidungen der Achsel- und Oberarmarterie, der Schenkelarterie und ihrer
ersten Zweige sowie Verletzungen der entsprechenden Venen führen, wenn
nicht sehr rasch Compressionen und Unterbindungen vorgenommen werden,
Tod durch Verblutung herbei. Auch durch Verletzungen der Vorderarm- und
Unterschenkel-, sowie selbst der Hohlhand- und Plattfussgefässe können lebens-
gefährliche und sogar tödtliche Blutungen entstehen.
Die Verletzungen der Gelenke sind entweder Wunden oder Ver-
renkungen. Beide Arten sind schwere Beschädigungen. Die Gelenkswunden
führen fast regelmässig zur Entzündung des Gelenkes mit nachfolgender
grösserer oder geringerer Bewegungsbeschränkung. Die Verrenkungen heilen
wohl, eine entsprechende chirurgische Hilfe vorausgesetzt, in der Regel nach
längerer Dauer vollständig.
Die Knochenbrüche, meist durch stumpfe Gewalten erzeugt, aber
auch durch Schuss- und Hiebwaffen hervorgerufen, sind stets als schwere Ver-
letzungen zu betrachten. In Bezug der durch Beinbrüche bedingten Gesund-
heits- und Berufsstörung bestehen natürlich wesentliche Unterschiede je nach
der Grösse und functionellen Bedeutung des gebrochenen Knochens sowie der
Art des Bruches. Mit Recht gefürchtet sind complicirte und Splitterbrüche.
Bei gewissen Gewalteinwirkungen, zu denen namentlich maschinelle und
durch Explosionen hervorgerufene gehören, kommt es zu Zertrümmerungen
und Abreissungen ganzer Körpertheile wie Finger, Hände, Arme und Beine.
Die Beurtheilung dieser sehr schweren Verletzungen ist meist leicht. Sie be-
gründen in der Regel den dauernden Verlust des verletzten Theiles.
in. Folgen der Verletzungen.
So vielfach die Verletzungsfolgen strafrechtlich und civilrechtlich ab-
gestuft sind, können sie vom ärztlichen Standpunkte doch zunächst in zwei
Gruppen untergetheilt werden, in die tödtlichen und die nicht tödtlichen Ver-
letzungen.
A. Tödtliche Verletzungen.
Im Gegensatze zu einer früheren Zeit, welche die Tödtlichkeit eine
Verwundung nach der Wahrscheinlichkeit beurtheilte, mit welcher diese den
Tod herbeiführen würde, nimmt die forensische Medicin heute den einzig
richtigen Standpunkt ein, nur den wirklich eingetretenen und nicht den
möglicher Weise zu erwartenden Erfolg zu bezeichnen; der Gerichtsarzt hat
keine Prognose zu stellen, sondern sich nur auf Thatsachen zu stützen. Das
ist der leider noch nicht im vollen Umfang gewürdigte allgemeine Grundsatz,
welcher allen forensischen Urtheilen zu Grunde gelegt werden muss. Es ist
daher eine tödtliche Verletzung diejenige, welche den Tod eines
Menschen thatsächlich herbeigeführt hat, nicht aber diejenige, welche
ihn möglicherweise oder wahrscheinlich veranlassen wird. Der Erfolg muss
bereits eingetreten, nicht erst zu erwarten sein.
Die gerichtsärztlichen Aufgaben bei der Beurtheilung tödtlicher Ver-
letzungen sind in folgenden Bestimmungen zusammengefasst:
Oesterr. Str.-P.-O. § 129: Das Gutachten hat sich darüber auszusprechen, was in
dem vorliegenden Falle die den eingetretenen Tod zunächst bewirkende Ursache gewesen
und wodurch dieselbe erzeugt worden sei.
„Werden Verletzungen wahrgenommen, so ist insbesondere zu erörtern:
1. Ob dieselben dem Verstorbenen durch die Handlung eines Andern zugefügt
wurden, und falls diese Frage bejaht wird.
2. ob diese Handlung a) schon ihrer allgemeinen Natur wegen,
h) vermöge der eigenthümlichen persönlichen Beschaffenheit oder eines besonderen
Zustandes des Verletzten,
f) wegen der zufälligen Umstände, unter welchen sie verübt wurde, oder
d) vermöge zufällig hinzugekommener, jedoch durch sie veranlasster oder aber aus
ihr entstandener Zwischenursachen den Tod herbeigeführt habe, und ob endlich
VERLETZUNGEN. 971
e) der Tod durch rechtzeitige und zweckmässige Hilfe hätte abgewendet werden
können."
Deutsches Eegulativ für gerichtliche Leichenuntersuchungen § 29: „Auf jeden Fall
ist das Gutachten zuerst auf die Todesursache, und zwar nach Maassgabe desjenigen, was
sich aus dem objectiven Befunde ergibt, nächstdem aber auf die Frage der verbrecherischen
Veranlassung zu richten".
Aus diesen Bestimmuügen geht hervor, dass der Gerichtsarzt dreierlei
zu erörtern hat:
1. Die nächste Todesursache; 2. den ursächlichen Zusammen-
hang; 3. die Entstehungsart der tödtlichen Verletzung.
a) Die nächste Todesursache.
Verletzungen können in sehr verschiedener Weise den Tod veranlassen.
Wir unterscheiden unmittelbare und mittelbare Todesveranlassungen. Im
Folgenden habe ich ein Schema aller traumatischen Todesursachen zusammen-
gestellt. Die Aufgabe der Leichenuntersuchung besteht in erster Linie darin,
festzustellen, wodurch der Tod des Verletzten zunächst veranlasst wurde.
Stets wird eine der folgenden Todesarten vorhanden sein.
Schema der traumatischen nächsten Todesursachen.
Unmittelbare (directe):
1. Verblutung (innere oder äussere).
2. Erstickung (durch Pneumothorax, Blutaspiration, Compression der
Lungen, Fettembolie, Luftembolie).
3. Beschädigungen lebenswichtiger Organe:
Des Gehirnes (Gehirn Zertrümmerung, Hirndruck),
dös Rückenmarkes (Rückenmarkszerquetschung),
der Lungen (Lungenzerreissung),
des Herzens (Herzzertrümmerung, Herzdrnck).
4. Gehirnerschütterung \ u x • i. -r, e ^
r- Ol, 1/11 • T^T u" e ^^ ohne anatomischen Befund,
o. Shock (allgemeine Nervenerschopfung)/ jj>^iuix«.
Mittelbare (indirecte):
6. Entzündungen:
Der Hirnhäute — Meningitis — (Hirnhautentzündung),
des Gehirnes — Encephalitis — (Gehirnentzündung, -Abscess),
des Rippenfells — Pleuritis — (Rippenfellentzündung),
der Lungen — Pneumonie — (Lungenentzündung),
des Herzbeutels — Pericarditis — (Herzbeutelentzündung),
des Herzens — Myo- und Endocarditis — (Herzfleischentzündung),
des Bauchfells — Peritonitis — (Bauchfellentzündung),
der Nieren — Nephritis, Pyelitis — (Nierenentzündung, -Abscess, -Ver-
eiterung),
des Zellgewebes — Phlegmone — (Zellgewebsentzündung).
7. Wundinf ectionen:
Erysipel — (Wundrothlauf),
Wunddiphtberie (Hospitalbrand),
Tetanus — (Starrkrampf),
Sepsis — (Blutvergiftung),
Pyämie — (Eitervergiftung).
8. Intoxicationen:
Urämie — (Harnvergiftung, Harnverhaltung),
Diabetes — (Zuckerharnruhr).
9. Erschöpfung (Marasmus).
Eine nähere Erläuterung dieses Schemas erscheint umsoweniger noth-
wendig, als die Diagnostik der hier aufgeführten, mittelbaren Todesursachen ganz
in den Bereich der pathologischen Anatomie fällt, die primären nächsten Todes-
veranlassungen aber schon an anderen Stellen erörtert worden sind. (Vergl.
Art. Verletzungen 1. Theil, „Todesarten," „Traumatische Krank-
heiten".)
b) Der ursächliche Zusammenhang.
Um festzustellen, ob die erhobene Todesursache thatsächlich durch eine
vorgefundene Verletzung veranlasst worden sei, ist zweierlei nothwendig.
972 VERLETZUNGEN.
erstens der Nachweis, dass die Verletzungen dem Verstorbenen während des
Lebens beigebracht wurden, zweitens die Ausschliessung jeder anderen Todes-
veranlassung.
1. Die Unterscheidung vitaler und postmortaler Ver-
letzungen ist von grösster Bedeutung. Durchaus nicht alle an einer
Leiche vorgefundenen Beschädigungen rühren von Einwirkungen während des
Lebens her, vielmehr gibt es recht zahlreiche Veranlassungen für das Zustande-
kommen von Beschädigungen der Leichen. Diese können nur allzuleicht für
intravital entstandene Verletzungen gehalten werden. Postmortale Ver-
letzungen finden sich besonders häufig bei Wasserleichen, bei den Leichen
weggeworfener, neugeborener Kinder, bei im Freien liegenden Leichen infolge
von Benagungen durch Thiere, sowie bei Leichen, die mehrfach hin und her
geschafft oder gewaltsam gezerrt worden sind. Namentlich kommen in den
Anatomien Muskelzerreissungen durch gewaltsames Strecken todtenstarrer
Glieder, dann Knochenbrüche bei alten Leuten, Brüche der Halswirbelsäule
beim Ueberstrecken des Kopfes zustande. Leichenbeschädigungen werden
auch absichtlich zum Zwecke von Täuschungen ausgeführt, wie das Legen
eines Ermordeten auf Eisenbahnschienen, um eine Verunglückung wahrschein-
lich zu machen u. dgl. Endlich wurden mitunter Leichnamen zufällige Ver-
letzungen beigebracht, die bezüglich ihrer Entstehung falsch beurtheilt, schwere
Rechtsirrthümer veranlassten. Lehrreich sind in dieser Hinsicht die von
V. Maschka und Späth mitgetheilten Fälle, wo Leichen von Verunglückten
und Selbstmördern, die am Feld oder im Wald lagen, von Jägern angeschossen
worden sind. Der Befund von gehacktem Blei im Schädel hatte die Gerichts-
ärzte zur Annahme einer Tödtung durch Schuss veranlasst.
Bei plötzlichem (natürlichen) Tod kommt es nicht selten infolge des
Zusammenstürzens und Anschlagens des Körpers zu allerlei Verletzungen,
w^elche gewissermaassen den Uebergang von den intravitalen zu den postmor-
talen bilden. Diese agonalen Verletzungen tragen in der Regel die
Merkmale der vital entstandenen an sich; es können dieselben, namentlich
Blutaustritte, aber auch fehlen (A. Paltauf). An solchen agonalen Verletzungen
wurden nebst leichteren Quetschungen, Blut unterlaufungen, Risswunden am
Kopfe, namentlich am Hinterkopf, der Stirne, den Schläfen und der Scheitel-
höckergegend auch schon schwere vorgefunden. So Nasenbein- und Joch-
bogenbrüche, Brüche von Zähnen, Armbrüche, Brüche und Diastasen von
Schädelknochen und Brüche der Halswirbelsäule. Die letztgenannten Ver-
letzungen kommen namentlich dann leicht zustande, wenn auf Stiegen,
Leitern oder überhaupt erhöhten Stellen stehende Personen vom plötzlichen
Tode ereilt werden und „im Tode abstürzen."
Eine besonders erwähnenswerte Mittelstufe zwischen den Verletzungen
Lebender und Leichen sind die bei Wiederbelebungsversuchen theils that-
sächlich schon postmortal theils noch intravital erzeugten oberflächlichen Be-
schädigungen der Haut durch die angewendeten starken Reize und sonstigen
Eingriffe. Es gehören dahin vor allem die durch Reibungen, Bürsten, Sina-
pismen hervorgerufenen Hautabschürfungen, die sich an den Leichen infolge
der postmortalen Vertrocknung der epidermislosen Stellen als lederartige,
gelbe und braune Flecke und Streifen darstellen. Durch das noch hie und
da angewendete Aufträufeln von brennendem Siegellack entstehen ähnlich aus-
sehende Verbrennungsschwarten und -blasen. Die durch Aethereinspritzungen
bewirkten, mitunter bis thalergrossen, rundlichen, bleichgrauen, oft von einem
blassrothen Saum umgebenen Veränderungen der Haut und des Unterhaut-
zellgewebes, das beim Einschneiden wie gekocht aussieht, sind ebenfalls
schon mit Verbrennungen verwechselt, oder für Suffusionen gehalten worden.
Letzteres ist umso leichter möglich, als ja thatsächlich mitunter eine vom
Einstich herrührende Blutaustretung vorhanden ist. Man hat stets nach der
VERLETZUNGEN. 973
nicht selten excentrisch gelegenen kleinen Stichöffnung zu suchen, durch deren
Auffinden wohl die richtige Erklärung des Befundes immer gegeben ist.
Kennzeichen vitaler Verletzungen sind die Klaffang, die Blutung,
die Unterlaufung, die Schwellung und die Entzündung. Ganz unzweifelhaft
und leicht als intravital entstanden können solche Verletzungen erkannt
werden, welche einige Zeit vor dem Tode erzeugt wurden. An diesen sind
immer Veränderungen wahrnehmbar, welche nur während des Lebens zu-
stande kommen, wie Schwellung und Verfärbung bei einfachen Quetschungen,
Borkenbildung bei Hautabschürfungen, bei Wunden Secrete mit und ohne
Verklebung, Fleischwärzchen, Eiter, Jauche. Schwierig kann daher nur die
Erkennung von unmittelbar vor dem Tode entstandenen Verletzungen werden.
Bei diesen ist häufig selbst die rasch eintretende reactive Hyperämie und
Schwellung nicht mehr zur Entwicklung gelangt und es können nur drei
Merkmale dem Urtheile zu Grunde gelegt werden, die Retraction (Klaffung),
die Blutung und die Suffusion.
Nach den Untersuchungen von F. Falk, Aeby, Steassmann und Schulz
muss die schon von Casper hervorgehobene Erscheinung, dass an der Leiche
sowohl Weichtheile wie Knochen namentlich gegen stumpfe Gewalten viel
grössere Widerstandsfähigkeit zeigen, als dies im Leben der Fall ist, für eine
Thatsache angesehen werden. Es folgt daraus, dass unter gleichen Bedin-
gungen postmortale Verletzungen schwerer entstehen, als intravitale; die leben-
den Gewebe sind leichter verletzbar, als die todten. Die Erklärung für diese
Erscheinung, von deren Bestand man sich bei jeder Leichenöffnung zu über-
zeugen Gelegenheit hat, glaube ich in der grösseren Spannung des lebenden
Gewebes, im Turgor vitalis zu sehen. Wird der Zusammenhang durch eine
Verletzung aufgehoben, so ist die dadurch bewirkte Entspannung beim leben-
den Gewebe umsoviel grösser, als die Spannung höher war, wie beim todten
Gewebe; das lebende Gewebe zieht sich daher nach der Durchtrennung stärker
zusammen. Infolge dessen muss die Klaffung der Wundränder grösser sein.
Zu dieser physikalischen (passiven) Retraction kommt noch bei vielen Geweben
die physiologische (active) Retraction, die durch contractile Elemente, wie die
Muskelzellen und elastischen Fasern bewirkt wird. Diese physiologische Re-
traction äussert sich besonders stark bei Verletzungen von Muskeln. Nachdem
die Lebensfähigkeit der Muskelzellen erst einige Zeit nach dem Tode erlischt,
so ist es selbstverständlich, dass eine höhere, stärkere Zusammenziehung auch
noch dann erfolgt, wenn Muskeln bald nach dem Tode durchtrennt werden.
Auch die Todtenstarre bewirkt, wie Strassmanx und Schulz experimentell
gezeigt haben, stärkere Retraction.
Wenn demnach auch feststeht, dass gleiche Durchtrennungen lebender
und todter Gewebe eine ungleich grössere Klaffung der im Leben
erzeugten Wunde hervorbringen, so wird, weil die physiologische Retrac-
tion nicht zugleich mit der physikalischen im Momente des Todes erlischt,
sondern den Herzstillstand noch einige Zeit überdauert, die Grösse der Klaf-
fung einer Wunde nur mit einer gewissen Beschränkung für intravitale Ent-
stehung sprechen. Die praktische Erfahrung lehrt, dass gleichwohl der Unter-
schied sowohl bei äusseren Wunden, wie bei Verletzungen innerer Organe ein
recht augenfälliger und mitunter unverkennbarer ist.
Von weit grösserer Bedeutung für die Unterscheidung vitaler und post-
mortaler Verletzungen ist die Blutung. Diese erfolgt entweder nach aussen
oder nach innen zu in Körperhöhlen oder in das benachbarte Gewebe. Im
letzteren Falle entsteht eine Blutunterlaufung oder Suffusion.
Jede Verletzung lebenden Gewebes mit Ausnahme der epidermoidalen
Gebilde ist mit Blutung verbunden. Wir finden daher bei intravital ent-
standenen Wunden an der Leiche theils eingetrocknetes, theils geronnenes,
oft auch noch flüssiges Blut. Wird der Leiche eine Verletzung beigebracht,
974 VERLETZUNGEN.
SO tritt Stärkere Blutung nur dann ein, wenn mit Blut gefüllte grössere Ge-
fässe getroffen wurden. Die Hautgefässe sind an der Leiche wenigstens zum
grossen Theile blutleer. Schneidet man daher an höher gelegenen Hautstellen
ein, so blutet die Wunde in der Regel gar nicht. An abhängigen Stellen,
wo gesenktes Blut in den Haargelässen vorhanden ist (Todtenilecke), bluten
auch Leichenwunden. Desgleichen kann aus verletzten todten Organen,
namentlich aus blutreichen wie Leber, Milz, Lungen eine beträchtliche Menge
von Blut austreten, besonders wenn es flüssig ist.
Der Nachweis von Blutung ist daher für sich allein noch keineswegs
als ein untrügliches Kennzeichen der intravitalen Entstehung einer Wunde
anzusehen. Der Befund lässt diese Folgerung nur dann zu, wenn die Lage
der Wunde, die Tiefe derselben, die Beschaffenheit der verletzten Theile und
die Menge des ergossenen Blutes, über welche unter anderem auch die Be-
sudlung der Wäsche und Kleider Aufschluss gibt, derart sind, dass die An-
nahme einer Leichen Verletzung unmöglich wird. Es ist daher jede einzelne
Verletzung darauf hin zu untersuchen. Ist durch die Blutung der Tod ein-
getreten, so gibt noch der Befund der allgemeinen Anämie der Organe, welche
durch postmortale Verletzungen in diesem Grade nicht erzeugt werden kann,
einen wichtigen Anhaltspunkt für die Erklärung der Verletzung als einer
im Leben entstandenen.
Aus dem Umstände, ob das Blut in der Umgebung der Wunde ange-
trocknet ist, oder nicht, kann natürlich gar kein Schluss auf die Entstehung
während des Lebens gemacht werden, dagegen hat man mit Recht schon seit
alter Zeit auf die geronnene Beschaffenheit des Blutes im Bereiche von
Verletzungen Gewicht gelegt. Man war früher geneigt, dies für ein sicheres
Kennzeichen vitaler Verletzungen zu halten. Wir wissen nun heute, dass
auch Leichenblut gerinnt und können die Gerinnung nicht selten am Leichen-
tisch beobachten. Es kann daher auch aus postmortalen Verletzungen aus-
fliessendes Blut gerinnen. Blutgerinnsel in einer Wunde sind daher noch kein
verlässliches Merkmal der Wunderzeugung im Leben. Nachdem die Berührung
des Blutes mit der Luft die Gerinnung bekanntermaassen fördert, so findet
man bei offenen Wunden mitunter weit in das Innere erstreckte Gerinnungen
vor, z. B. bis ins Herz hinabreichende Gerinnsel von Wunden der grossen Hals-
gefässe aus. So massige Gerinnungen kommen postmortal wohl nicht zu-
stande. Diagnostische Bedeutung besitzen aber insbesondere die Blut-
gerinnungen in Extravasaten und Suffusionen. Allerdings hat sich aus Ver-
suchen ergeben (v. Hofmann), dass auch in postmortalen Suffusionen das
Blut gerinnt; allein derbe Gerinnungen, wie sie recht oft in der Umgebung
besonders gequetschter Wunden gefunden werden, kommen meiner Erfahrung
nach nur bei vitalen Verletzungen vor, wenngleich Schulz einen Unterschied
auch in dieser Beziehung nicht fand. Dass die Gerinnung häufig propor-
tionell ist der Zerstörung bezw. Veränderung der Gewebstheile, die mit dem
Bluterguss in Berührung kommen, wie es zuerst Seydel ausgesprochen hat,
scheint mir im Allgemeinen zuzutreffen. Damit hängt es auch zusammen,
dass bei scharfen Durchtrennungen (Schnitt- und Stichwunden) Blutaustretung
in der Umgebung gering ist, ja selbst ganz fehlt (namentlich bei innerer
Blutung, wo die Aussenwunde gar nicht vom Blut bespült wird), während bei
Quetschungen mit und ohne Durchtrennung der Haut meist dem Umfange
der Verletzung entsprechende Blutaustritte vorhanden sind. Das in die Maschen-
räume der Gew^ebe ergossene Blut ist geronnen.
Mit Recht wurde stets der Blut unterlau fung (Suffusion) die grösste
Bedeutung für die Diagnose vitaler Verletzungen beigemessen. Allerdings ist
auch die Verwertung dieses Befundes keine so ganz uneingeschränkte, wie
man früher glaubte, wo man annahm, Blutunterlaufung bedeute unter allen
VERLETZUNGEN. 975
Umständen intravitale, der Mangel einer solchen postmortale Entstehung
einer Verletzung.
Einmal kann bei zweifellos im Leben erzeugten Verletzungen die Blut-
austretung sehr gering sein, wohl auch vielleicht ab und zu ganz fehlen,
wenngleich letzteres viel seltener der Fall ist, als A. Paltauf („Ueber reac-
tionslose vitale Verletzungen") annimmt. Die Blutungen sind allerdings in
der Regel gering bei sehr schweren Verletzungen, welche ganz plötzlichen
Tod erzeugt haben, wie beim Ueberfahrenwerden durch die Eisenbahn, bei
Abstürzen, Verschüttungen, Abreissungen ganzer Körpertheile durch Maschinen
und Explosionen. Einen Fall von vollständigem Fehlen jeglicher Blutextra-
vasation bei derartigen Verletzungen habe ich jedoch nie beobachtet. Zwar
fehlt die Blutung, namentlich bei abgerissenen Körpertheilen, oft an der höchst-
gradig gequetschten Rissfläche selbst, allein in der Umgebung solcher an-
scheinend reactionsloser Verletzungen habe ich bei sorgfältiger Nachschau
irgend welche, mitunter gar nicht kleine Suffusionen, stets aufzufinden ver-
mocht.
Viel bedenklicher für die sichere Unterscheidung der vitalen und post-
mortalen Verletzungen ist die experimentell festgestellte Thatsache, dass an
Leichen erzeugte Wunden mitunter suffundirt werden können, wenn auch als
Regel angesehen werden muss, dass Sufiusionen an der Leiche nicht zustande
kommen, u. zw. aus zwei Gründen, einmal, weil in den getroffenen, peripheren
Theilen meist das Material zur Bildung von Blutaustritten — das Blut — fehlt,
und zweitens, weil dem austretenden Blute der Druck fehlt, welcher zur Ein-
treibung desselben in die verletzten Theile nothwendig ist.
Manchesmal können aber doch auch an Leichen die Bedingungen zur
Entstehung von Blutaustritten vorhanden sein. Es ist dies der Fall, wenn
das Leichenblut flüssig und daher leicht beweglich ist und eine an der Leiche
erzeugte Verletzung so liegt, dass das flüssige Blut nach einfachen physika-
lischen Gesetzen dahin abfliessen muss. Bringt man daher erstickten Thieren
selbst erst nach Stunden Kopfverletzungen bei und hängt sie an den Füssen
auf, so werden die verletzten Theile suÖ'undirt, ja es können auf solche Art
selbst intracranielle Blutergüsse arteficiell und postmortal zustande gebracht
werden. Ob auch subepidermoidale Ecchymosen auf diese Art postmortal ent-
stehen können, wie zuerst Engel behauptet hat und v. Hofmann lehrte, darf
wohl, von vorgeschrittener Fäulnis abgesehen, mindestens als zweifelhaft be-
trachtet werden; richtig dagegen ist, dass schon vorhandene Blutaustritte an
abhängigen Körperpartien durch postmortale Nachsickerung sich vergrössern
können. Solche in der Leiche durch Blutsenkung vergrösserte Ecchymosen
sieht man sogar recht häufig bei Erstickten.
Ein für unsere Frage ins Gewicht fallender Befund kommt öfters bei
grösseren Blutaustritten durch die mitunter sehr rasch erfolgende Scheidung
der festen und flüssigen Antheile des Blutes zustande. Die flüssigen Blut-
bestandtheile durchfeuchten das umliegende Gewebe. Es entsteht in der Um-
gebung der Blutbeule eine seröse Infiltration, welche man früher unrichtig
als reactives Oedem bezeichnet oder auch als einen Lympherguss aufgefasst
hat (Lesser, Lavalee und Köhler); dieselbe ist aber, wie A. Paltaüf nach-
gewiesen, nichts anderes, als ein falsches Lymphextravasat, erzeugt durch
den Gerinnungsvorgang. Dieser Befund kommt wohl nur während des Lebens
zur vollen Ausbildung, muss daher als ein wertvolles Merkmal der intravitalen
Entstehung einer Verletzung angesprochen werden.
Aus alledem geht hervor, dass die Unterscheidung von intravi-
talen und postmortalen Verletzungen selbst an frischen Leichen
mitunter schwierig sein kann; es folgt aber auch, und die gerichtsärztliche
Erfahrung bestätigt es hundertfältig, dass diese Unterscheidung bei sorg-
fältiger Berücksichtigung aller erörterten Verhältnisse und sachgemässer Ver-
976 VERLETZUNGEN.
Wertung der Emzelerscheinungen in den allermeisten Fällen doch
ganz sicher gemacht werden kann. Hiebei ist die Blutung, bezw. der
Blutaustritt, nach wie vor der wichtigste, meist entscheidende Befund. Ist
man bei einer Suffusion im Zweifel, ob dieselbe intravital oder doch erst
postmortal entstanden ist — letzteres kann sogar während der Leichenöffnung
geschehen — so gibt die Prüfung, ob sich das Blut wegspülen lässt oder nicht,
einen sicheren Anhaltspunkt für die fragliche Entscheidung.
Wirklich schwierig, ja mitunter selbst ganz unmöglich kann der Nach-
w^eis intravitaler Entstehung einer Verletzung dann werden, wenn hochgradige
Leichenveränderungen vorliegen. Hieher gehört , vor allem die Fäulnisimbi-
bition und -Transsudation, die Auswässerung, die Leichenzerstückelung und die
Verbrennung. Aber selbst da gelingt es noch oft genug, die Diagnose zu
sichern. Begegnet man bei hochgradig faulen Leichen mit weit vorgeschrittener
Imbibition einer Austretung von geronnenem Blute, so kann man der intra-
vitalen Entstehung sicher sein. Bei erschlagenen und dann halb verbrannten
Leichen habe ich sogar die Blutextravasate besonders schön erhalten ge-
funden, obwohl die Untersuchung erst stattfand, nachdem die Leichen drei
Monate begraben waren (Kratter, „Ueber den Wert des Hämatoporphyrin-
spectrums für den forensischen Blutnachweis").
2. Die Ausschliessung anderer Todesursachen. Die gericht-
liche Medicin hat die bestimmte und nicht von der Hand zu weisende Aufgabe,
neben der Feststellung der unmittelbaren Todesveranlassung auch die Ursache
der tödtlichen Veränderung zu erforschen und darzulegen. Für ihre Zwecke ge-
nügt es nicht, was dem pathologischen Anatomen letztes Ziel ist, darzuthun, woran
jemand gestorben ist, sondern sie hat ausserdem den T o d als natürlichen
oder gewaltsam en zu erkennen. Ihre Aufgabe ist beispielsweise noch nicht
erfüllt, wenn erkannt wurde, dass ein Mensch an Gehirnhautentzündung,
Lungenentzündung oder Tuberkulose gestorben ist, sondern es muss noch er-
wiesen werden, ob diese Meningitis, Pneumonie oder Tuberkulose in natür-
lichen Ursachen begründet oder durch eine Verletzung veranlasst worden sind.
Beides ist objectiv möglich. Die Beispiele sind gerade wegen ihrer thatsäch-
lichen praktischen Wichtigkeit gewählt worden.
Der Zusammenhang von eitriger Meningitis mit Traumen ist oft genug
klar und unzweideutig, wenn mit Wunden verbundene Schädelbrüche die
Infection der Meningen durch von aussen eingedrungene Eitererreger veran-
lasst haben. Oft wird aber, namentlich bei Schulkindern, welche kurz vor
ihrer Erkrankung Züchtigungen erlitten haben, ein ursächlicher Zusammen-
hang zwischen der Hirnhautentzündung, der sie erlegen sind, und der Miss-
handlung, die oft nicht einmal den Kopf betroffen hat, behauptet. Das zeit-
liche Zusammenfallen der Misshandlung mit dem Beginn der Krankheit ist
gar kein Beweis für einen ursächlichen Zusammenhang. Ein solcher kann nur
dann als gegeben erachtet werden, wenn es eventuell durch eine forensisch-
bakteriologische Untersuchung gelingt darzuthun, dass die pyogene Infection
von einer äussern oder Innern Verletzung ausgegangen ist. Besonders wird
in diesen Fällen zu beachten sein, dass es genügend Möglichkeiten der natür-
lichen Entstehung von Meningitiden gibt, wie eitrige Mittelohrentzündung, Ent-
zündungen der Schleimhäute des Nasen-Rachenraumes und seiner Nebenhöhlen,
croupöse Pneumonie, die sich besonders bei jungen Individuen leicht mit Me-
ningitis vergesellschaftet. Ich konnte in einem Falle von behauptetefii Tod eines.
Schulkindes durch Misshandlung seitens der Lehrerin aus beobachteten That-
sachen den Beweis erbringen, dass nicht die Züchtigung die Ursache der Er-
krankung, sondern die bereits bestehende Erkrankung die Ursache der Züch-
tigung war.
Ein solcher Zusammenhang dürfte nicht vereinzelt sein. Der Fall lehrt
auch, dass der forensischen Beurtheilung ausschliesslich die Leichenbefunde
VERLETZUNGEN. 977
ZU Grunde zu legen, falsch ist. Aus diesen allein würde mancher Fall gar
nicht klargelegt werden können.
Ist als Todesursache eine Krankheit erkannt worden, welche zu ihrer
Entwicklung längere Zeit erforderte, dann muss insbesondere darauf geachtet
werden, wann die ersten Erscheinungen der tödtlich gewordenen Erkrankung,
z. B. einer Lungen- oder Rippenfellentzündung, aufgetreten sind. Es ist be-
greiflich, dass ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dieser und einer Miss-
handlung umso unwahrscheinlicher wird, ein je längerer Zeitraum von der
Verletzung bis zum Krankheitsausbruche verstrichen ist. Wundinfectionskrank-
heiteu können allerdings oft noch sehr spät auftreten, die Infection ist eben
so lange möglich, als die Wunde offen ist. Manche Infectionskrankheiten be-
sitzen eine lange Incubationsdauer, wie beispielsweise der Tetanus, bei dem
der Ausbruch der Krankheit acht, zehn ja selbst erst 14 Tage nach der In-
fection erfolgt. Traumatische Lungenentzündungen sind nicht allzu
selten. Der Zusammenhang ist dann meist leicht sicherzustellen, ja oft
recht in die Augen fallend, wenn es sich um eine aus Lungenquetschung
hervorgegangene, sog. Contusionspneumonie handelt. Oft ist aber der Zu-
sammenhang der Lungenentzündung mit einer Verletzung anatomisch nicht
oder schwer feststellbar, wenngleich ein solcher thatsächlich besteht. Die
lobulären, metastatischen Pneumonien, welche im Verlaufe von Pyämien auf-
treten, sind bekannt, der causale Zusammenhang meist wohl nachweisbar.
Dagegen ist schon das bekannte häufige Auftreten von hypostatischen Pneu-
monien nach Verletzungen oft peripherer Körperpartien schwerer verständlich.
Nicht selten treten sie nach Kopfverletzungen auf. Diese Pneumonien ver-
danken ihre Entstehung entweder der Aspiration von Mundflüssigkeiten in-
folge vorhandener Bewusstlosigkeit (Schluckpneumonie) oder sie müssen hypo-
thetisch aus neuroparalytischer Hyperämie der Lungen erklärt werden. Jeden-
falls muss gerade hier grosse Vorsicht angewendet werden, und ist keines-
wegs, wie es wohl öfters zu geschehen pflegt, eine zur Verletzung hinzu-
kommende, tödtlich gewordene Lungenentzündung immer als ein spontan und
unabhängig aufgetretener pathologischer Process zu betrachten.
Aehnliches gilt von der Tuberkulose, welche auch, wie heute nicht
mehr zu bezweifeln ist, traumatischen Ursprunges sein kann (P. Guder,
GßASSER, Lehmann, Eiselsberg u. A.). Wohl am häufigsten tritt Tuber-
kulose wiei die Pneumonie nach Brustverletzungen, namentlich penetrirenden,
auf. In der Regel findet sie sich dann als tuberkulöse Pleuritis. Jedenfalls
ist von ausschlaggebender Bedeutung der Nachweis, ob Tuberkulose schon
vor der Verletzung bestanden hat oder nicht. Im letzteren Falle ist die
Inoculation durch die Verletzung primär erfolgt, im ersteren, viel häufiger
vorkommenden Falle war die Verletzung die Gelegenheitsursache zur Aus-
breitung eines bereits bestehenden Krankheitsprocesses, der als „eigenthüm-
liche Leibesbeschaffenheit" forensisch gewürdigt werden müsste.
Vielfach wird auch die Entstehung von Krebs auf Traumen bezogen.
Wissenschaftlich ist ein solcher Zusammenhang zwar nicht völlig sichergestellt,
doch nach beobachteten Thatsachen auch keineswegs kurzweg abzuweisen.
Dass bei bestehender Carcinomatose Verletzungen zu Metastasen führen können,
ist sichergestellt. In solchen Fällen hätte das Gutachten gleichfalls auf „be-
sondere Leibesbeschaflenheit" zu erkennen.
Mitunter wird aber nicht eine Todesursache gefunden, sondern mehrere,
d. h. es werden mehrfache Veränderungen an einer Leiche nachgewiesen, deren
jede für sich hinreichend ist, den Tod zu erklären. In solchen Fällen ent-
steht die Frage nach der wirklichen nächsten Todesursache. Hierbei wird
immer zu entscheiden sein, welche der vorgefundenen Verletzungen vor der
andern den Tod nach sich ziehen musste, also thatsächlich veranlasst hat.
Ein Mensch wird aufgehängt gefunden. Bei demselben sind auch schwere
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. o^ •
978 VERLETZUNGEN.
Kopfhiebwunden vorhanden. Die Untersuchung ist darauf zu richten, ob der
Mann an der Schädelverletzung oder durch Erhängen gestorben ist. Im er-
stereu Falle ist der Todte aufgehängt worden, es liegt fremdes Verschulden
vor; im letzteren ist Selbstmord durch Erhängen nach einem verunglückten
ersten Versuch nahezu sicher anzunehmen. (Vgl. Art. Selbstmord S. 742). Dies
nannte Casper die Priorität der Todesart, während Skrzeczka dafür
die ebenfalls zutreffende Bezeichnung „concurrirende Todesursachen"
eingeführt hat.
Bei mehrfachen Verletzungen hat der Gerichtsarzt, um über die Priorität
der Todesart zu entscheiden, Folgendes klarzuste-llen:
1. welche der vorhandenen Verletzungen einen tödtlichen Charakter
besitzt;
2. ob die als tödtlich erkannten Verletzungen gleichzeitig oder in
welcher Folge sie zugefügt worden sind;
3. welche von ihnen vor den andern den Tod thatsächlich herbei-
geführt hat.
Zu 1 ist zu bemerken, dass die Auffassung des Gesetzes von jener der
gerichtlichen Medicin über den Begriff der tödtlichen Verletzung ab-
weicht. Wir verstehen unter tödtlicher Verletzung eine solche, welche den
Tod eines Menschen zur Folge hatte. Nach dieser Auffassung kann bei jeder
Leiche überhaupt nur eine tödtliche Verletzung vorhanden sein. Aus der
Fassung des § 143 österr. St.-G. und der maassgebenden Interpretation,
welche diese Gesetzesstelle erfahren hat, geht aber hervor, dass nach richter-
licher Auffassung darunter „nur eine solche verstanden wird, welche für sich
allein, nämlich unabhängig von den übrigen Verletzungen und Misshandlungen
den Tod herbeizuführen geeignet war" (Herbst). „Wenn eine Verletzung
diese Beschaffenheit hat, so kommt es," sagt Herbst, „weiter nicht darauf an,
ob der Tod wirklich aus ihr oder aus einer von einem andern Thäter zuge-
fügten, gleichfalls tödtlichen Verletzung hervorging." Es hat also in einem
solchen Falle der Arzt nicht nur eine Diagnose, sondern auch eine Prognose
zu stellen. Wie misslich und trügerisch Prognosen sind, ist bekannt. Gleich-
wohl muss dem Bedürfnisse der Rechtspflege Rechnung getragen werden und
kann der Gerichtsarzt die Beantwortung dieser Frage nicht ablehnen. Aus
der ärztlichen Erfahrung ist sie in der Regel doch nicht allzu schwierig zu
beantworten. Jemand hat einen Schädelbruch und eine Herz Stichwunde er-
halten. Es entspricht durchaus unseren Erfahrungen zu erklären, jede dieser
Verletzungen könne für sich allein den Tod eines Menschen bewirken. Wenn
aber jemand neben der Schädelzertrümmerung eine Stichwunde im Oberarm
erhalten hat, durch welche kein grösseres Blutgefäss verlezt wurde, so kann
dieser Stichverletzung der tödtliche Charakter nicht zugesprochen werden,
weil erfahrungsgemäss bei solchen Verletzungen nicht der Tod, sondern die
Heilung Regel ist. War aber bei dieser Armstichwunde auch die Arteria
brachialis durchschnitten worden, dann liegt eine Verletzung vor, welche bei
mangelnder ärztlicher Hilfe in der Regel den Tod herbeizuführen pflegt.
Die Aufeinanderfolge der einzelnen Verletzungen ist oft nicht
sicher zu bestimmen. Anhaltspunkte hiefür bieten die Reactionserscheinungen,
die bei der erst zugefügten Verletzung naturgemäss stärker sind, als bei den
späteren. Sind jedoch nicht auffallende Unterschiede, besonders in der Blutung
und Suffusion vorhanden, so hüte man sich vor allzu sicheren Aussprüchen.
Ist eine Entscheidung nicht sicher zu fällen, dann sage man das auch glatt
im Gutachten. Axgonale Verletzungen fallen oft durch die Geringfügigkeit der
Reactionserscheinungen auf. Die Reihenfolge der Verletzungen erhellt bei
Selbstmördern manchesmal auch aus der Ueberlegung, ob nach Erhalt der
einen noch eine Handlung zur Setzung der zweiten oder dritten Verletzung
ausführbar war. Ein Selbstmörder wird mit einem Kopf- und einem Herz-
VERLETZUNGEN. 979
schuss aufgefunden. Das Herz ist durchgeschossen, am Kopfe wird das breit-
geschlagene Projectil an der Glabella angetroffen. Es unterliegt keinem
Zweifel, dass der Ilerzschuss erst nach dem missglückten Kopfschuss abgegeben
wurde und nicht umgekehrt.
Die Frage endlich nach der unmittelbar tödtlich gewordenen
Verletzung wird nur unter Zugrundelegung der physiologischen Thatsachen über
die functionelle Bedeutung eines Organes oder Organtheiles und aus der
ärztlichen Erfahrung zu lösen sein. Hat jemand einen Stich in die Leber
und einen ins Herz bekommen, so ist zweifellos der Herzstich jener, welcher
den Tod zunächst veranlasst hat, w^eil der Verblutungstod rascher aus dem
eröffneten Herzen als durch Blutung aus dem Leberparenchym zustande
kommt; der Herzstich hat vor dem Leberstich den Tod herbeigeführt. Aehn-
liche Erwägungen ergeben sich aus der genauen Untersuchung mehrfach ver-
letzter Gehirne. Wir kennen heute schon ziemlich genau die Bedeutung der
einzelnen Hirntheile für das Leben; wir wissen, dass die centralen Theile
■eine viel grössere Wichtigkeit für das animale Leben besitzen, wie der Hirn-
mantel. Eine auch kleine Verletzung der ersteren führt ungleich rascher den
Tod herbei, als selbst ausgebreitete Beschädigungen der Peripherie. Am
schnellsten tödten Verletzungen der Brücke und des verlängerten Markes.
Es ergibt sich also, dass auch bei der Beurtheilung der Priorität der
Todesart nur die eingehendste Individualisirung, die sorgfältigste Analyse
aller Einzelerscheinungen, und nicht eine Schablone zum Ziele führen kann.
Trotz aller Sorgfalt wird mitunter die Frage überhaupt nicht gelöst werden
können und dann muss der Fall unentschieden gelassen, nicht aber, wie es
leider so häufig geschieht, eine sachlich unbegründete, willkürliche Lösung er-
zwungen werden.
c) Die Entsteh ungs Ursache.
Die Nöthwendigkeit, die Ursache der Entstehung einer tödtlichen Ver-
letzung zu erörtern, liegt auf der Hand, ist aber auch durch, gesetzliche Ver-
fügungen (§ 129 österr. St.-P.-O. und § 29 deutsches Regul. Vergl. oben)
dem Gerichtsarzte direct zur Pflicht gemacht. Es handelt sich hiebei in erster
Linie um die objective Feststellung, ob die Verletzung durch eigenes oder
fremdes Verschulden oder durch Zufall herbeigeführt wurde, ob demnach
Selbstmord, absichtliche oder fahrlässige Tödtung oder Verunglückung vorliegt.
Das Einschlägige ist bereits im Art. Todesarten, gewaltsame (S. 742) er-
örtert, auf welchen hiemit verwiesen wird.
Es erübrigt uns an dieser Stelle nur die Besprechung einiger beson-
deren Umstände, welche bei der forensischen Beurtheilung der Ent-
stehungsursache einer tödtlichen Verletzung ins Gewicht fallen.
Dahin gehören:
1. Die allgemeine Natur der Verletzung;
2. die persönliche Beschaffenheit des Verletzten;
3. die zufälligen Umstände, unter welchen die Verletzung verübt wurde;
4. die zufälligen Zwischenursachen, welche etwa den Tod herbeigeführt
haben;
5. ob der Tod hätte abgewendet werden können.
Die allgemeine Natur einer Verletzung ist nach ärztlichem
Sprachgebrauch vierfach abgestuft. Sie ist (an sich) entweder tödtlich, lebens-
gefährlich, schwer oder leicht. Ueber den Begriff der tödtlichen Verletzung
ist bereits oben gehandelt worden. Lebensgefährlich ist eine Verletzung,
welche zwar nicht unbedingt aber häufig den Tod nach sich zieht, schwer
eine solche, welche, ohne in der Regel den Tod herbeizuführen, doch wich-
tige Körpertheile oder Organe betrifft und bedeutendere Folgen verursacht,
leicht jede andere nicht in diese Kategorien fallende Verletzung. Aus jeder
Verletzung kann der Tod hervorgehen; es kann auch die an sich leichte, die
62*
980 VERLETZUNGEN.
schwere, die lebensgefätirliche Verletzung einen tödtlichen Ausgang nehmen.
Für den Richter ist es nun wichtig zu wissen, wie der ursprüngliche Charakter
der Verletzung, „ihre allgemeine Natur" war.
Die persönliche Beschaffenheit d es Verletzten ist oft aus-
schlaggebend für den Erfolg eines Traumas. Jemand erhält einen Stoss auf
die Brust; er stürzt zusammen und stirbt bald darauf. Die Obduction ergibt
Berstung eines Aortenaneurysmas. Es unterliegt keinem Zweifel, dass der so
schwere Erfolg lediglich durch „die eigenthümüche Leibesbeschaffenheit des
Verletzten" bedingt war. Wir haben schon im Vorangehenden wiederholt auf
solche Zusammenhänge hingewiesen. Während aber krankhafte Veränderungen
der Organe als eigenthümüche Leibesbeschaffenheit aufzufassen sind, gilt dies
nicht für die durch physiologische Veränderungen bedingte geringere Wider-
standsfähigkeit von Organen und Geweben. Die bekannte grössere Brüchigkeit
der Knochen im höheren Alter wäre daher nicht als dahin gehörend zu be-
trachten. Würde aber der tödtliche Erfolg etwa durch einen Ossifications-
defect oder durch eine erworbene Lücke im Knochen (Lues, Caries, Nekrose^
Operationsdefect) oder durch ungewöhnlichen Verlauf und Erkrankung eines
Blutgefässes oder durch einen anderen abnormalen Zustand (z. B. Extrauterin-
Schwangerschaft) bedingt worden sein, dann läge der strafrechtlich belang-
reiche Umstand der „eigenthümlichen Leibesbeschaffenheit" vor.
Die zufälligen Umstände, unter denen eine Verletzung beigebracht
wurde, sind für die strafrechtliche Qualification von sehr grosser Bedeutung.
Der Arzt hat mitunter auch die Frage zu erörtern, ob die tödtliche Ver-
letzung etwa nur einem vom Richter erhobenen Zufalle ihre Entstehung ver-
danke. Objectiv werden sich in der Regel wenig oder keine Anhaltspunkte
für die Unterscheidung von Zufall oder absichtlicher Handlung ergeben und
wird daher die Beurtheilung dieses Umstandes meist dem Richter zufallen.
Der Arzt hat dann lediglich die Frage zu beantworten, ob dieser oder jener
Hergang geeignet war, die tödtliche Verletzung herbeizuführen.
Die aus der Verletzung entstandenen zufälligen Zwischen-
ursachen, welche den Tod bedingt haben, zu beurtheilen, ist dagegen wieder
eine ausschliessliche Aufgabe des Gerichtsarztes. Es handelt sich hiebei vor-
wiegend um Infectionen, welche von einer Verletzung ausgehend, mittelbar
den Tod veranlasst haben. Bei einer Rauferei erlitt jemand leichte Kratz-
wunden im Gesichte, die er gar nicht weiter beachtet. Nach einigen Tagen
bekommt er Gesichtsrose, der er schliesslich erliegt. Hier ist der Tod aus
einer „zufälligen Zwischenursache," welche aber aus der Verletzung hervor-
ging, entstanden. Die Verletzung war die Eingangspforte für die zufällig
(ohne Verschulden des Thäters) hinzugekommenen Erysipelcoccen. So liegt
die Sache meistentheils bei den Wundinfectionen.
Die rechtzeitige und zweckmässige Hilfe, welche einem Ver-
letzten zu Theil wird, ist oft entscheidend für die Erhaltung des Lebens.
Billigerweise berücksichtigt der Gesetzgeber auch diesen Umstand, indem er
fragt, ob der Tod durch entsprechende Hilfeleistung hätte abgewendet werden
können. In vielen Fällen ist die Frage leicht und mit voller Bestimmtheit
bejahend oder verneinend zu beantworten. Es wurde ein Mensch auf dem
Dorfe in den Arm gestochen und hiebei die Armarterie verletzt. Ein Arzt ist
nicht zur Hand. Als dieser, zwar rasch herbeigeholt, einlangt, ist bereits Tod
durch Verblutung eingetreten. Man kann in diesem Falle sicher sagen, dass
der Tod leicht hätte abgewendet werden können. Gerade bei Blutungen ist
sehr häufig das bis zur Ankunft eines Arztes von den Laien eingeschlagene
Verfahren auch noch sehr unzweckmässig. Es werden mit Vorliebe Waschungen
und Umschläge mit kaltem Wasser angewendet, dadurch jede Gerinselbildung
in der Wunde verhindert und die Blutung in Gang erhalten. An lebens-
rettende Corapressionen denkt in der Regel niemand. Wohl kommt es auch
VERLETZUNGEN. 981
vor, dass zur Blutstillung Mittel angewendet werden, welche selbst wieder
grosse Gefahren nach sich ziehen können. So sind Spinneweben ein beliebtes,
oft angewendetes Blutstillungsmittel. Diese Fangnetze für allen Staub sind
beladen mit allen Arten von Bacterien; die schwersten, tödtlich verlaufenen
Infectionen habe ich als Folge dieses irrationellen Blutstillungsmittels der Volks-
medicin schon zu beobachten Gelegenheit gehabt. Erhielt der Mensch aber
einen Stich in die Leber, die Milz, das Herz, die Aorta, so kann wohl nicht
behauptet werden, dass auch eine rechtzeitige, also sofortige ärztliche Hilfe
den Tod würde abgewendet haben. Die Frage liegt für fast alle Verletzungs-
arten so klar, dass die Beantwortung in jedem Einzelfalle kaum einer Schwie-
rigkeit begegnet.
Welches Gewicht von richterlicher Seite auf die gerichtsärztliche Erör-
terung dieser „besonderen Umstände" gelegt wird, erhellt aus der Schluss-
bestimmung des § 129 österr. St.-P.-O. „Insoferne sich das Gutachten nicht
über alle für die Entscheidung erheblichen Umstände verbreitet, sind hierüber
von dem Untersuchungsrichter besondere Fragen an die Sachverständigen zu
stellen."
B. Nichttödtliclie Verletzungen.
Gesetzliche ßestimmiingen. Oesterreichisches Strafgesetzbuch.
§ 152. Wer gegen einen Menschen, zwar nicht in der Absicht, ihn zu tödten, jedoch
in anderer feindseliger Absicht auf eine solche Art handelt, dass daraus eine Gesundheits-
störung oder Berufsunfähigkeit von mindestens 20-tägiger Dauer, eine Geisteszerrüttung oder
eine schwere Verletzung desselben erfolgt, macht sich des Verbrechens der schweren
körperlichen Beschädigung schuldig.
§ 155. Wenn jedoch:
a) Die obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeug und auf
solche Art unternommen wird, womit gemeiniglich Lebensgefahr verbunden ist . . .
h) aus der Verletzung eine Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit von mindestens
50-tägiger Dauer entstand; oder
c) die Handlung mit besonderen Qualen für den Verletzten verbunden war; oder
d) der Angriff in verabredeter Verbindung mit anderen oder tückischer Weise ge-
schehen und daraus eine der im § 152 erwähnten Folgen entstanden ist; oder
e) die schwere Verletzung lebensgefährlich wurde; — so ist auf schweren Kerker
zwischen einem und fünf Jahren zu erkennen.
§ 156. Hat aber das Verlbrechen :
a) Für den Beschädigten den Verlust oder eine bleibende Schwächung der Sprache,
des Gesichtes oder des Gehörs, den Verlust der Zeugungsfähigkeit, eines Auges, Armes oder
«iner Hand oder eine andere auffallende Verstümmelung oder Verunstaltung; oder
Ti) immerwährendes Siechthum, eine unheilbare Krankheit oder eine Geisteszerrüttung
ohne Wahrscheinlichkeit der Wiederherstellung, oder
c) eine immerwährende Berufsunfähigkeit des Verletzten nach sich gezogen, so ist
die Strafe des schweren Kerkers zwischen 5 und 10 Jahren auszumessen.
§ 235. Handelt von der fahrlässigen schweren körperlichen Beschädigung =
Vergehen gegen die Sicherheit des Lebens.
§ 411. Vorsätzliche und die bei Raufhändeln vorkommenden körperlichen Beschädi-
gungen sind dann, wenn sich darin keine schwerer verpönte Handlung erkennen lässt
{§ 152), wenn sie aber wenigstens sichtbare Merkmale und Folgen nach sich gezogen haben,
als üebertretungen zu ahnden.
§. 412. Strafandrohung drei Tage bis sechs Monate Arrest.
Hieher gehören auch die §§. 413 — 421, betreffend die Misshandlungen bei häuslicher
Zucht seitens der Eltern, Vormünder, Gatten, Erzieher, Lehrer, Lehrherren und Gesinde-
hälter, begangen an Kindern, Mündeln, Ehegatten, Schülern, Lehrjnrigen und Dienstboten.
Deutsches Strafgesetz :
§. 223. Wer vorsätzlich einen Andern körperlich misshandelt oder an der Gesund-
heit beschädigt, wird wegen Körperverletzung mit Gefängnis bis zu drei Jahren oder
mit Geldstrafe bis zu .SOO Thalern bestraft.
§. 223 a. Ist die Körperverletzung mittels einer Waffe, insbesondere eines Messers
oder eines anderen gefährlichen Werkzeuges oder mittels eines hinterlistigen Ueberfalles
oder von mehreren gemeinschaftlich, oder mittels einer das Leben gefährdenden Handlung
begangen, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter zwei Monaten ein.
§. 224. Hat die Körperverletzung zur Folge, dass der Verletzte ein wichtiges Glied
•des Körpers, das Sehvermögen auf einem oder beiden Augen, das Gehör, die Sprache oder
die Zeugungsfähigkeit verliert, oder in erheblicher Weise dauernd entstellt wird oder in
982 VERLETZUNGEN.
Siechthum, Lähmung oder Geisteskrankheit verfällt, so ist auf Zuchthaus bis zu fünf Jahrem
oder Gefängnis nicht unter einem Jahr zu erkennen.
§. 227. Handelt von den durch eine Schlägerei oder gemeinsamen Angriff herbeige-
führten schweren Körperverletzungen (§ 224).
§. 230. Fahrlässige Körperverletzung.
§. 239. Die durch vorsätzliche und widerrechtliche Freiheitsentziehung herbeigeführte
schwere Körperverletzung.
§. 25t. Mit Zuchthaus wird bestraft, wenn bei dem Raube ein Mensch gemartert oder
durch die gegen ihn verübte Gewalt eine schwere Körperverletzung oder der Tod desselben
verursacht worden ist.
Aus dem Wortlaute der gesetzlichen Bestimmungen geht hervor, dass
der Gesetzgeber eine grössere Zahl bestimmter Verletzungsfolgen namhaft
gemacht hat, welche für den Richter die Merkmale einer abgestuften Straf-
zumessung darstellen. Diese gesetzlich festgelegten Folgen kommen auch für
den Gerichtsarzt besonders in Betracht; sie sind es, auf deren Bestand er
jeden einzelnen VerletzuDgsfall zu untersuchen hat.
Sowohl das deutsche wie das österreichische Strafgesetz berücksichtigen auch
das verletzende Werkzeug, indem die Verwendung eines „gemeiniglich lebens-
gefährlichen Werkzeuges" (§. 155 lit. a öster. St.-G.) „mittels einer Waffe, eines
Messers oder eines andern gefährlichen Werkzeuges" (deut. St.-G. § 223 a)
mit erhöhter Strafe belegt wird. Dieser strafrechtlichen Folge wegen fällt
auch die Beurtheilung der Verletzungswerkzeuge häufig dem Arzte zu, we-
nigstens in Oesterreich, wo er in jedem Falle zu bestimmen hat, ob „eine
obgleich an sich leichte Verletzung mit einem solchen Werkzeuge und auf
eine solche Art unternommen wurde, womit gemeiniglich Lebensgefahr ver-
bunden ist."
Bei der forensischen Beurtheilung einer Waffe oder eines an-
deren Werkzeuges kommt es auf zweierlei an: erstens auf die Beschaffen-
heit, zweites auf die Art und Weise des Gebrauches. Säbel, Schläger, Pisto-
len, Revolver, Beile, starke Messer u. dgl. sind im Allgemeinen geeignet,
tödtliche oder lebensgefährliche Verletzungen zu erzeugen, vorausgesetzt, dass
sie auch zweckmässig, d. h. so angewendet werden, wie es erforderlich ist,
um damit lebensgefährlich zu verletzen: Säbel und Schläger zum Hieb mit
der Schneide, Pistolen und Revolver zum Schiessen, Beile zum Hacken, Messer
zum Stechen, Steine zum Schlagen oder Werfen, Wäre eine Pistole statt mit t
Pulver zufällig mit Streusand geladen worden, so ist sie keine Schusswaffe, |
also kein lebensgefährliches Werkzeug mehr. Es ist dies auch der Schläger
des Studenten nicht, wenn die Paukanten durch entsprechende Bandagen
davor geschützt sind, lebensgefährliche Verletzungen davonzutragen. Wer
jemand mit flacher Klinge auf den Rücken schlägt, ein zugeklapptes Messer
oder einen gesperrten Revolver nachwirft, statt zu hauen, zu stechen oder
zu schiessen, der hat zwar an sich gefährliche Werkzeuge, jedoch nicht in ;
solcher Art verwendet, womit gemeiniglich, d. h. ;in der Regel Lebensgefahr \
verbunden ist. Ausser der Beschaffenheit des Werkzeuges und der Art des
Gebrauches kommt auch drittens die getroffene Körperstelle in Betracht.
Messerstiche am Kopfe sind wegen des Schutzes, den die knöcherne Schädel- i
kapsei gibt, ungleich weniger gefährlich als am Halse, der Brust und dem *
Unterleib; umgekehrt ist die Wirkung schwerer stumpfer Werkzeuge am
Kopfe viel gefährlicher als in anderen Körpergegenden.
Die Verletzungsfolgen sind theils vorübergehender Natur (heilbar), theils
fürs ganze weitere Leben andauernd (unheilbar).
Als vorübergehende Verletzungsfolgen sind namhaft gemacht:
a) die zeitliche Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit, abgestuft nach
mindestens 20-tägiger (§ 152 österr. St.-G.) und 30-tägiger Dauer (§ 155 b österr. St.-G.);
Beschädigung der Gesundheit (§ 223 deut. St.-G.) ohne gesetzlich festgelegte Zeitabstufung.
(Vergl. Art. Gesundheitsstörung S. 399).
b) Die (heilbare) Geisteszerrüttung.
VERLETZUNGEN. 983
c) Die ursprüngliche Schwere der Verletzung (an sich schwer) d. h. die Verletzung
eines functionell wichtigeren Theiles (grössere Blutgefässe, Nerven, Sehnen, Knochen, innere
Organe) ohne Rücksicht auf die Dauer der dadurch bewirkten Gesundheits- und Berufs-
störnng.
(/) Die besondere Schmerzhaftigkeit der Verletzung, d. h. eine Zufügungsart,
welche für den Verletzten ungewöhnliche Qualen im Gefolge hat (Quälerei § 155 c
österr. St.-G., § 251 deutsch. St.-G.).
e) Die Lebensgefahr, welche eine (an sich schwere) Verletzung thatsächlich her-
beigeführt hat (§ 155 e österr. St.-G.) oder die in der Handlung selbst gelegen war
(§ 223 a letzter Absatz deut. St.-G. „mittels einer das Leben gefährdenden Handlung be-
gangen").
Dauernde Verletzungsfolgen sind:
1. Verlust oder bleibende Seh wächung der Sprache (§ 155 a österr. St.-G.
§ 224 deut. St.-G.). Bleibende Sprachstörungen können durch Beschädigungen sehr ver-
schiedenartiger Organe bedingt werden; einmal durch schwere, unbehebbare Verletzungen
der zur Lautbildung nothwendigen Theile (Lippen, Zähne, Gaumen, Kehlkopf), dann
durch Beschädigungen der tonbildenden Apparate, also des Kehlkopfgehäuses, der Stimm-
bänder, Kehlkopf-Muskel und -Nerven iN. laryngeus sup. und inf., hypoglossus, glosso-
pharyngeus), endlich durch Verletzungen der sprachbildenden Theile des Gehirnes.
Es sind dies die Rindenfelder der dritten linken Stirnwindung (motorische Aphasie) und
der ersten Schläfenwindung (sensorielle Aphasie).
2. Verlust oder bleibende Schwächung des Gesichtes (§ 156a österr.
St.-G.); , Verlust des Sehvermögens auf einem oder beiden Augen" (§ 224 deut. St.-G.).
Es ist darunter selbstverständlich sowohl der physische als auch der functionelle Verlust
eines oder beider Augen zu verstehen. Das österr. Gesetz anerkennt im Gegensatz zum
deutschen mit Recht auch eine dauernde Herabsetzung des Sehvermögens (bleibende
Schwächung), ein Nachtheil, der unter Umständen viel schwerer wiegt, als der völlige Ver-
lust nur eines Auges. Dadurch ist auch eine Uebereinstimmung zwischen Strafgesetz und
Unfallversicherungsgesetz gegeben, welche im deutschen Reiche nicht besteht, denn eine
halbe Erblindung auf beiden Augen wird auch dort unbedingt als „theilweise Erwerbs-
unfähigkeit" anerkannt werden müssen.
3. Verlust oder bleibende Schwächung des Gehöres (§ 156a österr.
St.-G. § 224 deut. St.-G.). Auch das Hörvermögen kann durch periphere und centrale Ver-
letzungen beeinträchtigt oder ganz veiloren werden. Dem Wortlaute nach anerkennt
strafrechtlich das deutsche Gesetz auch nur den Verlust, nicht aber die bleibende Beein-
trächtigung des Gehörs.
4. Verlust der Zeugungsfähigkeit (Vergl. Art. Zeugungsfähigkeit S, 360).
5. Verlust eines Auges, Armes oder einer Hand. Die Beurtheilung dieser
Verlelzungsfolgen ist sehr leipht. Zunächst ist wohl der physische Verlust dieser Theile
gemeint; sinngemäss ist darunter aber auch die völlige Unbrauchbarkeit der genannten
Körpertheile, wenn sie auch nicht verloren gegangen sind, zu verstehen. Hier geht er-
freulicher Weise das deutsche Strafgesetz weiter, als das österreichische, indem es ganz
allgemein von Verlust eines wichtigen Gliedes spricht, worunter gewiss auch ein Fuss oder
ein Bein verstanden werden muss, welche in der österreichiechen Gesetzgebung keine Er-
wähnung finden.
6. Dauernde Entstellung (§. 224 deut. St.-G.) oder „eine auffallende Ver-
stümmlung oder Verunstaltung" (§. 156 a österr. St.-G.). Auf diese Verletzungsfolge wurde
schon im Vorangehenden wiederholt hingewiesen. Es handelt sich hiebei um entstellende
Narben, Fisteln u. dgl. an 'unbedeckten Körpertheilen, also vor allem am Gesichte, wie
solche nach Brandwunden und Verätzungen zurückbleiben, ferner um Verstümmelungen
oder Verlust von Nase, Ohren u. dgl.
7. Immerwährendes Siechthum (§. 156 lit. b), „Verfall in Siechthum" (§. 224
deut. St.-G.). Der medicinische Sprachgebrauch bezeichnet als Siechthum einen mehr we-
niger stationär gewordenen, unheilbaren oder voraussichtlich erst nach langer Zeit heil-
baren Zustand, welcher, ohne eine Krankheit im engeren Wortsinne zu sein, gleichwohl die
volle physische und psychische Leistungs- und Genussfähigkeit ausschliesst. Gelähmte,
schwer Nerven-, Rückenmarks- und Gehirnkranke bieten häufig Beispiele solchen Siech-
thums dar. Während das österr. Gesetz „immerwährende" Dauer dieses Zustandes ver-
langt, fällt nach deutscher Auffassung auch eine zeitliche, beschränkte Invalidität hier
hinein. Skrzecka spricht sich wohl in maassgebender Weise hierüber und namentlich auch
über die Unterscheidung von Siechthum und chronischer Krankheit folgendermaassen aus:
„Auf eine solche Krankheit, deren Heilung in bemessener Frist — und sollte dieselbe auch
Monate betragen — von vornherein mindestens mit Wahrscheinlichkeit in Aussicht gestellt
werden kann, würde die Bezeichnung des Siechthums nicht anwendbar sein, vielmehr wird
dieselbe beschränkt bleiben müssen auf diejenigen schweren chronischen Krankheitszu-
stände, von denen sich, wenn sie nicht überhaupt für unheilbar erklärt werden können,
doch nicht auch nur mit einiger Sicherheit vorhersagen lässt, ob dieselben überhaupt je-
mals beseitigt werden können, oder wenn dieser günstige Fall eintreten sollte, in welcher
Frist dies möglicherweise geschehen könnte."
984 VERLETZUNGEN.
9. Unheilbare Krankheit (§. l£6b österr. St.-G.) ist eine Verletzungßfolge, welche
logischer Weise neben „immerwährendem Siechthum" keinen Platz finden sollte. That-
sächlich kennt das deutsche Strafgesetz diese Folge nicht. Eine unheilbare Krankheit be-
gründet aber das Siechthum. Ein unheilbar Kranker ist siech. Ich glaube jedoch, dass
der Gesetzgeber mit Siechthum mehr weniger einen abgeschlossenen, zum Stillstande ge-
langten, ruhenden, keiner Therapie zugänglichen Krankheitsprocess bezeichnen wollte,
während er unter Krankheit wohl einen Zustand meinte, der niemals stillsteht, sondern
unter Schwankungen, Steigerungen und Abfall der Erscheinungen fortschreitet bis ans
Ende. So würde ich beispielsweise Epilepsie nach der heutigen Ausdrueksweise des österr.
Strafgesetzes als eine unheilbare Kranheit bezeichnen, während mir ein Anus praeterna-
turalis immerwährendes Siechthum zu begründen scheint.
9. Verfall in Geisteskrankheit (d. St.-G.) oder „Geisteszerrüttung ohne Wahr-
scheinlichkeit der Wiederherstellung" (§. 156 b österr. St.-G.). Das österr. Gesetz unter-
scheidet zwischen heilbarer Geisteszerrüttung (§. 152 St.-G. vergl. oben) und unheilbarer.
Diesen Unterschied anerkennt das deutsche Strafgesetz nicht; es spricht nur von Geistes-
krankheit überhaupt ohne Rücksicht auf deren Heilbarkeit. An und für sich ist die Pro-
gnose einer Geisteskrankheit schwierig, die traumatischen Psychosen gestalten sich aber in
prognostischer Hinsicht besonders trügerisch. Die Aufgabe des deutschen Gerichtsarztes,
der nur die Diagnose zu stellen hat, dass jemand nach einer Verletzung geisteskrank ge-
worden, in Geisteskrankheit verfallen ist, stellt sich viel einfacher, klarer und leichter dar,
als jene des österreichischen, der auch noch die wahrscheinliche Heilbarkeit oder Unheil-
barkeit vorherbestimmen soll. Bezüglich der Diagnostik der traumatischen Psychosen und
Neurosen wird auf „Nervenkrankheiten" verwiesen.
10. Immerwährende Berufsunfähigkeit (§. 156c österr. St.-G.). Sie ist in
der Regel durch Siechthum bedingt oder veranlasst durch den Verlust eines wichtigen
Gliedes und findet deshalb mit Recht im deutschen Strafgesetz keine Berücksichtigung.
Sehr viele Verletzungen haben nun nicht nur eine, sondern mehrere
Folgen nach sich gezogen; sie besitzen, wie der technische Ausdruck lautet,
eine mehrfache Qualification. Aufgabe des Gutachters ist es, auch
bei mehreren Verletzungen jede einzeln in allen Richtungen nach den An-
forderungen des Strafgesetzes zu qualificiren. Kaum irgend eine Aufgabe
der forensischen Medicin bietet namentlich dem Anfänger so grosse Schwierig-
keiten, wie die richtige Beurtheilung von Verletzungen nach dem öster-
reichischen Strafgesetz; einfacher und klarer in der Stilisirung stellt das
deutsche Strafgesetz dem Arzte viel leichter lösbare Aufgaben.
Der österreichische Gerichtsarzt wird bei der Beurtheilung der nicht
tödtlichen Verletzungsfolgen am besten folgendermaassen vorgehen. Jede
einzelne Beschädigung wird zuerst daraufhin geprüft werden müssen, ob sie
nach medicinischen Begriffen und Sprachgebrauche unter die an sich schweren
oder die an sich leichten Verletzungen einzureihen ist. Was man unter an
sich schwerer Verletzung zu verstehen habe, ist schon oben kurz erläutert
worden. Streng wissenschaftlich lässt sich der Begriff ebensowenig definiren,
wie etwa die Grenze zwischen schwerer und leichter Pneumonie, schwerem
und leichtem Typhus u. s. w^ genau bestimmbar ist. Haben die Symptome
eine gewisse gefahrdrohende Höhe erreicht, so nennen wir die Krankheit eine
schwere, sonst eine leichte. Wir bezeichnen mit schwer und leicht aber
nicht bloss Gradunterschiede ein- und derselben Krankheit, sondern auch die
Unterschiede in der Qualität der Krankheiten. So nennen wir mit Recht den
Scharlach, die asiatische Cholera, die Meningitis schwere Krankheiten, wenn-
gleich es auch leichte Formen dieser an sich schweren Krankheitsprocesse
gibt, Aehnlich verhält es sich mit der Bezeichnung von Verletzungen. Die
physiologische Wertigkeit des Organs und der Grad der Verletzung müssen
in gleicher Weise dem Urtheile zugrunde gelegt werden. Die kleine Ver-
letzung eines physiologisch wichtigen Theiles ist an und für sich als ein viel
schwererer Nachtheil zu erachten, wie die ausgedehnte eines unwichtigen. Ein
ganz kleiner Stich in die Schenkelarterie stellt eine viel gefährlichere Ver-
letzung dar, wie eine 1 5 cm lange Schnittwunde am selben Schenkel, welche
nur die Haut betroffen hat. Man wird mit Recht die erste als an sich schwer,
die zweite als leicht bezeichnen. An sich leicht ist nämlich jede (nicht tödt-
liche) Verletzung zu nennen, welche wir nicht unter die an sich schweren
VERLETZUNGEN. 985
einreihen müssen. Immerhin ist hier dem subjectiven Ermessen des Arztes
ein so weiter Spielraum gegeben, dass es wohl fraglich [erscheinen kann, ob
in einem künftigen Strafgesetz diese Begriffe nicht zweckmässig ganz in AVeg-
fall kommen sollten, wie im deutschen Strafgesetz. Dieses spricht im § 223
nur von körperlicher Misshandlung und Gesundheitsbeschädigung als objec-
tiven Merkmalen der (leichten) Körperverletzung. Die körperliche Misshand-
lung deckt sich wohl mit dem Begriffe „sichtbare Merkmale und Folgen" des
§411 österr. St.-G., die Gesundheitsbeschädigung mit Gesundheitsstörung
(§ 152 österr. St.-G.).
Hat man entschieden, ob eine Verletzung als an sich leicht oder an
sich schwer zu bezeichnen ist, muss die Dauer der durch sie veranlassten
Gesundheitsstörung und Berufsunfähigkeit geprüft werden.
Gesundheitsstörung (Gesundheitsbeschädigung d. St.- G.) ist eine
derartige Abweichung vom normalen Befinden eines Menschen, dass wir ihn
im gewöhnlichen Leben als krank bezeichnen würden. Nicht jede Verletzung
ist auch von Erkrankung gefolgt, wie wir an uns selbst leicht beobachten
können. Wie oft ziehen wir uns Verletzungen zu, welche die Gesundheit
nicht beeinträchtigen, Bestehender Schmerz, Blutung, Eiterung, Fieber, Kopf-
schmerz, allgemeine Abgeschlagenheit, Schwäche sind Symptome von Krank-
sein. Dagegen deckt sich erfahrungsgemäss dieser Begriff durchaus nicht
mit der Heilungsdauer. Manche Wunde ist noch nicht geheilt und dennoch
bestehen keine Krankheitserscheinungen mehr; umgekehrt kann die Gesund-
heitsstörung auch die Heilungsdauer übersteigen. Nach einem Beinbruch
bestehen oft noch lange Zeit, nachdem Heilung im chirurgischen Sinne ein-
getreten ist, Anschwellungen, Schmerzhaftigkeit beim Gebrauch, Bewegungs-
beschränkungen, kurz Erscheinungen, welche entschieden als Gesundheits-
störungen im Sinne des Strafgesetzes zu bezeichnen sind. Ein Mann, der
nach vierwöchentlicher chirurgischer Behandlung „geheilt entlassen" wurde,
wird gleichwohl dahin begutachtet werden müssen, dass die Gesundheitsstörung
sechs Wochen angedauert, also den Zeitraum von 30 Tagen überschritten habe.
Wir werden vom forensischen Standpunkte die Zeitdauer der Gesundheits-
störung darnach bemessen," bis wann wieder derjenige allgemeine Gesundheits-
zustand erreicht ist, welcher vor der Verletzung vorhanden war. So lange
noch eine nennenswerte Abweichung besteht, ist die Gesundheit „gestört"
(Ost. St.- G.) oder „beschädigt" (d. St.- G.). Da auch ein Kranker verletzt
werden kann, so handelt es sich keineswegs darum festzustellen, ob der Ver-
letzte überhaupt krank oder gesund sei, sondern ob jener Zustand des All-
gemeinbefindens wiederhergestellt sei, welcher vor der Verletzung vorhan-
den war. (Vergl. S. 399).
B e r u f s u n f ä h i g k e i t ist ein strafgesetzlich festgelegter Begriff, welchen
das. deutsche Strafgesetzt überhaupt nicht kennt. Dieses setzt offenbar still-
schweigend voraus, was auch österreichische Aerzte und Richter häufig genug
glauben, dass sich Berufsunfähigkeit und Gesundheitsstörung völlig decken.
Es ist dies keineswegs der Fall. Solange noch Gesundheitsstörung besteht,
wird häufig der Beruf nicht ausgeübt werden können, obwohl wir es
oft genug beobachten, dass Menschen mit offenen, eiternden Wunden, mit
schmerzenden Beulen u. dgl. doch ihrer Beschäftigung nachgehen, somit im
Berufe nicht mehr gestört sind, wenn noch Krankheitserscheinungen vorhan-
den sind. Ebenso häufig kann das Umgekehrte beobachtet werden. Die
Berufsthätigkeit ist unmöglich, obwohl bereits Genesung eingetreten ist. Ein
Maurer hat beim Zusammensturz eines Gerüstes schwere Brustverletzungen
mit nachfolgender Contusionspneumonie erlitten. Nach vielwöchentlicher
Spitalsbehandlung wird er „gesund" entlassen. Gleichwohl ist er noch nicht
im Stande, seine schwere Berufsthätigkeit unverzüglich und im vollen Um-
fange aufzunehmen; er bedarf noch der Erholung. Die Berufsunfähigkeit
986 VERLETZUNGEN.
Überdauert in diesem Falle die Gesundheitsstörung vielleicht um Wochen.
Selbstverständlich kommt es bei der Beurtheilung der Berufsunfähigkeit nicht
darauf an zu erforschen, ob der Verletzte überhaupt eine Thätigkeit aus-
zuüben vermag, sondern ob er seinen Beruf ausüben kann oder nicht. Von
diesem Gesichtspunkte aus sind gleiche Verletzungen forensisch oft ganz un-
gleich zu bewerten. Der Tagschreiber ist berufsunfähig, wenn Daumen und
Zeigefinger der rechten Hand verletzt sind, weil er ohne sie nicht schreiben
kann, der Botengänger ist mit der gleichen Verletzung nicht berufsunfähig,
weil er seinem Berufe auch mit eingebundenen Fingern nachkommen kann;
er würde aber umgekehrt durch eine Verletzung an den Zehen oder Füssen
berufsunfähig werden, was beim Schreiber keineswegs der Fall ist. Gesund-
heitsstörung und Berufsunfähigkeit sind daher auch keineswegs sich deckende,
forensische Begriffe. Sie müssen vielmehr gesondert beurtheilt werden und
können sich in der Zeitdauer wesentlich gegen einander verschieben. Daher
spricht das Gesetz auch von Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit (nicht
„und").
Jede Verletzung, ob an sich leicht oder schwer, kann eine so lange
dauernde Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit herbeiführen, dass der
gesetzlich festgelegte Zeitraum von „mindestens 20 oder mindestens 30 Tagen"
erreicht, beziehungsweise überschritten wird. Ist dies der Fall, so liegt für
den Richter ein Merkmal des „Verbrechens der schweren körperlichen Be-
schädigung" vor. „Schwere körperliche Beschädigung" ist somit ein rein
juridischer, „schwere" oder „leichte Verletzung" sind medicinische Begriffe.
Der Arzt sollte ersteren Ausdruck niemals gebrauchen. Es folgt aber aus
dem Gesagten, dass allerdings auch eine an sich leichte Verletzung, wenn
die Gesundheitsstörung den Zeitraum von 20 oder 30 Tagen überstieg, oder
eine andere vom Gesetze namhaft gemachte Folge eingetreten ist, das
Substrat der Anklage auf „Verbrechen der schweren körperlichen Beschädi-
gung" bilden kann. Für den Arzt bleibt dessenungeachtet die Verletzung
immer, was sie war, d. h. an sich leicht. Falsch ist es daher zu sagen, die
Verletzung ist schwer, weil ihre Heilungsdauer mehr wie 20 Tage betragen
hat. Die Formeln für die gerichtsärztliche Beurtheilung der nicht tödtlichen
Verletzungen nach dem österreichischen Strafgesetz können nur so lauten:
Die an sich leichte Verletzung hat ausser „ sichtbaren Merkmalen " keine
Folgen gehabt oder „die an sich leichte Verletzung hat eine Gesundheits-
störung und Berufsunfähigkeit von weniger als 20 Tagen" (§ 411, „leichte
körperliche Beschädigung") oder „von mehr als 20," „mehr als 30 Tagen"
veranlasst oder sie ist mit einem „gemeiniglich lebensgefährlichen Werkzeug"
unternommen oder sie ist- „lebensgefährlich" geworden u. s. w. (§§ 152,
155 a, b, e ev. 156) — und ein zweiter Typus: Die an sieh schwere
Verletzung hat eine Gesundheitsstörung oder Berufsunfähigkeit (oder beides
zusammen) von weniger als 20-tägiger, oder von „mindestens 20-tägiger"
oder „mindestens 30-tägiger Dauer" oder eine andere oben angeführte vor-
übergehende oder bleibende Folge nach sich gezogen.
Es ist endlich noch zu beachten, dass mehrere oder viele an sich leichte
Verletzungen in ihrem Zusammenwirken eine schwere, ja selbst lebens-
gefährliche bilden können. Es kommt dies vor sowohl durch fortgesetzte Miss-
handlungen seitens einer Person (Stock-, Ruthen-, Peitschenhiebe), als auch
wenn mehrere Personen einen Einzelnen misshandeln (Schlägereien, Lynchen).
Der schwere Charakter vielfacher, wenn auch an sich leichter Einzel-
verletzungen kann bedingt sein durch einen übergrossen Blutverlust oder
durch ungeheure Schmerzhaftigkeit. Lebensgefahr und selbst Tod sind beob-
achtet worden als combinirte Wirkung von Stockschlägen, Spiessruthenlaufen,
Bastonaden auf die Fusssohlen und ähnlichen, allerdings schon mehr histo-
risch gewordenen scheusslichen Misshandlungen.
VERSICHERUNGSWESEN. 987
Die gerichtsärztlichen Aufgaben bei der Beurtheilung von Verletzungen
an Lebenden sind kurz und trelfend im § 132 öst. St.-P.-O. zusaramengefasst:
„Auch bei körperlichen Beschädigungen ist die Besichtigung des Verletzten durch zwei
Sachverständige vorzunehmen, welche sich nach genauer Beschreibung der Verletzungen
insbesondere auch darüber auszusprechen haben, welche von den vorhandenen Körper-
verletzungen oder Gesundheitsstörungen an und für sich, oder in ihrem Zusammenwirken,
unbedingt oder unter den besonderen Umständen des Falles als leichte, schwere oder
lebensgefährliche anzusehen seien; welche Wirkungen Beschädigungen dieser Art gewöhnlich
nach sich zu ziehen pflegen, und welche in dem vorliegenden einzelnen Falle daraus her-
vorgegangen sind, sowie durch welche Mittel oder Werkzeuge und auf welche Weise die-
selben zugefügt worden seien." ^j^ KRATTER.
Versicherungswesen. (Kranken-, Unfall-, jinvaliditäts- und
Altersversicherung.) Da bei der fortschreitenden Entwicklung der
neueren Industrie zahlreiche Arbeiter vom Lande in die für Fabriksanlagen und
Waarentransport günstiger gelegenen Städte gelockt wurden, erwies sich fast
in allen Staaten die bisherige Gesetzgebung als unzureichend, um den
durch Krankheit oder Unfall in den verschiedenen gewerblichen Betrieben
erwerbsunfähig gewordenen besitzlosen Arbeitern nebst deren Familien ent-
sprechende Unterstützung zu gewähren und einer auch für das Allgemeinwohl
gefahrvollen überhandnehmenden Verarmung der städtischen Arbeiterbevöl-
kerung wirksamer vorzubeugen.
Die neuere sociale Gesetzgebung suchte deshalb namentlich in den
deutschen und österreichischen Staaten für die erfahrungsgemäss gesundheits-
und lebensgefährlich wirkenden gewerblichen Betriebe und Fabriken ent-
sprechende Vorschriften zu erlassen, deren Ausführung unter die Aufsicht
technisch vorgebildeter Beamten (Fabrikinspectoren, Gewerberäthe) gestellt
wurde und demnächst auch besondere Arbeiterversicherungsanstalten ein-
zurichten, um den Arbeitern und deren Angehörigen bei einer durch Krank-
heit oder Unfall entstehenden wirthschaftlichen Nothlage möglichst dauernde
Hilfe zu verschaffen. So wurde für das deutsche Reich erlassen: Das Krank-
heitsversicherungsgesetz vom 15. Juni 1883 und 10. April 1892, das Unfall-
versicherungsgesetz vom 6. Juli 1884 und schliesslich das Invaliditäts- und
Altersversicherungsgesetz vom 22. Juni 1889.
Da bei Ausführung der vorgenannten socialen Gesetze dem ärztlichen
Berufsstande eine besonders einflussreiche Mitwirkung zugefallen ist, werden
wir an dieser Stelle namentlich auf denjenigen Theil der deutschen und öster-
reichischen Gesetzgebung näher eingehen müssen, welcher für eine dem Sinne
der Gesetze möglichst entsprechende Thätigkeit der Aerzte von Bedeu-
tung ist.
Nach dem deutschen Krankenversicherungsgesetze ist der Versiche-
rungszwang vorgeschrieben für die in dauerndem d. h. den Zeitraum einer
Woche überdauernden Arbeitsverhältnis stehenden gewerblichen Lohnarbeiter
und für die kleinen mit einem Jahresarbeitsverdienste bis zu 2000 Mk. an-
gestellten gewerblichen Betriebsbeamten (Werkmeister und Techniker, Hand-
lungs- und Bureaugehilfen). Durch statutarische Bestimmung einer Gemeinde
kann der Versicherungszwang für den Bezirk derselben auch auf nur vorüber-
gehend beschäftigte gewerbliche Lohnarbeiter, Hausindustrielle und auf land-
und forstwirthschaftliche Arbeiter erstreckt werden. Dienstboten sind berech-
tigt, nicht verpflichtet, der Gemeindekrankenversicherung derjenigen Ge-
meinde, in deren Bezirk sie beschäftigt sind, beizutreten, dasselbe gilt auch
von anderen gesetzlich nicht versicherungspflichtigen Personen der arbeiten-
den Classe, und statutarisch kann sogar auch selbständigen kleinen Ge-
werbetreibenden der Eintritt gestattet werden. Die Annahme nicht ver-
sicherungspflichtiger Personen kann jedoch abgelehnt werden, wenn die
ärztliche Untersuchung eine bereits bestehende Krankheit ergibt.
Schlechthin ausgeschlossen von der Theilnahme an der gesetzlich geordneten
988 VERSICHERUNGSWESEN.
Krankenversicherung sind nur Personen, deren jährliches Gesammteinkommen
den Betrag von 2000 Mk. übersteigt. Die Organisation der Krankencassen-
versicherung beruht auf dem Princip der Gegenseitigkeit und Selbstverwaltung
d. h. die versicherungspflichtigen Berufsgenossen werden kraft Gesetzes zum
Zweck gegenseitiger Krankenversicherung in corporativen, mit Statut- und
Selbstverwaltungsorganen (Vorstand und Generalversammlung) ausgestatteten
Verbänden, den sogenannten Gassen, vereinigt, deren Verwaltung unter be-
hördlicher Oberaufsicht geschieht. Das Gesetz hat folgende Cassenarten
zugelassen:
1. Die Ortskrankencassen, welche von den Gemeinden für die in einem Gewerbs-
zweige oder in einer Betriebsart beschäftigten Personen zu errichten sind und zwar in der
Regel für jede Gewerbeart und jeden Betriebszweig besonders, wenn in jedem derselben
100 Personen oder mehr beschäftigt werden.
2. Die Betriebs- (Fabriks-l Krankencass en, zu deren Errichtung jeder Unter-
nehmer berechtigt ist, in dessen Betriebe 50 oder mehr dem Krankenversicherungszwange
unterliegende Personen beschäftigt sind.
3. Die Baukrankencassen, welche auf Anordnung der höheren Verwaltungs-
behörde für die in vorübergehenden Baubetrieben beschäftigten Personen von den Bauherren
zu errichten sind.
4. Die Innungskrankencassen, welche auf Grund des Titel VI. der Reichs-
gewerbeordnung bereits errichtet sind oder noch errichtet werden.
5. Die Knappschaftscassen, welche auf Grund berggesetzlicher Vorschriften
bestehen.
6. Die freiwillig auf Grund des Reichsgesetzes vom 7. April 1876 errichteten ein-
geschriebenen Hilfscassen, wenn ihre Leistungen den Anforderungen des Krankenver-
sicherungsgesetzes entsprechen.
Für alle diejenigen Versicherungspflichtigen, welche keiner dieser Gassen
angehören, tritt subsidiär die Gemeindekrankenversicherung ein. Dieselbe
ist mit keiner besonderen Cassenorganisation verbunden, sondern stellt eine
communale Einrichtung dar.
Einen unbedingten Anspruch auf Krankenunterstützung gewährt das
Gesetz den Versicherten nur für ihre Person. Durch das Cassenstatut kann
jedoch die Unterstützungspflicht in beschränktem Umfange auf die nicht ver-
sicherten Familienangehörigen der Cassenmitglieder ausgedehnt werden.
Von den Krankencassen und der Gemeindekrankenversicherung sind ihren
Mitgliedern zu gewähren: a) vom Beginne der Krankheit ab freie
ärztliche Behandlung, Arznei, Brillen, Bruchbänder und ähnliche Heilmittel;
h) im Falle der Erwerbsunfähigkeit vom dritten Tage an nach der Er-
krankung für jeden Arbeitstag ein Krankengeld von mindestens der Hälfte
des den Beiträgen zu Grunde liegenden Durchschnittslohnes oder statt dessen
freie Cur und Verpflegung in einem Krankenhause nebst der Hälfte des vor-
bezeichneten Krankengeldes für hilfsbedürftige Angehörige. Die ad a), h) er-
wähnte Krankenunterstützung endet, falls nicht etwa bei den Zwangscassen
im Statute ein längerer Zeitraum festgestellt ist (die Ausdehnung ist bis zu
einem Jahre gesetzlich zulässig), mit dem Ablaufe der 13. Woche nach Be-
ginn der Krankheit, im Falle der Erwerbsunfähigkeit mit dem Ablaufe der
13. Woche nach Beginn des Krankengeldbezuges.
So weit die Erkrankten nicht in ein Krankenhaus aufgenommen sind,
muss die Gasse, falls nicht das Statut Bestimmungen über die
Bestellung von Cassenärzten und Benützung bestimmter Apo-
theken vorsieht, für die ärztliche Hilfeleistung j e d e s Arztes und für
die Lieferung der Medicamente durch jede Apotheke Zahlung leisten; denn
ohne ausdrückliche Bestimmung im Statut steht der Cassenver-
waltung die Bestellung besonderer Cassenärzte mit der Maassgabe,
dass die Hilfeleistungen anderer Aerzte, von dringenden Fällen abgesehen,
nicht bezahlt zu werden brauchen, jetzt nicht mehr zu. Enthält dagegen
das Statut diesbezügliche Bestimmungen, so wird die ärztliche Behandlung
durch den Cassenarzt oder einen der Cassenärzte und die Lieferung
VERSICHERUNGSWESEN. 989
der Arzneien durch die mit der Cassa in Geschäftsverbindung stehende
Apotheke gewährt. Die Bezahlung der durch Inanspruchnahme anderer
Aerzte und Apotheken entstandenen Kosten kann alsdann, von dringenden
Fällen abgesehen, abgelehnt werden. Beim Vorhandensein mehrerer Cassen-
ärzte kann im Statute bestimmt werden, dass die Auswahl unter denselben
den Mitgliedern frei stehe, jedoch während derselben Krankheit ohne Zu-
stimmung des behandelnden Arztes ein Wechsel nicht vorgenommen werden
dürfe. Auf Antrag von mindestens 30 betheiligten Versicherten kann nach
§ 45 der am 1. Jänner 1893 in Kraft getretenen Krankenversicherungs-
novelle die höhere Verwaltungsbehörde anordnen und erzwingen, dass den
Versicherten noch andere als die bisherigen Aerzte, Apotheken und Kranken-
häuser zur Verfügung zu stellen seien, wenn durch die von der Cassa ge-
troffenen Anordnungen eine der berechtigten Anforderungen der Versicherten
entsprechende Gewährung jener Leistungen nicht gesichert ist.
Die Pflichten des Cassenarztes beschränken sich nicht nur auf die ärzt-
liche Behandlung; er hat in manchen Beziehungen auch bei der Kranken-
controle mitzuwirken. So erfolgt die Auszahlung des Krankengeldes nur
gegen Einlieferung eines vom Cassenarzte jedesmal auszustellenden Kranken-
scheines, welcher für Mitglieder, die in ein Krankenhaus aufgenommen
sind, vom Krankenhausarzte auszustellen ist.
Durch Statut kann der Cassenverwaltung die Befugnis eingeräumt werden,
Mitgliedern, welche sich eine Krankheit vorsätzlich oder durch schuldhafte
Betheiligung bei Schlägereien, durch Trunkfälligkeit oder geschlechtliche Aus-
schweifungen zugezogen haben, für diese Krankheit das Krankengeld gar nicht
oder nur theilweise zu gewähren.
Hat der Cassenarzt Grund zu der Annahme, dass ein derartiger Fall
vorliegt, so hat er dies in dem Krankenscheine zu vermerken.
Ebenso hat der Cassenarzt in dem Krankenscheine einen entsprechenden
Vermerk zu machen, wenn die Krankheit durch einen möglicherweise nach
dem Unfallversicherungsgesetze zu entschädigenden Unfall herbeigeführt wor-
den ist.
Durch Bestimmungen im Statute kann den Cassenmitgliedern zur Pflicht
gemacht werden, die Anordnungen des behandelnden Arztes zur Vermeidung
von Ordnungsstrafen bis zu 20 Mk. zu befolgen. Die auf Grund des Kranken-
versicherungsgesetzes gewährten Leistungen gelten nicht als öffentliche Armen-
unterstützungen und wird die öffentliche Armenpflege durch das Kranken -
Versicherungsgesetz nicht berührt.
Das Unfallversicherungsgesetz beruht auf der allseitigen Anerkenntnis,
dass dem Arbeiter für alle Unfälle im Betriebe eine Entschädigung
zugebilligt werden müsse, gleichviel, ob der Unfall durch höhere Gewalt oder
durch ein Versehen des Arbeiters entstanden sei. Es wurde deshalb eine
Zwangsversicherung der Arbeitgeber eingeführt durch staatlich organisirte
Verbände, sogenannte Berufsgenossenschaften. Die Entschädigung für alle
Unfälle, welche eine Krankheit von nicht über 13 Wochen zur Folge haben,
fällt den Krankencassen zu und tritt eine Entschädigung überhaupt dann
nicht ein, wenn der Verletzte den Unfall vorsätzlich herbeigeführt hat.
Es unterliegen der Unfallversicherung: 1. Alle Arbeiter beziehungsweise
Betriebsbeamten mit Jahresverdienst bis zu 2000 Mk. 2.; die Arbeiter in den
gesammten Betrieben der Post-, Telegraphen- und Eisenbahnverwaltang, der
Marine und Heeresverwaltung einschliesslich der Bauten, welche von diesen
Verwaltungen auf eigene Rechnung ausgeführt werden; 3. die Beamten der
Reichscivilverwaltung, des Reichsheeres und der Marine und die Personen
des Soldaten stand es, welche in einem der Unfallversicherung unterliegenden
Betriebe beschäftigt sind. Durch Statut kann die Versicherungspflicht auf
Betriebsbeamte mit höherem Jahresarbeitsverdienst als 2000 Mk. ausgedehnt
990 VEESICHERUNGSWESEN.
werden. Für gewisse Personen, welche zwangsweise nicht versichert sind,
lässt das Gesetz eine freiwillige Versicherung kraft eines mit der Berufs-
genossenschaft geschlossenen Vertrages zu.
Träger der unter Garantie des Reiches auf Gegenseitigkeit erfolgenden
Versicherung sind für die privaten Betriebe die in sogenannten Berufsgenossen-
schaften vereinigten Betriebsunternehmer. Die Berufsgenossenschaften
sind corporative, mit Statut und ehrenamtlichen Selbstverwaltungsorganen (Vor-
stand, Genossenschaftsversammlung) und gewissen obrigkeitlichen Befugnissen
(Erlass von Unfallversicherungsvorschriften) ausgestattete Verbände, die für
bestimmte Bezirke gebildet werden. Die versicherten Arbeiter sind nicht
Mitglieder der Berufsgenossenschaften; das Gesetz zieht aber Vertreter
der versicherten Arbeiter zur Theilnahme an gewissen Verwaltungsarten und
zur schiedsgerichtlichen Jurisdiction heran und w^erden die Vertreter von den
Cassenvorständen gewählt.
Der Geschäftsbetrieb der Berufsgenossenschaften wird beaufsichtigt
durch das Reichsversicherungsamt in Berlin, welches auch als höchste
Instanz über Recurse gegen Entscheidungen der Schiedsgerichte entscheidet.
Gegenstand der Versicherung ist der Ersatz jedes, auch des kleinsten
Schadens, welcher durch eine im Betriebe erlittene Körperverletzung oder
Tödtung entsteht.
Im Falle der Verletzung besteht der Schadenersatz: a) in den Kosten
des Heilverfahrens vom Beginne der 14. Woche nach Eintritt des Unfalls;
h) in einer dem Verletzten vom Beginne der 14. Woche für die Dauer der
Erwerbsunfähigkeit zu gewährenden, durch Capitalabfindung nicht ablösbaren
Rente, welche beträgt a) im Falle völliger Erwerbsunfähigkeit Gß^sVo des
nach gewissen Durchschnittssätzen anzunehmenden Arbeitsverdienstes, h) im
Falle theilweiser Erwerbsunfähigkeit für die Dauer derselben nur ein Bruch-
theil der Rente unter a), deren Höhe nach dem verbliebenen Grade der Er-
werbsfähigkeit zu ermessen ist.
Jeden Unfall hat der Unternehmer binnen zwei Tagen nach erhaltener
Kenntnis der Ortspolizeibehörde schriftlich zu melden, welche die Unfall-
untersuchung unter Hinzuziehung von Sachverständigen vornimmt, falls
deren Anhörung von der Berufsgenossenschaft beantragt wird. Die Unfall-
untersuchung hat den Zweck, eine möglichst erschöpfende Klarstellung aller
für den Entschädigungsanspruch wesentlichen Punkte herbeizuführen.
Die Entschädigung wird dann vom Vorstande der betheiligten Genossen-
schaft festgestellt. Gegen den Bescheid findet vier Wochen nach Zustellung
Berufung auf schiedsrichterliche Entscheidung statt. Das Schieds-
gericht besteht aus einem öffentlichen Beamten als Vorsitzenden, zwei Mit-
gliedern der Genossenschaft und zwei Vertretern der versicherten Arbeiter. Gegen
das Urtheil des Schiedsgerichts gewährt das Gesetz Recurs an das Reich s-
versicherungsarat, der binnen vier Wochen einzulegen ist.
Das Invaliditäts- und Altersversicherungsgesetz soll den Arbeiter für die
Zeit dauernder Arbeitsunfähigkeit den Genuss einer kleinen, vor der äussersten
Noth schützenden Rente gewähren, zu deren Erwerb er wenigstens theilweise
aus eigenen Mitteln beigetragen hat. Die den Gemeinden und Armenverbänden
obliegende Fürsorge für hilfsbedürftige Personen soll durch das Gesetz nur
erleichtert, nicht aber gänzlich beseitigt werden.
Dem Versicherungszwange sind unterworfen ohne Unterschied des Be-
rufes oder Geschlechtes vom vollendeten 16jährigen Lebensjahre alle vorüber-
gehend oder dauernd in Dienst und barem Lohn stehenden Personen (Arbeiter,
Gehilfen, Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten, Betriebsbeamte und Handlungs-
gehilfen) mit einem jährlichen Arbeitsverdienste bis zu 2000 Mark. Die
Invalidenrente erhält ohne Rücksicht auf Lebensalter oder Ursache der
Invalidität derjenige Versicherte, welcher dauernd erwerbsunfähig ist
VERSICHERUNGSWESEN. 991
und unter Zuriicklegung ojähriger Wartezeit Beiträge geleistet hat. Die Er-
werbsunfähigkeit muss zum Unterschiede von der t)ei der Unfallsentschädi-
gung vorausgesetzten eine voraussichtlich das ganze Leben dauernde
sein, aber keine absolute.
Es genügt, dass die Ervverbsfähigkeit nur noch in sehr geringem Maasse
— etwa zum dritten Theil — vorhanden ist. Die Altersrente erhält jeder
Versicherte — gleichviel ob noch erwerbsfähig oder nicht — , welcher das
70. Lebensjahr vollendet oder unter Zurücklegung einer Wartezeit von
30 Beitragsjahren Beiträge geleistet hat. — Träger der Invaliditäts- und Alters-
versicherung sind die nach Bestimmung der Landesregierungen errichteten
Versicherungsanstalten, in welchen alle diejenigen versicherungspflich-
tigen Personen versichert sind, deren Beschäftigungsort im Bezirke der An-
stalt liegt. Dieselben haben die Rechte juristischer Personen, durch Statut
geregelte Verfassung und werden durch einen Vorstand verwaltet, welcher die
Eigenschaft einer öffentlichen Behörde hat und von dem zuständigen Com-
munalverbande oder der Landesregierung bestellt wird. Neben dem Vor-
stande muss ein aus fünf Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten
bestehender Ausschuss gebildet werden, welchen das Statut festzustellen hat.
Für den Bezirk einer jeden Versicherungsanstalt wird mindestens ein Schieds-
gericht errichtet, welches aus einem von der Landesregierung zu ernennen-
den Vorsitzenden und mindestens zwei Beisitzern besteht, zur Hälfte aus der
Classe der Arbeitgeber und der Versicherten. Das Schiedsgericht fungirt als
Berufungsgericht gegen Entscheidungen des Vorstandes der Versicherungs-
anstalt, und in letzter Instanz entscheidet auf das Rechtsmittel der Revision
das Reichsversicherungsamt. Personen, welche Anspruch auf Bewilli-
gung einer Rente erheben, haben diesen Anspruch bei der für ihren Wohnort
zuständigen Verwaltungsbehörde anzumelden, welcher Anmeldung die Quittungs-
karten über die geleisteten Beiträge beizufügen sind. Hinsichtlich der Be-
schaffung ärztlicher Gutachten über die Erwerbsfähigkeit eines Invaliden-
rentenbewerbers geht die Praxis der Versicherungsanstalten davon aus, dass
es Sache des Bewerbers sei, das betreffende Gutachten selbst zu be-
schaffen und zu bezahlen."
In Oe st erreich ist die Krankenversicherung durch das Gesetz vom
30. März 1888 für Arbeiter und Betriebsbeamte in ähnlicher Weise geregelt wie in
Deutschland und bestehen auch dort verschiedene Krankencassen: l.Bezirks-
krankencassen, 2.Betriebskrankencassen, 3.Baukrankencassen,
4. Genossenschaftskrankencassen, 5. Vereinskrankencassen,
6. Bruderladen (Knappschaftscassen). Die Versicherten erhalten im
Falle einer Erkrankung unentgeltlich ärztliche Hilfe, Medicamente und ein
nach der Höhe des üblichen Taglohnes festgestelltes Krankengeld. Für jede
Krankencasse wird ein, nach Bedarf auch mehrere Cassenärzte be-
stimmt. Lässt ein Mitglied sich von einem anderen als dem Cassenarzt
behandeln, so werden die Kosten von der Krankencasse nur dann ersetzt, wenn
die Behandlung mit Genehmigung des Vorstandes oder bei Gefahr im Verzuge
erfolgt. Für jede Woche ist vom Cassenarzt ein Krankenschein auszustellen.
Durch das österreichische Unfall Versicherungsgesetz vom 28.
December 1881 werden alle diejenigen Arbeiter versichert, welche mit gesund-
heits- oder lebensgefährlichen Arbeiten beschäftigt sind und bestehen zum
Zweck dieser Versicherung eigene Unfallversicherungsanstalten unter staat-
licher Aufsicht. Erfolgt in einem versicherungspflichtigen Betriebe ein Unfall,
so hat der Betriebsunternehmer unter Benützung eines bestimmten Formulars
denselben der politischen Behörde I. Instanz anzuzeigen. Dieselbe nimmt bei
bedeutenden Unfällen, wo nöthig, unter Hinzuziehung von Sachverstän-
digen an Ort und Stelle Erhebungen auf Kosten der Anstalt. Bei kleineren
Unfällen nimmt die Gemeinde die Erhebungen vor.
992 VERSICHERUNGSWESEN.
Ein Invaliden- und Altersversicherungsgesetz ist für 0 ester-
reich bisher nicht erlassen.
In der Schweiz ist schon seit mehreren Jahren eine umfassende Arbeiter-
versicherungsgesetzgebung in Kraft unter hervorragender Mitwirkung des
Fabriksinspectors Dr. Schuler, welchem als ehemaligen sehr beschäftigten
Krankencassenarzt besondere Erfahrungen auf dem Gebiete der Gewerbehygiene
zur Verfügung standen. Auch in England und Russland wurden Aerzte
mit Erfolg zur hygienischen Beaufsichtigung der verschiedenen Fabriken
verwendet.
Welch' hohe Bedeutung die social-politische neuere Gesetzgebung nicht nur für das
Gesundheitswohl der Arbeiterbevölkerung, sondern auch für die beiden Berufsstände
der Aerzte und Apotheker erlangt hat, geht aus den betreffenden amtlichen Veröifent-
lichungen der statistischen Bureaus hervor, nach welchen die Zahl der in Krankencassen
Deutschlands Versicherten schon 1891 — 6.801.928 betrug, die Jahreseinnahmen sämmtlicher
Krankencassen auf 114,558.315 Mk. sich bezifferten. Pro 1895 wurde verausgabt: Für Aerzte
23,141.102, Arzneimittel 18,134.308, Krankengeld 45,356.229, Anstaltspflege: 18,190.722. Mk.
— Bei den nunmehr publicirten Verhandlangen des letzten internationalen hygienischen Con-
gresses in Budapest wurde von Dr. von Scheel (Berlin) die Zahl der im Deutschen Reiche
Versicherten ungefähr geschätzt a) in Krankencassen auf 7^/2 Millionen, h) Invaliden- und
Altersversicherungscassen 11 Millionen, Unfallversicherung 18 Millionen. Nach dem amt-
lichen Verwaltungsberichte bestanden bis Ende 1895 im Stadtbezirke Köln : 20 Orts-, 49 Be-
triebs- und 6 Innungskrankencassen mit G2626 Versicherten, von welchen während des
Jahres 1895 erkrankten: 27.508 Versicherte mit 536.287 Krankheitstagen und einer durch-
schnittlichen Krankheitsdauer von 19.5 Tagen, Die Gesammteinnahmen betrugen 1895
1,790.550, die Ausgaben 1,703 536 Mk. Der Reservefonds betrug 1,114.597 Mk. — Im Regie-
rungsbezirke Köln betrug 1891 die Zahl der Cassenmitglieder: 121.370 und wurde veraus-
gabt für ärztliche Behandlung 350.146, für Arzneien: 404.001 Mk. — Nach den bereits er-
wähnten Veröffentlichungen des statistischen Bureaus in Berlin pro 1891 schlössen in
Deutschland 34 Procent der Krankencassen mit Unterbilanz, 65 mit Ueberschuss ab.
Die Zahl der Versicherten ist im Stadtbezirke Köln gestiegen von 53.456 (Anfang 1893)
auf 62626 (Ende 1895), aus welcher erheblichen Vermehrung man auf die im Deutschen
Reich stattgefundene Vermehrung der Versicherten schliessen kann, die 1894 auf 7^/2 Mil-
lionen geschätzt wurde, abgesehen von den zugehörigen Familienmitgliedern.
Der grösste Theil der praktischen Aerzte, namentlich in kleineren Städten
und auf dem Lande, wurde durch die socialpolitische Gesetzgebung bezüglich
seiner Erwerbsverhältnisse von den Krankencassenvorständen abhängig, welche
durch ihre Statuten das gesetzliche Recht erlangt hatten, die Versicherten auf
bestimmte Aerzte und Apotheker anzuweisen, Cassenärzte anzustellen und den-
selben nach Befinden zu kündigen. Von diesem Rechte machten die Kranken-
cassenvorstände leider vielfach ohne jede Rücksicht auf das Gesundheitswohl
und das Vertrauen der Versicherten, sowie die berechtigten Ansprüche der
Aerzte und Apotheker den ausgiebigsten Gebrauch. Wenn einzelne Aerzte
oder auch ärztliche Privatvereine auf eine den Minimalsätzen der gesetzlichen
Medicinaltaxe entsprechende Gebührengewährung drangen, wurden die Cassen-
arztstellen zur Concurrenz öffentlich ausgeschrieben und mit jüngeren, fremden,
den Versicherten unbekannten Aerzten besetzt. So war in Nr. 2 und 10 des
diesjährigen ärztlichen Centralanzeigers die Cassenarztstelle für eine bedeu-
tende Hafenstadt ausgeschrieben, welche statutenmässig dem Gassenarzt für
ärztliche Behandlung eines Cassenmitgliedes nebst dessen ganzer Familie
einschliesslich aller Kinder unter 15 Jahren drei Mark jährlich zubilligte. Noch
geringer wurde bei entfernt wohnenden Versicherten die ärztliche Arbeit und
die Gesundheit der Versicherten geschätzt, wenn die dahin bewilligten Ge-
bühren kaum den Landbotenlohn erreichten. Es haben sich deshalb seit
Erlass der socialpolitischen Gesetzgebung unter den Aerzten zwei Parteien ge-
bildet, von welchen die eine Partei, durchgehends im Besitze von Cassenarzt-
stellen, die Beibehaltung fixirter Cassenärzte, die andere aber freie oder be-
schränkt freie Arztwahl erstrebt, um dem Versicherten die Möglichkeit zu ge-
währen, einen Vertrauensarzt zu wählen und auch den Aerzten die Gelegenheit
zu bieten, sich unter annehmbaren, nicht entwürdigenden Bedingungen an der
Behandlung der Krankencassenmitglieder zu betheiligen. Welches System
VERSICHERUNGSWESEN. 993
schliesslich zur allgemeinen Geltung gelangen wird, oder ob beide nebenein-
ander bestehen bleiben, lässt sich noch nicht übersehen, da in neuester Zeit
doch auch die Vorstände der Krankencassen, welche bisher fixirte Cassen-
ärzte anstellten, dazu übergegangen sind, deren Anzahl zu vermehren, um den
Versicherten eine grössere Auswahl unter den Aerzten zu bieten. Jeden-
falls haben alle Aerzte, mögen sie nun gegen Fixum oder gegen Vergütung
der Einzelleistung Cassenkranke behandeln, nicht nur das Recht, sondern auch
mit Rücksicht auf ihre eigene und ihrer Familie Existenz die Pflicht, für
ihre Verrichtungen bei den Krankencassen eine den niedrigsten Sätzen der
gesetzlichen Landesmedicinaltaxen entsprechende Vergütung zu verlangen.
Der § 2 der preussischen Gebührenordnung vom 15. Mai 1896 bestimmt aus-
drücklich, dass die niedrigsten Sätze der Medicinaltaxe bei Arbeit er kran-
kencassen zur Anwendung kommen sollen, so weit nicht besondere Schwie-
rigkeiten der ärztlichen Leistung oder das Maass des Zeitaufwandes einen
höheren Satz rechtfertigen. Dazu kommt, dass die niedrigsten Sätze der
Medicinaltaxe von 1815, als das Geld den dreifachen Werth der Jetztzeit
hatte, bei der Medicinaltaxe von 1896 nahezu unverändert geblieben, die
ärztlichen Verrichtungen aber durch die fortgeschrittenen Untersuchungs-
methoden weit mühevoller und zeitraubender geworden sind. Während des
genannten Zeitraumes sind nicht nur die Arbeitslöhne, sondern auch die Ge-
halte aller Berufsstände mit Rücksicht auf die Vertheuerung der noth-
wendigsten Lebensbedürfnisse verdoppelt und verdreifacht, bei den Aerzten
aber nur die Ansprüche an deren Ausbildung und Prüfung gesteigert worden.
— Bei den heutigen Krankencassen handelt es sich auch nicht um die Unter-
stützung Armer und Unbemittelter, welche die Aerzte in ihrem Berufe
unentgeltlich zu behandeln noch hinreichend Gelegenheit finden, sondern um
leistungsfähige Gassen, die entweder vom Staate oder, wie bereits gezeigt,
vorwiegend mit Ueberschüssen betrieben werden. Wenn der Vorsitzende
des dänischen Aerztevereinsbundes, Dr. Orum nachweist (Zeitschrift für sociale
Medicin, Heft 5, S. 326), dass durch das starke Anwachsen des Kranken-
cassenwesens die Einnahmen der dänischen Aerzte durchgehends um 25"/o
vermindert seien, so beweist dies, dass auch die dänische Krankenversiche-
rung sich auf bemittelte Personen ausgedehnt hat, die früher ihre Ver-
trauensärzte aus eigener Tasche anständiger zu honoriren wussten, wie dies
von den heutigen Krankencassenvorständen geschieht. So sank in Kopenhagen
das Honorar für den ärztlichen Besuch bei verschiedenen Gassen unter die
Gebühr herunter, die ein Dienstmann für einen gewöhnlichen Weg in der
Stadt zu fordern berechtigt ist. Dass durch ein derartig fast überall sich
kundgebendes rücksichtsloses Verfahren gegen den ärztlichen Berufsstand nicht
nur die Interessen der Krankenbehandlung, sondern auch indirect die finan-
ciellen Interessen der Krankencassen geschädigt werden, geht aus der Erwä-
gung hervor, dass vorzugsweise die Aerzte im Stande sind, durch sorgfältige
und gewissenhafte Untersuchung, Begutachtung und Behandlung, die Dauer
der bei den Arbeitern vorkommenden Krankheiten abzukürzen und durch
Ermittlung der in häuslichen Verhältnissen oder im Gewerbebetriebe einwir-
kenden Schädlichkeiten der Entstehung von Krankheiten möglichst vorzu-
beugen. Das ist der sicherste Weg, auf welchem erhebliche Ersparnisse an
Arzneimitteln, Krankengeldern und Krankenhausverpflegung erzielt werden
können. Es sei hier hingewiesen auf den durch thatsächliche Belege begrün-
deten Vortrag des Krankenkassenarztes Dr. Blum in M. Gladbach „über die
Staubgefahr in der Textilindustrie" (Centralblatt für allgemeine Gesundheits-
pflege, XVII. Jahrgang, Heft 3). Da auch bei vorkommenden Unfällen in der
Regel der bei der Betriebsstätte zunächst wohnende Cassenarzt hinzu-
gerufen zu werden pflegt, so ist dessen erste Behandlung und das zu den
Unfallsacten ausgestellte ärztliche Befundsattest von maassg eben der Be-
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. DO
994 VERSICHERUNGSWESEN.
deutung für die von den Berufsgenossenschaften festzustellenden Renten, so-
wie auch bei Ausführung des Invalidenversicherungsgesetzes sachkundig und
gewissenhaft ausgestellte Atteste der Krankencassenärzte nicht entbehrt werden
können. Wenn deshalb die socialen Versicherungsgesetze einen wohlthätigen
Einfluss auf das Allgemeinwohl, namentlich die gesundheitlichen Verhältnisse
der Arbeiterbevölkerung ausüben sollen, so ist ein harmonisches Zusammen-
wirken der Aerzte unter einander, sowie der ärztlichen Vereine mit den
Krankencassenvorständen unbedingt nothwendig. — Man kann es deshalb nur
freudig begrüssen, dass im Königreich Sachsen durch die neueste dort er-
lassene Landesmedicinalgesetzgebung (Verpflichtung für alle Aerzte zum Bei-
tritt in den zuständigen Bezirksverein, Erlass ärztlicher Standesordnung mit
Herstellung ärztlicher Ehrengerichte) die früheren heftigen Conflicte der Aerzte
mit den Krankencassenvorständen durch gegenseitige Verständigung auf dem
Boden der bestehenden Gesetzgebung beigelegt werden konnten. Darüber
wird an die Redaction der deutschen medicinischen Wochenschrilt von Dr.
Thiersch (Leipzig) Folgendes berichtet:
„Die moralische Stellung der Aerzte durch den gesetzlichen obliga-
torischenZusammenschluss gegenüber den gewaltigen Casseninstituten
hat eine ganz bedeutende Stärkung erfahren. Wir empfinden es als eine
sehr grosse Errungenschaft, dass die Cassenvorstände fast überall, zum Theil
nach dem heftigsten Widerstände sich zu Verhandlungen mit den Be-
zirksvereinen haben verstehen müssen. Die Gassen wissen jetzt, dass sie
es bei allen Streitfragen nicht mehr mit einem einzelnen Arzt, sondern mit
der Gesammtheit der Aerzte und mit der Behörde zu thun haben, welche die
Aerzte bei rechtmässigem Vorgehen sicherlich unterstützen werden. Die
erwähnten Ministerialverordnungen, betreffend Declaration des § 15 der ärzt-
lichen Standesordnung, haben, wie es sich nachträglich zeigte, lediglich den
Zweck gehabt, die Aerzte vor Miss brauch ihrer Rechte zu warnen, keines-
wegs ihnen durch Gesetz und Standesordnung garantirte Rechte zu nehmen.
Das kommende Jahr wird sicherlich überall das rechte Maass erkennen lassen,
welches die Aerzte bei Stellung ihrer Forderungen zu halten haben. Die
cassenärztlichen Honorare sind überall im Steigen begriffen, die centralisirte
Chemnitzer Ortskrankencasse hat sich in einem Vertrage mit dem Chemnitzer
Bezirksverein verpflichtet, nicht approbirte Personen zur regelmässigen Kranken-
behandlung nicht mehr zuzulassen. Die Curpfuscherei wird immer mehr
zurückgedrängt und in den grösseren Städten, wo die Gegensätze am heftig-
sten aufeinander platzten, sind bezüglich der Honorirung namhafte Erfolge
erzielt."
Man kann nur hoffen und wünschen, dass das von Sachsen bezüglich
thatkräftiger und sachkundiger Reform der sanitären Landesgesetzgebung ge-
gebene Beispiel in allen Staaten Nachahmung finden und eine für das all-
gemeine Gesundheitswohl erspriessliche Ausführung der socialen Versicherungs-
gesetzgebung ermöglichen werde. — Die mehrfach üblich gewordene Ueber-
weisung versicherter Arbeiter an solche Apotheken, die von den Wohnungen
der Arbeiter entfernt liegen, aber den Krankencassen auf dem Wege der Lici-
tation den höchsten Rabatt bewilligt haben, lässt sich mit den Interessen
einer gehörigen Krankenbehandlung nicht vereinigen, weil die Arzneien na-
mentlich beim Auftreten von Epidemien wegen der grösseren Entfernung und
Ueberlastung des Apothekerpersonals nicht rechtzeitig abgegeben werden
können. Ebenso ungehörig ist der aus Sparsamkeitsrücksichten angeordnete
Bezug der Arzneimittel aus Detaildrogerien, weil das Krankencassen-
gesetz wiederholt nur die Apotheken als Bezugsquellen für die den ver-
sicherten Arbeitern zuliefernden Arzneien bezeichnet und auch nur der
staatlich concessionirte Apotheker nach der deutschen und österreichischen
Gesetzgebung geprüft und verpflichtet ist, alle Arzneimittel nach den
VETERINÄRWESEN. 995
Vorschriften des geltenden Arzneibuches vorräthig zu halten und nach den
ärztlichen Vorschriften zu bereiten. Die Arbeiter haben also berechtigten Grund
zur Unzufriedenheit, wenn sie die ihnen verordneten Arzneimittel nicht aus
der zunächst liegenden, ihr ^'ertrauen geniessenden Apotheke beziehen dürfen.
Es ist Aufgabe der gesetzlichen, jährlich abzuändernden Arzneitaxe, die
Arzneimittel und Arbeitspreise festzustellen und dabei die öffentlichen und
Krankenversicherungscassen entsprechend zu berücksichtigen. schwartz.
Veterinärwesen. vor der Gründung von Lehranstalten für Thierärzte
konnte von einer rationellen Thierheilkunde keine Rede sein. Wenn es auch
im Alterthum, namentlich unter den Griechen und Römern bereits circa 500
Jahre v. Chr. Thierärzte, bei den Griechen hauptsächlich Pferdeärzte (Hippiater),
bei den Römern Maulthierärzte (mulomedici) oder auch Thierärzte für das
Zug- oder Jochvieh (veterinarii) gab, so waren es doch nur rohe Empiriker,
deren Heilmittel oft in den unsinnigsten Dingen bestanden.
Die Römer sahen die Thiermedicin als einen Tiieil der Landwirthschaft an, die land-
wirthschaftlichen Schriftsteller der damaligen Zeit besprachen nebenbei auch einzelne Thier-
krankheiten, z. B. Varro, Columella, Vegetius Renatus, Celsus, Plinius u. A. Im Mittel-
alter ruhte die Thierheilkunde vollständig in den Händen von Pfuschern (Hirten, Schäfern.
Schmieden, Bereitern etc."), nur gelegentlich nahmen sich ihrer die Aerzte an, meist nur
nothgedrungen, wenn Epi- und Enzoolien unter den Thieren wütheten und einen grossen
Theil von ihnen dahinrafften. Die Zootomie wurde dadurch gefördert, dass in damaliger
Zeit die Mediciner ihre anatomischen Studien an Thierleichen machten. In der Zeit vom
14. bis 16. Jahrhundert tauchten in Deutschland einige Werke über Thierheilkunde von
Pferdeliebhabern und Stallmeistern auf, denen ein wissenschaftlicher Werth kaum beigelegt
werden kann, z. B. von Marx Fugger, Böhme, Winter v. Adlersflügel, v. Sind.
Gegen Ende des 17. Jahrhunderts wurde zwar an verschiedenen Uni-
versitäten z. B. Göttingen, Marburg, Würzburg, Tübingen, Halle, Greifs-
walde, Heidelberg, Jena etc. von Fachprofessoren Unterricht für Thierärzte
ertheilt, er konnte aber nur sehr mangelhaft sein, weil ein Lehrer die ganze
Materie vorzutragen hatte.
Die wissenschaftliche Aera für die Thiermedicin in Deutschland begann erst
nach dem Vorgange Frankreichs mit der Gründung von Thierarzneischulen gegen
Ende des 18. Jahrhunderts (1770—1790) in den Hauptstädten der einzelnen
deutschen Länder, u. zw. in Hannover, Dresden, Berlin, München und Stuttgart.
Noth lehrt beten. Die Regierungen hatten wohl erkannt, dass der Tilgung der
Viehseuchen nur mit einem gut geschulten thierärztlichen Personal beizu-
kommen war. Der Lage der Dinge entsprechend konnten als Lehrer der
Thierheilkunde nur Aerzte und Apotheker berufen werden, die humane Me-
dicin ist somit die Mutter der Thiermedicin geworden; man war genöthigt, vor
der Hand die Erfahrungen der Medicin und deren wissenschaftliche Errun-
genschaften der Thierheilkunde dienstbar zu machen und die Führung und
Leitung des Veterinärwesens in die Hände der Aerzte zu legen. Allmählich
gelang es der comparativen Wissenschaft, die Differenzen im Baue und in
den Verrichtungen des menschlichen und thierischen Körpers, sowie zwischen
Menschen- und Thierkrankheiten festzustellen und auf diese Weise die Thier-
medicin auf eigene Füsse zu stellen und sie der Vormundschaft der Mediciner
zu entheben. Aber dankerfüllt blicken die Thierärzte auf die Mutterwissen-
schaft, sie befleissigen sich, diese in ihren Forschungen und Bestrebungen ge-
treulich zu unterstützen, welche dahin gehen, die Menschheit vor Krankheiten
und Siechthum zu schützen und gemeinschaftlich mit ihr in den Kampf gegen
Seuchen einzutreten. In etwa 100 Jahren haben sich die Thierarzneischulen
zu thierärztlichen Hochschulen emporgearbeitet, es erübrigt nur noch, die
Schüler derselben auf dieselbe Vorbildungsstufe zu stellen, wie jene der alma
mater. Die Vielseitigkeit der Studienobjecte und die schwierigen Aufgaben
der Hygiene erheischen dies gebieterisch, gern werden die Mediciner die Ve-
terinäre in dem Bestreben unterstützen, auch für ihre Studien die Maturität
eines humanistischen Gymnasiums zu fordern.
63*
996 VETERINÄRWESEN.
1887 wurde die Thierarzneischule in Berlin und Hannover, 1889 die in Wien, 1890
die in Stuttgart, Dresden und München zu thierärztlichen Hochschulen erhoben.
Die Regierungen Deutschlands waren bei Gründung der Bildungsan-
stalten für Thierärzte von der Nothwendigkeit durchdrungen, sich wissen-
schaftlich und praktisch geschulte Organe der Veterinärpolizei heranzubilden,
sie machten deshalb bald höhere Ansprüche an die Vorbildung der Veterinär-
beamten und vermehrten die Zahl der Unterrichtsdisciplinen.
Im Grossherzogthum Hessen forderte man bereits 1830 für das Studium der
Thiermedicin das gymnasiale Maturitätszeugnis, auch verlieh die Universität in Giessen,
resp. die medicinische Facultät daselbst das Diplom als Dr. medicinae veterinariae. In
Giessen ist das thierärztliche Lehrinstitut mit der Universität verbunden, ähnlich wie die
landwirthschaftlichen Institute an vielen andern deutschen Universitäten, die auch eine
Professur für Thierheilkunde errichtet haben, damit der Landwirth sich einigermaassen
mit den Seuchen und acut verlaufenden Thierkrankheiten bekannt machen kann. Der-
gleichen Institute besitzt Breslau, Göttingen, Halle, Jena, Kiel, Königsberg land Leipzig.
Die Studienzeit setzte man auf 6 — 7 Semester fest. JDie naturwissenschaftlichen Prüfungs-
fächer sind Zootomie, Histologie, Physiologie, Botanik, Chemie, Physik und Zoologie, die
Fachprüfung zerfällt in die anatomische, physiologische, pathologisch-anatomische, medi-
cinisch- und chirurgisch-klinische, operative, pharmaceutische und Schlussprüfung. Die
thierärztlichen Hochschulen in Berlin, München und Dresden bilden auch die Militär-
thierärzte aus.
In Preussen gingen 1872 die Veterinärangelegenheiten vom Cultusministerium in
das Ressort des Ministers für landwirthschaftliche Angelegenheiten über. Schon seit 1817
stellte man hier auf Grund besonders abzulegender Prüfungen Departements- und Kreis-
Thierärzte als technische Berather der Regierungen und des Landraths an, leider ohne
eine fachliche Vertretung bei der Centralbehörde anzuordnen, man vermischte derart das
Medicinalwesen mit dem Veterinärwesen in zweckwidriger Weise und erschwerte damit die
gedeihliche Entwicklung des letzteren. Eine selbständigere Verwaltung des Veterinär-
wesens erhielt Sachsen, Baden, Württemberg und Baiern in den Jahren 1856—68, man er-
hob das Veterinärwesen zu einem besondern Verwaltungszweige mit fachlicher Vertretung
bei den Unter-, Mittel- und Centralbehörden. 1875 errichtete man in Preussen die tech-
nische Deputation für das Veterinärwesen, die dem landwirthschaftlichen Mini-
sterium untergeordnet ist, mit der Aufgabe, dem Minister ein technischer Consulent zu
sein, den gerichtlichen und Verwaltungsbehörden gutachtliche Aeusserungen zu erstatten,
die Prüfungen und Anstellung der beamteten Thierärzte zu leiten und die Vieh- und Vieh-
seuchenstatistik zu bearbeiten; sie besteht aus einem Vorsitzenden und einer den Bedürf-
nissen entsprechenden Zahl ordentlicher und ausserordentlicher Mitglieder, ihr können
Hilfsarbeiter beigeordnet werden; die Einberufung der ausserordentlichen Mitglieder zur
Berathung organisatorischer und wirthschaftlicher Fragen ist Sache des Ministers. Ge-
wöhnlich ist der Departementsthierarzt als Veterinär-Assessor zugleich auch
Mitglied des Provinzial-Medicinalcollegiums. Zu ähnlichen Zwecken erhielt Sachsen 1856
die Commission für das Veterinärwesen, sie ist aus einem Regierungscommissar
als Vorsitzenden und zwei ordentlichen Mitgliedern (Professoren der thierärztl. Hochsch.)
zusammengesetzt, ihre Befugnisse erstrecken sich auf die Verwaltung der Hochschule, die
Geschäftsführung der beamteten Thierärzte, Prüfungswesen und gutachtliche Aeusserungen.
Unter einem Landesthierarzt stehen die Bezirksthierärzte jeder Amtshaupt-
mannschaft und die Kreisthierärzte bei jeder Kreis direction, sie gehen aus den als
Polizeithierärzte geprüften Amtsthierärzten hervor, die noch nicht angestellt
sind. In Baiern sind seit 1872 Bezirksthierärzte für die Polizeidistricte, Kreisthierärzte
für die Kreisregierungen und Controlthierärzte zur Verhütung der Einschleppung von
Seuchen angestellt, der Landesthierarzt hat seinen Sitz im Staatsministerium; Districs-
thierärzte bestellt die Gemeinde; ein Ober-Medicinalausschuss hat ständige thierärztliche
Mitglieder. In Württemberg heissen die beamteten Thierärzte Oberamtsthierärzte,
einer von ihnen ist dem Medicinal-CoUegium als Referent zugetheilt. In Baden verwaltet
die Veterinärabtheilung ein Medicinal-Referent im Ministerium des Innern, die amtlichen
Geschäfte besorgen die Bezirksthierärzte, ebenso in Hessen; hier verwaltet die Abtheilung
für öffentliche Gesundheitspflege im Ministerium des Innern in Darmstadt die Veterinäran-
gelegenheiten sie besteht aus mindestens zwei Aerzten, einem Thierarzt und einem Pharma-
ceuten. Auch die übrigen deutschen Staaten haben ihren Landesthierarzt und Kreisthierärzte
oder ihren Staats- (Hamburg) und Polizeithierarzt (Bremen und Lübeck.) In Berlin
überwachen Polizeithierärzte den Verkehr mit Lebensmitteln.
Den hier namhaft gemachten Behörden und beamteten Thierärzten liegt
die Abwehr und Bekämpfung der Thierseuchen ob in Gemässheit des deutschen
Reichsseuchengesetzes vom 23. Juni 1880, resp. 1. Mai 1894, welches die ge-
sammte Materie mit Ausnahme der Rinderpest einheitlich geregelt hat, während
bis dahin jeder deutsche Staat seine besondern Gesetze und Verordnungen
VETERINÄRWESEN. 997
hatte, die öfter differirten und lückenhaft waren. Das preussische Viehseuchen-
gesetz von 25. Juni 1875 wurde dem Ileichsgesetz zu Grunde gelegt, denn
es war ein mustergiltiges zu nennen, das unter Mitwirkung des deutschen
Veterinärraths zustande gekommen war und sich bei der Seuchentilgung aus-
gezeichnet bewährt hatte, alle Bestimmungen in demselben sind klar und
präcis gegeben. Die Anordnung der Abwehr- und Unterdrückungsmaassregeln
und die Leitung des Verfahrens liegt den Landesregierungen ob. Die an-
zeigepflichtigen Seuchen sind, ausser der Rinderpest, der Milzbrand, der
Rauschbrand (die Wild- und Rinderseuche sind dem Milzbrand gleich zu er-
achten), die ToUwuth, der Rotz, die Maul- und Klauenseuche, die Lungen-
seuche, die Schafpocken, die Beschälseuche der Pferde, der Bläschenausschlag
der Pferde und des Rindviehs und die Räude der Pferde, Esel, Maulthiere,
Maulesel und der Schafe, neuerdings auch die Schweineseuchen.
Die Anzeigepflicht kann in Zeiten der Gefahr auch vom Reichskanzler
für den Typhus der Pferde, für die Schweinepest, die besonders von Däne-
mark und Schweden aus importirt wird, für die Schweineseuche, den Schweine-
rothlauf und die Influenza der Pferde (Brustseuche) angeordnet werden, des-
gleichen eine strenge Grenzcontrolle zur Verhütung des Viehschmuggels und
Grenzsperren zur Verhütung der Einführung kranker oder verdächtiger
Thiere in das Reichsgebiet. Mit der Grenzcontrole wurden besonders hierzu er-
nannte Grenzthierärzte beauftragt. Einfuhrverbote und Verkehrsbeschrän-
kungen sind für Rindvieh. Schafe, frisches Schaffleisch, Schweine, Ziegen und
Ziegenfleisch aus Russland und Oesterreich-Ungarn, für Schweinedärme
Schweinezungen, Schweinefleisch, Speckseiten, Schinken aus Amerika, für
Rinder, Pferde und Schafe aus Amerika, für Schlachtthiere aus Island, Däne-
mark, Schweden, Norwegen, Belgien, Holland und Luxemburg erlassen worden,
die Transporte müssen dann vor der Landung von beamteten Thierärzten
untersucht werden, diese haben auch die Desinfection der Viehwagen der Eisen-
bahnen zu überwachen. (Vergleiche das diesfallsige Reichsgesetz vom 25. Fe-
bruar 1876 und 20. Juni 1886, sowie den preuss. Ministerial-Erlass vom
19. November 1886.) Die Hühnercholera in Italien (Prov. Mailand) erheischte
ebenfalls Einfuhrverbote. Bei dem Einfuhrverbote von amerikanischem Schweine-
fleische, das erfahrungsgemäss häufig trichinenhaltig ist, handelt es sich um
Vorbeuge der Trichinose, als einer die menschliche Gesundheit und das Leben
bedrohenden Krankheit. Auch ausländische Kuhhäute vermögen die mensch-
liche Gesundheit zu schädigen (Milzbrandinfection), sie müssen deshalb an
abgelegenen Orten lagern, die Lagerplätze derselben werden später desinficirt,
Abfälle vergraben oder verbrannt. Um der Verschleppung von Viehseuchen
vorzubeugen, hat die Veterinärpolizei ihr Augenmerk auf Treibheerden, Vieh-
märkte, Viehhändler- und Gastställe und auf die behufs öffentlichen Verkaufs
oder öffentlicher Schauen zusammengebrachten oder aus dem Auslande ein-
geführten Viehbestände zu richten. Ebenso werden die öffentlichen und pri-
vaten Schlachthäuser von beamteten Thierärzten überwacht. Die Maassregeln
gegen Rinderpest sind durch das Reichsgesetz vom 7. April 1869 und die
Instruction vom 9. Juni 1873 festgestellt.
Der Erlass besonderer Instructionen zu dem V i e h-S e u c h e n g e s e t z e ist
aus der Erwägung hervorgegangen, dass die Veterinärpolizei in den einzelnen
Bundesstaaten Rücksicht auf die Fortschritte der Veterinärwissenschaft, das
Wesen der Epizootien, die Verschiedenartigkeit der landwirthschaftlichen und
Verkehrsverhältnisse und der Verwaltungsorganisation zu nehmen hat. Die
Kosten und Entschädigungsbeträge der Seuchentilgung konnten nicht auf das
deutsche Reich übernommen werden.
Nach den Bestimmungen des Seuchengesetzes ist Folgendes vorgeschrieben:
Die genaue Untersuchung der der Seuche oder der Ansteckung verdächtigen
oder an der Seuche erkrankten Thiere von Seite des beamteten Thierarztes.
998 VETERINÄRWESEN.
Zur Feststellung der Diagnose kann ein Thier getödtet und secirt werden.
Die Ermittlung des Urafangs und der Entstehung des Seuchenausbruches.
Die Anordnung von Absperrungsmaassregeln (Stall-, Gehöfts-, Orts-, Weide-,
Flur- und Grenzsperre). Die Trennung der erkrankten von den gesunden
Thieren. Die Bewachung verdächtiger Thiere. Beschränkung in der Be-
nutzung und dem Transporte verseuchter oder verdächtiger Thiere und der
von ihnen herstammenden Producte oder mit ihnen in Berührung gewesener
Gegenstände. Die Impfung verdächtiger Thiere. Die Tödtung der verseuchten
Thiere bei Kinderpest, Rotz und Lungenseuche. Die unschädliche Beseitigung
der Cadaver und ihrer Abfallsstoffe. Die Desinfection der verseuchten Stallun-
gen und der mit den verseuchten Thieren in Berührung gekommenen Gegen-
stände. Verbot der Abhaltung von Thiermärkten. Oeffentliche Bekannt-
machung des Ausbruches und des Erlöschens der Seuche. Alle diese Maass-
nahmen haben sich in der Praxis vorzüglich bewährt, es ist bei ihrer exacten
Ausführung gelungen, die Epizootien und Enzootien, wenn auch nicht völlig
auszurotten, so doch wesentlich einzudämmen, den Uebergang der Zoonosen
auf den Menschen und die damit verbundene Schädigung der menschlichen
Gesundheit möglichst zu umgehen und die Verluste an Vieh erheblich zu
mindern. Als eines brauchbaren Tilgungsmittels ist noch der Impfung besonders
zu gedenken.
Die Impfung mit Krankheitsproducten bezweckt einestheils, die Anlage
zu Krankheiten zu tilgen, die Thiere zu immunisiren (Schutzimpfung), anderen-
theils der Krankheit vorzubeugen, wenn die Einschleppung des Contagii in
seuchenfreie Viehbestände zu befürchten steht (Cautionsimpfung), oder bei be-
reits ausgebrochenen Seuchen den Krankheitsverlauf zu mildern und abzu-
kürzen (Nothimpfung). Seitdem man gelernt hat, als Impfstoff gewissermaassen
ein Extract der Krankheitserreger (Bacillen, Bacterien) und das Blutserum
immun gemachter Thiere zu verwenden, hat die Impfung nicht nur an Sicher-
heit des Erfolges gewonnen, sondern sind auch die Gefahren für das Impfthier
fast auf Null herabgemindert worden. Umstände, die die Impfungen populär
gemacht und in grössere Kreise eingeführt haben. Sogar die Veterinärpolizei
und die Veterinärhygiene vermögen aus ihnen Nutzen zu ziehen. Man konnte
vordem keine Zwangsimpfung veterinärpolizeilich vorschreiben, weil ein gut-
artiger Verlauf der Implkrankheit nicht zu garantiren war. Impfungen ver-
suchte man zuerst bei der Rinderpest, sie stützten sich auf die Erfahrung,
dass mit dem Durchseuchen des Rindes die Anlage zu weiteren Erkrankungen
an Rinderpest getilgt ist, ja es erschien wahrscheinlich, dass durchseuchte
Rinder diese Immunität den nächsten Generationen vererben.
Professor Jessen versuchte deshalb, die Rinderpest in ihrem Heimathslande, in den
Steppen Russlands, durch Impfung mit dem Pestcontagium auszurotten. Schon früher
waren Versuche damit in England, Holland und Dänemark gemacht worden, die angeblich
günstig ausfielen, 1781 erliess sogar Friedrich der Grosse eine Impfinstruction für Preussen.
Auf Anregung Jessen's errichtete man 1853 in Russland auf Staatskosten ein Impfinstitut
in Karlowka am Salmysch und Bondarewka, auch machte man Impfversuche an der Veteri-
närschule zu Charkow. Als Impfstoff wurden Blut, Nasen- und Maulschleim etc. von
Thieren benutzt, die nicht hochgradig erkrankt waren. Einige Tage nach der Inoculation
stellten sich die ersten Krankheitssymptome ein, es fallirten nur 1 — 10 %. Bei den Impfungen
in anderen Ländern erlag indes nicht selten der grösste Theil der Impflinge. 1873 sprach
sich ein Veterinärcomite in Russland unbedingt gegen die Impfungen aus, weil die erwar-
teten Vortheile ausblieben und in den Impfanstalten ein beständiger Seuchenherd unter-
halten wurde. Auch die 1872 auf dem internationalen Congresse in Wien versammelten
thierärztlichen Autoritäten sprachen sich einstimmig gegen die Rinderpestimpfungen aus,
denn die Impfrinderpest forderte bei uns ebenso grosse Verluste wie die natürliche Rinder-
pest, wohingegen sie beim Steppenvieb nur 10—12 °/„ betragen haben sollen. Neuerdings
ist es RoB. Koch im Kimberley gelungen, durch Impfungen mit Galle von Rindern, die der
Rinderpest am fünften oder sechsten Krankheitstage erlagen, bei gesunden Rindern Immu-
nität zu erzeugen, hingegen Kolle und Türner mit dem Immunserum auch Heilerfolge zu er-
zielen. Für Deutschland bleibt das Keulen der Kranken das beste und billigste Tilgungs-
mittel.
.VETERINÄRWESEN. 999
Impfungen mit M ilz b r a n d v i r u s sind neuerdings mit Vortheil aus-
geführt worden, seitdem man Mitigationsverfahren (Toussaint, Pasteur,
Chauyeau u. A.) durch Erwärmen des Milzbrandblutes, Züchtung der Milz-
brandbacillen bei einer Temperatur von 42—43'^ C, Abschwäch ung des Virus
der Bacillen durch künstliche Züchtung derselben auf Fleisch extractlösung
von Generation zu Generation oder durch Antiseptika kennen gelernt hat. In
Frankreich betrug der Verlust an den mit abgeschwächten PASTEUR'schen
Impfstoff inoculirten Schafen und Kindern Vs bis S^o, in Deutschland aber
12"/o. Schutzimpfungen sind nur in Milzbranddistricten zulässig, weil die Impf-
thiere das Contagium verbreiten können. Bei Schafen verursachen Milzbrand-
impfungen 10 — 15"/o. Verluste, bei ihnen erreicht man damit nur eine un-
sichere Immunität, sie hält, ebenso wie bei Rindern, höchstens ein Jahr an. Das
Resultat der auf der preussischen Domäne Pakisch ausgeführten Impfungen
ist kein günstiges gewesen, es starben von den Impflingen l^j^ bis 57o-
Impfungen gegen Rauschbrand der Rinder sind namentlich in
Frankreich, Oesterreich und in der Schweiz, in kleinerem Maasstab auch
in Baden und im Rheinland ausgeführt worden, die damit erzielte Immunität
hielt einige Jahre vor. Die Impfung wird bei Rindern an der unteren Schwanz-
flache vorgenommen und nach zehn Tagen wiederholt; die Impfkrankheit ver-
läuft gefahrlos und fordert geringe Verluste (etwa 0.3%).
Schutzimpfungen gegen Rabies wurden hauptsächlich von Pasteur
studirt, sie beanspruchen ein grosses Interesse für die Prophylaxe der von
wüthenden Hunden gebissenen Menschen, bei weiteren Forschungen können
sie vielleicht auch der Therapie der Hundswuth dienstbar gemacht werden.
Pasteur benutzte als Impfstoff das getrocknete Rückenmark eines wuthkranken
Thieres (Kaninchens), das durch Eintrocknung an Virulenz erheblich ver-
loren hat.
Impfungen mit abgeschwächtem Rotzvirus, dem sogenannten
Mallein, Sindbis jetzt nur zur Sicherstellung des occulten Pferderotzes vor-
genommen worden, ein Zweck, den man auch erreicht, wenn mau Meer-
schweinchen oder jungen Hunden rotzige Ausflussmaterien oder den ausge-
pressten Saft der exstirpirten verdächtig angeschwollenen Submaxillardrüsen
der Pferde subcutan injicirt, wornach nach ein bis drei Tagen Schwellung,
Eiterung, chankröse Geschwürsbildung, metastatische Rotzprocesse in den
Lungen und sonstigen Eingeweiden sich entwickeln. Kaninchen sind für Rotz-
impfungen unbrauchbar, weil darnach häufig Septikämie und erst nach Monaten
Rotzprocesse entstehen. Das Mallein wurde von Kalning, Preusse, Johne,
FoTH, Höflich und Hellmann aus den Stoffwechselproducten der Rotzbacillen
dargestellt, deren Culturen auf Kartoffeln mit Wasser und Glycerin extrahirt
und die Bacillen durch Erhitzen und Filtriren entfernt werden. 7 — 23 Stunden
nach der Injection erhöht sich bei rotzigen Pferden die Körpertemperatur um
1'5 bis 2"9'-* C, gesunde oder sonst kranke Thiere reagiren auf die Injection
nicht. Zu Folge neuerer Erfahrungen (Professor Dr. Schütz an der thierärztlichen
Hochschule in Berlin) ist dem Mallein eine zuverlässige Bedeutung bei der
Rotzdiagnose nicht zuzusprechen; drei constatirt rotzige Pferde unter 42 Ver-
suchspferden hatten auf die Malleininjection nicht reagirt, 15 davon zeigten
eine Temperatursteigerung von 1-5*' und mehr, ohne krank zu sein. Aehn-
liche Beobachtungen machte der französische Thierarzt Robeis. Dem Thier-
arzte Foth ist die Gewinnung eines festen Malleins gelungen, er mischt das
Extract der auf festen Substraten gewonnenen Rotzculturen mit etwas absolu-
tem Alkohol, wornach eine braune, harzige Masse sich auf den Boden des
Gefässes niederschlägt; das Präparat wird um so voluminöser, feiner und
weisser, je absoluter der Alkohol ist; die damit in verschiedenen Ländern an-
gestellten Versuche sind günstig ausgefallen. Boschetti verwendet zu
diagnostischen Zwecken das Blutserum rotzkranker Pferde.
1000 VETERINÄRWESEN.
Schutzimpfungen gegen Maul- und Klauenseuche sind bisher
unausführbar gewesen, weil ihr specifischer Krankheitserreger bislang noch un-
bekannt war, sie würden auch wenig Werth haben, weil das Durchseuchen nur eine
kurze Immunität erzeugt. Hingegen hat man die Nothimpfung mittelst Maul-
schleimes oder Blasenserums aphthenseucherkrankter Rinder empfohlen, um
den Seuchenverlauf im Gehöft, respective im Stalle abzukürzen. Wichtiger für
die Prophylaxe ist der Selbstschutz; man kaufe zur Zeit der Invasion kein
Vieh oder^ wenn es sein muss, nicht ohne es einer Quarantäne zu unterwerfen;
fremden Personen verbiete man das Betreten der Stallungen.
Bei der Lungenseuche der Binder hat man die Impfung als ein
gutes Tilgungsverfahren kennen gelernt. Die Präcautionsimpfung wurde
schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts von vielen Thierärzten ausgeübt, in-
des erst 1852 von Willems in Hasselt begründet. Als Impfstoff benutzt
man die aus frischen Hepatisationen der seuchekranken Lungen ausgepresste
Lymphe, auch die der Impfgeschwulst am Schwänze oder Triel. Die beste
und gefahrloseste Impfstelle ist am Schwänze. Oefter wird eine Nachimpfung
nach sechs bis acht Wochen nothwendig, denn nicht alle Thiere sind für das
Contagium gleich empfänglich, einzelne gar nicht. Da die Impflinge den
Ansteckungsstoff' übertragen können, so sind sie zu isoliren, die Verluste
unter ihnen sind gering (1 — 27o), sie sind Jahre lang gegen natürliche In-
fection geschützt. Die Impfung gewährt unstreitig grossen Nutzen, sie bringt
die Lungenseuche bald zum Erlöschen, man hat deshalb ganz besonders der
Nothimpfung das AVort geredet. In Oesterreich ist nach dem neuen Lungen-
seuchengesetz vom 17. August 1892 die Nothimpfung ausgeschlossen, alle
Kranken, der Seuche und der Ansteckung verdächtigen Thiere müssen unter
allen Umständen getödtet w^erden; mit diesem Verfahren will man in Oester-
reich-Ungarn die Lungenseuche fast ganz getilgt haben.
Nach den Bestimmungen des deutschen Viehseuchengesetzes ist die
Tödtung der verdächtigen Rinder nur bedingungsweise in einzelnen kleineren
Viehbeständen, nicht bei Verbreitung der Seuche in zahlreichen grossen Vieh-
beständen gestattet respective angeordnet, w^eil im letzteren Falle die sofor-
tige Tilgung nicht zu bewirken sei. Die Impfung wurde nicht angeordnet,
aber auch nicht verboten, da die Thierärzte über den Werth der Impfung
noch nicht einig sind, manche ihr überhaupt keinen Werth beilegen. Die
Infectiosität der Geimpften wird als unerwiesen angesehen, indessen werden
nach § 80 a der Bundesrathsinstruction vom 27. Juni 1895 die auf polizei-
liche Anordnungen geimpften RindviehbeständeJ denselben polizeilichen
Maassregeln unterworfen wie das der Ansteckung verdächtige Rindvieh. Zu
Folge ergänzender Gesetze (z. B. vom L Mai 1894) können einzelne Provin-
cial- und Communalverbände die Schutzimpfung aller der Ansteckung ausge-
setzten Thiere beschliessen.
Beim Ausbruche der Pocken unter'den Schafen muss nach dem
Seuchengesetz die Impfung aller zur Zeit noch seuchenfreien Stücke der
Heerde unter Aufsicht des beamteten Thierarztes ausgeführt werden, falls
nicht innerhalb zehn Tagen nach der Feststellung vom Besitzer der Antrag
auf Schlachtung der ganzen Heerde gestellt worden ist. Ohne polizeiliche
Anordnung darf die Impfung nicht vorgenommen werden; die geimpften
Schafe werden me pockenkranke behandelt. Die Nothimpfung verkürzt und
mildert den Seuchenverlauf; je zeitiger sie vorgenommen wird, umso günstiger
ist der Verlauf; es ist somit auch die Präcautionsimpfung zn empfehlen. In
der Provinz Pommern war seit langer Zeit die Schutzpockenimpfung bei den
Lämmern üblich, da sie aber künstlich das Pockencontagium conservirt und
zur Verschleppung desselben Gelegenheit bietet, so hat das deutsche Seuchen-
gesetz diese Schutzimpfung ganz verboten. Nach Gerlach vermögen geimpfte
Schafe noch zwei Monate nach der Impfung gesunde Schafe zu inficiren.
V ETERINÄRWESEN. 1 001
Eine Mitigirung der Schafpockenlymplie konnte nicht erreicht werden, ob-
schon man am Wiener Thierarzneiinstitut von 1830 bis 1864 die Schafpocken
bis zur 297. Generation l'ortimpfte; die Lymphe dieser Generation war fast
ebenso virulent wie die der natürlichen iSchafpocken. Die Schutzimpfungen
bringen einen Verlust von höchstens 1 — 2% mit sich, die natürlichen Pocken
einen solchen von circa 507o-
Die Rothlaufseuche oder der Stäbchenrothlauf ist in unseren
Gegenden die am häutigsten grassirende einheimische, enzootisch auftretende
Schweinekrankheit. Die Schweineseuche (infectiöse lobuläre Pneumonie)
und die Schweinepest oder Schweinecholera (diphtheritische Dickdarm-
entzündung) werden uns durch fremde Treibheerden aus England, Amerika,
Schweden und Dänemark importirt. Die Rothlaufseuche charakterisirt sich
als eine infectiöse Septikämie und hämorrhagische Gastroenteritis mit hin-
zutretender Nephritis und parenchymatöser Entzündung der Leber, des Herzens
und der Muskeln und Milztumor; ein feiner Stäbchenbacillus gibt die Krank-
heitsursache ab, der hauptsächlich in den Darm einwandert; beim Durchgang
desselben durch den Körper des Kaninchens wird seine Virulenz abgeschwächt,
so dass man durch Inoculation der Culturen der auf diese Weise mitigirten
Bacillen Schweine immun machen kann. Pasteur führte die Schutzimpfung
ein, man machte in Baden nach seiner Methode Versuche an Schweinen, die
Schweine wurden an der innern Fläche der Hinterschenkel geimpft, zuerst
mit einem schwächeren, 12 Tage darauf mit dem stärkeren Impfstoff, nach
weiteren 12 Tagen mit nicht abgeschwächtem Virus; es starben von den Ge-
impften 5t'6%, später nur 1—2%. Versuchs-Impfungen wurden ausserdem in
Frankreich, in der Schweiz, im Reichsland und in Preussen gemacht. Gün-
stigere Impfresultate hat man mit dem LoEENz'schen Impfstoff erhalten.
Lorenz in Darmstadt präparirt denselben aus dem Blutserum immun gemachter
Kaninchen unter Zusatz von Glycerin und Wasser. Das Farbwerk Fried-
richsfeld bei Mannheim fabricirt als Impfstoff das sogenannte Porcosan auf
ähnliche Weise wie Lorenz. Nach den von Prof. Dr. Schütz in Berlin auf
Veranlassung des Landwirthschaltsministeriums vorgenommenen Impfungen
genügen alle drei Verfahren mit Bezug auf üngefährlichkeit nicht, es sollen
auf Staatskosten noch weitere Versuche angestellt werden.
Mit einigen Worten sei noch der Hühnercholera gedacht; dieselbe
ist ihrem Wesen nach eine infectiöse typhöse Enteritis, die epizootisch auf-
tritt und auch das übrige Hausgeflügel befallen kann. Das Contagium wird
hauptsächlich durch den Koth verbreitet. Die Hühnercholera-Bacillen wurden
von Perroncito, Toussaint und Pasteur festgestellt, nach Kitt und Hueppe
sind sie identisch mit den Bakterien der Kaninchen-Septikämie; ein Bluts-
tropfen eines kranken Huhnes in den Brustmuskel einer Taube injicirt be-
wirkt an der Impfstelle eine gelbe, knotige Geschwulst. Schutzimpfungen
blieben bisher ohne Erfolg. Die Kaninchenseptikämie erzeugte Gaffky durch
subcutane Injectionen von Berliner Panckewasser. Der Infectionsstoff stellt
ein sehr kleines ovoides Bacterium dar.
Eine der wichtigsten Aufgaben der Veterinärpolizei und Hygiene bildet
die Tilgung und Ausrottung der Tuberkulose der Rinder, die nach der
Form ihrer Krankheitsproducte auf den serösen Häuten Perlsucht (Marga-
rosis) genannt wird. Der Erreger derselben ist der von Robert Koch ent-
deckte Tuberkelbacillus, der feine Stäbchen darstellt. Die Tuberkulose wird
auch bei den übrigen Hausthieren und dem Geflügel beobachtet, indes bei
weitem nicht in der Ausdehnung und Häutigkeit wie bei Rindern; mittelst
Tuberkulin-Injectionen ist man im Stande, die sonst sehr verkappt beim Rinde
verlaufende Krankheit mit ziemlicher Sicherheit zu diagnosticiren. Das
diagnostische Merkmal nach der Injection besteht in einer Erhöhung der
Körpertemperatur, die alle drei, etwas später alle zwei Stunden gemessen wird.
1002 VETERINÄRWESEN.
Beim Vorhandensein der Tuberkulose steigt die Temperatur um 1'1° und
darüber, in einzelnen Fällen bis auf 1-9*^, selbst bis auf 2 bis 3*^ C, indess
reagiren ca. 10 bis 12"/o der tuberkulösen Rinder nicht auf die Injectionen,
andere reagiren, ohne tuberkulös zu sein. Die Zahl der Fehldiagnosen beläuft
sich etwa auf lO^/o, wenn man die bei den Sectionen vorgefundenen Käse-
knötchen und verkalkten Herde in einigen Lymphdrüsen ausser Betracht lässt.
Gefahren für die Thiere ziehen die Injectionen nicht nach sich. Nach wieder-
holten Tuberkulininjectionen reagiren die Thiere öfter nicht mehr, sie gewöhnen
sich an das Mittel, diese Immunität hält zuweilen 25 bis 30 Tage an. Prof.
Bang in Copenhagen war der Erste, welcher die Tuberkulinprobe als Tilgungs-
mittel der Perlsucht eingeführt hat. Die reagirenden Rinder sind möglichst
zu isoliren, die offenbar erkrankten sogleich oder nach der Mästung zu
schlachten, die Kälber der noch scheinbar gesunden Kühe nur mit gekochter
oder bis zu 85" C pasteurisirter Milch zu ernähren, der Stall ist zu desinfi-
ciren. Wünschenswerth für die Ausrottung der Rindertuberkulose ist es, den
gesunden Viehstamm jedes Jahr ein- bis zweimal der Tuberkulinprobe zu unter-
werfen. Da, wo eine systematische Tilgung nicht vorgenommen werden kann,
empfiehlt sich die Bildung von Genossenschaften zur tuberkulosefreien Auf-
zucht des Jungviehs. Unbedingt auszumerzen ist dasjenige Vieh, das die
klinischen Erscheinungen der Tuberkulose an sich trägt. Den Besitzern der
geschlachteten Thiere würde eine dem dadurch entstandenen Verluste ent-
sprechende Entschädigung aus Staatsmitteln oder Zwangsversicherungen zu
bewilligen sein.
Bezüglich des Genusses des Fleisches der perlsüchtigen Rinder bestimmt
ein preussischer Ministerialerlass vom 26. März 1892: Eine gesundheits-
schädliche Beschaffenheit ist anzunehmen, wenn das Fleisch Perlknoten enthält,
oder das Thier abgemagert ist; geniessbar, für die Gesundheit unschädlich ist
es, wenn das Thier gut genährt ist, und die Perlknoten sich ausschliesslich
in einem Organ vorfinden, oder, falls zwei oder mehrere Organe davon er-
krankt sind, diese Organe in derselben Körperhöhle liegen und untereinander
direct oder durch Lymphgefässe oder durch solche Blutgefässe verbunden sind,
welche nicht dem grossen Kreislaufe, sondern dem Lungen- oder dem Pfort-
ader-Kreislaufe angehören. Da eine Uebertragbarkeit der Tuberkulose durch
Genuss des Fleisches perlsüchtiger Thiere nicht nachgewiesen ist, so kann
das Fleisch von gut genähiten Thieren, auch wenn eine der vorgenannten
Erkrankungen vorliegt, in der Regel nicht als minderwerthig erachtet und der
Verkauf desselben nicht unter besondere polizeiliche Aufsicht gestellt werden.
Aehnliche Vorschriften enthalten die gesetzlichen Erlässe anderer deutscher
Staaten. Das Kochen im Dampf koch apparat von Rohrbeck vernichtet im
Fleisch die Tuberkelbacillen, es ist alsdann für die menschliche Gesundheit
unschädlich; eine Hitze von 75— 85°C tödtet die Tuberkelbacillen innerhalb
10 Minuten, während sie der Salzung und Räucherung widerstehen. Bei
geringgradiger Tuberkulose ist das Fleisch der Freibank zu übergeben, bei
hochgradiger, generalisirter Tuberkulose aber zu kochen oder nur technisch
zu verwerten. Tuberkelbacillen werden sehr selten im Fleische gefunden,
ebenso in der Milch und in der Butter, man findet sie hier öfter erst in
Fällen von generalisirter Tuberkulose und allgemeiner Abmagerung, aber öfter
bei Eutertuberkulose, die nicht sehr häufig vorgefunden wird; hier besonders
dann, wenn die Knoten erweicht und vereitert sind. In sonstigen Fällen
treten die Bacillen nicht leicht in die Milch über, sie werden lange Zeit hin-
durch von den Lymphdrüsen festgehalten. Die Gefahr des Ueberganges der
Rindertuberkulose auf den Menschen durch Genuss des Fleisches und der
Milch tuberkulöser Kühe ist deshalb nicht so gross, als viele Sachverständige
angenommen haben, sie ist unstreitig übertrieben worden, sie hat sich durch
das Experiment nicht stichhaltig begründen lassen. Trotzdem wird die Vor-
VETERINÄRWESEN. 1003
sieht gebieten, die Milch tuberkuloseverdächtiger Thiere nur in gekochtem
Zustande geniessen zu lassen. Der Centrifugenschlaram der Milch in den
Molkereien ist zu verbrennen.
Die Tuberkulose der übrigen schlachtbaren Hausthiere ist eine seltene
Erscheinung, sie erheischt dieselben Maassregeln wie die der Rinder.
Das Fleisch von an Infectionskrankheiten leidenden Thiere muss zu-
weilen deshalb confiscirt werden, weil es das Contagium verschleppt und
durch Contact Menschen krank machen kann; dies gilt von Rinderpest, Milz-
brand, Rauschbrand, Wuth und Rotz, obschon solches Fleisch schon öfter
ohne Schädigung der Gesundheit von Menschen gegessen wurde. Das Fleisch
nimmt erst im Verlaufe der Aphthenseuche, der Pocken, des Tetanus und
des malignen Oedems gesundheitsschädigende Eigenschaften an, wenn es zur
Pyämie und Septikämie gekommen ist. Pyämische und septikämische Processe
bedingen giftige Eigenschaften des Fleisches und nach dessen Genüsse sehr
gefährliche, das Leben der Menschen bedrohende Erkrankungen; solche Pro-
cesse bilden sich in abgesetzten Thieren, bei Lungen- und Gebärmutter-
verjauchungen oder Vereiterungen, in der eitrigen Nabelentzündung der Kälber
(Kälberlähme, Polyarthritis), bei Magendarmkatarrh und hämorrhagischer En-
teritis der Kälber und Rinder, dem septischen Kalbfieber, der Metritis und
Mastitis der Kühe, bei bösartigem Kopfhöhlenkatarrh des Rindes, Petechial-
fieber und Hufverjauchungen des Pferdes, bei Pericarditis traumatica des
Rindviehes, mitunter auch im Verlaufe des Schweinerothlaufs, der Schweine-
seuche und der Schweinepest, der Wild- und Rinderseuche, der Diphtherie
und Ruhr der Kälber. Lungenseuche, Räude, hydrämische, leukämische,
urämische, ikterische, Osteoporose, osteomalaktische, sarkomatöse und carcino-
matöse Processe machen das Fleisch ungeniessbar, sobald es zu serösen Durch-
feuchtungen des intramusculären Bindegewebes und der Muskeln selbst ge-
kommen ist oder die malignen Neubildungen eine grössere Verbreitung ge-
wonnen haben.
Distomatose, Aktinomykose und Botrymykose bedingen eine Vernichtung der
befallenen Theile und Organe, desgleichen Echinococcus- und Cysticercusblasen.
Ziemlich oft sitzen auf den serösen Häuten des Hinterleibs, besonders auf dem
Zwerchfell und der Leber des Rindes und des Schweines einzelne Cysticercus
blasen, in diesem Falle genügt das Herausschneiden und Verbrennen der Blasen.
Das mit Trichinen behaftete Thier wird total vernichtet, das finnige Schwein
oder Rind nur bei grösserer Verbreitung der Finnen, das Fleisch und Fett
darf technisch verwerthet werden. Schwachfinniges Schweinefleisch wird in
Gemässheit des Gutachtens des baierischen Obermedicinalausschusses vom
20. Mai 1882 unter polizeilicher Aufsicht gekocht und in Freibänken öffent-
lich verkauft. Stark finnig ist ein Schwein, wenn bei jedem Einschnitt ins
Fleisch eine Finne angetroffen wird. Nach einem preussischen Ministerial-
erlass vom 18. November 1897 sind Rinder und Kälber mit 10 lebensfähigen
Finnen als schwachfinnig, mit mehr als 10 Finnen als starkfinnig zu be-
trachten. Auf Freibänken darf schwachfinniges Fleisch verkauft werden, wenn
es unter thierärztlicher Aufsicht gar gekocht, oder 21 Tage in 2 5 böiger Salz-
lake gepökelt oder 21 Tage in Kühlräumen mit einer Temperatur von 3—7^0
und einem Luftfeuchtigkeitsgehalt von nicht über 70—75" aufbewahrt worden
ist. Starkfinnige Thiere dürfen nur technisch verwerthet oder müssen un-
schädlich beseitigt werden. Das Fleisch der schwachfinnigen Thiere darf nur an
Selbsconsumenten oder zum häuslichen Verbrauch freigegeben werden, Wieder-
verkäufer und Gastwirthe etc. sind vom Erwerbe desselben ausgeschlossen.
Ueber die finnigen Rinder und Kälber ist eine Nachweisung zu führen.
Der Fleischgenuss ist auch zu untersagen von Thieren, welche mit an-
haltendem hochgradigen Fieber oder ausgedehnten Entzündungen und Eite-
rungen behaftet waren, von verendeten, von unreifen, todtgeborenen, abor-
1004 VETERINÄRWESEN.
tirten Thieren, ebenso der Genuss solchen Fleisches, das stark mit Aktino-
myces, Concrementen oder Blutaustretungen infolge von Quetschungen oder
Decubitus durchsetzt ist oder einen widerlichen Geruch verbreitet (Fäulnis,
nach Genuss stark riechender Stoffe oder Aufbewahrung des Fleisches in mit
Carbol oder Chlorkalk durchräucherten Räumen) und widerlich schmeckt,
z. B. das Fleisch von Ebern, Ziegen- und Schafböcken oder von Kryptorchiden,
zu untersagen ist ferner der Genuss des Fleisches von vergifteten Thieren.
Erfahrungen und Versuche haben erwiesen, dass die Behandlung der Thiere
mit giftigen Medicamenten niemals eine Gesundheitsschädlichkeit des Fleisches
bedingt; Magen und Darm, wohl auch das Euter derartiger Thiere sind stets
zu vernichten.
Oefter verursacht der Fleischgenuss von kranken Thieren Vergiftungen
der Consumenten. Es handelt sich hier um die sogenannten Fleisch- und
Wurstvergiftungen, bei Fischen um das Fischgift. Die Intoxicationen beruhen
auf Mikroorganismen, welche Eiterung, brandige Processe, Sepsis und Fäulnis
im Fleische bedingen, wobei meistens die nothgeschlachteten Thiere in Be-
tracht kommen, bei diesen wieder besonders die Leber und Nieren, welche
grössere Mengen der giftigen Substanzen in sich aufnehmen. Als ein solcher
Mikroorganismus wurde von Gärtner, Johne u. A. der Bacillus enteritidis,
von Gaffkt und Paar Wurstbacillen, von Poels und D's Hont in den Ge-
fässen des intermuskulären Bindegewebes kurze feine Stäbchen, von Flügge
eine Art Colibacillus, von Basenau der Bacillus bovis mortificans, von van
Ermengen, Brieger und Kempner der Bacillus botulinus nachgewiesen; der
Bacillus botulinus erzeugt ein Gift, mit dem sich die Symptome des Botulis-
mus hervorrufen lassen, auch ist es gelungen, durch Einverleibung dieses
Giftes ein wirksames antitoxisches Serum zu gewinnen.
Die alkalische Reaction des Fleisches nothgeschlachteter Thiere un-
mittelbar nach der Schlachtung ist erst als ein bedenkliches Zeichen, das die
Verwerfung als geboten erachten lässt, zu betrachten, wenn sie bis zum
nächsten Tage anhält und alsdann erst in saure Reaction übergegangen ist.
Das Fleisch abgehetzter Thiere hat einen widerlichen, säuerlichen, öfter
ätherartigen Geruch, es ist dunkelroth, schneidet sich wie Gummi, es klebt
der Messerklinge an, ist trocken und enthält keinen Muskelsaft, öfter findet
man zwischen den Muskeln blutig-seröse Ergiessungen, die Blutgefässe ent-
halten dunkles, schwarzes Blut, das Fleisch geht leicht in Fäulnis über; sein
Genuss kann Unwohlsein und leichte Intoxicationen herbeiführen, es enthält
lOmal mehr Kreatinin als sonst und Producte der Zersetzung, ähnlich den
Fermenten der Fäulnis. Brieger hat aus dem in Zersetzung begriffenen
Fleische verschiedene toxische Ptomaine extrahirt, z. B. das Cadaverin, Putres-
cin, Neurin, Ganidin. Nicht immer braucht das Fleisch hochgradig ver-
dorben zu sein, um schädliche Folgen nach sich zu ziehen.
Einer strengen Controle ist das aus dem Auslande eingeführte Fleisch
zu unterwerfen. Die Fleischzufuhr nimmt von Jahr zu Jahr zu, 1896 wurden 266960
Doppelcentner, 1897 schon 480858 Doppelcentner Fleisch und Fleischwaaren nach Deutsch-
land eingeführt; am stärksten betheiligt sich hieran Amerika mit Speck und Schinken; man
kann nach den bisherigen Erfahrungen ohne Uebertreibung annehmen, dass 1 — 2 Procent
derselben trichinenhallig sind, wie dies die mikroskopischen üntersiichungen nachgewiesen
haben. Die aus sanitären Gründen erlassenen Einfuhrverbote von lebendem Schlachtvieh
haben die Einfuhr von Fleisch ausserordentlich gesteigert, Holland allein importirte nach
Deutschland 1897 103000 Doppelcentner Fleisch und Fleischwaaren, vorzugsweise Schweine-
fleisch, Dänemark Rindfleisch; Russland und Oesterreich-Üngarn kommen in geringerem
Maasse in Betracht, noch weniger Australien. Das Fleisch wird auch in Büchsen importirt,
das ebenfalls einer sanitären Controle bedarf, da nach dem Verzehr desselben hin und
wieder Erkrankungen in mehreren Garnisonen Frankreichs beobachtet worden sind; man
fand darin Bacillus Termo, Bacillus subtilis, Vibrio septica, öfter waren die Keime noch
lebend. Poincare constatirte in den Fasern des Conservefleisches eine wachsartige Degene-
ration, sie hatten aber noch ihre Querstreifung, das Fleisch musste also von kranken
Thieren abstammen oder vor der Einbüchsung in Zersetzung begriffen gewesen sein.
VETERINÄRWESEN. 1005
Aus allen diesen Schilderungen sind die Gefahren zu ersehen, welche
durch den Fleischgenuss der menschlichen Gesundheit drohen; diese fern zu
halten, ist die Aufgabe der Sanitätspolizei, speciell der Fleisch-
beschau, die schon seit läugerer Zeit an den öffentlichen Schlachthäusern
von Sanitäts-Thierärzten ausgeübt wird. Die Sanitätsthierärzte werden
von den Gemeinden angestellt. Selbstredend eignen sich nur Thierärzte zu
Fleischbeschauern, da sie durch ihr Fachstudium allein mit den Thier-
krankheiten genügend vertraut sind; man ist neuerdings darauf bedacht, die
Fleischbeschau zu einem besonderen Lehrgegenstand der thierärztlichen Hoch-
schulen zu erheben. Die Fleischbeschau wird täglich mehr und mehr als
dringendes Bedürfnis erkannt, die Vorbereitungen eines entsprechenden Reichs-
gesetzes sind soweit gefördert, dass in nächster Zeit im Kaiserlich-deutschen
Reichsgesundheitsamt Commissionsverhandlungen zur Berathung über die Ein-
führung der allgemeinen Fleischbeschau stattfinden werden. (Vergl. Artikel
„Fleischbeschau" S. 251.)
Das Reichsgesandheitsamt in Berlin ist in gleicher Weise zusammengesetzt wie die
technische Veterinärdeputation, nämlich aus ordentlichen und ausserordentlichen Mitgliedern;
zu letzteren zählen zur Zeit die Veterinäre Geh. Reg.- R. Professor Dr. Schütz, Ober-Re-
gierungsrath Landesthierarzt Göring in München, Ober- Med.-R. und Landesthierarzt Pro-
fessor Dr. SiEDAMGROTZKY in Dresden und Geh. Ober-Reg.-R. Dr. Lydtin in Baden-Baden.
Geheimer Regierungsrath Böckl in Berlin ist ordentliches Mitglied und hat als solches die
Seuchenstatistik nach den eingehenden Seuchentabellen der beamteten Thierärzte zu be-
arbeiten.
Der deutsche Veterinärrath hat die Staatsthierheilkunde in anerkennenswerter
Weise gefördert, denn er befasste sich in seinen Sitzungen mit gründlicher Besprechung
der brennenden Veterinär- und sanitätspolizeilichen Fragen; die gefassten Beschlüsse wurden
den Regierungen unterbreitet. Der Veterinärrath bildet sich aus den thierärztlichen Ver-
einen heraus, die eine Vereinigung zu gemeinsamer Vertretung der Interessen sämmt-
licher Thierärzte Deutschlands anstrebten. Zunächst constituirte sich am 25. Mai 1841 in
Mainz der Verein deutscher Thierärzte, am 20. Mai 1864 bei Gelegenheit der Jubiläums-
feier Professor Gürlt's in Berlin der Centralverein für Norddeutschland. Am 21. August
1872 trat in Frankfurt am Main ein thierärztlicher Congress zusammen, indes ging die
Anregung zu einer Delegirten-Versammlung sämmtlicher deutschen thierärztlichen Vereine
1873 von dem Vereine zu München aus; als Versammlungsort wählte man Berlin, wo man
am 13. und 14. April 1874 tagte und den deutschen Veterinärrath behufs Förderung und
Hebung des gesammten Veterinärwesens gründete. Der erste Präsident war Professor
Dammann in Eldena, später übernahm Lydtin in Karlsruhe die Präsidentschaft, sie ruht
gegenwärtig in den Händen des Professors Dr. Esser in Göttingen. Die zweite Versammlung
des Veterinärraths fand vom 22.-24. April 1875 in Berlin, die 3. vom 25. — 27. September
1876 in Cassel, die 4. vom 3 — 4. August 1878 in Hannover etc. statt, er tagte zum achten-
male vom 9.— 10. October 1897 in Cassel. Berathungsgegenstände bildeten unter anderem:
Studium der Thierheilkunde, Unterrichts- und Prütungswesen, Reform der Währschafts-
gesetzgebung beim Kauf und Tausch der Hausthiere, technische Grundlagen für ein Reichs-
gesetz, Maassregeln gegen Lungenseuche und Perlsucht, allgemeines Seuchengesetz, Grund-
lagen der Fleischbeschau, Regulirung des Abdeckereiwesens, Bekämpfung der Aphthen-
seuche, des Schweinerothlaufs und der Tuberkulose, Maturität der Veterinärstudenten.
Bei den erleichterten Verkehrsverhältnissen mittelst der Damplkraft
brechen häufig Invasionen verheerender Seuchen in die Länder ein, gegen
deren Bekämpfung die einzelnen Staaten ohnmächtig sind, diese erheischt
gemeinsame, einheitlich geregelte, internationale polizeiliche Maassregeln für
grössere Ländergebiete. Diesem Ansprüche suchten nationale und interna-
tionale thierärztliche Congresse zu genügen und die dazu zweckdienlichen
Mittel in die Wege zu leiten. Den ersten Congress beriefen Hering in Stutt-
gart und Gamgee in Edinburg am 14. Juli 1863 nach Hamburg, weitere
Congresse tagten vom 21. — 26. August 1865 in Wien, vom 2. — 8. September
1867 in Zürich, vom 16. März bis 6. April 1872 in Wien, am 21. August
1872 in Frankfurt a. M., vom 7.— 10. September 1879 in Bologna, 1883 in
Brüssel. Auf diesen Congressen wurden z. B. die Contumazzeit bei Rinder-
pest auf 10 Tage festgesetzt, die Tilgungsmaassregeln der Lungenseuche, die
Entschädigung der auf polizeiliche Anordnung getödteten Thiere, die Prin-
cipien der Währschaftsgesetzgebung, die Organisation der Fleischbeschau und
1006 VETERINÄRWESEN.
des Veterinärwesens, das thierärztliche Unterrichtswesen u. dergl. mehr unter
Theilnahme von Regierungsbeamten besprochen, so dass die Beschlüsse zur
Grundlage der Veterinärgesetzgebung genommen werden konnten und zur
Entwicklung der Thiermedicin erheblich beigetragen haben. Welchen Wert
die Staatsregierungen auf die thierärztlichen internationalen Congresse legen,
mag man daraus ersehen, dass das grossherzoglich badische Ministerium für
die Einrichtung und Abhaltung eines solchen in Baden-Baden im August 1899
2000 Mark und der deutsche Reichskanzler 10000 Mark zur Verfügung ge-
stellt haben. Die thierärztliche Hochschule in Berlin wird zur Erforschung
der Thierseuchen ein hygienisches Institut erhalten. anacker.
Veterinärwesen in Oesterreich-Üngarn. Die Veterinärverwaltung bildet
in den im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern mit Bezug auf
die Thierheilkunde einen integrirenden Theil der Sanitätsverwaltung.
Die veterinärmedicinische Wissenschaft wird dermalen in den vor-
erwähnten Ländern der österreichischen Monarchie an zwei Lehranstalten
mit Hochschulcharakter gelehrt und zwar in Wien am k. u. k. Militär-
Thierarzneiinstitut und thierärztlichen Hochschule.
Diese Anstalt wurde 1767 unter Kaiserin Maria Theresia als Pferdecurschule für
militär. Fahnenschmiede auf der Landstrasse (III. Bezirk) errichtet. Im Jahre 1776 wurde
diese Anstalt unter Kaiser Josef II. zur Thierarzneischule mit einem Thierspitale um-
gestaltet und im Jahre 1819 unter Kaiser Franz neu organisirt. Das jetzige Gebäude wurde
im November 1823 vollendet.
Im Jahre 1812 wurde diese Thierarzneischule zü einer Abtheilung der Wiener Uni-
versität erklärt und unterstand der Studien-Hofcommission. Im Jahre 1852 wurde das
Institut der Militärverwaltung unterstellt.
Im Jahre 1897 wurde diese Lehranstalt zur Hochschule mit vierjähriger
Unterrichtsdauer erhoben und wird von den ordentlichen Hörern zur Auf-
nahme an diese Lehranstalt das Zeugnis der mit Erfolg bestandenen Matu-
ritätsprüfung verlangt. Doctoren der gesammten Heilkunde können den Lehr-
curs in zwei Jahren vollenden.
In Lemberg wurde im Jahre 1881 eine Thierarznei- und Hufbeschlags-
schule mit demselben Studienplan wie am Militär-Thierarznei-Institut in Wien
eröffnet, gleichzeitig mit der Wiener Schule zur Hochschule erhoben mit dem-
selben Lehrziel und der gleichen Unterrichtsdauer wie an der vorgenannten
Anstalt.
Das öffentliche Veterinär-Sanitätspersonale ist entweder vom
Staate, von den Ländern oder von den Communen bestellt.
Die vom Staate bestellten Veterinär- Sanitätsorgane müssen zufolge einer
Ministerial-Verordnung vom 21. März 1873 eine Staatsprüfung abgelegt
haben.
Zu den öffentlichen Veterinär-Sanitätsorganen, die entweder
als ständige oder berathende Organe fungiren, gehören im Ministerium des
Innern der oberste Sanitätsrath mit dem Referenten für Veterinärangelegen-
heiten.
Bei den Landesbehörden der Landessanitätsrath mit dem Referenten für
Veterinärangelegenheiten — dem Landesthierarzt.
Bei den politischen Bezirksbehörden fungiren die landesfürstlichen Be-
zirksthierärzte als ständige Veterinärreferenten.
Im Sinne des § 2 des allgemeinen Thierseuchengesetzes vom 29. Fe-
bruar 1880 obliegt die Handhabung der gesetzlichen Bestimmungen über
Thierseuchen, insoferne in diesen Bestimmungen keine besondere Anordnung
getroffen ist, den politischen Behörden, und zwar in erster Instanz den poli-
tischen Bezirksbehörden unter gesetzmässiger Mitwirkung der Gemeinden,
ferner den Organen der Seesanitätsverwaltung nach Maassgabe ihres gesetz-
lichen Wirkungskreises und wird vom Ministerium des Innern, beziehungs-
weise vom Handelsministerium geleitet und überwacht.
WAISENANSTALTEN.
1007
Bei der Handhabung der Bestimmungen der Thierseuchengesetze ist sich
des Beistandes der beamteten Thierärzte (landesfürstliche Bezirksthierärzte) zu
bedienen.
In den Ländern der ungarischen Krone gehört die Leitung des Vete-
rinärwesens in den Wirkungskreis des Ministers für Ackerbau, Gewerbe und
Handel. Die veterinärmedicinische Wissenschaft wird an der königlich un-
garischen thierärztlichen Akademie in Budapest gelehrt, welche im Jahre 1787
gegründet wurde und dem königlich ungarischen Ministerium für Ackerbau,
Industrie und Handel unterstellt ist.
Zur Aufnahme der Zöglinge wird das Absolutorium der 6. Classe einer
Mittelschule verlangt, der Unterricht erstreckt sich auf drei Jahre.
Das Veterinärwesen ist in Ungarn durch den Gesetzesartikel VII vom
Jahre 1888 geregelt. Die oberste Veterinär-Instanz, ist der Minister für
Ackerbau, Gewerbe und Handel. Die Handhabung der Veterinärpolizei obliegt
beamteten Thierärzten, welche rangirt sind in Veterinär-Inspectoren,
Staats-Oberthierärzte, Staatsthierärzte 1. und 2. Classe.
Den veterinärpolizeilichen Dienst versehen in erster Instanz die von Ge-
meinden und Städten bestellten Thierärzte.
Staats- oder Municipalthierarzt kann nur ein solcher Thierarzt werden,
welcher eine zweijährige Praxis auszuweisen vermag und hierauf durch er-
folgreiche Ablegung der praktischen Prüfung seine Kenntnisse im Veterinär-
polizeiwesen nachgewiesen hat.
Der militärthierärztliche Dienst erstreckt sich auf das Pferdewesen des
k. u. k. Heeres und wird von Militärthierärzten, thierärztlichen Prak-
tikanten und Militärcurschmieden besorgt.
Bezüglich der Hintanhaltung und Tilgung ansteckender Pferdekrank-
heiten bestehen besondere Verordnungen.
Die Militärthierärzte sind Militärbeamte und werden gegliedert in Ober-
thierärzte 1. und 2. Classe, in Thierärzte, Unter-Thierärzte und thierärztliche
Praktikanten.
Die oberste Leitung aller thierärztlichen Angelegenheiten des k. u. k.
Heeres führt das Reichs-Kriegsministerium (3. Abtheilung). Die Militär-
Curschmiede haben an einer Thierarzneischule einen zweijährigen Curs
zu absolviren; eine besondere Vorbildung wird nicht verlangt, dieselben werden
über Pferdekrankheiten und Hufbeschlag unterrichtet und sind den thierärzt-
lichen Beamten als Gehilfen beigegeben und vorzugsweise für die Ausübung
des Hufbeschlages bestimmt. Kh.
Waisenanstaiten bezwecken in erster Linie die Verpflegung und Er-
ziehung von Kindern, welche durch den Tod des Vaters oder der Mutter
(Halbwaisen) oder auch beider Elterntheile (Ganzwaisen) ihres natürlichen
Schutzes beraubt und auf fremde Hilfe angewiesen sind.
Wenn auch Sparen einer Waisenpflege sich bis in die Blüthe der römischen Kaiser-
zeit zurückverfolgen lassen, so fällt die straffere Organisation derselben in Form der
Gründung von Waisenhäusern (Orphanotrophieen) doch erst in die Zeit, zu welcher das
Christenthum, das die Fürsorge für Witwen und Waisen als eine seiner erhabensten Pflichten
erachtete, festen Boden gewonnen hatte. Dementsprechend erscheinen auch die Waisen-
häuser frühester Zeit in unmittelbarer Verbindung mit Klöstern und blieben auch noch
unter dem Einfluss der letzteren, als sie später (im 5. Jahrhundert), wenigstens äusserlich,
zu selbständigen Anstalten sich' entwickelten, welche der Aufsicht der Staatsbehörden
unterlagen. Während bis zum 9. Jahrhundert das Bestreben geherrscht hatte, den Waisen
neben der körperlichen Pflege auch eine entsprechende Erziehung zu gewähren, sank von
da ab die Waisenpflege zu einem lästigen Theil der Armenpflege herab, dem man unter
Aufwendung möglichst geringer Mittel zu genügen suchte. So kamen die elternlosen
Kinder zum Theil in die Pflege von sogenannten Hausmüttern — unsere heutige Aussen-
pflege — zum Theil wurden sie den Findet- und Armenhäusern überantwortet. Der _schwarze
Tod", der im 14. und 15. Jahrhundert in ganz Europa die entsetzlichsten Verheerungen
hervorrief, legte — zumal in den volkreichen Handelsstädten — die Nothwendigkeit einer
umfassenderen Waisenpflege nahe In Nürnberg bestanden schon um die Mitte des 14.
1008 WAISENANSTALTEN.
Jahrhunderts vereinigte Findel- und Waisenhäuser; auch in München war für die Waisen
vom 15. Jahrhundert ab in der Art gesorgt, dass denselben eine besondere Abtheilung des
heiligen Geist-Spitals zusammen mit den Findelkindern eingeräumt war. Den Anstoss zur
Gründung von Anstalten, welche lediglich der Unterbringung von Waisen dienen sollten,
gab um das Jahr 1520 herum in Amsterdam eine reiche Bürgersfrau, Haasje Klassin in
Paradiese, welche ihre Schützlinge in kleinen Häusern vereinigte; aus diesen Colonieen ent«
wickelte sich 1561 das erste Amsterdamer Waisenhaus, später das grossartigste Institut
seiner Art.
Von den Mitteln, welche die Reformation durch Einziehung von Klöstern und Stiften
der Allgemeinheit zur Verfügung stellte, kam den Waisen nur wenig zu gute; vielmehr
war es zunächst weniger der Drang, diesen Aermsten der damaligen Gesellschaft ein
menschenwürdiges Dasein zu verschaffen, welcher zur Gründung weiterer Waisenhäuser
Anlass gab, als das zwingende Bedürfnis, dem in Folge von Theuerung, Seuchen und Krieg
überhandnehmenden Strassenbettel entgegenzutreten. So erhielt Augsburg 1572 sein erstes
Waisenhaus, Hamburg 1604, München 1615, Rostock 1624, Würzburg 1636, Lübeck 1647.
Auf die Nothwendigkeit der intellectuellen und moralischen Erziehung der Kinder wurde
dabei im Allgemeinen wenig Rücksicht genommen ; bezeichnend in dieser Beziehung ist die
nicht seltene Vereinigung der Waisenhäuser mit Armen-, Arbeits- und selbst Zuchthäusern,
durch welche die Waisen oft der schwersten Gefahr sittlicher Ansteckung ausgesetzt waren.
Einen Wendepunkt in dieser Hinsicht bedeutete die Gründung des Waisenhauses zu Halle
(1698) durch A. H. Franke, der dem erzieherischen Moment in der Waisenpflege auf der
Basis aufrichtiger, tiefer Religiosität zu der ihm zukommenden Bedeutung verhalf. Zum
Theil nach dem Vorbild der Hallenser Musteranstalt in rein pietistischem Sinn, zum Theil
als Pflegestätten bestimmter confessioneller Richtungen, zum Theil ohne diese Voraus-
setzung entstand um die Wende des 17. zum 18. Jahrhundert eine grosse Zahl von Waisen-
häusern, so in Bautzen (1698). Zittau (1700), Gotha (1702), Meiningen (1703), Stuttgart
(1710), Wien (1724), Weimar (1727), Stettin (1732), ferner in Zülhchau, Hamburg, Lübeck
und an zahlreichen anderen Orten. — Während in diesen Anstalten znmeist die Heran-
ziehung der Zöglinge zu tüchtigen Dienstboten und Handwerkern erstrebt wurde, in
manchen auch die Kinder, welche aus den besseren Kreisen hervorgegangen waren oder
sich durch besondere Befähigung auszeichneten, gelehrten Berufsarten zugeführt wurden,
verfolgte das von König Friedrich Wilhelm I. zu Potsdam gegründete Militärwaisenhaus
den ausschliesslichen Zweck, die Knaben frühzeitig auf den Soldatenberuf vorzubereiten.
Von der Mitte des 18. Jahrhunderts ab wurden die Gründungen neuer Waisenhäuser
immer seltener, und man begann auch damit, die bereits bestehenden wieder aufzulösen.
Es hatte sich nämlich vielerorts herausgestellt, dass die Institute den bei ihrer Gründung
gesetzten Aufgaben nicht gewachsen waren, dass insbesondere die Kinder, oft auf engem
Raum zusammengedrängt, die nöihige körperliche Pflege entbehren mussten. So begann
man denn (zunächst 1773 in Sachsen-Gotha) mit Versuchen, die Anstaltspflege durch Fa-
milienpflege zu ersetzen. Die übertriebenen Erwartungen, die man bei diesem Wechsel
gehegt hatte, wurden aber nicht dermaassen gerechtfertigt, dass mit dem Anstaltsprincip
völlig gebrochen worden wä.re. Auch das neue System zeigte seine Mängel und manche
Schwierigkeiten in der praktischen Durchführung, welche die theoretischen Abhandlungen
völlig übersehen hatten. Es erfolgten immer noch Neugründungen von Anstalten, zumal
als nach den schweren Verlusten in den Freiheitskämpfen eine weitgehende Fürsorge für
die Waisen geboten war. Erst in den letzten Jahrzehnten ist die Familienpflege vorherr-
schend geworden, nachdem man gelernt hat, durch Schaffang einer peinlichen Controle
ihren schlimmsten Mängeln aus dem Wege zu gehen.
Die Organisation der Waisenliä user kann bei der Verschieden-
heit der von den Gründern verfolgten Zwecke keine auch nur einigermaassen
einheitliche sein.
Die meisten älteren Anstalten tragen, aus frommen Stiftungen hervor-
gegangen, confessionellen Charakter. Wo den Gemeinwesen, denen die Für-
sorge für die Waisen in erster Linie obliegt, die Errichtung einer Anstalt
zufiel, war es natürlich, dass sie dieselbe Angehörigen aller Glaubensbekennt-
nisse zugänglich machten. Auch die von den Reichsfechtschulen errichteten
Waisenhäuser nehmen bei der Aufnahme der Zöglinge keine Rücksicht auf
die confessionelle Zugehörigkeit.
Vielfach beschränken die Waisenhäuser ihre Fürsorge nicht nur auf die
Waisen im engeren Sinne, sondern dienen auch der Aufnahme solcher Kinder,
welche aus irgendwelchen Gründen nicht in der eigenen Familie erzogen
werden können; zu diesen zählen: 1. Kinder, welche zeitweise von beiden
Eltern oder einem Elterntheile verlassen sind; 2. Kinder, welche gerichtlich
wegen sittlicher Verwahrlosung zur Zwangserziehung verurtheilt und deshalb
der elterlichen Obhut entzogen sind; 3. solche, die zwar sittlich verwahrlost
WAISENÄNSTALTEN. 1009
sind, nach den gesetzlichen Bestimmungen aber nicht zur Zwangserziehung
verurtheilt werden können; 4. Kinder, deren Eltern wegen grober Vernach-
lässigung der Erziehungspflichten das Erziehungsrecht gerichtlich abgesprochen
wurde. Für die meisten Kinder dieser Kategorien ist indes die Unter-
bringung in besonderen Erziehungsanstalten (Rettungshäuser) aus pädago-
gischen Gründen erwünscht.
Bezüglich der Altersgrenze gilt zumeist der Grundsatz, dass die Anstalts-
pflege nur während des schulpflichtigen Alters gewährt wird.
Es sind Ausnahmen, wenn wie in Nürnberg und in der Baruch AuERBACH'schen
Anstalt zu Berlin Kinder lais zum Alter von 3 Jahren herab aufgenommen werden, oder
wenn, wie in Köln, eine Säuglingsstation mit dem Institut verbunden ist. Man zieht es
gewöhnlich vor, die zu versorgenden Waisen bis zum Alter von 6 Jahren in geeignete
Familienpflege zu bringen. In richtiger Erkenntnis, dass gerade in den Jahren, wo die
Schulpflicht erlischt, die Gefahren für die ins Leben hinaustretenden Kinder am grössten
sind, machen es sich aber wohl alle Anstalten zur Aufgabe, ihre bisherigen Pfleglinge
soweit zu unterstützen, bis dieselben eine gesicherte Existenz haben.
In vielen Anstalten schliesst uneheliche Abstammung von der Aufnahme
aus; dagegen war die Combination von Waisenhaus und Findelhaus, wenig-
stens in Deutschland, früher eine sehr häufige. Städtische Waisenhäuser
verlangen gewöhnlich, dass die Eltern der Aufzunehmenden in der betreffen-
den Stadt beheimatet waren. Die Aufnahmebedingungen weichen an ver-
schiedenen Orten so sehr von einander ab, dass ein Eingehen auf Details an
dieser Stelle nicht möglich ist.
Fast überall ist in Waisenhäusern das Princip der Trennung nach Ge-
schlechtern durchgeführt, sei es, dass die Anstalt überhaupt nur Kinder eines
Geschlechtes aufnimmt, oder dass im gleichen Hause die Erziehung der
Knaben und Mädchen in völlig getrennten Räumen geschieht. Für die Zweck-
mässigkeit einer solchen Anordnung lässt sich wohl anführen, dass die Vor-
bereitung für den künftigen Beruf bei Knaben in ganz anderen Bahnen sich
bewegt als bei Mädchen, und dass es zumeist an dem zur Beaufsichtigung
nöthigen Personal mangelt; es ist aber doch zweifellos, dass die Harmlosig-
keit des Verkehrs mit dem anderen Geschlecht nach geschehener Entlassung
durch eben diese Einschränkung leidet.
Soll eine Waisenanstalt ihrem doppelten Zweck genügen, den Kindern
nicht nur die körperliche Pflege, die ihnen im Elternhaus geworden wäre,
angedeihen zu lassen, sondern auch die Geistes- und Gemüthsbildung zu
fördern, so bedarf es zunächst einer Leitung durch Personen, welche die
zur Erfüllung einer so verantwortungsvollen Aufgabe nöthige Einsicht be-
sitzen. Die unmittelbare Beaufsichtigung der Kinder fällt gewöhnlich dem
sogenannten Waisenvater oder der Waisenmutter zu, Personen, welche in
früherer Zeit im Wesentlichen nur für die Einhaltung der oft ins Kleinste
sich erstreckenden Hausordnung zu sorgen hatten, an deren Bildung aber
nur geringe Ansprüche gestellt werden konnten; später freilich, als man auch
der pädagogischen Seite der Waisenpflege eine grössere Aufmerksamkeit zu-
wandte, legte man dieses Amt in die Hände von geprüften Lehrern und
Lehrerinnen, unter Umständen auch von Geistlichen und Ordensschwestern.
Man hat sich allmählich auch daran gewöhnt, nicht nur bei vorkommenden
Krankheitsfällen den Arzt beizuziehen, sondern denselben auch als ständigen
Berather in Angelegenheiten der Gesundheitspflege zur Seite zu haben. In
Leipzig ist sogar das Directorium der Anstalt einem Arzt übertragen, dem
zugleich die Behandlung der in Aussenpflege befindlichen Kinder anheimfällt.
Wenn man bedenkt, dass die meisten Waisenkinder aus den allerdürftigsten
Familienverhältnissen heraus in die Anstalt versetzt w^erden, dass ihnen oft
die Gefahren einer ererbten Disposition für Tuberkulose oder Krankheiten
des Nervensystems anhaften, dass ferner gerade in den Entwicklungsjahren
ein schematisirender Anstaltszwang vom Uebel ist und auch der körperlichen
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. 04
1010 WAISENANSTALTEN.
Veranlagung des Individuums Rechnung getragen, werden muss, so wird man
dem Arzt im Waisenhaus gerne einen breiteren Wirkungskreis einräumen.
Von einer besonderen Hygiene der Waisenanstalten kann man
kaum sprechen; dieselbe iällt im Wesentlichen zusammen mit der Hygiene
des Kindes im Allgemeinen, der Hygiene der Erziehungsanstalten und der
Hygiene des Unterrichts, insoferne grössere Waisenhäuser meist ihre eigenen
Schulen besitzen. Indessen bedürfen wegen der Eigenthümlichkeiten der in
Rede stehenden Anstalten einzelne Punkte einer gesonderten Besprechung.
Eine Hauptfrage ist die: Wohin sollen wir unsere Waisenhäuser bauen? Die
heranwachsende Jugend braucht in erster Linie Licht, Luft und viel freien
Raum, um dem für ihr Gedeihen so wichtigen Bewegungsdrang durch Spiele,
körperliche Hebungen, eventuell auch durch gärtnerische und landwirtschaft-
liche Arbeiten genügen zu können. Da pecuniäre Rücksichten bei Unter-
nehmungen der öffentlichen Fürsorge immer mitspielen, wird die Erwerbung
eines entsprechenden Terrains im Innern einer Stadt stets Schwierigkeiten
machen. Wo man deshalb in neuerer Zeit Waisenhäuser schuf, verlegte man
dieselben meist an die Peripherie der Städte. So errichtete Berlin im Jahre
1859 seine Waisenerziehungsanstalt zu Rummelsburg, welche auch heute noch
als Muster hingestellt zu werden verdient, wenn auch Einzelheiten ihrer
Einrichtung von der fortschreitenden Hygiene überholt sind.
Von dem Gesammtgrundstück von 1321 Ar nehmen die Gebäude und Höfe nur
187 Ar (also kaum ^/v) ein, während die übrige Fläche auf Gärten, Parkanlagen, Turn- und
Spielplätze und auf die Wege entfällt. Die zehn zweisiöckigen Wohngebäude, deren jedes
für die Aufnahme von nur 50 Kindern berechnet ist, liegen zerstreut in dem weiten Areal
und enthalten im Souterrain die Wirtschafts-, in der ersten Etage die Wohnräume und
einen Schlafsaal, in der zweiten Etage einen weiteren Schlafsaal. Als Luftcubus sind in
den Arbeitsräumen für den Kopf 10"o m^ in den Schlafsälen 12 m^ gerechnet, Grössen, die
hinter den gewöhnlichen Forderungen der Hygiene etwas zurückbleiben und eine häufige
Lufterneuerung voraussetzen; eine solche ist aber durch die grosse Anzahl und zweck-
mässige Anordnung der Fenster gewährleistet. — Einen grossen Vorzug bietet die Lage
der Anstalt unmittelbar neben dem Eummelsburger See; so kann jedes Kind im Sommer
täglich ein Bad nehmen, wobei die grösseren Knaben auch Schwimmunterricht erhalten.
Ausser den gewöhnlich im Freien, bei ungünstiger Witterung in der grossen Turnhalle
geleiteten Turn- und Spielübungen gewährt die Beschäftigung in Garten and Feld den
Zöglingen ein reiches Maass körperlicher Bewegung. Die ausgebreiteten Anlagen und ein
anstossendes Ackerstück werden ausschliesslich von den Kindern bestellt. — Die Anstalt
enthält ausserdem ein Kinderkrankenhaus, in welches auch „kleine, kränkliche, schwäch-
liche, mangelhaft organisirte Individuen" aufgenommen werden. Dasselbe wird von einem
besonderen Arzt geleitet, der in der Anstalt wohnt und den Beruf hat, „die ganze Lebens-
weise der Zöglinge und die in derselben liegenden Wirkungen auf die Körperentwicklung
und den Gesundheitszustand zu beobachten, auf schädliche Einflüsse aufmerksam zu
machen, Verbesserungen vorzuschlagen und Schutzmaassregeln anzuordnen." Bei so weit-
gehender Sorge für Einhaltung hygienischer Principien ist es nicht zu verwundern, dass
der Gesundheitszustand und das physische Gedeihen der Kinder in der Anstalt vorzüglich
ist, und dass die Morbidität in derselben hinter der allgemeinen weit zurückbleibt.
Mit Recht wird heutzutage ein Hauptgewicht auf eine rationelle Ver-
köstigung der Waisenhauszöglinge gelegt. Was früher so häufig gegen die
Anstaltserziehung ins Gefecht geführt wurde, das blasse, kraftlose, kränkliche
Aussehen der Kinder, mag in erster Linie auf fehlerhafte Ernährung zurück-
zuführen sein. Muss man in dieser Beziehung schon aus Gründen der Dis-
ciplin — von vornherein auf ein Individualisiren verzichten, so besteht um-
somehr die Verpflichtung, für häufige Abwechslung in der Wahl der Speisen,
für deren Nährwert und Schmackhaftigkeit zu sorgen. Dass diese Forderung
nicht so sehr grosse pecuniäre Aufwendungen in sich schliesst als den guten
Willen und die Findigkeit der Anstaltsleiter, zeigt die Kostordnung im Nürn-
berger Waisenhaus, wo die Tageskost für jedes Kind auf nur 35-6 Pfennige
zu stehen kommt.
Als Norm mag die im Jahr 1886 erlassene Speisenordnung für die Zöglinge der
Wiener Waisenhäuser gelten; diese billigt den Kindern zu:
WAISENANSTALTEN. 1011
Fleisch 140 resp. 300 ^y.
Brot 440 g
Suppe 300 g \ Tagesration.
Milch 300 g
Gemüse 300 g '
Diese Ration enthält im Durchschnitt folgende Nährstoff mengen :
Eiweiss IIQ g, Fett 50-0 ^r, Kohlehydrate 238'0//; sie ist also für 6— 14^jährige Kinder
sicher ausreichend.
Besondere Hervorhebung verlangt auch dieReinlichkeitspflege in den
Waisenhäusern. Die k. bayr. Min.-E. vom 3. März 1874, welche die Gesund-
heitspflege in bayrischen Erziehungsanstalten überhaupt in musterhafter
Weise regelt, beansprucht als Minimum, dass die Zöglinge in der kalten
Jahreszeit alle 3 Wochen ein warmes Bad nehmen. Bei der Schwierigkeit,
besonders in stark i'requentirten Anstalten Wannenbäder häufiger zu verab-
reichen, wäre gerade für die. in Frage stehenden Institute die Errichtung
von Brausebädern, wie sie ja auch in Schulen vielfach mit nur geringem
Kostenaufwand betrieben werden, in Erwägung zu ziehen.
Die erzieherische Thätigkeit in den Waisenhäusern wird
um so erspriesslicher sein, je mehr auf die Individualität der Kinder ein-
gegangen wird. Aus diesem Grunde darf an Erzieherpersonal nicht gespart
werden. Man wird die Kinder nicht nach Altersclassen vereinigen, sondern in
kleinen Gruppen zusammenfassen, deren jede ihren besonderen Präceptor hat
und dadurch, dass man sie aus verschiedenalterigen Kindern bildet, einen
familienähnlichen Charakter gewinnt.
Raubt dem elternlosen Kinde schon der blosse Anstaltsaufenthalt ein
gut Theil der jugendlichen Fröhlichkeit, so nimmt die Gefahr, dass Neid
und Missgunst in ihm aufkeimen, um so mehr zu, je häufiger die Berühr-
ungen mit der Aussenwelt sind. Nicht mit Unrecht hat man deshalb auch
darauf hingestrebt, die Waisenhäuser aus den Centren des Verkehrs hinaus-
zuschaffen in ländliche Bezirke oder doch wenigstens in die Vorstädte zu
verlegen. Aus gleichen Gründen sucht man den Verkehr mit den Verwandten
nach Möglichkeit einzuschränken, besonders wenn in den Anstalten auch
solche Kinder Aufnahme finden, welche wegen Gefahr der Verwahrlosung der
Obhut ihrer Familie entzogen werden mussten. Als pädagogisch ganz ver-
fehlt aber ist es zu betrachten, dass man zuweilen neben den auf Kosten der
Armenpflege oder der betreffenden Stiftung verpflegten Waisenkindern auch
zahlende Pensionäre aufnimmt und so gleichsam zwei verschiedene Classen
von Zöglingen schafft.
Der Unterricht wird bei grösseren Instituten gewöhnlich im Hause,
und zwar durch dieselben Lehrer geleitet, welchen auch die Erziehung der
Kinder obliegt. Der Lehrstoff variirt je nach den Zwecken der Anstalt, deckt
sich aber im Allgemeinen mit demjenigen, welchen die Volksschulen für die
betreffenden Altersclassen verlangen. Waisenschulen stehen vielfach in hohem
Ansehen, so dass auch ausserhalb der Anstalt wohnende Kinder denselben
zugeführt werden; so sind es in Stuttgart gerade die vornehmeren Familien,
welche ihre Kinder in der Schule des k. Waisenhauses unterrichten lassen.
Die kleineren Institute überweisen ihre Zöglinge zum Zweck des Unterrichts
in der Hegel den öffentlichen Lehranstalten.
Erziehung und Unterricht bezwecken, den Waisen eine genügende Basis
für ihren zukünftigen Beruf zu schaffen. Um diesen Zweck ganz zu
erfüllen, darf aber die Fürsorge dann noch nicht erschöpft sein, wenn die
Kinder, die bis dahin unter stetem sicheren Schutz, mehr oder weniger von
der Aussenwelt abgeschlossen dahinlebten, in diese hinaustreten. Ergreifen
die Knaben, wie dies ja gewöhnlich der Fall ist, den Beruf eines Hand-
werkers, so sorgt die Anstalt für Unterbringung bei einem tüchtigen Meister,
versieht ihn mit etwas Baargeld, den nöthigen Kleidern und den für den
64*
1012 WAISENANSTALTEN.
Beruf nötWgen Utensilien, bezahlt für ihn das Lehrgeld und wohl auch für
die Dauer der Lehrzeit die Krankencassengebühren; daneben werden zuweilen
(so in Würzburg) denjenigen, welche sich am besten geführt haben, Prämien
ausbezahlt. Ist eine Fortbildungsschule am Ort, so wird der Entlassene zu
deren Besuch auf Kosten des Hauses (Stuttgart, Köln) angehalten. Manche
Waisenhäuser sind in den Stand gesetzt, talentirte Zöglinge höheren Berufs-
arten zuzuführen; so dürfen solche in Stuttgart unentgeltlich die höheren
Lehranstalten besuchen, in besonderen Fällen auch über das 14. Lebensjahr
hinaus; in Königsberg wird den befähigten und fortgeschrittenen Zöglingen
des dortigen Waisenhauses freier Unterricht bis zur Universität gewährt,
eventuell bei Aufnahme ins theologische Seminar Unterstützung bis zum Ab-
schluss des Studiums; in Nürnberg kommt das Waisenhaus für die Kosten
des Besuchs der dortigen Realschule und der Kunstschule auf; die befähigten
Zöglinge des Frankfurter Waiseninstituts der niederländischen Gemeinde
Augsburger Confession, auch solche, welche Gymnasium und Universität be-
suchen, werden in Allem unterhalten, bis sie in die Möglichkeit eines selbst-
ständigen Erwerbs gesetzt sind. Aehnliche wohlwollende Bestimmungen sind
in den Statuten auch von vielen anderen Waisenhäusern vorgesehen.
Auch bei den Waisenmädchen wird bei der Berufswahl nach dem Aus-
tritt auf Fähigkeiten und Neigung Rücksicht genommen; doch nehmen die-
selben fast ausschliesslich Stellung als Dienstmädchen, weit seltener als Schnei-
derinnen, Verkäuferinnen u. dgl. Der dem Entwicklungsgang der Waisen-
mädchen entsprechende Beruf einer Lehrerin, Erzieherin oder Krankenwärterin
wird fast nie ergriffen. Mehr noch als bei den Knaben zeigt sich bei den
Mädchen die Nothwendigkeit, dass die Anstalt den Entlassenen bis zur Voll-
jährigkeit mit Rath und That zur Seite steht, da die Erfahrung lehrt, dass
besonders in grossen Städten die abhängige, schlecht bezahlte Dienstboten-
stellung gewöhnlich schon nach kurzer Zeit mit der einträglicheren Arbeit
in Fabriken vertauscht wird; auf die mit einem derartigen Berufswechsel ver-
knüpften Gefahren in gesundheitlicher und moralischer Beziehung muss von
Seiten der früheren Erzieher immer wieder in freundschaftlicher und be-
lehrender Weise hingewiesen werden; durch disciplinäre Maassregeln auf die
Entlassenen irgendwie einzuwirken, fehlt zur Zeit jedwede gesetzliche Hand-
habe. Um schon frühzeitig die Freude an einer geeigneten Beschäftigung
zu wecken, leitet man mehrerseits die Mädchen schon während des Anstalts-
aufenthalts zur Führung des Haushalts an.
So ist in Köln, wo Haus- und Anssenpflege neben einander bestehen, die Anordnung
getroffen, dass die Mädchen durchgehends, nachdem sie die Schule verlassen haben, noch
1 — 1^/2 Jahre im Waisenhaus eingezogen werden. In dieser Zeit werden sie der Reihen-
folge nach unter geeigneter Anleitung in der Waschküche, der Kochküche, dem Näh-
zimmer und dem Bügelzimmer des Hauses beschäftigt, wobei, besonders beim Kochen,
neben dem grossartigen Anstaltsbetrieb auch auf die kleinen Verhältnisse in der Familie
Rücksicht genommen wird.
Die Unterhaltung der Waisenhäuser geschieht zumeist aus den
Renten von Stiftungen, Legaten und gelegentlichen Geschenken, welche von
Seiten fürstlicher, geistlicher oder auch privater Persönlichkeiten zukamen;
manche Anstalten verfügen über sehr ansehnliche, aus solchen Quellen stam-
mende Capitalien (so die Würzburger über 400000 Mark). Häufig ist die
Inanspruchnahme der privaten Wohlthätigkeit zu Gunsten der Waisen in
Form regelmässiger Vereinsbeiträge, von HauscoUecten, durch Aufstellung
von Sammelbüchsen in Kirchen, (jasthäusern u. dgl.; auch die Erträgnisse
von Wohlthätigkeitsconcerten, -Theatern, -Bazaren und -Lotterien, ferner bei
Vergleichen vor Gericht geleistete Strafgelder werden manchmal dem ge-
nannten Zweck zugeführt. Die früher häufig geübte Sitte, die Einkünfte der
Waisenhäuser dadurch zu vermehren, dass die Kinder in ihren freien Stunden
mit Herstellung von allerlei Industrieartikeln (Webereien, Flechtereien, Nacht-
lichterfabrication u. a.) beschäftigt wurden, ist erfreulicher Weise heutzutage
WAISENANSTALTEN. 1013
fast ganz aufgegeben; die geleistete Arbeit Avurde oft erbärmlich bezahlt und
den Kindern, die durch den Unterricht stark in Anspruch genommen waren,
wurde durch dieselbe der für ihre körperliche Entwicklung so wichtige Factor:
freie Bewegung in frischer Luft in ungebührlicher Weise geschmälert. Wo
von den Zöglingen die Bethätigung handwerksmässiger Verrichtungen ge-
fordert wird, geschehe dies in maassvoller, freierer Weise (Handfertigkeits-
unterricht) und erstrecke sich nur auf die Bedürfnisse der Anstalt selbst. —
Mehr von der ethischen Seite verwerflich sind die mancherorts noch in regel-
mässigen Zwischenräumen veranstalteten Bettelzüge der Waisenkinder und
die gegen Bezahlung von denselben verrichteten Gebete für Kranke und Ster-
bende, oder die bezahlte Theilnahme an Begräbnissen.
Die Waisenpflege ist ein Theil der den Gemeinden zufallenden Armen-
pflege; wo deshalb für die Waisen durch Stiftungen keine Fürsorge getroffen
ist, oder die Mittel aus den anderen genannten Quellen zu spärlich fliessen,
werden die Gemeinden in stärkerem Maasse herangezogen werden müssen;
zumal den Verwaltungen grosser Städte erwachsen dadurch bedeutende Lasten,
und so wurde gerade hier das Bedürfnis am dringendsten empfunden, den
Aufgaben der Waisenpflege mit möglichst geringen Aufwendungen gerecht
zu werden. Die Frage: „Anstaltspfloge oder Familienpfl egeV", die
schon am Ende des 18. Jahrhunderts viel discutirt worden war, kam haupt-
sächlich wegen ihrer pecuniären Seite in Folge der raschen Grössenzunahme
der Städte von den Sechzigerjahren ab mehr in Fluss. Es kann kein Zweifel
sein, dass die Erziehung in Waisenhäusern viel grössere Kosten verursacht.
Hat man doch in Leipzig die Erfahrung gemacht, dass ein in Farailienpflege
gegebenes Kind einen Pflegegeldersatz von höchstens 120 Mark pro Jahr
erfordert, während man für jedes Anstaltskind 300 — 400 Mark rechnen muss.
Im Zeitalter der Humanität könnte aber dieses Moment allein nicht den
Ausschlag für die überwiegende Bevorzugung der Familienpflege geben, wenn
nicht für dieselbe noch andere Gründe sprächen. Vor Allem scheint der
Vorwurf Berechtigung zu haben, dass in den Anstalten auf die Individualität
der Kinder zu wenig eingegangen werde. Wo individualisirt werden soll, ist
zahlreiches Personal nöthig; wie aber sollen die Institute, die 'schon bei
äusserster Einschränkung mit hohen Betriebskosten zu rechnen haben, einer
solchen Anforderung genügen können? — Auch diejenigen mögen Recht
haben, welche sagen, dass Waisen, gross geworden unter dem Schutz einer
auch die kleinsten Lebensbedürfnisse regelndenden Anstalt, den Anforderungen,
Sorgen und Entbehrungen des Lebens nicht das gleiche Verständnis ent-
gegenbringen als diejenigen, welche in der Familie des kleinen Mannes her-
angewachsen sind. Namentlich den Mädchen mag es später, wenn ihnen als
Dienstboten oft nur die kärglichsten Lebensbedingungen geboten werden, sehr
schwer fallen, in die neuen Verhältnisse sich zu fügen. — Einen völligen
Ersatz dessen, was die Familie als solche bietet, kann auch die beste ge-
schlossene Pflege nicht leisten; denn für die Erziehung des Charakters zur
Selbstverläugnung, für die Weckung der Schaffenslust im Interesse auch von
anderen, ist der lockere, durch die Waisenhausregeln geschaffene Zusammen-
hang nicht genügend.
Wenn den Gegnern der Anstaltspflege in diesen Punkten beigepflichtet
werden muss, so kann man ihren Einwürfen nach anderen Seiten hin nur
noch eine historische Berechtigung zuerkennen, insoferne sie moderne, gut
geleitete Anstalten nicht treffen können. Man sagt gerne, dass die Gesund-
heit und das körperliche Gedeihen der Kinder in den Waisenhäusern leide.
Die Statistiken, die an verschiedenen Orten geführt wurden, sprechen dagegen;
insbesondere ist es auffällig, dass Tuberkulose in Waisenhäusern nur äusserst
selten vorkommt, trotzdem doch gerade die erbliche Belastung der Kinder
in dieser Hinsicht eine sehr starke ist. So konnte Stich als Hausarzt am
1014 WAISENANSTALTEN.
Nürnberger Waisenhaus in acht Jahren bei einer jährlichen durchschnittlichen
Frequenz von 100 Kindern nur einen Fall von Tuberkulose constatiren, und
auch BoLLiNGEE fand innerhalb 12 Jahre unter den Kindern des Münchener
städtischen Waisenhauses, von denen mehr als die Hälfte erblich belastet
war, ein einziges tuberkulöses, das überdies die Krankheit schon ausserhalb
der Anstalt erworben hatte. — Ein Aehnliches gilt von den Hautkrankheiten,
die früher in Waisenhäusern unausrottbar schienen, jetzt durch eine pein-
liche Reinlichkeitspflege aus denselben geschwunden sind.
Dass die strenge Zucht die Zöglinge zu Lüge und Heuchelei führe,
kann nur für diejenigen Fälle zugegeben werden, wo die Strenge der Erzieher
nicht mit der Einsicht in die Schwächen des Kindergemüths gepaart ist; das
Princip der Anstalt aber trifft dieser Vorwurf nicht. Mit derselben Vorsicht
ist die immer wieder in den Vordergrund geschobene Gefahr der sittlichen
Ansteckung von einzelnen schlechten Elementen aus aufzufassen; wo tüch-
tigen Erziehern die Aufsicht untersteht, wird diese Gefahr für die Waisen-
hauskinder nicht grösser sein, als sie sich für die in Familienpflege stehenden
Kinder in der Schule, auf der Strasse und auf öffentlichen Spielplätzen
darstellt.
Die Bedenken, welche anderseits gegenüber der Familienpflege erhoben
werden, beziehen sich auf die Auswahl und Beaufsichtigung der Persönlich-
keiten, welche den Kindern die verlorenen Eltern ersetzen sollen. Wenn
man die Höhe des den Pflegeeltern gewährten Kostgeldes mit den von ihnen
übernommenen Verpflichtungen vergleicht, so kommt man zu der Ueber-
zeugung, dass der Nutzen daraus nur ein sehr geringer sein kann; es liegt
daher die Versuchung nahe, die übernommenen Kinder nur mangelhaft zu
verpflegen oder auch, wenn sie einigermaassen herangewachsen sind, ihre
Kräfte übermässig in Anspruch zu nehmen, eventuell dieselben auch zum
Bettel anzuhalten. Man sollte glauben, dass es schwer fiele, Pflegeeltern zu
finden, welche in geordneten Verhältnissen lebend, ohne lohnenden Verdienst
sich fremder Kinder annehmen; und doch berichten fast alle Städte, welche
ihre Waisen in Familien unterbringen, dass deren Versorgung nur selten
mit Schwierigkeiten verbunden sei. Die besten Pflegeeltern sind ältere Ehe-
leute, die mit der Aufziehung ihrer eigenen Kinder schon Erfahrung ge-
sammelt und nach Versorgung derselben, um nicht zu vereinsamen, Kinder
um sich haben wollen. Auch Witwen sind im Allgemeinen, besonders für
Mädchen, willkommene Erzieherinnen. Dagegen hat die Aufnahme von Waisen
in kinderreiche Familien meist nicht den gewünschten Erfolg.
Die Unterbringung auf dem Lande wird meistens schon aus gesundheit-
lichen Rücksichten vorgezogen. Die Mehrzahl der Kinder wird bei Bauern
und Handwerkern in Pflege gegeben und erlernt dabei das Gewerbe des
Pflegevaters; an manchen Stellen hat sich die Aufnahme der Waisen in
Lehrersfamilien auf plattem Lande sehr gut bewährt.
Den Schwierigkeiten, welche der häufigen Controle räumlich oft weit
auseinanderliegender Pflegestellen entgegenstehen, wird dadurch begegnet,
dass sich den amtlichen Aufsichtsorganen (Armenbehörden und Waisenrath)
überall opferwillige Männer und Frauen zur Verfügung stellen, welche dann
je einen kleinen Bezirk mit einer beschränkten Anzahl von Kindern zugewiesen
bekommen. Auch versuchte man mit gutem Erfolg eine Centralisirung der
in Aussenpflege gegebenen Kinder durch Gründung sogenannter Waisen colonien:
Man sucht möglichst viele Pflegeeltern im gleichen Ort zu gewinnen und
setzt eine geeignete Persönlichkeit im Ort selbst (Pfarrer, Lehrer, Bürger-
meister) als Waisenvater ein; dadurch wird die Controle zu einer ständigen
gemacht, die Kinder erhalten dabei einen einheitlichen Schulunterricht, eine
einheitliche Erziehung, ohne die Vortheile des Familienlebens entbehren zu
müssen.
WASSER. 1015
Mag nun immerhin — schon aus pecuniären Gründen — die Versor-
gung der Mehrzahl der Waisen in Familienpflege geboten sein, so bleibt für
einzelne P'älle das Bedürfnis nach Erhaltung der Waisenhäuser, even-
tuell nach Neuerrichtung von solchen bestehen. Es hat sich auch da, wo
man im Allgemeinen mit dem Anstaltsprincip völlig gebrochen hat (z. B. in
Berlin und Leipzig) gezeigt, dass das Waisenhaus wenigstens als Durchgangs-
station nicht zu entbehren ist. Auch bei der besten Organisation der Fa-
milienpflege wird es nicht immer sofort gelingen, eine passende Unterkunft
für das verwaiste Kind zu finden; es wird nöthig sein, dasselbe zunächst
durch geeignete Persönlichkeiten auf seine physischen, intellectuellen und
moralischen Qualitäten prüfen zu lassen, wenn man sich nicht der Gefahr
aussetzen will, schon nach Kurzem mit der Püegestelle wieder wechseln zu
müssen. Wo könnte dies aber besser geschehen als in einem Waisendepot,
wo die Kinder einer ständigen Beobachtung unterworfen sind?
Es ist ferner eine Erfahrungssache, dass viele Kinder in derart ver-
wahrlostem Zustand der Waisenpflege überantwortet werden, dass man ihre
Erziehung, wenigstens zunächst, nicht einer Familie überlassen kann. In-
dessen verdient erwähnt zu werden, dass der Waisenrath in Kiel in solchen
Fällen die verwahrlosten Knaben mit gutem Erfolg bei einem Fischer auf
einer Hallig unterbringt, und dass man auch in Berlin leichtere Grade der
Verwahrlosung noch nicht als Hindernis für — freilich schon erprobte —
Familienpflege betrachtet. Für gewöhnlich wird man aber, wenigstens bis
die Erziehung die ersten Früchte gezeitigt hat, die Hilfe von Waisenhäusern
eventuell von Rettungsanstalten in Anspruch nehmen müssen.
Eine dritte Gruppe der Anstaltspflege bedürftiger Waisen wird von den-
jenigen gebildet, welche wegen körperlicher Gebrechen, schwächlicher Con-
stitution oder geistiger Mängel eine besondere Wartung benöthigen. Wo es
die Verhältnisse erlauben, wird man derartige Kinder freilich lieber in Waisen-
sanatorien als in den allgemeinen Waisenhäusern unterbringen; so dient das
5. Wiener städtische Waisenhaus zu Klosterneuburg statutenmässig nur der
Aufnahme solcher Kinder, welche wegen Schwächlichkeit und Kränklichkeit
in die eigentlichen Waisenhäuser nicht eintreten können. Das segensreiche
Wirken dieser Anstalt, welche fast drei Viertel der (im Jahr 1883) krank auf-
genommenen, meist scrophulösen Kinder geheilt entliess, rechtfertigt den Wunsch,
dass, soweit nicht schon bestehende Kinderheilstätten, Seehospize, Feriencolonien
u. dgl. auch den Waisenkindern ihren Schutz gewähren, anderorts ähnliche
Sanatorien diese Lücke in der öffentlichen Fürsorge ausfüllen möchten.
J. H. ROTH.
Wasser. Das Wasser ist als eine Substanz, welche mit dem bei
Weitem grössten Antheile an der Bildung der Erdoberfläche sich betheiligt,
von einer hervorragenden Bedeutung im ganzen Naturreiche. Es spielt eine
wichtige Holle bei den meisten chemischen Umsetzungen, es ist unentbehrlich
für den Aufbau und die Erhaltung des thierischen und pflanzlichen Körpers,
es ist endlich in dem gesammten menschlichen Leben von entscheidender
Bedeutung für die Ernährung direct sowohl als indirect, für die Reinlichkeit
des Körpers und der Umgebung, damit zugleich auch für die Gesunderhaltung
des Individuums und ganzer Völker, für die gesammte Industrie, deren Blüthe
schliesslich auch wieder auf das Wohlergehen des Einzelnen rückwirkt. Kurz,
an das hinreichende Vorhandensein von Wasser ist die Existenz des Menschen
geknüpft, von der Güte des zur Verfügung stehenden Wassers hängt seine
Gesunderhaltung zum guten Theile ab. Das leuchtet umso mehr ein, wenn
man bedenkt, dass das Wasser seinen besonderen Eigenschaften gemäss ausser-
ordentlich leicht zum Träger und Verbreiter gesundheitsschädlicher Agentien
werden kann. Aus alledem resultirt zur Genüge die besondere Wichtig-
keit desselben für die Hygiene des gesammten menschlichen Lebens und die
1016 WASSER.
Nothwendigkeit, dass der Staat dafür sorge, dass es einem Jeden in genügen-
der Menge und Güte zur Verfügung stehe. Diese Erkenntnis hat zu ein-
gehenden Untersuchungen geführt, welche, lange Jahre fort betrieben, jetzt
wohl gestatten, nach einfachen, klaren Grundsätzen jenes Ziel anzustreben.
Das Wasser kommt vor als 1. Regenwasser, 2. Oberflächenwasser,
3. Grundwasser.
Diese Ausdrücke bedeuten eigentlich nur Etappen auf dem ununter-
brochenen Kreislauf des Wassers: Als Wasserdampf in der Luft vorhanden,
condensirt es sich und fällt als Regen, Schnee, Hagel zur Erde nieder, sickert
zum Theil durch die durchlässigen Erdschichten, bis es sich als Grundwasser
über einer undurchlässigen Schicht staut. Der andere Theil fliesst in Bächen,
Flüssen ab und sammelt sich in Teichen, Landseen, schliesslich im Meer. Das
ist das Oberflächenwasser.
1. Das Regen Wasser ist bei seinem Entstehen aus Wasserdampf chemisch
rein, wird aber bei seinem Fall durch die Luft mehr weniger verunreinigt.
Es nimmt an Gasen auf: Sauerstoff, Stickstoff, in grösserer Höhe über dem
Erdboden Salpetersäure, näher demselben Ammoniak. Der Sauerstoff ist in
der vom Regenwasser aufgenommenen Luft reichlicher vertreten als in der
atmosphärischen Luft, ebenso die Kohlensäure. Da Kalk- und Magnesium-
salze fast ganz fehlen, so ist das Regenwasser sehr weich und daher für den
wirthschaftlichen Gebrauch besonders geeignet. An der Meeresküste finden
sich oft nicht unbeträchtliche Mengen von Chlornatrium im Regenwasser; es
war durch Verstäubung mit dem Meerwasser in die Luft gehoben und vom
Regen mit niedergerissen worden. Die beigemischten festen Bestandtheile sind
je nach der Oertlichkeit, der Jahreszeit u. s. w. sehr verschieden an Menge
und Art. Es finden sich immer zahlreiche Bakterien vor; ihre Anwesenheit im
Verein mit oft beträchtlichen Mengen von organischen Substanzen bewirkt,
dass stagnirendes Regenwasser leicht in stinkende Fäulnis geräth. Das Regen-
wasser ist im Beginne des Regens am stärksten verunreinigt in Bezug auf
alle genannten Beimischungen, weiterhin wird es immer reiner. Als Trink-
wasser und zum Kochen wird es nur in Ermangelung einer besseren Wasser-
versorgung gebraucht, da seine starken Verunreinigungen es bedenklich er-
scheinen lassen; sein Geschmack ist unangenehm weichlich. Es wird in
Cisternen gesammelt und hier einer Passage durch Sandfilter unterworfen
oder der Selbstreinigung durch Sedimentirung überlassen.
2. Das Oberflächenwasser. Unter diesem Begriffe fasst man die frei zu
Tage liegenden fliessenden und stehenden Gewässer, Bäche, Flüsse, Teiche,
Seen und Meere auf. Sie erhalten Zufluss sowohl vom Regenwasser als auch
vom Grundwasser, sind also als ein Gemisch von beiden auch in ihrer Zusammen-
setzung zu betrachten. Letztere richtet sich nach der geologischen Forma-
tion, nach der Art der zufliessenden Wässer, welche natürlich sehr verschie-
den sein müssen, je nachdem sie aus stark oder schwach oder gar nicht be-
wohnten, industriereichen, mit W^aldungen bestandenen oder ackerbaureichen
Gegenden kommen. Im Allgemeinen ist Oberflächenwasser kohlensäurehaltiger
und härter als Regenwasser, weicher und ärmer an Kohlensäure als Grund-
wasser. Am wichtigsten sind der Gehalt an Kalk- und Magnesiumsalzen und
der an Chlornatrium, ersterer weil er die Härte des Wassers bedingt, letzterer,
weil er auf die Verunreinigungen durch Zuflüsse aus dem menschlichen und
thierischen Haushalte unter gewissen Verhältnissen — wo nämlich eine andere
Herkunft des Chlornatriums, z. B. aus dem umgebenden Erdreiche, ausgeschlos-
sen werden kann — schliessen lässt. Der Kalkgehalt wird bestimmt durch die
Formation der Gestein- und Erdschicht, welche der FIuss durchläuft, und
durch den Kohlensäuregehalt des Wassers, der Chlornatriumgehalt durch die
Verunreinigungen, die geologische Formation und die Jahreszeit, insofern als
er am höchsten ist bei niedrigem Wasserstande. Die ungelösten Bestandtheile
WASSER. 1017
des Flusswassers sind naturgemäss von einer ausserordentlichen Verschieden-
heit: Sie werden theils aus den durchlaufenen Erdschichten mitgerissen, theils
sind sie von oben her in das Wasser gelangt, entstammen in verschiedenen
Verhältnissen der organisirten oder der anorganischen Natur. Immer enthält
es Bakterien in wechselnder Zahl, deren Schwankungen für die Beurtheilung
der Verunreinigung des Flusswassers von der grössten Wichtigkeit, ja fast allein
maassgebend sind.
Das Flusswasser hat die Fähigkeit, die aufgenommenen Verunreinigungen in seinem
Laufe wieder zu beseitigen, die sogenannte Selbstreinigung der Flüsse. Diese kommt
zu Stande durch die Verdünnung mit zufliessendem Wasser, durch chemische, vornehmlich
Oxydationsprocesse, hauptsächlich wohl durch Sedimentirung, welche um so eher vor sich
geht, je ruhiger und langsamer die Strömung ist. Die chemischen Processe, besonders die-
jenigen, welche die Umwandlung der organischen Stoffe bewirken und die stickstoffhaltigen
Substanzen in Ammoniak, salpetrige und Salpetersäure zerlegen, kommen vielfach unter
dem Einflüsse von Bakterien zu Stande. Gelangen pathogene Bakterien in das Flusswasser,
so kann letzteres, da es denselben auf verschieden lange Zeit passende Lebensbedingungen
bietet, zur Verbreitung derselben und zur Entstehung von Epidemien Anlass geben. Das
hat vornehmlich in Bezug auf Cholera und Typhus Geltung. Das Wasser von Teichen
und Landseen unterscheidet sich nicht wesentlich vom Flusswasser.
Das Meerwasser ist sehr reich an Salzen, da ihm solche mit den Zuflüssen fort-
während zugeführt werden. Obenan steht an Menge das Kochsalz, es folgen Chlormag-
nesia, Gips, schwefelsaures Magnesium, Chlorkalium, Bromnatrium. An Bakterien ist es
im Allgemeinen arm, obwohl die Existenz auch empfindlicher Arten in ihm nicht ausge-
schlossen ist.
3. Grundwasser. Auf dem Wege, den das Regenwasser durch die durch-
lässigen Bodenschichten zurücklegt bis dahin, wo es sich als Grundwasser
über einer undurchlässigen Schicht staut, gibt es eine Menge der in der
Luft, auf den Dächern etc. aufgenommenen Verunreinigungen an den Boden
ab; besonders die Riech- und Farbstoffe, auch gewisse Mineralsubstanzen, von
denen am unverändertsten bleibt das Chlor. Die fäulnisfähigen Substanzen
werden von den zahlreichen Bodenbacterien umgesetzt und schliesslich in
Ammoniak, Wasser und Kohlensäure zurückgeführt. Das Ammoniak wird
weiter in salpetrige Säure und Salpetersäure übergeführt. Die unlöslichen
Bestandtheile, auch die Bacterien, werden mechanisch im Boden zurückgehalten.
Der Sauerstoff wird zum grössten Theile in Kohlensäure übergeführt; diese
Zunahme an Kohlensäure verleiht dem Grundwasser erhöhte Fähigkeit, Cal-
cium, Magnesium und Eisensalze zu lösen. Letztere sind oft in grösseren
Tiefen, wo die Menge des absorbirten Sauerstoffs nur noch gering ist oder
wo diese ganz fehlt, im Grundwasser zu finden als kohlensaures und phosphor-
saures Eisenoxydul. Ammoniak kann im Grundwasser gefunden werden,
wenn die vom Regenwasser zu passirenden Bodenschichten so reich an orga-
nischen Stoffen sind, dass sie das in jenem vorhandene Ammoniak nicht mehr
aufnehmen können, oder in sehr grossen Tiefen, wo die Luft nur noch sehr
wenig oder gar keinen Sauerstoff enthält, was eine Reduction der Salpeter-
säure zu Ammoniak zur Folge hat. Kommt es auf seinem Wege durch den
Boden mit in Verkohlung begriffenen Pflanzenresten in Berührung, so zeigt
es gewöhnlich humussaures Eisenoxydul neben Ammoniak. Das Grundwasser
ist im Allgemeinen im Sommer kühler, im Winter wärmer als die Luft. Es
tritt entweder in Folge der sich schneidenden Verlaufsrichtungen der Erd-
schichten von selbst als Quelle zu Tage oder wird künstlich durch Brunnen
erschlossen. In beiden Fällen entspricht das gelieferte Wasser in seiner
Qualität ganz dem Grundwasser, wenn nicht an der Stelle, wo es zu Tage
tritt, durch ungünstige Anlagen Verunreinigungen bewirkt werden.
Das Wasser kann eine Reihe von mikroskopischen Pflanzen und Thieren
enthalten; unter denen besonders den Eiern von Bandwürmern, Spulwürmern,
des Oxyuris vermicularis, des Trichocephalus dispar und des Anchylostomum
duodenale eine grössere Wichtigkeit für die menschliche Hygiene zukommt.
1018 WASSER.
Soll eines dieser Wässer irgendwie im menschlichen Haushalt Verwen-
dung finden, so ist Folgendes zu bedenken. Solches Wasser darf nie, gleich-
viel ob es zum directen Genüsse als Trinkwasser oder zum Kochen oder zu
wirthschaftlichen Zwecken benutzt werden soll, gesundheitsschädliche Eigen-
schaften haben. In dieser Beziehung sollte ein Unterschied zwischen Trink-
wasser und Nutzwasser nicht gemacht werden, da einmal eine Controle
über die Verwendung des Wassers, sobald es einmal in den Haushalt gelangt
ist, ausgeschlossen ist, anderseits auch bei dem besten Willen es nicht zu um-
gehen ist, dass nur zu Nutzzwecken geeignetes Wasser, an die zum Trinken
und Speisen bestimmten Geräthe gelangt und somit dem Körper sammt den
etwaigen krankheitserregenden Agentien zugeführt wird. Ein jedes für den
menschlichen Haushalt bestimmte Wasser soll also von tadelloser Beschaffen-
heit sein; dazu gehört, das es von klarem, appetitlichem Aussehen, geruchlos,
von angenehm erfrischendem Geschmack und der richtigen Temperatur ist,
dass es nicht durch zu hohen Gehalt an Erdalkalien zu hart wird, dass es
endlich keinerlei krankheitserregende Bestandtheile, seien sie nun chemischer
Natur oder thierische oder pflanzliche Organismen, enthält. Wasser von un-
gewöhnlichem Aussehen, sei es nun, dass es durch schwebende erdige oder
pflanzliche Beimischungen getrübt, gefärbt oder sonst wie verändert ist, er-
regt Widerwillen, ebenso solches, das einen ausgesprochenen Geschmack hat
oder durch einen zu geringen Kohlensäuregehalt des angenehmen Prickeins
entbehrt, das wir von gutem Trinkwasser verlangen, oder das zu warm ist.
Ein zu hoher Gehalt an Erdalkalien macht das Wasser zum Waschen unge-
eignet, da jene mit der Seife unlösliche Verbindungen eingehen, und dadurch
der Verbrauch an Seife und damit die Kosten der Reinigung steigen, auch
ist solches Wasser nicht zum Kochen von Hülsenfrüchten zu gebrauchen.
Krankheitserregende Beimischungen chemischer Natur kommen nur selten in
Betracht, denn im Allgemeinen werden sie in einer solchen Verdünnung auf-
treten, dass sie praktisch keine Wichtigkeit haben; es soll damit nicht aus-
geschlossen werden, dass chemische Körper von giftiger Einwirkung auf den
menschlichen Körper in Wasserentnahmestellen in gefährlicher Concentration
erscheinen können. Man denke da besonders an das Auftreten von Bleiver-
bindungen im Leitungswasser, das in Bleiröhren fliesst; auch sind absichtliche
Beimischungen von giftigen Verbindungen bei Brunnen und Quellen nicht
undenkbar.
In solchen Fällen werden besondere Krankheitserscheinungen oder son-
stige äussere Momente Anlass zu näherer Untersuchung geben. Die thierischen
Krankheitserreger, welche im Wasser auftreten können, sind oben erwähnt.
Von höchstem Interesse sind aber diejenigen pflanzlicüen kleinsten Lebewesen,
welchen das Wasser häufig als Verbreitungsmittel dient, und die auf diese
Weise die Erreger weitverbreiteter Epidemien werden können. Es ist wieder-
holt mit unumstösslicher Sicherheit festgestellt, dass Cholerabacterien auf
irgend eine Weise in fliessendes Wasser gelangten und nun in dem ganzen
von diesem Wasser versorgten Gebiete in kurzer Zeit massenhafte Cholera-
erkrankungen hervorriefen. Bestimmte Wasserentnahmestellen, die mit Typhus-
bacterien inficirt worden waren, wurden zum Ausgangspunkte , zahlreicher
Typhuserkrankungen in allen jenen Haushaltungen, die ihr Wasser von da-
her bezogen. Auch für die Dysenterieerreger nimmt man einen gleichen
Modus der Verbreitung an; derselbe ist auch für eine Anzahl anderer Infec-
tionskrankheiten wahrscheinlich, doch nicht mit Sicherheit erwiesen.
Die Begutachtung eines Wassers auf seine Brauchbarkeit
für den menschlichen Haushalt wird alle diese Factoren sorgfältig
in Rechnung zu ziehen haben. Man hat zu dem Zwecke ganz bestimmte
Grundsätze aufgestellt: Wasser, in dem es gelang, pathogene Bacterien nach-
zuweisen, ist ohne Weiteres als gesundheitsschädlich zu verwerfen; aber auch
WASSER. 1019
solches Wasser, welches einen unverhältuismässig hohen Bacteriengehalt zeigt,
ist zum Mindesten verdächtig, da jener ein Beweis dafür ist, dass die filtri-
rende Kraft des Bodens erschöpft ist, somit ein Eindringen von pathogenen
Keimen in das Wasser zu den naheliegenden Möglichkeiten gehört. Bei
Brunnen kann man sich darüber leicht Gewissheit verschaffen, wenn man den
Brunnen desinficirt und dann untersucht. Bei gut filtrirendem Boden wird
das Grundwasser dann dauernd keimfrei erscheinen. Auf Grund des chemi-
schen Untersuchungsbefundes allein wird Wasser selten zu beanstanden sein.
Die Endproducte der Fäulnis organischer Stoffe, Ammoniak, salpetrige und
Salpetersäure, an sich in der im Wasser vorkommenden Verdünnung völlig
gleichgiltig, können als Zeichen der stattgehabten Zersetzungsvorgänge benützt
werden und die Verwendung eines Wassers, in dem sie sich finden, bedenk-
lich erscheinen lassen; doch darf nie darauf hin ein Urtheil gefällt werden
ohne genaue Feststellung des Ursprungs dieser Verbindungen. Ammoniak
kann sogar in tiefsten, vor jeder Verunreinigung geschützten Brunnen vor-
kommen und ganz unbedenklich sein; es ist hier in der sauerstoffarmen Luft
durch Pieduction entstanden und findet sich fast regelmässig in eisenhaltigen,
auch Tiefbrunnen vor. Man hat ferner auf die geologische Formation der
Umgebung des Wassers Rücksicht zu nehmen und zu bedenken, ob jene Ver-
bindungen den Gesteinsschichten entstammen können. Es lässt sich demnach
auch kein allgemeiner Grenzwert für dieselben angeben, vielmehr müsste ein
solcher für jeden Ort erst unter Berücksichtigung der genannten Verhältnisse
festgesetzt werden. Ist aber ein derartiger Ursprung auszuschliessen, so sind
diese Verbindungen allerdings geeignet, den Ablauf von Zersetzungsvorgängen
im Wasser anzuzeigen, welche dieses, besonders wo sie in reichlicher Menge
vorkommen, als ungeeignet erscheinen lassen. Ebenso steht es mit dem.
Chlor; dasselbe tritt im Wasser als Chlornatrium auf, welches dem thierischen
oder menschlichen Haushalte, besonders den Fäcalien entstammen kann.
Dann würde eine der gefährlichsten Verunreinigungen vorliegen. Es kann
aber auch aus Chlornatrium führenden Erdschichten stammen und ist dann,
wenn ein zu hoher Gehalt nicht die Schmackhaftigkeit beeinträchtigt, ganz
unbedenklich.
Zeigt die Untersuchung einen beträchtlichen Gehalt an organischen
Stoffen, so muss ein solches Wasser als verdächtig betrachtet werden; immer-
hin ist auch dieses Ergebnis unsicher, da die übliche Untersuchung über die
Art derselben und ihre Herkunft keinen Aufschluss gibt, also auch ihre Ge-
fährlichkeit oder Harmlosigkeit unbeachtet lässt. Das trifft besonders wieder
zu bei humusreichen Erdschichten.
Ein hoher Eisengehalt ist nicht direct gesundheitsschädlich, macht aber
das Wasser unansehnlich und kann den Betrieb von Wasserleitungen stören,
besonders wenn das ausgeschiedene Eisen durch Crenothrix polyspora verfilzt
wird und die Piöhren verstopft. Für industrielle Zwecke kann solches Wasser
ebenfalls untauglich sein.
Grosse Härte des Wassers wird nur in beschränktem Maasse gesund-
heitsschädlich wirken können, und dann nur bei sehr lange fortgesetztem
ausschliesslichen Genüsse, macht es aber für wirthschaftliche und industrielle
Zwecke ungeeignet.
Untersnchungsraetlioden: Für die Entnahme des zu untersuchenden
Wassers hat man im Auge zu behalten, dass einmal die Manipulationen bei
der Entnahme selbst nicht die Durchschnittsbeschaffenheit beeinflussen, z. B.
indem der Grundschlamm aufgerührt oder nur von der stark verunreinigten
Oberfläche geschöpft wird, zum Anderen, dass das Wasser ohne wesentliche
Veränderung zur Untersuchungsstelle geschafft wird. Es darf also nur mög-
lichst kurze Zeit unterwegs sein, ja die bakteriologische Untersuchung sollte
sogar sofort an Ort und Stelle ausgeführt werden, es darf auf dem Transport
1020 WÄSSER.
nicht zu warm gehalten werden, ebenso wenig lässt sich aber eine beträcht-
liche Erniedrigung der Temperatur für längere Zeit, z. B. durch Eisverpackung
empfehlen. Die Entnahme sollte ausserdem am besten so geschehen, dass
man mit Sicherheit Wasser aus bestimmten Tiefen entnehmen kann. Dafür
sind verschiedene Apparate angegeben, die verschlossen in das "Wasser ge-
lassen, in der gewünschten Tiefe geöffnet und nach Füllung wieder verschlossen
werden.
1. Die physikalische Untersuchung erstreckt sich auf Aussehen,
Geruch, Geschmack, Temperatur.
2. Die mikroskopische Untersuchung richtet sich auf das Vor-
handensein von Pflänzchen und Thierchen, beim Verdunsten sich ausscheidende
Kiystalle anorganischer Verbindungen.
3. Die bakteriologische Untersuchung (vergl. S. 134) hat die
Zahl der in einem bestimmten Quantum vorhandenen Keime und ihre Art,
letzteres hauptsächlich bezüglich etwaiger pathogener Keime, festzustellen.
Für den ersteren Zweck versetzt man ein Gelatineröhrchen mit einer be-
stimmten Menge, z. B. 1 cm^ Wasser, giesst die Gelatine zu einer Platte aus
und wartet einige Tage, bis alle Keime zu Colonien ausgewachsen sind. Diese
werden gezählt. Enthält das Wasser voraussichtlich sehr viele Keime, so
wählt man geringere Wassermengen, eventuell Verdünnungen mit sterilisirtem
Wasser. Für die Auffindung der pathogen en Keime bestehen viele Methoden,
was schon beweist, dass sie alle nicht völlig genügen. Am leichtesten und
sichersten ist noch die Auffindung der Cholerakeime nach der Peptonwasser-
Culturmethode nach Koch, wogegen die Feststellung von Typhuskeimen nach
den vielen dafür angegebenen Methoden noch immer als Glückszufall zu be-
trachten ist.
4. Die chemische Untersuchung: Abdampfrückstand: Man
dampft 200— 250c;;?5 in gewogener Platinschale ein und trocknet bei 120*^
bis zur Gewichtsconstanz. Den Glühverlust zu bestimmen, hat wegen grosser
Fehler der Methode keine Bedeutung für die Wasseranalyse.
Chlorgehalt: 100 cm^ Wasser werden mit einigen Tropfen neutralen
Kaliumchromats versetzt und mit Vio Normal-Silbernitratlösung titrirt, bis
Eothfärbung eintritt.
Kalk salze: werden mit 7io Normaloxalsäurelösung ausgefällt; der
Ueberschuss der Säure wird zurücktitrirt mit Chamäleonlösung.
Härte: Man hat zu unterscheiden zwischen 1. Gesammthärte, d. i. dem
ursprünglichen Kalk- und Magnesiumgehalt, 2. vorübergehender Härte, d. i. der
Härte, welche das Wasser noch nach dem Kochen, also nach Ausscheiden der
Bicarbonate des Kalks und Magnesiums hat, 3. bleibender Härte, d. i. der Diffe-
renz beider. Bestimmt wird die Härte durch Titriren mit Seifenlösung, von
der man weiss, wie viel mg Kalk sie zu fällen vermag. Das Zeichen für die
vollendete Ausfällung der Kalk- und Magnesiumsalze ist das Stehenbleiben des
Schaumes beim Schütteln.
Ammoniak: Wird bestimmt durch die Färbung mit Nessler's Reagens
(Jodquecksilber gelöst in Jodkalium und Natriumhydrat) in dem Wasser, aus
dem die Erdalkalien mit Soda und Natriumhydrat gefällt sind. Die Menge
kann auf colorimetrischem Wege bestimmt werden.
Salpetrige Säure: Weist man durch Zusatz von Jodkaliumstärke-
lösung und Ansäuern mit Schwefelsäure nach oder noch sicherer durch Meta-
phenylendiamin (Gelb- bis Braunfärbung).
Salpetersäure: Zusatz einiger Tropfen Wasser zu einer Lösung von
Diphenylamin in concentrirter Schwefelsäure (Blaufärbung).
Oxy dir barkeit: Die organischen Substanzen werden in schwefelsaurer
Lösung mit ^/^o Normal-Chamäleonlösung zerstört und die Menge der ver-
brauchten Chamäleonlösung durch Oxalsäure zurücktitrirt. Man drückt die
WASSER. 1021
organischen Stofie aus durch den Verbrauch des Manganhyperoxyds in mg
oder des demselben entsprechenden Sauerstoffs.
Eisensalze: Geben sich schon zuerkennen dadurch, dass das beider
Entnahme klare Wasser trübe und mitunter braun wird und ockerfarbige
Bodensätze liefert. Durch Säuren wird das Wasser wieder klar und gibt nach
Oxydation der Oxydulverbindungen zu Oxydverbindungen mit lihodankalium
eine rothe Färbung.
Schwefelsäure: Das Wasser wird mit verdünnter Salzsäure ange-
säuert und Bariumchlorid hinzugesetzt. Es entsteht ein weisser, in Säure
unlöslicher Niederschlag.
Bleisalze: Lassen sich durch Zusatz von Schwefelwasserstoff zum
Wasser und die entstehende Braun- beziehungsweise Schwarzfärbung und auch
durch den Niederschlag erkennen.
Die Wasserversorgung geschieht entweder für einzelne Haushaltungen,
beziehungsweise Grundstücke besonders oder für eine grössere Anzahl solcher,
für ganze Gemeinden, Städte gemeinsam. In beiden Fällen kann man von
jeder der drei oben genannten Wasserarten Gebrauch machen. Dabei ist zu
bedenken, dass unter allen Umständen Regen- und Oberflächenwasser bedenk-
lich erscheinen, und wenn nicht durch besondere Maassnahmen ihre Fehler
vor dem Gebrauche beseitigt werden, nur im Nothfalle im menschlichen
Haushalte zugelassen werden sollten. Grundwasser dagegen ist immer als an
sich brauchbar zu erachten, und nur Gewicht darauf zu legen, dass seine Be-
schaffenheit nicht durch Verunreinigungen an den Entnahmestellen beein-
trächtig wird. Man gewinnt es aus Quellen und Brunnen. Erstere können
am Orte, wo sie zu Tage treten, aus dem Erdreiche Substanzen aufnehmen,
w^elche das Wasser färben und seinen Geschmack verschlechtern, so besonders
in Torfgegenden. Sie müssen, um Verunreinigungen durch Zuflüsse oder
von oben her zu vermeiden, gut gefasst und überdeckt w^erden. Brunnen
unterscheidet man, je nach der Tiefe, in welcher sie die wasserführende Schicht
erreichen, in Flach- und Tiefbrunnen, nach ihrer Bauart in Kessel-
und Röhrenbrunnen. Erstere werden durch Ausschachtung und Aus-
mauern des Schachtes hergestellt, die Beförderung des Wassers erfolgt durch
directes Aufziehen in Eimern oder durch Pumpen (Zieh-, bezw. Pumpbrunnen).
Ziehbrunnen sind nach oben offen, also allen Verunreinigungen von daher
ausgesetzt, auch ihre Seitenwände sind nur roh aus Feldsteinen aufgebaut,
so dass auch von da her bedenkliche Zuflüsse eintreten können. Pumpbrunnen
sind zwar oben gedeckt, ihr seitliches Mauerwerk ist sorgfältiger hergestellt,
eventuell auch cementirt. Immerhin ist die Controle der Abdichtungen
schwierig und unsicher. Deshalb sollte man Kesselbrunnen überhaupt ganz
aufgeben und nur Röhrenbrunnen benutzen. Hier wird ein eisernes Rohr,
das oben eine Pumpe bildet, unten in einen Saugkopf ausläuft, bis in die
wasserführende Schicht getrieben; verunreinigende Zuflüsse sind absolut aus-
geschlossen. Steht die wasserführende Schicht von Natur unter einem hohen
Druck, so tritt das Wasser durch letzteren zu Tage und die Pumpvorrichtung
ist überflüssig (Artesischer Brunnen).
Das Regenwasser wdrd für den Gebrauch der einzelnen Haushaltungen
inCisternen gesammelt, deren Construction oben erwähnt ist; soll es für die
centrale Versorgung von Städten verwandt werden, so muss die genügende
Menge für alle Jahreszeiten dadurch gesichert werden, dass man es in der
regenreichen Zeit in Reservoirs sammelt. Vielfach hat man für diesen Zweck
Thalsperren angewandt; die Güte des Wassers wird hier ganz von den ört-
lichen Verhältnissen abhängen. Oberflächenwasser wird direct geschöpft, am
besten an von dem Ufer entfernteren Stellen.
Wasserleitungen. Die Zuleitung des Wassers bei der Centralver-
sorgung muss natürlich jegliche Verunreinigung sicher ausschliessen; sie muss
1022 WASSER.
geschehen in geschlossenen Röhren aus gesundheitlich unbedenklichem Material,
am besten getheertem oder emaillirtem Gusseisen, welche zur Kühlhaltung des
Wassers mindestens 2 m tief unter dem Erdboden laufen; innerhalb der Häuser
geschieht die VertheiluDg aus ökonomischen Gründen gewöhnlich in Bleiröhren.
Aus diesen kann das Wasser bei beträchtlichem Gehalte an Kohlensäure und
geringer Härte Blei gelöst aufnehmen und so gesundheitsgefährdend werden.
Zum Zwecke der regelmässigen Vertheilung wird das Wasser zunächst in
Sammelbehälter geführt, von denen aus es, wenn sie hochgelegen sind, mit
natürlichem Gefäll, wenn sie in der Ebene liegen, durch Druckpumpen in die
Häuser befördert wird. Der natürliche oder künstliche Druck sollte so gross
sein, dass das Wasser bis in die höchsten Stockwerke und bei Feuersgefahr
noch auf die Dächer der höchsten Häuser gehoben wird. Bei der Einrichtung
solcher Anlagen hat man vorzusorgen, 1. für die nöthige Menge, 2. für die
Reinheit des Wassers. Was die erstere anbetrifft, so sollte sie, unter Be-
rechnung der persönlichen, wirthschaf fliehen und gewerblichen Bedürfnisse,
gegen 150/ pro Kopf und Tag betragen. Die Reinheit ist, wie gesagt, nur
bei Grundwasser von vornherein anzunehmen. Regen- und Oberflächenwasser
bedarf immer der Reinigung, welche zwischen Entnahmestellen und Reservoir
vorzunehmen ist.
Der Reinigung des Wassers überhaupt dienen Maassnahmen,
welche 1. durch Temperaturerhöhung, 2. durch Zusatz chemischer Mittel,
3. mechanisch wirken.
1. Durch Kochen werden alle Bakterien und ihre Sporen sicher ab-
getödtet, die doppeltkohlensauren Salze ausgefällt, organische Stoffe zerstört.
Doch leidet der Wohlgeschmack des Wassers durch Austreibung der Luft.
Zusatz von Thee und Kaffee dient zur Geschmacksverbesserung. Der Destilla-
tion des Wassers kann ein gleicher Werth beigemessen werden. Sie kommt
besonders auf Seeschiffen zur Anwendung, wo die zur Zeit sehr vervoll-
kommten Apparate ein vorzügliches Wasser liefern.
2. Die chemischen Mittel haben zum Theil eine vornehmlich klärende
Wirkung, indem sie mit im Wasser gelösten Substanzen unlösliche Verbin-
dungen geben, weiche im Niederfallen die schwebenden Stoffe mit nieder-
reissen, einigen kommt auch eine wirklich desinficirende Wirkung zu. Unter
den ersteren sind zu nennen Kalkwasser, Alaun, Eisenverbindungen (Ferrum
sulfuricum und Ferrum sesquichloratum). Der Sauerstoff der atmosphärischen
Luft ist ein vorzügliches Mittel, eisenhaltige Grundwasser durch Umwand-
lung des gelösten doppeltkohlensauren Eisenoxyduls in unlösliches Ferrocarbonat,
welches durch Filtration durch Coaks beseitigt wird, vom Eisen und dem
durch dieses bedingten unangenehmen Geschmack und Aussehen zu befreien
(Peoskauer, Piefke). Eigentlich desinficirend wirken sollen Wasserstoffsuper-
oxyd, Chlorkalk, Brom. Während das erstere eine relativ sehr lange Zeit zur
vollen Wirkung beansprucht, ist mit den beiden letzteren Stoffen in wenigen
Minuten eine sichere Desinfection zu erreichen.
Bassenge hat für sein Chlorkalkdesinfectionsverfahren folgende Vorschrift
gegeben: Auf 1 l Wasser sollen 0-0978^ activen Chlors in Form von O'lö g käuflichen Chlor-
kalks 10 Minuten lang einwirken. Danach wird das nicht verbrauchte Chlor, bezw. die unter-
chlorige Säure durch Zusatz von Calciumbisulfit entfernt. Es fällt schwefelsaurer Kalk
aus. Die Härte ist dann vermehrt, das Wasser ist frei von Beigeschmack oder Geruch.
Das Verfahren empfiehlt sich durch seine Wirksamkeit und Billigkeit. — Schumburg macht
Wasser keimfrei, indem er demselben eine Brombromkaliumlösung hinzufügt, so dass auf
1 ^ Wasser O'OB^' freies Brom, welche in 0-2 cm^ der Lösung enthalten sind, kommen.
Zeit der Einwirkung 5 Minuten. Umwandlung des übrig gebliebenen Broms in Brom-
natrium durch Zusatz von Pastillen, welche OÜö^ Natrium sulfuricum und 004^ Natrium
carbonicum enthalten (für 1 1 Wasser). Verfasser kann nach eigenen Versuchen bestätigen,
^3.ss Typhusbakterien auf diese Weise, auch in grosser Menge, sicher abgetödlet wurden.
Störend war ein zurückbleibender, höchst widerlicher Geruch, welcher auch nach langen
Tagen nicht aus dem Wasser entschwand und der dieses Verfahren, ganz abgesehen von
den Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten, welche das Hantiren mit Brom an sich
WOHNÜNGSHYGIENE. 1023
hat, wenig empfehlenswerth erscheinen lässt, zumal wir in dem von Bassenge ein ebenso
wirksames, aber von diesen Mängeln freies haben.
3. Die weitaus gebräuchlichste Methode der Wasserreinigung ist die durch
Filtration, und zwar die durch Sand und Kies. Sie kann in auf- und ab-
steigender Richtung vor sich gehen; am üblichsten ist die letztere. Im Gross-
betriebe wird die Einrichtung derart getroffen, dass das Wasser in Bassins
von 3 — 4 m Tiefe und 3000 — 4000 m- Bodenfläche gelassen wird. Es muss
hier durch die Filterschichten hindurchtreten und sammelt sich in den am
Boden befindlichen durchlöcherten Sammelcanälen, die es in die Reinwasser-
reservoirs leiten. Das Filter selbst besteht aus von oben nach unten grob-
körniger werdenden Schichten: 60 cm feiner, 8 cm grober Sand, 15 cm feiner,
15 cm grober Kies, 15 cm handgrosse. 28 cm kopfgrosse Feldsteine. Zur In-
betriebsetzung wird das Filter bis über die Randschicht von unten her mit reinem
Wasser gefüllt, und dann von oben her langsam das zu reinigende Wasser zu-
gelassen. Erst nach 48 Stunden beginnt die Filtration; in dieser Zeit hat sich
auf dem Sande eine feine Schlammschicht gebildet, welche die eigentlich
filtrirende Arbeit leistet. Ist diese bis zu einer gewissen Mächtigkeit ange-
wachsen, somuss sie sammt der obersten Sandschicht entfernt, das Filter
gereinigt werden.
Die Veränderungen, w^elche das Wasser in seiner chemischen Zusammen-
setzung durch den Filtrationsprocess erfährt, sind gering und unwesentlich.
Maasssgebend für die Beurtheilung der filtrirenden Kraft ist die Fähigkeit,
die Bakterien zurückzuhalten. Ein Sandfilter wird das nur unter guter Beauf-
sichtigung des Betriebes, sorgfältiger Construction leisten.
Für den Gebrauch im Kleinen ist eine ganze Reihe von Filtern an-
gegeben, von denen aber keines auf absolute Zuverlässigkeit für längeren Ge-
brauch Anspruch erheben darf. Es seien kurz erwähnt das BtlHRiNG'sche
Filter (plastische Kohle), verschiedene Constructionen von Asbest-Filtern, die
Filter aus Kieselguhr von Nokdtmeyer-Berkefeld und die aus Kaolin von
Chamberland-Pasteur, Alle diese Constructionen erwiesen sich nur für
mehr oder weniger beschränkte Zeit als keimdicht, dann w^erden sie von
Bakterien durchwachsen, . und es kann dazu kommen, dass das Wasser sie
reicher an Keimen verlässt, als es in sie eingetreten war, spierjng.
Wohnungshygiene. Die Wohnungshygiene, d. i, die Sorge für Wah-
rung der gesundheitlichen Interessen, die sich an die Herstellung und die
Benützung der Wohnungen knüpfen, ist bisher fast nur im ersten Theile
ein Gegenstand der Sorge der gesundheits polizeilichen Thätigkeit ge-
wesen, während in Bezug auf die Ueberwachung des „gesunden Wohnens"
zur Zeit fast überall auf dem Continent erst die Anfänge polizeilicher Wirk-
samkeit vorliegen, und auch diese noch auf eine leicht übersehbare Anzahl
von Orten und auf ein Minimum von dem, was die hygienische Wissenschaft
verlangen muss, beschränkt ist.
Die seit lange geübte Aufsicht der Polizei bei Herstellung von
Wohnungen hat vorzugsweise den Zweck, Sicherheit der Bewohner gegen
Gefahren, die durch ungenügende Festigkeit des Gebäudes, oder Mängel
der Verkehrseinrichtungen in demselben, oder durch Feuersgefahr drohen, ab-
zuwenden, und erst in der neueren Zeit w^erden in den Baupolizeiordnungen
(kurz Bauordnungen genannt) auch vereinzelt Bestimmungen angetroffen, die
darauf hinausgehen, die Bewohner eines Hauses vor Schädigungen ihrer
Gesundheit durch Feuchtigkeit und Unreinlichkeit, sowie Mangel an Luft
und Licht zu bewahren.
Während aber die den Schutz gegen Gefahren betreffenden Polizei-
vorschriften verhältnismässig leicht durchführbar sind, weil sie nur für die
kurze Dauer Anwendung finden, welche die Herstellung eines Hauses erfordert,
(eine Ausnahme bilden die sog. Massenlokale, hinsichtlich deren der polizei-
1024 WOHNÜNGSHYGIENE.
liehe Schutz gegen Gefahren für die ganze Dauer ihres Bestandes mit
einer gewissen Strenge aufrecht erhalten werden muss) ist es um die Durch-
führung der die Abwendung von Gesundheits-Schädigungen bezweckenden
Vorschriften im Allgemeinen recht ungünstig bestelUt, weil es sich hierbei
um die Wirkungen häufig wiederkehrender, oder auch dauernd herrschender
Ursachen handelt. Dieselben sind ausserdem nicht immer sinnfällig, und auch
wenn dies der Fall ist, ihrem Umfange nach selten genau übersehbar, und
es setzen das „Hausrecht" sowie Gewinnsucht und Nachlässigkeit des Haus-
eigenthümers der überwachenden Thätigkeit der Polizei leicht eine Grenze,
an der sie selbst beim Bestehen grober gesundheitlicher Uebelstände in
einem Hause Halt zu machen hat. Darin finden die heute in Deutschland
und anderen Ländern verfolgten Bestrebungen nach dem Erlass von Gesetzen
zum Schutz des „gesunden Wohnens" ihre Erklärung, welchen indes
grössere Erfolge bisher leider versagt geblieben sind. Was staatlicherseits
bisher geschehen ist, geht nicht viel über die Sorge um Abstellung der
gröbsten Mängel in den Wohnungen der niederen Volksclassen hinaus, und
dies gilt sogar für England, wo die Entwicklung einer eigentlichen Wohnungs-
hygiene schon nach dem ersten Auftreten der Cholera in Europa (London
1831) ihren Anfang nimmt, und die Sorge dafür in umfassenden Gesetzen
aus den Jahren 1867 (Public Health Act für Schottland), 1875 (Public Health
Act für England ausgenommen London) und 1891 Public Health Act für
London) einen gewissen Abschluss findet. (Vergl. deutsche Vierteljahresschrift
für öffentliche Gesundheitspflege, Bd. 29; 1897). — In Frankreich bestehen
schon seit 1851 Commissions des logements insalubres, die indes dem An-
schein nach keine grösseren Leistungen entwickelt haben. — In Deutschland
sind mehrfach Bestrebungen auf Erlass eines Wohngesetzes durch das Reich
hervorgetreten, ohne jedoch Erfolg gehabt zu haben, da die Competenz der
Pteichsgesetzgebung auf diesem Gebiete angezweifelt wird. Insbesondere hat
der deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege sich um den Erlass
eines „Pieichs "-Wohngesetzes bemüht, gegenwärtig jedoch in Aussicht genommen,
die Aufgabe bei den einzelnen Landesregierungen weiter zu verfolgen.
In zwei deutschen Staaten bestehen zur Zeit schon derartige Gesetze: im Gross-
herzogthum Hessen seit dem 1. Juli 1893 unter der Ueberschrift : „Gesetz, die polizei-
liche Beaufsichtigung von Miethwohnungen und Schlafstellen betreffend, und in Hamburg,
wo das Gesetz vom 8. Juni, betreffend die „Wohnungspflege", verkündet, jedoch noch nicht
in Kraft getreten ist. Eine kleine Zahl von Grundzügen betreffend die Wohnungen der niederen
Volksclassen sind in einer Verordnung des königlich Sächsischen Ministeriums des Innern
vom 30. September 1896 aufgestellt, und übrigens haben in Preussen verschiedene Bezirks-
regierungen für ihren Verwaltungsbezirk Verordnungen über das Wohn- und Schlaf stellen-
wesen bestimmter Arbeiterclassen erlassen. Darüber jedoch hinausgehend hat der
Regierungspräsident in Dösseidorf am 21. November 1895 eine Polizeiverordnung über die
Beschaffenheit und Benützung von Wohnungen veröffentlicht, welche sich auf alle Woh-
nungen ohne Unterschied, ob es sich um eigene oder Miethwohnungen handelt, erstreckt.
In einzelnen deutschen Städten sind Sanitätscommissionen oder besondere Commissionen
für Ueberwachung von geringeren Wohnungen speciell eingesetzt, oder haben sich aus
anderen Körperschaften entwickelt, so z. B. in der Stadt Posen. (Vergl. deutsche Vierteljahr-
schrift für öffentliche Gesundheitspflege, Bd. 29; 1897.) Im Königreich Sachsen, im Gross-
herzogthum Baden, und ähnlich in Elsass-Lothringen ist die Einrichtung getroffen, dass
dem Bezirksarzt (Physicus) eine Mitwirkung bei Ertheilung des Bauconsenses für alle
öffentlichen Gebäude eingeräumt ist.
So gewährt das, was auf dem speci eilen Gebiet der „Wohnungspflege" in
Deutschland geschehen ist — nicht zum Besten der Sache — ein sehr wechselndes
Bild, das durch den Umstand noch viel wechselvoller wird, dass die Polizei-
behörden kraft der denselben allgemein beigelegten Befugnis in Einzelfällen
einschreiten können, ohne dabei an gesetzliche Normen gebunden zu sein.
Immer aber handelt es sich nur um die Wohnungen untersten Ranges, Es liegt
daher ein dringendes Interesse vor, nicht nur in dieser Materie grössere
Einheitlichkeit zu schaffen, sondern den Bereich der zu erlassenden Gesetze
auf alle Wohnungen ohne Unterschied auszudehnen. —
WOHNÜNGSHYGIENE. 1025
Eine Anzahl von Dingen, durch welche die Gesundheit der Bewohner
eines Hauses stark beeinflusst wird, fällt in das Gebiet des Privatrechts.
Es gehört dahin z. B. das sogenannte „Lichtrecht" und das „Aussichtsrecht,"
durch das die Ansprüche des einen Nachbars gegen den andern auf den Bezug
von Himmelslicht und Gewährung freier Aussicht geregelt werden. Weil
beide Rechte als „Privatrecht" aufgefasst werden, ist die Wahrung der damit
verknüpften gesundheitlichen Interessen dem Wirkungskreise der Polizei ent-
zogen, die nur in Gegenständen des öffentlichen Rechts ihre Thätigkeit
auszuüben hat. Neuerdings macht sich indes in der Rechtsbildung erfreu-
licherweise eine Strömung dahin geltend, dem öffentlichen Recht, und damit
dem Schutze der öffentlichen Gewalt, auch Gegenstände zu unterwerfen, die
bisher, als dem Gebiete des Privatrechts angehörig, davon ausgenommen
waren. Für die Wohnungshygiene lassen sich davon nur günstige Folgen
erwarten.
Gesundheitspolizeiliche Vorschriften über die Herstellung von
Wohnungen, die in neueren Bauordnungen aufgenommen zu werden
pflegen, beziehen sich etwa auf folgende Punkte:
a) Lage des Wohnhauses zur Strasse und zu einander.
h) Ueberbauungsfähiger Theil eines Grundstücks.
c) Gestalt und Kleinstgrösse der mit Gebäudetheilen ganz oder zum Theil um-
schlossenen Grundstückstheile (sogenannte Höfe).
d) Zulässige Höhe der Gebäude, beziehungsweise Anzahl der über einander anzu-
legenden „Wohngeschosse". Fast immer^ wird für die Gebäudehöhe ein bestimmtes
Maximalverhältnis zur Breite der davor liegenden Strasse festgesetzt.
e) Kleinstenhöhe der Wohnräume.
f) Lage, Anzahl und constructive Einrichtung der Treppen.
g) Constructive Sicherheit; Verhütung von Feuersgefahr; Vermeidung von Gefahren
durch Grundwasser (Feuchtigkeit).
li) Bedingungen für die Bewohnbarkeit von Keller- und Dachgeschossen.
i) Lage und Beschaffenheit von Nebenräumen (Koch- und Waschküchen, Roll- und
Plättstuben und andern Arbeitsstätten), wenn dieselben zum dauernden Aufenthalt von
Menschen dienen.
h) Termin der Beziehbarkeit von Wohnungen in neuen Gebäuden. '
l) Lage und Einrichtung der Aborte und Stallungen in und bei Wohngebäuden.
m) Beseitigungsweise der flüssigen und festen Abfallstoffe, die in den Haushaltungen
erzeugt werden.
n) Wasserversorgung des Hauses.
Bauordnungen, die aus älterer Zeit stammen, sind mehrere, vielleicht die
meisten der hier nur andeutungsweise berührten Bestimmungen fremd. Und
wo dieselben vorkommen, herrschen in der Art der Regelung grosse Yer-
schiedenheiten, die ihre Erklärung nur theilweise in Verschiedenheiten der
örtlichen Verhältnisse finden. Gewöhnlich lässt aber auch die Durch-
führung der baupolizeilichen Vorschriften zu wünschen übrig, so dass selbst
das Minimum, welches sie fordern, unerreicht bleibt.
In den ersten Jahren seiner Thätigkeit hat sich der deutsche Verein für öffentliche
Gesundheitspflege vielfach mit der Aufgabe des Erlasses baupolizeilicher Vorschriften, die
auch dem dringendsten Anspruch an die Gesundheitspflege genügen, beschäftigt, u. a. in
seiner 2., im Jahre 1874 zu Danzig und in der 3., im Jahre 1875 zu München abgehaltenen
Versammlung (Veröffentlichungen in der Vierteljahrschrift des Vereins und in der Deutschen
Banzeitung 1875). Später hat auf Veranlassung des Vereins Prof. Baumeister, gewisser-
maassen als Abschluss dieser Arbeiten, unter dem Titel Normale Bauordnung den
Entwurf eines Baupolizeigesetzes veröffentlicht, der aber nur Grundzüge enthält, die sich
auf das Allgemeine beschränken, und darum des Ausbaues nach den Besonderheiten der
Oertlichkeit bedürfen. Viel weiter in Einzelheiten eingehend sind die von Frajsz Ptitter,
V. Gruber, Architekt, und Prof. Dr. M. Gruber verfassten „Anhaltspunkte für die
Verfassung neuer Bauordnungen in allen die Gesundheitspflege be-
treffenden Beziehungen". Wien 1893, eine Arbeit, welche als „Bericht'- an den
k. k. obersten Sanitätsrath abgefasst ist.
Hygienische Bestimmungen weitergehender Art, als die oben mitgetheilten,
werden zur Zeit in Deutschland kaum irgendwo angetroffen. Doch muss
anerkannt werden, dass wegen der grossen Mannigfaltigkeit der Ursachen,
welche in Wohnungen Gesundheitsschädigungen mit sich bringen können, die
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Med. "**
1026 WOHNÜNGSHYGIENE.
genaue Formulirung derartiger Vorschriften mit erheblichen Schwierigkeiten
verbunden ist. Unter diesen Umständen ist es schon als ein wesentlicher Fort-
schritt anzuerkennen, wenn nur die angerufenen Gerichte gewisse allgemeine
Kechtsgrundsätze zur sinngemässen Anwendung auch in Fragen der
WohnuDgshygiene bringen. Dies ist z. B. in Deutschland durch ein Erkenntnis
des höchsten Gerichtshofes (Reichsgericht in Leipzig) vom 28. September 1895
geschehen, in welchem ausgesprochen ist:
dass kein Grund vorliege, den Rechtsbegriff der Gefahr auf die Befürchtung oder
Schädigung durch mechanische Einwirkungen in Folge mangelhafter technischer
Construction (eines Wohngebäudes u. s. w.) zu beschränken, dass vielmehr Gefahr auch
in Bezug auf mögliche Erregung innerer Krankheiten vorhegen könne.
Mit diesem Urtheil ist thatsächlich eine Reihe von Handlungen oder
Unterlassungen beim Wohnhausbau, für welche ein causaler Zusammenhang
mit Krankheiten oder Gesundheitsschädigungen der Bewohner des Hauses
nachweisbar ist, der Geltung des deutschen Strafgesetzbuchs unterworfen, bei-
spielsweise Mangel an Vorsicht des Baumeisters gegen Einschleppen des
Hausschwammes (Merulius lacrymans) in ein Wohngebäude oder auch gegen
Feuchtigkeit u. s. w.
Eine besondere Bedeutung in der Wohnungshygiene haben in neuerer
Zeit, seitdem über Ursprung und Verbreitungsweise einer Anzahl sogenannter
ansteckender Krankheiten nähere Kenntnis gewonnen worden ist, die Schutz-
maassregeln gegen diejenigen unter jenen Krankheiten erlangt, welche
von besonderen Eigenschaften oder Einrichtungen des Hauses oder von
dem Verhalten der Bewohner desselben ihren Ausgang nehmen, bezw.
dadurch verbreitet werden. Die Erklärung der Wechselbeziehungen, welche
zwischen der Wohnung und einer Anzahl von ansteckenden Krankheiten be-
stehen, bildet den Inhalt einer Special-Wissenschaft, welcher Hueppe die Ueber-
schrift „Bakteriologie und Biologie der Wohnung" gegeben hat.
Eine, wohl die erste zusammenfassende, aber noch nicht vollständige Bearbei-
tung, die diese Wissenschaft bisher erfahren hat, rührt von Hueppe selbst her
und ist im Band 4 des Handbuchs der Hygiene von Th. Weyl (Jena 1896)
veröffentlicht.
Im Wesentlichen handelt es sich in der Bakteriologie und Biologie der
Wohnung um die Einflüsse, welche Feuchtigkeit und Schmutzstoffe in
mittelbarer Weise auf die Gesundheit der Bewohnerschaft dadurch ausüben, dass
sie die Träger von organisirten Gebilden sind, unter welchen sich auch die-
jenigen befinden, welche die ansteckende Krankheit hervorrufen oder doch
hervorrufen können. Gleichzeitig werden jene als Ausgangsstätten von
Zersetzungen in Betracht gezogen, wobei theils giftige, theils übelriechende
Gase, theils auch sogenannte Umsetzungsgifte entstehen, welche die Gesund-
heit sei es direct, sei es indirect, beeinflussen.
Das Auftreten von Feuchtigkeit in Wohnungen kann theils aus
den beim Hausbau verwendeten Baustoffen, theils aus Besonderheiten der
Verwendungsweise derselben (Construction), theils aus der Baugrundbeschaffen-
heit und Lage desselben, endlich auch aus der Benutzungsweise der Wohnung
hervorgehen. Vorhandensein von Feuchtigkeit ist, abgesehen von einigen be-
stimmten Wirkungen, die dadurch hervorgebracht werden, in der Regel auch
gleichbedeutend mit der Entstehung von Schmutzstoffen z. B. aus Staub, der
durch jene zum Haften gebracht wird. Indes bildet dieser Schmutz nur
einen geringen Theil im Vergleich mit denjenigen Schmutzmengen, die in
den sogenannten Abfallstoffen des Hauses, die theils trockene, theils
feuchte, theils nasse Beschaffenheit haben, enthalten sind.
Die gewöhnlichen Baumaterialien sind porös, daher luftdurchlässig; sie nehmen auch
Feuchtigkeit auf und geben dieselbe ab. Auch haben alle Wohngebäude Berührung mit dem
Erdboden, und es sind daher dem Eindringen von Mikroben in den UmschUessungen des
Wohnhauses verschiedene Wege geöffnet. Dennoch ist die Gefahr, dass pathogene Mi-
Jcroben auf diesen Wegen in die Wohnräume gelangen, sehr gering. Die Luft des Freien
WOHNÜNGSHYGIENE. 1027
ist an Mikroben relativ arm, zumal die in den Poren der Hausumschliessungen durch Wind-
und Temperaturunterschiede die zu beiden Seiten herrschen, erzeugte Luftbewegung völlig un-
zureichend ist, als dass mit der Luft Mikroben hindurchgeführt werden könnten; umgekehrt
wirkt wegen des grösseren Mikrobenreichthums der Zimmerluft das Durchtreten von Frischluft
durch die Hausumscliliessungen nur günstig. Möglich ist, dass Mikroben durch Windströmungen
an die Hausmauern geführt werden, liängen bleiben, und durch die Mauer hindurch-
wachsen, wie ebenso, dass sie von den die Grundmauern berührenden Erdschichten aus und
ebenso mit Bodenfeuchtigkeit oder Unterwasser in die Mauern hinein gelangen. Aber auch
davon ist keine erhebliche Gefahr zu besorgen, weil das in den Mauern vorhandene Kalk-
hydrat ein wirksames Vernichtungsmittel für Mikroben bildet. Bei Mauern von grösserer
Stärke bedarf es wahrscheinlich einer langen Reihe von Jahren, bevor die Ueberführung
des Kalkhydrats in kohlensauren Kalk und damit auch die Wirksamkeit dieses Schutz-
mittels beendet ist. Anders freilich bei Mauern und Wänden von nur geringer Stärke, und
selbstverständlich auch bei Wänden aus Holz oder andern Materialien, die ohne Verwen-
dung von Aetzkalk hergestellt sind. Desgleichen liegt der Fall anders, wenn durch einen
Gehalt der Mauern an gewissen Stoffen, z. B. Schwefelsäure oder Urin, das in den Mauern
enthaltene Kalkhydrat aeutralisirt wird.
Unter den verschiedenen Materialien, aus welchen Mauern hergestellt
werden, sind Ziegelsteine dadurch im Vorzuge, dass sie wegen der hohen
Temperatur, bei welcher sie gebrannt wurden, von vorherein im Innern
mikrobenfrei sind, ein Vorzug, der bei anderen künstlichen Steinen und auch
manchen Natursteinen nicht vorhanden ist.
Das Vorstehende gilt für Mauern, welche, im praktischen Sinne ge-
sprochen, rein sind, d. h. nicht mit Faul st offen in unmittelbarer oder
mittelbarer Berührung stehen. Wenn dies der Fall ist, kann dauernde Unge-
sundheit der Mauern, mit üblen Folgen für die Gesundheit der Haus-
bewohnerschaft stattfinden. Der in den Faulstoffen enthaltene Stickstoff wird
durch di6 Thätigkeit von Mikroben in Ammoniak (NHg) verwandelt und
tritt etwa bereits anwesendem Ammoniak hinzu. Auch kann durch Reduc-
tion von Nitraten und Nitriten weiteres Ammoniak gebildet werden. Wie die
Umwandlung von Stickstoff in Ammoniak wird aber auch die Oxydation des
Ammoniaks zu salpetriger und Salpetersäure durch Mikroben bewirkt, die mit
verschiedenen BaseU; als Kali- und Natronsalzen, Kalk und Magnesia — Stoffen
die in Mauerwerk regelmässig vorhanden sind — sich zu Salpeter, der in solchen
Fällen als M au er frass. bezeichnet wird, verbinden. Bedingung des Ent-
stehens ist nur Feuchtigkeit und Lichtabwesenheit. Die Salpeterbildung
geht besonders reichlich da vor sich, wo die Mauern oder der Boden mit
dem - grosse Stickstoffmengen enthaltenden — Urin von Menschen und
Thieren getränkt wird, also in Mauern, welche an Düngerstätten, Vieh-
ställe, Abortgruben und ähnliche Sammelstellen für Faulstofle angrenzen.
Mit Salpeterbildung behaftete Mauern sind immer feucht, auch von dumpfigem
Geruch, beides Umstände, durch welche die Gesundheit nachtheilig beein-
flusst wird. Zwischen der Bildung von Salpetersäure und Thätigkeit der
Nitrobakterien zu derjenigen von Schimmelpilzen besteht ein Gegensatz, in-
dem letztere nicht oxydirend sondern reducirend wirken. Daher schliesst
reichliche Anwesenheit von Schimmelpilzen reichliche Bildung von Salpeter-
säure, und folglich auch von Salpeter aus. Im gesundheitlichen Sinne stehen
aber Mauerfrass und Schimmelpilz-Bildungen wohl auf etwa gleicher Stufe
der Schädlichkeit.
Im Vergleich zu den von Mauern und Wänden unter Umständen zu er-
wartenden Gesundheitsschädlichkeiten, die durch Mikroben-Thätigkeit verur-
sacht werden, sind diejenigen von ungleich grösserer Bedeutung, welche von
den nach meist üblicher Art hergestellten wagrechten Theilungen der Wohn-
gebäude — den Zwischendecken — ausgehen können. Diese Thatsache ist
zuerst von Emmerich Anfangs der achtziger Jahre durch exacte Untersuchungen
festgestellt, die in Band 10 der „Zeitschrift für Biologie" veröffentlicht worden
sind. Immer handelt es sich um Zwischendecken mit sogenanntem Fehlboden,
d. h. Füllung der Hohlräume zwischen den Balken mit losen (ungeformten)
Materialien, als welche Sand und Kies, Lehm, gemischter Boden — darunter
65*
1028 WOHNUNGSHYGIENE.
auch Humus — Kohlenklein und KohlenscMacke, Asche, oft auch Bauschutt,
der beim Abbruch alter Gebäude gewonnen ist, benutzt werden. Die meisten
dieser Materialien enthalten schon von vorn herein Verunreinigungen und
andere werden denselben späterhin, beim Neubau des Hauses und bei der Be-
nutzung der Wohnungen zugeführt.
Verunreinigungen während des Neubaues kommen oft in sehr grossem Umfange vor,
regelmässig immer dann, wenn aaf der Baustelle nicht für Bedürfnisanstalten zum Gebrauch
der Arbeiter gesorgt ist, oder wenn nicht mit der allergrössten Strenge darauf gehalten
wird, dass vorhandene Bedürfnisanstalten von den Arbeitern benutzt werden, da Arbeiter
nicht Anstand nehmen, abgelegene Ecken oder Räume in einem Neubau als Bedürfnis-
anstalten zu benutzen.
Andere Verunreinigungen ergeben sich durch Staub und ßegenfall während der
Austrocknungsperiode leicht, wenn die Decken ohne Schutz durch das Dach des Hauses
offen daliegen, oder wenn Schlagregen durch nicht geschlossene Thür- und Fensteröffnungen
eindringt, oder wenn wegen des Fehlens von Dachrinnen und Regenrohre den Decken-
füllungen Feuchtigkeit in Massen zugeführt wird. Es ist endlich an die Gefahr zu denken,
dass mit dem Holz geringster Qualität, welches in der Regel in Zwischendecken zur An-
wendung kommt (sogenannte Schwarten von Nadelholzstämmen), ünreinigkeiten, Moder-
stoffe, Parasiten des Holzes und pflanzliches Leben in die Zwischendecke gelangt.
Bei der Bewohnung des Hauses ist das Deckenfüllmaterial der Gefahr
der Verunreinigung dadurch ausgesetzt, dass insbesondere bei der nassen
Reinigung der Fussböden Schmutzstoife durch die undichten Fugen, und die
fast immer undichten Anschlüsse an die Umfassungswände der Räume in das
Füllmaterial einsickern. Desgleichen ist auch beim gelegentlichen Verspritzen
von Wasser (wie z. B. beim Waschen und Baden) und von nassen Speisen,
beim Verspritzen des Inhalts von Nachtgeschirren u. s. w., die Möglichkeit
von schlimmen Verunreinigungen des Deckenfüllmaterials unmittelbar gegeben.
Nur bei sehr dichtem (fugenlosem) Fussböden und da, wo Belegung des
Fussbodens mit Linoleum oder Teppichen stattfindet, sind die Gefahren nach-
träglicher Verunreinigung des Deckenfüllmaterials gemindert oder aus-
geschlossen. Am grössten sind dieselben in den dürftigen Wohnungen der
ärmeren Volksklassen, wo auch noch mit der besonderen Gefahr der Ver-
unreinigung der Zwischendecken durch Ungeziefer, das sich darin ansiedelt,
stirbt u. s. w., gerechnet werden muss. Ausser mit Feuchtigkeit können den
Zwischendecken auch mit Staub beträchtliche Mengen von Schmutz durch die
offenen Fugen des Fussbodens zugeführt werden. Entsprechend den reichlich
vorhandenen Quellen der Verunreinigung wird beim Aufreissen alter Dielen-
fussböden unter den Fugen derselben immer ein mehrere Centimeter breiter
Streifen von schmutzig grauem Ansehen und einigen Millimetern Dicke ange-
troffen, der aus Schmutzstoffen besteht, und einen für mikroskopisches Leben
gut geeigneten Nährboden abgibt, da derselbe feucht und von constanter,
massig hoher Temperatur ist. Ausser der von oben eingesickerten Feuchtig-
keit kann aber das Füllmaterial einer Zwischendecke an gewissen Stellen
auch durch Condensation des Dampfgehaltes von feucht- warmer Luft, die von
unten aus Zutritt erlangt, angefeuchtet werden.
In welch hohem Grade Deckenfüllmaterial oft verunreinigt ist, machen
die Zahlen der Tabelle auf Seite 1029 anschaulich, welche die Resultate von
Analysen enthalten, die von Emmerich ausgeführt, und a. a. 0. veröffentlicht
sind.
Wenn der verunreinigte Boden von S t r a s s e n als gesundheitsgefährlich
gilt, um wie viel grösser wird die Gesundheitsgefährlichkeit des Füllmaterials
von Decken sein, dessen Verunreinigungszustand (nach der Tabelle) ebenso
hoch wie der des Strassenbodens ist! Dies gilt für die unter den Nr. 4 und 5
aufgeführte Kohlenschlacke, die demnach ein ausserordentlich be-
denkliches Füllmaterial ist. Aber die unter Nr. 6 und 7 verzeichneten Ma-
terialien unbekannter Herkunft müssen als noch viel bedenklicher bezeichnet
werden. Es ist daher ein Gebot der einfachsten Vorsicht, auf die Auswahl des
Materials zu Deckenfüllungen die allergrösste Sorgfalt zu verwenden. Ins-
WOHNUNGSHYGIENE.
1029
Nr.
Material
1 m^ bei 100'^ getrocknet enthielt qr
>
o
u
0)
<
o
o
<
u
CQ
CO
O d
ClNa
u
tt> ©
1.S
13 02
N.O,
1 =
O
Extract
HN3
1500
0
0
150
1120
0
0
0
810
0
0
0
190
0
0
0
—
0
—
—
6860
0
0
0
—
2420
590
590
23390
1760
0
1
—
1420
320
320
7660
J60
0
1-4
24200
1040
1360
930
4610
930
30
8
63220
(
1760
1040
1900
1470
7540
1770
—
104
J
1220
—
—
—
—
—
1
1770
f
850
)
)
1140
1 —
—
—
—
—
1920
f
1040
~l
1210
2450
)
—
—
—
—
—
9
10
Sand und Kies
Ziegelsteinstücke
Mörtelstücke
Kohlenschlacken
desgl.
Deckenfüllmaterial aus einem
Leipziger Neubau ....
desgl
3 Bodenproben aus Berliner
Strassen
3 Bodenproben aus Dresdener
Strassen
3 Bodenproben aus Leipziger
Strassen
besondere soll Deckenfüllmaterial frei von Stickstoff, von Ammoniak, von
Nitriten und Nitraten, von Chlorverbindungen (Kochsalz), auch von Alkalien
sein, und geringen Glühverlust geben, d. h. im Allgemeinen geringe Mengen
von organischen Stoffen enthalten.
Am meisten empfiehlt sich von den in der Tabelle verzeichneten Mate-
rialien Sand und Kies. Zulässig ist, wenn Trockenheit der Decke gesichert
ist, alter Kalkmörtel, gut verwendbar auch noch zerkleinerter Ziegelstein;
ganz auszuschliessen sind Kohlenschlacken. Von nicht in der Tabelle ver-
zeichneten Materialien sind Kohlengrus und Humusboden durchaus zu ver-
meiden, Avährend Lehmböden und Mischungen von Sand und Lehm nur mit
Vorbehalt als benutzbar bezeichnet werden können, weil Lehm Alkalien
enthält.
Eine besondere Betrachtung erfordert noch der beim Abbruch alter
Häuser gewonnene Bauschutt, ein Gemenge aus altem Mörtel, Steinen, Lehm,
Holz und anderen Resten organischen Ursprungs; einen Haupttheil des Schuttes
bildet das Material der Zwischendeckenfüllungen. Einen Vorzug besitzt der Bau-
schutt in seiner relativen Trockenheit, durch die eine wesentliche Abkürzung der
Herstellungszeit, die ein Neubau erfordert, ermöglicht wird. Diesem Vorzuge
stehen aber gewisse sehr üble Eigenschaften des Bauschutts entgegen: in
erster Linie der aus der obigen Tabelle ersichtliche hohe Gehalt an ver-
schiedenen Stoffen, die in directer und indirecter Weise Gesundheitsschädi-
gungen der Hausbewohnerschaft hervorzubringen im Stande sind. In zweiter
Linie kommt die Gefahr in Betracht, mit Bauschutt einen der grössten Feinde
des Holzes, und einen auch in gesundheitlicher Hinsicht sehr zu fürchtenden
Pilz, den Hausschwamm in ein neues Gebäude einzuschleppen. Diese Gefahr
ist gross, weil der Merulius lacrymans sporulirt, und weil auch unbedeutende
Reste desselben, die dem Augenschein nach längst abgestorben sind, Leben
und Fortpüanzungsfähigkeit bewahrt haben können.
Haiisschwaumi. Die Gefahr der raschen Zerstörung des Holzes durch
den Hausschwamm bei Seite gelassen, entsteht zunächst die Frage, ob dieser
Pilz specifisch giftige Eigenschaften bei Aufnahme in den menschlichen
Körper, sei es in den Verdauungsgang, sei es in die Luftwege, sei es in den
Blutkreislauf, äussern könne? Die Einen bejahen diese Frage, während Andere
1030 WOHNÜNGSHYGIENE.
sie verneinen. Die Verneinungen scheinen in neuerer Zeit die Oberhand zu
gewinnen. Aber abgesehen von der Frage speci fisch giftiger Wirkungen
des Hausschwammes, ist die allgemeine Schädlichkeit für die Bewohner
eines mit Schwamm behafteten Gebäudes eine sehr grosse, wie sich aus dem
Folgenden ergibt.
Der Pilz besteht zu hohem Antheil ans Wasser; bei verschiedenen Proben ergab
sich sein Wassergehalt zwischen 48 und ßS^^/o liegend; getrocknete Pilznaasse enthielt
4'9''/o Stickstoff, 15 20/0 Fett und ausserdem mehrere andere, noch nicht näher bestimmte
Stoffe.
Von Hausschwamm ergriffenes Holz nimmt gelblich-braune Färbung an, aber erst
nachdem ein gewisser Substanzverlust an der Holzmasse eingetreten ist; dieser kann bis
vielleicht 70''/„ gehen. An die Stelle der aufgezehrten Holzsubstanz tritt, wo Feuchtigkeit
in der Nähe ist, Wasser, welches begierig aufgesaugt wird. Es ist eine der schlimmsten
Eigenschaften des Pilzes, dass er Wasser aus mehreren Metern Entfernung heranschaffen
kann und dabei über Hindernisse hinweg zu kommen weiss, die man als unüberwindbar
anzusehen geneigt sein könnte. Er kann z. B. über grosse Mauerflächen hinweg kommen, und
sich sogar durch dicke Mauern hindurch verbreiten, obwohl es ihm hier an Nahrung
gänzlich fehlt. Unter und durch solche Hemmnisse fort führen die Spitzen der Mycelfäden
dem Pilze Wasser aus weiterer Entfernung zu. Der Hausschwamm kann also zu gleicher
Zeit die Doppelrolle von Ursache und Wirkung spielen: er kann schon vorhandene
Feuchtigkeit vermehren und noch trockene Unterlagen erst feucht machen.
Endlich will als Schädlichkeit des Hausschwammes der Geruch, den derselbe ver-
breitet, beachtet sein. Doch geht belästigender muffiger Geruch nur von dem abge-
storbenen Pilz aus, während der vom lebenden abgegebene keineswegs unangenehm ist.
Bedingung für das Auskeimen von Hausschwammsporen ist Anwesenheit von Feuchtig-
keit und Alkalien; doch genügen von beiden schon geringe Mengen; die Gegenwart von
Ammoniaksalzen begünstigt sein Gedeihen sehr. Gegen Frosttemperatur scheint der Pilz
sehr empfindlich zu sein, ebenfalls aber auch gegen höhere Temperaturen, von etwa 40° an.
Feuchte Luft ist für die Entwicklung Bedürfnis, während Berührung mit trockener Luft
den Pilz bald sicher vernichtet. Eine Ausnahme hiervon machen die stärkeren Stränge
und die Sporen, welche selbst längere Trockenperioden überstehen können. Gegen Licht
scheint der Hausschwamm sich einigermaassen indifferent zu verhalten; sicher genügen
aber sehr geringe Lichtmengen zu seinem Gedeihen, während andererseits reichliches Licht
schädigend auf ihn wirkt. In dem Füllmaterial der Zwischendecken sind alle Daseins-
bedingungen des Hausschwamms demselben in besonders günstiger Weise dargeboten, und
es ist daher gerade dieser Theil der Wohngebäude, von welchem eine Verbreitung des
Pilzes gewöhnlich ihren Ausgang nimmt.
Die Zersetzungen, welche in den Deckenfüllungen unter umständen
dauernd bestehen, sind Fäulnisvorgänge und die dabei entstehenden
hauptsächlichsten Umsetzungsproducte: Kohlensäure und Ammoniak.
Dass erstere in Zimmerdecken in beträchtlichen Mengen gebildet werden
kann, haben Bestimmungen von Hofmann und Emmerich, die in Hörsälen
des Universitätsgebäudes zu Leipzig, während einer längeren Ferienperiode
ausgeführt wurden, mit Sicherheit ergeben. Es wurden in der Luft von
Käumen, von welchen der Zutritt von CO2 auf besonderen Wegen abgehalten
war, Kohlensäuremengen bis zu 1-394 Raumtheilen in 1000 Theilen Luft auf-
gefunden und BuDDE hat durch Untersuchungen im alten Krankenhause zu
Kopenhagen festgestellt, dass die durch Zersetzungen in der Zwischendecke
gebildete COg-Menge gross genug ist, um den Kohlensäuregehalt der
Zimmer luft — der bekanntlich nicht über 0*7 bis höchstens 1 Raumtheil
in 1000 Raumtheilen Luft betragen soll — über jedes zulässige
Maass hinaus zu vermehren.
Da Fäulnis neben Kohlensäure und Ammoniak eine Reihe weiterer
gasiger Producte liefert, unter denen auch solche von üblem Geruch sind, so
leuchtet die grosse Bedeutung, welche den Zwischendecken der Wohnungen
für Wohlbefinden und Gesundheit der Hausbewohner zukommt, ein. Nur ein
Theil des schädlichen Einflusses derselben lässt sich durch Lüftung beseitigen,
während ein Theil bestehen bleibt. Zu letzterem gehören Staubaufwirbelung,
die bei trockenem Zustande des Füllmaterials durch die Fugen des Fuss-
bodens vermittelt werden kann, ferner gasförmige Zersetzungsproducte und
unter Umständen pathogene Mikroben, die vorübergehend ihren Sitz in dem
verunreinigten Füllmaterial der Zwischendecken haben können.
WOHNÜNGSIIYGIENE. 1031
Was die gesundheitlichen Wirkungen gasförmiger Zersetzungsproducte betrifft, so
haben die Ansichten darüber gewechselt, sind aber bis jetzt nicht zur Einhelligkeit gediehen.
Auf der einen Seite stehen die Anhänger der englischen Sewergases-Theorie, welche in den
bei Zersetzungen gebildeten Gasen die directe Ursache einer Anzahl von Infectionskrank-
heiten erblicken, und aut der anderen Seite Vertreter der Ansicht, dass von derartigen
Gasen weder ein direct noch ein indirect schädigender Einfluss auf die Gesundheit zu
fürchten sein; zwischen beiden Extremen ist Raum für vermittelnde Auffassungen. Die
Sewergases-Theorie, auf welche weiterhin bei Besprechung der Aufgabe der Beseitigung
der Abfallstoffe noch zurückzukommen sein wird, hat neuerdings in der eigenen Heimat
an Ansehen etwas eingebüsst, ausserhalb der Heimat überhaupt keine allgemeinere An-
erkennung gefunden und ist in Deutschland heute fast aufgegeben. Die Mehrzahl der
Sachverständigen scheint gegenwärtig der Ansicht zu huldigen, die Hueppe in dem Aus-
spruch zusammenfasst: dass von den gasförmigen Erzeugnissen von Zersetzungen keine
directen Infectionen zu fürchten sind, woLl aber, dass dieselben sogenannte disponirende
Wirkungen äussern: Krankheitsanlagen hervorrufen, bereits vorhandene Anlagen ver-
stärken, und dadurch Infectionen, die aus anderen Quellen hervorgehen (Wasser,
Nahrungsmittel, Staub u. s. w.), begünstigen können. Hueppe vertritt diese, experimentell
kaum zu erweisende Ansicht auf Grund der Erfahrung, und bemerkt mit Rücksicht auf
die Ergebnisse von Thierversuchen, welche zu dem Schlüsse geführt haben, dass von gasigen
Zersetzungsproducten ungünstige gesundheitliche Einflüsse nicht zu fürchten seien, dass
Thierversuche aus dem Grunde nicht beweiskräftig sind, weil die Versuchsthiere zum Theil
Aasfresser sind, zum Theil in Höhlen und Gängen dicht gedrängt in einem Gestank leben,
der Menschen bald ohnmächtig machen würde.
Erst vereinzelt sind bisher pathogene Mikroben in Zwischendecken-
füllungen aufgefunden worden. Sicherheit für den Befund scheint auch nur
mit Bezug auf die Bacillen des Tetanus und des malignen Oedems zu be-
stehen, beides Saprophyten, die ausserhalb des thierischen Körpers leben und
vermehrungsfähig sind. Daher besteht zwar die Möglichkeit, dass gelegent-
lich auch pathogene Mikroben in den Zwischendecken vorhanden sind und
dort die zu ihrer Vermehrung nothwendigen Bedingungen er-
füllt finden. Gewöhnlich wird aber die Vermehrungsfähigkeit ausgeschlossen
sein, und es sich nur um vorübergehendes Vorkommen handeln, wobei sogar
an Abnehmen der Virulenz zu denken ist. Die Berührung der Erreger mit
dem Menschen ist (abgesehen von besonderen Fällen) kaum anders als durch
Staub auf wirb elung in Folge Erschütterung des Fussbodens u. s. w. zu denken.
Theilweise in den geschilderten gesundheitlichen Mängeln der Zwischen-
decken, theilweise in dem Bestreben, die Decken feuersicher zu machen, endlich
aber auch in dem Streben nach Verkürzung der Bauzeit und Verminderung
der Baukosten hat der mehr und mehr in Aufnahme kommende Ersatz der
Holzbalkendecken durch ganz massive Decken oder solche aus Stein und
Eisen seine Begründung. Mit den Vorzügen dieser Decken laufen aber ge-
wisse Mängel parallel, als z. B. vermehrte Wärmeleitung und verstärkte
Schallleitung; im Vergleich zu den anderen gesundheitlichen Vorzügen dieser
Decken sind jedoch die Mängel unbedeutend, und lassen sich auch beseitigen.
Hierauf, sowie überhaupt auf die sehr zahlreichen Constructionssysteme von
Zwischendecken, die unter Vermeidung von Holz hergestellt werden, ist aber
an dieser Stelle nicht einzugehen.
So hoch die Bedeutung der Zwischendecken für die Gesundheit eines
Hauses auch angeschlagen werden mag, so wird dieselbe doch erheblich durch
die Reinhaltung des Hauses, worunter hier speciell die Sammlungs- und
Beseitigungsweise der Abfallstoffe verstanden ist, übertroffen.
Wenigstens wird diese Schlussfolgerung durch die bisherigen Beobachtungen
über die Sterblichkeitsziffer und insbesondere über die Typhushäutigkeit an
die Hand gegeben.
Als Abfallstoffe gelten hier die Absonderungen der Menschen und
Hausthiere, der Haus- und Küchenkehricht, sowie die flüssigen und halb-
flüssigen Abgänge des Küchen- und sonstigen Hauswirthschaftsbetriebs. Ob
den trockenen oder den nassen Abfallstoffen die grössere Bedeutung beizulegen,
ist vielleicht offene Frage. Die trockenen Abfallstoffe können weite Verbrei-
tung durch Staubaufwirbelung, die beim Sammeln und beim Transport ent-
1032 WOHNÜNGSHYGIENE.
steht, finden und sich dadurch sowohl der Athemluft als den Speisen mit-
theilen. Sie enthalten ihrer Herkunft nach (ein grosser Theil besteht aus
Asche) aber weniger Schädlichkeiten als die feuchten und nassen Abfallstoffe.
Für diese Auffassung ist jedenfalls ein Grund in der Thatsache gegeben, dass
die beim Abtransport und der Behandlung des sogenannten Hausmülls dauernd
beschäftigten Arbeiter und Kutscher sich im Allgemeinen einer guten Ge-
sundheit erfreuen, und eine besondere Gefährdung durch Infectionskrankheiten
bei denselben nicht beobachtet wird. Die feuchten und nassen Abfallstoffe be-
sitzen geringere Verbreitungsfähigkeit als Staub, neigen dagegen bei ihrem
Eeichthum an organischen Stoffen zur Fäulnis, und bilden im Allgemeinen
günstige Nährböden für Bakterien zahlreicher Arten. Man kann diese Stoffe
in zwei Hauptgattungen scheiden: menschliche Absonderungen und Küchen-
abfälle. Die früher herrschende Ansicht von der grösseren Gefährlichkeit der
erstgenannten Stoffe wird neuerdings nur noch vereinzelt aufrecht erhalten,
vielmehr in der Regel beiden Arten von Stoffen etwa übereinstimmende Schäd-
lichkeit beigelegt. Aber in Zeiten von einigen besonderen Epidemien, wie
Ruhr, Cholera und Darmtyphus, ist die grössere Bedenklichkeit entschieden
auf Seiten der menschlichen Absonderungen, weil diese alsdann die speciellen
Infectionserreger enthalten werden. Doch finden dieselben in den Abson-
derungen im Allgemeinen keinen günstigen Nährboden, werden auch von den
nicht pathogenen Bakterien leicht überwuchert. Vermehrungsfähigkeit ausser-
halb des menschlichen Körpers scheint nur unter besonderen Verhältnissen
stattzufinden, wogegen die Virulenz z. B. von Typhusbacillen lange Zeit,
sogar Monate, andauern kann. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass die
menschlichen Absonderungen so rasch als möglich aus der Wohnung und
deren Nähe entfernt werden, und die Bedeutung dieser Nothwendigkeit wird
dadurch verstärkt, dass sich in den Absonderungen bei Fäulnis sogenannte
Umsetzungsgifte (Alkaloide), sowie massenhaft gasige Erzeugnisse bilden, welche
nicht nur ekelerregend und zu Krankheiten disponirend wirken, sondern auch
die Luft in den Wohnungen sehr bedeutend verschlechtern können.
1 m^ Grubeninhalt von gewöhnlicher Consistenz kann bei massigem Luftzug und
massiger Temperatur in 24 Stunden 31bl Kohlensäure, 148? Ammoniak, 1"1Z Schwefel-
wasserstoff und 580 Z Kohlenwasserstoffe, also im ganzen 1044 Z luftverunreinigende Gase
aussenden; es werden dabei 510 Z Sauerstoff verbraucht, so viel wie in 2-bm^ Luft über-
haupt enthalten ist. Wenn man aber selbst 1'5 Raumtheile Kohlensäure auf 1000 Raum-
theile Luft als zulässigen Verunreinigungszustand der Luft annimmt, so werden durch die
315
erzeugten 315 Z CO, : -ttt = 210 m^ der umgebenden Luft an die Grenze des noch als
zulässig vorausgesetzten Verunreinigungszustandes gebracht.
Viel weiter gehende Schädlichkeiten als die besprochenen legt die
englische Sewer-Gases-Theorie den menschlichen Absonderungen bei. Diese
„Theorie" nimmt an, dass Canalgase, das ist die in Strassencanälen und
Gruben vorhandene Luft, eine Reihe von Infectionskrankheiten, als Digestio-
nen, Durchfall, Cholera, Darmtyphus, Diphtherie, Lungenentzündung, Scharlach,
und vielleicht noch andere hervorrufen können. Fälle von Wundrose, Hospital-
brand und Puerperalfieber sollen in Häusern, in welche Canalgase ein-
dringen, schwerer als sonstwo verlaufen. Was den Sitz, den Ort und die Ver-
breitungsweise von Schädlichkeit betrifft, so liegen jener Theorie etwa fol-
gende Anschauungen zu Grunde:
a) Der Sitz der Schädlichkeit liegt in den Strassencanälen; die Haus-
canäle dienen derselben nur als Wege.
b) Die krankmachenden Erreger oder ,, Stoffe" nehmen entweder ihren
Ursprung in den Strassencanälen, oder wenn dies etwa nicht der
Fall ist, finden sie in diesen günstige Bedingungen für ihre Erhaltung, be-
ziehungsweise Weiterentwicklung.
WOHNÜNGSHYGIENE. 1033
c) Die Erreger oder Stofte können aus dem Inhalt der Strassen-
canäle losgelöst werden, und mit der Luft zu den Bewohnern der anliegenden
Häuser gelangen.
Indem die Anschauung zu a) zwischen der Beschaffenheit des Inhalts von Strassen-
und Hauscanälen unterscheidet, beruht sie auf einer Voraussetzung, welche bei rationell
angelegten und ordnungsmässig betriebenen Strassencanälen unzutreffend ist. Dies
ist eine in der Wirkungsweise und der Ueberwachung der Strassencanäle begründete
Ansicht, die durch die tägliche Erfahrung bestätigt wird. Unrationell angelegte und
mangelhaft betriebene Strassencanäle äussern Rückwirkungen auf die Hauscanäle so dass,
wo jene Schädlichkeiten enthalten, diese nicht frei davon sein können. In jedem Falle
leidet daher die Anschauung zu a) an Einseitigkeit.
Zu h). Da die Krankheitserreger organisirte "Wesen sind und keine „Urzeugung"
besteht, kann der Ursprung derselben nicht in den Canälen liegen, sondern jene
müssen von aussen hineingetragen sein. Da sie auch nicht Erzengnisse der Krankheit sind,
können sie nur den Absonderungen Erkrankter entstammen. Sowohl die Temperatur, die
in Canälen herrscht, als der Mangel an Sauerstoff in den Absonderungen, als ungünstige
Beschaffenheit der Nahrung, als endlich die Concurrenz der nicht pathogenen Mikroben
wirken ihrer längeren Erhaltung und noch mehr der Bewahrung der Schädlichkeit und
der Vermehrung pathogener Mikroben entgegen.
Zu c). Es ist durch vielfache Versuche (insbesondere Naegellsj ausser Zweifel
gestellt, dass weder durch Verdunstung noch Capillarkraft Mikroben aus flüssigen Stoffen
frei werden können. Es bleiben daher nur die beiden Möglichkeiten der Verspritzung
und des Anhängens an Gegenstände, Flächen etc., welche infolge von Senkungen des
Flüssigkeitsspiegels aus der Flüssigkeit heraustreten und trocken werden. Beide Möglich-
keiten sind nur in beschränktem Maasse vorhanden. Aber auch wenn mit denselben
ernstlich gerechnet werden müsste, bedarf es zum Forttragen der Erreger mit der Luft auf
längeren Wegen, wie directe Versuche erwiesen haben, ziemlich bedeutender Wind-
geschwindigkeiten und Wege, welche relativ frei von Hindernissen sind. Umgekehrt ist aber
der Weg von den Strassencanälen durch die Hausanschlüsse und in die Wohnungen ein
mit so zahlreichen Hindernissen besetzter, dass die Passirung desselben durch Mikroben
wohl einen sehr seltenen Ausnahmefall bilden wird. Der Hinweis auf Riechstoffe, die von
Canälen ausgehen, ist bei der viel weiter gehenden Freiheit, gewissermaassen ünkörper-
lichkeit derselben, ohne Beweiskraft.
Es mag zur Widerlegung der Canalgastheorie weiter noch angeführt werden,
dass der Nachweis von Erregern von Krankheiten in der Luft von
Strassencanälen bisher nicht erbracht worden ist, obwohl Untersuchungen von
Canalluft zahlreich ausgeführt worden sind; vielmehr hat sich die Canalluft relativ frei
von Spaltpilzen erwiesen. Und nicht nur das, sondern auch in chemischer Hinsicht reiner,
als meistens angenommen wird. Dies Ergebnis wissenschaftlicher Forschung steht in
genauem Einklang mit den Beobachtungen, die über den Gesundheitszustand von hunderten
Arbeitern vorliegen, welche Jahre hindurch täglich in und an Strassencanälen beschäftigt
wurden, ohne dass bei ihnen Infectionskrankheiten oder besondere Dispositionen zu solchen
oder mehr als gewöhnliche- Gesundheitsschädigungen, bemerkt worden sind. Endlich
sei die vielleicht bündigste Widerlegung der Canalgastheorie hier kurz berührt, die in den
Beobachtungen über die Abnahme der Typhussterblichkeit in canalisirten Städten
vorliegt. In gut canalisirten Städten hat man eine Abnahme der Typhussterblichkeit bis auf
^/, oder ^/lo (und noch weniger) der früher bestandenen festgestellt, und es liegt dabei
Grund vor, gerade diese Aenderung als einen besonders geeigneten Maassstab bei Be-
urtheilung der Wirkungen von Stadtcanalisationen zu benutzen. Allerdings werden bei der
Aenderung auch zahlreiche andere Factoren im Spiele sein, so dass es unmöglich ist, die
Wirkung jedes einzelnen darunter aus dem Gesammteffect herauszuschälen. Aber dass
den Canalisationen eine sehr bedeutende Mitwirkung dabei zukommt, ist im höchsten Grade
wahrscheinlich, weil wenn das nicht der Fall, oder wenn die Canalgastheorie Recht hätte,
statt einer Abnahme der Typhushäufigkeit ein Stillstand, vielleicht sogar eine Zunahme
derselben hätte eintreten können. *)
Wie hoch oder wie gering aber auch der gesundheitliche Einfluss der
Abfallstoffe eingeschätzt werden mag, so herrscht doch darüber Einstimmig-
keit, dass es nothwendig ist, jene Stoffe so rasch als möglich, d. h.
*) Vergl. hiezu insbesondere: Baron, -Der Einfluss von Wasserleitungen und Tief-
canalisation auf die Typhuserregung in deutschen Städten", im Centralblatt für allgemeine
Gesundheitspflege 1886; ferner Hueppe, „Ueber Typhus und Canalisation" im Journal für
Gasbeleuchtung und Wasserversorgung 1887: Weyl, „Die Einwirkung hygienischer Werke
auf die Gesundheit der Städte", Jena 1893, Vierteljahirschrift für öffentliche Gesundheits-
pflege, Bd. 27 und 28; endlich Büsmo, „Die Städtereinigung", Band 3 des Städtischen
Tiefbaues Stuttgart 1897; und Boechllng, Sewer-Gas and its Infiuence üpon Health, London
1898.
1034 WOHNUNGSHYGIENE.
bevor faulige Zersetzung eintritt, aus der Wohnung und deren Nähe
zu entfernen. Alle Einrichtungen müssen, um Anspruch auf günstige Beurth ei-
lung zu haben, dieser Forderung angepasst sein, während die weitere
Anforderung, dass die Beseitigungsweise der Stoffe so beschaffen sein soll,
dass dieselben rasch in denZustand derUnschädlichkeit über-
geführt werden, und dabei nicht die Gesundheit Dritter Schaden erleidet, in
zweiter Linie steht. Am besten kann letzterer Anforderung da entsprochen
werden, wo es nach Beschaffenheit des Orts möglich ist, die Abfallstoffe als
Dungmittel in der gewöhnlichen landwirthschaftlichen Art und
Weise zu benützen. Jede andere Beseitigungsweise ist mit mehr oder
weniger grossen Mängeln verknüpft, auf welche indes an dieser Stelle nicht
näher einzugehen ist.
Die durchschnittliche Menge der pro Jahr auf eine Person ent-
fallenden Absonderungen wird wechselnd zu 434 bis 486 kg angegeben, dar-
unter die Menge der festen Stoffe zu 27'4 bis 48'5 kg, die der flüssigen von
400 bis 438 kg. Die Mischung der beiden Arten besteht zu 93"5 7o ^^^
Wasser und zu nur 6-5 % aus Trockengehalt.
Die grössere gesundheitliche Bedeutung fällt dem Harn zu, nicht nur deswegen,
weil derselbe an Menge bei weitem überwiegt, sondern auch wegen der die Ausbreitung be-
günstigenden flüssigen Form, wegen des Reichthums an Stickstoff, und wegen der Eigen-
schaft des Harnes, sehr rasch stinkender Fäulnis mit reichlicher Ammoniakbildung zu
verfallen. Die in der Tagesabsonderung einer Person enthaltene Stickstoffmenge ist für
die Fäces VI gr, für den Harn 9'6 gr, daher bei letzterem 5'65 mal so gross als bei
ertereren. Indessen kann dies "Verhältniss bis auf etwa 7"5 steigen, wie die Tageserzeu-
gung einer Person an Stickstoff auch zwischen 9 und IS'ö gr und selbst in noch weiter
auseinander liegenden Grenzen schwanken kann.
Von den thatsächlich erfolgenden Mengen der Absonderungen gelangt immer nur ein
gewisser Procentsatz zur Sammlung; ein anderer Theil wird verschleppt. Bei gewissen
Systemen der Sammlung geht auch ein Theil durch Verdunstung, ein anderer durch Um-
setzungen (Gasbildung etc.) verloren. Daher bleibt die fortzuschaffende Menge von Abson-
derungen selbst bei sehr vollkommenen Sammeleinrichtungen hinter der wirklich erfolgten
Absonderungsmenge zurück, und wahrscheinlich um so weiter, je länger Aufspeicherung
(in Gruben) stattfindet. Nach Ermittlungen über die Jahres-Abfuhrmengen, die in verschie-
denen Städten angestellt sind, kann man rechnen, dass beim Grubensystem bei den voll-
kommensten Einrichtungen 90"/o, bei mittelguten Einrichtungen 66% und bei mangelhaften
Einrichtungen, wie sie in kleinen Städten herrschend sind, nur 50°/o und noch darunter
der Absonderungsmengen zur thatsächlichen Fortschaffang gelangen. Vom gesundheithchen
Standpunkt betrachtet kann dies nur als ein Uebelstand angesehen werden.
Noch ungünstiger scheint das Verhältnis beim Kübel- und Tonnensystem zu
sein, was auch bei der in kurzen Zeiträumen erfolgenden Füllung der Behälter und dem
Zwange der dadurch geschaffen wird, verständlich ist. Nach Beobachtungen in ein paar
Städten mit Kübelsystem scheint die thatsächlich fortzuschaffende Menge nur 35 — 40% der
wirklichen Absonderungsmenge zu betragen.
Aehnliches dürfte bei der Sammlung in Erd-, Aschen- und Torfmull-Glosets
stattfinden, wenn die Closets ohne Gruben sind. Wo Gruben bestehen, wird der fort-
zuschaffende Antheil etwa so hoch anzunehmen sein, wie bei dem gewöhnlichen Gruben-
system.
Ob bei Benützung von Wasserciosets der zur Sammlung und Fortschaffung
gelangende Antheil an den Absonderungen grösser oder geringer ist, als bei den vor-
erwähnten Systemen, hängt zum Theil davon ab, ob die Abflüsse der Closets in Sammel-
gruben oder in ein unterirdisches Canalisationsnetz gehen. Ist ersteres der Fall, so wird
bei den hohen Kosten, welche die Grubenleerung meist erfordert, den Sammelstätten
wahrscheinlich ein grosser Theil der Absonderungen entzogen und auf sogenannten Unrecht-
wegen zur Fortschaffung beziehungsweise Verbreitung gelangen.
Ueber die aus sonstigen Gründen den genannten Systemen zur Be-
seitigung der menschlichen Absonderungen gebührende Beurtheilung noch
Folgendes:
Das Grubensystem hat den Mangel, dass die Zahl der Stellen, an welchen
die Absonderungen mit dem Boden und mit der Luft in Berührung
kommen, sehr gross ist, weil jedes Haus mindestens eine, vielfach mehrere
Gruben besitzen wird. Sicherheit der Gruben gegen Durchtreten von Flüssig-
keit ist nicht gewährleistet, weil die Baustoffe selbst nicht vor Zerstörung
durch den Grubeninhalt gesichert sind (vergl. S. 1027). Wenn höherliegende
WOHNÜNGSHYGIENE. 1035
Geschosse an Gruben angeschlossen sind, so werden die hinabführenden Fall-
rohre beschmutzt und bringen leicht üble Gerüche ins Haus. Gegen solche
besteht auch bei guten Lültungseinrichtuagen der Grube keine vollkommene
Sicherheit. Letztere ist so einzurichten, dass die Luft durch den (stets offen
zu lassenden) Sitz in die Grube ein-, und durch ein warm zu. legendes Rohr
über Dach wieder austritt (System d'ARCEx). Das obere Rohrende muss
einen Aufsatz erhalten, der den Luftdurchgang befördert und Störungen des-
selben durch Winddruck verhindert. Die Räumung der Grube bringt leicht
Störungen im Hause mit sich, ist auch kaum ganz geruchfrei zu bewirken;
gewöhnlich ist zur Entfernung des letzten Theiles vom Grubeninhalt das Be-
treten der Grube durch einen Arbeiter nothwendig, was immer einen Uebel-
stand bildet. Uebrigens sollen der besseren Ueberwachung wegen Räumungen
nur während der Tagesstunden ausgeführt werden. Die Gruben dürfen
nur massig gross sein, um häufige Leerung zu erzwingen; jedenfalls ist es
hygienisch nicht zu rechtfertigen die Gruben so gross anzulegen, dass die
Räumung bis über Jahr und Tag aufgeschoben werden kann. Ausserdem
nimmt der Düngerwert des Grubeninhaltes mit der Lagerung — infolge
Umsetzung des Stickstoffs — erheblich ab; Die Gruben sind sorgfältig da-
gegen zu schützen, dass Wasser in dieselben geschüttet wird, weil mit der
Vermehrung der Dünnflüssigkeit die Gefahr der Durchsickerung durch die
Grubenwände zunimmt. Gruben, von denen der Harn ferngehalten oder ab-
geleitet wird, sind aus diesem Grunde und aus dem anderen, dass die Menge
der erzeugten übelriechenden Gase dabei erheblich verringert wird, vor den
Gruben, in welchen feste und flüssige Absonderungen geraeinsam aufgenommen
werden, im Vorzuge. Einen Uebelstand bilden Gruben dann leicht, wenn auf
dem Grundstück in der Nähe Brunnen bestehen, und Dichtheit der Gruben-
wandungen nicht garantirt ist; bei centraler Wasserversorgung kommt dieser
Uebelstand in Wegfall.
Vorzüge besitzt das Grubensystem darin, dass es billig in Herstellung
und Betrieb, auch die von demselben ausgehende Infectionsgefahr gering
ist, weil die Erreger in den breiigen Massen im Allgemeinen gut verschlossen
sind, und eine Aufwärtsführung derselben mit dem Luftstrom bei der
Feuchtigkeit der Gruben- und Rohrwandungen nicht gefürchtet zu werden«
braucht, auch eine etwaige Infection leichter zu localisiren ist als bei
Centralsystemen, die zum Fortschaffen der menschlichen Absonderungen
eingerichtet sind. Grosse Schwierigkeiten bietet eine wirksame Desinfection
des Grubeninhaltes, weil innige Mischung des Desinfectionsmittels mit dem-
selben kaum erreichbar ist. Indessen ist Desinfection von seit längerer Zeit
lagernden Massen auch kaum nothwendig, da die Möglichkeit, dass in den-
selben noch pathogene Keime vorhanden sind, ziemlich gering ist.
Alles zusammen genommen, lässt sich sagen, dass das Grubensystem
nur für kleinere Städte mit Gartenbau- und Landwirtschafts-Betrieb in der
unmittelbaren Nähe gut geeignet ist, jedoch in dem Maasse an seiner Eignung
einbüsst, als die Stadt grösser wird. Grossstädte können damit, wie meh-
rere neuzeitliche Beispiele erweisen, auf die Dauer nicht auskommen (Stutt-
gart, Karlsruhe, Basel u. a.), schon weil in gewissen Jahreszeiten die Mög-
lichkeit zur alsbaldigen Unterbringung der Massen fehlt. In
jedem Falle ist aber, wenn an das Grubensystem höhere Ansprüche gestellt werden,
nothwendig, dass in alle Einrichtungen durch polizeiliche Bestimmungen
Ordnung hineingetragen wird. Es müssen über Grösse, Lage, Construction,
Lüftung, Benützung, Räumung, Zeit und Art der Räumung, Räumungsgeräth-
schaften Bestimmungen getroffen, und keine Grube darf in Benützung ge-
nommen werden, bevor sie nicht durch Wasserfüllung auf Wasserundurch-
lässigkeit untersucht ist. Die Räumung darf nicht den einzelnen Grund-
stückbesitzern überlassen bleiben, sondern muss centralisirt werden. Die
1036 WOHNÜNGSHYGIENE.
Unternehmer der Räumung sind zu verpflichten, von Störungen oder Schäden,
welche sie an der Gruben- oder Aborts-Einrichtung wahrnehmen, der Polizei
Anzeige zu machen. Letztere hat eventuell für stets aufnahmefähige Ab-
ladeplätze und ausschliesslich zu benützende Zufuhrwege zu denselben zu
sorgen und Abladen am unrechten Ort durch Erlass strenger Verbote zu ver-
hindern.
Die Gruben werden zur Beschränkung der Geruchbildung mehr hoch
als breit gemacht; vereinzelt sind hohe eiserne Cylinder als Gruben her-
gestellt worden. —
Das Kübelsystem ist mit dem Grubensystem im Aeusseren bis auf den
Unterschied übereinstimmend, dass an die Stelle der festen Grube ein trag-
barer Behälter tritt. Dieser Unterschied bringt die Nothwendigkeit von
Leerungen der Kübel in kurzen Zeitabschnitten mit sich; gewöhnlich wird
der Inhalt der Kübel direct auf Felder verbracht, ist daher frisch und von
relativ hohem Dungwert. Hingegen ist bei der offenen Aufstellung der
Kübel und der Gefahr des leichten Ueberlaufens derselben die Infections-
gefahr zweifellos vergrössert. Dieselbe wird auch noch durch den Transport
vergrössert, einerlei ob die Kübel als Transportgefässe dienen, oder ob der
Inhalt derselben in grössere fahrbare Behälter entleert wird, da bei beiden
Modalitäten Verstreuungen oder Verspritzungen nicht zu vermeiden sind. Zu
gewissen Zeiten kann es Schwierigkeiten haben, den Kübelinhalt sogleich
unterzubringen; es muss dann vorläufige Aufspeicherung in Erdgruben oder
anderen Behältern, oder in Haufen, die mit Erde bedeckt werden, stattfinden.
Die zu Gunsten des Kübelsystems oft geltend gemachte Behauptung, dass
dasselbe gegen das Grubensystem durch Entfernung der Absonderungen im
frischen Zustande (vermeintliche Fernhaltung von Gerüchen und Infections-
gefahren), und Fernhaltung von Bodenverunreinigungen im Vorzuge sei, ist
daher unbegründet. Ein gewisser Vorzug mag darin liegen, dass die in
Zeiten von Epidemien nothwendige Desinfection der Absonderungen und der
Kübel selbst erleichtert ist. Dieser Vorzug kommt aber nur dann zur Geltung,
wenn in einem Hause immer nur dieselben Kübel benutzt werden, und
nicht Auswechslung stattfindet. Die Desinfection des Kübelinhalts und der
Kübel selbst ist verhältnismässig leicht zu bewirken. Im Allgemeinen ist
nach Vorstehendem das Kübelsystem im hygienischen Sinne dem Gruben-
system nachzusetzen. Es ist für geschlossen bebaute Städte kaum brauchbar,
vielmehr nur für ländlich geartete Orte, in welchen die Transportwege kurz
sind. Die Mehrkosten der Einrichtung werden aber wohl durch den höheren
Dungwert des Kübelinhalts ausgeglichen, wenngleich ein sehr erheblicher
Procentsatz der Absonderungen überhaupt nicht zur Sammlung gelangt, und
ein anderer Theil nach der Sammlung wieder verloren wird.
Das Tonnensystem ist von dem Kübelsystem in Bezug auf eine vervoll-
kommnete mechanische Durchbildung unterschieden. Die Behälter sind ge-
schlossen, wodurch Verspritzung und Ueberlaufen vermieden wird. Für den
Fall, dass letzteres zu befürchten ist, können leicht Einrichtungen zur geord-
neten Abführung der übergelaufenen Stoffe getroffen werden. Auch verringert
der geschlossene Zustand der Behälter die Infectionsgefahr, die Bildung von
Gerüchen und zufällige Verluste beim Transport. Die Abortrohre sind durch
leicht lösbaren Verschluss dicht mit den Behältern verbunden, unter Ein-
schaltung eines Geruchverschlusses, der allerdings aus Kothmassen gebildet
wird. Durch Anbringung einer Flamme dicht hinter dem Geruchverschluss
lässt sich eine wirksame Lüftung des Fallrohres einrichten. — Die Tonnen
haben in der Regel 100—110/ Inhalt. Das System ist in der Herstellung
kostspielig, weil selbst bei geringster Transportweite zwei Tonnen, ausser
einer Reserve von mindestens noch einer dritten Tonne, nothwendig sind;
neuerdings werden die Tonnen meist aus verzinktem Eisenblech an Stelle der
früher üblichen Holzconstruction hergestellt.
WOHNTINGSHTGIENE. 1037
Eine x\hwandelung des Tonnensystems, die für sogenannte Massenabc- rte
(Kasernen, Fabriken, Schulen u. s. w.^ gebräuchlich ist, besteht in dem Er-
satz der einzelnen Tonnen durch einen grösseren kessellormigen ( cvlindrischen
Behälter, an welchen eine Anzahl Fallrohre (^bis zu etwa 6) angeschlossen
wird, und der sowohl fahrbar eingerichtet sein, als auch festliegend angeordnet
werden kann. Das Tonnensystem ist leicht der missbräuchlichen Benützung
in der Richtung unterworfen, dass die Tonnen auch zum Einleiten von Schmutz-
wasser und zum Einschütten von Hauskehricht benutzt werden.
Vor dem Kübelsystem hat das Tonnensystem augenscheinlich gewisse
Vorzüge. Doch ist es ebenso wenig wie jenes für grosse Städte mit dichter
Bebauung geeignet. Das bekannteste Beispiel der Anwendung bietet Heidel-
berg, wonach das System auch oft bezeichnet wird. Die Erfahrungen, welche
mit demselben in gesundheitlicher Beziehung gemacht sind, können min-
destens als „nicht ungünstig" bezeichnet werden.
Unerlässliche Voraussetzung für die gute "Wirksamkeit des Kübel- und
des Tonnensystems ist eine straffe Organisation der ganzen Einrichtung.
Die Abholung, Reinigung und Reparatur der Behälter muss dem Willen des
einzelnen Hauseigenthümers entzogen sein, und ohne Rücksicht auf den
Füllungszustand in regelmässigen Zeitabschnitten erfolgen: höchstens darf
ein Eigenthümer mit einem etwas grösseren Grundbesitz von dem Abfuhr-
zwange befi'eit werden; doch ist auch das wegen der dann nicht gesicherten
Regelmässigkeit in der Reinhaltung und. Instandsetzung der Tonnen min-
destens unerwünscht.
Auch wenn Verbringung des Inhalts der Kübel und Tonnen unmittel-
bar auf den Acker stattfindet, bedarf es für Zeiten, wo dies unthunlich ist,
gewisser Reserve-Ablagerungsplätze. Wenn die Massen einer Centralstation
zur Verarbeitung auf Pudrette zugeführt werden, fallen die Einrichtungen
etwas verwickelter aus, und die Centralstationen können leicht zu Stellen
werden, vor denen Belästigungen und auch Infectionsgefahren ausgehen.
Diese Stationen sind, was Lage und Gestalt des Platzes, Boden-
beschaffenheit desselben, Betriebseinrichtungen und anderes betrifft, mit sehr
grosser Vorsicht zu behandeln, und mit Strenge zu überwachen.
Günstig ist in jedem Falle die Einrichtung einer Station, an welcher
Kübel und Tonnen nach jeder Auswechslung gereinigt idesinficirt), auf ihren
tadellosen Zustand genau untersucht und eventuell reparirt werden.
Wo der Gruben-, Kübel- oder Tonneninhalt in grossen Massen zu be-
w^ältigen ist, so dass die Unterbringung in der Nähe unmöglich ist, wird
Pudrettirung eingerichtet. Bekannte Beispiele von Pudrettirungsanstalten
sind Augsburg, Bremen. Amsterdam. Ein vereinzeltes Beispiel des
Transports von rohen Absonderungsmassen auf sehr weite Ent-
fernungen bietet Stuttgart, wo dieselben mittelst der Eisenbahn bis S>km
weit von der Stadt fortgeschafi't werden. Die Einrichtung bedingt grosse
Reserveanlagen ausserhalb der Stadt, einen besonderen Transportapparat, und
ist in Zeiten von Epidemien, wo die Möglichkeit nahe liegt, dass der Ab-
transport zeitweillig ganz eingestellt werden muss, gefährlich. Die Stuttgarter
Einrichtung bietet ein vereinzeltes Beispiel, das auch vielleicht bald aufhören
wird, weil die Stadt die Einrichtung einer Pudrettirungsanstalt plant, beson-
ders um der oben angedeuteten Möglichkeit zu entgehen.
Die Desinfection von Grubeninhalt stösst auf so grosse Schwierigkeiten
und bietet so geringe Chancen für den Erfolg, dass sie nur in Zeiten von
Epidemien, z. B. bei den ersten Fällen von Cholera, wenn frische Ausleerun-
gen von Kranken in die Gruben gelangen, gefordert werden sollte. Wird sie
verlangt, so sind als Desinfectionsmittel fast nur Kalkmilch und Mineral-
säuren geeignet.
Kalkmilch "wird hergestellt, indem man 10 Raumtheüe Aetzkalk mit 6 Eaumtheilen
Wasser ablöscht und dem so erhaltenen Pulver auf 1 Eaumtheil 4 Raumtheüe Wasser
1038 WOHNÜNGSHYGIENE.
zusetzt; dies gibt eine sogenannte 20°/oige Lösung, die, um wirksam zu sein, in der Menge
von 5% dem Grubeninhalt sorgfältig zugemischt werden muss. Von Mineralsäuren eignen
sich Salzsäure und Schwefelsäure, beide in rohem Zustande. Zusatz in derjenigen
Menge, dass das Gemisch mindestens ^j^ao freie Säure enthält. — Anstatt Aetzkalk kann auch
der noch wirksamere Chlorkalk und Carbolkalk (in frischem Zustande) benutzt werden.
Auf die sonst zur Desinfection von Grubeninhalt zahlreich vorgeschlagenen Desinfections-
mittel ist kein Verlass.
Der frische Inhalt von Kübeln und Tonnen ist leichter desinficirbar als der Inhalt
von Gruben; auch wird grössere Sicherheit für innige Durchmischung geboten. Dasselbe gilt
für die Desinfection von frischen in Geschirren u. s. w. gesammelten Absonderungen, wo-
zu ausser Aetzkalk und Mineralsäuren auch siedende Lauge, die aus 1 Theil Holzasche
auf 2 Theile Wasser bereitet wird, verwendbar ist; doch muss die Laugenmenge etwa das
Dreifache der Menge der Absonderungen betragen.
Grösser als die Zahl der wirksamen Desinfectionsmittel ist die Reihe
der Mittel, die zur Vernichtung von Gerüchen der Absonderungen zur
Verfügung stehen.
ünzweckmässig ist die Benutzung von Carbolsäure, da dieselbe Gerüche nur „ver-
deckt", aber die Riechstoffe nicht bindet. Zweckmässige und billige Desodorisationsmittel
sind Eisen- und Kupfervitriol, auch rohes Manganchlorür und rohes überman-
gansaures Kali (Kaliumpermanganat). Die erstgenannten beiden Stoffe binden Schwefel-
wasserstoff und Schwefelammonium, ferner Ammoniak, und ähnliche Wirkungen äussern
die beiden anderen Stoffe. Von mehr künstlichen Desodorisirungsmitteln sind noch Saprol
und Lysol zu nennen.
Neben Beseitigung der Gerüche findet bei der Desodorisation auch eine gewisse,
doch unzureichende Wirkung auf Spaltpilze statt. —
Der halbflüssige Zustand der in Gruben, Kübeln oder Tonnen ge-
sammelten Absonderungen begünstigt die Ausbreitung von Infectionen und
üblen Gerüchen und erschwert den Transport. In beiden Beziehungen werden
Verbesserungen geschaffen, entweder durch Zusatz von aufsaugenden Stoffen
(TrocknuDg) oder durch vollständige Verflüssigung der Absonderungen.
Ersterem Zwecke dienen die sogenannten Trocken- oder Streuclosets,
letzterem die Spülabtritte und Wasserciosets.
In den Trockenclosets werden Erde, Asche, Torfmull und T orfstreu be-
nutzt, alles Stoffe, die vermöge Flächenattraction Gerüche binden, und durch die Trocknung
die Oxydation der Absonderungen begünstigen ; durch die vermehrte Zähigkeit der Mischung
werden Mikroben sicherer festgehalten. Erde und Asche besitzen keine desinficirenden
Eigenschaften, Torfmull und Torfstreu vermöge ihrer sauren Reaction eine gewisse keim-
tödtende Kraft, die aber den widerstandsfähigeren Keimen, wie z. B. Typhusbacillen, gegen-
über ganz ungenügend ist. Sobald Torfmull und Torfstreu mit menschlichen Absonderungen
in Berührung kommen, hört die saure Reaction auch auf, und bildet das Gemisch alsdann einen
günstigen Nährboden für ein reiches Mikrobenleben. Durch Zusatz starker mineralischer
Säuren (Schwefelsäure oder Salzsäure, oder Phosphorsäure), auch saurer Salze (Kainit) kann
diese ungünstige Eigenschaft aufgehoben werden; doch wird dadurch der Dungwert des
Gemisches verringert. Aus diesem Grunde kann es sich empfehlen, den Säurezusatz — der
übrigens um eine gute Durchtränkung zu erreichen, schon auf der Fabrik gemacht werden
muss — nur in Zeiten von Epidemien zu benützen. Dann müssen allerdings einige Ballen
Torfmull immerwährend zur Hand sein, was wieder den Nachtheil haben kann, dass bei
längerer Dauer der Säurezusatz unwirksam wird. Es ist daher die ständige Benutzung
von gesäuertem Torfmull mehr angezeigt. Es genügen schon zwei bis drei Gewichtstheile
Säure auf 100 Gewichtstheile Torfmull oder Torfstreu; nebenbei wird durch diesen Zusatz
ein Theil des Ammoniaks gebunden.
Die in den Erdclosets benutzte Erde muss möglichst trocken sein; am besten
ist Erde mit reichem Antheil an Humus, also sogenannte Gartenerde. Die erforderliche
Menge beträgt bei guter Beschaffenheit der Erde und sorgfältiger Benutzung 2—2-5 Theile
auf 1 Theil Absonderungen, es wird daher die Menge derselben durch den Zusatz auf
mindestens das Drei- bis Vierfache vergrössert, und der Jahresbedarf pro Kopf stellt sich
auf 1 — 1-5 m^. Diese grosse Menge wird in städtisch eingerichteten Häusern zu einem üebel-
stand, der kaum überwindbar ist. Daher erscheint das Erdcloset nur für kleinere Orte,
Landstädte und einzelne Anlagen, Fabriken u. s. w., wo Raum zur Lagerung der Erd-
massen, und Unterbringung des Gemisches vorhanden ist, geeignet. Wo, wie z. B. auf
Fabriken bequeme Gelegenheit zum Trocknen des Gemisches gegeben ist, kann die Erde
allerdings zweimal benutzt werden; doch empfiehlt sich das nicht. Erdclosets erhalten
am besten eine gemauerte, von aussen leicht zugängliche Grube.
Asche ist sowohl mit Bezug auf Wasseraufsaugung als Bindung von Gerüchen im
Vergleich zur Gartenerde minderwerthig. Dazu ist auch der Bedarf bei weitem grösser, da
derselbe allein für die Fäces das Sechs- bis Siebenfache der Menge derselben erreicht. Bei
Aschenclosets empfiehlt sich daher gesonderte Auffangung und Fortschaffung des
WOHNÜNGSHYGIENE. 1039
Urins, wodurch aber der Gebrauch des Aschenclosets und der Nutzen noch viel enger
eingeschränkt wird, als der des Erdclosets. Am meisten geeignet erscheint dasselbe noch
zu Massenaborten auf I^abriken u. s. w., und dann in der Ausführungsweise mit gemauerter
Grube. Es kommt indes auch die Ausführung mit Kübeln vor, und zwar selbst in
grösseren Städten; dazu gehört, wie bekannt, Manchester.
Torfmull und Torfstreu sind von derselben Herkunft; beide werden aus den
oberen (jüngeren) Lagen der Torfmoore hergestellt. Die Beschaffenheit der Moore wechselt
nach den Pflanzenarten, aus deren Absterben sie gebildet sind, sehr; die beste Be-
schaffenheit weisen Torfmull und Torfstreu auf, die aus dem sogenannten (langfaserigen)
Moostorf hergestellt sind.
Der Torf wird auf Maschinen zerkleinert (zerfasert) und darnach gesiebt. Was
davon durchfällt, also der körnerartigen Structur sich nähert, heisst Torfmull, was auf
dem Siebe liegen bleibt, der gröbere und mehr langfaserige Theil, „Torfstreu". Letztere
wird vorzugsweise als Streu in Viehställen benutzt, wo sie sich bewährt hat, dagegen
wegen der der innigen Vermischung mit Fäces widerstrebenden Structur, weniger in Closets;
für diese ist Torfmull mehr geeignet.
In lufttrockenem Zustande enthält Torfmull noch von 10 bis SO"/, Feuchtigkeit, und
kann in diesem Zustande noch das Fünf- bis Zwanzigfache des Eigengewichts Wasser auf-
saugen und festhalten. Im Mittel darf man aber nur mit dem Vier- bis Achtfachen rechnen,
und der niedrigste Satz ist immer dann zu Grunde zu legen, wenn das Torfmull nicht
möglichst trocken gelagert wird. Da in der Jahresmenge der Absonderung einer Person ca.
450 . 450
450 hg Wasser enthalten sind, so würde der Jahresbedarf an Torfmull sich auf ~t^ bis -g-
oder auf 56 bis 112 Ä;^ berechnen, oder dem Räume nach etwa ^j^ bis \m^.
Das Bestreuen der Absonderungen mit dem Torfmull kann von Hand geschehen;
gewöhnhch wird aber ein mit dem Abortsitz verbundener — auch zur Selbstthätigkeit
eingerichteter mechanischer Apparat benutzt. Bei Massenaborten legt man Gruben an,
sonst werden „Sitze", an deren Rückseite der Torfmullbehälter angebracht ist, aufgestellt.
Bei mehrgeschossigen Häusern Gruben anzulegen, empfiehlt sich aus dem Grunde nicht,
dass von jedem Sitz ein besonderes Rohr zur Grube hinabgeführt werden und dieses Rohr,
nm Beschmutzungen der Wand desselben möglichst vorzubeugen, grosse Weite (20 bis 25 cm)
erhalten muss. Wenn möglich, sollen Gruben und Sitze zur Lüftung eingerichtet werden.
Nach dem hygienischen Gesichtspunkte beurtheilt, ist das Torfstreuclo-
set unter gewissen Voraussetzungen einwandfrei; diese beziehen sich nament-
lich auf die Hauseinrichtung. Es "erscheint für mehrgeschossige Häuser
wegen des Erfordernisses an Lagerraum für das Torfmull und des Trans-
ports von Torfmull und Closetinhalt über Flure und Treppen ungeeignet,
desgleichen wegen des Transports der relativ grossen Massen über die Strassen
für grössere Städte unbrauchbar, gut geeignet dagegen für kleinere Orte,
Landstädte, Einzelbesitzungen, auch Schulen, Kasernen, Fabriken u. s. w.,
wenn Land, auf welches -der Closetinhalt unmittelbar verbracht werden kann,
in der Nähe ist. Der Düngerwerth desselben ist hoch; man hat vereinzelt
auch Brennmaterial durch Trocknen und Pressen aus demselben hergestellt.
In dem oben hervorgehobenen Umstände, dass der Urin der bedenk-
lichere und weitaus überwiegende Theil der Absonderungen ist, die Mischung
mit dem festen Theil auch besondere Transportschwierigkeiten mit sich bringt,
finden Einrichtungen zur Trennung des Urins von den Fäces ihre
Begründung. Ob die Trennung gesundheitlich im Vorzuge ist, erscheint
aus dem Grunde zweifelhaft, dass damit die Schädlichkeiten vergrösserte
Ausbreitung erhalten; doch kommt es sehr auf die Art und Weise an, in
welcher die Trennung und der Abtransport des Urins erfolgt. Man hat zu
unterscheiden: ob die Trennung alsbald nach der Entstehung, oder erst
nachdem Fäces und Urin sich gemischt haben, geschieht.
Für den erstgenannten Modus gibt es eine Anzahl von Einrichtungen an den Sitzen
und auch etwas tiefer unter dem Sitz; keine derselben wirkt indessen tadellos, insofern
als grössere Mengen des Urins unterwegs hängen bleiben und dadurch Flächen, die
mit intensiv faulender Flüssigkeit bedeckt sind, entstehen. Reinhalten durch W'asserspü-
lung wird den Umständen nach in der Regel ausgeschlossen sein. Der Urin wird in be-
sondere Gefässe oder Gruben, oder auch in ein unterirdisches Canalnetz geleitet. Darunter
ist die Sammlung in Graben die bedenklichste Einrichtung, weil die sogenannten nassen
Gruben kaum dicht zu halten sind, und bei nicht gehöriger Aufsicht auch wohl über-
fliessen, also den Boden in der Umgebung der Grube stark verunreinigen und die Luft in
der Nähe verpesten können; solche Gruben dürfen daher niemals, unter, oder unmittelbar
anstossend an das Haus angelegt werden. Der Abtransport des Urins verursacht, wenn
1040 WOHNUNGSHYGIENE.
derselbe nicht in unmittelbarer Nähe landwirthschaftlich Verwerthung finden kann,
grosse Kosten; allerdings ist der Düngerwerth desselben hoch. Vereinzelt hat man ge-
sammeltem Urin Gelegenheit gegeben, sich mit Sägespänen, Torfmull, Asche zu mischen;
auch wohl mit Aetzkalli, um sie zu desinficiren; durch diese meist mangelhaft bedienten
Einrichtungen wird aber im gesundheitlichen Sinne nichts gebessert. Geeignet erscheint
die Abtrennung etwa nur auf Landgütern, wo man den Urin mit den flüssigen Abgängen aus
den Viehställen zusammen führen kann, vielleicht auch neben Stallanlagen bei städtischen
Wohngebäuden.
Wird dem Urin Gelegenheit zum Abfluss geboten, nachdem derselbe
sich mit den Fäces gemischt hat, so erhält man viel geringere Mengen,
dafür aber ein dünnflüssiges Gemisch von Urin und Fäces, das in kleinen
Orten wohl den Strassenrinnen zugeleitet wird, in Orten mit unterirdischer
Canalisation in dieser Aufnahme findet. Letzterer Modus wird oft einwand-
frei sein, ersterer ist dagegen aus Gründen, die nicht wiederholt zu werden
brauchen, hochbedenklich und unter allen Umständen auch da zu verwerfen,
wo etwa regelmässige Spülung der Strassenrinnen stattfindet.
Wenn man die sogenannten nassen Gruben dazu einrichtet, dass in denselben die
Abscheidung fester Bestandtheile erfolgt, werden sie wohl als Klärgruben bezeichnet,
Solche Gruben bestehen aus mehreren Abtheilungen, die von dem Zufluss nach einander
passirt werden. Die Trennung geschieht durch Gitter; oder es wird der Weg, den der Zu-
fluss zu nehmen hat, auch wohl aufsteigend eingerichtet. Der mechanische Effect
solcher Grubeneinrichtung ist in der Regel gering, etwas besser nur bei sehr sorgfältiger
Betriebsweise; Wirkung im Sinne der Desinfection findet nicht statt. Soll eine solche er-
zielt werden, so erfordert die Grube besondere Einrichtungen, die namentlich auf die innige
Zumischung des Desinfectionsmittels zu dem Grubeninhalt berechnet sein müssen. Aber
auch dann ist der Erfolg keineswegs vollkommen sicher, weil Alles von der Sorgfalt^ die
auf die Bedienung der Einrichtung verwendet wird, abhängt. Folgeweise muss die Ge-
sundheitspolizei derartige Einrichtungen auf städtischen Grundstücken, von welchen
aus Schädlichkeiten leicht auf Nachbargrundstücke verbreitet werden können, perhorres-
ciren, und kann Klärgrubenanlagen auf den einzelnen städtischen Grundstücken nicht als
Ersatz für centrale Kläranstalten, deren Betrieb geregelt ist, und der Ueberwachung
durch verantwortliche Beamte untersteht, betrachten. Klärgrubenanlagen erscheinen daher
nur bei einzelnen Instituten, auf Landgütern u. s. w. von einem gewissen gesundheit-
lichen Werth.
Bei den Aborteinrichtungen, in welchen der Inhalt verflüssigt wird,
kann man sogenannte Spülaborte und Wasserciosets unterscheiden.
Der Unterschied besteht darin, dass in den Spülaborten die Zuführung des
Wassers nicht in Becken oder Trichter, vielmehr in einem besonderen Be-
hälter erfolgt, auch nicht nach jeder einzelnen Benutzung sondern summarisch
stattfindet. Bei den Spülaborten verbleibt daher der Ciosetinhalt kürzere
oder längere Zeit in der Nähe des Sitzes, kann auch verspritzen und da-
durch Ursache zu Infectionen werden; die Trichter unter den Sitzen und der
Sitz selbst sind der Gefahr der Beschmutzung ausgesetzt. Aus diesen Gründen
sind die Spülaborte den Wasserciosets, in welchen Spülung nach jeder
Benutzung stattfindet, und der Inhalt mit dem Spülwasser sogleich abgeleitet
wird, nachzusetzen. Die Möglichkeit von Verspritzungen und Beschmutzungen
des Sitzes ist entweder ganz aufgehoben, oder doch eingeschränkt. Endlich
ist von gesundheitlichem Interesse, dass bei den Spülaborten der Abschluss
gegen die Grube oder die Kohrleitung, in welcher der Ciosetinhalt abge-
führt wird (Wasserschluss), in mehr oder weniger weiter Entfernung von den
Sitzen liegt, während derselbe bei den Wasserciosets sich unmittelbar unter
oder hinter dem Sitz befindet.
Spülaborte werden gewöhnlich als sogenannte Massenaborte für Schulen,
Bahnhöfe, Kasernen u. s. w. angewendet, aus dem Grunde, dass für sie ein er-
heblich geringerer Wasserbedarf genügt als für Wasserciosets. Der Behälter
zur vorläufigen Ansammlung ihres Inhalts kann in Trog- oder Eöhrenform,
oder in einer andern der Oertlichkeit angepassten Form, als Trichter oder als
conischer oder cylindrischer Hohlkörper hergestellt werden, der Sitz als
blosser sogenannter Ring, oder in der meist üblichen Form der Sitze.
Wasserciosets kommen in sehr wechselnden Ausführungsweisen vor: als einfache
Trichter mit Syphon- Wasserschluss am unteren Ende; als sogenannte Becken- oder Pfannen-
WOHNÜNGSHYGIENE. 1041
closets mit einem zweitheiligen Trichter, wovon der obere Theil in dem unteren liegt und
beweglich ist; mit Becken von verschiedener Form und festem oder beweglichem Wasser-
schluss; mit nur einem oder auch zwei auf einander folgenden Wasserschliissen. In der
Kegel ist der Raum unter dem Sitz — Trichter oder Becken — sowie der Hohlraum
zwischen diesem und dem Geschränk durch ein nach aussen, oder zu einem sogenannten
warmen Rohre führendes Rohr zur Lüftung eingerichtet.
Da der von dem Geschränk umschlossene Hohlraum dem Auge entzogen ist, wird
derselbe leicht der Sammelort von Schmutz und allerhand Ungeziefer, und das Geschränk
selbst bietet leicht Gelegenheit zu Verunreinigungen. Deshalb wird in neuerer Zeit bei
besseren Einrichtungen ein Geschränk überhaupt nicht angewendet, vielmehr der Sitz
aus Fayence (auch emaillirtem Eisenguss) aus einem Stück hergestellt und frei, an allen
Seiten bequem übersehbar, in der „Zelle" aufgestellt.
Ein grosser Vorzug, der Spülaborten und Wasserciosets gemeinsam ist,
besteht in der Möglichkeit der leichten Desinficirung des Inhalts. Dieselbe
kann mittelst Anwendung sogenannter Spülkasten auch als dauernde Ein-
richtung vorhanden sein.
Während bei den Spülaborten das Wasser frei fliessend (druckfrei) zu-
geführt werden kann, ist es bei den Wasserciosets für die wirksame Rein-
haltung der Trichter und Becken nothwendig, dass das Spülwasser unter
einem etwas stärkeren Druck eintrete. Da in den oberen Geschossen des
Hauses der Wasserdruck geringer als in den unteren ist, wird der Rein-
lichkeitszustand der in den oberen Geschossen stehenden Wasserciosets in
der Regel geringer sein als der in den unteren Geschossen aufgestellten.
Die Reinhaltung der Trichter und Becken, sowie die vollständige
Abschwemmung aller Schmutztheile erfordert den Gebrauch eines ge-
wissen Minimums an Wasser. Vielfach wird daran in ganz unzulässigem
Maasse gespart. Versuche über die zur Abschwemmung des Schmutzes un-
entbehrliche Wassermenge haben ergeben, dass dieselbe nicht unter 12 — 18^
für jede einzelne Ciosetbenutzung betragen muss; gewohnheitsmässig wird
meist kaum die Hälfte dieser Menge aufgewendet und dadurch Gelegenheit
zu längerem Verbleiben des Schmutzes in der Rohrleitung, beziehungsweise Ver-
schmutzungen und Verstopfungen derselben gegeben. Wo das Minimum an
Spülwasser nicht jederzeit vorhanden ist, können Wassercioseteinrichtungen
mehr gesundheitsbedenklich sein als eine von den bisher besprochenen andern
Aborteinrichtungen.
Die Anlage von Wasserciosets hat hiernach das Bestehen einer häuslichen
Wasserleitung zur Voraussetzung. Es kommen nun zwei Modalitäten der Verbindung
zwischen beiden vor. Entweder findet zwischen der Wasserleitung und dem Closet un-
mittelbare Verbindung statt, oder aber es wird zwischen beiden ein besonderes kleines
Reservoir (sogenannter Spülkasten) eingeschaltet. Bei der unmittelbaren Verbindung be-
steht keine Sicherheit dagegen, dass gelegentlich Ciosetinhalt oder übelriechende Gase in
die Rohre der Wasserleitung gelangen. Diese Möglichkeit kann z. B. bei Ausfährung von
Reparaturen an der Verbindung, und ebenso in dem Falle eintreten, dass bei Entleerung;
der Wasserleitung in dem Anschlussrohr Luftleere oder Luftverdünnung entsteht. Daher
ist die Einschaltung eines Spülkastens zweckmässig, die deshalb auch in manchen Städten
polizeilich vorgeschrieben ist. Es giebt aber auch andere Sicherheitsvorkehrungen gegen
die in Rede befindliche Gefahr, die indessen weniger einfach und deshalb der Anwendung
eines Spülkastens nachzusetzen sind.
Die Wasserschlüsse von Closets sind der Gefahr unterworfen, durch Austrocknen»
oder Leersaugen, oder durch Verspritzen ihres Inhalts zerstört zu werden. In erster Linie
schützt hiegegen eine reichliche Bemessung des Inhalts derselben (also ausreichende Höhe
der Wassersäule). Es muss jedoch ausserdem durch zweckmässige Anlage der Ableitungen
und besondere Einrichtungen gegen die erwähnte Gefahr vorgebeugt werden. Die be-
treffenden Einrichtungen sind sehr mannigfaltig, und diejenigen darunter, welche wirk-
liche Sicherheit gewähren, complicirt und entsprechend theuer. Da die einfachen nicht unter
allen Umständen Sicherheit gewährleisten, sind dieselben wenig beliebt und es erklären
sich aus diesem Grunde viele mangelhafte Anlagen, welche vorkommen. Den besten Dienst
leistet die immerwährende Zuführung von frischem Wasser zu den Wasserschlüssen.
Wo diese nicht eingerichtet ist, und zeitweilige Unterbrechungen in der Benützung eines
Closets zu erwarten sind, muss für häufige Erneuerung des Inhalts des Wasserschlusses
gesorgt werden.
Bibl. med. Wissenschaften Hygiene u. Ger. Med. 66
1042 WOHNüNGSHYGIENE.
Obwohl der Inhalt von Wasserciosets auch in Gruben gesammelt
werden, und von dort aus seine Verbringung, beziehungsweise Verwerthung in
verschiedener Weise ausgeführt werden kann, ist die Sammlung in Gruben
doch nur unter besonderen Verhältnissen zulässig, vielmehr setzt die Anlage von
Wasserciosets als Regel das Bestehen einer unterirdischen Entwässe-
rungsleitung voraus. Diese kann auf dem Grundstück selbst angelegt
werden, entweder so, dass die Leitung ihren Inhalt einem in der Nähe be-
findlichen offenen Gewässer zuführt, oder dass derselbe unterirdisch an den
Boden abgegeben wird (sogenannte Untergrund-Berieselung). Ob eine dieser
Möglichkeiten zulässig, und welche den Umständen nach die bessere ist,
richtet sich ganz nach den örtlichen Verhältnissen. Besser ist in jedem Falle
das Bestehen einer öffentlichen Canalisation, an welche, unter Vermeidung
einer Grube, die Wasserciosets angeschlossen werden. Geht der Inhalt von
Wasserciosets in eine Grube, so kann dort entweder oberirdischer Abfluss
in einen Graben, oder in offene Strassenrinnen erfolgen; beides ist jedoch
von gesundheitlichem Standpunkt zu beanstanden. Geschieht dies, so bleibt
nur das Mittel, die Gruben von Zeit zu Zeit zu leeren und den Inhalt auf
Ackerland abfliessen zu lassen oder abzuführen; es muss sich daher aufnahme-
fähiger Ackerboden in einiger Nähe finden. Immer ist der Abtransport mit
Wagen kostspielig und dies führt leicht zu unzulässiger Beschränkung des
Spülwasserverbrauchs bei der Benützung der Wasserciosets. Berücksichtigt man
endlich, dass gegen den sehr dünnflüssigen Inhalt der Abgänge aus Wasser-
closets Gruben nur sehr schwer dicht halten, dass auch die Möglichkeit
gelegentlichen Ueberfliessens derselben nicht ausgeschlossen ist, daher mehr-
fache Gelegenheit zu Bodenverunreinigungen gegeben ist, so ergibt sich, dass
nur in Orten mit öffentlicher Canalisation Wasserciosets als
vollkommene Einrichtungen zur Geltung kommen, unter andern
Verhältnissen dagegen so grosse Uebelstände mit ihrer Einführung ver-
bunden sein können, dass sie nicht nur andern Abortseinrichtungen nach-
zusetzen sind, sondern die Gesundheitspolizei geradezu Veranlassung hat, die
Einrichtung derselben zu verhindern, oder doch stark zu erschweren. In der
That findet beides auch vielfach statt.
Dass sogenannte Schwindgruben, d. i. Gruben mit durchlässigem
Boden und Seitenwänden nicht zur Aufnahme und Versickerung von Wasser-
closetabgängen benützt werden dürfen, ist dem Vorstehenden nach selbst-
verständlich. Nur unter besonderen örtlichen Verhältnissen kann die Anlage
von Schwindgruben zulässig sein, dieselben versagen übrigens leicht ihren
Dienst.
Pissoiranlagen in Wohngebäuden werden sehr leicht zu Stätten, von
welchen allerlei Schädlichkeiten ausgehen. Sie bedürfen besonders, um geruch-
frei zu bleiben, reichlicher Wasserspülung, die entweder continuirlich oder
intermittirend sein kann. Bei guter Anordnung steht die intermittirende
Spülung der continuirlichen, welche viel grössere Wassermengen erfordert,
nicht nach. Dies liegt darin, dass die Spülwirkung nicht nur von der
Zuführung einer gewissen Wassermenge, sondern auch von der Ge-
schwindigkeit abhängt, mit welcher die zu spülende Fläche vom
Wasser getroffen wird; letztere ist bei der intermittirenden Spülung in der
Regel grösser als bei der continuirlichen. — Leicht werden die Flüssigkeiten
von häuslichen Pissoiren, wenn dieselben in oberen Geschossen der Häuser
angelegt sind, zu Stellen verbreitet, an denen sie grossen Schaden anrichten
können: wie z. B. an hölzernen Balkenlagen und Zwischendecken, aber auch
an Mauern. Besonders gefährlich sind in dieser Hinsicht die sogenannten
Rinnenpissoire, viel günstiger Beckenpissoire; die Zulassung ersterer
Art sollte an die Erfüllung gewisser Bedingungen gebunden werden, während
die Zulassung von Beckenpissoiren mit geordneter Ableitung in der Regel
WOHNÜNGSHYGIENE. 1043
unbedenklich geschehen ktann. Die Becken bestehen am besten aus Fayence;
für die Spülung empfiehlt sich Selbstthätigkeit, die unter Benützung eines
sogenannten Spülkastens in verschiedener Weise herstellbar ist.
Bei den neuerdings eingeführten sogenannten Oelpissoiren wird Wasserspülung
dadurcii ganz vermieden, dass das Becken einen öfter zu erneuernden Üelüberstrich
erhält, der das Haften von Urin an der Beckenwand verhindert, und dass auf dem Wasser-
schluss unter dem Becken eine Üelschicht schwimmt, welche wegen ihres geringeren
specifischen Gewichts dauernd erhalten bleibt und es verhindert, dass der Wasserverschluss
durch Verdunstung aufgehoben wird. Bei einer anderen Art von Oelpissoiren wird das
Haften von Urin am Becken dadurch verhindert, dass die Beckenwand hohl, und der Hohl-
raum mit Oel gefüllt ist, das nach der Vorderseite hin „durchschwitzt" und so eine isoli-
rende Schicht bildet. Die Bewährung dieser letzteren Art von Oelpissoiren bleibt abzu-
"warten. Sogenannte Trockenpissoire mit ähnlichen „Trockenstoffen", als bei den Trocken-
«losets zur Anwendung kommen, sollten in Wohngebäuden nicht angewendet werden.
Ein wesentlicher Vorzug, der den Spülclosets, Wasserciosets und
Pissoiren mit Wasserspülung gemeinsam zukommt, besteht in der leichten und
sicheren Desinfectionsfähigkeit der menschlichen Absonderungen, da
^ie — wasserlöslichen — Desinfectionsmittel dem Spülwasser zugesetzt werden
können.
Eine Abortseinrichtung, die in gewissem Sinne als zwischen dem Grubensystem und
■dem Wasserciosetsystem liegend aufgefasst werden kann, sich aber dem ersteren mehr
als dem letzteren nähert, ist das System Liermu", das in einer kleinen Reihe von Städten,
namentlich Hollands, Eingang gefunden hat. Die Eigenart des LiERNUR-Systems beruht
darin, dass die Grube nicht in der Wohnung, sondern für eine Anzahl von Häusern
gemeinsam unter den Strassen angelegt, und zwischen den Closets und der Grube
-eine Rohrleitung benützt wird. Die Zuführung der Absonderungen zu der Grube erfolgt
auch nicht sogleich, sondern in mehr oder weniger langen Zwischenräumen, und es werden
während derselben die Absonderungen in den Ciosettrichtern zurückgehalten, die eine
diesem Zweck entsprechende besondere Tiefe haben. Am unteren Ende des Trichters
liegt ein Syphon, dessen Verschluss durch die Absonderungen selbst mit einem geringen
Antheil Wasser gebildet wird. Der gesundheitliche Werth des LiERNUR-Systems ist wesent-
lich dadurch bedingt, dass die Zeitabschnitte zwischen zwei Leerungen kurz sei, damit
die Absonderungen nicht schon während ihres Verweilen s im Trichter in Fäulnis über-
gehen. Im Vergleich mit dem Grubensystem bestehen die Vortheile darin, dass die Quelle
Ton Gestankbildungen in relativ weite Entfernung vom Hause verlegt ist und keine offene
Verbindung dahin besteht, und ferner in der leichten Möglichkeit der Desinfection der
Absonderungen. Gegen das Wasserciosetsystem ist das LiERNUR-System durch die nothwendige
Beschränkung des Spülwasserverbrauchs im Nachtheil, und auch dadurch, dass dasselbe
den sogenannten „ästhetischen" Anforderungen weniger weit entgegenkommt. — Die cen-
tralisirte Verarbeitung der Absonderungen, die den Grundgedanken des
LiERNUR-Systems bildet, wird gesundheitlich im Allgemeinen vor der gesonderten
Verarbeitung von Grubeninhalt im Vorzuge sein. Endlich ist bei dem System, welches
eiserne Leitungen und Gruben, sowie Luftverdünnung zur Fortbewegung der Abson-
derungen in den Leitungen benützt, Verunreinigung von Luft und Wasser ausgeschlossen.
Dem LiER3SXR-System ist das System Berlier ähnlich, das bisher aber nur ganz
vereinzelt zur Anwendung gekommen ist und weniger leistet als jenes. — Das sogenannte
Luftcloset ist ein beweglicher Abort mit Eimer und Trennvorrichtung der festen und
flüssigen Stoffe; den Innenraum des Gesch rankes ist durch ein Rohr, das mit einem soge-
nannten warmen Rohr verbunden wird, lüftbar. Wo Wasserciosets nicht angelegt werden
können und die Unterbringung des Gruben-, Kübel- oder Tonneninhalts unmöglich ist. kann
sich die Einrichtung des sogenannten Feuer-Closets empfehlen. Zwar sind mehrere bezüg-
liche Constructionen desselben bekannt, doch hat es darunter bisher nur eine einzige zu
einer gewissen Bedeutung gebracht. In dem Feuer-Closet erfolgt mittelst einer Feuerung
Verbrennung der Fäces und Verdampfung des Urins; zuweilen wird letzterer auch fort-
geleitet, wodurch aber die Einrichtung sehr mangelhaft wird. Viel grössere Bedeutung
als in Wohnungen kommt den Feuer-Closets in Infections-Krankenhäusern zu; ebenfalls
können sie für Massenlocale (Kasernen u. s. w.) vor anderen Einrichtungen im Vorzuge
sein. Bekannte Beispiele hiezu bieten das Epidemiespital in Brunn und mehrere preussische
Kasernen, darunter auch eine in Potsdam.
Fasst man alles zusammen, was im Vorstehenden über die Mängel und
Vorzüge der verschiedenen zur summarischen Besprechung gelangten Sammel-
und Fortschaffungsweisen der menschlichen Absonderungen sowüe über Samm-
lung und Beseitigung der häuslichen Brauchwasser mitgetheilt worden ist,
so steht zweifellos fest, dass in gesundheitlichem Sinne das Wassercioset
mit Anschluss an eine öffentliche Canalisationsanlage, die
66*
1044 WOHNÜNGSHYGIENE.
auch die häuslichen Brauchwässer aufnimmt, das bisher Vollkommenste leistet;
auch mit Bezug auf das Entgegenkommen gegen Ansprüche sittlicher und
ästhetischer Natur ist diese Einrichtung allen anderen überlegen. Dies gilt
unbeschadet von Besonderheiten, welche die Canalisationsanlage aufweisen
kann, wobei man bekanntlich zwischen Schwemmsystem und Trenn-
system zu unterscheiden pflegt, denn die Unterschiede zwischen beiden be-
rühren viel weniger gesundheitliche Rücksichten, als dass sie mit rein tech-
nischen und wirthschaftlichen Aufgaben zusammenhängen. Da diese hier
nicht Gegenstand der Besprechung sein können, und ein selbst nur neben-
sächliches Eingehen auf sie einen sehr breiten Raum erfordern würde, muss-
dazu auf die ziemlich reiche Specialliteratur verwiesen werden.
Die in der Küche sich ergebenden Schmutzwasser, die Spül-, Wa sch-
und Bade w asser wurden früher als weniger gesundheitsgefährdend als
die menschlichen Absonderungen betrachtet, und man hielt demzufolge auch
ihre oberirdische Ableitung in Gruben, offenen Strassenrinnen u. s. w. für
zulässig. In der neuern Zeit hat man erkannt, dass diese Wasser qualitativ
den Absonderungen nicht nachstehen, und stellt daher in Bezug auf die Ent-
fernung die gleich strengen Anforderungen wie bei jenen.
In der That wird man einen Unterschied nicht machen können, wenn man bedenkt,,
dass die genannten Wasser reich an organischen Stoffen, Staub und Schmutz, vielfach auch
mit menschlichen Absonderungen — namentlich Urin — vermischt zur Abführung gelangen.
Sie enthalten die Abfälle und Reste von der Zubereitung der rohen Nahrungsmittel, daneben
verdorbene Speisereste, Hautabschürfungen, Sputa, Kehrichttheile und Schmutz, der
von den Fussböden u. s. w. der Wohnungen gesammelt wurde, sind daher reich an
fäulnisfähigen Stoffen und desgleichen stickstoffreich, können daher ebenso gut wie die
menschlichen Absonderungen geeignete Nährböden für infectiöse Keime sein. Es müssen
daher diese Wasser, die man unter dem Sammelnamen „häusliche Brauchwasser" zusammen-
fasst, auch ebenso sorgfältig gesammelt und in unschädlicher Weise beseitigt werden, wie
die menschlichen Absonderungen, und es ist ungeregelte Abführung durchaus unzulässig,,
desgleichen auch oberirdische Ableitung in Strassenrinnen und Gruben. Die beste Ableitung
ist die durch eine unterirdische Canalisation, und zwar zusammen mit dem Inhalt der
Wasserciosets, da durch die gemeinsame Abführung die Vorfluth in den Canälen befördert
und dadurch die Reinhaltung der Canalwandungen begünstigt wird.
Vereinzelt hat man, in Verkennung der Beschaffenheit der häuslichen
Brauchwasser für die Abgänge der Wasserciosets besondere Ableitungen
angelegt. Nach dem, was oben mitgetheilt wurde, fehlt für diese Trennung:
die Begründung; umgekehrt ist die Zusammenfassung sowohl vom gesundheit-
lichen als wirthschaftlichen Standpunkte zu empfehlen.
Die Menge der häuslichen Brauchwasser nimmt man als übereinstim-
mend mit der Menge des der Wohnung zugeführten Reinwassers an, welche^
von 20 bis 100/ und darüber für einen Tag, d. h. von etwa 7-5 bis 40^^ in
einem Jahr betragen kann. Zwar gelangt ein Theil des Reinwassers nicht
wieder zum Abfluss; andererseits erfährt aber die Menge des Brauchwassers
auch durch feste Abfall- und Schmutzstoffe eine gewisse Vermehrung.
Wo die unterirdische Canalisation fehlt, muss für die häuslichen Brauch-
wasser eine Sammelgrube angelegt werden, für die alles dasjenige gilt,
was oben mit Bezug auf die Sammelgruben für Wasserciosetabgänge ange-
führt worden ist. Ebenso wenig wie für diese sind für die häuslichen Brauch-
wasser sogenannte Schwindgruben zulässig.
Bei dichter städtischer Bebauung sammelt sich auf den unmittelbar an das
Haus anschliessenden Höfen und Plätzen, die in der Regel gepflastert oder an
der Oberfläche auf sonstige Weise mehr oder weniger wasserundurchlässig her-
gestellt werden, Regen- und Traufwasser, dem sich Schmutz von der Hoffläche
selbst und aus dem Haushalt, Asche, Kehricht u. s. w., auch Schmutz, der an
den Füssen herzugetragen wird, beimischt. Je dichter die Bebauung und je zahl-
reicher die Bewohnerschaft der Häuser, um so unreiner wird das sogenannte
Hofwasser sein. Daher bedarf auch dieses Wasser der sorgfältigen Sammlung
und Ableitung, die gleichfalls am besten durch eine unterirdische Canalisation
WOHNÜNGSHYGIENE. 1045
bewirkt wird, aber auch durch Untergrundberieselung erfolgen kann. Unter
Umständen mag auch Beseitigung mittelst Schwindgrube zulässig sein. Ab-
gesehen von der directen Beziehung, die das Hofwasser zu der Gesundheit
der Hausbewohnerschaft hat, kommt für die Nothwendigkeit der geordneten
Sammlung und Fortschaö'ung desselben die indirecte Beziehung in Betracht,
die in der Thatsache gegeben ist, dass stagnirendes Wasser dem Hause
leicht Feuchtigkeit zuführt und die Luft in der Umgebung desselben „muffig"
macht.
Die trockenen Abfallstoffe des Haushaltes, als „Hauskehricht",
„Hausmüll", auch kürzer als „Kehricht" oder „Müll" bezeichnet, setzen
sich aus den bei der Hausreinigung gesammelten Massen, aus den gröberen
Küchenabfällen, Knochen, Kork, Asche, Trümmern aller Art, Papier-, Stoff-
und Metallresten, Abfällen häuslicher Gewerbebetriebe, geringen Mengen von
Bauschutt und sonstwie zusammen.
Was zunächst die Gesammtmenge des Kehrichts betrifft, so wird derselbe passend
auf 1 Kopf und Jahr bezogen, wechselt aber in sehr weiten Grenzen, die durch Woh-
nungsgrösse, Lebenshaltung der Bewohner, Bauart und Lage des Hauses, Art des Brenn-
materials und andere Ursachen bestimmt sind. Durchschnittszahlen, wie die von Petten-
KOFER gegebenen von 90% für Kehricht und IbJcg für Asche — die einem Volumen von
150 bis 160/ entsprechen, lassen daher keine Verallgemeinerung zu. In grösseren Städten
scheint die Kehrichtmenge auch ziemlich überall grösser als 150 bis 160Z zu sein; hier
Tvird dieselbe sich meist zwischen 2ÜÜ und 300/ bewegen; doch gibt es Städte, in welchen
selbst HOOZ noch mehr oder weniger weit überschritten werden, jedoch wohl nur ver-
einzelt solche, in welchen 200/ unerreicht bleiben.
In sehr hohem Grade ist die Kehrichtmenge von der Beschaffenheit des Brenn-
materials abhängig; je besser dasselbe, je geringer die Aschenmenge und umgekehrt. Letztere
macht immer einen beträchtlichen Antheil an der Gesammtmenge aus. Auf der anderen
Seite ist die Asche, abgesehen von dem Staube, den dieselbe beim Transport verursacht,
ein relativ harmloser Bestand! heil des Kehrichts, da sie von organischen Stoffen ziemlich
frei ist, während letztere in den übrigen Bestandtheilen des Kehrichts in reichlichen
Mengen vertreten sein können. Immer hat der Kehricht einen gewissen Wassergehalt,
■den Vogel*) in 16 Proben innerhalb der Grenzen von 3'76 und 23 Gewichiprocenten
liegend fand. In denselben Proben wechselte die Menge der verbrennlichen Stoffe zwischen
13"33 und 33 öö^/o und die Menge der unverbrennlichen zwischen 5U'91 und ll-4^7°lo. Etwas
Genaueres über die Zusammensetzung von Hauskehrichtproben, die aus Berlin und Brüssel
stammten, enthält die Angabe von Vogel, dass sich darin von 17"64— 27 OO^/o organische
Stoffe, von 0-35— 0-46°/o Stickstoff und von 002— 0-587o Phosphorsäure fanden, daneben
Kali, Kalk, Magnesia in stark wechselnden Mengen, und Asche von 6094 — 8074''/o.
Es könnte nach diesen Zahlen — insbesondere nach der Stickstoffmenge
beurtheilt — der Hauskehricht im gesundheitlichen Sinne als ziemlich harmlos
erscheinen, und zu derselben Ansicht könnte man vielleicht auf Grund der Beob-
achtung gelangen, dass unter den zahlreichen Arbeitern, die beim Verladen und
Transport des Kehrichts jahraus, jahrein beschäftigt sind, besondere Krankheiten,
oder selbst nur Dispositionen zu solchen bisher nicht hervorgetreten sind. In-
dessen ist den thatsächlichen Verhältnissen nach dieser Schluss doch abzu-
weisen, da der Kehricht neben einem hohen Antheil organischer Stoffe Feuchtig-
keit enthält, also die Hauptbedingung für Entstehung von Fäulnis und eines
reichen Mikrobenlebens erfüllt. In letzterem aber können gelegentlich auch
pathogene Arten vertreten sein, und sogar für längere Zeit, wie beispielsweise
Typhus- und Tuberkelbacillen, Eitererreger, Erreger von mehreren äusseren
ansteckenden Krankheiten u. s. w. Die zuletzt genannten Schädlinge können
aus dem Staube von Krankenzimmern — in welchen sie mehrfach nachgewiesen
sind — in den Kehricht gelangen, und derselbe Weg steht vielleicht auch dem
Typhusbacillus offen, der übrigens noch durch andere Medien, wie z. B. ver-
dorbene Speisen und Dejecte von Typhuskranken, in den Kehricht gelan-
gen kann.
Die Sammelweise des Kehrichts ist sehr vielgestaltig. Es werden dazu feste
Gruben ausserhalb des Hauses, tragbare oder fahrbare Behälter, die in oder ausser dem
Hause Aufstellung finden, endlich auch sogar „Schächte" benutzt, die ausserhalb oder im
*) Vogel, Die Verwerthung der städtischen Abfallstoffe, Berlin 1896.
1046 WOHNÜNGSHYGIENE.
Innern des Hauses angebracht sind, und am unteren Ende zur Entleerung eine Yerschliess-
bare Oeffnung haben. Grundsätzlich ist den kleineren Sammelgefässen vor den grösseren
der Vorzug zu geben, weil durch jene die raschere Entfernung des Kehrichts erzwungen
wird. Eine Ausnahme ist indes Jsei grossen städtischen Miethsgebäuden zu machen, da
naturgemäss für jede einzelne Famihe ein Sammelgefäss vorhanden sein muss. Hier könnte
es sich also um eine sehr grosse Zahl von Stätten, von welchen Gefährdungen ausgehen^
handeln, welchen gegenüber eine einzige Giube von entsprechender Grösse, welche nur in
längeren Zeitabschnitten entleert wird, im Vorzuge ist. Sammelbehälter und Gruben
müssen in den Wandungen dicht, letztere auch vor Zuführung von Wasser und missbräuch-
lichem Einschütten anderer Flüssiskeiten geschützt sein.
Es ist eine offene Frage, ob die täglich e Fortschaffung des Kehrichts vor derjenigen in,
etwas längeren Zeitabschnitten gesundheitliche Vorzüge besitzt, weil dem zweifellos günstigen.
Umstände der Fortschaffung des „frischen" Kehrichts als Nachtheil der gegenüber steht,
dass die Fortschaffung kaum ohne Staubbildung und Verstreuen von kleineren Kehricht-
mengen auf dem Grundstück vorgenommen werden kann.
Mit besonderer Strenge ist darauf zu halten, dass die Wagen, in welchen der Ab-
transport des Kehrichts geschieht, so dicht als möglich sind, damit beim Verladen und
Fortschaffen nicht Staub Verbreitung und Verluste an den Kehrichtmengen entstehen.
Gleichzeitig ist an die Transportwagen die Forderung zu stellen, dass die Arbeiter, welche
das Verladen u. s. w. des Kehrichts besorgen, bei ihren Verrichtungen möglichst vor Staub
und anderen Schädlichkeiten geschützt werden. Es sind in der neueren Zeit Transport-
wagen, die beiden Anforderungen gerecht werden wollen, mehrfach aufgetaucht; doch ist
eine vollkommene Lösung des Problems bisher nicht gefunden.
Bei dem geriDgen Düngerwerth, den der Hauskehricht seiner Zusammen-
setzung nach nur hat, ist Verwerthung desselben in der Laudwirthschaft so gut
wie ausgeschlossen. Dieser, auch vom gesundheitlichen Standpunkt ungün-
stige Umstand zwingt da, wo nicht Gelegenheit geboten ist, den Kehricht
zur Aufhöhung von tief liegenden Bodenflächen zu benützen oder denselben
in See zu verbringen, ihn auf Abladeplätzen anzuhäufen, wo er sich vorläufig
selbst überlassen bleibt. Solche Abladeplätze können die Ausgangspunkte von
Seuchen werden, auch Boden und Trinkwasser in der Umgebung verunreinigen.
Sie müssen daher von menschlichen Wohnstätten entfernt liegen und um-
friedigt werden, damit kein Unberechtigter Zutritt erhalten kann. Uebrigens
müssen Lage und Bodenbeschaffenheit der Abladeplätze so beschaffen sein^
dass die von dem Kehricht zu befürchtenden Schädlichkeiten auf ein Minimum
beschränkt werden. Wegen dieser Ansprüche kann die Beschaffung der Ablade-
plätze nicht der Sorge des Einzelnen überlassen bleiben, sondern muss von
der Gemeinde bewirkt werden, welche für die Benutzung eventuell eine
Abladegebühr erheben kann, und Abladen an anderen Stellen als den an-
gewiesenen Plätzen unter Strafe zu stellen hat. Ueberhaupt lässt sich das
Ganze der Kehrichtsammlung und -Abfuhr in gesundheitlichem Sinne nur
dadurch befriedigend gestalten, dass die Gemeinde gegen entsprechende Ge-
bühr die Leistung entweder in eigener Regie ausführt, oder dieselbe unter
strengen Bedingungen an einen General-Unternehmer überträgt. Dies muss
das bisher noch nicht überall erreichte Ziel sein, neben welchem es, wenig-
stens in grösseren Städten, ein anderes nicht geben darf. Wo dasselbe aus
besonderen Gründen nicht zu verwirklichen ist, oder seine Erreichung erst
für einen späteren Zeitpunkt in Aussicht steht, muss in die Sammlung und
Abfuhr des Kehrichts seitens der Polizei strenge Ordnung gebracht werden.
Es sind Vorschriften über Beschaffenheit und Grösse der Sammelgefässe und
Gruben, über die Zeiten der Abfuhr u. s. w. zu erlassen, deren Uebertretung
mit strengen Strafen zu ahnden ist.
Um den Zersetzungsvorgang der abgelagerten Kehrichtmassen abzukürzen^
kann es sich empfehlen, frisch zugeführte Massen mit einer dünnen Erdschicht
zu überdecken. Wenn nach einigen Jahren die Zersetzung beendet ist,^
können die angehäuften Massen unbedenklich zur Aufführung neuer Strassen,
Plätze und Baustellen dienen, Verwendungszwecke, zu welchen „frischer"
Kehricht nicht b.enutzt werden darf.
Die Schwierigkeiten, in der Nähe grosser Städte geeignete Plätze zum Abladen der
entstehenden grossen Kehrichtmengen zu beschaffen, und die Gefahren, welche in Zeiten
WOHNUNGSIIYGIENE. 1047
z. B. von Choleraepidemien von solchen Plätzen ausgehen können, haben neuerdings dazu
geführt, Verbrennungs-Einrichtungen für den Kehricht zu schaffen. Auf dem Continent
ist Hamburg zuerst mit einer derartigen Anlage vorgegangen, wozu dort die grosse
Choleraepidemie von 1892 den wirksamsten Anlass gegeben hatte; in einer Reihe von
Städten schweben zur Zeit Projecte zur Anlage von Verbrennungsanstalten. In Orten, wo
geringwerthiges Brennmaterial (Braunkohle oder Briquets) benutzt werden, stösst aber
namentlich im Winter die Verbrennung auf Schwierigkeiten, da die Kosten hoch und die
zu beseitigenden, allerdings gesundheitlich nicht mehr zu fürchtenden Piückstandsmassen
gross sind, da sie von 40—66 Volumprocente betragen. Mit der Absicht, die Kosten
herabzumindern, ist man neuerdings an die Errichtung von K ehric h tverwer-
thungs- Anstalten heran gegangen. Das erste derartige Beispiel bietet auf dem Con-
tinent Budapest; ganz neuerdings ist München diesem Beispiele gefolgt. Die „Ver-
werthung" wird durch Sortiren des Kehrichts, d. h. Sondern desselben in verschiedene
Gattungen, erzielt. Metalltheile, Papier, Stoffreste, Glasscherben, Coaks, organische Reste
u. s. w. haben jede für sich einen gewissen Werth, während dem Gemisch ein Werth voll-
kommen abgeht. Die Sonderung darf aber nur in geschlossenen Räumen geschehen, und
die dabei beschäftigten Arbeiter sind gewissen Gefahren ausgesetzt. In dieser Hinsicht
und wegen der von der Verwerthung untrennbaren Gefährdung noch Anderer ist letztere
gegen die Kehrichtverbrennung bedeutend im Nachtheil.
In einer Reihe englischer Städte bestehen theils Einrichtungen zur Verwerthung,
theils zur Verbrennung. Letztere geschieht zuweilen unter Hinzunahme auch des Strassen-
kehrichts und der in Gruben, Tonnen oder Streuclosets gesammelten menschlichen Ab-
sonderungen.
Dass im biologischen Sinne auch dem Luftstaube der Wohnungen Be-
deutung zukommt, ist oben schon mehrfach berührt worden. Diese Bedeutung
macht sich sowohl direct als indirect geltend. Es ist die Feuchtigkeit,
durch welche der Luftstaub „angeklebt", und nicht nur zur Ursache von Un-
reinlichkeit, muffigen Gerüchen, sondern auch zur Entwickelung von Schimmel-
und Spaltpilzen an den Wänden der Wohnräume und an sonst geeigneten
Stellen werden kann. Es ist ausserdem daran zu denken, dass der Staub auf
Speisen und Getränke fallen und in diesen Zersetzungen hervorrufen kann;
besonders gilt dies für Kellerräume und Wohnräume, deren Fussboden tiefer
als das anstossende Erdreich liegt. Von hier aus kann aber bei der Verbindung,
die durch Thüren, Treppenhäuser, Aufzugschachte hergestellt ist — aber auch
durch die Zwischendecken, die in ihrer Masse niemals luftdicht sind, und an ihrem
Umfange meist einen mehrere Centimeter breiten offenen Spalt lassen — leicht
eine Uebertragung in die höher liegenden Räume stattfinden. Dass dies auch
geschieht, ist durch vielfache Untersuchuogen sicher erwiesen. Regelmässig hat
man in den zu ebener Erde gelegenen Räumen einen höheren Kohlensäure-
gehalt der Luft angetroffen als in den Räumen der oberen Geschosse; mit
der Höhenlage ermässigt sich der COg-Antheil der Zimmerluft. Dies ist um
so mehr beweisend für Räume mit künstlicher, nahe unter der Decke an-
gebrachter Beleuchtung, die es mit bewirken, dass die Luft der höher
liegenden Räume an Kohlensäure reicher wird als die der tiefer liegenden.
In Zimmern, welche gut rein gehalten werden, ist der Luftstaub arm
an Keimen, weil dieselben in ruhender Luft sich bald auf Fussboden, Möbel,
Geräthe, Oefen (an diesen brenzliche Gerüche erzeugend) ablagern. Die be-
wegte Aussenluft hat meist höhere Keimzahlen. Es ergibt sich hier-
nach die Unmöglichkeit, den Keimgehalt der Luft geschlossener Räume durch
Luftwechsel herabzusetzen, und kann dies wirksam nur durch feuchtes Rei-
nigen des Fussbodens und der Möbel geschehen.
Die im Luftstaub enthaltenen Keime gehören meist nicht pathogen en Arten an; doch
liegen auch mehrfach Befunde von pathogenen Arten vor, die darin freilich die Bedingungen
für Weiterentwickelung gewöhnlich nicht erfüllt finden werden. In dem Luftstaube von
Krankenräumen, (nach Hueppe) aber auch im Staube von Hotelzimmern und Zimmern von
Privatwohnungen sind sowohl Tuberkel- als Diphtherie-Bacillen nachgewiesen worden, beide
Arten wahrscheinlich aus dem Sputum Kranker herrührend. Noch leichter sind mit Luftstaub
die Erreger der acuten Exantheme verbreitungsfähig, welche namentlich mit Hautab-
schürfungen an die Zimmerluft abgegeben werden können. Mehrfach sind Strepto-
coccen und Staphylococcen in der Liift von Krankensälen gefunden worden, die auch
während langer Zeit im trocknen Luftstaube entwickelungsfähig blieben. Im Speichel Ge-
sunder und Kranker hat man Pneumonie-Bakterien sicher festgestellt.
1048 .^YOHNUNGSHYGIENE.
Abgesehen von der Infectionsgefahr, mit welcher beim Luftstaube ge-
rechnet werden muss, kommt die Ablagerung desselben in den Luftwegen in
Betracht. Es werden dadurch Reizungen der Schleimhäute bewirkt, Disposi-
tion zu Katarrhen und Lungenaffectionen sei es erzeugt, sei es vergrössert.
Die Thatsache, dass gewisse Wohnungen in ausgesprochenem Maasse
die Eigenschaft besitzen, dass in denselben gewisse Infectionskrankheiten
öfter als in anderen Wohnungen zum Ausbruch kommen, oder schwerer als
anderwärts verlaufen, auch die andere Thatsache, dass gewisse Wohnungen
mehr oder weniger stark begünstigend auf die sogenannten Erkältungskrank-
heiten wirken, ist nach dem, was im Vorstehenden über die Beziehungen, die
zwischen der Beschaffenheit der Wände und Zwischendecken der Wohnungen
bestehen, und über den Einfluss, den Feuchtigkeit, ünreinlichkeit und Staub in
den Wohnungen auf die Gesundheit der Bewohnerschaft ausüben können, mit-
getheilt ist, ausreichend erklärt. Die Uebereinstimmung der Auffassungen,
die darüber besteht, spricht sich unzweifelhaft darin aus, dass es üblich ist,
einige Infectionskrankheiten geradezu als „Schmutzkrankheiten" zu bezeichnen;
es gilt dies namentlich von den verschiedenen Formen der Cholera und
vom Darm- und Flecktyphus. Bei denselben scheinen insbesondere die
von den Abfallstoffen ausgehenden Schädlichkeiten im Spiele zu sein,
deren Bedeutung für die Wohnungshygiene daher nicht leicht überschätzt
werden kann. Daneben darf indes die Wichtigkeit anderer Anforderungen,
wozu allgemeine Reinlichkeit der Wohnung, Fernhaltung von Feuchtigkeit,
Zuführung von Licht und Luft in ausreichendem Maasse, endlich Schutz
gegen Auftreten von Temperatur-Extremen in der Wohnung gehören, nicht
übersehen werden.
Wenn aber auch in allen diesen Beziehungen das Nothwendige geschieht,
ist immer noch keine vollkommene Sicherheit dafür geschaffen, dass den
Insassen der Wohnung selbst nur diejenigen Infectionskrankheiten fern bleiben,
zwischen welchen und der Wohnungsbeschaffenheit mehr oder weniger directe
Beziehungen bestehen, weil mit dem, was in der Wohnung geschehen kann,
nur einige, und zwar wohl die Hauptquellen, aber doch nicht alle
Quellen der Infection geschlossen sind.
Desinfectionsmittel, die für Wohnräume und die darin befindlichen Gegenstände
(Möbel) geeignet sind, stehen nur in beschränkter Zahl zur Verfügung ; theils sind sie flüssige,
theils gasförmige, theils feste. Einerseits müssen die Mittel so beschaffen sein, dass sie zu
allen — auch verdeckt liegenden — Stellen Zutritt erlangen können und dass ihre Wirkung
in einer nicht zu langen Zeit erfolgt, anderseits aber auch so, dass durch sie die Gegen-
stände wenigstens nicht leicht beschädigt werden, und dass sie keine Schädlichkeiten (Gifte)
an den desinficirten Gegenständen zurücklassen; selbstverständliche Anforderung ist, dass
sie für denjenigen, der die Desinfection mit gehöriger Vorsicht ausfährt, nicht Gefahr
bringend sind.
Bedingungslos gilt, dass Desinfectionen von Wohnräumen nur von Personen, welche
in dieser Beschäftigung regelrecht ausgebildet sind, ausgeführt werden können und dürfen.
Ausnahmen können z B. bei rohen Mauern und Wänden Platz greifen, die man wirksam
durch einen Anstrich mit Kalkmilch desinficirt. Zur grösseren Sicherheit kann der
Anstrich in einem mehrstündigen Zwischenraum zwei mal aufgetragen werden; die Wirkung
■desselben erfolgt etwas langsam. An Stelle von Kalkanstrich können auch Natron- und
Kalilauge, desgleichen Lösungen von Schmierseife (in heissem Zustande) verwendet werden.
Wandflächen mit Farbenanstrich oder Tapetenbezug werden mit Brot abgerieben,
nachdem vorher der Fussboden des Raumes mit einer öprocentigen Carbolsäure-Lösung
stark angefeuchtet ist. (1 Theil Acidam carb. depur. auf 18 Theile Wasser. Thüren,
Fenster, Hoizvertäfelungen, u. s. w. werden ebenfalls mit öprocentiger Carbolsäurelösung
bestrichen. Abortsitze, Möbel, Bilder, Ledersachen u. s. w. werden abgerieben und mit 2pro-
centiger Carbolsäurelösung bestrichen. An Stelle von Carbolsäure kann auch Sublimat
benutzt werden; es dürfen aber keine Reste davon an den behandelten Gegenständen ver-
bleiben, weil dieselben sich zersetzen, dann verstauben, und noch nach langer Zeit giftig
wirken können.
Bei der Desinfection benutzte Tücher, Lappen, Brotabfälle u. s. w. sind sorgfältig zu
sammeln und zu verbrennen.
WOHNÜNGSHYGIENE. 1049
Neuerdings ist zur Desinfection von geschlossenen Räumen Formaldehyd-Ver-
dampfung (sogenanntes Formalin) in Aufnahme gekommen. Dieselbe bietet grosse Erleich-
terungen in der Durchführung, besonders auch mit Bezug auf die Zeitdauer, welche bis
Wiederingebrauchnahme des Raumes erfordert wird. Die bisherige Erfahrung mit diesem
Mittel ist aber vielleicht noch etwas kurz.
Wohnungen in Niederungen und Thälern, die überfluthet wurden, bedürfen vor dem
Wiederbeziehen einer besonders sorgfältigen Behandlung, eventuell auch einer Desinfection.
Als im Frühjahr 1888 in verschiedenen Gegenden Preussens VVohnungs-üeberschwemranngen
zahlreich vorgekommen waren, erliess (am 9. April) 1888) das Medicinal-Ministerinm eine
Anleitung zur Wiederbeschaffung normaler gesundheitlicher Zustände in solchen Wohnungen,
aus der hier Folgendes mitgetheilt wird.
„. . . Vor allem ist eine gründliche Reinigung der Wohngebäude in allen
ihren Abtheilungen nothwendig, die aber in der Regel allein noch nicht, genügt, da
meistens nicht nur Wasser, eventuell mit Lehm oder ähnlichen, in sanitärer Hinsicht nur
wenig bedeutsamen Stofien verunreinigt, eingedrungen ist, sondern das Wasser auch
mehr oder weniger Strassenschmutz, Unrath aus überflutheten Abtritten und Dünger-
stätten, nach Umständen auch den Inhalt von Schmutzwasserleitungen mit sich geführt
hat, und Wände und Fussboden der Zimmer mit solchen Stoffen verunreinigt sind. In
solchen Fällen ist die Reinigung unzureichend und Desinfection nothwendig.
Besondere Aufmerksamkeit erfordert in gedielten Zimmern die Füllung der entweder
nur durchnässten, oder auch verunreinigten Zwischendecken. Auch bei blosser Durchnässung
wird dieselbe — unter der oft zutreffenden Voraussetzung, dass sie von vornherein aus
unreinem Material bestanden hat, — der Sitz sich lange hinziehender Fäulnis, und unter
Umständen ein sehr geeigneter Boden für etwa vorhandene Krankheitskeiroe werden
können. Durchnässtes Deckenfüllmaterial muss daher beseitigt und durch passendes,
trockenes ersetzt werden.
Da, wo die Dielung bereits schadhaft war, ist die Beseitigung des Füllmaterials
auch in dem Falle sehr rathsam, dass nicht eine besondere Verunreinigung vorliegt, weil
die Dielen auf der durchnässten Unterlage bald faulen oder durch Schwamm zerstört
würden. — Wenn sich bei der probeweisen Aufnahme der einen oder anderen Diele die
der Deckenfüllung etwa nicht besonders feucht und unrein erweist, genügt die Desinfection
der Dielen.
Was die Wände betrifft, so ist die Entfernung des Abputzes von denselben
sowohl deshalb dienlich, weil damit unreine Stoffe, die mit dem Wasser eingedrungen waren,
sicherer unschädlich gemacht werden, als es durch Anordnung von Desinfectionsmitteln
a-llein geschehen könnte, wie auch deshalb von Nutzen, dass dadurch die Austrocknung
der Wände erheblich beschleunigt wird.
Keller, in die Wasser von oben eingedrungen, müssen möglichst bald und voll-
ständig ausgeschöpft werden. Sind die Keller im Wesentlichen wasserfrei gemacht, so ist
der noch vorhandene Rest zu desinficiren und heraus zu schaffen. — Durch Eindringen von
Grundwasser überschwemmte Keller können erst trocken gelegt werden, nachdem der
Grundwasserstand entsprechend gefallen ist.
Zur Desinfection sind zwei Mittel benutzbar: Carbolsäure und Aetzkalk. Rohe
Carbolsäure mit roher Schwefelsäure übertrifft an Wirkung entsprechende Lösungen von
reiner Carbolsäure; auf je 10 l Carbolsäure werden 5 l rohe Schwefelsäure genommen.
Nach guter Mischung beider Körper muss die Mischung 2 bis 3 Tage stehen. — Die Kalk-
milch wird etwas steifer zubereitet, als die Maurer dieselbe zum Tünchen benützen.
Zur Desinfection von Wänden, Fussboden und von trocken gelegten Kellern wird am
besten die Carbolsäure-Mischung benützt. Zur Desinfection der in den Kellern verbHebenen
Wasserreste wird auf 20 Theile derselben ein Theil der Carbolsäure-Mischung verwendet.
Wände sind mittelst Pinsel oder Lappen mit der Mischung reichlich anzufeuchten, Holz-
fussböden mit derselben zu ,.scheuern''. Von Abputz befreite Wände werden mit Kalk-
tünche desinficirt. In Schlamm, der auf der Kellersohle etwa zurückgeblieben ist, wird
am besten Kalkpulver in der Menge von 1 Theil auf 20 Theile Schlamm eingestreut. Zu
der Desinfection von Kellerwänden kann zwar auch die Carbolsäure-Mischung benützt
werden; dies ist des Geruches wegen aber da zu widerrathen, wo der Keller zur Auf-
bewahrung von Nahrungsmitteln, namentlich von Milch benützt wird.
Neben der Benützung von Oefen zum Trocknen der Wände ist die Anwendung von
eisernen Coakskörben sehr zu empfehlen. Eine Aufschüttung von Sand unter den Körben
wird stark erwärmt und befördert dadureh das Austrocknen des Fussbodens. In Räumen,
in welchen Coakskörbe aufgestellt sind, müssen, um Vergiftungen mit Kohlenoxyd zu ver-
hüten, und auch wegen des Trocknens Fenster und Thüren beständig offen gehalten
werden.
Röhrenbrunnen werden von üeberschwemmungen in der Regel nicht leiden und
können daher fortgesetzt benützt werden, dagegen sind Kesselbrunnen möglichst
vollständig auszuschöpfen. Die Wandungen sind alsdann zu reinigen und mit Kalkmilch zu
desinficiren. In das im Kesselbrunnen — oder einfachen Schöpfbrunnen — verbliebene
Wasser wird eine massige Portion Kalk pul ver eingeschüttet, und wenn dadurch Trübung
des Wassers eintritt, der Brunnen abermals möglichst trocken gelegt. Es ist zu em-
1050 WOHNÜNGSHYGIENE.
pfehlen, das Wasser desinficirter Brunnen eine Zeit lang nicht ohne weiters, sondern zum
Trinken und für andere häusliche Zwecke nur gekocht zu benützen. Unbedingt noth-
wendig ist dies, wenn das Wasser überschwemmt gewesener Brunnen in Benützung ge-
nommen werden muss, noch bevor Desinfection des Brunnens stattgefunden hat.
üeberschwemmt gewesene Abtrittsgruben müssen sorgfältig reparirt werden,
namentlich um benachbart liegende Brunnen vor dem Durchsickern von Grubeninhalt zu
schützen. Wenn ein Brunnnen nahe an einer Abtrittsgrube liegt, muss, bevor das Aus-
schöpfen desselben unternommen wird, die Grube ausgeleert werden."
In der Reihe der verschiedenen Factoren, welche Morbidität und Morta-
lität beeinflussen, ist bei dem Ueberwiegen der Zeit, während welcher die
Insassen dem Einfluss derselben ausgesetzt sind, die Wohnung vielleicht
derjenige, der sich am stärksten geltend macht. Es ist aber unmöglich, den
Einfluss, den dieser eine Factor übt, aus der Wirkung, die alle Factoren
zusammen ausüben, heraus zu schälen. Wollte man dennoch dieser Aufgabe
näher treten, so müsste man eine gegebene Anzahl von Wohnungen nach
ihrer gesammten Beschaffenheit in bestimmte Gruppen sondern, wobei
neben der Grösse der Wohnung auch die übrigen Eigenschaften als Lage,
Trockenheit, Licht und Luft, Wärme, nähere Umgebung u. s. w. zu berück-
sichtigen wären. Da aber bei der Einreihung nach den letztgenannten Factoren
bei der grossen Mannigfaltigkeit und einer gewissen Subjectivität des Urtheils,
die dabei nicht vermeidlich ist, manches Willkürliche und Unzutreffende unter-
laufen müsste, hat man bei mehreren Untersuchungen, die vielfach über den
Einfluss der Wohnung auf den Gesundheitszustand der Insassen angestellt
sind, alles bis auf den einen Factor der Wohnungs-Grösse bei Seite ge-
lassen und ist so zu Zahlen gekommen, die zwar nicht in strengem Sinne
verstanden werden dürfen, jedoch immerhin ein angenähertes Bild von
jenem Einflüsse gewähren.
In anderen Fällen hat man Ermittelungen über den Einfluss, den die
Höhenlage der Wohnung, d. h, die Zahl der Wohngeschosse in dem-
selben Hause, in gesundheitlicher Richtung ausübt, angestellt; Unter-
suchungen dieser speciellen Art liegen aber bisher erst einzelne vor. Abge-
sehen von der Unsicherheit, die hiedurch in die Ergebnisse hinein getragen
wird, gilt von letzteren dasselbe, was vorhin über die aus der Wohnungs-
grösse allein abgeleiteten Schlussfolgerungen bemerkt worden ist.
Ermittelungen in London, die in dem Zeiträume von 1885 bis 1892 angestellt
wurden, ergaben für Bezirke mit steigenden Procentsätzen der kleinen Wohnungen ein
beträchtliches Ansteigen der Gesammtsterblichkeit. Die Ermittelungen wurden auf
Wohnungen, die aus weniger als fünf Räumen bestanden, in welchen zugleich mehr als
zwei Personen auf einen Raum entfielen, beschränkt, da man solche Wohnungen als
„überfüllt" ansah.
Wohnungen dieser Art fanden sich in Die Sterblichkeitsziffer pro Tausend
der Anzahl vor: war in den Bezirken:
Bezirke mit weniger als 15% 17-51
„ „ 15—20 ., 19-51
20-25 „ 20-27
25-30, 2176
30-35 „ 2392
mehr als 35 „ . 25-07.
In Glasgow wurde 1885 die Sterblichkeitsziffer ermittelt:
Zu 18 pro Tausend in Wohnungen von 4 Zimmern
J) ^^ 5) )) " 3) » '^ !)
97 1
CoBNELLY und Andror ermittelten die Sterblichkeit an acuten Darmkrank-
heiten allein:
Zu 1-96 pro Tausend in Wohnungen von 4 und mehreren Zimmern
n 2-76 „ „ „ „ „ o 4 ,
» 3-90 „ „ „ „ „ £> O „
WOHNÜNGSHYGIENE. 1051
Was den Einfluss der Höhenlage der Wohnung im Hause betrifft, so
fand Schwabe (in Beriin), dass die Sterblichkeitsziffer im Erdgeschoss sich
höher stellte, als in dem darüber liegenden Geschosse (der sogenannten Bel-
etage), und dass auch für die darüber liegenden Geschosse die Sterblichkeits-
ziffer höher war als für die Beletage. Die Sterblichkeitsziffer für das Keller-
geschoss "war, wenn auch hoch, doch günstiger, als man erwartet hatte.
Anderweitig ist bemerkt worden, dass die höher liegenden Geschosse gesund-
heitlich im Vorzuge vor den tiefer liegenden sind. Man sieht den Grund
der Erscheinung in der grösseren Menge von Licht und Luft, deren sich die
Bewohner der oberen Geschosse erfreuen. Andererseits sind aber auch die Be-
schwerden in Ansatz zu- bringen, welche das Ersteigen mehrerer Treppen,
namentlich den im höherem Lebensalter stehenden sowie lungenschwachen
Personen auferlegt, und es muss w-eiter berücksichtigt werden, dass bei der
Schwierigkeit des Verkehrs mit der Aussenwelt in den hoch liegenden Ge-
schossen die Pflege von Reinlichkeit und Sitte weniger gut gesichert ist, als
in den der Erde näher liegenden Geschossen, endlich, dass die oberen Geschosse
aus den unteren auch Luftverschlechterungen aufnehmen und zwischen den
Bewohnern der verschiedenen Geschosse sociale Verschiedenheiten bestehen,
die im Gesundheitszustande sich stark geltend machen können.
Die neuzeitliche sociale Entwickelung, welche dahin geht, dass die Be-
völkerung sich mehr und mehr in den grösseren und grossen Städten an-
sammelt, während die Bevölkerungs-Dichte in den kleineren Städten und auf
dem platten Lande stabil bleibt, vielfach sogar Abnahme erfährt, bringt neben
andern Uebelständen auch solche auf dem gesundheitlichen Gebiete mit sich.
Je grösser die Agglomerationen der Bevölkerungen werden, um so stärker
wirkende Maassregeln und Gesundheitsschutz derselben werden erfordert, und
um so grösser können dessenungeachtet die Verwüstungen von Gesundheit
und Leben werden, die einherziehende Volksseuchen grösserer Art fordern.
Es gibt in Deutschland zur Zeit eine ganze Anzahl von Städten, in welchen die auf
Uta des Stadtgebiets entfallende Bevölkerungszahl 250— 300 erreicht; in einzelnen, sogar
nicht kleinen Bezirken solcher Städte steigt die Bevölkerung auf 800 und selbst 1000
Köpfe, und sogar noch über letztere Zahl hinaus. Selbst in Mittelstädten werden bis etwa
500 Köpfe auf IJia gezählt; dies gilt insbesondere von Städten mit reicherer gewerblicher
Thätigkeit, doch auch von einigen anders gearteten Städten, wenn durch natürliche Zu-
stände oder künstlich geschaffene "Verhältnisse, wie etwa Einschnürung durch Festungs-
werke, der Raum zur Vertheilung auf breiterer Fläche knapp ist oder ganz fehlt.
Fast immer ist mit grosser „Bevölkerungsdichte" Uebervölkerung
der Wohnungen (Overcrowding of dwellings) verbunden. Dieselbe kann
aber auch da vorhanden sein, wo die auf die Flächeneinheit {ha) ent-
fallende Kopfzahl nur massig, oder sogar relativ klein ist. Im ersteren Falle
liegt die Ursache in einer zu weit getriebenen Ausnutzung des Baugrundes,
die dahin geführt hat, auf kleinster Grundfläche die grösstmögliche Zahl
von Einzel Wohnungen herzurichten, und, was meist damit identisch ist, die
Bevölkerung mehr über einander zu schichten — d. h. Häuser hiit einer
anormalen Zahl von Wohngeschossen zu erbauen — anstatt dieselben durch
Herstellung von Wohnungen neben einander mehr in die Breite zu ver-
theilen. In dem andern Falle sind die Wohnungen aus übermässig weit getrie-
bener Ersparnis an den Baukosten für die aufzunehmende Kopfzahl zu klein
ausgefallen.
Gegen die übermässige Ausnutzung des Baugrundes muss eine fürsorg-
liche Gemeindeverwaltung insbesondere durch Erschliessung neuer Baugründe,
Herstellung guter Verkehrswege und Verbindungen zu denselben wirken, und
daneben die Gesundheitspolizei durch Eriass von Vorschriften über das
Maximum des überbaubaren Theiles eines Grundstücks, ferner über Zuführung
von Licht und Luft zu den Wohnräumen, endlich über die Minimalhöhe
der Wohnräume und die Maximalzahl der über einander zulässigen Wohn-
1052 WOHNÜNGSHYGIENE.
geschosse vorkehren. Beide Aufgaben sind verhältnismässig leicht lös-
bar, weil sie sich kraft öffentlichen Rechts erfüllen lassen, ohne dass unüber-
windbare Collisionen mit den Rechten der Grundstiickseigenthümer entstehen.
Gegen die — in zu weit getriebenen Ersparnisrücksichten begründete —
zu enge und zu dürftige Ausstattung der Wohnungen sind der Gemeinde-
verwaltung und der Gesundbeitspolizei bisher weit weniger Mittel in die Hand
gegeben, weil es hierbei nicht ohne tiefe Eingriffe in das Eigenthums- und
Selbstbestimmungsrecht der Besitzer abgeht, und mit zu strengen Vorschriften
sich leicht die Gefahr verknüpft, die Privatthätigkeit auf dem Gebiete des
Wohnungsbaues mehr oder weniger brach zu legen, was unter allen Umständen
vermieden werden muss. Ausserdem fehlt es in den meisten deutschen Staaten
bisher an der gesetzlichen Grundlage für eine ausreichende Thätigkeit auf den Ge-
bieten der Wohnungspflege und W^ohnungsbenutzung, die, wie leicht
einzusehen ist, nicht entbehrt werden kann, wenn es überhaupt möglich sein
soll, für den Wohnungsbau etwas Durchgreifendes zu erreichen. So ist einige
Besserung zunächst nur davon zu erwarten, dass staatliche und Gemeindebehörden
entweder die Errichtung guter Wohnungen direct und indirect unterstützen,
oder selbst den Bau von Wohnungen für ihre Beamten u. s. w. in die Hand
nehmen. Ebenfalls finden Grossindustrielle und Gesellschaften hier ein reiches
Feld fruchtbarer Thätigkeit, und desgleichen können Vereinigungen der
Wohnungsbedürftigen selbst viel zur Verbesserung ungünstiger Wohnungs-
verhältnisse thun.
Wo bisher von Seite der Behörden in die Wohnungspflege eingegriffen ist,
handelt es sich fast nur um die Festsetzung eines bestimmten Luftraumes
und einer bestimmten Grundfläche, die auf 1 Kopf der Bewohnerschaft min-
destens entfallen muss; gewöhnlich werden 10 m^ Luftraum für einen Er-
wachsenen und 5 m^ für ein Kind gefordert. Es darf eine gewisse minimale
Höhe der Räume und eine gewisse Grösse der Fensterfläche nicht unter-
schritten werden. Jene Höhe liegt meist um 2 m und die Fenstergrösse in
etwa ^/i2 der Grundfläche der Räume. Zuweilen werden Vorschriften über
die Zahl der für eine Familienwohnung noth wendigen Räume sowie
über die Zahl der Aborte in Mehrfamilien-Häusern getroffen. Alles
das und noch einige andere wichtige Vorschriften, die wohl angetroffen werden,
sind Minima, die nur den ärgsten Missständen in den Wohnungen der
niedersten Classen abhelfen wollen. Aber selbst das bleibt unerreicht, wenn
nicht durch ständige Ueberwachung der Benutzungsweise der
W^ohnungen die Einhaltung jener Bestimmungen erzwungen wird. Diese
Ueberwachung aber darf, um Missgriffen vorzubeugen, und im Gegentheil,
fruchtbar zu sein, nicht von gewöhnlichen Polizeibeamten ausgeübt werden,
sondern muss in den Händen eines hygienisch geschulten Personals, von
Gesundheitsaufsehern (Wohnungspflegern), liegen, wie ein solches in eng-
lischen Städten längst aufgestellt ist. Die Gesundheitsaufseher müssen einem
Gesundheitsarzt unterstellt sein, dessen Obliegenheiten sich auf alle
im Stadtgebiete wahrzunehmenden Einrichtungen der Gesundheitspflege zu
erstrecken haben, in einigen deutschen Städten liegen bisher mehr oder
weniger freiwillig ins Leben gerufene Einrichtungen dieser Art vor, welche
Nützliches leisten, aber einen amtlichen Apparat zu ersetzen ausser Stande
sind. Es ist dringend zu wünschen, dass hier bald Wandel geschaffen werde,
und den langjährigen Bestrebungen des deutschen Vereins für öffentliche Ge-
sundheitspflege nach Erlass eines Gesetzes über die Wohnungs-
pflege, die auf der eben abgehaltenen 23. Versammlung des Vereines zu
Köln eine abermalige Bethätigung erfahren haben, endlich ein günstiger Er-
folg beschieden sein möge.
Wohnungen werden entweder zu mehreren unter einem Dache vereinigt,
oder jedes Haus enthält nur eine einzige Wohnung. Erstere Anordnung be-
WOHNÜNGSHYGIENE. 1053
zeichnet man gewöhnlich als Miethhaus, letztere als Familienhaus oder Ein-
familienhaus. Beiden Arten von Häusern kommen gCNvisse Eigenschaften zu,
die auch von gesundheitlichem Interesse sind.
In der Hegel wird der Wohnungsraum im Miethhause enger sein als
im Familienhause und unter den Bewohnern sich in mancher Beziehung ein
gewisses Abhängigkeitsverhältnis herausstellen. Störungen der häuslichen Buhe
sind nicht zu vermeiden, und mit der Zusammendrängung einer grösseren
Anzahl von Menschen in einem Hause nimmt auch der Schutz gegen die Aus-
breitung von ansteckenden Krankheiten ab. Ein befriedigender Zustand der
allgemeinen Reinlichkeitspflege ist im Miethhause schwerer aufrecht zu erhalten
als im Familienhause. Dagegen hat das Miethhaus den Vortheil billigerer Her-
stellung und einer stärkeren Abstumpfung der Temperatur-Extreme; bei zweck-
mässiger Anordnung ist auch die Haushaltsführung in demselben vereinfacht. Ge-
wisse Einrichtungen, wie die der Wasserversorgung, der künstlichen Beleuchtung,
der Entwässerung und derjenigen zur Beseitigung von Abfallstoffen lassen sich
in dem — grösseren — Miethhause vollkommener treffen als in dem — kleinen —
Familienhause, ja sind in ersterem vielleicht überhaupt erst möglich. Die hoch
liegenden Geschosse des Miethhauses sind in Bezug auf den Genuss von frischer
Luft und directem Sonnenlicht, wie auch in Bezug auf Störungen durch den
Strassenverkehr in günstigerer Lage als das niedrige Familienhaus; doch
kann ersteren von den tiefer gelegenen Wohnungen aus auch verdorbene Luft
zugeführt werden. Die Wohnung im Miethhause passt sich der Individualität
des Bewohners im Allgemeinen weniger gut an als die Wohnung im Ein-
familienhaus; der Inhaber ist unabhängig von Mitbewohnern und frei von
Störungen, hat dagegen mit grösserer Abhängigkeit von Wärmewechsel zu
kämpfen, und schliesslich die Vorzüge des Alleinbewohnens mit grösseren
Kosten zu erkaufen.
Entweder werden Wohnhäuser unmittelbar anstossend : „geschlossene Be-
bauung" oder mit Zwischenraum : „offene Bebauung" errichtet. Der Zwischen-
raum der offenen Bauweise, oder auch der Abstand, der von der seitlichen
Grenze einzuhalten ist („Bauwich"), wechselt sehr; gewöhnlich ist das Minimum
desselben baupolizeilich festgesetzt, ein Mehr aber dem Belieben des Grund-
stückseigentümers überlassen. Eine zu enge Begrenzung des Minimums etwa
auf V2 — 1 V2 '^' welche in älteren Städten vielfach angetroffen wird, empfiehlt
sich nicht, Veil solche enge Gassen leicht als Ablagerungsplatz und Auf-
bewahrungsort von allerhand Ungehörigkeiten benutzt werden, die Luft in
denselben entweder stagnirt (und verdirbt), oder auch umgekehrt durch diese
Gassen heftiger Zugwind geht. Enge Gassen zwischen zwei Nachbarhäusern
ohne Verschluss an beiden Enden sind auch aus sicherheitlichen und Ver-
kehrsrücksichten nicht zu dulden. Zu weite Bemessung des Zwischenraums
ist zwar für Licht- und Luftzuführung zum Hause günstig, hat aber da, wo
die Wahl zwischen der offenen und der geschlossenen Bauweise frei gestellt ist,
den Nachtheil, dass sie leicht zur Wahl der geschlossenen Bauweise führt, die
im Allgemeinen weniger günstig ist als die offene. Vielfach wird bau-
polizeilich ein Abstand von der Nachbargrenze von 2 bis 3 m gefordert, wenn
auf die Anlegung von Fenstern und Thüren in der betreffenden Wand des
Gebäudes verzichtet wird, und von 4—6 m, wenn Fenster- und Thüröffnungen
angelegt werden sollen.
Es ist leicht ersichtbar, dass sich der Abstand nach der G e b ä u d e g r ö s s e,
namentlich nach der Höhe, richten muss, damit der Zwischenraum nicht ein
„schartenartiges" Aussehen annimmt. Je höher die Gebäude, um so grösser
muss der Abstand sein, je niedriger, umso mehr darf derselbe — bis etwa zu
den oben angegebenen Maassen hinab — eingeschränkt werden. Für Gebäude
von 20 m Höhe und darüber erscheinen 6 m Abstand von der Grenze — also
12 m Zwischenraum zwischen zwei benachbarten Gebäuden noch gering, bei
1054 WOHNÜNGSHYGIENE.
Gebäuden bis etwa 10 w Höbe können 2-5 w Abstand — also 5 w Zwischen-
raum noch als ausreichend angesehen werden. Die geschlossene Bebauung
schränkt den Zutritt von Luft und Licht zu den Wohnungen erheblich ein und
übt auch einen erheblichen Zwang auf die innere Anordnung der Wohnungen;
sie kann aber noch geniigen, wenn darauf gehalten wird, dass an der Rück-
seite der Gebäude grosse zusammenhängende freie, für Licht und Luit
offene Räume, nicht aber anstatt dessen zahlreiche einzelne, ganz und halb
umbaute, sogenannte „Höfe" entstehen; dies zu verhüten, ist Sache der Bau-
ordnungen. (Vergl. unter Strassenhygiene). Vorzüge besitzt die geschlossene
Bebauung darin, dass sie weniger Baugrund erfordert, daher billiger ist, auch
die Gebäude in thermischem Sinne sich günstiger verhalten als bei der
offenen Bebauung. Letztere ist in Bezug auf Licht- und Luftzuführung so-
wie in Bezug auf die Freiheit hinsichtlich der Anordnung — das Nebenein-
ander — der Räume erheblich im Vorzuge, erfordert aber hohe Kosten wegen
des grösseren Bedarfs an Grundfläche und der Nothwendigkeit, allen vier Seiten
des Hauses „fagadenmässige" Ausbildung zu geben. Dazu ist das an allen
Seiten frei stehende Haus im Sommer heiss und im Winter kalt.
Ein mittlerer, im Allgemeinen befriedigender Zustand ergibt sich da,
wo die geschlossene Bebauung nicht in voller Strenge, sondern mit der Mil-
derung durchgeführt wird, dass je zwei Häuser unmittelbar an einander ge-
baut werden dürfen, wobei die Zahl der Zwischenräume auf die Hälfte ver-
ringert ist, alle Häuser aber noch an drei Seiten für Licht und Luft zugäng-
lich sind.
Alles Vorstehende gilt für die Wohnungen unter gemässigten
Himmelsstrichen. Welche Abweichungen einerseits in kalten, andererseits in
heissen Klimaten geboten sind, ergibt sich von selbst daraus, dass in ge-
mässigten Klimaten das Haus die doppelte Aufgabe hat sowohl gegen höhere
als gegen niedere Temperaturen Schutz zu gewähren, während es in den
kalten Klimaten fast allein auf Schutz gegen die Kälte und in den heissen
Klimaten ausschliesslich darauf ankommt, die Hausbewohner gegen die Sonnen-
gluth zu schützen, wozu insbesondere die Zuführung grosser Frischluft-
mengen mit hoher Geschwindigkeit nothwendig ist.
Um den Wohnungen möglichst viel directes Sonnenlicht zu verschaffen, muss die
Gebäudehöhe in ein günstiges Verhältnis zur Breite der davor liegenden Strassen und zu
dem freien Raum an der Hinterseite gesetzt werden. Es ist im gesundheitlichen Sinne nicht
zu viel verlangt, wenn man fordert, dass die Gebäudehöhe die Strassenbreite nicht
überschreite, oder in Zeichen ausgedrückt, 7^ höchstens = & sei. Die Erfüllung dies erForderung
bildet aber sehr oft die Ausnahme und fast regelmässig ist dies im Kern der Städte der
Fall, wo häufig sogar eine constante minimale Höhe, die ziemlich weit über die Breite der
engen Strassen hinausgeht, zugelassen wird, und für Strassen von normaler Breite viel-
fach als Regel festgesetzt ist h ^== b -\- Constante. Dabei kann die Constante 5 — 7 m be-
tragen, und es tritt zu der Höhe ^ auch noch die Dachhöhe — vom Hauptgesims bis zum
First — hinzu, sofern nur das Dach nicht sehr steil ist, d. h. einen Neigungswinkel gegen
die Horizontale von 45° nicht überschreitet. Aus Vorschriften dieser Art gehen in neuern
Stadttheilen Gebäudehöhen bis etwa 22m hervor, in welchen fünf Wohngeschosse über
einander angelegt werden können — und auch dürfen. Dies ist in gesundheitlichem Sinne
ein Uebermaass, das bei Erlass neuer Bauordnungen herabgesetzt werden müsste. Jeden-
falls ist es geboten, für die Aussengebiete der Städte Beschränkungen ein-
zuführen, und zwar von der Art, dass mit grösser werdender Entfernung
vom Stadtkern die zulässige Gebäudehöhe immer geringer normirt wird.
Dies bringt auch für den Stadtkern in der vermehrten Zuführung von Frischluft gesund-
heitliche Vortheile mit sich.
Durch die Lage zum Meridian ist die Wärmemenge bestimmt,
welche ein Haus durch Sonnenbestrahlung (Insolation) empfängt.
Prof. Knaupf (Heidelberg) hat einige Messungen dieser Wärmemengen ausgeführt,
welche folgende, in Verhältniszahlen ausgedrückte Ergebnisse lieferten: (S. Tab. S. 1055).
Man wird annehmen dürfen, dass in der übrigen Jahreszeit die Ver-
hältnisse ähnlich liegen als an den drei bestimmten Zeitpunkten, zu welchen
die Messungen ausgeführt wurden. Unter dieser Voraussetzung besagen die
,WOHNüNGSHYGIENE. 1055
Zeit
Wärmezuführung zu den Zeiten
Ost
Süd
West Nord
Sommers olstitiiim
Aequinoctium
Winters olstitium
1
1
1
0-73
2-20
5-50
1 j Ü-18
1 ' 0
1 ' 0
Zahlen etwa, dass die Nordseite durch Insolation im Herbst, Winter und
Frühling gar keine Wärmemenge erhält, nur im Hochsommer ein Minimum,
und dass West- und Ostseite sich übereinstimmend verhalten. Die Südseite
ist im Herbst und Frühling, namentlich aber im Winter ausserordentlich
begünstigt, d. h. in Jahreszeiten, wo die Sonnenwärme besonders wohlthätig
empfunden wird, während im Hochsommer die von der Südseite aufgenommene
Sonnenwärme nicht ganz diejenigen erreicht, welche Ost- und Westseite em-
pfangen. Dieser zunächst auffällig erscheinende Umstand erklärt sich daraus,
dass die mitgetheilten Wärmemengen im Verhältnis zur Grösse des Neigungs-
winkels stehen, unter welchem die betreffenden Flächen von den Sonnen-
strahlen getroffen werden. Die Südseite der Wohnungen erscheint darnach
in doppelter Weise begünstigt: durch gemilderte Wärme im Hochsommer,
vermehrte Wärme in der kühlen, und (relativ) grösste in der kältesten Jahreszeit.
Das Gleiche gilt für das directe Sonnenlicht, welches die Wohnung
empfängt, dessen gesundheitliche Bedeutung noch über diejenigen der Wärme
hinausgeht. Der sechste internationale Congress für Hygiene und Demographie
zu Wien 1887 hat die grosse Bedeutung des directen Sonnenlichtes für die
menschliche Gesundheit in folgendem Ausspruche anerkannt:
„Die Wichtigkeit des Lichtes ist für den Menschen so gross, dass dieser
sich nicht scheuen soll, die schwersten Opfer zu bringen, um sich
seine wohlthätige Wirkung zu verschaffen. Es begünstigt die Thätigkeit der
Haut, vermehrt den Athmungsaustausch, steigert den Blutreichthum, regt die
Ernährung an, trägt zur regelrechten Entwicklung der Kinder bei, und gibt
Allen physische und moralische Kraft. Es bildet ein für das Auge
vortheilhaftes Medium, und es ist der Mangel des Lichtes eine der häufigsten
Ursachen der Erschütterungen des Lebens. Endlich gesundet es die
Wohnungen, indem es die infectiösen Keime vernichtet. Diese
hygienischen Eigenschaften gehören den Strahlen an, welche direct vom
Himmel ausgehen, nicht aber dem diffusen Licht."
Während die in diesem Ausspruche dargelegte grosse Wirkung des
Sonnenlichtes auf Körper und Geist seit lange bekannt und anerkannt war,
dagegen die Erkenntnis der bactericiden Wirkung des Lichtes aber noch in
den Anfängen steckte, ist letztere, seit der Zeit, wo der Ausspruch geschah,
durch vielfache Versuche erkannt, bewahrheitet und nach manchen Richtungen
hin genauer festgestellt worden.
Durch die in Bezug auf Wärme und Licht stattfindenden Unterschiede
sind einige Directiven über die innere Anordnung eines Wohnhauses, d.h.
die Lage der Räume zu einander, an die Hand gegeben. Wohn-, insbesondere
aber Kinderzimmer und Krankenzimmer sollen gegen Süden, Schlafzimmer
und i\.rbeitszimmer gegen Osten oder Nordosten gelegt werden, für letztere
Zimmergattung sind horizontal einfallende und dabei blendende Lichtstrahlen
unerwünscht. Speisezimmer, Küche, Speisenkammer, Badezimmer, Aborte und
Treppenhaus liegen entweder geradezu günstig gegen Norden, oder befinden
sich an dieser Seite in nicht ungünstiger Lage: für Badezimmer und Aborte
ist aber Helligkeit von besonderer Bedeutung.
1056 WOHNÜNGSHYGIENE.
Aborte erhalten ihre Lage oft am Treppenhause mit directer Zugänglichkeit von
diesem aus; vielfach ist alsdann ein Abort mehreren Wohnungen gemeinsam. Gesundheit-
liche und Sittlichkeitsiücksichten fordern, dass für jede Wohnung ein besonderer Abort
Torhanden sei, der leicht zugänglich sei, dabei aber eine unauffällige Lage habe. Ausser-
dem soll der Abort so liegen, dass die Luftbewegung zu demselben hin und nicht um-
gekehrt stattfinde, damit Verbreitung übler Gerüche verhindert sei. Mit allen diesen An-
forderungen steht die Lage des Abortes, unmittelbar rnit dem Treppenhause verbunden,,
in Widerspruch. Bei kleinen Wohnungen wird es immer zweckmässig sein, den Abort
ausserhalb des Hauses, doch mit demselben durch einen halb oder ganz geschlossenen
Gang verbanden, anzulegen.
Es ist selbstverständlich, dass den vorstehenden Directiven, die wohl
als „Regeln des Sonnenbaues" bezeichnet werden, nur grundsätzliche Be-
deutung zukommt, und schon darnach Abweichungen von denselben in vielen
Fällen zweckmässig sein können. Dies wird z. B. der Fall sein, wenn die
Südseite des Hauses auf eine enge verkehrsreiche Strasse hinausgeht, deren
andere Seite mit hohen Häusern besetzt ist. Man wird bei geschlossener
Bebauung den Regeln des Sonnenbaues meist nur in sehr unvollkommener
Weise entsprechen können und selbst bei offener Bauweise häufig zu Ab-
weichungen von denselben genöthigt sein. Denn die Anordnung der Räume
in einem Hause stellt sich fast immer als ein Compromiss zwischen einer
grossen Anzahl von Anforderungen dar, die sich theilweise diametral gegen-
über stehen. Den hauptsächlichsten Einfluss üben in jedem Falle die Lage
zur Strasse, die Orientirung letzterer und die Form des Bauplatzes.
Gewisse Theile eines Hauses bilden insofern Nebentheile einer
Wohnung, als in denselben die sogenannten Nebenräume Platz finden.
Hierher gehört zunächst das Kellergeschoss, dem in gesundheitlichem
Sinne eine grössere Bedeutung beiwohnt. Zunächst aus dem Grunde, das&
das Kellergeschoss eine isolirende Zone zwischen dem Baugrunde und den
Wohngeschossen bildet, welche von letzteren Feuchtigkeit, oder auch Boden-
dünste abhält, desgleichen günstig für den Wärmeschutz ist und die Tem-
peraturextreme im Erdgeschoss abstumpfen hilft. Alsdann sind Kellerräume
von grosser Bedeutung für Aufbewahrung und Conservirung von Nahrungs-
mittel-Vorräthen und Speisen, die in der höheren Temperatur der Wohn-
geschosse leicht dem Verderben anheimfallen. Ob Waschküchen im Keller-
geschoss zweckmässig liegen, hängt durchaus davon ab, ob durch Vermittlung
des Treppenhauses sich feuchte Dünste den oberen Räumen mittheilen können
oder nicht. Uebrigens muss für Isolirung des Kellergeschosses gegen von
unten oder von der Seite zutretende Bodenfeuchtigkeit sorgfältig vorgekehrt
werden und dasselbe gut lüftbar sein. Beides ist um so mehr erleichtert, je
weniger tief die Sohle des Kellergeschosses in den Grund eintaucht. Bei zu
geringer Tiefenlage ist der Keller aber nicht mehr geeignet, den Zweck der
Aufbewahrung und Conservirung von Nahrungsmitteln gut zu erfüllen; es
empfiehlt sich dann der Ausweg, unter demselben einen sogenannten
Tiefkeller, der in kleinen Abmessungen gehalten werden kann, anzulegen.
Bei den Wohnungen niedersten Ranges wird ein Kellergeschoss oft ganz entbehrt.
Es sollte alsdann durch Herstellung von Wandschränken in den Zwischenwänden des
Hauses dem dringenden Bedürfnis nach Räumen, die für Aufbewahrung und Conservirung
von Nahrungsmittel-Vorräthen und Speisen einigermaassen geeignet sind, wenigstens bis
zu gewissem Grade entsprochen werden.
Eine ähnliche aber viel weniger wichtige Rolle als das Kellergeschoss
spielt das Dachgeschoss. Sein Hauptzweck ist der Schutz des Hauses
gegen Niederschläge; daneben erfüllt der Dachraum in hohem Masse den
Zweck, abstumpfend auf die Temperatur-Extreme zu wirken. Die mannig-
fachen willkommenen Gelegenheiten zur Nutzung des Dachraumes bleiben
hier ausser Betracht; es sei nur noch darauf hingewiesen, dass in städtischen
Wohnhäusern oft die Waschküche, aus mehreren Gründen, darunter auch
gesundheitlichen, eine sehr zweckmässige Lage im Dachraume findet.
Das Treppen- oder Stiegenhaus ist bei der Verbindung, die dadurch zwischen.
den Geschossen hergestellt wird, und weil in demselben alle Bewohner eines Hauses zu-
WOHNUNGSHYGIENE. 1057
sainmen treffen, sehr geeignet, Schädlichkcitsausbreitungen im Hause zu vermitteln. Es
bietet Infectionen den Weg aus einem Geschoss zum anderen; es führt Dünste und üble
Gerüche leicht zu Sfellen, die ohne das Dasein des Treppenhauses unerreicht bleiben
würden; es verbreitet einen Brand leicht durch alle Geschosse des Hauses, und es können
unzweckmässig angelegte Treppenhäuser und Treppen in vielfacher Weise Gelegenheit zu
Unfällen geben. Es ist endlich daran zu erinnern, dass lange Treppen ohne Ruhepunkte,
oder mit ungünstigen Steigungsverhältnissen, sehr ermüdend wirken und namentlich für
alte und schwache, oder mit Gebrechen oder Krankheiten der Athmungsorgane behaftete
Personen gefährlich sein können. Demnach ist auf Lage, Construction und Ausstattung
des Treppenhauses, namentlich in grossen Miethhäusern, besondere Sorgfalt zu verwenden.
Das Treppenhaus soll leicht zugänglich liegen, geräumig und luftig sein. Die einzelnen
Wohnungen müssen gegen das Treppenhaus abgeschlossen liegen. Die Wände müssen
einen abwaschbaren Ueberzug erhalten und die Handläufer, durchweiche leicht Ueber-
tragungen von ansteckenden Krankheiten vermittelt werden, die einfachste Form; sie
sind aus hartem Holz und polirt herzustellen; verwickelte Formen und Stoffüberzüge sind
unzulässig. Die Steigung der Treppen soll massig und um so geringer sein, je länger ein
Treppenlauf ist; nach je 12 bis 15 Stufen soll ein Ruhepunkt (Podest) an dem möglichst
ein Sitzplatz einzurichten ist, folgen. Das Material der Stufen soll Standsicherheit des
Fusses verbürgen, also eine gewisse Rauhigkeit besitzen, und um Abnützung, durch welche
die Steigung verändert werden kann, zu vermeiden, hart sein. Diese Bedingungen werden
sowohl von Hartholz als künstlichem Stein, als auch manchen natürlichen Steinsorten
erfüllt; Holz erhält eine Tränkung mit Oel oder einen Oelfarbenanstrich. Eiserne Treppen-
stufen sind sehr gefährdend bei Unfällen. Sogenannte Läufer aus „Stoff" auf den
Treppenstufen dienen in hohem Grade der Unreinlichkeit, wogegen Läufer aus Linoleum
günstig für die Reinlichkeit wirken. Der Vorschlag, bei Treppen in hohen Gebäuden, die
Steigung nach oben hin zu ermässigen, um Ermüdungen abzuschwächen, ist nicht
empfehlenswerth, weil bei der leichten Gewöhnung des Fusses an eine bestimmte Steigung,
selbst nur kleine Aenderungen derselben zu Unsicherheit beim Begehen der Treppe fähren.
Für Balkone, die den leichten Genuss der frischen Luft ermöglichen, eignet sich
am besten die Ostseite des Hauses, darnach auch die Westseite. Sehr unzweckmässig liegt
ein Balkon immer an einer verkehrsreichen Strasse. Unmittelbarer Anschluss eines
Balkons an ein Wohnzimmer empfiehlt sich in der Regel nicht, weil Undichtigkeiten der
Thürverbindung leicht Anlass zum Eindringen von Regen oder Schnee geben, auch stark
abkühlend auf die Zimmerluft in der Nähe der Thür wirken. Wenn die Entwässerungs-
leitung des Balkons an eine unterirdische Canalisation angeschlossen ist, ist Gelegenheit
gegeben, dass durch dieselbe leicht Canalluft zum Balkon hinauf steigt. Balkonanlagen
an belebten Strassen werden am besten aussen geschlossen angelegt, in welchem Falle sie
zu halb abgetrennten Theilen des Zimmers werden, die die Bezeichnung Erker führen;
der gesundheitliche Zweck der Anlage nimmt durch diese Abänderung allerdings Schaden.
Wird der Raum für einen Balkon dem Zimmer abgewonnen, so entsteht die Loggia,
die für Genuss der freien Luft günstig ist, dagegen dem Zimmer viel Licht raubt. Für
südliche Himmelsstriche sehr geeignet, ist die Loggia in nordischen Klimaten mit vorwiegen-
der Himmelsbedeckung kaurii heimatsberechtigt. In Bezug auf die Lage an einer der Seiten
des Hauses besteht für die Loggia weniger Zwang als für den Balkon; desgleichen ist die
Gefahr der Schädigung des Zimmers durch eine Loggia-Anlage erheblich abgemindert.
Demselben Zweck, welchen Balkone, Loggien und Erker erfüllen, dienen in be-
schränkterem Maasse auch Veranden, d. h. Vorbauten am Erdgeschoss mit halb zimmer-
artiger Einrichtung. Werden sie vor dem Hauseingange angelegt, so genügen sie gleich-
zeitig dem Zweck der sogenannten Wind fange, der darin besteht, stärkeren Zug, Kälte
und Hitze von den Vorräumen der Wohnung abzuhalten.
Von grosser Wichtigkeit für Reinlichkeit, gute Luft und Vermeidung
von Infectionsgefahren sind die Einrichtungen zur Ableitung der häuslichen
Schmutzwasser (Küchen- und Ciosetwasser). Die Leitungen müssen wasser-
und luftdicht hergestellt und dauernd in diesem Zustande erhalten werden.
Ferner müssen die Leitungen durch ausreichende Spülung möglichst rein
erhalten werden; sie müssen gut gelüftet und endlich von missbräuchlicher
Benutzung (Einwerfen von lästigen oder Gefahr bringenden Gegenständen)
geschützt sein.
Ausser, dass nur geeignetes Material von tadelloser Beschaffenheit zu den Leitungen
zu verwenden ist, ist der dauernd gute Bestand derselben dadurch zu erstreben, dass
die Leitungen so angebracht werden, dass sie von Erschütterungen und Lockerungen der
Konstruktion des Hauses möglichst unberührt bleiben, und dass sie durch ihre Lage auch
vor muth willigen und fahrlässigen Zerstörungen gesichert sind. Die Leitungen müssen möglichst
unverdeckt liegen, damit etwaige Schäden an denselben leicht wahrgenommen und reparirt
werden können; schliesslich ist frostfreie Lage derselben nothwendig. Zur dauernden
Reinhaltung der Leitung dient ausser ausreichender Spülung die Vermeidung von scharfen
Ecken und Biegungen, sowie die richtige Bestimmung der Rohrweiten; an gefährdeten
B ibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin.
67
1058 WOHNÜNGSHYGIENE.
Stellen sind Revisionseinrichtungen nothwendig. Einwerfen ungehöriger Gegenstände in
die Leitung wird durch geringe Weite der Einlaufenden derselben und Anbringen
von festen Sieben im Boden von Becken verhindert: Ausgussbecken für Küchenwasser
aus emaillirtem Eisen widerstehen in der Regel nicht lange; besser sind Becken aus
Fayence oder Steingut. Deber jedem Einguss muss eine Zapfstelle für reines Wasser vor-
handen sein und unter demselben ein Wasserschluss. Die ganze Einrichtung zur Ab-
leitung von Schmutzwasser gewinnt an gesundheitlichem Werth sehr, und der allgemeine
Gesundheitszustand des Hauses wird gefördert, wenn es gelingt, eine gewisse Zusammen-
fassung der Leitungen durchzuführen; es muss die Möglichkeit dazu allerdings in der
Disposition der Räume geschaffen werden. Die Zusammenfassung gelingt um so besser,
je näher alle diejenigen Räume an einander gerückt werden, aus welchen Schmutzwasser
zu entfernen sind. Dahin gehören in den gewöhnlichen Wohnhäusern Koch- und Wasch-
küchen, Badestuben und Wasserciosets, deren nahe Zusammenlegung auch aus anderen
Gründen erwünscht ist. Das Streben nach Zusammenfassung der Leitungen darf aber
unter keinen Umständen so weit gehen, dass Schmutzwasser-Leitungen, durch Wohn-
räume geführt werden, weil bei der höheren Temperatur der Wohnräume selbst unauf-
findbare Schäden an den Leitungen, oder nothwendige Aenderungen zu schweren Belästi-
gungen und selbst Schädigungen der Bewohnerschaft die Ursache sein können. Ebenso
wenig dürfen Theile der Leitungen verdeckt in Zwischendecken liegen.
Keine Schmutzwasserleitung in einem Wohnhause sollte in Benützung
genommen werden dürfen, bevor eine genaue fachmännische Prüfung derselben
auf tadellosse Beschaffenheit ausgeführt ist. —
Beheizung. Für Erzielung einer mögliehst gleichmässigen Durchwärmung
der Wohnräume ist es wichtig, unnöthig grosse Höhen derselben zu
vermeiden. Wohnzimmer von mittlerer Grösse — etwa 20 bis 30 m^ —
sollten nicht mehr als etwa 3"5m bis höchstens 4w Höhe erhalten, weil es
leicht vorkommt, dass für 1 m Zimmerhöhe sich Temperaturänderungen
von 2 bis 2-5° ergeben, wobei Kälte am Fussboden und Ueberhitzung an
der Decke stattfindet. Nur die Rücksicht darauf, künstliche Beleuchtungs-
einrichtungen nicht nur zur besseren Wirkung zu bringen, sondern auch die
Verbrennungsproducte möglichst aus der Athmungssphäre der Bewohnerschaft
fern zu halten, kann grössere als die angegebenen Höhen von Wohnzimmern
rechtfertigen. — Ofenheizung wird, um Hineintragen von Schmutz in die Wohn-
räume zu beschränken und Auf wirb elungen von Asche zu vermeiden, am
besten so eingerichtet, dass die Beheizung von aussen erfolgt. Oefen und
andere Heizkörper müssen eine Stellung im Räume erhalten, dass möglichste
Gleichmässigkeit der Temperatur in allen Theilen eines Raumes erreicht wird,
weil grössere Ungleichheiten nicht nur unangenehm empfunden werden, son-
dern auch zu Erkältungskrankheiten disponiren. Ein gewisses „Mehr" an Grösse
der Heizkörper ist weniger als ein „Minus* an der noth wendigen Grösse zu
scheuen, weil letzteres die Veranlassung zu Ueberheizungen und Entstehung
reizend auf die Schleimhäute wirkender brenzlicher Gerüche wird. Die
äussere Form der Oefen soll gefällig aber einfach sein, da Ueberladung mit
Zierformen nur Anlass zu Staubablagerungen auf der Ofenwand, die bei
eisernen Ofen leicht verbrannt werden, gibt. Dem vielfach wahrnehmbaren
Streben, Oefen in sogenannten momumentalen Formen zu gestalten, sollte
seitens der Hygiene daher Widerstand entgegen gesetzt werden, umso mehr als
die Ueberladung mit Zierformen auch fast immer eine Schmälerung der Heiz-
wirkung mit sich bringt. Hinsichtlich der Was s erheiz ung ist der Gefahr,
in kalter Jahreszeit einzufrieren, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, da
das mit dem Einfrieren sehr leicht verbundene Zerspringen eines Wasser-
heizkörpers und Entleerung seines Inhalts grossen Schaden in einer Wohnung,
namentlich in den Zwischendecken anrichten kann.
Die Beleuchtung eines Wohnraumes soll, einerlei ob es sich um natür-
iches oder künstliches Licht handelt, möglichst gleichmässig in allen
Theilen sein. Zur Erreichung dieses Zustandes trägt das von Wänden und
Decke reflectirte Licht viel bei; Wände und Decke sollen daher helle Fär-
bung haben. Da die Lichtmenge, die eine wagrecht liegende Fläche erhält,
WOHNÜNGSHYGIENE. 1059
am grössten ist, wenn die Lichtstrahlen die Fläche senkrecht treffen, so wird
durch die obersten Theile eines Fensters ein Zimmer besser beleuchtet
als durch die unteren. Es sollte daher Regel sein, Fenster so nahe als
möglich an die Decke heranzuführen, und die obere Begrenzung „gerade"
(anstatt bogenförmig) zu gestalten, auch das Fenster unten in geringer
Höhe über Fussboden beginnen zu lassen. Die Einfassung des Fensters soll
nach innen und aussen abgeschrägt werden, damit möglichst viel Raum für
den Lichteintritt geschaffen wird, und unmittelbar neben dem Fenster nicht
^dunkle Ecken" entstehen. Die die Glasfläche zerlegenden Fensterkreuze und
Sprossen versperren grossen Theilen der Fensterfläche den Lichteinfall und
bringen dadurch auch Ungleichheiten in der Lichtvertheilung hervor. Diese
Theile sollten daher so schmal gemacht werden, als die Materialbeschaffen-
heit es irgend zulässt.
Durch das natürliche Licht werden die vom Fenster entfernt liegenden
Theile geringer beleuchtet als die näher liegenden, und die Abnahme ge-
schieht im umgekehrten Yerhältnis des Quadrats der Entfernung. Daher ist
die natürliche Beleuchtung der Fenster gleich grosser Zimmer, wenn die
Fenster in den Langseiten liegen, entsprechend günstiger als die Beleuchtung
durch Fenster in den Schmalseiten. Bei der künstlichen Beleuchtung sind
diese Unterschiede durch passende Yertheilung der Lichtquellen so weit
aufzuheben als man will; doch ist als Uebelstand mit der weitgehenden
Theilung der Lichtquellen auch die grössere Ausbreitung der Verbrennungs-
producte im Räume verbunden.
Die Menge von natürlichem Licht, welche ein in behebiger Tiefe hinter dem Fenster
liegender Punkt empfängt, lässt sich (nach dem Verfahren von Förster) so ermitteln,
dass man von dem Punkte aus zwei Sehstrahlen gelegt denkt, von welchen der eine die
obere Fensterbegrenzung, der andere den First eines gegenüber liegenden Gebäudes be-
rührt; diese beiden Sehstrahlen schliessen einen Winkel ein, dessen Grösse, wenn die Be-
leuchtung ausreichend sein soll, nicht unter 5° betragen darf. Es ist jedoch ausserdem
nöthig, dass der Halbirungsstrahl dieses Winkels mit der horizontalen Fläche — oder Linie —
einen Winkel von nicht unter 28"^ bilde. Das Verfahren ist. da dasselbe auf die Breite, in
der das Licht einfällt, keine Rücksicht nimmt, nur ein ungefähres.
Genauere Ergebnisse liefert die Anwendung des WEBER'schen Raumwinkel-
messers, mit welchem dasjenige Stück des Himmelsgewölbes in sogenannten Quadrat-
graden gemessen wird, wovon das ganze als Vollkugel gedachte Himmelsgewölbe vom
Radius R eine bestimmte Anzahl enthält und jeder einzelne Quadratgrad die Grösse
_ / 2R
'^ "" ("360
besitzt, also ein „sphärisches" Quadrat, dessen Seitenlänge = 1° ist. Ausser der Anzahl
n solcher sphärischen Quadrate gibt das Instrument auch den mittleren Winkel a an, unter
welchem das Licht von der leuchtenden Himmelsfläche einfällt. Bei senkrechtem Licht-
einfall (also a = 90°) ist genügende Helligkeit an einer Stelle vorhanden, für welche n > 50.
50
Wenn aber a <; 90. so muss die Zahl n in dem Verhältnis -: grösser sein. Da der
sm a
Raumwinkelmesser das von Wänden, Decke u. s w. reflectirte Licht nicht berücksichtigt,
ist die Beleuchtung besser, als der Raumwinkelmesser angibt und die Lichtmenge um so
«tärker vermehrt, je hellfarbiger Wände und Decke sind.
Genaue Ergebnisse liefert die Anwendung des WEBER'schen Photometers, dem
eine Helligkeitseinheit zu Grunde liegt, die entsteht, wenn eine Normalkerze aus 1 m
Entfernung ihr Licht auf eine weisse Fläche wirft: diese Helligkeit heisst Meterkerze.
10 Meterkerzen sind eine zum Lesen und Schreiben ausreichende Helligkeit, die durch
natürliches Licht nur zu Stande kommt, wenn bei Anwendung des FöRSTEa'schen Messungs-
verfahrens die Werthe von 5° und 28" vorliegen, und beim Gebrauch des WEBER'schen Raum-
50 . ,
Winkelmessers die Anzahl der Quadratgrade n = —. ist.
^ ° sm a
Zum Vergleich von natürlichen Lichtmengen in Zimmern sei noch angeführt, dass an
Plätzen, welche für (directes) Himmelslicht unerreichbar sind (Raumwinkel = 0), an trüben
Tagen die von reflectirtem Licht erzeugte Helhgkeit 1—3 Meterkerzen beträgt, und dass
an trüben Tagen noch ausreichende Beleuchtung herrscht, wenn die Bedingung erfüllt ist
n sin a > 50.
67*
1060 WOHNUNGSHTGIENE.
Gewohnheit und Streben nach Luxusentfaltung sind die Ursache, den
oberen Theil der Fenster durch schwere Vorhänge für den Lichtzutritt abzu-
sperren. Nicht nur wird der wirksamste Theil der Fensterfläche dadurch
zw^ecklos gemacht, sondern es bieten schwere Vorhänge auch ganz besonders
gut geeignete Flächen für Staubablagerungen und Festsetzung von Kiech-
stoffen. Viel weniger schädlich wirken Vorsetzer und Vorhäuge vor den
unteren Theilen der Fensterfläche, die aber nur unter besonderen Um-
ständen, und dann meist neben Vorhängen für den oberen Theil zur Anwen-
dung kommen; es liegt dann doppelte Schädigung der Beleuchtung vor.
Können aus gewissen Rücksichten Vorhänge nicht entbehrt werden, so sollte
man nur stark durchlässige Stoffe, — also locker gewebte und hellfarbige —
benützen. Am günstigsten wirken cremefarbige sogenannte Köperstoffe, durch
die auch die Lichtfärbung verbessert wird, und welche nur einen relativ
geringen Procentsatz des Lichts verschlucken.
Die Wasserversorgung der Wohnungen kann entweder „centralisirt,^
oder „Einzelversorgung" sein. Sie ist am vollkommensten bei Centralisirung
in dem Falle, dass das Wasser an jeder Stelle und zu jeder Zeit zur
Verfügung steht: sogenannte constante Versorgung. Finden Beschränkungen
statt, so kann die Einzelversorgung gleichwerthig sein. Hinsichtlich der Ver-
breitung von „Wasserepidemien'' ist die centralisirte Versorgung wegen der
genaueren Ueberwachung ihres Betriebes im Vorzuge vor der Einzelver-
sorgung. Erstere fördert auch den Gebrauch des Wassers und begünstigt da-
durch die allgemeine Reinlichkeit; bei letzterer ist der Wasserverbrauch in
der Regel geringer. Das Wasser soll den einzelnen Zapfstellen ohne Da-
zwischenkunft von Hausreservoiren, also dir e et aus der Strassenleitung zu-
geführt werden, da das Verweilen in Reservoiren auf die Wasserbeschaffenheit
schädigend einwirkt; ausserdem ist blos bei steter Füllung der Rohre, die
nur gesichert ist, wenn das Wasser ohne Vermittlung von Hausreservoiren
zugeleitet wird, gegen die Gefahr der Lösung von Metallen aus der Rohr-
wand (Blei) ausreichende Sicherheit vorhanden. Genügende Mengen von
Wasser sind 40 — 50 / pro Kopf und Tag; bei grösserer Wohlhabenheit werden
aber 80—100 l verbraucht, während in niederen Wohnungen der Bedarf
umgekehrt mit 20 — 25 l gedeckt wird.
Von den beiden Brunnenformen: weiten Kesselbrunnen und engen
Rohrbrunnen, sind die letzteren wegen des viel grösseren Schutzes, der
bei ihnen vor Verunreinigungen besteht, im Vorzuge. Kesselbrunnen
müssen an erhöhten Stellen angelegt werden, damit sie keinen Zufluss von
sogenanntem wilden Wasser empfangen. Die Nähe von Dünger statten, Ställen,.
Gruben mit Schmutzstoffen ist zu vermeiden, doch die Angabe einer be-
stimmten einzuhaltenden Entfernung (die oft geschieht) ohne Werth, da alles
auf die örtlichen Verhältnisse, sowie die Brunnen- und Bodenbeschaffenheit
ankommt. Niemals sollten wegen der Gefahr muthwilliger und fahrlässiger
Verunreinigungen Kesselbrunnen offen daliegen, sondern immer sicher zuge-
deckt sein, und die Wasserförderung mittelst Pumpe bewirkt werden.
Der Baugrund für ein Wohnhaus soll wo möglich sogenannter gew^achsener,.
d. h. in natürlicher Lage vorkommender, und noch nicht verunreinigter Boden
sein. In erster Linie ist Trockenheit Erfordernis. Entweder ist dieselbe durch
die Höhenlage gewährleistet, oder sie muss durch Aufschüttung künstlich ge-
schaffen werden. Sogenannter w^armgründiger Boden, als Sand und Sand mit
Lehm gemischt, auch Kiesboden und lockerer Felsboden, ist vor kaltgrün-
digem Boden, schwarzem strengen Lehm, Letten, u. s. w. im Vorzuge. Je
weniger organische Bestandtheile der Boden enthält, um so besser ist der-
selbe geeignet. Auf Bauschutt dürfen Wohngebäude erst errichtet werden^
WOHNUNGSHYGIENE. 1061
nachdem die Zersetzungsvorgänge in demselben zu Ende gekommen sind.
Weder darf das Grundwasser an die Mauern des Hauses treten noch Wasser-
gefahr von aussen drohen. Ist die Gefahr vorhanden, dass die Grundmauern
des Hauses mit dem Grundwasser in Berührung kommen, so muss dagegen
durch Isolirung Schutz geschaffen werden. Dies geschieht entweder, indem
die ganze Grundtiäche, auf der das Haus stehen soll, mit einer undurchlässigen
Schicht (Beton oder Steinplatten) abgedeckt, oder — weniger gut — soge-
nannte Isolirschichten (Blei- oder Glasplatten, Asphaltlagen u. s. w.) auf der
Höhe des Fundamentabsatzes in die Grundmauern eingelegt werden. Seit-
licher Zutritt von Feuchtigkeit wird durch einen wasserdichten Ueberzug der
Aussenseiten der Grundmauern abgehalten, noch sicherer durch isolirende
Mauern oder weite sogenannte^.. Lichtgruben. Die Kellersohlen sind
in Gebäuden, welche in feuchtem Grunde stehen, durch Abpflasterung
oder Estriche aus Asphalt und Cement vor Wasserdurchtritt zu sichern.
Bei dem Schutze gegen Wohnungsfeuchtigkeit ist nur von den vorbeugenden
Mitteln Erfolg zu erwarten; den zahlreich angepriesenen Mitteln zur Wieder-
3beseitigung bereits vorhandener Wohnungsfeuchtigkeit ist nur sehr geringe
Bedeutung beizulegen.
Die Bewohner von Gebäuden in Thalsenken, oder Kesseln, oder
in Flussthälern, oder am Fusse von Hängen sind in höherem Maasse für ge-
wisse Krankheiten disponirt als die Bewohner von höher liegenden Gebäuden.
Vielleicht liegt eine Ursache dieser oft beobachteten Thatsache darin, dass
in Lagen wie den genannten Grundwasser und Boden leichter verunreinigt
werden als in anderen Lagen; dies ist namentlich zu fürchten, wenn ober-
halb der tiefen Lagen menschliche Wohnungsstätten liegen, von welchen aus
Schmutzwasser u. s. w. zu Thal geführt werden können. — Geringe Feuch-
tigkeit der oberen Bodenschicht lässt sich durch Anpflanzungen von Bäumen
und Sträuchern solcher Arten, die viel Wasser zu ihrem Aufbau gebrauchen,
oder von der Oberfläche verdunsten, beseitigen. Grundwasser das in Becken
oder Mulden auf wenig hoch liegender, undurchlässiger Schicht steht, kann
man zuweilen mittelst sogenannter absorbirender Brunnen dem tiefer lie-
gendem Grundwasser einverleiben. In solchen Lagen kann nasser Boden durch
Drainagen trocken gelegt werden.
Die Materialien zum Aufbau des Wohnhauses müssen allgemein gewisse
Ansprüche erfüllen, unter welchen diejenigen, welche sich auf die Porosität
und das Verhalten gegen Feuchtigkeit und Wärme beziehen, mit die
wichtigsten sind. Bis in die neueste Zeit hinein hat man einen gewissen
Grad von Porosität der Bausteine als nothwendig oder nützlich für die
gesundheitliche Beschaffenheit des Hauses gehalten. Dieselbe sollte dem
Luftaustausch zwischen aussen und innen dienen, ferner bei der geringen
Wärmeleitungsfähigkeit der Luft günstig im thermischen Sinne wirken,
endlich das Austrocknen der Mauern, beziehungsweise das Trocknen derselben
nach Aufnahme von Feuchtigkeit bei Ptegenfällen, befördern. Gestützt auf
das bekannte PEXTENKOFER'sche Experiment: von einer Seite der Mauer aus
eine an der anderen Seite derselben befindliche Flamme auszublasen, schrieb
man dem Luftaustausch zwischen aussen und innen eine grosse Bedeutung zu.
Dieser Schluss ist durch anderweitige Versuche und die Erfahrung als hin-
fällig erwiesen. Das konnte geschehen, weil bei der Betrachtung des Petten-
KOFER'schen Experiments die Grösse des angewendeten Luftdrucks übersehen
worden war.
Der Luftaustausch durch eine Mauer hindurch ist proportional dem Unterschiede,
■der auf den beiden Seiten herrschenden Luftdrücke: p — pj. Sind 7 und y^ die Einheits-
gewichte der beiden Luftarten, so ist (nach dem MARiOTTE'schen Gesetz) : pi = p — L, mithin
1062 WOHNÜNGSHYGIENE.
der Luftdrackunterschied zu beiden Seiten
Nun ist bei den Temperaturen von — 10° aussen und -j- 20° innen bei etwa öO^/o Sätti-
guneszustand der Luft
^ ^ Y 1-341
1-078, mithin:
Ti 1-244
d = — 0-078. p
(worin das Minuszeichen andeutet, dass Luftdurchtritt von innen nach aussen stattfindet).
Dieser Werth ist so gering, dass selbst für grosse Wandflächen die secundlich durchtretenden
Luftmengen sich nur zu einigen Litern berechnen, welchen Mengen eine gesundheitliche
Bedeutung nicht beizulegen ist. Eine gewisse Bedeutung erlangt der Luftaustausch erst,
wenn stärkere Windströmungen stattfinden, wenn also anstatt des Druckes d der Druck:
d, = p(l_^) + p,
wirkt. Aber selbst dieser Druck ist erst bei heftigen Stürmen gross genug, um durch
Wände von normaler Stärke hindurch einen massigen Luftaustausch zuwege zu bringen.
Wo künstliche LüftungseinrichtuLgen bestehen, wirkt der durch die
Wände vermittelte Luftaustausch geradezu störend auf den regelmässigen
Gang jener. Da nun die Porosität der Aussenwände auch zur Feuchtigkeitsauf-
nahme bei Regenwetter dient, und somit als einziger Nutzen derselben nur der
bestehen bleibt, dass die Wärmeleitung der Mauern etwas eingeschränkt
wird, ein Nutzen, dem gegenüber den angeführten Nachtheilen keine wesentliche
Bedeutung zukommt, wird neuerdings mit Recht für die nach aussen liegende
Seite der Gebäudemauern den nicht oder nur wenig porösen Materialien vor
den stark porösen der Vorzug gegeben. Da aber für die Innenseiten und
den Kern der Mauern der Grund von Feuchligkeitsaufnahmen in Wegfall
kommt, ist für diese Theile die Verwendung poröser Steine, und zwar
stark poröser, welche grosse Einschlüsse von ruhender Luft
enthalten, im Interesse des Wärmeschutzes zu empfehlen.
Denselben Zweck, der durch die Porosität erfüllt werden soll, hat man
bisher vielfach durch die Einlegung sogenannter Luftisolirschichten (Spalte
von 5 — 8 cm Weite), die im Kern der Mauern ausgespart werden, zu er-
reichen gesucht. Das findet aber nur unter zwei Bedingungen statt: Die Luft
dieser Schichten muss ruhend, und gleichzeitig trocken sein. Da beide
Bedingungen selten erfüllt sind, leisten Luftisolirschichten zum Wärmeschutz
— wie auch durch das Experiment erwiesen ist — nur wenig, und kann von
stark porösen Steinen, auch sogenannten Lochsteinen (Steinen mit Hohl-
räumen, die nicht nach der Aussenseite ausgehen) mehr erwartet werden.
Unbeschadet dieser Thatsache bleibt aber der Nutzen, den Luftisolirschichten
dadurch gewähren, dass sie zur rascheren Austrocknung der
Mauern dienen, auch Feuchtigkeit, die von aussen kommt, an ihrem
Fortschreiten durch die ganze Dicke der Mauern hindern, bestehen.
Mit dem Verhalten der Materialien gegen Wärme hängt das hygrosko-
pische Verhalten derselben eng zusammen. Materialien, die stark wärme-
leitend sind, kühlen entsprechend rasch ab, wonach an denselben aus warm-
feuchter Luft Feuchtigkeitsniederschlag stattfindet. In dieser Hinsicht ver-
halten sich natürliche Gesteine viel ungünstiger als künstliche, namentlich
als gebrannte Steine (Ziegel). Da auch die stärkere Wärmeleitung an sich
sowohl in warmer als in kalter Jahreszeit ungünstig ist, da Natursteine theil-
weise sehr beträchtliche Wassermengen aufnehmen und lange festhalten
können (manche Sandsteine bis zu 400 l in 1 m^, Kalksteine bis zu 200 l;
einige von den sogenannten Urgesteinen, auch von den vulkanischen Gesteinen
bis etwa 50 l), so stehen Naturgesteine den künstlichen Steinen für Wohnhaus-
bauten im Allgemeinen weit nach. Wo man ihrer Benützung nicht ganz ent-
rathen kann, ist es immer zweckmässig, dieselbe auf die äussere Schale
der Mauer zu beschränken, und zu dem nach innen liegenden Theil der
Mauer künstliches Steinmaterial zu verwenden. Ziegelstein ist auch in der
WOHNÜNGSHYGIENE. , 1063
Beziehung vor Naturstein weit im Vorzuge, dass die specifische Wärme des
ersteren (Wärmecapacität) erheblich geringer als die des letzteren ist. Die
specifische Wärme des Sandsteines steht z. B. zu der des Ziegelsteines im Ver-
hältnis 1:0-6.
Wie starke Wärme leitung, so setzt auch starke Wärme Sammlung
den gesundheitlichen Werth eines Baumaterials herab. Stark wärmesammelnd
sind alle Metalle, desgleichen auch Glas, was z. B. bei Dächern von
Wohngebäuden sehr beachtet sein will.
Hölzer nehmen mit Bezug auf das Verhalten gegen Wärme eine mitt-
lere Stellung ein. Da die sonst zum Wohnhausbau benutzten Materialien
nur in relativ geringen Mengen gebraucht werden, erscheint es unnöthig,
dieselben in den Kreis der Besprechung einzubeziehen.
Die Stärke der Aussenmauern von Wohngebäuden hat, ausser dass
sie den Anforderungen der Standfestigkeit und dem Schutz gegen Witterungs-
unbilden entsprechen muss, auch den allgemeinen klimatischen Ansprüchen
zu genügen. In dieser Hinsicht kommt insbesondere die Abhängigkeit des
Wärmedurchgangs von der Mauerstärke und von dem Material der
Mauern in Betracht.
Wenn die Mauerstärke von 1 bis auf 3 zunimmt, so nimmt der Wärmedurchgang
von 1 auf 060 ab. Von hier an verlangsamt sich die Abnahme in geringerem Maasse,
beispielsweise bei Zunahme der Mauerstärke von 3 auf 6 von 060 auf 038 und bei Zu-
nahme der Mauerstärke von 6 auf 10 von 0'38 auf 0"25. Eä ersieht sich hieraus, dass
die Vermehrung der Mauerstärke über einen mittleren Werth hinaus im Interesse des
W^ärmeschutzes ohne besondere Bedeutung ist; immerhin bleibt der Vortheil bestehen,
dass die stärkere Mauer vor der weniger starken den Vorzug grösserer Wärme-
Beständigkeit hat.
Der Einfluss, den die Materialbeschaffenheit in thermischer Hinsicht übt, geht
aus folgenden Zahlen hervor : Wenn der Wärmedurchgang für Mauern aus Hohlziegeln und
Mauern mit (wirksamen) Luftisolirschichten = 1. gesetzt wird, so ist derselbe bei Mauern
aus gewöhnlichen Ziegeln etwa = 2 und bei Sandsteinmauern etwa = 3, D. h. es müssen,
um gleichen Wärmeschutz zu erreichen, Sandsteinmauern etwa die dreifache Stärke der in
Bezug auf Wärmeschutz günstigsten Arten von Ziegelmauern erhalten.
Von den Sonnenstrahlen getroffene Wände können an der Innenseite um 4 — 7°
höhere Temperaturen erreichen als nicht bestrahlte Wände derselben Stärke. Das Maximum
folgt aber der Bestrahlung zeitlich um ein Stück nach; bei einer SSan starken Mauer
wurde die zeitliche Verschiebung zu 6 — 7 Stunden beobachtet. Wenn die Wände von
Schlafzimmern Sonnenbestrahlung empfangen, so fällt hiernach die stärkste Erwärmung
der Eäume gerade in die Nachtstunden.
Für Innenwände ist'die Rücksicht auf Wärmeschutz meist ohne Bedeutung,
abgesehen vielleicht von Trennungsmauern zwischen nicht heizbaren Räumen
und von den Mauern, die das Treppenhaus von den Wohnräumen sondern.
Dagegen ist für die Innenmauern die Rücksicht auf Schutz gegen Schall-
leitung von einiger Bedeutung, der ebenfalls eine gewisse Wandstärke be-
dingt. Hierbei spricht aber ebenfalls die Materialbeschaffenheit wesentlich
mit. Je dichter das Material und je elastischer, umso grösser ist bei dem-
selben die Leitungsfähigkeit für Schall. Es verhalten sich hiernach weder
Wände aus sehr dichtem Gestein noch Holzwände in Bezug auf Schall-
dämpfung günstig.
Eben vollendete Mauern enthalten beträchtliche Mengen Wasser. Da zu 1 m^
Ziegelmauerwerk fast 03 m^ Mörtel erforderlich sind (in Bruchsteinmauerwerk noch da-
rüber), und Im^ Mörtel bis 02 m^ Wasser zum Anmachen erfordert, so finden sich im
Fugenmörtel von 1 m^ frischem Mauerwerk etwa 0-06 m^ Wasser. Hierzu tritt eine gewisse
Menge die zu dem nothwendigen Annässen der Ziegel erforderlich ist, eventuell noch eine
weitere Menge in dem zum Wandputz erforderlichen Mörtel. Mithin kann als Wassermenge,
die in 1 m^ frischen Mauerwerks enthalten ist, bis zu 010 m^ = 100 1 (unter Umständen
noch mehr) gerechnet werden, abgesehen von dem Hydratwasser, das in dem Mörtelmaterial
enthalten ist, aber als Feuchtigkeit nicht in Betracht kommt. Da der gewöhnlich ver-
wendete Kalkmörtel zum Erhärten kein Wasser gebraucht, muss die ganze Wassermenge,
die im frischen Mauerwerk enthalten ist, durch Verdunsten an die Atmosphäre abgegeben
werden. Vollständig wasserfrei wird aber Mauerwerk nie; im gewöhnlichen Sinne trockene
Mauern enthalten immer noch von 3— 6<'/o Feuchtigkeit, umso weniger, je höher die Stelle
im Vergleich zum Boden liegt, an welcher die Bestimmung des Wassergehalts ausgeführt
1064 VVOHNUNGSHYGIENE.
■wird. Die Verdunstung des Wassers aus den Mauern ohne Zuhilfenahme künstlicher Mittel
erfordert geraume Zeit; am stärksten ist die Verdunstung bei warmem Sommer- aber auch
bei sogenanntem trockenem Frostwetter. Je grösser die Mauerdicke, umso mehr verlängert
sich die Zeit. Mauern aus natürlichen Steinen mit hoher Wärmecapacität erfordern längere
Trocknungsdauer als Ziegelsteinmauern.
In diesen Verhältnissen finden polizeiliche Vorschriften ihre Begründung,
welche fordern, dass zwischen der Fertigstellung des sogenannten Rohbaues
(der nackten Mauern) und dem Auftragen des Wandputzes ein mehr oder
weniger langer Zeitraum (li/g — 3 Monate) liegen muss, und andere, nach
welchen ein Neubau erst bezogen werden darf, nachdem eine sogenannte
Gebrauchsabnahme stattgefunden hat, deren Zweck es ist, über die genügend
weit gehende Austrocknung desselben Gewissheit zu schaffen. Uebrigens
ist klar, dass beide in Rede befindlichen Fristen, wenn der Zweck derselben
erreicht werden soll, nicht schematisch, vielmehr mit der Jahreszeit
wechselnd festgesetzt werden müssen.
Die Trocknungsfristen können durch Anwendung künstlicher Mittel er-
heblich abgekürzt werden. In einfachster Weise geschieht dies durch Auf-
stellung und Anheizung der Oefen in den Räumen, beziehungsweise vor-
zeitige Ausführung der etwa beabsichtigten Luftheizungsanlage; letztere ist
erheblich wirksamer als die gewöhnliche Ofenheizung. Ein anderes mehr ge-
bräuchliches Mittel ist das Aufstellen von sogenannten Coakskörben in den
Räumen, die aber vornehmlich nur durch Wärmestrahlung wirken; ausser-
dem sind die die Coakskörbe bedienenden Arbeiter der Gefahr der Vergiftung
durch das in reichlichen Mengen erzeugte Kohlenoxyd unterworfen. Am besten
ist die Benutzung besonderer Apparate, durch welche erhitzte Luft unter Druck
in die Räume eingetrieben, oder mittelst Schlauchs an die betreffenden Mauer-
llächen geführt wird, und gleichzeitig Einrichtungen für geregelte Abführung
der mit Feuchtigkeit beladenen Luft getroffen werden. —
Von grossem Einfluss auf den Trockenheitszustand, sogar auf die dau-
ernde Beschaffenheit eines Wohnhauses, kann ein sorgfältig erwogener
Arbeitsplan sich erweisen. Je sorgfältiger mit Bezug auf die Jahres-
zeit und die Reihenfolge der einzelnen Arbeiten derselbe entworfen ist,
um so besser für den Bau. Niemals sollte ein Wohnhausbau im Spätherbst
begonnen werden, vielmehr so zeitig im Sommer, dass derselbe noch vor
Eintritt nasser und kalter Witterung „unter Dach" gelangt. Einregnen eines
noch nicht überdachten Neubaues, oder Herstellung von Mauern bei Frostwetter
kann schlimme Folgen haben: Schwammbildung und sehr lange anhaltende
Feuchtigkeit. — Die Anlagen zur geordneten Sammlung und Ableitung des
Dach Wassers sind an jedem Neubau zugleich mit der Eindeckung des Daches
zu treffen, weil, wenn dies nicht geschieht, selbst leichte Regenfälle die
betreffenden Bautheile stark durchnässen können. — Auf jedem Bau müssen
bequem gelegene Bedürfnisanstalten für die Bauarbeiter hergestellt werden,
damit diese keine Veranlassung haben, ihre Bedürfnisse etwa in abgelegenen
Räumen des Baues zu verrichten und dadurch dieselben vielleicht dauernd
zu schädigen. Fälle dieser Art sind mit unerbittlicher Strenge zu ahnden.
Uebrigens ist noch hinzuzufügen, dass das Beziehen eines Neubaues im
Herbst immer mit gesundheitlichen Bedenken verknüpft ist, wogegen das
Beziehen im Frühjahr oft unbedenklich sein wird; die Gründe ergeben sich
aus dem Vorstehenden von selbst.
Stallungen unmittelbar mit einem Wohnhause zu verbinden, ist selbst bei
sorgfältigen Ausführungen misslich. Gelegenheiten zur üebertragung ansteckender Krank-
heiten (Zoonosen) werden dadurch stark begünstigt. Ferner sind Ställe Orte für Entstehung
von üblen Dünsten, Fäulnis organischer Stoffe und Feuchtigkeit, und endlich sammelt sich
in denselben allerhand Ungeziefer, unter denen auch Fliegen den Hausbewohnern arge
Belästigungen und Gefahren bringen können. In jedem Falle sind directe Verbindungen
zwischen Wohnung und Stallraum zu vermeiden und zwischen beiden auch sonst strenge
Scheidungen herzustellen; am besten ist es, zwischen Wohnung und Stall isolirende
Räume einzuschalten.
WOHNÜNGSHYGIENE. 1065
Hmsiclitlicli der Deckenconstructionen und Fussböden in Wohn-
gebäuden ist auf S. 1027 tf. Bezug zu nehmen; es bleibt hier nur noch einiges
Specielle nachzutragen. Zu den Fussböden in Wohnräumen sollte hartes
und völlig ausgetrocknetes Holz verwendet werden; wo ersteres nicht
disponibel ist, muss der Fussböden Oeltränkung oder -Anstrich erhalten. Fuss-
bödenconstructionen, welche ein leichtes Nachtreiben der Bretter zum Schliessen
etwa entstandener Trocken-(Schwind-)Fugen gestatten, sind im Vorzuge vor
den „genagelten" Bretterböden. Fussböden aus Holz von geringer Beschaifen-
heit erhalten am besten einen Belag aus Linoleum, der vollkommen wasser-
dicht, leicht reinigungsfäig ist und sehr wenig abnutzt. Die Fussboden-
bretter sollen möglichst eng an die Umtangswände des Baumes anschliessen,
damit an diesen Stellen nicht offene Spalte entstehen, die Feuchtigkeit ein-
dringen lassen. Die sogenannten Fuss- oder Scheuerleisten müssen aus dem-
selben Grunde möglichst dichtschliessend mit dem Fussböden und der Wand
zusammengearbeitet werden. — Holzfussboden, der auf Sand oder Erde liegend
(in Erdgeschossen ohne Unterkellerung) hergestellt ist, muss mit Hohlraum
darunter versehen werden, damit die Luft durchziehen kann. Es wird zu dem
Zweck der Hohlraum einerseits mit der Aussenluft, andererseits mit dem Innern
des Raumes in Verbindung gesetzt, noch besser statt letzterer Verbindung eine
solche mit dem Ofenrohr oder einem sonstigen „warmen" Bohr hergestellt.
Wird diese Vorsicht ausser Acht gelassen, so bildet sich sehr leicht Feuchtig-
keit und Schwamm. Kellerräume sollten nur massiven Fussböden erhalten, oder
auch Estriche aus Cement oder Asphalt auf massiver Unterlage. Massiver
Fussböden ist dringend auch für Räume in anderen Geschossen zu empfehlen,
in welchen viel Wasser verspritzt wird. Das gilt für Koch- und Waschküchen,
desgleichen für Abortzellen, Speisekammern, auch für die sogenannten Vor-
räume der Wohnung und für etwaige Pflanzenzimmer, deren ganze Einrich-
tung übrigens mit Bezug auf Schutz vor Feuchtigkeit u. s. w. sehr grosse
Vorsicht erfordert. Sehr bewährt ist in Räumen, in welchen mit Feuchtig-
keitszutritt von der Unterseite her zu rechnen ist, der sogenannte Stab-
fussboden in Asphalt, der aus kurzen schmalen Brettstücken, welche
dicht aneinander schliessend in eine Schicht von heissfiüssigen Asphalt ein-
gedrückt werden, besteht.
Die Fussbodenreinigung sollte überall „feucht", nicht nass bewirkt
werden, um Staubaufwirbelungen zu vermeiden. Die nasse Reinigung ist
zu vermeiden, weil das nackte Holz begierig Feuchtigkeit einsaugt. Die
Wasseraufnahme ist bei Fichtenholz etwa doppelt so gross als bei Eichenholz.
Belag der Fussböden mit Teppichen hat wegen der Eigenschaft der
Teppiche, grosse Staubmengen und Mikroben festzuhalten, eine schlimme
Schattenseite, die besonders bei schweren Teppichen ins Gewicht fällt.
Letztere sollten, um die öftere Reinigung nicht zu erschweren, niemals unter
den Möbeln fortgehen, oder gar die Fussböden in der ganzen Fläche be-
decken. Kleine, leichte Teppiche sind gesundheitlich am wenigsten an-
stössig. Niemals sollten Teppiche in Kinder- und Krankenzimmern
gelegt werden, weil sie hier den grössten Schaden anrichten; überhaupt sollten
sie da immer fortgelassen werden, wo viel Bewegung stattfindet. —
In Räumen, in welchen Kalktünche denAnsprüchen, die an das Aussehen
der Wände gestellt werden, noch genügt, ist jene Tünche der beste Anstrich,
weil er Reinlichkeit befördert die Räume hell macht und auf Bakterien
vernichtend wirkt. Ein gering er Zusatz von Leim hebt letztere Wirkung nicht
auf, macht aber die Tünche einigermaassen waschbar.
Die gewöhnlichen Leimfarbenanstriche, in welchen als Farbstofi'e besonders Ocker
und Kreide benutzt werden, verstauben leicht. Immer sollten sie hellfarbig gehalten
werden. Chromfarben, Uran färben, Eisenfarben, wenn mit Arsen verunreinigt.
Bleifarben, Quecksilberfarben, Arsenfarben, Antimonfarben und Kad-
miumfarben (alle mineralischer Herkunft) sind giftig; ebenfalls sind einige organische
1066 WOHNUNGSHYGIENE.
Farbstoffe, wie Safran in und mehrere Nitrofarbstof fe (aus der Koblentheer-Ve
arbeitung gewonnen) giftig. Giftige Farben sollten auch für Wand- und Deckenanstriche
rcöglichst ganz vermieden werden. Gleichfalls sind Tapeten, zu deren Bedruck Giftfarben,
wie z. B. das bekannte Schweinfurter Giün, welches Arsen enthält, und einige rothe Farben,
in welchen ebenfalls Arsen enthalten ist, nicht zuzulassen, da das Arsen leicht verstaubt.
Am besten sind Oelfarbenanstriche, bei welchen aber anstatt der giftigen Blei-
farben, besser die ungiftigen Zinn- und Zinkfarben zur Anwendung kommen. Mit Oelfarbe
gestrichene Wände liefern weder selbst Staub, noch bilden sich auf ihnen Staubablagerungen,
wenn nur die Flächen, die den Anstrich erhalten sollen, genügend glatt hergestellt waren.
Immer sind Oelfarbenanstriche leicht wasch- und desinficirbar.
Unter den Tapeten sind die von glänzendem Aussehen den in stumpfer
Fläche gehaltenen vorzuziehen; noch besser sind waschbare Tapeten, welche
in neuerer Zeit öfters vorkommen. Tapeten mit Kelief sind, gleichgiltig,
ob es sich um echte Ledertapeten oder Imitationen derselben aus Pappe u. s. w.
handelt, vom gesundheitlichen Standpunkte zu verwerfen.
Höheren Schutz vor Zerstörungen der Wandflächen und gesundheit-
liche Vorzüge gewähren Wandbezüge aus „Lincrusta Walton", einem linoleuni-
artigen, mit Relief versehenen, dickwandigen Stoff.
Erfüllen die bisher für die W a n d behandlung genannten Mittel in
Wohnräumen auch die gesundheitlichen Ansprüche in mehr oder minder
ausreichendem Umfange, so sind dieselben doch in den Nebenräumen der
Wohnung mehr oder weniger ungenügend. In Küchen schlagen sich auf
kalt liegenden Wänden Wasserdämpfe nieder und bilden auf Oelfarbenanstrich
grosse Tropfen, welche an den Wänden herablaufen, wobei durch Aufnahme
von Staub u. s. w. Schmutzstreifen entstehen. Küchenwände erhalten daher
am besten eine Bekleiduug aus hellfarbigen Fliesen; jedenfalls ist die
Anbringung für etwa die untersten 2 m Höhe der Küchenwände sehr angezeigt.
Etwas weniger noth wendig, aber doch sehr empfehlenswerth ist Fliesen-
bekleidung der Wände auch in Speisenkammern und Abortszellen.
In diesen Räumen genügt allerdings auch Oelfarbenanstrich, weil bei der
niederen Temperatur dieser Räume das Niederschlagen von Wasserdämpfen
nicht leicht zu fürchten ist. Aehnliches gilt für die Wände der Treppenhäuser
und Vorräume.
Holzvertäfelungen der Wände u. s. w. wirken günstig in ther-
mischer Hinsicht, ungünstig aber durch Resonanz und dadurch, dass der Hohl-
raum hinter denselben günstige Gelegenheit zum Ansammeln von Staub
und allerhand Ungeziefer gibt. Uebrigens kann der Hohlraum mitunter vor-
theilhaft für Lüftungs zwecke nutzbar gemacht werden.
Grundsätzlich ist zu fordern, dass alle Theile der Umfläche eines Wohn-
raumes möglichst glatt, d. h. frei von Relief und scharfen Ecken ge-
halten werden, weil bei dieser Haltung den Ansprüchen der Reinlichkeits-
pflege am weitesten entgegengekommen wird. Stuckverzierungen der Wände
sind daher vom gesundheitlichen Standpunkte zu verwerfen, Ausrundungen
der Ecken in Wohnzimmern und Nebenräumen mindestens erwünscht, in
Krankenräumen nothwendig.
Was für die Behandlang der Wände vorstehend angeführt ist, kann auch
auf die Möbelausstattung der Räume übertragen werden. Mit Schmuck-
theilen überladene Möbel sind zu verwerfen, die einfachsten, ihrem Nutz-
zwecke am besten angepassten Möbelformen vom gesundheitlichen Stand-
punkte vorzuziehen.
Während bei dem dauernden Aufenthalt in Wohnräumen der Gesund-
heitsschutz im Wesentlichen durch die Erhaltung von Reinlichkeit, Trocken-
heit, gesunder Luft und ausreichendem Tageslicht beschafft wird, handelt es
sich bei den — nur vorübergehend benutzten — sogenannten Massenlocalen,
zu welchen Theater-, Circus-, Concert- und Versammlungssäle,
in gewissem Sinne auch Kirchen und Schulen rechnen, vorwiegend um
WOHNUNGSHYGIENE. 1067
Sicherheit gegen Gefahren, die aus der Anhäufung grosser Menschen-
mengen auf engem Kaum hervorgehen, und treten gegen die Forderung der
„Sicherheit" die oben erwähnten anderweiten Ansprüche an den Gesundheits-
schutz etwas zurück. Man kann sagen, dass die Nothwendigkeit, besondere
Maassregeln für den Gesundheitsschutz der Besucher von Massenlocalen zu
treffen, erst seit den grossen Theaterbränden der neueren Zeit (Nizza
und Wien 1881, Paris 1887 und Oporto 1888) ausreichend erkannt worden ist.
Der Gesundheit der Besucher von Massenlocalen drohen:
a) Unfälle infolge Mangels an constructiver Sicherheit des Locals, oder
von mangelhafter Einrichtung gewisser Theile desselben, wie z. B. der Ab-
gänge und Treppen, Raumenge u. s. w.,
b) Desgleichen infolge Ausbruchs von Panik,
c) Betäubung oder Erstickungsgefahr durch Einathmen irrespirabler Gase.
d) unmittelbare Körperbeschädigung durch Feuer.
Constructive Sicherheit und Sicherheit gegen unmittelbare Körper-
beschädigung durch Feuer, bedingt zunächst, dass die technische Herstellung
derart bewirkt ist, dass alle Bautheile den besonderen Beanspruchungen, welchen
sie unter den ungünstigsten Verhältnissen unterworfen sein können, ge-
wachsen sind. Die constructive Sicherheit bedingt ferner noch, dass mit
Bezug auf den Schutz gegen Brandfälle, bezw. die Einschränkung oder Be-
wältigung derselben alles geschieht, was gegen ein solches Ereignis über-
haupt vorgekehrt werden kann. Es handelt sich bei letzterem Punkte aber
nicht nur um Herstellung des Baues aus schwer brennbaren oder unverbrenn-
baren Materialien, sondern ebenso sehr um Einrichtungen zur Vermeidung
von Feuersgefahr bei der Heizung und Beleuchtung des Hauses, bezw. bei
Darstellungen in demselben, welche Feuersgefahr mit sich bringen. Den von
dem Techniker zu treffenden Einrichtungen hierher gehöriger Art müssen
strenge Ordnungen über die Benutzung des Locals und dessen, was in
demselben enthalten ist, hinzutreten. Solche Ordnungen zu treffen, ist theils
Sache der Polizei, theils auch des Eigenthümers. In denselben darf
nicht generalisirt werden, sondern es sind ganz specielle Vorschriften
zu treffen, die den Besonderheiten des Locals möglichst genau angepasst sind.
Thüren, welche in die Wege der Abgehenden fallen, müssen ausreichende Weite
haben, und schon auf einen geringen Druck öffnen. In Corridoren oder anders gearteten
Abgängen dürfen keine unvermittelten Raum Verengungen, auch keine vereinzelt liegenden
Treppenstufen vorkommen. Treppen dürfen keine sogenannten Wendel- oder Keilstufen
enthalten, und möglichst .jgerade" geführt sein. Podestanlagen in den Treppen, sind, weil
auf denselben leicht Stauungen eines Menschenstromes stattfinden, grundsätzlich als un-
zweckmässig zu betrachten. Die Treppen sollen massige Steigungen haben und die Stufen
dürfen nicht glatt, auch nicht schartkantig sein; es sind an beiden Seiten Handläufer an-
zubringen.
um die Gefahren bei Ausbruch von Panik zu mildern, müssen die Ausgänge auf
möglichst kurzen Wegen erreichbar, daher in grösserer Anzahl vorhanden sein. Die
Länge der Sitzreihen darf nicht über eine gewisse Grösse (12 bis höchstens 15 Sitze)
hinausgehen. Sitzbreiten und Sitzlängen dürfen nicht eng bemessen werden. Zum Nieder-
legen eingerichtete Sitze scheinen unzweckmässig, feste Sitze im Vorzuge zu sein. Die Aus-
gänge sollen ständig in Benützung gehalten werden. Logen-Nothausgänge, die das Publicum
nicht ständig in Benützung hat, sind von zweifelhaftem Werth. Während die Ausgangs-
thüren so anzuordnen sind, dass sie von allen Stellen des Raumes gesehen werden
können, oder sich dem Blicke leicht darbieten, sollen die Thüren zu den Aborten versteckte
Lage erhalten und auch dem Eintretenden entgegenschlagen; Letzteres, sowohl um bei
Panik den Eintritt zu erschweren, als den Austritt unabsichtlich hineingerathener Personen
zu erleichtern. Schiebethüren sind für Massenlocale ungeeignet. Thüren und Gänge
sind so zu disponiren, dass im Fall eines Brandes das Pabhcum sich nicht in der dem Brand-
herde zugekehrten Richtung zu bewegen hat. Die ganze allgemeine Anordnung des Raumes
ist überhaupt so zu treffen, dass das Publicum bei allen Bewegungen gewissermaassen ge-
führt wird, oder die einzuschlagenden Richtungen instinctiv findet. Es dürfen keine Stellen
entstehen, an welchen zwei oder mehrere Bewegungsrichtungen des Publicums, die nicht
ganz oder doch fast gleichlaufend sind, zusammentreffen. Wenn das Gebäude des Massen-
locals nicht an allen Seiten frei steht, vielmehr an enger Strasse , eingebaut" oder auf
dem hintern Theile eines Grundstücks errichtet ist, so muss vor den Ausgängen so viel
1068 WOHNÜNGSHYGIENE.
freier Raum vorhanden sein, dass die gesammte Menschenmenge bequem auf demselben
Platz findet. In Versammlungsräumen, in welchen Gallerien angebracht sind, dürfen zwischen
letzteren und dem Kaum selbst keine Treppenverbindungen bestehen.
Die Gefahr von Gesundheitsbeschädigungen durch Einathmen inrespi-
rabler Gase tritt in Brandlällen unerwartet rasch ein, da die specifisch
leichten Gase sowohl durch Diffusion als Bewegung bis zum Ablauf von etwa 2
Minuten alle Räume selbst eines grösseren Gebäudes erfüllen können. Da es
unmöglich ist, die Verbreitung der Gase in andere Räume als die der Er-
zeugungsstätte derselben durch die Thüren u. s. w. zu verhindern, so bleibt
nichts anderes übrig, als Thür- und Treppenanlagen so zu bemessen, dass die
Entleerung der Räume sich in geordneter Weise in der Dauer von etwa
zwei Minuten vollziehen kann.
Wenn man eine secundliche Bewegungsgeschwindigkeit von 0"5 m (= 1 Schritt) zu
Grunde legt, und die für 1 Person erforderliche Breite und Tiefe ebenfalls zu je Oö m
annimmt, so würden in einer Gangbreite von 1 m in 1 Minute 120 Personen passiren
können, wenn keine Bewegungshindernisse bestehen. Weil aber solche auf einer längeren
Wegesstrecke kaum vermeidbar sind, rechnet man mit einer etwas geringeren Zahl, die in
den Grenzen zwischen 6ü und 150 liegt, und zwar die kleinere Zahl, wenn es sich um
Passirung von Treppen, die höhere, wenn es sich um Passirung gerader Wege ohne Be-
wegungshindernisse handelt. In der Regel wird als Weite der Thüren, Gänge und Treppen
soviel mal 1 m gefordert, als je 60 — 150 Personen auf dieselben angewiesen sind.
Befinden sich, wie in Theatern, die Sitze theilweise in grösserer Höhe, so rechnet man mit
der kleineren Zahl, liegen die Sitze wie in vielen Versammlungsräumen und Kirchen zu
ebener Erde, so können bis 150 angenommen werden. Immer aber ist eine Mindest-
breite einzuhalten, die nicht unter 1"5 ot, besser 2tn sein soll. Die Breite muss aber auch,
von der absoluten Zahl der Besucher abhängig gemacht werden; je grösser diese, je
geringer ist in den Grenzen von 60 - 150 die auf dieselbe angewiesene Personenzahl an-
zusetzen.
Für Kirchen ist in Preussen als Mindestbreite der Thüren und Gänge vorge-
schrieben zu: 0.7»? bei der Besucherzahl bis 500 und Q'bm Zuschlag für je 100 Personen
mehr in den Grenzen von 500 1000, aber nur 0"3 m mehr, wenn die Besucherzahl 1000
überschreitet. Die Mindestbreite von geraden Treppen soll TSm sein; für gewendelte
Treppen sind der Breite 30% zuzuschlagen. Für Versammlungsräume, die bis zu
300 Personen fassen, genfigt eine Treppe, für grössere nicht mehr. Wenn der Raum mehr
als 600 Besucher fasst, müssen Treppen auf zwei Seiten angelegt werden; die Mindest-
breite derselben ist 1"5 m.
Die grösseren Gefahren bestehen in Theatern, in denen die Besucher
über einander geschichtet sind, geringere in Circusanlagen, bei welchen
die Schichtung mehr breit erfolgt. Bei der höheren Besucherzahl letzterer
ist aber allseitig freie Lage zu fordern.
In preussischen Theatern düifen nicht mehr als 4 ,, Ränge" über dem Parket an-
gelegt werden. Corridore und Treppenhäuser müssen directes Tageslicht erhalten. Als
künstliche Beleuchtung ist Gasbeleuchtung nur bei kleinen Theatern (bis zu 800 Be-
suchern) zulässig, bei den grössern wird elektrische Beleuchtung gefordert. Gaszuleitung
von der Strasse aus muss in mehrere von einander unabhängige Systeme zerlegt werden.
Immer ist eine sogenannte Nothbeleuchtung einzurichten, die so gestaltet werden muss,
dass sie unabhängig von dem etwaigen Authören der normalen Beleuchtungseinrichtung
weiter functionirt.
Da das Bühnenhaus derjenige Theil eines Theaters ist, von welchem
bei Brandfällen die grösste Gefahr, besonders die Verbreitung grosser Mengen
irrespirabler Gase ausgeht, so sind für dasselbe besondere Einrichtungen
nothwendig, auf welche hier nicht näher einzugehen ist. Es mag aus den-
selben nur erwähnt werden: die Nothwendigkeit eines eisernen Vorhangs,
eine um einige Meter erhöhte Lage des sogenannten Schnürbodens (in Preussen
mindestens 3 m) über der Decke des Zuschauerraums und Anbringen von
Abzugsöffnungen im Dache des Bühnenhauses; in Preussen sollen letztere ins-
gesammt mindestens ^20 der Bühnengrundfläche betragen. Die Anlage von
Abzugsöfinungen auch in der Decke des Zuschauerraumes ist zwei-
schneidig, indem bei derselben irrespirable Gase in den Zuschauerraum ge-
saugt oder gedrängt werden können.
An die Heizung und Lüftung der Massenlocale brauchen bei der
vorübergehenden Benützungsdauer nicht die strengen Anforderungen gestellt
ZURECHNÜNGSFÄHIGKEIT. 1069
ZU werden, wie z. B. an Wohnräume; sie sind wegen der Grösse der Räume
auch schwer erfüllbar. Ofenheizung ist wegen der Ungleichheit der Wärme-
vertheilung am wenigsten leistend, und Centralheizung wohl immer im Vor-
zuge. Am besten ist diejenige Einrichtung, bei welcher die Heizkörper
(Röhren oder Canäle) am, oder im Fussboden liegen. Dadurch ist Luftheizung,
welche horizontale Führung der Canäle nicht verträgt, für die Heizung von
Massenlocalen so gut wie ungeeignet, wenn man nicht künstliche Pressung
anwendet, und es treten Dampf- und Wasserheizungen in den Vordergrund. Bei
seltener Benützung der Locale kann auch Gasheizung zweckmässig sein; doch
setzt dieselbe voraus, dass eine wirksame Lüftungseinrichtung vorhanden ist.
Auch die Zuführungsstellen der Frischluft liegen bei grossen Räumen am
besten im Fussboden, diese Lage ist aber in solchen Räumen ungünstig, in
welchen das Publicum nicht sitzend verweilt, sondern in Bewegung ist, weil
in diesen durch die eingeführte Frischluft Staubauf wirbelung statttindet.
Bei Gasbeleuchtung sollten nicht die offenen sondern nur geschützte
Flammen zur Anwendung kommen, die sowohl in Bezug auf Menge als Be-
ständigkeit des Lichtes, als endlich wegen der geringeren Menge schädlicher
Verbrennungsproducte im Vorzuge sind. Besser noch ist Gasglühlichtbeleuch-
tung, und mit denselben etwa gleichstehend mag auch die Beleuchtung mit
anderen verbesserten Gasbrennern (Regenerativlampen u. s. w.) sein, weil bei
diesen die Beleuchtung durch eine viel geringere Flammenzahl möglich ist,
was für die Abführung der Verbrennungsproducte grosse Erleichterungen mit
sich bringt; für letztere sollten in jedem Falle Einrichtungen getroffen werden.
Durch die enge Berührung der Menschenmengen in den Massenlocalen
wird die Ansteckungsgefahr befördert. Als besonders gefährdende Stätten
können die Treppenhäuser und Thürgriffe, sowie die Aborte und Pissoire
gelten. An allen genannten Stätten ist peinliche Reinlichkeitspflege
das wirksamste Bekämpfungsmittel. Zu den Aborten und Pissoiren sollten
nur die vollkommensten Spüleinrichtungen benutzt werden, und die
Wände und Fussboden der Zellen so behandelt werden, dass sie leicht wasch-
und desinticirbar sind. f. büsing.
Zurechnungsfähigkeit (forens.). in der gerichtlichen Medicin geben
zu gerichtsärztlichen Untersuchungen sehr häufig Anlass Zweifel über
Zurechnungsfähigkeit und Dispositionsfähigkeit eines Indivi-
duums. Erstere betrifft das Strafrecht, letztere das bürgerliche Recht. Zur
Ausübung der bürgerlichen Rechte und Pflichten wird nämlich ein gewisser
Grad von geistiger Entwicklung und Ausbildung verlangt, sowie Abwesenheit
psychischer Abnormitäten, und dasselbe ist der Fall in Bezug auf Strafbarkeit
gesetzwidriger Handlungen. Zur Feststellung abnormer psychischer Zustände
ist die Intervention der gerichtlichen Medicin nothwendig.
Dispositioiisfähigkeit.
Darunter ist zu verstehen die Fähigkeit, alle bürgerlichen Rechte und
Pflichten auszuüben und zu erfüllen. Dass hiezu ein gewisses Alter und
normale psychische Zustände verlangt werden, ergibt sich aus folgenden ge-
setzlichen Bestimmungen.
Preussisches allgemeines Landrecht, Theil I, Titel 1, § 31. Diejenigen, welche
wegen nicht erlangter Volljährigkeit oder wegen Mangels an Seelenkräften ihre Angelegen-
heiten nicht gehörig wahrnehmen können, stehen unter der besonderen Aufsicht und Vor-
sorge des Staates.
Titel 18, § 12. Wahnsinnige oder Blödsinnige, welche nicht unter Aufsicht eines
Vaters oder Ehemannes stehen, müssen vom Staat unter Vormundschaft gestellt werden.
Oesterreichisches bürgerliches Gesetzbuch § 21. Diejenigen, welche Mangels an
Jahren, Gebrechen des Geistes oder anderer Verhältnisse wegen ihre Angelegenheiten selbst
gehörig zu besorgen unfähig sind, stehen unter dem besonderen Schutze des Gesetzes.
Dahin gehören Kinder, die das siebente. Unmündige, die das 14., Minderjährige, die das
1070 .ZUEECHNÜNGSFÄHIGKEIT.
24 Jahr ihres Lebens noch nicht zurückgelegt haben, dann Rasende, Wahnsinnige und
Blödsinnige, welche des Gebrauches ihrer Vernunft entweder ganz beraubt, oder wenigstens
unvermögend sind, die Folgen ihrer Handlungen einzusehen.
§ 173. Gerechte Ursachen, die Fortdauer der väterlichen Gewalt bei Gericht anzu-
suchen, sind, wenn das Kind ungeachtet der Volljährigkeit wegen Leibes- oder Gemüths-
gebrechen sich selbst zu verpflegen oder seine Angelegenheiten zu besorgen, nicht vermag.
Ueber die Art und Weise, wie die Entmündigung vorgenommen
oder aufgehoben werden soll, sind folgende gesetzliche Bestimmungen zu
beachten.
Deutsche Civilprocess-Ordnung § 599. Die Entmündigung darf nicht ausgesprochen
werden, bevor das Gericht einen oder mehrere Sachverständige ^über den Geisteszustand
des zu Entmündigenden gehört hat.
§ 595. Der Antrag zur Bevormundung kann von dem Ehegatten, einem Verwandten
oder dem Vormunde des zu Entmündigenden gestellt werden. Gegen eine Ehefrau kann
nur der Ehemann, gegen eine Person, welche unter väterlicher Gewalt oder unter Vor-
mundschaft steht, nur vom Vater oder dem Vormund der Antrag gestellt werden. la
allen Fällen ist auch der Staatsanwalt zur Stellung des Antrages befugt.
Preussisches allgemeines Landrecht, Theil 11, Titel 18, § 815. Die Vormundschaft
über Rasende, Wahnsinnige und Blödsinnige muss aufgehoben werden, wenn dieselben zum
völlig freien Gebrauch der Vernunft wieder gelangen.
Die bürgerlichen Rechte und Pflichten beziehen sich auf sehr verschie-
dene Verhältnisse und können das Recht zur eigenen Vermögensverwaltung,
das Recht zu testiren, eine Ehe einzugehen, Kinder zu erziehen, die väter-
liche Gewalt auszuüben, einem Amte vorzustehen, gerichtliches Zeugnis ab-
zulegen, gerichtliche Klage zu führen, einen Eid zu leisten u. s. w. betreffen.
Die Dispositionsfähigkeit kann nun entweder für die Ausübung aller
dieser Rechte und Pflichten vollständig ausgeschlossen sein, so dass der Be-
treffende auf alles selbständige Handeln verzichten muss und so zu sagen
mundtodt ist, indem Andere, der Vormund, der Curator den Unmündigen zu
vertreten haben, wie das bei einem gewissen Alter der Fall ist. Oder aber
€S bestehen gewisse Grade der Dispositionsfähigkeit, welche mit der Unter-
scheidung der Kindheit, Unmündigkeit, Minderjährigkeit in Zusammenhang
stehen, so dass die Dispositionsfähigkeit eine gradweise fortschreitende ist,
bis zum Eintritt der vollständigen Dispositionsfähigkeit.
Diese tritt nach den meisten Civilgesetzen mit dem 21. oder 24. Jahre
ein. Von den schon früher eintretenden bürgerlichen Rechten heben wir fol-
gende hervor.
Die Testirfähigkeit tritt nach den meisten Civilgesetzgebungen
schon mit dem 18, Lebensjahre ein, und ausserdem können schon Minder-
jährige, die das 18. Lebensjahr noch nicht zurückgelegt haben, vor Gericht
testiren, jedoch nur mündlich.
Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 569. Unmündige sind
zu testiren unfähig. Minderjährige, die das 18. Jahr noch nicht zurückgelegt haben, können
mir mündlich vor Gericht testiren. Das Gericht muss durch eine angemessene Erforschung
sich fest zu überzeugen suchen, dass die Erklärung des letzten Willens frei und mit Ueber-
legung geschehen ist. Die Erklärung muss in ein Protokoll aufgenommen und dasjenige,
was sich ergeben hat, beigerückt werden.
Um letztwillige Bestimmungen rechtsgiltig auszuführen, wird verlangt,
dass dieselben bei vollständigem Bewusstsein, mit richtiger Erkennung der
Bedeutung solcher letztwilliger Verordnungen und mit freier Willens-
bestimmung gemacht werden, weshalb hiezu die Gegenwart zuverlässiger
Zeugen verlangt wird.
Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 591. Jünglinge unter
18 Jahren können bei den letzten Anordnungen nicht Zeuge sein.
Uebrigens liegt es nicht im Sinne der Gesetzgebung, dass der Testirende
in vollständiger geistiger Gesundheit sich befinde, es wird nur verlangt, dass
wenigstens zur Zeit der Testirung der Testator dispositionsfähig sei, da es
ja Zustände gibt, in welchen nur zeitweise Bewusstseinsstörungen vorkommen
und freier Wille aufgehoben ist, so dass lucide Intervalle bestehen, in welchen
vollkommene Bewusstheit und freier Wille vorhanden sind.
ZÜRECHNUNGSFÄHIGKEIT. 1071
Preussisches allgemeines Landrecht, Theil II, Titel 12, § 21. Personen, die wegen
Wahnsinn oder Blödsinn unter Vormundschaft genommen worden, sind, solange die Vor-
mundschaft dauert, letztwillige Verordnung zu verrichten, unfähig.
§ 147. Ist dem Bichter bekannt, dass der Testator zuweilen an Abwesenheit des
Verstandes leide, so muss er sich vollständig überzeugen, dass derselbe in dem Zeitpunkt,
wo er sein Testament aufnehmen lässt oder übergibt, seines Verstandes wirklich
mächtig sei.
§ 148. Findet er dieses zweifelhaft, so muss er Sachverständige zuziehen.
§ 20. Personen, die nur zuweilen ihres Verstandes beraubt sind, können in lichten
Zwischenräumen von Todes wegen rechtsgiltig verordnen.
Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 565. Der Wille des Erb-
lassers muss bestimmt, nicht durch blosse Bejahung eines ihm gemachten Vorschlages, er muss
im Zustande der vollen Besonnenheit, mit üeberlegung und Ernst, frei von Zwang, Betrug
und wesentlichem Irrthum erklärt werden.
§ 566. Wird bewiesen, dass die Erklärung im Zustande der Raserei, des Wahnsinns,
Blödsinns oder der Trunkenheit geschehen sei, so ist sie ungiltig.
§ 567. Wenn behauptet wird, dass der Erblasser, welcher den Gebrauch des Ver-
standes verloren hatte, zur Zeit der letzten Anordnung bei voller Besonnenheit gewesen
sei, so muss die Behauptung durch Kunstverständige oder durch obrigkeitliche Personen,
die den Gemüthszustand des Erblassers genau erforschten, oder durch andere zuverlässige
Beweise ausser Zweifel gesetzt werden.
Die UutersuchuDg betrifft in solchen Fällen bald Personen, welche eine
Testirung beabsichtigen, oder solche, welche bereits testirt haben, oder endlich
Testamente von Personen, welche nicht mehr leben.
Schwieriger ist der Fall immer dann, wenn es sich um Beurtheilung
psychischer Zustände handelt, die nur zeitweise auftreten, und das Testament
in einem luciden Intervalle gemacht worden sein soll. Hier kommt es wesent-
lich auf die Art der psychischen Störung an, ob dieselbe ihrer Natur nach
nur periodisch auftritt, also einen transitorischen Charakter hat, wie das
namentlich bei toxischen Psychosen der Fall ist, oder ob der lucide Intervall,
in welchem das Testament gemacht worden sein soll, durch glaubwürdige
Zeugen erwiesen werden kann.
Wir hatten einen solchen Fall bei einer Jodoformpsychose zu beurtheilen. Dem
Betreffenden, einem älteren Manne, wurde am Eücken eine Geschwulst operativ entfernt
und nachher die ziemlich grosse Wundfläche mit Jodoform behandelt, und jedes Mal stellten
sich nach einem solchen Verbände Symptome von Hirnreizung ein mit Wahnvorstellungen,
welche zu ungereimten Handlungen fahrten. Nach einigen Stunden verloren sich diese
Erscheinungen und der Betreffende war wieder ganz vernünftig, was nicht bloss durch ver-
schiedene andere Personen, sondern auch durch den behandelnden Arzt bezeugt wurde.
Der Betreffende hatte nun, ehe seine Wunde geheilt war, ein Testament gemacht zu Gunsten
entfernterer Verwandten, welches nun von den directen Erben angegriffen wurde. Es gab
nun Gutachten für und gegen den dispositionsfähigen Zustand des Erblassers. Mein Gut-
achten gehörte zu den ersteren. Das Gericht entschied nur theilweise gegen Dispositions-
fähigkeit, ein Entscheid, den ich für unrichtig halten musste, weil die luciden Intervalle
unzweifelhaft bewiesen waren, und das Testament in einem solchen vor glaubwürdigen
Zeugen gemacht wurde. Man hat eben das Eigenthümliche der Jodwirkung nicht begriffen.
Noch schwieriger sind die Verhältnisse, wenn der Testator bereits ver-
storben ist, und das Testament von den Ueberlebenden angegriffen wird. Wir
hatten auch einen solchen Fall zu begutachten Gelegenheit. Hier kommt es
darauf an, ob genaue Angaben erhalten werden können über die Verhältnisse,
unter welchen testirt worden ist, und ob noch Zeugen einvernommen werden
können, welche bei der Anfertigung des Testamentes zugegen waren, ferner
welcher Art die psychische Störung war, wegen welcher das Testament an-
gegriffen worden ist, und auch das Testament selbst ist zu prüfen nach seinem
Inhalt, seinem Zwecke und nach den Beziehungen desselben zu den ein-
gesetzten und ausgeschlossenen Erben. Es sind in dieser Beziehung schon
sehr wunderliche Testamente gemacht worden, welche auf vorhanden gewesene
Wahnideen schliessen Hessen.
Legrand du Saulle^) gibt eine Zusammenstellung von sonderbaren Testamenten,
z. B. dass Thiere berücksichtigt wurden, wie Pferde, Hunde, Katzen u. s. w. In einem
Falle machte ein reicher Engländer einer jüngeren Dame, welcher er stets nachreiste, sein
^) Etüde medico-legale sur les testaments, constates par cause de folie Paris, 1849.
1072 ZÜRECHNDNGSFÄHIGKEIT.
ganzes Vermögen, weil deren Nase ihm während drei Jahren ein ausserordentliches Ver-
gnügen gemacht hat.
Auch die Ehefähigkeit gehört zu den civilrechtlichen Acten, welche
an gewisse Vorschriften gebunden sind.
Zunächst kommen Altersverhältnisse in Betracht, indem mit Berück-
sichtigung des Eintrittes der Geschlechtsreife ziemlich allgemein in den hier
in Betracht kommenden Ländern das 18. Altersjahr als maassgebend für das
Eingehen einer Ehe angenommen wird.
Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 48. Unmündige sind
ausser Stande, einen giltigen Ehe vertrag zu errichten.
§ 49. Minderjährige sind auch unfähig, ohne Einwilligung ihres ehelichen Vaters oder
der Gerichtsbehörde sich giltig zu verehelichen.
Ausserdem schliessen auch gewisse psychische Störungen die Ehefähig-
keit aus, als welche Blödsinn, Wahnsinn, Raserei bezeichnet werden.
Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 49. Rasende. Wähn-
sinnige, Blödsinnige und Unmündige sind ausser Stande, einen giltigen Ehevertrag zu
errichten.
In den meisten Einsprachen gegen Ehefähigkeit handelt es sich jedoch
nicht um die angeführten schwersten psychischen Störungen, sondern nur um
verschiedene Grade von Geistesschwäche, und hier ist es mitunter schwierig,
die Grenzen zu bestimmen, bis zu welchen die Intelligenz ausreicht, um die
mit einer solchen Verbindung zu übernehmenden Pflichten, namentlich in
Bezug auf eine allfällig zu erwartende Nachkommenschaft in entsprechender
Weise zu erfüllen. Es bezieht sich das auf männliche und weibliche Indivi-
duen, doch ist das erstere häufiger als das letztere der Fall, in der Art, dass
schwachsinnige Männer von speculirenden weiblichen Individuen zum Ein-
gehen einer Ehe veranlasst werden, um dadurch eine finanziell gesicherte
Lebensstellung zu erlangen. Bei solchen Untersuchungen müssen natürlich
die Begleiterinnen abtreten, da diese sonst das Wort führen würden.
Auch Ehescheidungen können zu forensischer Intervention führen, indem
nach preussischem Civilrecht § 693, und anderen civilrechtlichen Gesetz-
gebungen Wahnsinn, wenn er unheilbar ist und schon ein Jahr gedauert hat,
einen Grund zur Ehescheidung gibt. Schwierig ist in solchen Fällen, sich über
Unheilbarkeit des Wahnsinns auszusprechen. Da dieser sich erst während der
Ehe eingestellt haben muss, so wird es sich öfters um einen puerperal ent-
standenen Wahnsinn handeln. Einschlägige Fälle finden sich von Huter^
Krafft-Ebing, Legrand du Saülle u. A. mitgetheilt.
Von andern die Dispositionsfähigkeit betrefienden bürgerlichen Picchten,
die weniger häufig in Betracht kommen, erwähnen wir noch folgende.
Bei Misshandlungen kann der Misshandelte noch vor Eintritt der Voll-
jährigkeit einen Antrag auf Bestrafung stellen.
Deutsches Strafgesetz § 65. Der Verletzte, welcher das 18. Lebensjahr vollendet
hat, ist selbständig zu dem Antrage auf die Bestrafung berechtigt.
Solange der Verletzte minderjährig ist, hat der gesetzliche Vertreter desselben unab-
hängig von der eigenen Befugnis des Verletzten das Recht, den Antrag zu stellen.
Bei bevormundeten Geisteskranken und Taubstummen ist der Vormund zur Stellung
des Antrages berechtigt.
Die Fähigkeit zur Eidesleistung wird nur solchen Personen zugetraut»
welche ein gewisses Alter erreicht haben, und ohne psychische Abnormitäten,
sind, was mitunter durch Sachverständige festzustellen ist.
Deutsche Strafprocessordnung § 36. Unbeeidigt sind zu vernehmen Personen,
welche das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet, oder wegen mangelnder Verstandesreif©
von dem Wesen und der Bedeutung des Eides keine genügende Vorstellung haben. ^
Nicht unwichtig zu wissen ist ferner, dass Personen unter einem gewissen
Alter Versprechen weder machen noch annehmen können.
Oesterreichisches allgemeines bürgerliches Gesetzbuch § 865. Ein Kind unter
sieben Jahren ist unfähig, ein Versprechen zu machen oder anzunehmen.
ZURECHNÜNGSFÄHIGKEIT. 1073
Zurechiiuiigstähigkeit.
Diese bezieht sich, wie gesagt, auf das Strafrecht, und ist darunter zu
verstehen die Fähigkeit, die Stralbarkeit einer gesetzwidrigen Handlung zu
erkennen und einzusehen, mit der Freiheit des Willens die Handlung zu thun
oder zu unterlassen, so dass der Betreffende für die Handlung verantwortlich
gemacht werden kann.
Wir exemplificiren mit zwei Gesetzgebungen, welche sich besonders dazu
eignen, den angegebenen Standpunkt klar zu legen, nämlich das bernische
und das deutsche Strafgesetz, indem sich dieselben gegenseitig ergänzen.
Der österreichische Strafgesetzentwurf ist dem deutschen Strafgesetz
ganz ähnlich.
Bernisches Strafgesetz Art. 43. Straflos sind diejenigen, die sich zur Zeit der
That in einem Zustande befanden, in welchem sie sich ihrer Handlung oder der Strafbarkeit
derselben nicht bewusst waren (Wahnsinn, Blödsinn u. s.w.), oder die infolge äusseren
Zwanges, gefährlicher Drohungen oder aus anderen Gründen der Willensfreiheit be-
raubt waren.
Deutsches Strafgesetz § 81. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn
der Thäter zur Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewusst-
losigkeit oder krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durchweiche
seine freie Willensbestimmung ausgeschlossen war.
Oesterreichischer Strafgesetzentwurf § 56. Eine Handlung ist nicht strafbar,
wenn derjenige, der sie begangen hat, zu dieser Zeit sich in einem Zustande der Bewusst-
losigkeit oder krankhafter Hemmung oder Störung der Geistesthätigkeit
befand, welcher es ihm unmöglich machte, seinen Willen frei zu bestimmen, oder
das Strafbare seiner Handlung einzusehen.
In strafrechtlicher Hinsicht bezeichnet man gemeinhin diejenigen, welche
nach den angeführten Bestimmungen ohne Einsicht der Strafbarkeit ihrer
gesetzwidrigen Handlung oder ohne freie Willensbestimmung gehandelt haben,
als unzurechnungsfähig, was Strafbarkeit ausschliesst. Die medicinischen
Sachverständigen werden in einschlägigen Fällen häufig genug von Seite
richterlicher Beamten nach Zurechnungsfähigkeit und Unzurechnungsfähigkeit
gefragt, was sich der Kürze wegen in vielen Fällen empfiehlt, und vorauszu-
setzen ist, dass der medicinische Experte wohl weiss, was unter dem juristi-
schen Begriff der Zurechnungsfähigkeit *) verstanden werden soll, und dass
er vom medicinischen Standpunkte aus dem Richter auseinander zu setzen hat,
ob der Betreffende in dem vorliegenden Falle mit Bewusstheit und freier
Willensbestimmung gehandelt hat oder nicht, und dass es sich hiebei nur um
eine gutachtliche Ansichtsäusserung und nicht um eine richterliche Ent-
scheidung handelt. Dass dem richterlichen Experten nicht gestattet sein soll,
sich nach dem Resultate seiner Untersuchung schliesslich darüber auszu-
sprechen, ob er den Betreffenden für zurechnungsfähig oder unzurechnungsfähig
halte, hat eigentlich keinen Sinn, da es sich ja immer nur, wie gesagt, um
eine gutachtliche Ansichtsäusserung handelt, wodurch der medicinische und
richterliche Standpunkt hinreichend gekennzeichnet wird.
Dass von Seite der Strafgesetzgebungen so ziemlich übereinstimmend
in zusammenfassender Weise zwei psychische Zustände hervorgehoben
werden, welche bei der Frage nach der Zurechnungsfähigkeit hauptsächlich in
Betracht kommen, ist vom medicinischen Standpunkte aus durchaus zu recht-
fertigen, indem bei jeder rationellen Beurth eilung einer gesetzwidrigen Hand-
lung immer zuerst gefragt werden muss, ob der Betreffende eigentlich gewusst
hat, oder hat wenigstens wissen können, dass die begangene Handlung eine
strafbare war, und dann kommt erst die zweite Frage, ob der Betreflende zur
Zeit der That nach freiem Willen zu handeln im Stande war.
Die angeführten gesetzlichen Bestimmungen drücken das Gesagte aus,
jedoch nicht mit derselben Deutlichkeit und Vollständigkeit, und doch sollte
*) Ueber verschiedene Auffassungen dieses Begriffes s. Gretener, Die Zurechnungs-
fähigkeit als Gesetzgebungsfrage. Berlin, 1897.
Bibl. med. WiBsenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin. oö
1074 ZÜRECHNUNGSFÄHIGKEIT.
das in einem Strafgesetze umso mehr der Fall sein, als dasselbe nicht bloss
für den sachverständigen Juristen, sondern für das ganze gebildete und un-
gebildete Publicum bestimmt ist.
Das bernische Strafgesetz drückt sich in Bezug auf die B e w u s s t h e i t
der Strafbarkeit der Handlung in kaum missverständlicher und deutlicher
Weise aus, indem es sagt, dass diejenigen straflos seien, welche zur Zeit der
That sich der Strafbarkeit der Handlung nicht bewusst waren. Das deutsche
Strafgesetz dagegen und das österreichische sprechen von einem Zu-
stande der Bewusstlosigkeit bei der Begehung der Handlung, ein Ausdruck,
der gewiss weniger zutreffend ist, als der obige, da ja nach medicinischen
Begriffen, und diese müssen wohl hier in erster Linie berücksichtigt werden,
Bewusstlose nicht mehr im Stande sind, Handlungen vorzunehmen, welche
auf Willensimpulse schliessen lassen. Auch ist der wesentliche Sinn dieser
Bestimmung wohl nicht der, dass überhaupt ein bewusstloser Zustand verlangt
wird, sondern nur ein solcher, in welchem die Handlung als strafbare oder
die Strafbarkeit der Handlung nicht erkannt worden ist, der Betreffende also
keineswegs bewusstlos, sondern nur unbewusst der Strafbarkeit der Handlung
war. Dieser unbewusste Zustand ist natürlich bei Bewusstlosigkeit auch vor-
handen, aber nicht umgekehrt, nicht Bewusstlosigkeit bei Unbewusstheit, und
in einem bewusstlosen Zustande werden überhaupt keine Handlungen mehr
vorgenommen.
Gerade entgegengesetzt verhält es sich bei den angeführten Gesetz-
gebungen bezüglich des zweiten psychischen Zustandes, welcher Zurechnungs-
fähigkeit ausschliesst, nämlich der Unfreiheit des Willens. Während das
bernische Strafgesetz in dieser Beziehung durchaus nichts Näheres angibt
und nur von Beraubung der Willensfreiheit aus andern Gründen als äusserer
Zwang und gefährliche Drohungen spricht, führt das deutsche Strafgesetz
speciell krankhafte Störung der Geistesthätigkeit auf, durch welche die freie
Willensbestimmung ausgeschlossen war. Es kann daher nicht jede Art von
Geistesstörung oder Geisteskrankheit Straflosigkeit nach sich ziehen, sondern
nur eine solche, durch welche die freie Willensbestimmung aufgehoben wird.
Das bernische Strafgesetz und das deutsche ergänzen sich in sehr passen-
der Weise. Im ersten ist die Unbewusstheit der Strafbarkeit einer Handlung,
im letztern die Aufhebung der Willensfreiheit deutlich gekennzeichnet. Es
bleibt nur noch näher zu erörtern die Unfreiheit des Willens, was in
das Gebiet der gerichtlichen Psychopathologie gehört, da es sich ja um eine
Geisteskrankheit handelt.
Bei der Unfreiheit des Willens kommen selbstverständlich die-
jenigen psychischen Functionen in Betracht, durch welche die Willens-
bestimmung vermittelt wird, und dahin gehören diejenigen complicirten Func-
tionen, auf welchen die Bildung von Vorstellungen nach äussern und Innern
Einwirkungen, weiterhin die Bildung von Begriffen, Urtheilen und Schlüssen
auf Grund der entstandenen Vorstellungen beruht.
Bei geistig Gesunden entsprechen die gebildeten Vorstellungen den wirk-
lichen Verhältnissen und einer richtigen Auffassung derselben mit logischer
Verb ndung zu Begriffen, Urtheilen und Schlüssen. Und kommen aus Un-
kennitnis Irrthümer vor, so lassen sich diese durch Belehrung und Aufklärung
beseitigen, nicht aber so bei einer gewissen Classe von Geisteskranken, die
ganz besonders hieher gehören, und das sind die an Wahnvorstellungen Lei-
denden. Es gibt Menschen, bei welchen der erwähnte normale Vorgang bei
der Bildung der Vorstellungen fehlt, und zwar nicht aus Geistesschwäche oder
psychischer Insufficienz, sondern infolge von Abnormitäten der psychischen
Thätigkeiten bei den verschiedenen Geistesoperationen, so dass unrichtige
Vorstellungen, Begriffe, Urtheile und Schlüsse entstehen, die augenscheinlich
auf einen krankhaften Zustand der die psychischen Functionen vermittelnden
ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 1075
Hirnelemente hinweisen. Solche Menschen fassen unrichtig auf, den wirk-
lichen Verhältnissen nicht entsprechend, daher auch ihre weiteren Fol-
gerungen verkehrte sind, und eine psychische Correctur derselben ist nicht
möglich. Von solchen Menschen erhalten wir den Eindruck, dass sie nicht
mehr richtig denken, und ihre Vorstellungen haben für uns den Charakter
von Wahnvorstellungen.
In diesem Sinne kann man die betreffende Störung der Geistesthätigkeit
als Wahnsinn bezeichnen, welcher auch von Seite der Gesetzgebungen ge-
wöhnlich darunter verstanden wird. Unter solchen psychischen Verhältnissen
begangene gesetzwidrige Handlungen, können nicht mehr als aus freier
Willensbestimmung hervorgegangene bezeichnet werden, sondern sind Hand-
lungen, welche unter der Herrschaft von Wahnvorstellungen, also
nicht mit freier Willensbestimmung ausgeführt worden sind. Solche Menschen
sind daher unzurechnungsfähig.
Die Fähigkeit der freien Willensbestimmung setzt voraus, dass der
Betreffende absehend von äusserm Zwange etwas thun oder lassen kann, je
nach den Vorstellungen, Begriffen, Urtheilen und Schlüssen, welche derselbe in
Bezug auf Ausführung oder Unterlassung der in Frage stehenden Handlung
bildet. Die Erwägung der hier in Betracht kommenden Verhältnisse setzt
diejenige psychische Function voraus, bei welcher die auf die Handlung sich
beziehenden Vorstellungen auf einander einwirken, was man Ueberlegung
nennt, wodurch der Betreffende zu einem Entschluss kommt, der das Wollen
begründet. Die Realisirung dieses WoUens, insofern es in einer Handlung be-
steht, setzt dann weiterhin psycho-motorische Thätigkeit voraus, welche das
Gewollte in motorische Actionen umsetzt, d. h. in eine Handlung.
Dem freien Willen muss daher stets zur Ausführung einer Handlung
eine Denkoperation vorangehen, wenn auch eine kurze, was Denk-
fähigkeit und Ueberlegung voraussetzt, die bei höheren Graden von
Schwachsinn fehlen, so dass deshalb bei höheren Graden des Schwachsinns
die freie Willensbestimmung und daher auch die Zurechnungsfähigkeit aus-
geschlossen sind.
Ausnahmsweise kommt es auch vor, dass bei krankhafter Erregung oder
Depression der psychischen Thätigkeiten, wie bei Zorn, Wuth, Furcht oder
Schreck eine Erwägung der Handlung ganz ausfällt und diese gleichsam re-
flectorisch unmittelbar nach der äusseren Einwirkung erfolgt, wohin Hand-
lungen in den höchsten Graden des Affectes gehören, so dass auch hier von
einer freien Willensbestimmung, ohne Einwirkung von Wahnvorstellungen,
gleichfalls keine Rede sein kann. Doch muss der Affect, um Straflosigkeit zu
begründen, nicht immer im höchsten Grade bestanden haben, sondern es muss
ein eigentlich krankhafter gewesen sein.
Zu erwähnen ist noch, dass einige Gesetzgebungen eine vermindert e
Zurechnungsfähigkeit annehmen, welche eine Herabminderung des Straf-
maasses zur Folge haben, was insofern zweckmässig erscheinen muss, als
namentlich bei transitorischen Bewusstseinsstörungen, zumal bei den so häufig
vorkommenden alkoholischen, die Unbewusstheit der Stratbarkeit einer Hand-
lung keineswegs immer eine so vollständige ist, dass Annahme gänzlicher
Unzurechnungsfähigkeit zu rechtfertigen wäre.
Bernisches Strafgesetz Art. 43. Wenn das Bewusstsein oder die Willensfreiheit
nicht ganz aufgehoben, sondern nur gemindert ist, so kann statt der Todes- oder lebens-
länglichen Zuchthausstrafe Zuchthaus von mindestens einem oder höchstens zwanzig Jahren
verhängt werden.
Uebersicht
der Dispositions- und Zurechnungsfähigkeit ausschliessenden
psychischen Zustände.
1. Die psychische Insufficienz.
Das Gehirn als Functionsorgan sämmtlicher psychischer Thätigkeiten
erlangt erst nach und nach, nach einer Reihe von Jahren, denjenigen Grad
68*
1076 ZURECHNÜNGSFÄHIGKEIT.
der Entwicklung und Ausbildung, dass das Individuum als dispositions- und
zurechnungsfähig angesehen werden könnte, und nehmen daher alle Gesetz-
gebungen sowohl für das Civil- als Strafrecht ein gewisses Alter an für
Dispositions- und Zurechnungsfähigkeit. Ehe das Individuum dieses Alter
erreicht hat, sind dessen geistige Fähigkeiten noch als insufficient zu be-
trachten, weshalb wir es für zweckmässig halten, diesen Zustand als psychische
Insufficienz besonders hervorzuheben, zumal sich dem Alter noch andere Zu-
stände der Insufficienz anschliessen.
Die gerichtliche Medicin würde bei diesen gesetzlich normirten Alters-
bestimmungen wenig in Anspruch genommen werden, wenn nicht unter Um-
ständen für gewisse Altersperioden medicinische Untersuchungen nothwendig
werden könnten und wenn nicht ausser dem Alter auch noch ein normaler
psychischer Zustand verlangt würde.
Die Altersbestimmungen, insoweit sie für die Dispositionsfähigkeit
in Betracht kommen, sind schon oben bei dieser näher angegeben worden.
Es hat sich dabei ergeben, dass hier in Bezug auf den Eintritt dieser Fähig-
keit eine gewisse Succession besteht und erst mit dem 21. oder 24. Lebens-
jahre dieselbe vollständig eintritt.
Anders verhält es sich mit der Altersgrenze in Bezug auf den Eintritt
der Zurechnungsfähigkeit und der Strafbarkeit. Hier ist so ziem-
lich allgemein von den Gesetzgebungen, welche hier in Betracht kommen
können, das zwölfte Altersjahr angenommen, wie die folgenden gesetzlichen
Bestimmungen ergeben.
Bernisches Strafgesetz Art. 44. Kinder, die im Augenblick der Begehung einer
strafbaren Handlung das 12. Altersjahr noch nicht zurückgelegt haben, können nicht straf-
rechtlich verfolgt werden.
Deutsches Strafgesetz § 55. Wer bei Begehung der Handlung das 12. Lebensjahr
noch nicht vollendet hat, kann wegen derselben nicht strafrechtlich verfolgt werden.
Oesterreichiseher Strafgesetzentwurf § 60. Unmündige, welche bei Begehung
einer Handlung das 12. Jahr noch nicht zurückgelegt haben, können wegen derselben
strafrechtlich nicht verfolgt werden.
Die Gesetzgebungen gehen aber noch weiter in Bezug auf strafrecht-
liche Verfolgung, indem sie für begangene gesetzwidrige Handlungen nach
zurückgelegtem 13. Lebensjahr noch eine weitere Frist nehmen, und zwar bis
zum 16. und 18. Lebensjahr, in welcher die strafrechtliche Verfolgung erst
nach Vorausgang einer sachverständigen Untersuchung eintreten kann.
Bernisches Strafgesetz Art. 45. Wenn ein Angeschuldigter im Augenblicke der
Begehung einer strafbaren Handlung das 16. Altersjahr noch nicht zurückgelegt hatte, so
ist zu entscheiden, ob er mit oder ohne Unterscheidungskraft gehandelt hat.
Wird entschieden, dass er ohne Unterscheidungskraft gehandelt hat, so soll er frei-
gesprochen werden. Erfordert jedoch die öffentliche Sicherheit die Anwendung von Sicher-
heitsmaassregeln gegen den Freigesprochenen, so soll die urtheilende Gerichtsbehörde beim
Regierungsrath einen sachbezüglichen Antrag stellen.
Deutsches Strafgesetz § 56. Ein Angeschuldigter, welcher zu einer Zeit, wo er das
12. aber nicht das 18. Lebensjahr vollendet hatte, eine strafbare Handlung begangen hat,
ist freizusprechen, wenn er bei Begehung derselben die zur Erkenntnis ihrer Strafbarbeit
erforderliche Einsicht nicht besass.
Der österreichische Strafgesetzentwurf § 61. Ebenso.
§ 62 gibt mildere Strafen an, wenn die zur Erkenntnis der Strafbarkeit der That
erforderliche Einsicht nicht bestand.
Man hat seiner Zeit in dem internationalen kriminalistischen
Congress in Bern die Frage aufgeworfen, ob es nicht zweckmässiger sei,
statt des 12. Lebensjahres das 14. zu setzen und dann auf allfällige spätere
Untersuchungen zwischen dem 12. und 16. oder 18. Lebensjahr zu verzichten.
Einfacher wäre dieses Verhältnis allerdings, ob aber dadurch der Vortheil,
den die freie Hand bietet, in zweifelhaften Fällen untersuchen zu können,
aufgewogen wird, ist eine andere Frage, und bei den grossen Verschieden-
heiten der Menschen gerade in diesen Entwicklungsperioden müsste ich gegen
jede Veränderung sein, welche den Anlass zu einer sachverständigen Unter-
suchung entnimmt.
ZÜRECHNÜNGSFÄHIGKEIT. 1077
Eine psychische Insufficienz wird aher nicht nur durch das Alter be-
gründet, sondern auch durch gänzlichen Mangel an Ausbildung der
psychischen Functionen, also durch Mangel jedweder Erziehung. Welchen
Einfluss das auf die geistige Entwicklung des Menschen haben kann, beweist
der grosse Unterschied zwischen unterrichteten und ununterrichteten Taub-
stummen. Indessen ist hier nicht bloss der Mangel an Unterricht gemeint,
sondern der Mangel, wenn dem betreifenden Individuum jeder Umgang
mit anderen durch Einsperrung unmöglich gemacht wird, indem hier jede
Selbstbildung durch Nachahmung ausgeschlossen ist. .Solche Beispiele von
eingesperrten Individuen schon von Kindheit an, sind äusserst selten. Ein
Beispiel gibt der so bekannt gewordene und jetzt noch nicht ganz aufgeklärte
Fall von Kaspar Hauser, der gegen 18 Jahre in solcher Lage abgeschlossen
gehalten, dann auf den Markt von Nürnberg gebracht, dort von der Polizei
aufgenommen und dann untersucht wurde, wobei sich ergab, dass der Be-
treflende ein ganz intelligenter aber jeder gesetzlichen Ordnung unbewusster
Mensch war. Später wurde Kaspar Hauser geheimnisvoll ermordet.
Die erste Anzeige der Auffindung dieses Menschen am 26. Mai 1828 auf einem öffent-
lichen Platze in Nürnberg lautete: Bekanntmachung (einen widerrechtlich in Gefangenschaft
aufgezogenen und gänzlich verwahrlosten, dann aber ausgesetzten jüngeren Menschen be-
treffend). Vom Magistrat der königlich bayerischen Stadt Nürnberg. 7. Juli 1828. Der erste
Bürgermeister : Binder. *)
Eine psychische Insufficienz, welche gerichtlich-medicinische Bedeutung
hat, wird durch angeborenen Mangel eines höheren Sinnesorganes
begründet. Hieher gehört in erster Linie die Taubstummheit. Werden
Taubstumme sich selbst überlassen, so bleibt die Entwicklung und Ausbildung
der psychischen Functionen, welche hauptsächlich die Intelligenz vermitteln,
so weit zurück, dass von ihnen Dispositionsfähigkeit nicht vorausgesetzt
werden kann.
Preussisches allgemeines Landr., Th. II, Tit. 18, §. 15. Taubstumm geborene, in
gleichen diejenigen, welche vor zurückgelegtem 14. Jahr in diesen Zustand gerathen sind,
müssen, sobald sie nicht mehr unter väterlicher Aufsicht stehen, vom Staate bevormundet
werden.
§ 818.- Die Vormundschaft über Taubstumme hört auf, wenn bei angestellter Unter-
suchung sich findet, dass sie zu der Fähigkeit, ihren Sachen selbst vorzustehen, gelangt sind.
Dagegen sind Taubstumme erfahrungsgemäss durch entsprechenden
Unterricht so Aveit zu bringen, dass sie einen höheren Grad von Bildung er-
langen und dadurch fähig werden können, über sich selbst zu disponiren und
die Strafbarkeit gesetzwidriger Handlungen einzusehen. Die Gesetzgebung
macht daher einen Unterschied zwischen ungebildeten und gebildeten Taub-
stummen. Die ersten werden den Unmündigen und strafrechtlich den Straf-
losen gleichgestellt.
Deutsches Strafgesetz § 58. Ein Taubstummer, welcher die zur Erkenntnis der
Strafbarkeit einer von ihm begangenen Handlung erforderliche Einsicht nicht besass, ist
freizusprechen.
Die gebildeten Taubstummen dagegen können nach vorgängiger sach-
verständiger Untersuchung sowohl als dispositionsfähig anerkannt, als auch
strafrechtlich verfolgt werden.
Bei derartigen Untersuchungen müssen meistens Taubstummenlehrer zu
Hilfe genommen werden. Die gesetzwidrigen Handlungen, welche von Taub-
stummen mitunter begangen werden, sind ausser Diebstählen nicht selten
Geschlechtsdelicte, wegen welcher wir mehrere Untersuchungen zu führen
hatten.
Der Taubstummheit reiht sich die Aphasie an, von der es verschiedene
Arten gibt. Bei derselben ist keineswegs nothwendigerweise die Intelligenz
beeinträchtigt, aber wegen Sprachunfähigkeit die Mittheilungsfähigkeit ein-
geschränkt, was in Bezug auf Dispositionsfähigkeit zur Folge haben kann,
*) Abgedruckt in: Kaspar Hauser, Des Eäthsels Lösung. Von Alex. v. Artin. Zürich
1892. S. 10.
1078 ZURECHNÜNGSFÄHIGKEIT.
dass der Betreffende, wenn er sich nicht hinreichend durch andere Mittel als
die Sprache verständlich machen kann, einer Vertretung durch einen Curator
bedarf.
Zur psychischen Insufficienz gehört auch die sogenannte moral in-
sanity, das moralische Irresein, welches von englischen Aerzten, namentlich
von Prichard *) als besondere Geistesstörung hervorgehoben und seitdem weiter
besprochen wurde. Man nimmt dabei an, dass diejenigen psychischen Centren,
welche das moralische Fühlen und Denken vermitteln, fehlen, so dass diese
Art von Vorstellungen gar nicht gebildet wird. Wie es Farbenblinde gibt,
so gebe es auch sittlich Blinde. Krafft-Ebing ""*) meint, ein Gehirn, dem
diese Fähigkeit abgeht, sei ein ab ovo inferior angelegtes, defectives, func-
tionell degeneratives, und liegen demselben meistens hereditäre Bedingungen,
Irresein, Trunksucht, Epilepsie der Erzeuger zu Grunde.
Wir können der Annahme eines moralischen Irreseins in Folge Mangels
gewisser psychischer Centren, welche den moralischen Sinn vermitteln sollen,
nicht beitreten, indem es keine Centren für so complicirte psychische Zu-
stände gibt, wie sie die ethischen und moralischen Gefühle voraussetzen.
Ebenso wenig gibt es im Sinne Lombrosos einen geborenen Verbrecher. Die
Fälle, welche als Beweise moralischen Irreseins aufgeführt werden, beziehen
sich weitaus in der Mehrzahl der Fälle auf schlecht erzogene und verwahr-
loste Individuen und nicht auf Geisteskranke. Ich stimme Krafft-Ebing voll-
kommen bei, wenn er meint, dass solche Menschen nicht ins Zuchthaus ge-
hören. Es kann aber auch ein solches angenommenes Irresein bei gesetz-
widrigen Handlungen nicht als Motiv zur Begründung einer Unzurechnungs-
fähigkeit verwandt werden.
Wie unbestimmt die Ansichten über dieses moralische Irresein sind, geht aus den
verschiedenen darüber ausgesprochenen Ansichten hervor, von welchen wir noch erwähnen,
dass Krafft-Ebing meint, das moralische Irresein sei keine eigene Form von Geistes-
krankheit, sondern nur ein eigenthümlicher Entartungsvorgang auf psychischem Ge-
biet, während Griesinger der Ansicht ist, dass das, was man mit moral insanity bezeichne
nur ein Symptom des Jugendirreseins sei, der sogenannten Hebephrenie u. s. w.
2. Blödsinn und Schwachsinn.
Mit Blödsinn bezeichnet man die höchsten Grade von Geistesschwäche,
welche Dispositions- und Zurechnungsfähigkeit vollkommen ausschliessen.
Derselbe beruht meistens auf angeborenen Missbildungen des Gehirns.
Diesem Zustande schliessen sich der Cretinismus und die Mikrocephalie
an, während man jenen als Idiotismus bezeichnet. Ein eigentliches Idioten-
gehirn gibt es übrigens nicht. Die Gehirne solcher Menschen zeigen die
verschiedensten Arten von Hemmungsbildungen in wechselnden Combinationen.
Häufig bestehen hydropische Zustände der Ventrikel mit Erweiterung derselben auf
Kosten der Hirnsubstanz, ferner Verkümmerung und Mangel einzelner Hirntheile, wie des
Balkens des fornix, der thalami optici, der corpora striata, der corpora candicantia
u. s, w. ferner Asymetrie der Hemispliären, Unregelmässigkeit und Unvollständigkeit
der Hirnwindungen, Heteropie grauer Hirnsubstanz, hypertrophische Zustände des Glia-
gewebes u. s. w.
Die Blödsinnigen werden gewöhnlich schon an ihrem Aeussern erkannt
und nähere Aufschlüsse über dieselben können nur durch Verwandte oder
Pflegeeltern erhalten werden. Mitunter handelt es sich um schwangere Per-
sonen, deren Zustand von den Angehörigen mitunter erst in späteren Perioden
der Schwangerschaft erkannt worden ist.
Mehr gerichtlich-medicinisches Interesse bietet der Schwachsinn, der
wesentlich in einer Schwäche derjenigen psychischen Functionen besteht,
welche die Intelligenz vermitteln. Die verschiedenen Verstandesoperationen,
Bildung von Vorstellungen, Begriffen, Urtheilen und Schlüssen können von
*) Treatise of the different forms of insanity. 1842.
**) L. c. p. 241.
ZURECHNÜNGSFÄHIGKEIT. 1079
den Betreffenden wohl ausgeführt werden, allein Alles geschieht in einer mehr
oder weniger beschränkten Weise und entspricht nicht dem gewöhnlichen,
natürlichen Menschenverstände. Die Vorstellungen gehen über die einfachsten
Verhältnisse nicht hinaus, die Begriffe fehlen entweder ganz oder sind sehr
mangelhaft, die Urtheile und Schlüsse sind beschränkt und vielfältig un-
richtig. Die ältere gerichtliche Medicin hat deshalb verschiedene Grade
geistiger Beschränkheit unterschieden, Dummheit, Stumpfsinn u, s. w., was
jedoch keine weiteren Anhaltspunkte für die Beurtheilung der bestehenden
Verhältnisse bietet, weshalb solche Unterscheidungen auch verlassen sind.
Man muss jeden einzelnen Fall in concreto mit Berücksichtigung der in Frage
kommenden Verhältnisse beurth eilen.
Am häuiigsten betreffen derartige Untersuchungen die Dispositions-
fähigkeit eines Individuums in Bezug auf Testiren oder Ehefähigkeit, und
es wird sich leicht ergeben, ob der betreffende ein Verständnis von einem
Testament, von der Bedeutung eines Ehebündnisses, von der Kindererziehung
u. s. w. hat. Dabei wird man auch den Bildungsgang des Betreffenden berück-
sichtigen, ob er Schulen besucht hat, seiner Zeit unterwiesen worden ist,
u. s. w.
Seltener kommt der Schwachsinn bei der Frage über Zurechnungs-
fähigkeit in Betracht, und ist dann die gesetzwidrige Handlung haupt-
sächlich zu berücksichtigen bezüglich ihrer Motive. So hatten wir von einem
Brandstifter, der einen Hausbrand herbeiführte, indem er sein Bett angezündet
hat, auf die Frage nach dem Motiv zu dieser That zur Antwort erhalten, dass
ihn Flöhe und Wanzen so geplagt hätten, und als man ihn auf die schweren
Folgen seiner That wegen der dadurch veranlassten Unkosten zur Rede stellte,
gab er Entschuldigungen an, die bewiesen, dass er nicht die geringsten Kennt-
nisse von derartigen Verhältnissen hatte. Dagegen kommt bei verbrecherischen
Handlungen, die mit hohen Strafen bedacht sind, nicht selten Simulation vor
und ist die Entlarvung der Betreffenden nicht immer leicht.
Wir haben einen Fall genauer kennen gelernt, in welchem ein Raubmörder, der zum
Tod verurtheilt wurde, unmittelbar nach der That die Rolle eines dem Blödsinn nahe
stehenden Menschen spielte, und zwar fast ein ganzes Jahr hindurch, trotzdem, dass man
während einiger Wochen ihn mit einem Mitgefangenen zusammenliess, so gut, dass zwei
Professoren, welche ihn zu untersuchen hatten, bis zur Assissenverhandlung von ihm
getäuscht worden sind. Vor dem Schwurgericht erklärte er dann, dass es ihm leid sei,
die Herren Professoren so getäuscht zu haben. Er wurde hingerichtet, hatte aber kein
Bekenntniss abgelegt.
3. Wahnsinn, Paranoia.
Blödsinn, Schwachsinn und Wahnsinn gehören zu denjenigen psychischen
Störungen, welche von den Gesetzgebungen zunächst hervorgehoben werden
als Zustände, welche Dispositionsfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit aus-
schliessen. Während die Unbewusstheit der Strafbarkeit einer gesetzwidrigen
Handlung vorzüglich bei der psychischen Insufficienz und dem Schwachsinn
eine Ptolle spielen, die namentlich bei der Dispositionsfähigkeit in Betracht
kommt, so ist die Unfreiheit des Willens als Folge von Geisteskrankheit in
der oben auseinandergesetzten Weise die wichtigste und häufigste psychische
Störung, welche Unzurechnungsfähigkeit bedingt.
Der Wahnsinn ist nicht angeboren und tritt in verschiedener Weise,
bald nur allmählich häufig unter dem Bilde einer Gemüthskrankheit, bald
plötzlich mitunter nach einem maniakalischen Anfall auf, und sind die Wahn-
vorstellungen entweder allgemein oder, der viel häufigere Fall, nur auf einzelne
Vorstellungsgebiete beschränkt.
Häufig gehen dem beschränkten Wahnsinn sogenannte Zwangsvor-
stellungen vorher, die nach und nach zu fixen werden. Der Inhalt der
Wahnvorstellungen bei beschränktem Wahnsinn kann ausserordentlich ver-
schieden sein, und unterscheidet man darnach eine ganze Reihe von Wahn-
1080 ZÜRECHNÜNGSFÄHIGKEIT.
sinnsformen, den religiösen, erotischen, politischen Wahnsinn, den
Grössenwahn, den Verfolgungswahn, den Querulantenwahn
u. s. w. Dass die klinischen Bilder der Wahnsinnigen nach den dem Wahn
zu Grunde liegenden Vorstellungen sehr verschieden sein werden, ist leicht
verständlich. In forensischer Hinsicht ist der wichtigste Nachweis der, dass
Wahnvorstellungen, welcher Art nun immer, vorhanden sind.
Selten bestehen die Wahnvorstellungen nur für sich allein, ohne ander-
weitige psychische Störungen, welche den Zustand compliciren, und zwar sind
es psychische Erscheinungen im Gebiete des Empfindens und Fühlens,
oder sie beziehen sich auf die Gemüthsstimmung, oder sie betreffen die
W i 1 1 e n s äu s s er u n g e n.
Ganz gewöhnlich kommen bei Wahnsinnigen Sinnestäuschungen vor,
welche alle Sinnesorgane betreffen können, am auffälligsten sind sie aber bei den
höheren Sinnen, beim Gesicht und Gehör, als sogenannte Hallucina-
tionen und Visionen, je nachdem der Täuschung ein reales Object nicht zu
Grunde liegt (Hallucination), oder aber ein solches besteht, das zu falschen
Vorstellungen Anlass gibt (Vision). Die Betreffenden sehen oder hören irgend
etwas, das von Andern nicht gesehen oder gehört wird, und lassen sich nicht
aulklären. Etwas Aehnliches kommt auch als Täuschung des Gemein-
gefühls vor, indem die Betreffenden ihren Körper unrichtig fühlen. So ist
es vorgekommen, dass ein Wahnsinniger sich für doppelt hielt, ein anderer
glaubte, aus Glas zu bestehen. Ich hatte einen gebildeten Geistlichen wegen
Unterbringung in eine Irrenanstalt zu untersuchen, der angab, dass er im
Unterleib unerträgliche Schmerzen empfinde, und doch konnte objectiv auch
nicht das Geringste an den Unterleibsorganen wahrgenommen werden. Dass
es eine Wahnvorstellung war, ergab sich daraus, dass er behauptete, in Folge
dieser Schmerzen unfähig zu sein, zu gehen, zu stehen, zu liegen, überhaupt
irgend etwas zu thun, während das thatsächlich ganz unrichtig war.
Die Gemüthsstimmung ist mehr oder weniger verändert, und zum
Theil abhängig von der herrschenden Wahnidee. Eine deprimirte Gemüths-
stimmung ist mitunter eine so auffällige Erscheinung, dass man nicht von
Geisteskrankheit, sondern von Gemüthskrankheit spricht. Doch ist ein
melancholischer Zustand noch keine Geistes- oder Gemüthskrankheit,
die an und für sich Unzurechnungsfähigkeit begründen könnte, wenn nicht
zugleich Wahnideen vorhanden sind, d. h. wenn nicht melancholischer Wahn-
sinn besteht. Bei Melancholischen ist daher nicht bloss der deprimirte Ge-
müthszustand zu constatiren, sondern zugleich die Existenz von Wahnvor-
stellungen. Die Angstgefühle in der Präcordialgegend sind mitunter so stark,
dass sie zu einem wahren Raptus melancholicus sich steigern, der leicht
zu Selbstmord führen kann.
In die Kategorie der melancholischen Gemüthsstimmung gehört auch
das sogenannte Heimweh, die Nostalgie, welche besonders den Schweizern
bekannt ist. Wenn nicht diesem deprimirten Gemüthszustand corrigirende
Vorstellungen entgegenwirken, kann leicht daraus ein melancholischer Wahn-
sinn sich bilden.
Die Abnormitäten in den Willensäusserungen Wahnsinniger, die
als solche besonders hervortreten, sind theils maniakalische Anfälle
(Raserei, wie die Gesetzgebungen sich ausdrücken), theils gänzliche W i 1 1 e n-
losigkeit (Abulie), die selten vorkommt, absehend von toxischen Einwir-
kungen, theils endlich besondere, sogenannte krankhafte Triebe (Mono-
manien).
Diese Monomanien haben in der gerichtlichen Medicin eine Zeitlang
eine grosse Rolle gespielt, indem durch ihre Annahme eine Menge gesetz-
widriger Handlungen auf Wahnsinnserscheinungen zurückgeführt und dadurch
entschuldigt wurden. So wurden Brandstiftungen, Diebstähle, schamlose
ZüRECHNÜNGSFÄHlGKEIT. 1081
Handlungen, selbst Morde u. s. w. durch Annahme einer Pyromanie, Klepto-
manie, Aidoiomanie, Mordmanie u. s. w. als unzurechnungsfähige Handlungen
hingestellt. Es ist ein Verdienst Caspars *), dieser Annahme isolirter krank-
hafter Triebe als Unzurechnungsfähigkeit begründender psychischer Zustände
entgegengetreten zu sein, da sie in dieser Weise gar nicht vorkommen,
sondern mit allgemeinen psychischen Störungen in Zusammenhang stehen,
von welchen sie nur ein hervortretendes Symptom sind, und der Trieb keines-
wegs immer auf Wahnvorstellungen beruht.
Die Untersuchung Wahnsinniger hat mitunter Schwierigkeiten. Zwar
kommt hier Simulation viel seltener vor als bei Schwachsinnigen. Dagegen
ist es bei beschränktem Wahnsinn zuweilen schwierig, die beherrschenden
Wahnideen ausfindig zu machen, indem der Betrettende durch den Fragenden
in einem gewissen Ideenkreise gehalten wird. Wir fanden es daher in ein-
zelnen Fällen zweckmässiger, den zu Untersuchenden seinen eigenen Gedanken
zu überlassen, dadurch dass wir ihn beauftragten, uns einen kurzen Bericht
über seinen Krankheitszustand zu machen. Zur Illustration theile ich aus
dem Briefe eines Wahnsinnigen, der an erotischem Wahnsinn litt, Nachstehen-
des mit.
Der Betreffende, ein Kaufmann, hatte sich in die Tochter des Arztes seiner Ortschaft
verliebt. Er war arm, der Vater der Tochter 'vermöglich. Aus der Heirat wurde nichts,
infolge dessen wurde der Bewerber geisteskrank, und sollte in einer Irrenanstalt unter-
gebracht werden. Ich hatte ihn deshalb zu untersuchen, was in Gegenwart mehrerer
meiner Zuhörer geschah, die fanden, dass der Betreffende auf meine Fragen eigentlich
ganz vernünftig antwortete. Er schrieb den Abschlag seiner Bewerbung seiner Vermögens-
losigkeit zu. Ich ersuchte ihn nun, wegen Mangels an Zeit mir in Kürze einen schrift-
lichen Bericht über seinen Zustand zukommen zu lassen, und erhielt darauf einen Brief
von mehreren Quartseiten mit einem Vorwort, von dem ich den Anfang mittheile.
„Vorwort. Titelblatt.
Sie empfangen hiemit ehrerbietig gewünschtes Begleitschreiben ad acta in verbesserter
erneuter Auflage.
Stichhaltiges Figur, Zeigerblatt (Hochzeit), Reichthum und Armuth, jovialer, naiver,
gesunder logischer Verstand war von jeher mein System; vis a vis:
Schüpbach (so hiess der Vater der Tochter) Lohry (der Name des Arztes, bei dem
er früher untergebracht war) und Zimmermann (der Advocat, welcher bei der Angelegen-
betheiligt war) im Rüttli.-Bunde.
Solon der Gesetzgeber der Weise, soll in Ihnen durch Sie für meine Sache die un-
natürliche, gottverdammte Entscheidung treffen und Fahndung veranstalten.
Lesen, prüfen Sie nach der Ihnen so vortheilhaft verliehenen Gabe des Geistes und
der Seele: Göttliches Wesen," höherer Theologie. Professor. Ursprungs himmlischer Kraft.
Prüfen Sie recht und tief: Sie forschen hier Juris Medicinischen (Prudenz). Nehmen
Sie warmen Antheil an meinem traurigsten materiellen Schicksal. Ich fliehe zu Euch, Ihr
Autoren um Hülfe und Beistand activ nicht formellen. Lesen Sie ohne Unterlass und
werdet trotzdem nicht müde. Sie werden sich beiderseits belohnt finden; der heutige Tag
ist national, sehr eidgenösisch u. s. w." Nun folgt erst der Brief.
Als ich diesen Bericht meinen Studirenden mittheilte, waren sie nun anderer Ansicht.
Hat die Beurtheilung des psychischen Zustandes eines Angeschuldigten
Schwierigkeiten, so weisen die meisten Strafprocessordnungen darauf hin, dass
die Betreffenden zu weiterer Beobachtung in eine öffentliche Irrenanstalt
untergebracht werden können, wobei eine gewisse Zeit für diesen Aufenthalt
in der Anstalt festgesetzt Mird, was ich für sehr zweckmässig halte.
Deutsche Strafprocessordnung § 87. Zur Vorbereitung eines Gutachtens über den
Zustand des Angeschuldigten kann das Gericht auf Antrag eines Sachverständigen nach
Anhören des Vertheidigers anordnen, dass der Angeschuldigte in eine öffentliche Irren-
anstalt gebracht und dort beobachtet werde. Die Verwahrung in der Anstalt darf die
Dauer von sechs Wochen nicht überschreiten.
4. Transitorische psychische Zustände von Unbewusstheit und Unfreiheit
des Willens.
Es gibt eine ganze Reihe derartiger Zustände, bei welchen Dispositions-
fähigkeit und Zurechnungsfähigkeit in Frage kommen, so dass gerichts-
ärztliche Untersuchungen noth wendig werden.
*) Lehrbuch, I. 1881. S. 693.
1082 ZÜRECHNUNGSFÄHIGKEIT.
Diese psychischen Zustände beziehen sich theils auf Alterationen
normaler psychischer Functionen, wohin die Affecte, die Mania transitoria
die Schlaftrunkenheit und das Nachtwandeln gehören, theils auf toxische
Einwirkungen und ilire Folgen, wie Alkoholismus, Morphinismus,
Cocainismus u. s. w., theils stehen sie mit gewissen Krankheitszuständen
in Zusammenhang, wie das hysterische, hypochondrische, epileptische Irresein
u. s. w. Diesen Zuständen reihen sich auch solche an, welche mit gewissen
Entwicklungsperioden des Körpers, oder mit der Menstruation, mit
dem Puerperalzustand u. s. w. in einer Verbindung stehen.
a) Alterationen normaler psychischer Functionen.
1. Affecte sind Alterationen der Siimmmungszustände des Bewusstseins
mit dem Charakter der Depression, wie Furcht, Schreck oder der Exaltation,
Zorn, Wuth. Gerichtlich-medicinisch haben diese Affecte grössere Bedeutung,
da gesetzwidrige Handlungen so häufig im Affect begangen werden, namentlich
in einem aufgeregten, exaltirten Zustande, und dieser Umstand bei der straf-
rechtlichen Beurtheilung des Falles verminderte Zurechnungsfähigkeit, ja unter
Umständen selbst gänzliche Unzurechnungsfähigkeit und daher Straflosigkeit
zur Folge haben kann.
Preussisches allgemeines Landrecht, Theil I, Titel 4. § 29. Den Wahnsinnigen gleich
zu achten sind diejenigen, welche durch Schrecken, Furcht, Zorn oder andere heftige
Leidenschaften in einen Zustand versetzt werden, worin sie ihrer Vernunft nicht mächtig
waren.
Deutsches Strafgesetz § 54. Die üeberschreitung der Nothwehr ist nicht strafbar,
wenn der Thäter in Bestürzung, Furcht oder Schrecken über die Vertheidigung hinaus-
gegangen ist.
Wenn nun schon auch geringe Grade von Affectzuständen zur Annahme
mildernder Umstände bei Beurtheilung gesetzwidriger Handlungen führen
können, so kann völlige Straflosigkeit bei Affect doch nur dann eintreten, wenn
derselbe in dem Grade besteht, dass der Betreffende seines Vernunftgebrauches
gar nicht mehr mächtig ist, also gar nicht mehr weiss, was er thut, d. h.
wenn der Affect nach Intensität und Dauer ein pathologischer ist. Die
einen solchen Zustand indicirenden Erscheinungen beziehen sich hauptsächlich
auf das vasomotorische Centrum, durch welches bald plötzliche Ueberfüllung des
Gehirnes und Gesichtes mit Blut, daher rothes Gesicht, oder im Gegentheil
Anämie des Gehirns mit Gesichtsblässe vermittelt werden, welche Störungen
in der Hirncirculation entweder einen maniakalischen Affect oder einen ohn-
machtähnlichen Zustand hervorbringen. Charakteristisch für solche Affecte
ist, dass die Betreffenden sich des Geschehenen gar nicht mehr näher er-
innern, auch nicht einmal der Veranlassung dazu. Für solche Affecte haben
besonders etwas Schwachsinnige eine Disposition.
Zur Feststellung des Thatbestandes eines pathologischen Affectes muss
natürlich die Veranlassung desselben, und der Zustand des Betreffenden während
des Affectes näher gekannt sein, ferner auch ob erbliche Anlage dazu vor-
handen ist, ob schon mehrmals Anfälle der Art vorgekommen sind, wie sich
die Intelligenz des Betreffenden verhält, und endlich ist auch noch die Art
der im Affect ausgeführten Handlung näher ins Auge zu fassen, welche zu-
weilen eine ganz unvernünftig ausgeführte, sinnlose erscheint, wie z. B. in
nachstehendem Falle, den wir vor dem Schwurgericht zu vertreten hatten.
Ein jüngeres, nicht gerade sehr intelligentes aber gebildetes Fräulein nahm in England
eine Stelle als Erzieherin an. Dort wurde die Dame geschwängert, ohne dass sie, wie es
scheint, eine Ahnung davon gehabt hat. Nach mehr als einem Jahr kehrte sie zurück in
einem ziemlich beleibten Zustande. Weder die junge Dame noch ihre Anverwandte, eine
Frau Pfarrerin, bei der sie war, hatten eine Ahnung von ihrem Zustande, auch durfte
Niemand an eine Schwangerschaft denken. Als eines Morgens die Frau Pfarrerin in das
Zimmer der jungen Dame kam, die noch im Bette lag, sah sie zu ihrem Schrecken, dass
diese ein neugeborenes Kind vor sich hatte, welches sie durch Faustschläge, Kratzen,
Zusammendrücken u. s. w. zu tödten versuchte. Das Fräulein war in einem ganz exaltirten
Zustand und konnte keine Auskunft geben. Man nahm ihr das Kind aus den Händen,
ZURECHNÜNGSFÄHIGKEIT. 1083
das noch lebte, und Hess sofort eine Hebamme kommen zur Besorgung des Kindes, allein
dasselbe war so verletzt, dass es bald starb. Bei der gerichtlichen Section fanden sich
an dem Kinde eine Menge von Verletzungen, namentlich Quetschungen, Kratzwunden
auch Fracturen der Schädelknochen. Wir mussten uns namentlich über den psychischen
Zustand der Betreffenden aussprechen, und sprachen uns mit Berücksichtigung der hier
in Betracht kommenden Verhältnisse, besonders auch des sinnlosen Versuches der Kindes-
tödtung dahin aus, dass diese Handlung in einem hochgradigen Affect begangen worden
sei. Das Fräulein wurde freigesprochen.
2. Maiiia transitoria. Darunter begreift man einen maniakalischen Anfall
von verschiedener Dauer bei voller Gesundheit des Betreuenden vor und nach
dem Anfall, ohne nachweisbare Veranlassung, lediglich in Folge einer plötzlich
eingetretenen Hyperämie des Gehirns mit eintretender Bewusstlosigkeit und
folgender gänzlicher Amnesie. Ob solche reinen, mit keiner Krankheit zu-
sammenhängenden maniakalischen Anfälle vorkommen, ist zweifelhaft, Casper "^")
sagt: es gibt keine eigene Species von Tobsucht, keine sogenannte Mania
transitoria. Krafft-Ebing **) will gerade nicht soweit gehen, erklärt die
Krankheit aber für selten und meint, dass die meisten sogenannten Fälle,
welche als transitorische Manie bekannt gemacht werden, Fälle von epileptischem,
hysterischem und alkoholischem transitorischem Irresein gewesen seien.
3. Die Schlaftrunkenheit (somnolentia) ist ein Dämmerzustand zwischen
Schlaf und Wachen. Bekanntlich sind die Menschen bezüglich des Aufwachens
aus dem Schlafe sehr verschieden, und geschieht das bald rasch, fast augen-
blicklich, bald aber auch sehr langsam und schwer und hängt nicht bloss von
individuellen constitutionellen Verhältnissen ab, sondern auch von zufällig
eingetretenen körperlichen Zuständen, z.B. nach starker Ermüdung, nach Alkohol-
genuss u. s. w. Wenn unter solchen Verhältnissen Umstände eintreten, welche
einen Schlaftrunkenen zu einem raschen Handeln veranlassen können, so ist
klar, dass diese Handlungen ganz unüberlegte und sinnlose sein können.
Die wenigen bekannt gewordenen Fälle beziehen sich meist auf gewaltsame
Tödtungen. Man wird unter solchen Verhältnissen den psychischen Zustand
vor, während und nach der That möglichst genau zu untersuchen und fest-
zustellen haben, um sicher zu sein, dass nicht simulirt worden ist.
4. Schlafwandeln {Somnamhulismus) ist der eigenthümliche, namentlich
bei jüngeren Individuen zeitweise auftretende Traumzustand, in welchem die
Träumenden, wenn der Traum Locomotionen betrifft, nicht liegen bleiben,
sondern fortträumend di^ Locomotionen und andere damit verbundene Körper-
bewegungen ausführen, dann, wenn sie auf ihrem Gange nicht aufwachen oder
aufgeweckt werden, in ihr Lager zurückkehren und fortschlafen. Beim Er-
wachen erinnern sie sich wohl des gehabten, meistens sehr lebhaften Traumes,
aber nicht, dass sie gewandelt sind und irgend etwas gemacht haben. Diese
Anfälle wiederholen sich bald öfters, bald kommen sie auch nur vereinzelt vor.
Ich erinnere mich in meinem Leben einmal geschlafwandelt zu haben in meinen
jüngeren Jahren bei einem Aufenthalte in Paris. Mein Bett stand an der gegenüber einem
Fenster gelegenen Wand des Zimmers, das eine Tiefe von 8"5m hatte. Ich träumte lebhaft,
dass ich mit Freunden eine Fusstour gemacht und dabei eine Ruine mit einem noch gut
erhaltenen Burgverlies besucht habe. Der Eingang war durch eine Thür verschlossen.
Nach Oeffnung derselben konnte man auf einem Balken über die Tiefe des Thurmes zu
einem gegenüberliegenden Fenster gehen. Ich ging hinüber, und als ich zurückkam, fand
ich die Thüre verschlossen und meine Freunde fort. Ich ging auf dem Balken zurück,
öffnete das Fenster und rief so laut ich nur konnte nach meinen Freunden, da erwachte
ich an meiner Stimme und fand mich am geöffneten Fenster des Zimmers. Glücklicher-
weise hatte Niemand im Hause mein Rufen gehört. Ich war nach diesem Ereignis sehr
aufgeregt, hauptsächlich wegen der fatalen Situation, in der ich mich im Traume befand.
Zuverlässige Mittheilungen über verbrecherische Handlungen, in somnam-
bulem Zustande begangen, welche zu gerichtsärztlichen Untersuchungen ge-
führt hätten, sind nur wenige bekannt. Man erzählt Beispiele von Diebstählen,
in diesem Zustande begangen, auch von Schwängerung eines Mädchens durch
*) L. c. p. 579 —
**) L. c. p. 561. Bei Maschka IV.
1084 ZÜRECHNÜNGSFÄHIGKEIT.
einen Prediger, ferner von Simulationen u. s. w. *) Dass übrigens schwere
Verbrechen in einem somnambulen Zustande begangen werden könnten, beweist
folgender von Legeand du Saülle**) mitgetheilter Fall.
In einem Kloster kam ein Mönch, als Schlafwandler bekannt, Nachts in das Zimmer
des Priors, der noch am Arbeitstisch sass. Der Mönch hatte ein Messer in der Hand, die
Augen offen, ging geraden Wegs gegen das Bett des Priors, tastete nach dessen Körper,
stach dreimal das Messer in das Bett und kehrte wieder in seine Zelle zurück. Am Morgen
erzählte er dem entsetzten Prior, dass er geträumt habe, dieser habe seine Mutter getödtet,
deren blutiger Schatten sei ihm erschienen, um ihn zur Rache aufzufordern. In Folge
dessen habe er den Prior erdolcht. Bald darauf sei er in seinem Bett erwacht und habe
Gott gedankt, dass es nur ein Traum gewesen sei. Der Prior erzählte ihm dann das Ge-
schehene.
Es ist leicht einzusehen, dass das Schlafwandeln zur Entschuldigung von
begangenen gesetzwidrigen Handlungen leicht vorgeschützt werden kann, und
dass dann eine gerichtsärztliche Untersuchung nothwendig werden kann, wobei
ausser der Individualität noch Alter, Geschlecht, constitutioneile Verhältnisse,
anderweitige Krankheiten, ganz besonders auch die Ausführung der Hand-
lung zu berücksichtigen wären.
b) Toxische Psychosen.
Unter diesen, welche unter Umständen Unbewusstheit und Unfreiheit
des Willens herbeiführen können, ist die wichtigste der Alkoholismus,
wovon drei Zustände zu unterscheiden sind, die Trunkenheit, der
Säuferwahnsinn und die Trunksucht.
Die Trunkenheit ist eine sehr häufig vorkommende psychische Störung
in Folge von Alkoholgenuss, welche in der gerichtlichen Medicin eine grosse
Rolle spielt, indem weitaus die grösste Zahl gesetzwidriger Handlungen der
verschiedensten Art in einem Zustande von Betrunkenheit begangen werden
und diese bei der strafrechtlichen Beurtheilung des Falles in Betracht gezogen
werden muss, wie sich aus nachstehenden gesetzlichen Bestimmungen ergibt.
Preussisches allgemeines Landrecbt Theil I, Titel 4, § 28. Personen, welche durch
den Trunk des Gebrauchs ihrer Vernunft beraubt werden, sind, solange ihre Trunkenheit
dauert, den Wahnsinnigen gleich zu achten.
Oesterreichischer Strafgesetzentwurf § 452. Wer im Zustande einer! die Zu-
rechnung ausschliessenden vollen Trunkenheit eine Handlung verübt, welche das Gesetz
mit einer Verbrecherstrafe bedroht, ist mit Haft zu bestrafen.
Die Trunkenheit kommt in sehr verschiedenen Graden vor, von der
ersten leichten Erregung des Gehirns und Nervensystems bis zu den höheren
und höchsten Graden, also bis zur psychischen Exaltation und schliesslich
folgenden Depression der Hirnthätigkeit mit Eintritt von Bewusstlosigkeit.
Aus dem Vorkommen so verschiedener Grade der Berauschung ergibt sich
ganz besonders die Nothwendigkeit der Unterscheidung einer verminderten
Zurechnungsfähigkeit, indem man einen ganz nüchternen Menschen nicht wohl
mit einem angetrunkenen, dessen Sinnesthätigkeit bereits unsicher geworden
ist, in derselben Weise strafrechtlich behandeln kann.
In gerichtlichen Fällen ist es daher von Wichtigkeit, den Grad der Be-
rauschung festzustellen, wozu in der Regel richterliche Erhebungen noth-
wendig sind über den Zustand, in welchem sich der Berauschte befunden
hat, über die Art und Menge des genossenen Getränkes und über die Zeit,
in welcher der Betrefiende das Getränk genossen hat. Dabei ist zu berück-
sichtigen, dass die Wirkungen des Alkohols nach Alter, Geschlecht und Ge-
wohnheit sehr verschieden rasch und stärker oder schwächer sind. Mit
Berücksichtigung aller dieser Umstände im einzeln Falle wird es meistens keine
Schwierigkeiten haben festzustellen, in welchem Grade von Betrunkenheit der
Betreffende sich befunden hat, und ob derselbe bei Ausführung der gesetz-
*) S. Krafft-Ebing in Maschkas Handbuch der gerichtlichen Medicin Bd. IV. 1882
S. 548.
**j La folie, p. 288.
ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 1085
widrigen Handlung in einem Zustand von Bewusstheit oder Unbewusstheit
sich befunden hat. Die Gerichtsärzte haben sich über diese Verhältnisse
meistens in der ötlentlichen Verhandlung auszusprechen, bei welcher sie nicht
nur die Persönlichkeit, um welche es sich handelt, sondern auch die That-
umstände durch Angaben des Angeklagten und der Zeugen kennen lernen.
In den meisten Fällen wird es sich nur um geringere Grade der Betrunken-
heit handeln, was zu der Annahme mildernder Umstände führt.
Der Säuferwalinsinn {Delirium tremens) ist eine acute alkoholische
Intoxicationserscheinung, welche nach längerem Missbrauch alkoholischer Ge-
tränke bald unerwartet plötzlich nach auffälligen Excessen, Gemüthserregungen,
Verletzungen wodurch die Betreffenden zum Liegen gezwungen werden, bald
erst nach Vorausgang von Unruhe und Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, gastri-
schen Erscheinungen u. s. w. eintritt. Das Delirium ist ein hallucinatorisches,
indem die Betreöenden in ihrer Geistesverwirrung mit kleinen Gegenständen,
namentlich Mäusen zu thun haben, welche sie ergreifen wollen. Dass in
einem solchen Delirium sowohl Dispositionsfähigkeit als Zurechnungsfähigkeit
aufgehoben sind, ist selbstverständlich. Da der Zustand häufig lebensgefährlich
erscheint, so kommt es öfters zu Versuchen, von dem Erkrankten eine letzt-
willige Verordnung zu erhalten, was natürlich nur in luciden Intervallen als
rechtsgiltig geschehen könnte.
Die Ti'unksucht (Älcoholismus chronicus, das alkoholische Irresein)
als Folge von längere Zeit fortgesetztem Missbrauch alkoholischer Getränke,
hat insoferne forensische Bedeutung, als dadurch nach und nach in verschie-
denen Körperorganen, namentlich auch im Gehirn pathologische Veränderungen
herbeigeführt werden, welche die psychischen Functionen sehr herabsetzen
bis zum Schwachsinn mit Energielosigkeit und grosser Reizbarkeit, so dass
es leicht zu sinnlosen maniakalischen Anfällen kommt, das eigentliche alko-
holische Irresein, in welchem Zustand sehr häufig gesetzwidrige Handlungen
ausgeführt werden als in einem unbewussten Zustand von Geistesverwirrung.
Dadurch kann nicht bloss verminderte, sondern gänzliche Unzurechnungsfähig-
keit bedingt werden. Bei Geistesverwirrung handelt es sich nicht sowohl um
herrschende Wahnideen, als vielmehr um fehlende Coordination der Gedanken,
so dass keine richtigen Verstandesoperationen mehr vorgenommen werden
können. Da es sich häufig um vorübergegangene Anfälle handelt, ist einer-
seits der Status des chronischen Alkoholismus zu berücksichtigen, andererseits
die Art der Ausführung der in Rede stehenden Handlung und ihre Ver-
anlassung.
Von andern toxischen Psychosen heben wir noch hervor den Morphinismus,
durch Missbrauch des Opiums, resp. Morphins hervorgebracht. Das Opium
ist zunächst als schmerzstillendes Mittel bekannt, welches dadurch einen Zu-
stand von Schmerzlosigkeit mit Wohlbehagen hervorzurufen vermag. Aehnlich
wie der Alkohol ist das Opium ein Mittel, um ein unangenehmes und müh-
sames Leben leichter zu ertragen, indem es gegen alle äusseren unange-
nehmen Eindrücke unempfindlicher macht. Diese Wirkung führt bei manchen
Menschen, namentlich wenn sie schmerzhafte Uebel zu ertragen haben, leicht
zu Missbrauch des Opiums, namentlich da dasselbe, ohne etwas einzunehmen,
durch Injectionen einer Morphiumlösung so leicht beizubringen ist. Der
längere Fortgebrauch des Morphins aber hat wie derjenige des Alkohols nach
und nach einen ungünstigen Eintiuss auf die psychischen Functionen. Dieselben
werden herabgesetzt, das Gedächtnis nimmt ab, ebenso die Willensenergie, es
stellt sich ein höherer Grad von Neurasthenie ein, und treten hallucinatorische
Schwächedelirien auf. Das letztere geschieht namentlich 10 — 12 Stunden,
nachdem die Morphiuminjectionen ausgesetzt worden sind. In solchem Zu-
stande können leicht Selbstmordversuche oder Attentate auf andere Personen
gemacht werden, weshalb es gerathen erscheinen muss, zu dieser Zeit die
1086 ZÜRECHNUNGSFÄHIGKEIT.-
Betreffenden nicht ohne Aufsicht zu lassen. In gerichtlichen Fällen wird der
Nachweis eines solchen Zustandes keine Schwierigkeiten haben, doch ist immer-
hin an Simulation zu denken. ^)
c) Mit anderen Krankheiten in Zusammenhang- stehende
Psychosen.
Dahin gehören das hysterische, hypochondrische und epilep-
tische Irresein.
Das hysterische Irresein. Es ist hier nicht der Ort, in das vielgestaltige
Krankheitsbild des Hysterismus, der meistens auf erblichen Anlagen beruht,
näher einzutreten. Es ist leicht zu verstehen, wie bei dem so häufigen Wechsel
der Gemüthsstimmung Hysterischer, den nicht minder oft sich ändernden
Neigungen und Abneigungen gegen dieses oder jenes, bei dem so schwanken-
den Willen — bald Willenlosigkeit, bald hartnäckiger Wille, bald Triebe dieser
oder jener Art u. s. w., kurz, dass bei solchen unstäten, bald exaltirten, bald
depriinirten psychischen Zuständen mitunter auf verhältnismässig geringe Ver-
anlassungen Handlungen begangen werden, die auf ein eigentliches Irresein,
auf Unbewusstheit, Wahnvorstellungen, oder Geistes Verwirrtheit hinweisen und
Zweifel entstehen lassen über die Zurechnungsfähigkeit der betreffenden Per-
sonen, so dass Untersuchungen nöthig werden.
Es sind Fälle bekannt, dass in solchem hysterischen Irresein Diebstähle,
Brandstiftungen, ja selbst Morde begangen worden sind. Ausserdem ist noch
hervorzuheben, dass solche Irren mitunter in der Simulation eine Virtuosität
besitzen, die kaum erwartet werden dürfte. Ich weise in dieser Beziehung
auf den so bekannten, von Casper -) mitgetheilten Fall hin, die Teufelseherin
Charlotte Luise Glaser betreffend.
Diese Person täuschte nicht nur Aerzte im Laufe mehrerer Jahre, sondern war so-
gar ein Jahr im Irrenhaus, bis es Casper gelang, sie als freche Betrügerin zu entlarven, wie
sich Casper ausdrückt. Sie wurde zuerst von den Aerzten für blödsinnig erklärt.
Das hypochondrische Irresein hat keine grössere Bedeutung, weil es
seltener als das hysterische ist, und nicht leicht als eine schwerere Psychose
auftritt. Casper ^) theilt zwei Fälle mit, den einen als hypochondrischen
Verfolgungswahn, indem der Betreffende glaubte, vergiftet worden zu sein,
und deshalb eine Klage einreichte, den anderen als hypochondrische Ver-
rücktheit, wo der Angeschuldigte eine wissentlich falsche Denunciation
gemacht hatte. Wir haben oben bei den Störungen des Gemeingefühls einen
Fall mitgetheilt von einem gebildeten Geistlichen, der in einer Privatirren-
anstalt untergebracht war, weil er den Wahn hatte, an einem unerträg-
lichen Schmerz im Unterleib zu leiden, der ihn zu allem unfähig mache,
und auch zu mehreren Selbstmordversuchen geführt hat, ohne dass objectiv die
geringste Veränderung an den Unterleiborganen wahrgenommen werden konnte.
Die wichtigste hieher gehörige Art ist das epileptische Irresein. Nicht
bloss kommt es vor, dass der epileptische Anfall sich als Wahnsinns anfa 11
auslöst, in welchem die schwersten Verbrechen unbewusst begangen werden
können, sondern dass das epileptische Kranksein auch wesentliche Verände-
rungen in den psychischen Verhältnissen des Betreffenden zur Folge hat, die
forensische Bedeutung haben, und endlich, dass der gewöhnliche epileptische
Anfall mitunter zu Unglücksfällen der Epileptischen führt, wobei es zweifel-
haft sein kann, ob Zufall, ein Selbstmord oder Tod, durch fremde Hand bewirkt,
vorliegt.
Bekanntlich kommt der epileptische Anfall in sehr verschiedenen Graden
vor, so dass man ein petit mal und ein grand mal unterscheidet. Das erstere
verläuft zuweilen nur als ein leichter Schwindel, als eine Hallucination,
^) Levinstein, die Morphiumsucht. Berlin 1874.
2) Vierteljahrsschrift für ger. Med. XII. 25. Lehrbuch 1881. 2. St. 517.
^j Lehrbuch 1881. I. S, 616 u. 617.
ZURECHNUNGSFÄHIGKEIT. 1087
während dem letzteren, dem gewöhnlichen epileptischen Anfall, zuerst als
Vorläufer eine sogenannte aura epileptica vorhergeht, dem dann der Krampf-
anfall mit Niederstürzen des Ergritienen und Bewusstlosigkeit folgt, längere
oder kürzere Zeit dauert und gewöhnlich mit Schlaf und gänzlicher Amnesie endet.
Das epileptische Irresein als Wahnsinnsanfall besteht nun darin,
dass entsprechend dem typischen Anfall eines Epileptischen auch eine Art
von aura epileptica vorangeht, die nicht von einem gewissen Körpertheil
ausstrahlt, sondern in Form einer hallucinatorischen Aufregung erscheint,
der dann der maniakalische Anfall mit verschiedenen Körperbewegungen bei
Unbewusstheit des Vorganges folgt, längere oder kürzere Zeit andauert und
dann auch mit Schlaf endet, nach welchem gänzliche Amnesie des Geschehenen
besteht.
Dass es sich in solchen Anfällen um einen wirklichen, dem epileptischen
ganz analogen Vorgang handelt, ergibt sich aus dem Vorausgange gewöhn-
licher epileptischer Anfälle, was jedoch in gerichtlichen Fällen vorher nicht
immer bekannt ist, sondern erst von den Sachverständigen festgestellt werden
muss, und dann hauptsächlich aus dem ganzen Verlaufe des Anfalles mit den
prodromalen Erscheinungen, den Körperbewegungen ohne Bewusstheit der-
selben, dem schliesslichen Schwinden des Anfalles mit Eintritt von Schlaf
und gänzlichem Mangel der Erinnerung an das Geschehene. Dass auch in
solchen Fällen, wie bei der gewöhnlichen Epilepsie grosse Verschiedenheiten
bezüglich der Stärke der Anfälle vorkommen, ist erfahrungsgemäss.
Wir selbst hatten Gelegenheit, einen solchen maniakalischen Anfall als Aequivalent
eines epileptischen zu beobachten. Der Betreffende, ein Angestellter auf dem hiesigen
Güterbahnhof, einige 20 Jahre alt, wurde vor den Untersuchungsrichter wegen einer Diebstahls-
geschichte geladen. Kurze Zeit, nachdem er dort eingetroffen war und abgehört werden sollte,
wurde derselbe eigenthümlich aufgeregt und sinnverwirrt, so dass von einer Abhörung
keine R^de sein konnte, im Gegentheil es brach eine Art Wuthanfall aus, und Betreffender
musste von nicht weniger als drei Polizisten, die nothwendig waren, in das Untersuchungs-
gefängnis gebracht werden. Ich erhielt sogleich den Auftrag mit dem damaligen Gefangen-
schaftsarzt Dr. Schaber die Untersuchung des Betreffenden im Untersuchungsgefängnisse
vorzunehmen. Dies geschah Nachmittags, etwa vier Stunden nach dem Vorfall. Auf die
Frage nach dem Gefangenen, ob derselbe aus seiner Zelle heruntergebracht werden könne
in das Audienzzimmer, erhielten wir zur Antwort, dass dieser bald nach seiner Aufnahme
eingeschlafen und erst kürzlich erwacht und ganz ruhig sei. Ich liess ihn nun kommen
und sah den Menschen zum erstenmal, er war vollkommen ruhig, und als ich ihn fragte,
ob er wisse, warum er hier sei, konnte er nichts weiter sagen, als dass er auf dem ünter-
suchungsrichteramt abgehört werden sollte. Weiteres erinnere er sich nicht mehr und war
erstaunt, als ich ihm das Vorgefallene mittheilte.
Aus weiteren richterlichen Erhebungen ergab sich, dass der Betreffende auf dem
Bahnhofe schon mehrmals sonderbare Anfalle gehabt habe, indem er sich zuweilen vor
eine Locomotive stellte, mit dieser zu kämpfen schien, aber nicht recht bei Bewusstsein
war, so dass er von seinen Mitangestellten weggenommen und ins Zimmer gebracht werden
musste, wo er dann nach einem solchen Anfall einschlief und nach dem Erwachen von
allem Vorgefallenen gar nichts mehr wusste. Wegen dieser Anfälle sollte er aus dem Dienst
entlassen werden.
Bei wiederholten späteren Untersuchungen des in Untersuchungshaft Befindlichen
stellte sich nun heraus, dass derselbe schon vor einigen Jahren an Epilepsie gelitten habe,
dass die Anfälle zwar nie aufgehört haben, aber im Laufe der Zeit viel seltener geworden
seien. Und als wir das erste Auftreten vor mehreren Jahren genauer besprachen, ergab
sich, dass der Betreffende einmal von einer Tanne heruntergefallen sei, und dass in Folge
dieses Ereignisses die epileptischen Anfälle zum erstenmal eintraten. Er war damals nach
dem Sturze einige Zeit bewusstlos. Die Untersuchung des Kopfes liess eine undeutliche
und unregelmässige längliche Narbe in der Kopfschwarte linkerseits, dem vorderen Theile
des Scheitelbeins entsprechend, erkennen. Auch fühlte man hier eine seichte Vertiefung
des unterliegenden Knochens.
Da die Epilepsie in so verschiedenen Graden auftreten kann, ist bei
Epileptikern, vrenn sie Anfälle von Schwindel und Bewusstlosigkeit, sogenannte
absences, bekommen, auch wenn diese rasch vorübergehen, stets an die Mög-
lichkeit einer epileptischen Attaque zu denken. Bei dem epileptischen Anfall
ist meistens mit dem Eintritt der Bewusstlosigkeit das Erblassen des Gesichtes
auffällig und die Pupillen sind starr. c. emäiert.
Sachregister.
Aasinsecten 550.
— Fettzehrer 550.
— Moderbildner 550.
— Muskelzehrer 550.
A-B-C.-Process 10.
Abbruch alter Gebäude 733.
Abdeckereien 1.
Abdominal-Schwangerschaft
699.
Abdominaltyphus, Beziehun-
gen des Bodens zum 176.
Abfallstoffe 7, 1031, 1045.
— Beseitigung der 1032.
— Canalgase 1032.
— Canalgastheorie 1033.
— Desinfection der 1037.
— Hauskehricht 1045.
— Menge der 1034.
— Pudrettirung 1037.
— Sammlung der 1034.
— Schädlichkeit der 1032.
— Schmutzwässer 1044.
— Strassencanäle 1032.
Abfuhr Systeme 7, 1034,
— Berlier-System 1043.
— Desinfection des Gruben-
inhalts 1037.
— Grubensystem 1034.
— Klärgruben 1040.
— Kübelsystem 1036.
— Liernur-System 1043.
— Pissoiranlagen 1042.
- — Pudrettirung 1037.
— Sammelgruben 1044.
— Schmutzwässer 1044.
— Schwemmsystem 1044.
— Schwindgruben 1044.
— Spülaborte 1040.
— Tonnensystem 1036.
— Trennsystem 1044.
— Trockenciosets 1038.
— Wasserciosets 1040.
Abgegessensein 229.
Abluft 911.
Abolitionisten 633.
Abort, traumatischer 871.
Aborte 4, 1040.
— Massenaborte 1040.
— Spülaborte 1040.
Abortus, Constatirung eines
271.
— crimineller 267.
— Diagnose des 268.
— künstlicher 264.
— Nachw. a. Lebenden 270.
Leichen 271.
— provocirter 273.
— spontaner 267, 272.
Abschwächung Bakter. 184.
Abulie (forens.) 1080.
Abwässer 7, 1044.
— Beseitigung 8.
— — Kosten der 19.
— Desinfection 9.
— Desodorisiren 10.
— Menge 1044.
— Reinigung 15.
Abwehrmaassregeln gegen
Seuchen 705.
— — internationale 705.
locale 706.
Acetylenlicht 149.
Actinomycespilz 123, 140.
Actinomykose i. Fleisch 265.
Adipocire 551.
Aepfel, chemische Zusam-
mensetzung 226.
Aerzte 664.
Aerztekammern 666.
Aerztekammer-Ausschuss
666.
Aerztliche Approbationen
664.
— Ehrengerichte 666.
— Kunstfehler 519.
— — Arten der 520.
— — gesetzliche Bestim-
mungen 519.
Aerztliche Prüfung 664.
— Sachverständige 405.
— Standesordnung 666.
— Standesvertretung 665.
— Vorprüfung 664.
— Zeugnisse 97.
Aetzgifte 924.
— Aetzbaryt 930.
— Aetzkalk 930.
— Aetzsublimat 940.
— Ammoniak 929.
— Baryumverbindungen
930."
— Böttcher's Depilatorium
930.
— Carbolsäure 927.
— Chlorbaryum 930.
— Chrom 932.
— Hirschhornsalz 929.
— Kalk 930.
— Kalkmilch 930.
— Kanthariden 934.
— Kleesalz 927.
— Kupfersalze 932,
— Kupfervitriol 932.
— Laugensalz 929.
— Oxalsäure 927.
— Präcipitat, rother 930.
— — weisser 930.
— Quecksilbersalze 930.
— Sadebaum 935.
— Salpetersäure 926.
— Salzsäure 927.
— Schwefelbaryum 930.
— Schwefelsäure 925.
— Schwefelwasserstoff 933.
— Thomson's Haarmittel
930.
— Wurmfarn 934.
— Zuckersäure 927.
Aetzkalk 189,
Aetzkalkvergiftung 930.
Aetzsublimatvergiftg. 940.
SACHREGISTER.
1089
Affecte 1082.
— Depression 1082.
— Exaltation 1082.
— pathologische 1082.
Agnoscirung v. Leichen 443.
— — durch Gipsmasken
. 444.
— — durch Photographie
443.
Agonale Verletzungen 945.
Akklimatisation 19.
Akklimatisationskrankheiten
20.
Akklimatisationsveränderun-
gen 20.
Akklimatisationsvermögen
20.
Akromegalie, traumat. 824.
Alarmapparate 890.
Alauncarmin 142.
Albocarbonbrenner 146.
Alcoholismus chronicus
1085.
Alexine 121, 448.
Alkalialbuminat, festes für
Nährböden 139.
Alkalienvergiftungen 928.
— Aetzlaugen 928.
— Ammoniak 929.
— Baryumverbindungen
930.
— Laugen 928.
Alkaloidhaltige Genussmittel
326.
— Amanita muscaria 327.
— Coca, Cocain 329.
— Coffein 318.
— Haschisch 327.
— Morphin 329.
— Opium 328.
— Tabak 330.
Alkohol, saurer (bakter.)
142.
Alkoholische Genussmittel
322.
Bier 325.
— — Branntwein 326.
Wein 325.
Alkoholisches Irresein 1085.
Alkoholismus 1084.
. — chronischer 1085.
— Säuferwahnsinn 1085.
.— Trunkenheit 1084.
— Trunksucht 1085.
Alkoholmissbrauch 324.
Alkoholmissbraucli, Be-
kämpfung 883.
Altersbestimmung 432.
— am Schädel 432.
— an Iiumpf- u. Extremi-
täten-Knochen 434.
— anderweitige 435.
Altersversicherung 990.
Aluminiumsalze imWein622.
Ambulances urbaines 655.
Ammoniakdämpfe 189.
Ammoniakvergiftung 929.
Anaerobenzuchtgläschen
132.
Anaerobiose 122.
Anästhesien, simulirte 714.
Anale Geschlechtsbefriedi-
gung 390.
Anfälle, maniakalische 1080.
Angeborene Immunität 444.
Aneurysmen, traumat. 840.
Anilinfarben (hygien.) 241.
Anilinfuchsin (bakter.) 142.
Anilin-Gentianaviolett 142,
Animale Lymphe 688.
Animalischer Staub 236.
Anlage von Strassen 724.
Anorganische Farbstoffe 240.
— Antimonfarben 240.
— Arsenfarben 240.
— Barytfarben 240.
— Bleifarben 240.
— Cadmiumfarben 240.
— Chromfarben 240.
— Eisenfarben 240.
— Kalkfarben 240.
— Kupferfarben 240.
— Manganfarben 240.
— Q,uecksilberfarben 240.
— Uranfarben 240.
— Zinkfarbeu 240.
— Zinnfarben 240.
Antetlexio, traumat. 870.
Anteversio, traumat. 870.
Anthrachinonfarben(hygien.)
242.
Anthropometrie 443.
Antimonfarben(hygien.) 240.
Antimonvergiftung 940.
Antisepsis 185.
Aortitis acuta, träum. 840.
Aphasie (forens.) 1077.
Aphonie, willkürliche 710.
Aponeurositis palmar, träum.
839.
Bibl. med. Wissenschaften. Hygiene u. Ger. Medicin,
Apotheken 49.
— Betrieb 49.
— concessionirte 51.
— Controle 49.
— Einrichtung und Aus-
stattung 53.
— Errichtung 49.
— Geschäftsbetrieb 53.
— Personalconcession 52.
— privilegirte 51.
— Revision 49.
— Revisoren 53.
— Statistik 32.
— Visitation 49, 56.
Apotheken-Inspectoren 49.
Apothekenwesen 23.
— allgem. Verhältnisse 82.
— Arzneitaxen 36.
— Geschichte des 23.
— Gesetzgebung 49.
— Pharmakopoen 25.
— Strafgesetzliche Bestim-
mungen 54, 57.
Apothekenwesen in Belgien
60.
— — Bulgarien 71.
— — Croatien 58.
— — Dänemark 63.
— — Deutschland 50.
England 61.
— — Frankreich 59.
— — Griechenland 73.
Holland 60.
— — Italien 67.
— — Norwegen 62.
— — 0 esterreich 54.
— — Rumänien 69.
— — Russland 65.
— — Schweden 61.
— — Schweiz 58.
Serbien 70.
— — Spanien 68.
— — Türkei 73.
— — Ungarn 57.
— — Ver. Staaten 75.
Apotheker, Approbation 43.
— Conditionszeit 43.
— Vereidigung 44.
Apotheker-Gehilfen 41.
Prüfung der 41.
— -Gewerbe 54, 668.
— — freiverkäufliche 54.
— — Personal- 54.
— — radicirte Real- 54.
— -Gremien 56.
69
1090
SACHREGISTER.
Apotheker-Instructiou 55.
— -Lehrling 41.
— -Lehrzeit 41.
— -Ordnung 55.
— -Praktikant 41.
Rath 50.
— -Servirzeit 43.
Apparat von Botkin 131.
Kasparek 127, 132.
— z. Abmessen n. Einfüllen
der Nährböden 139.
Approbation für Aerzte 664.
— — Apotheker 43.
— — ■ Zahnärzte 664.
Arbeiterschutz 401.
Argandbrenner 146, 148.
Arnburn'sches System 313.
Arsenfarben (hygien.) 240.
Arsenikvergiftung 939.
— acute 939.
— chronische 940.
— Leichenbefund 940.
— Nachweis 940.
Arsenvergiftungen in Fa-
briken 235.
Arsenwasserstoff,hyg.Schädl.
233.
Artenimmunität 444.
Artesische Quellen 170.
Arthrobacterium 118.
Arthrosporen 117.
Arzneidispensirstellen 92.
Arzneikasten der Seehandels-
schiffe 94.
Arzneimittelverkehr 23, 76.
— Deutschland 77.
— 0 esterreich 78.
— Ungarn 82.
Arzneitaxen 36.
Asepsis 185.
Asphaltpflaster 730.
Aspirationslüftung 907.
Asyle für Blinde 150.
Obdachlose 498.
Atavismus 217.
Atmosphärische Luft 896.
Atropinvergiftung 944.
Atteste 97.
Auer'sches Gasglühlicht 148.
Aufblasen d. Fleisches 258.
Aufhellungsmittel (bakter.)
142.
Augenaushebeln 962.
Augen, Identificir. d. 440.
Augenleiden, simul. 712.
Augenleiden, simul., beiders.
Blindheit 712.
— — Bindehautentzündun-
gen 713.
— — Einengung des Ge-
sichtsfeldes 712.
— — einseit. Blindheit 712.
— — Gräfe' s Prismen ver-
such 712.
— — Herabsetzung der
Sehschärfe 712.
— — Kugel' scher Versuch
712.
Rabl-Rückhard's Ver-
fahren 712.
Augenscheinbefund 100.
Aurine (hygien.) 241.
Autoclav 138.
Azine (hygien.) 242.
Azofarbstoffe (hygien.) 241.
B.
Bacillen 117.
Bacillus 118.
— albus cadaveris 547.
— anthracis 123, 140.
— citreus cadaveris 547.
— diphtheriae 123, 140.
— Friedländer 123.
— influenzae 123.
— leprae 124.
— mallei 123.
— Ödematis maligni 123,
140, 172.
— Proteus 124.
— pyoceaneus 123.
— s. Str. 118.
— subtilis 140.
— syphilidis 124.
— tetani 123, 140.
— typhi abdominalis 123.
— — — im Boden 172.
— — murium 123.
— der Bubonenpest 123.
• — — Fettchenseuche 123.
— — Hühnercholera 123.
Influenza 123.
— — Kaninchensepticae-
mie 123.
— — • Mäusesepticaemie
123.
— des Mäusetyphus 123.
— — Ptauschbrandes 123.
— — Ehinoscleroms 123.
Bacillus der Rinderseuche
123.
— d^i Rotz 123.
— der Schweinepest 123.
— des Schweinerothlaufs
123.
— der Schweineseuche 3 23.
Wildseuche 123.
Bacterium coli communel 2 3,
140.
— fluorescenc. 140.
— mallei 140.
— pneumon. Fränkel 140,
— prodigiosum 140.
— s. Str. 118.
— typhi 140.
— vulgare 140.
Bad 104.
— Brause 108.
— Dampfbad 110.
— Douche 108.
— Heisswasserbad 108.
— irisch-römisches 110.
— Luftschwitzbad 110.
— Regenbad 108.
— russisches 110.
Bäder 104.
— Fallbäder 108.
— heisse 109.
— indifferente 109.
— kalte 106.
— kühle 108.
— laue 108.
— Mineralbäder 111.
— Sandbäder 111.
— Seebäder 111.
— Soolbäder 113.
— Sturzbäder 108.
— Theilbäder 111.
— warme 109.
— Wellenbäder 108.
Bakteriaceen 118.
Bakterien 116.
— Austrocknung 122.
— biolog. Eigenschaften
140.
— Cultur 129, 132.
— Eintheilung 116.
— Färbung (m. Tafel) 125.
— im Boden 172.
— im Strassenschmutz 729.
— Massencultur 129.
— medicin. wichtigste 123.
— pathogene im Boden 172.
— Phosphorescenz 122.
SACHREGISTER.
1091
Bakterien, Pigmentbildung
123.
— Reincultur 129.
— Specificität 120.
— Untersuchung 125.
— VermehiTing 117.
Ijakteriencultur (s, Tafel I)
129.
— Bouilloncultureu 132.
— Kartoffelculturen 132.
— Massencultur 129.
— Reincultur 129.
— Stichcultur 132.
— Strichcultur 132.
Bakterienfärbung (m. Tafel)
125.
— Aufhellungsmittel 142.
— Beizen z. Geisseifärbung
142.
■ — Contrastfärbung 126,
128.
— Differenzfärbung 127.
— Differenzirungsmittell42.
— Entfärbungsmittel 126.
— Färbeflüssigkeiten 142.
— Geisseifärbung 142.
— Sporenfärbung 127.
— Technik der 127.
— Trocknen der Färbe-
präparate 127.
Bakterienproteine 446.
Bakteriologische üntersu-
chungsmethoden 125.
— Untersuchungen 134.
— — Bereitung der Nähr-
böden 138.
Blut 135.
— — Boden 135.
— — Luft 134.
Milch 135.
— — Nährböden 137.
— — Sera für Schutz-
impfungen 137.
— — Sputum 135.
— — Sterilisation der In-
strumente 137.
Stühle 136.
Wasser 134.
Balkone 1057.
Barytfarben (hygien.) 240.
Baryumverbindungen i. Wein
622.
Baryum Vergiftungen 930.
Bauchorgane, traumatische
Affectionen der 861.
Bauchorgane, Darm 866.
— Gallenblase 861.
— Geschlechtsorgane 869.
— Hernien 867.
— Leber 861.
— Magen 865.
— Milz 865.
— Nieren 862.
— Pankreas 869.
— Peritonitis 872.
Bauchwunden 967.
Baufluchtlinie 726.
Baugrund 1060.
Baukrankencassen 988, 991.
Baumaterialien 1027, 1061.
— Feuchtigkeit 1061.
— Porosität 1061.
— Schalleitung 1063.
— Wärmeleitung 1062.
Bauordnungen 1025.
Bauschutt 1029.
Bebauung v. Städten 724.
Bebauungsplan 721.
Beckenbrüche 968.
Bedürfnisanstalten, öffent-
liche 730.
Beerdigung 554.
Befördening von Wieder-
käuern 301.
Befundaufnahme 333.
Begattung 360.
Begattungsunfähigkeit 362.
— männliche 362.
— weibliche 362.
Beggiatoa 118.
Begräbnisturaus 578, 582.
Beheizung von Wohnungen
1058.
— Ofenheizung 1058.
— Wasserheizung 1058.
Beischlaf 342.
— Diagnose d. stattgehabten
345.
Beischlafshandlungen 376,
387.
Beischlafsuufähigkeit 362.
Beize, Löfiler'sche 142.
Beizen z. Geisseifärbung 142.
Bekämpfung d. Prostitution
632.
Beleuchtung 142.
— künstliche 144.
— natürliche 144.
— m. elektr. Licht 146.
Erdöl 146.
Beleuchtung ra. Kerzen 146.
— — Leuchtgas 146.
— — (Jellampen 146.
— — Petroleum 146.
— — Spiritusglühlicht 146.
— von Schulen 677.
— — Wohnungen 1058.
Bepflastenmg von Strassen
729.
Bergbau, Unfälle im 890.
— Explosionen 890.
— Grubenwetterung 891.
— Kohlenstaubexplosionen
890.
— Schlagwetter 890.
— Sicherheitslampen 890.
— Ventilatoren 890.
Bergsteigen 490.
Berieselung 15.
Berlier-System 1043.
Berlier's pneum. System 11.
Berliner freiwill. Rettungs-
gesellschaft 654.
Berufsgenossenschaften 990.
Berufsunfähigkeit in Folge
von Verletzungen 985.
— (forens.) 399.
Bertillonage 443.
Beschälseuche 202.
Beschauärzte 537.
Besichtigung v. Leichen 791.
— — äussere 702,
— — innere 702.
Besprengung der Strassen
733.
Bestattungsarten 554.
— Einbalsamirung 554,
584.
— Erdbestattung 554, 566.
— Feuerbestattung 554,
566.
Betonpflaster 730.
Betriebskrank encassen 988,
991.
Betriebsschutz im Gewerbe
404.
Beulenpest 706.
— Abwehr 707.
— Aetiologie 706.
— Verbreitung 706.
— Wanderungen 706.
Bewegungsapparates, trau-
mat. Affectionen des 836.
— Aponeuritis palmaris
839.
69*
1092
SACHREGISTER.
Bewegungsapparates, träum.
Affect. Dupuytren'sche
Contractur 839.
— Gelenkmäuse 837.
— Muskel atrophie, reflecto-
rische 836.
— Muskelcollaps 836.
— Muskeldegeneration, cir-
cumscripte 837.
— Myalgien 837.
— Sclileimbeutelentzündung
840.
— Spoudilitis 838.
Bewegungsstörungen, simu-
lirte 711.
Bewusstlosigkeit (forens.)
1073.
Bezirksarzt 670.
Bezirkskrankencassen 991.
Bhang 327.
Bier 325.
— Fälschungen 325, 624.
Bindehautentzündungen, si-
mulirte 713.
Bisswunden 955.
Bismarckbraun(bakteriolog.)
142.
Blasenmolen 698.
Blasenwürmer i. Fleisch 263.
Blattern 707.
— Abwehr 707.
— Aetiologie 707.
— Heimath 707.
— Verbreitung 707.
— Wanderung 707.
Blausäurevergiftung 941.
Bleifarben (hygien.) 240.
Bleivergiftung 940,
Bleivergiftungen!. Fabr. 2 34.
Blinden- Anstalten 150.
— -Bildungsanstalten 150.
— -Druckschrift 153.
— ■ -Erziehungsinstitute 151.
Unterrichtsmethode 151.
— -Versorgungsanstalten
156.
Blindenheime 157.
Blindenliteratur 154.
Blindenschrift 154.
Blindenstatistik 157.
Blindheit, simulirte 712.
Blitzschlag 791.
Blödsinn 1078.
Blut, bakter. Unters. 135.
Blutaustretungeu, postmor-
tale 541.
Blutfarbstoff, Nachw. 165.
Blutgifte 941.
— - Blausäure 941.
— Chlorsaures Kali 941.
— Cyankalium 942.
— Cyanwasserstoff 941.
— Kohlenoxydgas 942.
Bluthusten, künstlicher 710.
Blutige Abdrücke 163.
Blutkörperchen, Nachweis
der rothen 164.
Blutkrystalle, Teichmann-
sche 166.
Blutmolen 698.
Blutspritzer 163.
Blutschande 386.
Blutsenkungen 540.
Blutserum für Nährböden
139.
Blutserumgelatine 139,
Blutspuren 162.
— Alter von 168.
— an Leichen 163.
— — Menschen 164.
— Nachweis 164.
— Unterscheidung von
menschlichen u, thieri-
schen 167.
Blutsverwandtschaft 344.
Blutunterlauf ungen 952.
Boden 168.
— Assanirung 178,
— Bakterien 172.
— Befeuchtung 170,
— Bindekraft 171.
— Capillarität 170.
— chemische Eigenschaften
178.
— Durchlässigkeit für Luft
169.
— — für Wasser 170.
— Feuchtigkeit 170.
— Grundluft 169.
— Grundwasser 170.
— hygienische Untersu-
chung 178.
— Niveauverhältnisse 178.
— Oxydation 171.
— physikalische Eigenschaf-
ten 178.
— Sonnenbestrahlung 171.
— Structur 169, 177.
— Temperatur 171, 178.
Boden, Untersuchung 178.
— Verunreinigung 171,
177,
— wasserbiudende Kraft
170.
— Zersetzungsstoffeiml71.
Bodenbakterien 172.
Bodenerwärmung 172.
Bodenfeuchtigkeiten 170.
— Gang der 171,
Bodenfiltration 14,
Bodenhygiene 168.
Bodentemperatur 171.
Bodenuntersuchung 178.
— bakteriologische 135.
— Capillarität 179.
— chemische 180.
— Durchlässigkeit 179.
— Feuchtigkeitsverhältnisse
179.
— Grundluft 179.
— Grundwasser 179.
— Korngrösse 179.
— Luftgehalt 179.
— Permeabilität 179.
— physikalische 178.
— Porengrösse 179.
— Porenvolum 179.
Bodenverhältnisse, Einwirk.
auf die Gesundheit 173.
Böttcher's Depilatorium,
Vergiftung mit 930.
Bohnen, chemische Zusam-
mensetzung 226.
Bordellfrage 636.
Borsäure im Wein 622.
Botkin's Apparat 131.
Botryomykose i. Fleisch 265.
Bouillonculturen (bakter.)
132.
Braille'sche Punktschrift
153.
Branntwein 326.
— Verfälschung 625.
Brenner 148.
Brennstoffe 418.
Bromdämpfe, hyg. Schädl.
233.
Brot, Verfälschung 620.
Bruchleiden, simulirte 711.
Bruderladen 991.
Brunnen 1021.
— artesische 1021.
— Flachbrunnen 1021.
— Kesselbrunnen 1021.
SACHREGISTER.
1093
Brunnen, üffentliclie 730.
— Röhrenbrunnen 1021.
— Tiefbrunnen 1021.
ßrustcontusionen, traumati-
sche 845.
Brustorgane, traumatische
Erkrankung der 852.
— Lungengangrän 855.
• — Lungentuberkulose 844.
— Pleuritis 855.
— Pneumonien 852.
Brustverletzungen 965.
— Herzwunden 966.
— Lungenquetschungen
965.
— Lungenstichwuuden 966.
— Schnittwunden 966.
— Stichwunden 966.
— Zwerchfellverletzungen
967.
Brutkasten für bakteriolo-
gische Untersuchungen
129.
Bubonenpest 706.
— Abwehr 707.
— Aetiologie 706.
— Verbreitung 706.
— Wanderung 706.
Büffelfleisch 253.
Burchardt'sche Tafeln 712.
Butter, chemische Zusam-
mensetzung 225.
— Yerfälschung 619.
Butzkelampe 148.
C.
Cacao 318, 322.
— Verfälschungen 322.
Cadaver Öse Melanose 542.
Cadmiumfarben (hygien.)
240.
Caissonlähmung 832.
Calidarium 110.
Canalisation 12, 729.
Canalluft, Ableitung der 13.
Carbolkalk 189.
Carbolfuchsin 142.
Carbolsäure 188.
Carbolsäur evergiftung 127.
Carbolseifenlösung 188.
Carburiren 145.
Carcinoma, traumat. 850.
Castration 369.
Cerebrale Neurosen, trauma-
tische 799.
Chemotaxis 448.
— negative 448.
— positive 448.
Clilordämpfe, liyg. Schädl.
233.
Chlorgas 188.
Chlorkalk-Desinfectionsver-
fahren 1022.
Chlorsaures Kali, Vergiftung
mit 941.
Chocolade 322.
— Verfälschungen 322.
Cholera 175, 704.
— Abwehrmaassregeln 705.
— ■ — internationale 705.
— — locale 706.
— Aetiologie 704.
— Heimath 704.
— Krankheitserscheinungen
704.
— Schutzimpfung 684.
— Verbreitung 704.
— Wanderungen 704.
Cholera-Bacillus im Boden
173.
— -Contagium 175.
— -Miasma 175.
Roth 133.
— -Schutzimpfung 684.
— -Zeiten, Eisenbahnver-
kehr 215.
Chrom-Farben (hygien.) 240.
Vergiftung 932.
Churrus 327.
Chylothorax, traumat. 861.
Cisternen 1021.
Cladothrix 118.
Cladotricheen 118.
Classensystem, Gefängn.313.
Closets 1034, 1038.
— Aschencloset 1034,
1038.
— Erdcloset 1034, 1038.
— Feuercloset 1043.
— Luftcloset 1043.
— Massenaborte 1040.
— Spülaborte 1040.
— Streucloset 1038.
— Torfmullcloset 1034.
— Trockencioset 1038.
— Wassercloset 1034, 1040
Clostridium 118.
Coca, Cocain 327.
Cocainismus 330.
Coccaceen 118.
Coccon 117.
Coccygodynie 871.
Coenurus cer. i. Fleisch 263.
Cohabitatio 360.
Coitus 360.
— analer 390.
Colanüsso 318.
Coloniale Irrenanstalten 40 6.
Columbarien 568.
Commaform(baktoriol.) 117.
Compostirung 9.
Conceptionsunfähigkeit 371.
Concession, Apotheken 51.
Conditionszeit der Apothe-
ker 53.
Consonantengehör 738.
Consti tu tionsanomalien , trau-
matische 847.
— — Diabetes 847.
— — Leukämie 849.
Contactthermometer 192.
Contagiöse Krankheiten 4 50.
Contrastfärbung 128.
Contusionen (forens.) 952.
Cornyebact. diphther. 140.
Contagium 174.
Conträre Sexualempfindung
363, 391.
Conträrer Geschlechtstrieb
391.
Crematorien 568.
Crenothrix 118.
Creolin 189.
Cretinismus 1078.
Crimineller Abortus 267.
— — schwere Folgen 278.
Culturschalen, Wichmann-
sche 131.
Cumulativhaft 312.
Curanstalten 181.
Cyankali-Vergiftung 942.
Cyanwasserst Offvergiftung
941.
Cysticercusarten im Fleisch
263.
D.
Daktylologie 736.
Dampfbad 110.
Dampffeuchtigkeitsmesser
192.
Dampfkochtopf 197.
1094
SACHREGISTER.
Dampfsterilisatoren 3.
Dampftopf, Koch'scher 137.
Darm, traumat. Aifect. cl.
866.
— Enteritis 867.
— Typhlitis 867.
Ulcus duodeni 867.
Darmlähmung, traumat, 822.
Dauersporen 117.
Davy ' s Sicherheitslampe 890.
Defloration 382.
Degener 'sches Verfahren 17.
Degenerationszeichen 515.
Degenerescenz- Anthropolo-
gie 518.
Delirium tremens 1085.
— traumat. 822.
Dementia paralytica, träum.
821.
Denkfähigkeit (forens.) 1075.
Depression (forens.) 1082.
Desinfection 184.
— Anstalten 192.
— Apparate 190.
— bei Viehtransporten 206.
— chemische 187.
— durch Besonnung 187.
Dampf 186.
Hitze 186.
— — Verbrennen 197.
— für specielle Zwecke 194.
— mechanische 187.
— von Abortgruben 195.
— — Auswurf 195.
— — Badewasser 194.
— — Brunnen 196.
— — Eisenbahnwagen 210.
— — Fuhrwerk 195.
Grubeninhalt 1037.
Händen 194.
Kleidern 195.
— — Leichen 196.
— — Lumpen 196.
— — Matratzen 195.
— — Papiersachen 195.
— — Keiseeffecten 212.
— — Rinnsteinen 195.
Schiffen 196, 206,
210.
Viehställen 196.
Viehwagen 196,206.
Wäsche 195.
— — Wohnräumen 195,
1048.
Desinfections-Anstalten 192.
— — Inventar der 193.
Desinfections- Apparate 190.
— — Controlinstrumente
für 192.
— — Grösse der 191.
— — Improvisiren von 191.
— — mit gespanntem
Dampf 190.
— — ■ strömendem Dampf
190.
Desinfectionsmethoden 186.
— chemische 187.
— mechanische 187.
— physikalische 186.
Desinfectionsmittel 188.
— Aetzkalk 189.
— Ammoniakdämpfe 188.
— Carbolkalk 189.
— Carbolsäure 188.
— Carbolseifenlösung 188.
— Chlorgas 188.
— Creolin 189.
— ■ Eisensulfat 189.
— Erde 189.
— flüssige 188.
— Formaldehyd 188.
— gasförmige 188.
— Kalkmilch 189.
— Kupfersulfat 189.
— Lysol 189.
— Phosphattorf 189.
— Prüfung 189.
■ — • pulverförmige 189.
— Salzsäure 189.
— Saprol 189.
— - Schmierseifenlösung
189.
— Schwefelige Säure 188.
— Schwefelsäure 189.
— Sodalösung 189.
— Solutol 189.
— Sublimat 188.
— Torfmull 189.
— trockene 189.
Desinfectionswesen, gesetz-
liche Ordnung 196.
Desinfectoren 193.
Destructoren 3.
Deutsche Gesellschaft z. Ret-
tung Schiffbrüchiger 659.
Deutscher Ritterorden 655.
Deutsches Reichsgesund-
heitsamt 663.
Deutscher Samariterverein
654.
Diabetes, traumatischer 847.
Diagnose des Abortus 268.
— des stattgehabten Bei-
schlafes 345.
— der Geschlechtsverhält-
nisse bei Zwittern 357.
— einer Fruchtabtreibung
durch inn. Mittel 275.
— — — — mechanische
Mittel 278.
— einer überstandenen Ge-
burt 289.
Differenzfärbung (bakter.)
127.
Differenzirungsmittel (bak-
teriolog.) 142.
Digestoren 3.
Diphtherieschutzimpfling
685.
Diplococcus intracellularis
124.
Dispensiranstalten 5 3 .
Disposition 219.
Dispositionsfähigkeit 1069.
— Ehefähigkeit 1072.
— Eidesleistung 1072.
— Entmündigung 1070.
— gesetzl. Bestimmungen
1069.
— Testirfähigkeit 1070.
— Untersuchung 1071.
Dissimulation 715.
Distomen im Fleisch 263.
Dosis toxica 917.
Dosis toxica letalis 917.
Douche 108.
Drainagewasser 170.
Drehlade der Findelanstalten
247.
Drucklüftung 907, 914.
Dupuytren'sche Contractur
839.
Durchlüftung 911.
E.
Echinococcenblaseni. Fleisch
263.
Ehe 343.
Ehefähigkeit 1072.
— gesetzl. Bestim. 1072.
Ehen ,Fru chtb ark eits verh ält-
nisse 344.
SACHREGISTER.
1095
Ehen, vorzeitige 344.
Ehrengerichte, ärztliche 666.
Ehrlich'sche Lösung 142.
Einbalsamirung 584.
Einlochbrenner 148.
Einschlussinittel (bakter.)
142.
Einzelhaft 313.
Eisenbahn-Hygiene 199.
— -Verkehr inCholerazeiten
215.
Unfallverhütung889.
— -Wagen, Desinfection
von 210.
Eisenfarben (hygien.) 240.
Eisensulfat 189.
Eislauf 490.
Eiweissfreie Nährböden 138.
Eiweissstoife, Bedeutung für
die Ernährung 220.
Elektricität, Hinrichtung
durch 749.
— Tod durch 791.
Elektrische Unfälle 892.
— — Schutzmaassnahmen
892.
Elektr.Bogenlichtl46, 149.
— Glühlicht 146, 149.
Emotionslähmungen 800.
Encephalitis, traumat. 813.
Endocarditis, traumat. 857.
Endoconidium Megnini 547.
Endogene Sporen 117.
Endosporen 117.
Enteritis, traumat. 867.
Entmündigung 1070.
— gesetzl. Bestim. 1070.
Enthauptung 748.
— durch Fallbeil 748.
Schwert 748.
— Guillotinirung 748.
Entwässerungsanlagen 729.
Epidemien 209.
Epigastrische Brüche, trau-
matische 869.
Epilepsie, simulirte 714.
— traumatische 817.
Epileptisches Irresein 1086.
Epispadie (forens.) 365.
Epithelcysten, traumat. 852.
Erblichkeit 217.
— conservative 217.
— erhaltende 217.
— fortschreitende 217.
— progressive 217,
Erblichkeit von Krankheiten
218.
Erbsen, chem.Zusammensetz.
226.
Erbswurst 228.
Erdbestattung 566.
Erdclosets 6, 1038.
Erde z. Desinfection 189.
Erdöl 146.
Erdrosseln 747, 765.
— Garrottinmg 747.
Erection 362.
Erhängen 747, 760.
— Strangulation 747.
Erker 1057.
Ernährung 219.
— Anfordeningen 224.
— Eiweissstofl'e 220.
— Fette 220.
— Kohlehydrate 220.
— Kost 224.
— Nahrungsbedarf 223.
— Salze 220.
— Stoffumsatz 222.
— Wasser 220.
Ernährung der Gefangenen
228, 230, 307.
Soldaten 228.
Erotischer Wahnsinn 1080.
Erschiesseu 747.
Ersatzlazarethe 607.
Erschöpfungshypothese 447.
Erschütterungen (forens.)
957.
Erste Hilfe 648.
für Touristen 660.
— — Lehrkanzel für 651.
— — Unterricht i. der 662.
Erstickung 751.
— Allgemeines 751.
— Diagnose 754.
— Leichenerscheinungen
752.
— Symptome 751.
Ertrinken 768.
— Leichenbefund 769.
Erworbene Immunität 447.
Erwürgen 747, 766.
— Leichenbefund 767.
Erziehung der Fabrikbevöl-
kerung 238.
Esmarch'sclie Rollplatten
131.
Exaltation (forens.) 1082.
Exhibition 388.
Exhuniirung 565.
Expeditions-Hygiene 880.
Expropriationsrecht der
Städte 721.
Extrauterinschwangerschaft
699.
— Abdominalschwanger-
schaft 699.
— Ovarialschwangerschaft
699.
— Tubenschwangersch. 699.
F.
Fabrikshygiene 230.
Fabrikskrankencassen 988.
Fäcalien, Abfuhr 9.
— Desinfection 9.
— Desodorisirung 9.
— Kosten der Abfuhr 11.
— Präparation 9.
Fäcalsteine 11.
Fälschung von Nahrungsmit-
teln siehe Verfälschungen.
Färbeflüssigkeiten (bakter.)
142.
Farcine de boeuf 140.
Fascination (forens.) 429.
Fasssystem 5.
Fechten 489.
Färbung der Bakterien 125.
— Aufhellungsmittel 142.
— Beizen zur Geisselfär-
bung 142.
— Contrastfärbung 126,
128.
— Differenzfärbung 127.
— Differeuzirungsmittel
142.
— Färbeflüssigkeiten 142.
— Geisseifärbung 142.
— Sporenfärbung 127.
— Technik der 126.
Fäulnis 546.
— Chemismus der 547.
— Chronologie der 549.
— der Organe 546.
— des Fleisches 258.
— Eintritt der 259.
— Merkmale der 258.
Fäulniss-Anämie 547.
— -Bakterien 547.
— -Blasen 547.
— -Emphysem 547.
— -Pilze 547.
1096
SACHREGISTER.
Fäulniss-Traiissudat 542.
Farben (hvgien.) 239.
— anorganische 240.
— Gesetz betreffs Verwen-
dung von 618.
— gesundheitsschädliche
242.
— organische 241.
Farbstofflösungen (bakter.)
142.
— Alauncarmin 142.
■ — Anilinfuchsin 142.
— Anilingentianaviolett
142.
— Bismarckbraun 142.
— Carbolfuchsin 142.
— Ehrlich'sche Lösung
142.
— Fuchsinlösung 142.
— Löffler's Methylenblau
142.
— Methylenblau von Löffler
142.
— Methylenblaulösung 142.
— Ziehl'sche Lösung 142.
Fehlgeburten 267, 292.
Feldlazarethe 607.
Feriencolonien 244.
— Halbcolonien 246.
- — Milchcolonien 246.
— Stadtcolonieu 246.
Femthermometer 422.
Feste Nährböden 138.
Festes Alkalialbuminat (bak-
ter.) 139.
Fetischismus 391.
Fettbildung, postmortale
552.
Fette 220.
Fettgas 149.
Fettwachs 551.
Fettwachsbildung 551.
— forens. Bedeutung 552.
— Zeitfolge der 552.
Feuchtigkeit (hygien.) 237.
Feuchtigkeitsgehalt der Zim-
merluft 418.
Feuer-Bestattung 566.
— — Verbrennungsofen
570.
Closet 7.
— -Waffen, Untersuchung
339.
Feuerwehr 648.
— als Sanitätswache 662.
Filialapotheken 53, 55.
Fiudel- Anstalten 247.
— — hygienische Anforde-
rungen 250.
• Sterblichkeit 249.
Häuser 246.
Pflege 246.
— — german. System 247.
— — roman. System 247.
Wesen 246.
Fingersprache 736.
Finnen im Fleisch 261.
Flachbrenner 146.
Flächenwunden (forens.) 9 46 .
Flecktyphus 708.
— Abwehr 708.
— Aetiologie 708.
— Heimat 708.
— Wanderung 708.
Fleisch 252.
— Arten 253.
— Aufblasen des 257.
— Beschaffenheit 254.
— Blutungen 266.
— - Fälschungen 256.
— Farbe 252.
— Färben des 257,
— Fäulnis 258.
— fettige Entartung 266.
— gefrorenes 260.
— Geruch 254.
— Geschwülste im 267.
— Krankheiten 261.
— leuchtendes 260.
— mangelhaft ausgeblutetes
255.
— Merkmale 252.
— Parasiten 261.
— postmortale Verände-
rungen 258.
— unreifes 254.
— Verfärbung 258.
— wässerige Durchtränkung
266.
Fleischarten 253.
— Büffelfleisch 253.
— Hammelfleisch 253.
— Hundefleisch 254.
— Kalbfleisch 253.
— Pferdefleisch 253.
— Rindfleisch 253.
— Schaffleisch 253.
— Schweinefleisch 253.
-T- Ziegenfleisch 253.
— Wildpret 254.
Fleisch-Beschau 251.
a. Trichinen 262.
— -Conserven 228.
Controle 1004.
Gemüseconserven 228.
— -Mehlconserven 228.
Molen 698.
— -Waaren, Verfälschung
626.
Fleischwasser-Bouillon 138.
— -Peptonagar 139.
— -Peptongelatine 139.
Fleischzwiebak 228.
Fliegenpilz 327.
Fluchtlinien 727.
Flüsse, Selbstreinigung der
1017.
Flüssige Nährböden 138.
Flusswasser 1017.
Formaldehyd 188.
Freiwillige Rettungsgesell-
schaften 654.
Fremdenpolizei 214.
Friedhöfe 571.
— Anlage 571, 727.
— Begräbnisturnus 582.
— Bepflanzung 574.
— Betrieb 575.
— Grüfte 578.
— Schliessung von 583.
Friedrich'schesVerfahrenlO.
Frischluftbedürfnis 904.
Fruchtabtreibung 267.
— durch innere Mittel 275.
mechan. Mittel 278,
Fruchtab tr eibun gsmittel 274.
— innere 274.
— mechanische 276.
— thermische 276.
Fruchtbarkeitsverhältnisse
der Ehen 344.
Frühgeburten 267, 292.
Fructification (bakter.) 117.
Fuchsinlösung (bakter.) 142.
Fussböden 1065,
— Holzfussboden 1065.
— Linoleum 1065.
— Stab fussböden 1065.
Fussbodenreinigung 1065.
Fussgängerverkehr der Städ-
te 722.
— Gehwege 730.
— Promenadewege 730.
Fussspuren 341.
— Netzzeichnen von 341.
SACHREGISTER.
1097
Fussspuren, plast. Nachfor-
mimg 341.
Fusswandern 490.
G.
Gälirungskölbchen 132.
Gallenblase, traumatische Af-
fection 8G1.
Garoisonslazarethe 607.
Garrotirung 747.
Gasförmige Desinfections-
mittel 188.
Gasgiühlicht 148.
Gebär- Anstalten 280.
Mutter, traumatische Af-
fectionen der 870,
— -Unfähigkeit 360, 374.
Gebäudehöhe 725.
Geberdensprache 736.
Geburt, Diagnose einer ilber-
standenen 289.
— unbewusste 296.
Gebui'tenstatistik 284.
Geburts-Tabellen 719.
— -Verhältnisse 289.
— — Fehlgeburt 292.
Frühgeburt 292.
— — Spätgeburt 294.
: Sturzgeburt 299.
— — unbewusste Geburt
296.
Gedächtnisstörung, trauma-
tische 812.
Gedärmezerreissung 968.
Gefängniskachexie 304.
Gefängnisse 301.
— Anlage 305.
— Einrichtung 306.
— prophylaktische Maass-
regeln 311.
Gefängnis-Hygiene 302.
Kost 309.
— -Krankheiten 304.
Gefängniswesen 301.
— bauliche Anlage der Ge-
fängnisse 305.
— Ernährung des Gefan-
genen 307.
— Haftsysteme 312.
— sanitäre Verhältnisse 302.
Gefässystem, traumatische
Affectionen 840.
— Aneurysmen 840.
— Aortitis, acute 840.
Gefangenen, Beschäftigung
der 310.
— Disciplin 311.
— Ernährung 307.
— Kleidung 310.
— körperliche Uebungen
312.
— Lagerstätten 310.
Gefrorenes Fleisch 260.
Geheime Prostitution 631.
640.
Geheimmittel, Ankündigung
von 530.
Geheimmittelwesen 530.
Gehirnaffectionen, trauma-
tische 811.
— Abscesse 814.
— Akromegalie 824.
■ — Cystenbildung 813.
■ — ■ Delirium tremens 822.
— Encephalitis 813.
— Epilepsie 817.
— Gedächtnisstörung 812.
— Gehirnerschütterung
812.
— Gehirnerweichung 813.
— Hirnabscess 814.
— Hirnblutungen 815.
— Meningitis suppur. 811.
— Nuclearlähmung der
Augenmuskeln 817.
— Paralysis agitans 823.
— Polioencephalitis suppu-
rativa 813.
— Psychosen 819.
— Eeflexpsychosen 822.
— Schüttellähmung 823.
— Spätapoplexie 816.
Gehwege der Städte 730.
Geisseifärbung, Beizen 142.
Geisteskrankheiten, simu-
lirte 714.
Blödsinn 715.
Melancholie 715.
Stupidität 715.
Tobsucht 715.
— — Verrücktheit 715.
— — AVahnsinn 715.
Gekrösezerreissung 968.
Gelbes Fieber 174.
Gelegenheitshäuser 631.
Gelenk-Leiden, simul. 711.
- — -Mäuse, traumat. 837.
Neurosen, traumat. 799.
Gelenk-Tuberkulose, trau-
matische 842.
— -Verletzungen (forens.)
970.
Genesungshäuser 491.
Genossenschaftskrankencas-
sen 991.
Genussmittel 316.
— Alkaloide 326.
— alkoholische 322.
— Bedeutung für die Er-
nährung 219, 222.
— Bier 325.
— Branntwein 326.
— Cacao 318, 322.
— Chocolade 322.
— Coca, Cocain 329.
— Colanüsse 318.
— Fliegenpilz 327.
— Gewürze 317.
— Guaranapaste 318.
— Haschisch 327.
— Kaffee 317, 318.
— Kochsalz 317.
— Mate 318.
— Morphin 329.
— Opium 328.
— Paraguaythee 318.
— Tabak 330.
— Thee 320.
— Wein 325.
Genussmittel, Verfälschung
von 617.
— Bier 624.
— Branntwein 625.
— Kaffee 625.
— Liqueure 625.
— Liqueurweine 624.
— Medicinalweine 624.
— Süssweine 624.
— Thee 625.
— Wein 620.
Gerichtlicher Augenschein-
befund 100.
Gerichtliche Untersuchungen
101.
— Medicin 332.
— — Aufgaben der 332.
Gerichtlich-medicinische Un-
tersuchungen 333.
— v. Fussspuren
341.
V. Narben 333.
V. Tätowirungen
. 338.
1098
SACHREGISTER.
Gericlitlicli-medicinisclie Un-
tei'suchungen von Waifen
339.
— — — V. Werkzeugen
339.
Geschäftsstrassen 723.
Geschcälte Kartoffelhälften
(bakter.) 139.
Geschlecht, Bestimmung des
435.
— an Knochen 436.
— — — an Weichtheilen
436.
— zweifelhaftes 353.
Geschlechts-Befriedigung,
anale 390.
anormale 387, 390.
— -Bestimmung 435.
— — an Knochen 436.
Weichtheilen 43 6.
Delicto 376.
Geschlechtsleben 342.
— Beischlaf 342.
— Blutsverwandtschaft 344.
— Diagnose des Beischlafes
345.
— Ehe 343.
— Nachweis V.Sperma 348.
■ — — venerischer Affec-
tionen 350.
Geschlechts-Organe, trauma-
tische Affectionen der 869.
Anteflexio 870.
Anteversio 870.
— — Coccygodynie 871.
— — Gebärmuttervorfall
870.
— — Hämatocele femin.
871.
Hydrocele 869.
Retroflexio 870.
— — Eetroversio 870.
— — Scheiden Vorfall 870.
— — Spermatocele 869.
Verletzungen der 9 6 9 .
Geschlechtsreife, Altersbe-
stimmung durch 435.
Geschlechtstrieb, conträrer
391.
— — perverser 391.
Geschlechtsverhältnisse 353.
— anale Geschlechtsbefrie-
digung 390.
— Aspermatie 370.
— Atresia hymenalis 367.
Geschlechtsverhältnisse, Azo-
ospermie 370.
— Begattung 360.
— Begattungsunfähigkeit
362.
— — männliche 362.
weibliche 362.
— Beischlafshandlungen
376, 387.
— Beischlafsunfähigkeit
362.
— Blutschande 386.
— Castration 369.
— Cohabitatios.Coitus360.
— Conceptionsunfähigkeit
371.
— Conträre Sexualempfin-
dung 363, 391.
— Conträrer Geschlechts-
trieb 391.
— Defloration 382.
— Diagnose der, bei Zwit-
tern 357.
— Elephantiasis scroti 366.
— Entwicklungsverhältnisse
d. Urogenitalsystems 354.
— Epispadie 365.
— Erection 362.
— - Exhibition 388.
— Fetischismus 391.
— Gebärunfähigkeit 360,
374.
— Geschlechtsbefriedigung,
anale 390.
— Geschlechtsdelicte 376.
— Geschlechtstrieb, con-
trärer 391.
— — perverser 391.
— Hermaphrodismus verus
354.
— HeteroSexualität 391.
— Homosexualität 391.
— Hypospadie 364.
— ■ innere Missbildungen
356.
-— Impotentia coeundi 362.
— — • concipiendi 371.
— — generandi 367.
— — gestandi 374.
— — parturiendi 374.
— Impotenz 362.
— — psychische 363.
— Jungfrauschaft 374.
— — Untersuchung 375.
— — zweifelhafte 374.
Geschlechtsverhältnisse,
Krümmungen des Gliedes
365.
— Kryptorchie 369.
— Lustmorde 384.
— Mannweiber 359.
— Masochismus 391.
— Nothzucht 376.
— Päderasten 390.
active 390.
— — passive 390.
— Päderastie 390.
— Perverser Geschlechts-
trieb 391.
— psychische Impotenz 363.
— ■ Sadismus 391.
— Schändung 386.
— Scheinzwitterthum 354.
• — Schwängerung 382.
— Scrotalbrüche 365.
— Sodomie 393.
— Tribadie 390.
— Unzucht 387.
— — widernatürliche 390,
393.
— unzüchtige Handlungen
387.
— Urninge 391.
— Vaginismus 366.
— Zeugungsfähigkeit 360.
zweifelhafte 360.
— Zeugungsunfähigkeit367.
— zweifelhafte Jungfrau-
schaft 374.
— — Zeugungsfähigkeit
360.
— zweifelhaftes Geschlecht
353.
— Zwitterbildung 353.
Geschwülste, traumatische
850.
Carcinome 850.
— — Epithelcysten 852.
Gliome 851.
Lymphcysten 852.
Gesetz betr. den Verkehr
mit Nahrungsmitteln 617.
— — — — — Wein
618.
— — Verwendung ge-
sundheitsschädlicher Far-
ben 618.
— der Vererbung 217.
Gesichts-Bildung, Identific.
durch die 440.
SACHREGISTER.
1099
Gesichts-Verletzungen 961.
Gesundheitliche Conti'ole der
Prostitution 638.
Gesundheits-Arzt 1052.
— -Aufseher 1052.
— -Beschädigung 399.
Pflege 394.
— -Störung (forens.) 399.
— — in Folge von Ver-
letzungen 985.
Gewerbebetriebe, Einrich-
tung 404.
— Beleuchtung 404.
— Gefahren der 401.
- — Lüftung 404.
— Reinigung 404.
— Schutzmaassregelu 404.
— Unfallverhütiing 403.
— Verwendungsschutz 404.
Gewerbehygiene 401.
Gewerbliche Vergiftungen
402, 924.
Gewaltsame Todesarten 742.
Gewürze 317.
— Verfälschung 626.
Gift 916.
— Definition 916.
Gifte 924.
— Aetzgifte 924.
— anorganische 924.
— Blutgifte 941.
— Herzgifte 943.
— Mineralgifte 924.
— Nervengifte 943.
— organische 924.
— Parenchymgifte 935.
— Thiergifte 924.
Gift-Morde 924.
Selbstmorde 924.
Verkehr 81.
Wirkung 917.
Gliedersporen 117.
Gliedmaassenverletzungen
(forens.) 969.
Gliome 851.
Glühhcht 146.
Glycerin im Wein 622.
Gödicke's Optometer 712.
Gonococcus 123.
Gräfe's Prismenversuch 712.
Gram'sche Flüssigkeit 126.
Gram's Jodkaliumlösung
142.
Graviditas interstitialis 699.
— tubaria 699.
Graviditas tu])o-abdominalis
699.
— tubo-uterina 699.
Gremialordnung der Apo-
theker 56.
Grenz-Revision, sanitäre 214.
— -Sperre bei Rinderpest
204.
Grössenwahn 1080.
Gruben-Inhalt, Desinfection
von 1037.
System 5, 1034.
Grüfte 598.
— oberirdische 578.
— unterirdische 578.
Grund-Luft 169.
Wasser 170, 1017.
— -Wasserschwankungeu
170.
Guaranapaste 318.
Guillotinirung 748.
Gurken, chemische Zusam-
mensetzung 226.
Gutachten, Abgabe von 103.
— gerichtsärztliche 405.
Erstattung von 411.
— gesetzliche Bestimmun-
gen 405.
— Verfassen von 407, 411.
H.
Haare, Identificir. d. 440.
— Untersuch, (forens.) 412.
Hämatocele femin. traumat.
871.
Hämatomyelie, traumat. 826.
Hände, Identificir. d. 441.
Häring, chemische Zusam-
mensetzung 225.
Härte des Wassers 1020.
Haftsysteme 312.
— Anburn'sches System
313.
— Classensystem 313.
— Cumulativhaft 312.
— Einzelhaft 313.
— irisches System 315.
— Scliweigsystem 313.
— Progressivsystem 315.
Halbcolonien 246.
Hallucinationen 1080.
Halswunden 964.
Hammelfleisch 253.
Handapotheken 92.
Harnblasenrupturen 968.
Haschisch 327.
— Bestandtheile 327.
— Bhang 327.
— Churrus 327.
— Vergiftungen 328.
Haus- Apotheken 92,
— -Auslässe 13.
— -Gymnastik 489.
Kehricht 732, 1045.
Abfuhr 1046.
— — Beseitigung 732.
Menge 732, 1045.
— — Sammlung 732,
1045.
— — Verwerthung 731,
1046.
Müll 732, 1045.
Schwamm 1029.
Haut-Abschürfungen(forens.)
954.
— — Kratzwunden 954.
Haut-Geschwüre, simul. 711.
Hebammen, frei praktici-
rende 669.
Hebammen wesen 669.
Hebephreuie 1078.
Heeresergänzung 642.
Heidelberger Tonnensystem
6.
Heilstätten füi- Kinder 183.
— — Nervenkranke 184.
Unfallverletzte 184.
Heilanstalten für Lungen-
kranke 183.
Heimweh (forens.) 1080.
Heisswasser-Bad 109.
Trichter 138.
Heizanlagen 420.
— Centralheizung 422.
— Circulationsöfen 421.
— Dampfheizung 425.
— Füllöfen 421.
— Fussbodenheizung 426.
— Gasöfen 421.
— Heisswasserheizung 424.
— hygienische Anforderun-
gen 416.
— Kachelöfen 420.
— Kamine 420.
— Localheizung 420.
— Luftheizung 422.
— Massenöfen 420.
— Niederdruckdampfhei-
zung 425.
1100
SACHREGISTER.
Heizanlagen, Niederdruck- '
Wasserleitung 424.
— Oefen 420.
— Ventilationsöfen 421.
— Wärmeabgabe der 419.
— Warmwasserheizung 424.
— Wasserdunstheizung 425.
— Wasserheizung 423.
Heiz-Material 418.
— -Vorrichtungen 419.
■ — — Heizraum an 419.
— — Schornstein an 420.
— — Verbrennungsraum
an 419.
— -System, Perkin'sches
424.
Systeme 420.
Heizung 416.
— Betrieb der 418.
— centrale 422.
— continuirliche 417.
— locale 420.
Helligkeit e. Raumes 145.
Hermaphrodismus bilateralis
354.
— lateralis 354.
— unilateralis 354.
— verus 354.
Hernien, traumatische 867.
Herstellung v. Strassen 724.
Herzgifte 943.
Herzkrankheiten, traumati-
sche 856.
— — Endocarditis 757.
— — Herzdilatation 859.
— — Klappenruptur 858.
Myocard-Affect.859.
— — nervöse Störungen
895.
Pericarditis 860.
Herztod 538.
Herzwunden (forens.) 966.
— Stichwunden 966.
— Schusswunden 967.
HeteroSexualität 391.
Hiebwunden (forens.) 946.
Hilfe, erste 648.
Hilfs-Cassen 988.
— -Vereine 655.
Hinrichtung 746.
— durch Elektricität 749.
— — Enthauptung 748.
— — Erdrosseln 747.
— — Erhängen 747.
— — Erschiessen 747.
Hinrichtung durch Fallbeil
748.
— — Garrottirung 747.
— — Guillotine 748.
Hirn-Abscess, traumat. 814.
Blutungen, traumat. 815.
Histologie faulender Gewebe
549.
Hitzschlag 788.
Hodentuberkulose, traumat.
846.
Höchstgaben 593.
Höhenklima 590.
Hörübungen f. Taubstumme
739.
Hörweitebestimmung 713.
Holzpflaster 730.
Homöopathie, gesetzliche
Bestimmungen 95.
Homosexualität 391.
Hospitäler 493.
Hospitalfieber 493.
Hüftbein, Altersbestimmung
am 434.
Hühnercholera, Impfungen
gegen 1001.
Hulwa'sches Verfahren 17.
Humorale Hypothese 448.
Humanisirte Lymphe 688.
Hundefleisch 254.
— Geruch 255.
Hundswuthschutzimpfung
682.
Hungertyphus 708.
— Abwehr 708.
— Aetiologie 708.
— Heimat 708.
• — Wanderung 708.
Hydronephrose, traumati-
sche 864.
Hygiene der Ernährung
Fabriken 230.
— des Gefängniswesens
301.
— d. Tropen 873.
Hypnotische Suggestion 427.
— Verbrechen 427.
Hypnotismus 426.
— civilrechtlich 430.
— medicinalpolitisch 431.
Hypochondrische Verrückt-
heit 1086.
Hypochondrischer Verfol-
gungswahn 1086.
Hypochondrisches Irresein
1086.
Hypospadie (forens.) 364.
Hypostasen der Haut 540.
— äussere 540.
— innere 542.
Hysterie, traumatische 799.
Hysterisches Irresein 1086.
Hysterismus (forens.) 1086.
I.
Identitätsbestimmung 431.
— Alter 432.
— Aufgaben der 432.
— Behelfe zur 444.
— Geschlecht 435.
— gesetzliche Vorschriften
431.
— Körperbeschaffenheit
437.
— Mittel zur 442.
• Anthropometrie443.
— — Bertillonage 443.
Effecten 442.
— — Gipsmasken 444.
Kleider 442.
Photographie 442.
Idiotismus 1048.
Impf-Gesetzgebung 690.
Schutz 687.
Dauer des 687.
Impfung, Ausführung 688.
Impfungen, Veterinäre 998.
— — bei Hühnercholera
1001.
— — Lungenseuche 1000.
— ■ — • Maul- und Klauen-
seuche 1000.
Milzbrand 999.
Perlsucht 1001.
■ — — Pocken der Schafe
1000.
Rabies 999. "
— — Rauschbrand 999.
- — — Rinderpest 998.
— — Rothlaufseuche
1001.
Rotz 1001.
— — Schweinepest 1001.
— — Schweinesseuche
1001.
— — Tuberkulose der Rin-
der 1001.
Impfzwang 687.
SACHREGISTER.
1101
Immunisirimgs-Eiuheit 121.
Werth 121.
Immunität 444.
— angeborene 444.
— Arten- 444.
— Erschöpfungshypothese
447.
— erworbene 445.
— humorale Hypothese 448.
— mdividuelle 444.
— künstliche 445.
— natürliche 445.
— Phagocytentheorie 447.
— Rassen- 444.
— Eetentionshj'pothese 447.
Immunitätstheorien 444.
Impotentia coeandi 362.
— coneipiendi 371,
— geuerandi 367.
— gestand! 374.
— parturiendi 374.
Impotenz (forens.) 362.
— psychische 363.
Indischer Hanf (Haschisch)
327.
Individuelle Immunität 444.
Infection, traumatische 840.
— und Trauma 840.
Infectionskrankheiten, trau-
matische 840.
— — Gelenktuberkulose
842.
— — Knochentuberkulose
842.
— — Lungentuberkulose
844.
— — Osteomyelitis 846.
— — Syphilis 847.
Tuberkulose 841.
— — — der Meningen
844.
— — — des Urogenital-
apparates 846.
Infectionsstoffe im Gewerbe-
betriebe 402.
Innungskrankencassen 988.
Insufficienz,psychische 1075.
Invalidenhäuser 497.
Invaliditätsversicheruug 990.
Invasionskrankheiten 449.
Irisch-römisches Bad 110.
Irisches System im Gefäng-
niswesen 315.
Irrenanstalten 460.
— coloniale 466.
IrrenpHege 457.
— agricole Colonien 464.
— familiale 465.
— Non-Restraint-System
462
— Pavillonsystem 462.
— staatliche Organisation
468.
Irresein, alkoholisches 1085.
— epileptisches 1086.
— hypochondrisches 1086.
— hysterisches 1086.
— moralisches 1078.
Isobaren 588.
J.
Joddämpfe, hygienische
Schädlichkeit 233.
Jodjodkaliumlösung (bak-
ter.) 142.
Jodoformpsychose 1071.
Jugendirresein (forens.)
1078.
Jugendspiele 489.
Jungfrauschaft (forens.) 374.
— Untersuchung 375.
— zweifelhafte 374.
K.
Käse, chemische Zusammen-
setzung 225.
Kaffee 317, 318.
— havarirter 320.
— marinirter 320.
— Surrogate 320.
— Verfälschungen 320,
625.
Kaffeesurrogate 320.
— Cichorienwurzel 320.
— Continentalkaffee 320.
— Eichelkaffee 320.
— Feigenkaffee 320.
— Kinderkaffee 320.
— Schwedischer Kaffee 320.
Kalbfleisch, chemische Zu-
sammensetzung 225.
Kafildesinfector 3.
Kalkfarben (hygien.) 240.
Kalkmilch zur Desinfection
189.
Kantharidenvergiftung 934.
Karawanenhvgiene 880.
Kartoffel-Culturen (bakter.)
132.
Cylinder (bakter.) 139.
Hälften (bakter.) 139.
Kartoffeln, chemische Zu-
sammensetzung 226.
Kasernen 595.
— Abfallbeseitigung 598.
— Anlage von 595.
— Bäder 599.
— Fussboden 597.
— Heizung 598.
— Kellerräume 596.
— Luftemeuerung 597.
— Wassei'versorgung 598.
Katastrophen 649.
Kasernirte Prostitution 636.
Kasparek's Apparat 127,
132.
Kassenärzte 988.
Kehricht 1045.
Keimgehalt der Luft 897.
Kermesbeeren zum Wein-
färben 623,
Kerzen 146.
Kinder-Spielplätze 727.
Sterblichkeit 716, 718.
Kindes, Lebensfähigkeit des
533,
Kindesmord 468.
— Arten von 482.
Kirchhöfe 571.
— Anlage 571.
— Begräbnisturnus 582.
— Bepflanzung 574.
— Betrieb 575.
— Grüfte 578.
— Schliessung von 583.
Klär-Gruben 1040.
Verfahren d. Abwässer
14, 16.
Klappennipturen, traumati-
sche 858.
Kleesalzvergiftung 927.
Kleidung 484.
— hygienische Aufgabe der
484.
— der Fabrikarbeiter 238.
— — Leichen 580.
Klima 590.
— arktisches 590.
— gemässigtes 590.
— Höhen- 590.
— tropisches 590.
1102
SACHREGISTER.
Knappscliaftskassen 988,
991.
Knochen-Brüche (forens.)
956, 965.
— -Kerne, Altersbestim-
mung 434.
— -Tuberkulose, traumati-
sche 842.
— -Versteinerung 551.
— -Verwesung 551.
Koch'scher Dampftopf 137.
Koch's Plattengiessapparat
130.
— Plattenverfahren 130.
Kochsalz als Genussmittel
317.
Körperbeschaffenheit,Alters-
be Stimmung durch 437.
■ — Augen 440.
— Ernährungszustand 439.
— Gesichtsbildung 440.
— Haare 440.
— Hände 441.
— Kennzeichen, besondere
441.
— Körpergrösse 437.
— Kopfbildung 440.
— Narben 338.
— Nase 441.
— Schädel 440.
— Skelettlänge 437.
— Tätowirungen 339.
— Zähne 441.
Körpergrösse, Identificirung
durch 437.
Körperübung 486.
■ — Bergsteigen 490.
— Eislauf 490.
— Fechten 489.
— Fusswandern 490.
— Hausgymnastik 489.
— Jugendspiele 489.
— milit. Exerciren 489.
— Radfahren 490.
— Schneeschuhlauf 490.
— Schwimmen 491.
— Tanzen 489.
— Turnen 488.
— Volksspiele 489.
— Zimmergymnastik 489.
Körperverletzungen 945.
Kohlenbrei verfahren 1 7 .
Kohlen dunst, Vergiftung m.
942.
Kohlenhydrate 221.
Kohlenoxyd-Gas, hygienische
Schädlichkeit 231.
— — in der Luft 591.
— -Vergifung 942.
Kohlensäure d. Luft 59 1,898.
— hyg. Schädlichk. 231.
Koplbildung, Identific. 440.
Kopfverletzungen (forens.)
957.
— Gesicht 961.
— Schädel 957.
— Schädelbrüche 959.
— Sinnesorgane 962.
— Zähne 962.
Kost, Zusammensetzung 225.
Kostsätze für Arbeiter 227.
Gefangene 228.
Soldaten 228.
Krankenanstalten 491.
— ■ Anlage und Bau 494.
— Beaufsichtigung 496.
— innere Einrichtung 495.
— Unterbringung der Kran-
ken 496.
Kranken-Beförderung 502.
Führer 502.
Führung 502.
— -Journal bei Epidemien
720.
Krankenkassen 988, 991.
— Baukrankenkassen 988,
991.
— Betriebskrankenliassen
988, 991.
— Bezirkskrankenkassen
991.
— Bruderladen 991.
— Fabrikskrankenkassen
— Geuossenschaftskrauken-
kassen 991.
— Hilfskassen 988.
■ — Innungskrankenkassen
988.
— Knappschaftskassen 988,
991.
— Ortskrankenkasssen 988.
- — Vereinskrankenkassen
991.
Krankenkassen-Gesetz, deut-
sches 987.
— — österreichisches 991.
Krankenkassenwesen 988.
Kranken-Pflege 498.
— — Geschichte d. 501.
Kranken-Pfleger 501.
— -Pflegerinnen 501.
Schiffe 510.
Träger 503.
— -Tragung 503.
Kranken-Transport 502.
— m. Bahre 505.
— — Gebirgsbahre 506.
— — Kankenwagen 507.
— — Kraxe 505.
— — Maulthieren 507.
— — Räderbahre 506.
— — Reitradbahre 506.
Kranken-Transportwageu
507.
— -Versicherung 987.
Wagen 507.
— -Waggons 657.
Zug 508.
Krankhafte Triebe 1080.
Krankheiten der Gefangenen
304.
— — Verbrecher 304.
— verstellte 709.
— vorgeschützte 720.
Krankheitsstatistik 720.
Kratzwunden (forens.) 954.
Kreis-Physiker 668.
Wundärzte 668.
Kriminalanthropologie 511.
— Atavismus 512.
— Degenerationszeichen
515.
— Moral-Insanity 516.
— Verbrechergehirn 512.
- — Verbrecherphysiologie
514.
— Verbrech er typus 511.
Krimineller Abortus 273.
Kübelsystem 1036.
Künstliche Immunität 445.
Küstenwehr 659. •
Kugel'scher Versuch 712.
Kuhmilch, chemische Zu-
sammensetzung 225.
Kuhpockenlymphe 689.
Kunstfehler, ärztliche 519.
— — Arten der 520.
— — gesetzliche Bestim-
mungen 419.
Kupfer-Farben (hygien.)240.
Sulfat z.Desinfect. 189.
— -Salze, Vergiftung mit
932.
Kurpfuscher 526.
SACHREGISTER.
1103
Kurpfuscherei 526.
Kurzsichtigkeit der Schul-
kinder 677.
Lähmungen, simulirte 713.
Lähmungsirresein 821.
Lampen 146.
Landes-Sanitätsrath 670.
— -Sanitätsreferenten 670.
Lappenwunden (forens.)9 4 6 .
Laugensalz Vergiftung 929.
Lautsprache 736.
Lazarethzüge 508.
Lebensdauer, durchschnitt-
liche 719.
— -Statistik 715.
Lebensfähigkeit des Kindes
533.
Lebensproben 470.
Lungenschwimmprobe
474.
Magendarmschwimm-
probe 476.
Lebensunfähigkeit 533.
Leber, traumatische Affec-
tionen der 861.
— — Hepatitis traumatica
862.
— — Leberabscess 862.
Wanderleber 862.
Leberrupturen 967.
Leberwurst, chemische Zu-
sammensetzung 225.
Leichenalkaloide 548.
— Amine 548.
— Anthracin 549.
— Betain 548.
— Cadaverin 548.
— Cholin 548.
— CoUidin 548.
— Convulsivin 549.
— Diamine 548.
— Erysipelin 549.
— Gadinin 549.
— Hydrocollidin 549.
— Ichthyotoxin 549.
— Morbillenptomatin 549.
— Muscarin 548.
— Mydaflein 549.
— Mydatoxin 548.
— Mydin 549.
- — Neuridin 548.
— Neurin 548.
Leichenalkaloide, Parvolin
549.
— Ptomatropin 549.
— Ptomatocurarin 549.
— Putrescin 548.
— Tetanin 549.
- — Tetanotoxin 549.
— Tyrotoxin 549.
Leichen-Beschau 700.
— -Besichtigung 702.
— — äussere 702.
— — innere 702.
Fett 551.
Leichenerscheinungen 537.
— Blutsenkungen 540.
— chemische 539.
— Erkalten der Leichen
539.
— Erstarrung der Leichen
542.
— Fäulnis 546.
— Fäulnis-Bakterien 547.
Blasen 542.
— — -Transsudat 542.
— Fettwachsbildung 551.
— Gänsehaut 544.
— Leichen-Alkaloide 548.
Starre 542.
— — -Zersetzung 545.
— Mumification 552.
— physikalische 539.
— physiologische 539.
— Ptomaine 548.
— Sarggeburt 544.
— Todten-Flecke 540.
Starre 542.
— Vertrocknung 540, 552.
— Verwesung 546.
- — — der Knochen 551.
Leichen-Frauen 537.
Hallen 561.
— -Kammern, unterirdische
578.
— -Kleidung 580.
— -Oeffnung 700.
Pass 563.
Schau 538.
— — obligatorische 717.
— -Schauer 717.
— — ärztliche 718.
— -Starre 542.
— — Dauer der 543.
— — Gang der 543.
— — intrauterine 542.
— — kataleptische 543.
Leichen-Starre, Ursache der
544.
Transport 563.
— — gesetzliche Bestim-
mungen 563.
Pass für 563.
— -Untersuchungen 562.
— -Veränderungen 545.
— -Verbrennung 566.
Ofen (m. Abbild.) 570.
— -Vertrocknung 540,552.
— — Vertrocknungsflecke
540.
Wachs 551.
Leichenwesen 553.
— Beerdigung 554.
— Begräbnisturnus 578,
582.
— Bestattungsarten 554.
— Columbarien 568.
— Crematorien 568.
— Einbalsamirung 584.
— Erdbestattung 566.
— Exhumirung 565.
— Feuerbestattung 566.
— Friedhöfe 571.
— Grüfte 578.
— Kirchhöfe 571.
— Kleidung 580.
— Leichen-Hallen 561,
— — -Kammern, unter-
irdische 578.
Pass 563.
Transport 563.
— Untersuchungen 562.
— — -Verbrennung 566.
- — — -Verbrennungsofen
570.
— Massengräber 580.
— Mumification, künstliche
584.
— Särge 579.
— Sectionsziramer 563.
— Verwesungsbeförderung
581.
Leichenzersetzung 545.
Leptothrix 118.
Leuchtendes Fleisch 260.
Leuchtgas 147.
— Argandbrenner 146.
— Glühlicht 146.
— Schnittbrenner 146.
— Siemensbrenner 146.
— Zweilochbrenner 146.
Leuchtkraft 148.
1104
SACHREGISTER.
Leukämie, traumatische 849.
Licht, hygienische Bedeutung
236.'
Licht-Farbe 150.
— -Messung 1059.
Meterkerze 1059.
— — Weber' s Photometer
1059.
Raumwinkelmesser
1059.
Liernur's pneumatisches Sy-
stem 1 1 .
Liernur-System 1043.
Liqueure, Verfälschung 625.
Liqueurweine, Verfälschung
624.
Lockfeuerung 915.
Löffler'sche Beize 142.
Löffler's Methylenblau 142.
Loggia 1057.
Lüftungseinrichtungen 911.
— Abluft 911.
— Drucklüftung 912.
— Sauglüftung 912.
— Zuluft 911.
Luft 585.
— atmosphärische 896.
— bakteriologische Unter-
suchung 134.
— chemisches Verhalten
590.
— der Schulen 675.
— Feuchtigkeit 587.
— Keimgehalt 897.
— Klima 590.
— Kohlensäure 898.
• — Luftbewegung 588.
— Luftdruck 588.
— Niederschläge 589.
— Russ 897.
— Schimmelpilze 897.
— Spaltpilze 897.
— Staub 897.
- — Temperatur 586.
— Verunreinigung 899.
— Wasserdampf 898.
— Zusammensetzung 590.
Luft-Bewegung 588.
Cubus 905.
— -Durchlässigkeit des Bo-
dens 169.
Druck 588.
— — Isobaren 588.
Haube 915.
Feuchtigkeit 587.
Luft-Feuchtigkeit, absolute
587.
— — Haarhygrometer
587.
— — hygienische Bedeu-
tung 587.
— — Messung der 587.
— — Psychrometer 587.
— — Sättigungsdeficit 587.
Thaupunkt 587.
Schwitzbad 110.
Staub 1047.
— — -Keimgehalt 1047.
— -Wechsel, natürlicher
910.
Lungenaffectionen, trauma-
tische 852.
— — Lungen-Emphysem
856.
— — Gangrän 855.
— — — -Tumoren 856.
— — Pleuritis 855.
— — Pneumonien 852.
Tuberkulose 844.
Lungen-Quetschung 965.
— -Schusswunden 966.
— -Schwimmprobe 474.
Seuche 202.
— — Impfung gegen 1000.
— -Stichwunden 966.
Tod 538.
Lustmorde 384.
Lymphcysten, traumatische
852.
Lymphe, animale 688.
— Gewinnung 688,
— humanisirte 688.
— Keimgehalt 689.
— Kuhpocken 689.
Lysol 189.
M.
Magen, traumatische Er-
krankungen des 865.
— Geschwür 866.
■ — Magenwandcyste 866.
— Merjcismus 866.
Magendarmschwimmprobe
476.
Mageuzerreissungen 968.
Magnesiumverbindungen im
Wein 623.
Makadam 730.
Malaria-Fieber 174.
Malaria-Organismen i. Boden
173.
Malignes Oedem im Fleisch
265.
Mallein 447.
Maltheserorden 655.
Manganfarben (hygien.) 240.
Mania transitoria 1083.
Maniakal. Anfälle 1080.
Mannweiber 359.
Marktpolizei 592.
Masochismus 391.
Massen- Aborte 1040.
Cultur (bakter.) 129.
— '- -Ernährung 227.
Gräber 580.
Locale 1066.
— — Gefahren der 1067.
• — — Schutzvorschriften für
1068.
— -Unglücke 662.
Mastdarmverletzungeu (fo-
rens.) 968.
Mat6 318.
Mauerfrass 1027.
Maul- und Klauenseuche 202.
— Impfung gegen 1000.
Maximaldosen 593.
Medicinal-Collegien 667.
Pfuscher 526.
Polizei 663.
Vergiftungen 924.
Käthe 667.
— -Weine, Verfälschung
624.
— -Wesen 663.
Meerwasser 112, 1017.
Mehl, Verfälschung 620.
Melancholie, simulirte 715.
Melanose, cadaveröse der
Magenschleimhaut 542.
Meningealapoplexie, trau-
matische 821.
Meningen-Tuberkulose, trau-
matische 844.
Meningitis suppur., trauma-
tische 811.
Meningocele spur. spin.,
traumatische 825.
Menschenlymphe 689.
Meristaform (bakter.) 117.
Merycismus, traumatische
866.
Meterkerze 143, 1059.
Metallstaub 235.
SACHREGISTER.
1105
Methylenblau, Löfflcr's 142.
Farbstoffe (hygien.) 242.
— -Lösung 142.
Miasma 174.
Miasmatische Krankheiten
450.
Microooccus 118.
— ■ gonorrhoeae 140.
— pyogeues u. aur. 140.
— tetragenus 140.
Miescher'sche Schläuche
263.
Mikrocephalie 1078.
Mikroorganismen in der
Luft 591.
Milch, bakteriologische Un-
tersuchung 135.
— als Nährboden (bakter.)
138.
— Verfälschung 619.
Colonien 246.
— -Serumgelatine 139.
Militär-Ausrüstung 601.
— Bekleidung 600.
— Fussbekleidung 601.
— Handschuhe 601.
— Kopfbedeckung 600.
— Mantel 601.
— Oberhose 601.
— Unterkleidung 601.
— Waffenrock 601.
Militär-Curschmiede 1007.
Militär-Gesundheitsdienst
595.
— — Bekleidung der Sol-
daten 600.
— — Beschäftigung 603.
— — Ernährung 602.
Unterkunft 595.
— — — Baracken 599.
— Biwaks 599.
Feldlager 599.
— Hütten 599.
— — — Kasernen 595.
Schiffe 600.
Zelte 599.
Militär-Krankendienst 604.
— — Ersatzlazarethe 607.
Feldlazarethe 607.
— — Garnisonslazarethe
607.
Standlazarethe 607.
Militär - Sanitätsmaterial
614.
Militär-Sanitätsmaterial für
d. Gesundheitsdienst 615.
— — für den Kranken-
dienst 615.
— — für die Rekrutirun-
gen 614.
fürd. Unterricht 614.
Militär-Sanitätspersonal
613.
— -Sanitätsverfassung 613.
Thierärzte 1007.
Exerciren 489.
Milz, traumatische Erkran-
kung 865.
— Wandermilz 865.
Milzbrand 202.
— -Bacillen im Boden 172.
— im Fleisch 265.
— Impfung gegen 999.
Milzzerreissungen (forens.)
967.
Mineral-Bäder, Wirkung der
111.
Staub 235
Moderbildner 550.
Möbel, hygienische Beschaf-
fenheit 1066.
Möhren, chemische Zusam-
mensetzung 226.
Molenschwangerschaft 698.
— Blasenmolen 698.
— Blutmolen 698.
— Fleischmolen 698.
Monomanien 1080.
Moral-Insanity 516, 1078.
Morbiditätsstatistik 715.
Morphin 329.
— Verkehr mit 329.
Morphinismus 329, 1085.
Morphiophagie 329.
Morphiumvergiftung 944.
— Leichenbefund 944.
Mortalitätsstatistik 715.
Morvan'sche Krankheit, trau-
matische 827.
Moule's Erdcloset 6.
Multiple Sklerose, trauma-
tische 828.
Mumification 552.
— künstliche 584.
Muskel-Actinomykose im
Fleisch 266.
Arbeit 487.
Atrophie, traumatische
831.
Bibl. med. "Wissenschaften, Hygiene u. Ger. Medicin.
Muskel -Collaps, trauma-
tischer 836.
— -Degeneration, trauma-
tische 837.
— -Distomum im Schweine-
fleisch 263.
Mutterkornvergiftung 940.
Myalgien, traumatische 837.
Mycobacterium tuberculosum
140.
Myelitis, traumatische 825.
N.
Nabelbrüche, traumatische
869.
Nachtherbergen 497,
Nachweis venerischer Aftec-
tionen 350.
— einer stattgehabten Bei-
schlaf shandlimg 377.
• — von Sperma 348.
Nährböden 138.
— Alkalialbuminat, festes
139.
— Apparat zum Abmessen
und Einfüllen 139.
— Bereitung von 137,138.
— Blutserum 139.
— Blutserumgelatine 139.
— eiweissfreie 138.
— feste 138.
— festes Alkalialbuminat
139.
— Fleischwasser - Bouillon
138.
— — -Peptonagar 139.
— — -Peptongelatine 138.
— flüssige 138.
— geschälte Kartoftelhälf-
ten 139.
— Kartoffelcylinder 139.
— Kartoffelhälften 139.
— Milch 138.
— Milchserumgelatine 139.
— neutrale 139.
— Oblaten 142.
— reducirende 139.
— ungeschälte Kartoftel-
hälften 139.
Nahnsen'sches Verfahren 17.
Nahrung (hygien.) 237.
— für einen Arbeiter 227.
Nahrungsbedarf 223.
70
1106
SACHREGISTER.
Nahrungsmittel 225.
— Aepfel 226.
— animalische 225.
— Bohnen 226.
— Butter 225.
— chemische Zusammen-
setzung 225.
.— Conservirung 224.
— Erbsen 226.
— Gesetz 617.
— Gurken 226.
— Häring 225.
— hygienische Anforderun-
gen 224.
— Kalbfleisch 225.
— Kartoffeln 226.
— Käse 225.
— Kuhmilch 225.
— Leberwurst 225.
— Möhren 226.
— Ochsenfleisch 225.
— Pöckling 225.
— Pumpernickel 226.
— Eeis 226.
— Eoggenbrot 226.
— Rothkraut 226.
— Schellfisch 225.
— Schinken 225.
— Schweinefleisch 225.
— Steinpilze 225.
— vegetabilische 225.
— Yerfälschung 617.
— Weizenbrot 226.
— Weintrauben 226.
— Zubereitung 224, 229.
Nahrungsmittelverfälschung
617.
— Bier 624.
— Branntwein 625.
— Brot 620.
— Butter 619.
— Fleischwaaren 626.
— Gewürze 626.
— Kaffee 625.
— Liqueure 625.
— Liqueurweine 624.
— Medicinalweine 624.
— Mehl 620.
— Müch 619.
— Schmalz 627.
— Süssweine 624.
— Thee 625.
— Wein 620.
— Wurstwaaren 626.
Narben, ger. med. Unter-
suchung 333.
— Altersbestimmung 335.
— Folgezustände 336.
— Heilverlauf 338.
— Herkunft 334.
— Identitätsnachweis 338,
441.
— Sitz 337.
— Verunstaltungen durch
336.
Nase, Identificirung durch
441.
Natürliche Immunität 445.
Nebenhodentuberkulose,
traumatische 846.
Nervenerkrankungen, trau-
matische 794, 894.
— — alimentäre Glykosu-
rie 798.
— — cerebrale Neurosen
799.
800.
Emotionslähmung
— - — Gelenkneurosen 799.
Hysterie 799,
— — hysterische Hämo-
ptoe 801.
— — — Tachypnoe 801.
— — hysterischer Tremor
799.
— — Neurasthenie 802.
— — Neurosen 803.
— - — Psychoneurosen 803.
— — Pteflexhysterie, trau-
matische 802.
— — Schrecklähmung 800.
Nervengifte 943.
— Atropin 944.
■ — Morphium 944.
— Opium 944.
— Strychnin 944.
Nervenkrankheiten, simul.
713.
-- — Anästhesien 713.
— — Epilepsie 714.
— — Lähmungen 713.
— — Neuralgien 714.
— — Railway-spine 714.
— — traumatische Neuro-
sen 714.
Nervensystems, traumatische
Affectionen des peripheren
833.
— Krampfzustände 833,
Nervensystems, Myoclonus •
fibr. mult. 833.
— tr. Äff., Myokymie 833.
— Neuralgien 834.
— Parästhesien 835.
Nephritis, traumatische 864.
Nephrolithiasis, traumatische
865.
Neuralgien, simulirte 714.
Neurasthenie, traumatische
802.
Neurosen, simulirte 714.
— traumatische 803.
Neutrale Nährböden 139.
Niederschläge 589.
Nieren, traumatische Er-
krankungen 862.
— Hydronephrose 864.
— Nephritis 864.
— Nephrolithiasis 865.
— Nierenruptur 863.
— Wanderniere 862.
Nierenrisse (forens.) 968.
Nitrofarbstoffe (hygien.) 241.
Nitrosofarbstoffe (hj^gienisch)
241.
Nitrosoindolreaction 133.
Normal-Kerze 143,
— -Serum 121.
Nostalgie (forens.) 1080.
Noth- Apparate für Aerzte92,
94.
Nothzucht 376.
Nutzwasser 1018.
0.
Obduction 700.
— . Abfassung des Protokolls
702.
— allgemeine Bestimmun-
gen 700.
— äussere Besichtigung701.
— innere Besichtigung 701.
— Verfahren bei der 700.
Obductions-Bericht 702.
— -Protokoll 702.
Oberflächenwasser 1016.
Obermedicinal-Ausschuss
669.
Obermedicinalrath 669,
Oblaten als Nährboden 142.
Oberster Sanitätsrath 670.
Obsorge für entlassene Sträf-
linge 316.
SACHREGISTER.
1107
Obstweine 326.
Ochsenfleiscli, chemische Zu-
sammensetzung 225.
Oefen 420.
— Barackenofen 421.
— Berliner Ofen 420.
— Circulationsöfen 421.
— eiserne 420.
— Fiülöfen 421.
— Gasöfen 421.
— gemischte 420.
— Kachelöfen 420.
— Karlsruher Schulofen
422.
— ^ Kanonenöfen 420.
— Kasernenöfen 420.
— Mäntel-Regulir-Füllöfen
421.
— Massenöfen 421.
— Reflectoröfen 422.
— russische 420.
— Säulenöfen 420.
— Schachtöfen 421.
— Schüttöfen 421.
— schwedische 420.
— Ventilationsöfen 421.
Oeffentliche Prostitution631.
Oekonomische Vergiftungen
924.
Oellampen 146.
Oestruslarven im Fleisch
264.
Ohrblutgeschwülste (forens.)
963.
Ohrkrankheiten, simulirte
713.
— — doppelseitige Taub-
heit 713.
— — einseitige Taubheit
/ lo.
— — Hörweitebestimmung
713.
— — Nachweis 713.
— — Schwerhörigkeit713.
— — Stimmgabelversuch
713.
Taubheit 713.
Oospora bovis 140.
— farcinica 140.
Opium 328.
— Chandu 328.
Essen 328.
Genuss 328.
— -Rauchen 328.
■ — -Vergiftung 944.
Optometer von Gödicke 712.
Ordensapotheken 95.
Organische Farbstofte 241.
— — Anilinfarben 241,
— — Antrachinon färben
242.
— — Auriue 241.
— — Azine 242.
— — Azofarbstoffe 241,
— — Indigo 242.
— — Methylenblaugruppe
242.
Nitrofarbstoffe 241.
— — Nitrosofarbstoffe241.
Phtaleine 241.
— — Rosanilinfarbstoffe
241.
— — Rosolsäurefarbstoffe
241.
Triphenylmethanfarb-
stoffe 241.
Organrupturen 956, 965.
— Herz wunden 966.
— Lungenquetschung 965,
— Lungenstichwunden 996.
Orientirung der Strassen
727.
Ortskrankenkassen 988.
Osteomyelitis, traumatische
846.
Ovarialschwangerschaft 699.
Oxalsäurevergiftung 927.
Ozon in der Luft 590.
P,
Pacini'sche Flüssigkeit 164.
Päder asten 390.
— active 390.
— passive 390.
Päderastie 390.
PankreascysteUj traumati-
sche 869.
Parästhesien, traumatische
855.
Paraffinkerzen 146.
Paraguay thee 318.
Paralysis agit., traumatische
823.
Paranoia (forens.) 1079.
Parasiten 118.
Paratyphlitis, traumatische
867.
Parenchymgifte 935.
— Antimom 940.
Parencliymgifte, Arsen 938.
— Blei 940.
— Muttorkorn 940.
— Phosphor 936.
Parks 727.
Partialtaube 738.
Partus praecipitatus 299.
— praematurus = Frühge-
burt 292.
Pasteur'sche Schutzimpfung
682.
Patholog. Affecte 1082.
Patriotische Hilfsvereine
655.
Pennen 497,
Pericarditis, traumatische
860.
Peritonitis, traumatische872,
Perityphlitis, traumatische
867.
Perlsucht, Impfung gegen
1001,
Perniciöse Anämie, trauma-
tische 849.
Personalprivilegien der Apo-
theken 51.
Perverser Geschlechtstrieb
391.
Pest 706.
— Abwehr 707.
— Aetiologie 706.
— Heimat 706.
— Krankheitserscheinungen
706.
— Verbreitung 706.
— "Wanderung 706.
Pestschutzirapfung 684.
Petri'sches Verfahi'en 11.
Petrischalen 130.
Petroleum 146,
Petroleumglühlicht 149.
Pferdefleisch 253.
— Fett 254.
— Geruch 254.
— Glykogen 254.
— Nachweis von 256.
Pflanzliche Parasiten des
Fleisches 264.
Spaltpilze 264.
Phagocytentheorie 447.
Pharmaceut. Ausbildung 40.
— — Belgien 46,
— — Deutschland 41,
— — England 44,
— — Frankreich 46.
70*
1108
SACHREGISTER.
Pharmaceut. Ausbildung,
Grieclienland 48.
Holland 45.
Italien 47.
— — Norwegen 47.
— — Oesterreich 42.
— — Russland 48.
— — Schweiz 45.
— — Spanien 47.
— — Ungarn 42.
Pharmacie siehe Apotheken-
wesen 23.
— -Aspirant 41.
— Doctorat der 44, 46.
Pharmakopoen 25.
— internationale 33.
— Universal- 33.
Phosphattorf 189.
Phosphorescenz der Bakte-
rien 122.
Phosphor-Vergiftung 936.
Leichenbefund 937.
— — Nachweis 938.
Symptome 936.
— -Vergiftungen in Fabri-
ken 235.
— -Wasserstoff, hygienische
Schädlichkeit 233.
Photographie, Identitäts-
nachweis durch 442.
Photometer 143, 1059.
Phragmidiothrix 118.
Phtaleine (hygien.) 241.
Physikatsprüfung 668.
Pissoiranlagen 1042.
— Beckenpissoire 1042.
— Oelpissoire 1043.
— Rinnenpissoire 1042.
— Trockenpissoire 1043.
Pissoirs 7, 1042.
Platten-Griessapparat, Koch-
scher 130.
Pflaster 730.
Verfahren 129, 130.
Plectridium 118.
Pleuritis, traumatische 855.
Pneumatisches System 11.
Pneumatophor 660.
Pneumococcus Fränkel 123,
Pneumonien, traumatische
852.
Pocken 707.
— Abwehr 707.
— Aetiologie 707.
— Heimat 707.
Pocken, lirankheitserschein-
ungen 707.
— Mortalität 687.
— Schutzimpfung 686.
— Verbreitung 707.
— Wanderung 707.
Pocken der Schafe 202.
— — — Impfung gegen
1000.
Pöckling, chemische Zusam-
mensetzung 225.
Polit. Wahnsinn 1080.
Porenvolum des Bodens 169.
Posthypnot. Suggestion 428.
Postmortale Ausblutung 547.
— Blutaustretungen 541.
— Fettbildung 552.
— Leichenveränderungen
545.
— Sauerstoffzehrung 538.
— Temperatursteigung 539.
— Verletzungen 968.
Poudrettefabrication 9,
1037.
Präparation der Fäcalien 9.
Prager freiwilliges Rettungs-
corps 654.
Prismenversuch von Gräfe
712.
Privatstrafen 723.
Privilegirte Apotheken 51.
Progressive traumatische
Muskelatrophie 831.
— — Paralyse 821.
Progressivsytem im Gefäng-
nisswesen 315.
Promenadenwege 730.
Prophylaxe geg. Staub 236.
Proskowetz'sches Verfahren
16.
Prostituirte 631.
— Controle der 638.
— freie 637.
— geheime 631.
— gesundheitliche Controle
638.
— ■ kasernirte 636.
— öffentliche 631.
— Wohnungsverhältnisse
637.
Prostitution 628.
— Abolitionisten 633.
— Bekämpfung 632.
— Bordellfrage 636.
— freie 636.
Prostitution, geheime 63 1^
640.
— Gelegenheitshäuser 631.
— gesundheitliche Controle
638.
— kasernirte 636.
— öffentliche 631.
— Reglementirung 636.
— Strafgesetze 640.
— Ursachen 630.
— Verbreitung 631.
— Verhalten des Staates
633.
— Zuhälterthum 641.
Proteus vulgaris 124.
Protokoll, Abfassung bei
gerichtlichen Untersu-
chungen 102.
Provocirter crimineller Abor-
tus 273.
Prüfungsordnung für Phar-
maceuten 44.
Psorospermien im Fleisch
263.
Psychische Impotenz 363.
— Insufficienz 1075.
Psychoneurosen, traumati-
sche 803.
Psychosen, toxische 1084.
— traumatische 819.
— verschiedene 1086.
Ptomaine 548.
Ptomatine 548.
Pudrettirung 1037.
Pulsionslüftung 912.
Pumpernickel, chemische
Zusammensetzung 226.
Pyämie im Fleisch 265.
Pyrometer für Desinfections-
apparate 192.
Q.
Quecksilber-Farben(hygien.)
240.
— -Vergiftungen 930.
— — in Fabriken 234.
Quellen 170.
Querulantenwahn 1080.
Quetschrisswunden 956.
Quetschungen (forens.) 952.
— Bisswunden 955.
— Blutunt erlaufungen 952.
— Contusionen 952.
— Hautabschürfungen 954.
SACHREGISTER.
1109
Quetschungen, Kratzwunden
954.
— Quetschwunden 955.
R.
Rabies, Impfung gegen 999.
Rabl'sche Tafeln 712.
Rabl-Rückhard's Verfahren
712.
Radfahren 490.
Räude der Pferde u. Schafe
203.
Railway-spine, simulirte 714.
Rainey'sche Körperchen 263.
Rangordnung der Strassen
723.
— - — — Geschäftsstrassen
723.
— — — Verkehrsstrassen
723.
Wohnstrassen 723.
Raptus melancholic. 1080.
Raserei (forens.) 1080.
Rassenimmunität 445.
Raumwinkelmesser 144,
1059.
Rauschbrand der Rinder 203.
— — Impfung gegen 999.
Realprivilegien der Apothe-
ken 51.
R econvalescenten-Anstalten
497.
— -Heime 181.
Recrutirung 642.
Reducirende Nährböden 139.
Reflex- Hysterie, traumatische
802.
— -Psychosen, traumatische
822.
Regenerativbrenner 148.
Regenwasser 1016.
Reglementirung der Prosti-
tution 636.
Reichs-Gesundheitsamt,
deutsches 663.
— -Impfgesetz, deutsches
690.
— -Versicherungsamt 990.
Reincultur (bakter.) 129.
Reinigung des Wassers 1022.
Reis, chemische Zusammen-
setzung 226.
Religiös. Wahnsinn 1080.
Retentionshj-pothese 447.
Rettung Schiffbrüchiger 659.
Rettungs-Abtheilungen 654.
— -Anstalten 651.
— -Ausschuss für verun-
glückte Touristen 660.
Boote 659.
— -Corps 654.
— -Einrichtungen derEisen-
bahnen 658.
— -Geschosse 659.
— -Gesellschaften 661.
Freiwillige 651,654.
— — Organisirung 661.
— -Kasten 657.
Ringe 659.
— -Wagen 657.
— -Wesen 648.
Revision der Apotheken
53-74.
— — Drogenhandlungen
80.
— — Gifthandlungen 80.
— — Materialwaarenhand-
lungen 80.
Richtung der Strassen 727.
Rigor mortis 542.
Rinderpest 203.
— Impfung gegen 998.
Rindfleisch 253.
Rippen, Altersbestimmung
an 434.
Risswunden (forens.) 955.
Röckner-Rothe'sches Ver-
fahren 17.
Roggenbrod, chemische Zu-
sammensetzung 226.
Rollplatten, Esmarch'sche
131.
Rosanilinfarbstoffe (hygien.)
241.
Rosolsäurefarbstoffe(hygien.)
241.
Rothes Kreuz 655.
Rothkraut, chemische Zu-
sammensetzung 226.
Rothlauf der Schweine 203.
— — — Kachweis im
Fleisch 265.
— -Seuche, Impfung gegen
1001.
Rotz, Impfung gegen 1001.
Krankheit 202.
— — Nachweis im Fleisch
266.
Rückeumai'k, traumatische
Affectionen 824.
— Blutungen 824.
— Caissonlähmung 832.
— Erschütterung 826.
— Hämatomyelie 826.
— Meningealapoplexie 824.
■ — Meningocele spur. 825.
— Multiple Sklerose 828.
— Myelitis 825.
— progressive Muskelatro-
phie 831.
— Syringomyelie 827.
— Tabes 829.
Rückenmarkerschütterung
(forens.) 966.
Rumination, traumatische
866.
Rundbrenner 146.
Russ in der Luft 897.
Russisches Bad 110.
S.
Sachverständige, ärztliche
405.
— Thätigkeit der 405.
— Wahl der 405.
Sachverständigenthätigkeit
332, 405.
Sadebaumvergiftung 935.
Sadismus 391.
Särge 579.
— Construction der 579.
Säuferwahnsinn 1085.
Säure Vergiftungen 925.
— Carbolsäure 927.
— Oxalsäure 927.
— Salpetersäure 926.
— Salzsäure 927.
— Schwefelsäure 925.
Saurer Alkohol (bakter.)
142.
Salicylsäure im Wein 623.
Salpetersäure Vergiftung 926.
Salze in der Ernährung 221.
Salzsäure zur Desinfection
189.
Samariter-Schulen 654.
— -Verein, deutscher 654.
— -Vereine 661.
— — Organisirung 661.
Samenflecke, Untersuchung
350.
1110
SACHREGISTER.
Sammelgrubeu 1044.
Sanatorien 181, 491.
Sanclbäder 111.
Sanitäre Grenzre\ision 214.
Sauitäts-Colonnen 655.
— -Departement 670.
Polizei 663, 1005.
Eath, oberster 670.
— -Referenten 670.
— -Stationen 661.
Tasche 657.
Thierärzte 1005.
— -Wachen 654.
Wagen 657.
Wesen 663.
Züge 598.
Saprol 189.
Saprophyten 119.
Sarcina 118.
— pulmonum 140.
Sarcinaform (bakter.) 117.
Sarggeburt 544.
Schädel, Altersbestimmung
am 432.
— Identificir. durch 440.
Brüche 959.
— -Verletzungen 957.
Schädlichkeiten im Gewerbe-
betrieb 403.
— Infectionsstoffe 402.
— Schlechte Luft 403.
— Staubinhalation 402.
SchänduDg 386.
Schaffleisch 253.
— Geruch 254.
Schallgehör 738.
Scheidenvorfall, traumati-
scher 870.
Scheinzwitter,männliche354.
— weibliche 354.
Scheinzwitterthum 354.
Schellfisch, chemische Zu-
sammensetzung 225.
Schenkelbrüche, trauma-
tische 869.
Schiffs-Hygiene 671.
Räume, Desinfection von
210.
Schimmelpilze in der Luft
897.
Schinken, chemische Zu-
sammensetzung 225.
Schlaftrunkenheit fforens.)
1083.
Schlafwandeln 1083.
Schlagwetter 890.
Schlechte Luft im Gewerbe-
betrieb 403.
Schleimbeutelentzündung,
traumatische 840.
Schlinggruben 5.
Schmalz, Verfälschung 627.
Schmierseifenlösung 189.
Schmuck- Anlagen 731.
Plätze 727.
Schmutzwässer 1044.
Schnee, Beseitigung von,
auf den Strassen 732.
Schneeschuhlauf 490.
Schnitt-Brenner 146, 148.
Wunden 946.
— — Flächenwunden 946.
— — Lappen wunden 946.
Schraubenform (bakteriolo-
gische) 117.
Schrecklähmung, trauma-
tische 800.
Schüttellähmung, trauma-
tische 823.
Schul-Bänke 676.
— -Besuch, obligatorischer
681.
Schulen, Beleuchtung 677.
— Gebäude 674.
— Hygiene der 673.
— Luft 675.
— Sitzbänke 676.
— Ueberanstrengung in den
679.
Schul-Gebäude 674.
Hygiene 673.
Schusswunden 949.
— Ausschuss 951.
— Einschussöffnung 949.
— Prellschuss 952.
— Ricochetschüsse 950.
— • Schusscanal 950.
— Streifschüsse 952.
Schutzimpfung 445, 681.
— Bedeutung 681.
— gegen Cholera 684.
— — Diphtherie 685.
Hundswuth 682.
— — ]\Iilzbrand 446.
Pest 684.
Pocken 686.
— — Rauschbrand 446.
Schweinerothlauf446.
— — Tetanus 686.
— Pasteur'sche 682.
Schutz-Impfungsgesetze 690.
Pockenimpfung 686.
Stoffe 121.
— -Vorrichtungen im ge-
werblichen und indu-
striellen Betriebe 890.
Schwachsinn 1078.
— Dispositionsfähigkeit
1079.
— Zurechnungsfähigkeit
1079.
Schwängerung 382.
Schwangerschaft 690.
— Dauer 696.
— diagnostische Kenn-
zeichen 693.
— extrauterine 699.
— unbewusste 296, 695.
— zweifelhafte 690.
Schwangerschaftsdauer 696.
Schwangerschaftsverhält-
nisse 690.
— Abdominalschwanger-
schaft 699.
— Blasenmolen 698.
— Blutmolen 698.
— Dauer der Schwanger-
schaft 696.
— Diagnose der 693.
— Extrauterinschwanger-
schaft 698.
— Fleischmolen 698.
— Ovarialschwangerschaft
699.
— Tubenschwangerschaft
699.
— Ueberfruchtung 696.
— Ueberschwängerung 696.
— unbewusste Schwanger-
schaft 695.
— zweifelhafte Schwanger-
schaft 690.
Schwefelige Säure zur Des-
infection 188.
Schwefel-Kohlenstoff, hygie-
nische Schädlichkeit 233.
Schwefelsäure zur Desin-
fection 189.
— -Vergiftung 925.
Schwefelwasserstoff, hygie-
nische Schädlichkeit 232.
Vergiftung 933.
Schweigsystem in Gefäng-
nissen 315.
SACHREGISTER.
1111
Schweine-Fleiscli 253.
— — chemisclie Zusam-
mensetzung 225.
— -Pest, Impfung gegen
lUOl.
— -Seuche, Impfung gegen
1001.
Schweiss, bakteriologische
Untersuchung 136.
Schwemmcanalisation 9, 11.
Schwerhörigkeit, simulirte
713.
Schwimmen 491.
Schwindgruben 5, 1044.
Section 700.
Seetionen 699.
— gesetzliche Bestimmun-
gen 700.
— Protokolle 702.
Sections-Protokoll 702.
— — Abfassung des 702.
Zimmer in Leichenhallen
563.
See- Aufenthalt 111.
Bäder 111.
Hospize 182.
Krankheit 671.
— -Wasser, hygienische Be-
deutung 671.
Selbstmord 742.
— Ausführung 745,
— Beweggründe 745.
— gemeinsamer 746.
— verschleierter 746.
Selbstreinigung der Flüsse
1017.
Septicaemia haemorrhagica
im Fleisch 265.
Septikämie im Fleisch 265.
Sera für Schutzimpfungen
137.
Serumtherapie 121.
Servirzeit der Apotheker 43.
Seuchen 199, 704.
— Abwelirmaassregeln 705.
— Beulenpest 706.
— Blattern 707.
— Bubonenpest 706.
~ Cholera 704.
— Flecktyphus 708.
— Hungertyphus 708.
— Pest 706.
— Pocken 707.
— Variola 707.
Shone'sches Trennsystem 11.
Sicherheitslampen 890.
Sickergruben 5.
Siechenhäuser 497.
Siechthum, simulirtes 710.
Siemens' Regenerativbrenner
148.
Siemensbrenner 146.
Simulationen 708.
— Erkennen der 709.
— Lehre von den 709.
— Nachweis 710.
Simulirte Krankheiten 710.
— — äussere 711.
— — Anästhesien 714.
— — Aphonie 710.
— — Augenleiden 712.
— — Bewegungsstörungen
711.
— — Bindehautentzündun-
gen 713.
Blindheit 712.
Bluthusten 710.
— — Bruchleiden 711.
— — Einengung des Ge-
sichtsfeldes 712.
— — Epilepsie 714.
— — Geisteskrankheiten
714.
— — Gelenkleiden 711.
— — Hautgeschwüre 711,
— — Herabsetzung der
Sehschärfe 722.
— — innere 710.
— — Melancholie 715.
— — Xervenkrankheiten
713.
— — Neuralgien 714.
— — Ohrkrankheiten 713.
Siechthum 710.
Taubheit 713.
— — traumatische Neu-
rosen 714.
Vorfälle 711.
Sinnesorgane, Verletzungen
der 962.
— — Augen 962.
Ohren 963.
Sinnestäuschungen 1080.
— Hallucinationen 1080.
— Visionen 1080.
Sitzbänke in den Schulen
676.
Sodalösung zur Desinfection
189.
Sodomie 393.
Solutol 189.
Sommerdiarrhoe, Beziehung
zum Boden 177.
Somnambulismus 1083.
Somnolentia 1083.
Sonnenstich 789.
SpätapoplexiC; träum. 810.
Spätgeburt 294.
Spaltpilze im Fleisch 264.
— in der Luft 897.
Spasmus mutans, traumati-
scher 834.
Spectrum des Hämatopor-
phyrin 166.
— — Hämoglobin 166.
— — Methämoglobin 166.
— — Oxyhämoglobin 165.
Sperma, Nachweis von 348.
Spiritusglühlicht 146, 149.
Spirillum 118.
Spirobakteriaceen 118.
Spirochaetae 118.
— cholerae asiat. 123.
— Finkler-Prior 124.
— Obermeieri 123.
Spondilitis, traumat. 838.
Spontaner Abortus 272.
— — Ursachen des 273.
Sporen, endogene 117.
— -Bildung (bakter.) 117.
Springbrunnen 730.
Sprit im Wein 623.
Spül- Aborte 1040.
— -Canalisation 9,
— -Wässer 1044.
Sputum,bakteriologische Un-
tersuchung 135.
Sputumf ärbung 136.
— n. Czaplewsky 136.
— — Kaufmann 136.
Stadt-Colonien 246.
Plan 721.
Städteanlage 721.
Stärkezucker 623.
Standlazarethe 607.
Standes-Ordnung für Aerzte
666.
— -Vertretung, ärztliche
666.
Staphylococcus pyogenes
123.
Staub, hygienische Schädlich-
keit 235.
— animalischer 236,
— Metall- 235.
1112
SACHREGISTER.
Staub, Mineral- 235.
— vegetabilischer 236.
— in der Luft 591, 897.
— -Inhalation im Gewerbe-
betrieb 402.
Thee 321.
Stearinkerzen 146,
Steinkohlengas 147.
Steinpilze, chemische Zu-
sammensetzung 226.
Sterblichkeit 715.
— Anzeigepflicht 715.
— der Kinder 716, 718.
— in den Findelanstalten
249.
— Krankenjournal 720.
— Krankheitsstatistik 720.
— Leichenschau 717.
— Leichenschauer 717.
— — ärztliche 718.
— Statistik 721.
— Scheintodte 716.
— Selbstmorde 720,
— Sterblichkeitstabellen
719.
— Todesursachen 716.
Stereoskop 712.
Sterilisation 196.
— discontinuirliche 198.
■:— fractionirte 198.
— von Injectionsflüssig-
keiten 199.
— — Instrumenten 198.
— — Medicamenten 199.
Spülflüssigkeiten 198.
- — — Verbandstoffen 198.
Stichculturen 132.
Stichwunden 947.
— Einstichöffnung 947.
— Stichcanal 948.
— Stichschnittwuuden 948.
Stimmgabelversuch, Traut-
mann's 713.
Stoffumsatz 222.
Sträflinge, Obsorge für ent-
lassene 316.
Strafanstalten 301.
— Gesundheitsverhältnisse
305.
Strafbarkeit (forens.) 1076.
Strangulation 747,
Strassen 723.
— Anlage 724.
— Bepflasterung 729.
— Besprengung 733.
Strassen, Breite 725.
— Canalisation 729.
— Entwässerung 729.
— Gänge 723.
— Gehwege 730.
— Geschäftsstrassen 723.
— Herstellung 724.
— Privatstrassen 723.
— Promenade wege 730.
— Rangordnung 723.
— Reinigung 731.
— Richtung 727.
— Verkehrstrassen 723.
— Wohnstrassen 723.
Strassenanlage 724.
— Bebauungsplan 724.
— Blockgrössen 725.
— Blocktiefe 725.
— Breite 725.
— Fluchtlinien 725.
— Gebäudehöhe 725.
— Hof- und Gartenflächen
724.
— hygienische Anforde-
rungen 724.
Strassenbepflasterung 729.
— Asphalt 730.
— Holzpflaster 730.
— Makadam 730.
— Mosaikpflaster 730.
— Platten 730.
— Beton 730.
— Estrich 730.
— Fliesen 730.
— Klinker 730.
Strassen-Besprengung 733.
Breite 725.
Strassenhygiene 721.
— Abbruch alter Gebäude
733.
— Baufluchtlinie 726.
— Bebauungsplan 721.
— Bedürfnisanstalten 730.
— Bepflasterung 729.
— Besprengung 733.
— Blockgrössen 725.
— Blocktiefe 725.
— Brunnen 730.
— Canalisation 729.
— Entwässerung 724, 729.
— Expropriationsreclit721.
— Fluchtlinien 725.
— Friedhöfe 727.
— Fussgängerverkehr 722.
— Gänge 723.
Strassenhygiene, Gebäude-
höhe 725.
— Gehwege 730.
— Geschäftsstrassen 723.
— Hauskehricht 732.
— Hausmüll 732.
— Herstellung der Strassen
724.
— Kinderspielplätze 727,
— Orientirung der Strassen
727.
— Parks 727.
— Privatstrassen 723.
— Promenadenwege 730.
— Rangordnung d. Strassen
723.
— Richtung der Strassen
727.
— Schmuckanlagen 731.
— Schmuckplätze 727.
-^~ Springbrunnen 730.
— Stadtplan 721.
— Strassen - Besprengung
733. -
Breite 725.
Kehricht 731.
— — -Reinigung 731.
Staub 731.
Schmutz 731.
Schnee 731.
- — Verkehrs-Strassen 723.
— Wohnstrassen 723.
Strassenkehricht 731.
— Beseitigung 732.
— Kehrmaschinen 732.
Strassenreinigung 731.
— Ausführung 732.
— Beseitigung des Haus-
kehrichts 732.
— Schnees 733.
— Besprengung 733.
— Hauskehricht 732.
— Kehrmaschinen 732.
— Menge des Strassen-
kehrichts 732.
— Sammlung des Kehrichts
732.
— Schmutz 731.
— Schnee 732.
— Staub 731.
Strassenschmutz 731.
— Bakterien gehalt 729.
Strassenschnee 732.
— Beseitigung 733.
Strassenstaub 731.
SACHREGISTER.
1113
Streptococcus 118.
— Erysipelatis 123.
— pyogenes 123, 140.
Streucloset 6.
Stricliculturen 132.
Strontium Verbindungen G23.
Strychninvergiftung 944.
— Sectionsbefund 944.
Stühle, bakteriologische Un-
tersuchung 136.
Sturzgeburt 299.
Sublimat zur Desinfection
188.
Sudatorium 110.
Süsswasserbäder 105.
Süssweine, Verfälsclmng624.
Süvem'sches Verfahren 10.
Suggestion 428.
— hypnotische 427.
— posthypnotische 428.
— Wach- 428.
Superfoecundatio 696.
Superfoetatio 697.
Sj'philis, traumatische 847.
Syphilisation 682.
Syringomyelie, traumatische
" 827.,
T.
Tabak 330.
— Verfälschungen 331.
Tabes, traumatische 829.
Tätowiren 338.
Tätowirungen 333, 441.-
— forensische Bedeutung
339.
Tageslichti^eflectoren 144.
Talgkerze 146.
Tanzen 489.
Tapeten 1066.
Taubgeborene 735.
Taubheit, doppelseitige 713.
— einseitige 713.
— simulirte 713.
— Stimmgabelversuch 713.
Taubstumme 734.
— Fingersprache der 736.
— Geberdensprache 736.
— Lautsprache 736.
— Zeichensprache 737.
Taubstummenanstalten 734.
Taubstummenunterricht 73 6.
^ — Consonantengehör 738.
— Daktylologie 736.
Taubstummenunterricht,
deutsche Methode 736.
— Externate 740.
— Fingersprache 736.
— französische Methode
736.
— Geberdensprache 736.
— gemischte Methode 738.
— Hörübungen 739.
— Internate 740.
— Lautsprache 736.
— Partialtaube 738.
— Schallgehör 738.
— Schriftsprache 736.
— Tongehör 738.
— Totaltaube 738.
— Zeichensprache 737.
Taubstummheit 734, 1077.
Technik der Bakterienfär-
bung 125.
Technische Vergiftungen924.
Teichmann'sche Blutkry-
stalle 166.
Tellerbohrer 179.
Temperatur 586.
— hygienische Bedeutung
236.
Temperaturen für Wohn-
räume 416.
Temperaturschwankungen
586.
Tepidarium 110.
Teppiche 1065.
Testirfähigkeit (forens.)
1070.
— gesetzl. Bestimm. 1070.
Tetanus-Bacillen im Boden
173.
Tetanus-Schutzimpfung 686.
Tetraden 117.
Thee 320.
— grüner 321.
— schwarzer 321.
— Staubthee 321.
— Verfälschungen321,625.
— Ziegelthee 321.
TheerfarbstoÖ'e (hygienisch)
241.
— im Wein 623.
Theüung (bakteriologisch)
117.
Thierärzte 994.
— Amtstliierärzte 996.
— Bezirkstliierärzte 996,
1006.
Thierärzte, Controlthierärzte
996.
— Curschmiede 1007.
— iJepartementsthierärzte
996.
— Districtsthierärzte 996.
— Grenzthierärzte 997.
— Kreisthierärzte.
— Landesthierärzte 996,
1006.
— Militärthierärzte 1007.
— Oberamtsthierärzte 996.
— Polizeithierärzte 996.
— Sanitätsthierärzte 1005,
— Staatsthierärzte 996,
1007.
Thierarzneiweseu 995.
— in Deutschland 995.
— in 0 esterreich - Ungarn
1006.
Thierische Parasiten des
Fleisches 261.
— — Blasenwürmer 263.
Distomen 263.
— — Echinococcenblasen
263.
Finnen 261.
— — Oestruslarven 264.
— — Psorospermien 263.
Trichinen 262.
Thierlymphe 689.
Thierseuchen 202.
Tiro 41.
Tirocinalprüfung 4 1 .
Tirocinium 41.
Tod 538.
— Herztod 538.
— Kennzeichen 539.
— Lungentod 538.
Todesarten, gewaltsame 742.
— Blitzschlag 791.
— Elektricität 791.
— Enthauptung 748.
— Erdrosseln 747, 765.
— Erhängen 747, 760.
— Erschiessen 747.
— Erstickung 751.
— Ertrinken 768.
— Erwürgen 747, 766.
— Garottirung 747.
— Guillotinirung 748.
— Hinrichtung 746.
— Hitzschlag 788.
— Selbstmord 742.
— Sonnenstich 789.
1114
SACHREGISTER.
Todesarten, Strangulation
747.
— Verbrennung 780.
— Verhungern 749.
Todesursache, Feststellung
der 716.
Todtenbeschau 537.
— Beschauärzte 537.
— gesetzliche Bestimmun-
gen 537.
— Leichenfrauen 537.
Todtenflecke 540.
— Farbe der 541.
— Lage der 541.
Todtenstarre 542.
— Beginn 542.
— Dauer 543.
— Gang der 543.
— intrauterine 542.
— kataleptische 543.
— Ursache 544.
Tongehör 738.
Tonnensystem 5, 1036.
Torfmull 189.
Torfstreucloset 6,
Totaltaube 738.
Toxine 120, 446.
Toxische Psychosen 1084.
— — Alkoholismus 1084.
— — Morphinismus 1084.
Transport von Fleisch 201.
— — Leichen 563.
Thieren 199.
Trauma und Constitutions-
anomalien 847.
Trauma und Infection 840.
Traumatische Krankheiten
793.
— Abort 871.
— Akromegalie 824.
— alimentäre Glykosurie
798.
— Aneurysmen 840.
— Anteflexio 870.
— Anteversio 870.
— Aortitis, acute 840.
— Aponeurositis palmaris
839.
— Bauchorgane 861.
— Brustcontusionen 845.
— Caissonlähmung 832.
— Carcinome 850.
■ — cerebrale Neurosen 799.
— Chylothorax 861.
— Coccygodynie 871.
Traumatische Krankheiten,
Darm 866.
— Darmlähmung 867.
— Delirium tremens 822.
— Dementia paralytica 821.
— Diabetes 847.
— Dupuytren'sche Contrac-
tur 839.
— Emotionslähmungen800.
— Encephalitis 813.
— Endocarditis 857.
— Enteritis 867.
— epigastrische Brüche8 69.
— Epilepsie 817.
— Epithelcysten 852.
— Gallenblase 861.
— Gedächtnisstörung 812.
— Gefässsystemaffectionen
840.
— Gehirn- Affectionen 811.
— — -Erschütterung 812.
— — -Erweichung 813.
— Gelenk-Mäuse 837.
— — -Neurosen 799.
— Tuberkulose 842.
— Geschwülste 850.
— Gliome 851.
— Hämatocelefeminae871.
— Haematomyelie 826.
— Hepatitis 862.
— Hernien 867.
— Herz-Dilatation 859.
— — -Krankheiten 856.
— — -Störungen (func-
tionelle) 859.
— Hirn-Abscess 814.
— — -Blutungen 815.
— Hodentuberkulose 846.
— Hydronephrose 864.
— Hysterie 799.
— hysterische Hämoptoe
801.
Tachypnoe 801.
— Infection 840.
— Klappenrupturen 858.
— Knochentuberkulose 842.
— Lähmungsirresein 821.
— Leber 861.
— Leukämie 849.
— Lungen- Affectionen 852.
— — -Emphysem 856.
— — -Gangrän 855.
— — -Tuberkulose 844.
— — -Tumoren 856.
— Lymphcysteu 852.
Traumatische Krankheiten,
Magen 865.
Brüche 869.
Geschwür 866.
— Magenwandcyste 866.
— Meningealapoplexie824.
— Meningentuberkulose
844.
— Meningitis suppur. 811.
— - Meningocele spur. spiu.
825.
— Merycismus 866.
— Milz 865.
— Morvan'sche Krankheit
827.
— Multiple Sklerose 828.
— Muskel- Atrophie 831.
— reflectorische 836.
Collaps 836.
— — -Degeneration 837.
— Myalgien 837.
— Myelitis 825.
— Myoclonus fibr. mult.
833.
— Myokymie 833.
— Nabelbrüche 869.
— Nebenhodentuberkulose
846.
— Nephritis 864.
— Nephrolithiasis 865.
— Nerven 89 4.
— Neurasthenie 802.
— Neuritis 835.
— — ascendens 836.
— Neurosen 803.
— — simulirte 714.
— Nieren 862.
— Nierenruptur 863.
— Nuclearlähmung der
Augen 817.
— Osteomyelitis 846.
— Pankreascj^sten 869.
— Parästhesien 855.
— Paralysis agitans 823.
— Paramyoclonusmult. 800.
— Paratyphlitis 867.
— Pericarditis 860.
— Peritonitis 872.
— Perityphlitis 867.
— perniciöse Anämie 849.
— Pleuritis 855.
— Pneumonien 852.
— Polioencephalitis super.
813.
SACHREGISTER.
1115
Traumatische Krankh., pri-
märes acutes Irresein 819.
— progressive Muskel-
atrophie 831.
Paralyse 821.
— Psychoneurosen 803.
— Psychosen 819.
— Pteflexhysterie 802.
— Reflexpsychosen 822.
— Retroflexio 870.
— Retroversio 870.
— rhachialgische Beschwer-
den 802.
— Rückenmarksaffectionen
824.
— Rumination 86(3.
— Scheidenvorfall 870.
— Schenkelbrüche 869.
— Schleimbeutelentzündung
840.
— Schrecklähmung 800.
— Schüttellähmung 823.
— Simulation 806.
— Spätapoplexie 816.
— Spasmus mutans 834.
— Spondilitis 838.
— Syphilis 847.
— Syringomyelie 827.
— Tabes 829.
— traumatisch-hysterischer
Tremor. 799.
— Tuberkulose 841.
— Typhlitis 867.
— Ulcus duodeni 867.
— Uterus-Ruptur 871. -
— Vorfall 870.
— Wander-Leber 862.
Milz 865.
Niere 862.
Trautmann's Stimmgabel-
versuche 713.
Tremor, traumatisch-hyste-
rischer 799.
Trennsysteme 11, 1044.
Treppenhaus, Anlage 1056.
Tribadie 390.
Trichinen im Fleisch 262.
Triebe, krankhafte 1080.
Trinkerasyle 881.
Trinkwasser 1018.
Triphenylmethanfarbstoffe
(hygienisch) 241.
Trockenciosets 1038.
Trockene Desinfectionsmittel
189.
Trockeuschrank 197.
Trommelfellverletzungen
(forens.) 963.
Tropenhygiene 873.
Trunkenheit 1084.
Trunksucht 881, 1085.
Tubenschwangerschaft 699.
Tuberkulin 447.
Tuberkulose der Rinder
1001.
— Nachweis im Fleisch 265.
— traumatische 841.
Turnen 488.
Typhlitis, traumatische 867.
Typhus-Contagium 176.
Miasma 176
— -Schutzimpfung 684.
U.
Ueberfruchtung 696.
Ueberlegung (forens.) 1075.
Ueberschwängening 696.
Ueberschwemmungscommis-
sion 658.
ünbewusste Geburt 296.
— Schwangerschaft 296,
695.
Unbewusstheit, transitorische
(forens.) 1081.
Unfälle 648.
— Entstehung von 648.
— Verhütung 866.
Unfall-Erkrankungen 794.
Neurosen 798, 803.
— -Stationen 654.
Statistik 893.
Unfalls- Anzeigepflicht 896.
Unfallverhütung 886.
— im Bergbau 890.
— im Eisenbahnverkehr 889.
— in elektrischen Betrieben
892.
— in gewerblichen Betrieben
403, 890.
— in industriellen Betrieben
890.
— in Theatern 888.
Unfallverhütungs- Vorschrif-
ten 893.
Unfreiheit des Willens 1074.
transitorischel081.
Ungeschälte Kartotfelhälften
(bakteriologisch) 139.
Unglücksfälle 650.
Universal-Pharmakopöen 33.
Untergruudberieselung 16.
Untersuchung von Fuss-
spuren 341.
— — Haaren 412.
Narben 333.
— — Samenflecken 350.
— — Tätowirungen 338.
Waffen 339.
— — Wahnsinnigen 1081.
Wasser 1019.
— — Werkzeugen 339.
— — zweifelhafter Jung-
frauschaft 374.
Zwitterbildungen 356.
Untersuchungen, bakteriolo-
gische 125, 134.
— gerichtliche 125.
— gerichtlich-medicinische
333.
Unterleibsverletzungen (fo-
rens.) 967.
— Bauchorgane 967.
— Beckenorgane 969.
— Geschlechtsorgane 969.
Unzucht 387.
— widernatürliche 390, 393.
Unzüchtige Handlungen 387.
Unzurechnungsfähig 1073.
Uranfarben (hygienisch)
240.
Urninge 391.
Uteruserkrankungen, trau-
matische 870.
V.
Vaccinatiou 445, 686.
Vaginismus (forens.) 366.
Variola 607.
— Abwehr 607.
— Aetiologie 607.
— Heimat 607.
— • Verbreitung 607.
— Wanderung 607.
Variolation 445, 682.
Vegetabilischer Staub 236.
VenerischeAffectionen,Nach-
weis von 350.
Ventilation 896.
— Aspirationslüftung 907.
— Drucklüftung 914.
— Flügelbläser 914.
— Lockfeuerung 915.
— Lufthaube 915.
1116
SACHREGISTER.
Ventilation, neutrale Zone
906.
— Schraiibenbläser 914.
— Stanbkammern 908.
— Strahlapparate 914.
— Wasserschleier 908.
— Wattefilter 908.
Ventilationsbedarf 904.
Verbrecher-Gehirn 512.
— -Physiologie 514.
Typus 511.
Verbrennung, Tod durch
780.
— Leichenbefund 782.
— Selbstmord durch 785.
Verbrennungstod 785.
Vereidigung des Apothekers
44.
Vereine vom rothen Kreuz
655.
Vereinskerze 143.
Vereinskrank encassen 991.
Vererbung 217.
— Gesetz der 217.
— latente 217.
— unterbrochene 217.
— ununterbrochene 217.
— von Krankheiten 218.
Verfälschung von Bier 624.
— — Branntwein 625.
Brot 620.
Butter 619.
— — Fleischwaaren 626.
— — Genussmitteln 617.
— — Gewürzen 626.
Kaffee 625.
— — Liqueuren 625.
— — Liqueurweinen 624.
— — Medicinalweinen624.
Mehl 620.
Milch 619.
— — Schmalz 627.
— — Süssweinen 624.
Thee 625.
Wein 620.
— — Wurstwaaren 626.
Verfahren von Kugel 712.
Eabl-Rückhard 712.
Verfolgungswahn 1080.
— hypochondrischer 1086.
Vergiftungen 916.
— Allgemeines 916.
— Ausgang der 919.
— chemischer Nachweis
923.
Vergiftungen durch ätzende
Gase und Dämpfe 923.
— Salze 930.
Alkalien 928.
— — organische Aetzstoffe
933.
— — Säuren 925.
— forensischer Beweis 918.
— gesetzliche Bestimmun-
gen 916.
— gewerbliche 402, 924.
— Giftmorde 924.
— Giftselbstmorde 924.
— Krankheitserscheinun-
gen 918.
— Leichenbefunde 920.
— medicinale 924.
— ökonomische 924.
— Säure Vergiftungen 925,
— Specielles 924.
— technische 924.
Verletzungen 945.
— agonale 972.
— Art der 945.
— Augenaushebeln 962,
— Bauchwunden 967.
— Beckenbrüche 968.
— Berufsunfähigkeit durch
985.
— Bisswunden 955,
— Blutunterlaufungen 952.
— Brustverletzungen 965.
— Brustwunden 966.
— Contusionen 952.
— Erschütterungen 957.
— Flächenwunden 946.
— Folgen der 970.
— Gedärmezerreissung968.
— Gekrösezerreissung 968.
— Gelenkverletzungen 970.
•^ — Geschlechtsorganverle-
tzungen 969.
— Gesetzliche Bestimmun-
gen 981.
— Gesichtsverletzungen
961.
— Gesundheitsstörung durch
985.
— Gliedmaassenverletzun-
gen 969.
— Hals wunden 964.
— Harnblasenrupturen968.
— Hautabschürfungen 954.
— Herz wunden 966.
— Hiebwunden 946.
Verletzungen, Knochen-
brüche 956, 965.
— Kopfverletzungen 957.
— Kratz wunden 954,
— Lappenwunden 946.
— lebensgefährliche 979,
— Leberrupturen 967.
— leichte 979,
— Lungen-Quetschung965,
— — -Schusswunden 966.
— — -Stichwunden 966.
— Magenzerreissungen968,
— Mastdarmverletzungeu
968.
— Milzzerreissungen 967.
— Nierenrisse 968.
— Ohrblutgeschwülste 963.
— Organrupturen 956,965.
— postmortale 968,
— Quetschrisswunden 956,
— Qualification der 984,
— Quetschungen 952,
— Risswunden 955,
— Rückenmarkerschütte-
rung 968.
— Schädelbrüche 959.
— Schädelverletzungen957,
— Schnittwunden 946.
— Schusswunden 947,
— schwere 979.
— Sitz der 957.
— Stichschnittwunden 948.
— Stichwunden 947.
— tödtliche 970.
— Trommelfellverletzungen
963.
— Unterleibsverletzungen
967.
— Verrenkungen 956.
— vitale 973.
— Waffen zu 982.
— Zahnverletzungen 962.
— Zerreissungen 955.
— Zwerchfellverletzungen
967.
Verhungern 749.
Verkehrsstrassen 723.
Verletzungsfolgen 982.
Verrenkungen (forens.) 956.
Verrücktheit, hypochondr.
1086
Versicherungswesen 987.
— Altersversicherung 990.
— Invaliditätsversicherung
990.
SAClIREGlöTEll.
1117
Versicherungswesen, Kran-
kenkassen 988, 991.
— Krankenversicherung
987.
— Unfallversicherung 989.
Verstellte Krankheiton 709.
Verstellungen (forens.) 708.
Versteinerung der Knochen
551.
Vertrocknung der Leichen
540.
Vertrocknungsflecke 540.
Verwesung 546.
— Aasinsecten 550.
— der Knochen 551.
— — Leichen 546.
— künstliche Beförderung
581.
— Moderbildner 550.
Veterinär-Assessor 996.
— -Inspectoren 1007.
Rath 1005.
- -Sanitätspersonale 1006.
Veterinärwesen 995.
— in Deutschland 995.
— in Oesterreich-Ungarn
1006.
Vibrio 118.
— cholerae 140.
— danubicus 140.
— Finkler 140.
— Proteus 140.
Vieh-Pässe 200.
Seuchen 202.
Gesetz 997.
Transport 199.
— — Desinfection bei 206.
Visionen (forens.) 1080.
Vitale Verletzungen 973.
Volksspiele 489.
Vorfälle, simulirte 711.
Vorgeschützte Krankheiten
710.
W.
Wachsuggestion 428.
Wäx-me-Abgabe der Heizan-
lagen 419.
— -Bedarf zu beheizender
Räume 419.
Waffen, gerichtlich-medici-
nische Untersuchung 339.
Wahnsinn 1079.
— Abulie 1080.
Wahnsinn, Anfälle, mania-
kalische 1080.
— erotischer 1080.
— Grössenwahn 1080.
— Hallucinationen 1080.
— Heimweh 1080.
— krankhafte Triebe 1080.
— Maniakal. Anfälle 1080.
— Melancholie 1080.
— Monomanien 1080.
— Nostalgie 1080.
— politischer 1080.
— Querulantenwahn 1080.
— Raptus melancholicus
1080.
— Raserei 1080.
— religiöser 1080.
— Sinnestäuschungen 1080.
— Verfolgungswahn 1080.
— — hypochondrischer
1086.
— Visionen 1080.
— Verrücktheit, hypochondr.
1086.
— Willenlosigkeit 1080.
— Zwangsvorstellungen
1079.
Wahnvorstellungen 1075.
Waisenanstalten 1007.
— Erhaltung der 1015.
— Erziehung in den 1011.
— Hygiene der 1010.
— Organisation 1008.
— Unterhaltung der 1012.
— Unterricht in den 1011.
— Verköstigung in den
1010.
Wandanstrich 1065.
Wandporosität 910.
Waring's Trennsystem 11.
Waschküchen, Anlage 1056.
Wasser 1015.
— bakteriologische Unter-
suchung 135.
— Bedeutung für die Er-
nährung 221.
— Begutachtung des 1018.
— Flusswasser 1017.
— Grundwasser 1017.
— Meerwasser 1017.
— Nutzwasser 1018.
— Obertiächenwasser 1016.
— Regenwasser 1016.
— Reinigung des 1022.
— Trinkwasser 1018.
Wasser, Untersuchung des
1019.
Wasser-Closets 5, 1040.
Filtration 1023.
Gas 149.
— -Leitungen 1021.
Wasserreinigung 1022.
— Chlorkalkdesinfections-
verfahren 1022.
— Filtration 1023.
- Kochen 1022.
Wasseruntersuchung 1019.
— bakteriologische 134,
1020.
— chemische 1020.
— — Abdampfrückstand
1020.
— — Ammoniak 1020.
Bleisalze 1021.
Chlorgehalt 1020.
Eisensalze 1021.
Härte 1020.
Kalksalze 1020.
— — Oxydirbarkeit 1020.
— — Salpetersäure 1020.
— — Salpetrige Säure
1020.
— — Schwefelsäure 1021.
— - mikroskopische 1020.
— physikalische 1020.
Wasserversorgung 1021.
— artesische Brunnen 1021.
— Brunnen 1021.
— Cisternen 1021.
— Flachbrunnen 1021.
— Kesselbrunnen 1021.
— Leitungen 1021.
— Röhrenbrunnen 1021.
— Tiefbrunnen 1021.
Wasserwehr 648.
Weber's Photometer 143.
— Raumwinkelmesser 144.
Wein 325.
— Conserviren 623.
— Färben 623.
— Gesetz, betreffend den
Verkehr mit 618.
— Jahresproduction 326.
— Obstweine 326.
— Schönen 622.
— Verfälschung 620.
— -Verbrauch 326.
Weinzusätze, Nachweis von
622.
— — Alurnium salze 622.
1118
SACHREGISTER.
Weinzusätze, Nachweis von
Baryumverbindimgen 622.
— — Borsäure 622.
— — Glycerin 622.
— — Kermesbeeren 623.
— — Magnesiumverbin-
dungen 623.
— — Salicylsäure 623.
Sprit" 623.
— — Stärkezucker 623.
— — Strontiumverbindun-
gen 623.
Theerfarbstoffe 623.
Weintrauben, chemische Zu-
sammensetzung 226.
"Weizenbrot, chemische Zu-
sammensetzung 226.
Wenhamlampe 148.
Werkzeuge und Waffen,
Untersuchung 339.
Wichmann'sche Cultur-
schalen 131.
Wiener freiwillige Rettungs-
gesellschaft 651.
Wilhelmy'sches Verfahren
11.
Willenlosigkeit (forens.)
1080.
Willensäusserungen, ab-
norme 1080.
Willensfreiheit (forens.)
1073.
Winddruck 910.
Wirbelknochen, Altersbe-
stimmung an 434.
Wohngesetze 1024.
Wohnhaus, Aufbau des 1061,
Wohnstrassen 723.
Wohnung der Fabrikarbeiter
238. ■
Wohnungshygiene 1023.
— Abfallstoffe 1031, 1045.
— Balkone 1057.
— Baugrund 1060.
— Baumaterialien 1027,
1061.
— Bauordnungen 1025.
— Bauschutt 1029.
— Bebauungsart 1053.
— Beheizung 1058.
— Beleuchtung 1058.
— Closets 1034.
— Dachgeschoss 1056.
— Deckenconstructionen
1065.
Wohnungshygiene, Desin-
fection von Grubeninhalt
1037.
— — von Wohnräumen
1048.
— Erker 1057.
— Feuchtigkeit 1026.
— Fussböden 1065.
— Gesundheitsaufseher
1052.
— Grubensystem 1034.
■ — Hauskehricht 1045.
— Hausmüll 1045.
— Hausschwamm 1029.
— Kellergeschoss 1056.
— Klärgruben 1040.
— Kübelsystera 1036.
— Loggia 1057.
— Luftstaub 1047.
— Massenaborte 1040.
— Massenlocale 1066.
— Mauerfrass 1027.
— Möbel 1066.
■ — Pissoiranlagen 1042.
— Salpeterbildung 1027.
— Sammelgruben 1044.
— Schmutzwässer 1044.
— Schwindgruben 1044.
— Sonnenbestrahlungl054.
— Sonnenlicht 1055.
— Spülaborte 1040.
— Tapeten 1066.
— Teppiche 1065.
— Tonnensystem 1036.
— Trennsystem 1044.
— Treppenhaus 1056.
— Trockenciosets 1038.
— Uebervölkerung 1051.
— Ueberwachung 1052.
— Verunreinigungen 1028.
— Vorschriften zur 1024.
• — Wandanstrich 1065.
— Waschküchen 1056.
— Wasserciosets 1040.
— Wasserversorgung 1060.
— Wohngesetze 1024.
— Wohnhausbau 1026.
— Wohnungspfleger 1052.
— Zwischendecken 1027,
Wohnungspflege 1024.
Wohnungsrechte 1024.
— Aussichtsrecht 1025.
— Hausrecht 1024.
— Lichtrecht 1025.
Wohnungsverhältnisse der
Prostituirten 631.
Wurmfarnvergiftung 934.
Wurstfabrikate, Fälschung
257.
— Fäulnis der 260.
— Grauwerden der 260.
Wurstwaaren, Verfälschung
626.
Wuthkrankheit der Haus-
thiere 203.
Z.
Zähne, Identificirung durch
441.
Zahn-Entwickelung 433.
— -Verletzungen 962.
Wechsel 433.
Zeichensprache 737.
Zeugnisse, ärztliche 97.
Zeugungsfähigkeit 360.
— zweifelhafte 360.
Zeugungsunfähigkeit 367.
Zerreissungen (forens.) 955.
— Erschütterungen 957.
— Knochenbrüche 956.
— Organrupturen 956.
— Quetschrisswunden 956.
— Risswunden 955.
— Zermalmung 957.
Ziegelthee 321.
Ziehl'sche Lösung 142.
Zinkfarben (hygien.) 240,
Zinnfarben (hygien.) 240.
Zimmergymnastik 489.
Zoogloeen 117.
Zuckersäurevergiftung 927.
Zufluchtsstätten 491.
Zuhälterthum 641.
Zuluft 911.
Zurechnungsfähigkeit 1069,
1073.
— Abulie 108'9.
— Affecte, pathologische
1082.
— Alkoholismus 1084.
— Aphasie 1077,
— Bewusstlosigkeit 1073.
— Blödsinn 1078.
— Cretinismus 1078.
• — Delirium tremens 1085.
— Denkfähigkeit 1069.
— epilept. Irresein 1086.
SACHREGISTER.
1119
Zurechnungsfähigkeit,
gesetzl. Bestimm. '1073.
— Halhicinatiouen 1080.
— Hebephrenio 1078.
— hypochonclr. Irresein
1086.
— hyster. Irresein 108G.
— Idiotismus 1078.
— Irresein, alkoholisches
1085.*-
epileptisches 1086.
— — hysterisches 1086.
— — moralisches 1086.
— Jugendirresein 1078.
— krankhafte Triebe 1080.
— Mania transitoria 1083.
— Maniakal. Anfälle 1080.
— Mikrocephalie 1078.
— Monomanien 1080.
— Moral Insanity 1078.
— Morphinismus 1085.
— Nostalgie 1080.
— Paranoia 1079.
— psychische Insufficienz
1075.
— Psychosen, toxische 1084.
Zurochnuugsfähigkeit, Psy-
chosen, verschied, 1086.
— Raptus melancholicus
1080.
— Raserei 1080.
— »Säuferwahnsinn 1085.
— Schlaftrunkenheit 1083.
— Schlafwandeln 1083.
— Schwachsinn 1078.
— Sinnestäuschungen 1080.
— Somnambulismus 1083.
— Somnolentia 1083.
— Strafbarkeit 1076.
— Toxische Psychosen 1084.
— Trunkenheit 1084.
■ Trunksucht 1084.
— Ueberlegung 1075.
— Unbewusstheit, transi-
torische 1081.
— Unfreiheit des Willens
1074.
■ — transitorische 1081.
Untersuchung Wahn-
sinniger 1081.
— Unzurechnungsfähigkeit
1073.
Zurcchnungsfäliigkeit, ver-
minderte 1075.
— Visionen 1080.
— Wahnsinn 1079.
— Wahnvorstellungen 1075.
— Willensäusserungen, ab-
norme 1080.
— Willenlosigkeit 1080.
— Zwangsvorstellungen
1079.
Zwangsvorstellungen 1079.
Zweifelhafte Jungfrauschaft
374.
— Schwangerschaft 690.
— Zeugungsfähigkeit 360.
Zweifelhaftes Geschlecht
353.
Zweilochbrenner 146, 148.
Zwitter 354.
— falsche 354.
— wahre 354.
Zwitterbildung 353.
Zwitterbildungen, falsche
355.
— Untersuchung von 356.
Zwerchfellverletzuugen 967.
K. und k. Hofbuchdruckerei Karl Prochaaka in Teschea.
^Mk^fm
m^m
^
^J
M
-^
(si€
TU)
::>^
m
m
r/I^'^x..
COLUMBIA UNIVERSITY LIBRARIES
This book is due on the date indicated below, or a
expiration of a definite period after the date of borrowing,
_^l V as provided by the rules of the Library or by special ar-
^^^ rangement with the Librarian in Charge.
f--
^'Jth
rti;
^K^MFÄi^^'
;^n
l^r
-^<
f^f-
^■^,A\r.
..:J:^:^^^i^J^
RC41
%.
B47
bd 6
Bibliothek der geBammten
wü