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Full text of "Altgermanische religionsgeschichte, von Richard M. Meyer"

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Brigham  Young  University 


DANIEL    C.    JACKLING    LIBRARY 

IN    THE 

FIELD    OF    RELIGION 


I»ARY 
NG  'UNIVERSITY 

|>,  LTH 


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in  2011  with  funding  from 
Brigham  Young  University 


http://www.archive.org/details/altgermanischereOOmeye 


v.-' 


4- 


Altg  ermanisdie 
Religionsgesdiichte 


Zur  gefälligen  Besprechung! 


Preis  geh.  M. 
geb.  M. 


1910 

Verlag  von   Quelle   &  Meyer  in  Leipzig 


Altenburg 

Pierersche  Hofbuchdruckerei 

Stephan  Geibel  &  Co. 

THE  LIERARV 

biügka;:  young  lniversity 
provo,  utah 


Axel  Olrik 

und 

Edward  Schroeder 

freundschaftlich  dargebracht. 


Häv.  Str.  34. 


Weißt  du,  wie  man  ritzen  muß?  weißt  du, 

wie  man  raten  muß? 
Weißt  du,  wie  man  färben  muß?  weißt  du 

wie  man  forschen  muß? 
Weißt  du,  wie  man  anrufen  muß?  weißt  du 

wie  man  opfern  muß? 
Weißt  du,  wie  man  schlachten  muß  ?  weißt  du, 

wie  man  schwenden  muß? 

Häv.  Str.  143. 

Den  Kopf  senkt  schnappend,  zur  Küste  gelangt, 
der  Aar  am  uralten  Meer; 

So  gehts  dem  Mann  in  der  Menge  der  andern, 
dem  es  an  Fürsprechern  fehlt. 

Häv.  Str.  62. 


Vorwort- 
Ich  hätte  dies  Buch  lieber  nach  altem  gutem  Brauch  »Germanische 
Mythologie«  genannt.  Aber  nun  gibt  es  von  Elard  Hugo  Meyer  allein 
:hon  zwei  Werke,  deren  eines  »Germanische  Mythologie«  heißt,  das 
ndere  »Mythologie  der  Germanen«.  Sie  sind  schon  schwer  zu  unter- 
:heiden;  wie  sollte  es  erst  werden,  wenn  noch  eine  dritte  Meyersche 
tythologie  erschiene?  Zumal  ich  gerade  von  diesem  Namensvetter  in 
en  Grundanschauungen  vielfach  abweiche. 

Vielleicht  hat  aber  der  Titel,  den  ich  gewählt  habe,  auch  seine  sach- 
che  Berechtigung;  denn  auf  die  spezifische  Entwicklung  der  Religion 
abe  ich  überall  auch  die  eigentliche  Mythologie  schon  zu  orientieren 
esucht. 

Was  im  übrigen  die  Arbeit  Neues  bringt,  mag  sie  selber  erzählen. 
lIs  Tendenzen,  die  mir  besonders  am  Herzen  lagen,  möchte  ich  nur  zwei 
ervorheben :  ich  habe  immer  lieber  psychologisch  erklären  als  symbolisch 
euten  wollen;  und  ich  suchte  nach  Möglichkeit  jede  Einzelerscheinung 
>^n  dem  Boden  größerer  (historischer,  kultureller,  literarischer)  Zusammen- 
inge zu  verstehen.  Gegen  solche  Bestrebungen,  die  mit  einem  gewissen 
; .gensinn  isolieren,  wie  die  naturmythologische  Erklärung  als  alleinige 
"terpretationsform  oder  die  modernste  Religionsmengerei  der  unbegrenzten 
Hypostasen«,  mag  ich  deshalb  wohl  auch  etwas  zu  lebhaft  polemisiert 
laben. 

Daß  ich  in  jenen  beiden  Bestrebungen  keineswegs  etwas  anderes  bin, 
ls  der  dankbare  Schüler  großer  Meister,  dessen  bin  ich  mir  natürlich 
»ewußt.  Wenn  es  für  den  deutschen  Philologen  so  besonders  beglückend 
>t,  welche  Heroen  er  im  Gebiet  seiner  Forschung  verehren  darf,  nicht 
ls  halbmythische  Schattenbilder  vergangener  Tage,  sondern  als  Menschen 
on  Fleisch  und  Blut,  die  noch  mit  uns  oder  unsern  Vätern  gewandelt, 
o  wird  diese  Freude  bei  mythologischen  Studien  zu  besonderer  Leb- 
haftigkeit gesteigert.  Freilich  aber  erweckt  diese  Empfindung  auch  leicht 
in  mutloses  Verzagen,  auch  nur  als  Ährenleser  einem  Jacob  Grimm 
»der  Uhland,  Müllenhoff,  Mannhardt,  Usener  folgen  zu  wollen. 


VI  Vorwort. 

Einige   meiner  Zeitgenossen   scheinen  dies  Gefühl  allerdings  nie  gekann 
zu  haben. 

Doch  habe  ich  nicht  nur  den  großen  Meistern  zu  danken,  zu  denei 
ich  unter  den  Lebenden  Axel  Olrik  geselle.  Mündlicher  und  schrift 
licher  Anregung  verdanke  ich  kaum  weniger  als  dem  Studium  gedruckte 
Arbeiten.  Neben  Edward  Schroeder,  dem  zweiten  Paten  diese 
Buches,  nenne  ich  hier  vor  allem  meine  Berliner  Freunde  und  Kollegen! 
Aloys  Brandl,  Adolf  Deißmann,  Hugo  Greßmann,  Andreas  Heusle 
Eduard  Meyer,  Max  Roediger,  Erich  Schmidt,  Georg  Wentzel;  lebhal 
habe  ich  während  der  Ausarbeitung  das  stets  fördernde  Gespräch  m 
Hermann  Gunkel  vermißt. 

Bei  der  Drucklegung  kamen  mir  mein  Freund  Albert  Leitzmann  un 
Herr  cand.  phil.  Elkuß  mit  liebenswürdiger  Ausdauer  zu  Hilfe.  Aber  auc 
den  Herren  Verlegern  habe  ich  nicht  nur  für  vielfaches  Entgegenkommet 
sondern  auch  für  manchen  guten  Rat  zu  danken.  Freilich  wird  mit  a 
unserer  Mühe  der  Druck  nicht  so  fehlerfrei  sein,  wie  wohl  zu  wünscht 
wäre;  wie  haben  meiner  guten  alten  »Altgermanischen  Poesie«  die  Druc 
fehler  geschadet!  Daß  der  Exakteste  der  Exakten,  der  von  mir  hoc 
verehrte  Richard  Heinzel  in  den  eben  von  S.  Singer  mitgeteilten  Briefe 
von  sich  bekennt,  er  sei  ein  schlechter  Korrektor,  kann  mich  zwar  tröste 
aber  nicht  retten.  Denn  es  kommt  noch  dazu,  daß  ich  in  orthographisch 
Fragen  ein  zu  weites  Gewissen  habe.  Zwar  daß  ich  erst  »Njörd«  un 
dann  >Njord«  gesetzt  habe,  stört  auch  mich;  aber  über  andere  h 
konsequenzen  in  der  Schreibung  denke  ich  milder  —  als  vermutlic 
mancher  Kritiker.  Meine  Absicht  war,  mit  der  Schreibung  zwischen  de 
Verständnis  weiterer  Kreise  und  dem  lautsymbolisch  gewordenen  Lautbi 
bei  den  genaueren  Kennern  zu  vermitteln.  Im  Zweifelfall  bin  ich  mei 
G  e ri  n gs  Eddaübersetzung  gefolgt. 

Dies  treffliche  Buch  habe  ich  für  Textproben  immer  benutzt,  da 
meine  Schrift  nicht  bloß  für  solche  bestimmt  ist,  die  mit  den  Quellen  vei 
traut  sind.  Sonst  habe  ich  für  solche  Zwecke  vor  allem  Mogks  Da 
Stellung  der  germanischen  Mythologie  zu  Rate  gezogen.  Daß  ich  au( 
die  Arbeiten,  deren  Anschauungen  ich  am  fernsten  stehe,  redlich  zu  ve 
werten  suchte,  mögen  die  Zitate  beweisen. 

Über  diesen  wichtigen  Teil  der  wissenschaftlichen  Technik  möch 
ich  noch  einiges  bemerken.  Dies  Buch  ist  nicht  etwa  nur  für  d 
Germanisten  bestimmt:  wie  es  von  der  allgemeinen  Mythologie  zu  lern 
sucht,  möchte  es  gern  ihr  auch  dienen.  Deshalb  habe  ich  nach  Möglic 
keit  versucht,  nichts  vorauszusetzen,  habe  fremdsprachliche  Worte  od 
Zitate  übersetzt,  vieles  gesagt,  was  sonst  als  bekannt  hätte  gelten  dürfe 
Auf  diesen  Standpunkt  habe  ich  auch  die  Zitate  selbst  gestellt.  Man  mi 
doch    immer   mit  der   ideellen  Möglichkeit  rechnen,   daß  nachgeschlag 


Vorwort.  VII 

rird     Ich   habe  deshalb  alle  Quellen   in   eine  dem  »Durchschnittsleser« 
ugänglichen    Form    zu    bringen    gesucht.      Vier,   fünf    Bücher   gemein- 
,erständlicher  Art,  die  bedeutendsten  neueren  Darstellungen  der  Mythologie, 
irrige  wichtigere  Spezialuntersuchungen  sollen  ihm  genügen,  um  die  Be- 
-ge   in  der  Hauptsache  nachzuprüfen.     Neuere  Ausgaben  habe  ich  wohl 
»enutzt,  aber  nur,  wo  es  nicht  anders  anging,  genannt.    Überhaupt  habe  ich 
uch   die  bibliographischen  Angaben   auf  zwei  Kategorien   von  Schriften 
»«schränkt:  auf  das  historisch  Bedeutende  und  das  unmittelbar  Brauchbare. 
Wo  es  sich  aber  um  diese  beiden  Gruppen  handelte,   habe  ich,  wie 
Fm  Text  so  auch  in  den  Zitaten,  Wiederholungen  nirgends  gescheut.    Es 
var  meine  Absicht,  dem  Leser  an  jeder  einzelnen  Stelle  des  Buches  eine 
^reichende  Übersicht  über  das  jedesmal  gegebene  Problem  zu  ermöglichen. 
r\uch  ohne  das  ganze  Buch  durchzusehen,  sollte  er  die  wichtigste  Literatur 
für  jede  Frage  beisammen  finden  —  natürlich  die  wichtigste  Literatur  nur 
mr  ersten  Orientierung:  weitere  bibliographische  Angaben  findet  er  dann 
m  den  jedesmal  wieder  angeführten  Handbüchern,   deren  Bibliographien 
ich  nur  mit  den  bedeutenderen  Neuerscheinungen  ergänzt  habe. 
]        Aber  wie   im   Text,   habe   ich   wohl   auch   in   dem  Vorwort   in   zu 
kategorischem  Ton  gesprochen.    Ist  es  denn  aber  wirklich  nötig,  daß  man 
jedesmal    beteuert,    man   sei   sich   des   Abstandes  zwischen   Wollen   und 
Leistung  bewußt?    Aber  da  nun  einmal  die  Hauptaufgabe  eines  Vorwortes 
die  captatio  benevolentiae  ist,  so  sei  es  denn  noch  einmal  für  allemal 
ausgesprochen. 

Berlin,  9.  August  1909. 


Inhaltsverzeichnis. 

Einleitung.  Seite 

1.  Aufgabe  und  Umgrenzung 1 

»Germanisch«  S.  1.  —  »Religion«  S.  3  (Verhältnis  zur  Mythologie).  — 
»Religionsgeschichte«  S.  5. 

Erstes  Kapitel. 

Allgemeine  Voraussetzungen. 

2.  Wesen  und  Begriff  der  Mythologie 6 

Die  Mythologie  wurzelt  in  Erfahrungen,  die  zur  Annahme  wollender 
Wesen  führen  S.  8.  Psychologie  der  Dämonen  S.  10.  Hilfsmittel  der 
mythologischen  Erkenntnis:  mythologische  Rangzeichen  S.  11. 
Attribute  S.  12. 

3.  Zur  Formenlehre  der  Mythologie 12 

Mythologie  ist  1.  Poesie  S.  13  und  als  solche  a)  idealistisch  S.  13 
(Mythus  und  Märchen  S.  14),  b)  anschaulich  S.  15  (mythologische 
Schemata  S.  17),  c)  an  eine  gewisse  Technik  gebunden  S.  19. 

Mythologie  ist  2.  Wissenschaft  S.  20.  Formen  der  mythologischen 
Erklärung:  a)  ätiologisch  S.  20  (besitzerklärende,  Erfüllungsmythen  S.  21), 
b)  ikonisch  S.  21,  c)  etymologisch  S.  21. 

Mythologie  verschieden  von  der  Heldensage  S.  23. 

Formensprache  der  Mythologie  S.  25  (psychologische  Inter- 
pretation ebd.). 

I.   Typische  Entwicklung  der  Mythologie 26 

Psychologische  und  geographische  Erklärung  der  Übereinstimmungen 
S.  27.    Die  Folkloristen  S.  28. 

Verlauf  der  typischen  Entwicklung  S.  29:  I.  Niedere  Mytho- 
logie: 1.  Augenblicksgötter.  2.  Fetischismus  S.  30.  3.  Animismus  S.  31 
(Kategorien :  a)  Ahnen,  b)  Naturgeister,  c)  wilde  Tiere).  4.  Dämonismus.  — 
II.  Höhere  Mythologie  S.  36:  5.  Götterverehrung  S.  38  (Kennzeichen 
der  Götter  S.  38).  6.  Ethisierung  S.  43.  7.  Kodifikation  S.  43. 
Typische  Umbildungen  S.  44. 

Zweites  Kapitel. 

Spezielle  Voraussetzungen. 

Die  Indogermanen  S.  47. 

5  Das  indogermanische  Erbe 49 

Mythologie  der  proethnischen  Periode  S.  49.  Kult  S.  53.  Einzelne 
Mythen  S.  55. 


• 


X  Inhaltsverzeichnis 


§  6.    Der  germanische  Faktor 

Mittel  der  Erkenntnis  S.  57:  1.  Die  altnordische  Mythologie  S.  58. 
2.  Die  germanische  Gesamtentwicklung  S.  58. 

Germanische  Religionsgeschichte. 

§  7.    Die  Quellen 

I.  Unmittelbare  Zeugnisse  S.  60.  II.  Mittelbare  Zeugnisse.  III.  Er- 
schließungen S.  62. 

Bewertung  der  Quellen  S.  63. 
Darstellungen  S.  65. 

Drittes   Kapitel. 
Niedere  Mythologie. 

§  8.    Die  untersten  Stufen 

1.  Augenblicksgötter  S.  66.  2.  Fetischismus  S.  67  (Kategorien  der 
Fetische  S.  68  f.). 

§  9.    Die  Seelen 

Begriff  der  »Seele«  S.  73.  Gestalten  der  Seele  S.  75.  Ihre  Be- 
wegung S.  77  (Schlaf,  Traum,  Rausch).  Verdoppelung  der  Seele  S.  79 
(Fylgja).  Die  Seele  nach  dem  Tode  S.  80.  Schicksale  der  freigewordenen 
Seele  S.  81 :  Bergentrückung  S.  82.  Gespenster  S.  83.  Wiedergeburt 
S.  84.    Seelenwanderung  S.  85.  —  Präexistenz  S.  85. 

§  10.   Ahnengeister  und  Totenkult 

Motive  S.  86.    1.  Pflichten  gegen  den  Körper  des  Toten  S.  87  (Bei- 
setzung).   2.  Sorge  um  die  Seele  S.  88  (Totenklage  S.  88.    Leichenwache, 
Totenkult  S.  89.   Erinnerungsfeste  S.  90.  Ahnenkult  S.  90.  Apotheose  S.  91). 
Kein  Totemismus  S.  92. 

§  11.   Naturgeister  und  Naturkult 

»Naturgeister *  S.  92. 

I.  Geister  der  unkultivierten  Natur  S.  94  (1.  Waldgeister  S.  94. 
2.  Windgeister  S.  97.  3.  Gewittergeister  S.  99.  4.  Wolkengeister  S.  100. 
5.  Berggeister  S.  101.  6.  Wasser-  und  Meergeister  S.  101.  7.  Schnee- 
geister S.  104.    8.  Sumpfgeister.  S.  104.    9.  Gestirngeister  S.  104). 

II.  Geister  der  kultivierten  Natur  S.  107  (1.  Feldgeister  S.  108. 
2.  Hausgeister  S.  109.  3.  Schiffsgeister  S.  110.  4.  Schatzgeister.  5.  Berg- 
baugeister S.  110.    6.  Tiergeister?  S.  111. 

§  12.    Die  Dämonen 

Definition  S.  111. 

1.  Traumgeister  S.  112  (Alp  ebd.).    2.  Holden  S.  114.   3.  Elfen  S.  115. 

§  13.    Riesen  und  Zwerge 

1.  Riesen  S.  119  (Schonings  Hypothese  S.  121).    2.  Zwerge  S.  125. 

§  14.   Zaubermenschen 

Definition  S.  127.  1.  Alpreiter.  2.  Werwolf  S.  128.  3.  Berserker 
S.  130.  4.  Gestaltentauscher.  5.  Bilwis.  6.  Hexen  S.  131.  7.  Zauberer 
S.  133  (a.  allgemein  zugängliche  Zaubermittel  S.  133:  «)  Rune,  ß)  Zauber- 
lied, ;/)  Zauberspruch,  J)  Zauberhandlung,  t)  Segen  und  Fluch  [das  Be- 


27 


Se 


Inhaltsverzeichnis.  XI 

Seite 


rufen  S.  139],  C)  Weissagung  S.  141  [Mittel  S.  141];  b.  reservierte 
Zaubermittel  S.  144  [Erlangen  und  Wirkung  der  Zauberkraft  S.  144. 
Methode  S.  146] :  a)  Ausrüstung,  ß)  Handlung,  y)  Abwehr  S.  149).  8.  Un- 
freiwillige Zauberer  (böser  Blick)  S.  150  und  Wahrsager  S.  151.  —  Rück- 
blick S.  151. 

Viertes  Kapitel. 

Höhere  Mythologie. 

|  15.   Halbgöttliche  Wesen 153 

Keine  Heroen.  —  »Umgebungsgötter«  S.  153.  Gruppen  S.  154. 
1.  Nornen  S.  154.  2.  Walküren  S.  154  (a.  gemeingermanische 
»weise  Frauen«  S.  158,  b.  individualisierte  Schlachtgöttinnen  S.  159, 
c.  altnordisch-angelsächsische  Walküren  S.  161 :  Dienerinnen  des  Schlacht- 
gottes). 3.  Schwanenjungfrauen  S.  162  (Schwanenjüngling?  Ent- 
wicklung der  Wielandsage  S.  165).  4.  Mimir  S.  167. 
Keine  »Scheingötter«  S.  168  Anm. 

\  16.   Die  Götter 168 

Allgemeine  Charakteristik  S.  169  (Rangzeichen  S.  161.  Tätigkeit; 
Geschlossenheit  des  Götterstaates  S.  170).  Gottesbegriff  S.  171  (Be- 
zeichnung S.  172).  Gestalt  S.  173.  Leben  S.  174.  Wohnung;  Zahl  S.  176. 
Gemütsart  S.  177.    Verhältnis  zu  den  Menschen  S.  177. 

|  17.    Hauptgötter 178 

Ursprung  S.  178. 

1.  Tyr  S.  178:  Entwicklung  S.  179:  indogermanisch  S.  179,  ur- 
germanisch  S.  180,  germanisch:  Verdrängung  durch  Wodan  S.  181  (Speer 
und  Schwert  6.  182).  —  Hauptsitz  der  Verehrung  S.  184.  —  Speziali- 
sierung: Mars  Thingsus  S.  186.  —  Emanationen.    Kult  S.  189. 

2.  Ingvo.  Isto.  Irmino  S.  189:  Namen  S.  190.  —  Mythus 
S.  191.  Deutung:  Irmin  =  Tiu  S.  192.  Ing  =  Frey  S.  193  (Sceaf 
S.  193).  —  Isto  =  Wodan  S.  194. 

3.  Saxnöt  S.  196  =  Tyr  S.  196. 

4.  Frey  S.  196:  Name  S.  197.  Entwicklung  S.  198.  Sitze  und 
Kult  S.  199.  Jüngere  Mythenbildung  S.  202  (Beli  S.  202).  —  Emanationen 
S.  203  (Skirnir). 

5.  Njord  S.  204:  Njord  und  Frey  S.  204.  Njord  und  Nerthus 
S.  204.  Name  S.  207.  Kult  S.  208.  Religionsgeschichtliche  Stellung 
S.  209.  —  Emanationen  S.  209. 

6.  Skadi  S.  209:  Name  und  Wesen  S.  210.  —  Mythus  S.  210. 
Weitere  Sagen  S.  211. 

7.  Frey  ja  S.  212:  Verhältnis  zu  Frey  ebd.  Chthonische  Züge 
S.  212.  Andere  Züge  S.  213.  Kult  S.  214.  —  Jüngere  Mythen:  Brisin- 
gamen  S.  215  (Entwicklung  der  Sage  S.  217.  Vorgeschichte  S.  221). 
Freyja  als  Odins  Weib  S.  223.  —  Emanationen  S.  224. 

8.  Wodan  S.  224:  Nicht  indogermanisch  S.  224.  Altgermanisch 
S.  225.  —  Umkreis  der  Verehrung  S.  225  (Altgermanische  Zeugnisse 
S.  226).  —  Name  S.  227  (Wodan  und  Wode).  —  Grundanschauung 
S.  228  (Wodan— Mercurius  S.  228).  Erscheinung  S.  229  (das  Eine  Auge 
S.  231).  Attribute  S.  232.  -  Namenreichtum  S.  236.  —  Kult  S.  237 
(Menschenopfer  S.   237.     Ritus   desselben   S.   239.     Bedeutung   S.   240. 


XII  Inhaltsverzeichnis. 

Se 
Opferstätten  S.  243).  —  Odinsreligion  S.  245  (Leben  nach  dem  Tode. 
Aufkommen  S.  246.  Christlicher  Einfluß?  S.  247).  —  Entwicklung 
S.  248:  Windgott;  Emanationen:  1.  Totengott;  Hängegott;  Gott  des 
Schiachtodes.  2.  Sonnengott?  S.  252.  3.  Kriegsgott  S.  252.  4.  Fürsten- 
und  Staatsgott  S.  253  (Heldenerzieher  S.  254).  5.  Oott  der  Weisheit 
S.  256  (Mythus  der  Runenfindung  S.  257);  Heilgott;  Gott  des  Ge- 
deihens S.  260;  Gott  der  Dichtkunst  S.  261  (Eroberung  des  Be- 
geisterungstrankes S.  261.  Entwicklung  S.  265).  6.  Allvater  S.  266. — 
Rückblick  S.  266.  —  Spätere  Legendenbildung:  Wall  hall  S.  268.  — 
Liebesabenteuer  S.  269.  —  Verbannung  S.  270. 

9.  Frigg  S.  271:  Name  S.  271.  Verbindung  mit  Wodan  S.  272. 
Funktionen  S.  273.  —  Mythen  S.  273.    Heim  und  Kult  S.  274. 

Emanationen  S.  274  (Fulla  S.  275.    Söl  S.  276.    Gefjon  S.  277). 

10.  Thor  S.  279:  Ursprung  und  Ähnlichkeiten  S.  279  (Pushan 
S.  280).  Urgermanischer  Gott  S.  281.  —  Wesen:  Gewittergott  S.  281. 
Attribute  S.  282  (Alter  der  Thrymskvida  S.  283).  Erscheinung  S.  285. 
Heim  S.  286.  Funktionen  S.  286  (Ackerbau;  nordischer  Hauptgott  S.  286; 
Weihen  S.  287).  Kult  S.  288  (Opfer  S.  289).  -  Thor- Religion  S.  290 
(Lokasenna  ebd.).  —  Mythen  S.  291:  1.  Riesenkämpfe:  Thjäzi  S.  292. 
Aurvandil  S.  293.  Hrungnir  S.  295.  Utgard  S.  297.  Geirröd  S.  299.  — 
2.  Heimkehrsagen  S.  300:  Thrym  S.  301.  Hymir  S.  302.  Alviss  S.  304. 
Härbard  S.  304.  —  3.  Christliche  Berührungen  S.  304.  —  Thors  Ver- 
wandtschaft S.  305. 

11.  Sif  S.  306:  Name  und  Mythus. 

12.  Thors  Mutter  S.  307:  Erdgöttin  (Hlödyn-Fjörgyn  S.  308. 
Rind  S.  309). 

Rückblick  auf  die  alten  Hauptgötter  S.  309. 

13.  Balder  S.  310:  Alter  S.  311  (urgermanisch  S.  311).  Wesen 
S.  312.  Mythus  S.  313:  altdeutsch  (Merseburger  Spruch)  S.  313;  alt- 
nordisch S.  315  (Zeugnisse  S.  316:  Edda  S.  316.  Snorri  S.  317.  Saxo 
S.  319.  —  Kern  der  Sage  S.  320.  Entwicklung  S.  324).  —  Ursprung 
Balders  S.  325  (Hypothesen  von  Bugge,  Detter,  Kauffmann,  Schuck 
S.  327).  —  Attribut  S.  331.  —  Balders  Sippe:  Nanna  S.  331.    Forseti  S.  332. 

§  18.   Gegengötter 33 

Definition  S.  332.  Allgemeines  S.  334.  —  1.  Hod  S.  335.  —  2.  Lok i 
S.  335:  Wesen  S.  337.  Name  S.  339  (Lopt,  Lodur).  Entwicklung  S.  340 
(Die  Trias  S.  341.  Andvari  S.  342.  Thjäzi  S.  344.  —  Thor  und  Loki 
S.  345.  —  Loki  der  Umstürzer  S.  346).  Weitere  Mythen  S.  348.  Lokis 
Sippe  S.  349:  Die  Teufelsbrut  S.  351  (a.  Hei;  b.  der  Fenriswolf;  c.  die 
Weltschlange  S.  353).  —  3.  Nidhögg  S.  355.  —  4.  Surt  S.  355.  —  5.  Hrym 
S.  357.  —  6.  Hraesvelg?  S.  357. 

§  19.    Eddische  Nebengötter 35 

1.  Heimdall  S.  358:  nur  nordisch:  Name  und  Wesen  S.  358. 
Mythus  S.  359.  Deutung  S.  360.  Entwicklung  S.  361.  Funktionen  S.  362 
(Rigsthula  S.  365).  —  Attribute  S.  366.    Heim  S.  367. 

2.  Hönir  S.  369:   Name  S.  368.    Mythen  S.  368.    Wesen  S.  371. 

3.  Widar  S.  372:  Name  S.  372.  Alter;  Mythen  S.  373.  Wesen  S.  375. 

4.  Wal i  S.  376:  Mythus  S.  376.    Name,  Alter,  Wesen  S.  377. 


Inhaltsverzeichnis.  XIII 

Seite 

5.  UllrS.  378:  Zeugnisses.  378.  Attribute,  Kult S. 379.  Wesen  S. 380. 

6.  Forseti  S.  381:  Verhältnis  zu  Fosite  S.  382. 

7.  Bragi  S.  383:  Zeugnisse  S.  383.    Ursprung  S.  385. 

8.  I dun  S.  385:  Name,  Attribute  S.  385.    Mythus  S.  387. 

9.  Loki  und  Hod  S.  387. 
10.  Die  Wanen  S.  388. 

.0.   Nacheddische  Gottheiten 390 

1.  Hei  S.  390:  Name  S.  390;  Hei  und  Walhall  S.  391.  2.  Ran 
S.  392.  3.  Ägir  S.  392.  4.  Thorgerd  Hölgabrud  S.  393  (Irpa  S.  394). 
5.  Söl  S.  395. 

1  Außereddische  Gottheiten 396 

1.  Alces  S.  397.  2.  Tanfana  S.  399.  3.  Nehalennia  S.  399. 
4.  Baduhenna  S.  400.  5.  Andere  Göttinnen  S.  401.  6.  Requali- 
vahanus  S.  403.    7.  Weitere  Namen  S.  403. 

2.  Angebliche  Göttinnen ' 404 

Eostra  u.  a. 

Fünftes  Kapitel. 
Der  Kultus. 

3.  Gebet  und  Opfer 405 

Gebet  S.  406  (Form.  —  Haltung  und  Zurüstung  S.  407).  —  Spezi- 
fische Formen:  Eid  und  Gelübde  S.  408. 

Opfer  S.  408:  Entstehung  S.  408.  Ausdruck  S.  409.  —  Wem 
opfert  man?  S.  409.  Wer  opfert?  S.  411.  Weshalb?  S.  412.  Was  opfert 
man?  S.  413  (Menschenopfer  ebd.  Tiere  S.  414.  Symbole  S.  416).  — 
Wo  opfert  man?  S.  417.  —  Wje?  S.  418.  —  Wann?  S.  420  (Volks- 
versammlung; Eid  und  Los  —  Namengebung  —  Jünglingsweihe  — 
Landnahme  —  Opferzeiten  S.  422). 

4.  Tempel  und  Kultstätten 323 

Allgemeines.  -  1.  Heilige  Stätten;  2.  Heilige  Haine  S.  425.  3.  Tempel 
$.  425  (Beschreibung S.  426.  Eigenschaften  S.  429).  4.  Götterbilder  S.  430 
Stufen  der  Darstellung  S.  431).     5.   Verhältnis  zwischen  Tempel   und 
jötterbild  S.  434. 

5.  Priester  und  Priestertum 435 

Entwicklung  des  Priesterstandes  S.  435.  Benennung  S.  436. 
Priesterinnen;  Tracht;  Sitte  S. 437.  —  Nebentätigkeit  der  Priester  S.  438.  — 
Kultriten  S.  438. 

Sechstes  Kapitel. 
W  eltanschauung. 

!6.   Geschichte  der  Welt 442 

Die  Völuspä  S.  442.  Der  Dichter  und  die  Tradition  S.  441.  — 
1.  Die  Lehre  vom  Weltuntergang  S.  444:  drei  Varianten. 
Neuerungen  der  Völuspä  S.  447.  —  2.  Die  Lehre  von  der  neuen 
Welt  S.  451  (Schluß  der  Völuspä  christlich).  —  3.  Die  Lehre  von 
der  Weltschöpfung  S.  453  (Zeugnisse;  Ergebnis  der  Vergleichung 
S.  457). 


Xiy  Inhaltsverzeichnis. 

Se 

§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt 4 

I.  Äußere  Ordnung  der  Welt  S.  459:  1.  Die  Welten  (a.  Asgard 
S.  466:  die  Burgen;  Walhöll  S.  467.    b.  Hei  S.  468.    c.  Midgard  S.  468).  — 

2.  Geographische  Beziehungen  der  Welten  S.  469  (a.  Allgemeines, 
b.  Grenze  S.  476.  c.  Orientierung  S.  471.  d.  Kartographie :  Yggdrasil  S.  474). 

II.  Innere  Ordnung  der  Welt  S.  480.  —  Alltagsleben  und 
große  Momente  in  der  Götterwelt  S.  482. 

Si  ebentes  Kapitel. 
Geschichte  der  altgermanischen  Religion. 

Vorarbeiten.    Zeugnisse.    Schwierigkeiten  S.  485. 

§  28.    Religionsgeschichte 

Vorstufen.  —  1.  Urgermanische  Zeit  S.  486.  —  2.  Junggermanische 
Periode  S.  488:  a)  Rheinlande  (Runenalphabet;  Frey;  Lockerung  der 
lokalen  Gebundenheit),  b)  Das  übrige  Deutschland  S.  493  (Tyr  und 
Wodan):  altdeutsche  Religion  S.  495;  angelsächsische  Reli- 
gion S.  496.  c)  Norden:  altnordische  Religion  S.  496.  I.  Erste 
Phase:  a)  Schweden  S.  498;  ß)  Dänemark  S.  498;  y)  Norwegen  S.  499; 
ö)  Union  S.  500.  —  II.  Zweite  Phase  S.  502  (Neue  Dichtung:  Härb.,  Lok., 
Vol.,  Häv.,  Vaf.,  Grim.  S.  503) :  Problem  der  Vergeltung.  Neue  Mythen- 
kreise: a)  Loki  S.  507;  ß)  Odin  S.  509;  y)  Balder  S.  514;  d)  Ragnarok 
S.  516.  —  Rückblick  S.  521  (Unsterblichkeitslehre  S.  521).  -  III.  Dritte 
Phase:   Island  S.  523. 

§  29.    Systembildung 

Allgemeines  S.  525.  —  1.  Genealogie  S.  527.  —  2.  Zählung  S.  528 
(mythologische  —  theologische).  —  3.  Klassifikation  S.  532. 

Achtes  Kapitel. 
Altnordische  Theologie. 

§  30.    Moralisierung 53 

Treue.    Gerechtigkeit.    Weitere  Ethisierung. 

§  31.   Namengebung 5' 

1.  Altgermanische  Götternamen  S.  538  (12  Kategorien,  die  zugleich 
indogermanisch  sind).  —  2.  Jüngere  germanische  Götternamen  S.  542.  — 

3.  Nordisch-theologische  Götternamen  S.  544  (Grimnismäl  S.  545.  Vaf- 
thrüdnismäl  S.  550.  Alvissmäl  S.  551.  —  Snorri  S.  551).  —  Namen  der 
Götterlieder  S.  554. 

§  32.    Charakteristik  der  Götter 5^ 

Beinamen  S.  557.     Epitheta  S.  558  (Snorri  S.  560). 
§  33.    Kodifikation 5( 

Erste  Ansätze.  Kosmologische  Gedichte  S.  563.  Snorri  S.  563. 
Saxo  S.  565.    Quellen  der  Edda  S.  566.     Edda  S.  567. 

Neuntes  Kapitel. 

Geschichte  der  germanischen  Mythologie. 

8  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm 5( 

Priesterliche  Tradition.  Denkverse.  Prosaische  Traditionen.  —Saxo 
S.  572  (seine  Technik  S.  574).   -  Pause  in  der  Beschäftigung.    Auffinden 


Inhaltsverzeichnis.  XV 

Seite 

der  Edda  S.  579.  —  Elias  Schedius  S.  579.  —  Mallet  S.  580.  —  Fort- 
schritte der  allgemeinen  Religionsforschung:  Spinoza,  R.  Simon,  Astruc, 
de  Brosses.  —  Deutschland:  Leß  S.  582.  Rühs,  Grundtvig  und  der 
Kampf  um  die  Echtheit  S.  583.  Der  Kampf  um  die  Methode  S.  584: 
Dupuis  und  Dulaure.  Die  Symboliker  und  J.  H.  Voß;  Creuzer  und 
G.  Herrmann  S.  589.  —  Ergebnisse  in  Deutschland:  Mone,  Uhland  S.  590. 

15.   Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm 592 

1.  Beschreibende  Mythologie:  J.  Grimm  S.  592  (was  gegeben 
war  —  was  er  schuf).  W.  Müller  S.  596.  Die  beiden  Petersen 
S.  597.  K.  Simrock  S.  597.  —  2.  Historische  Mythologie:  K.  Müllen- 
hoff  S.  598.  —  3.  Vergleichende  Mythologie  (der  linguistische  Faktor 
S.  601) :  M  a  x  M  ü  1 1  e  r  S.  601  (Sagenvergleichung :  J.  G.  v.  Hahn,  R.  Köhler, 
J.  Bolte).  —  4.  Folkloristische  Mythologie:  W.  Mannhardt  S.  608. 
Tylor  S.  609.  Kritik  und  Bedenken.  (Die  dynamische  Gruppe  S.  613.)  — 
5.  Adaptionistische  Mythologie:  O.  Gruppe  S.  613.  Vodskov  S.  615. 
Goblet  d'Alviella  S.  615.  —  6.  Folkloristisch-adaptionistische  Mythologie: 
Sophus  Bugge  S.  616.  E.  H.  Meyer  S.  618.  —  7.  Folkloristisch- 
historische  Mythologie:  Herrmann  Usener  S.  620.  Ed.  Meyer. 
Erwin  Rohde  S.  622  (Stilgeschichtliche  Gruppe:  U.  v.  Wilamowitz 
S.  622,  Ker,  Heusler  S.  623).  —  8.  Psychologische  Mythologie:  Themata. 
W.  Wundt  S.  625.  —  9.  Umblick.  Gegenwärtiger  Betrieb  (Über- 
schätzung der  niederen  Mythologie  S.  628.  Überschätzung  der  ursprüng- 
lichen Gleichheit  S.  630.    Anwendung). 

J  36.   Chronologie 632 

ichträge  und  Berichtigungen 637 

irzeichnis  der  besprochenen  Stellen 639 

;rzeichnis  der  besprochenen  Mythen  und  Motive  642 

egister 643 


Literaturverzeichnis. 

An  dieser  Stelle  sind  nur  wiederholt  benutzte  Schriften  angeführt. 

Th.  Achelis,  Die  Ekstase,  Berlin  1882. 

R.  Andree,  Ethnographische  Parallelen,  Braunschweig  I.  1878,  II.  1889. 

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C.  A.  Bernoulli,  Die  Heiligen  der  Merovinger,  Freiburg  1897. 

E.  Bittlinger,  Die  Materialisation  religiöser  Vorstellungen,  Tübingen  1905. 

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Grundriß  2.  Aufl.  2,  941  f.). 
K.  Brey  sig,  Die  Entstehung  des  Gottesgedankens  und  der  Heilbringer,  Berlin  1905. 

B.  ten  Brink,  Gesch.  der  englischen  Literatur.  Berlin  1877. 

S.  Bugge,  Untersuchungen  über  d.  germ.  Götter-  und  Heldensage,  übs.  von 

O.  Brenner,  Berlin  1889. 
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St.  Petersburg  1853. 
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—  her.  von  Heinzel  und  Detter,  Leipzig  1903. 

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u.  rom.  Phil.,  J.  v.  Kelle  dargebracht). 
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Mystik  im  Heidentum  u.  Christentum,  Leipzig  1908. 

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II 


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H.  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur,  Leipzig  u.  Wien  1900. 

—  Altersklassen  und  Männerbünde,  Berlin  1902. 
B.  Sijmons,  Heldensage:  in  Pauls  Grundriß,  2.  Aufl.;  3,  606 f. 

—  Ontwikkelingsgang  der  Germaansche  Mythol.,  Groningen  1892. 
H.  Usener,  Dreiheit,  Bonn  1903. 

—  Götternamen,  Bonn  1896. 

—  Sintflutsagen,  Bonn  1899. 

A.  Vierkandt,  Naturvölker  u.  Kulturvölker,  Leipzig  1906. 
K.  Wein  hold,  Altnordisches  Leben,  Berlin  1856. 
O.  Wissowa,  Religion  u.  Kulten  der  Römer,  München  1902. 
W.  Wim  dt,  Völkerpsychologie,  B.  II,  Leipzig  1905-09. 
Ad.  Wuttke,   Der  deutsche  Volksaberglaube  der  Gegenwart,  3.  Aufl.  bes. 

E.  H.  Meyer,  Berlin  1900. 


Abkürzungen. 


a.  a.  O. :  am  angeführten  Orte. 

ADB. :  Allgemeine  Deutsche  Biographie. 

Anz.  f.  d.  Alt.:  Anzeiger  für  deutsches  Altertum. 

Ar'ch.  f.  Rel.-Wissensch. :  Archiv  für  Religionswissenschaft. 

Ark.  for  nord.  Fil.:  Arkiv  for  nordisk  Filologi. 

Berl.  Sitzungsber. :  Sitzungsberichte  der  Berliner  Akademie  der  Wissenschaften. 

Brag. :  Bragaroedur  (Gering  S.  352 f,). 

Chantepie:  Chantepie  de  la  Saussaye,  Religion  of  the  Teutons. 

D.  Alt.:  Müllenhoff,  Deutsche  Altertumskunde. 

ebd.:  ebenda. 

Eddica  minora:  her.  v.  A.  Heusler  und  W.  Ranisch. 

erl. :  erläutert. 

fit:  Fäfnismäl  (Gering  S.  202). 

Gering:  Die  Edda,  übs.  u.  erläut.  von  H.  Gering. 

Germ.:  Tacitus  Germania  (nach  Müllenhoffs  Germania  antiqua  zitiert). 

Golther:  Golther,  Handbuch  der  germ.  Mythologie. 

Grim.:  Grimnismäl  (Gering  S.  68). 

Qylf.:  Gylfaginning  (Gering  S.  297). 

Hamd. :  Hamdismäl  (Gering  S.  290). 

iärb. :  Härbardsljöd  (Gering  S.  42). 

läv. :  Hävamäl  (Gering  S.  87). 

leinzel-Detter:   Saemundar   Edda,   her.   von    F.   Detter   und   R.   Heinzel, 

Leipzig  1903. 
Helg.  Hjörv. :  Helgakvida  Hjörvardssonar  (Gering  S.  142). 
Helg.  Hund.:  Helgakvida  Hundingsbana  (I.  Gering  S.  160,  II.  S.  171). 
Helr.:  Helreid  Brynhildar  (Gering  S.  238). 

Herrmann:  Saxos  neun  erste  Bücher,  übersetzt  und  erläutert  von  P.  Herrmann. 
Hillebrandt:  Altindische  Ritualliteratur. 
öHym.:  Hymiskvida  (Gering  S.  23). 
Hyndl.:  Hyndluljöd  (Gering  S.  117). 
Ind.  superstit. :  Indiculus  superstitionum  (MSD.  2,  317). 
I.  F.:  Indogermanische  Forschungen,  her.  von  W.  Streitberg. 
KHM. :  Kinder-  und  Hausmärchen,  gesammelt  von  den  Brüdern  Grimm.    (Große 

Ausgabe,  7.  Aufl.,  Göttingen  1857). 
Kl.  Sehr.:  Kleine  Schriften. 
Lok.:  Lokasenna  (Gering  S.  29). 
Macdonell:  Vedic  Religion. 

MSD.:  Müllenhoff  und  Scherer,  Denkmäler  deutscher  Poesie  und  Prosa. 

II* 


XX  Abkürzungeil. 

Nib.  N. :  Der  Nibelunge  Not. 

Oddr. :  Oddrunargrätr  (Gering  S.  250). 

Oldenberg:  Religion  des  Veda,  Berlin  1894. 

Paul:  Grundriß  der  gerin.  Philologie,  her.  von  H.  Paul. 

PBB. :  Paul  und  Braunes  Beiträge. 

Reg.:  Reginsmal  (Gering  S.  195). 

Schoning:  Dödsriger  i  Nordisk  Hedentro. 

Sgdr.:  Sigrdrifumäl  (Gering  S.  210). 

Skäldsk. :  Skäldskaparmäl  (Gering  S.  357). 

Skirn.:  Skirnismäl  (Gering  S.  52). 

s.  o. :  siehe  oben. 

s.  u. :  siehe  unten. 

Thr. :  Thrymskvida  (Gering  S.  18). 

Vaf. :  Vafthrüdnismäl  (Gering  S.  59). 

Veg. :  Vegtamskvida  (oder  Baldrs  Draumar,  Gering  S.  15). 

Vol.:  Völuspä  (Gering  S.  3). 

Vkv.:  Völundarkvida  (Gering  S.  141). 

Wissowa:  Religion  und  Kultus  der  Römer. 

Wuttke:  Deutscher  Volksaberglaube  der  Gegenwart. 

Zs:  Zeitschrift. 

Ztschr.  f.  d.  Alt.:  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum. 

Ztschr.  f.  d.  Phil.:  Zeitschrift  für  deutsche  Philologie. 

Ztschr.  f.  d.  Wortf. :  Zeitschrift  für  deutsche  Wortforschung. 

Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk. :  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde. 


Einleitung. 

§  1.   Aufgabe  und  Umgrenzung. 

Der  Ausdruck  »germanische  Religionsgeschichte«  bedarf 
i  allen  seinen  drei  Teilen  der  Erläuterung. 

Die  Germanen  sind,  welches  immer  ihr  anthropologischer  oder 
assencharakter  sein  mag,  uns  als  ein  Zweig  der  indogermanischen  Sprach- 
emeinschaft bekannt,  die  zugleich  eine  Kulturgemeinschaft  war.  Sie  haben 
ch  aus  dieser  Gemeinschaft  heraus  zu  einer  eigenen  Volksindividualität 
itwickelt  und  haben  diese  in  eigentümlichen  nationalen  Lebensäußerungen 
ekundet,  unter  denen  für  uns  Religion  und  Mythologie  an  erster  Stelle 
:ehen.  Sie  haben  später  großenteils  zu  einer  neuen  Kulturgemeinschaft, 
er  »antiken«  oder  hellenisch  -  römischen ,  Beziehungen  unterhalten,  von 
enen  ihre  Eigenart  hier  und  da  gefärbt  wurde.  Aber  auch  andere  Völker- 
ruppen,  die  ihnen  benachbart  waren  oder  wurden,  sind  nicht  ohne  Ein- 
luß  geblieben;  so  die  kulturell  höher  stehenden  Kelten,  die  kulturell 
iedriger  stehenden  Finnen.  Durch  das  sehr  verschiedene  Maß  solcher 
•nwirkungen  wurde  ein  Auflösungsprozeß  beschleunigt,  der  aber  längst 
orbereitet  war:  die  germanische  Kultureinheit  wich  einer  Vielheit  von 
estaltungen;  die  germanische  Nationalität  ging  in  scharf  geschiedene 
ämme  auseinander:  Deutsche,  Angelsachsen,  Skandinavier  usw.  Als  dann 
ndlich  eine  dritte  große  Kulturgemeinschaft,  die  des  Christentums,  das 
:rbe  der  antiken  antrat,  waren  es  nicht  mehr  »die  Germanen«,  sondern 
lie  verschiedenen,  sehr  verschieden  für  die  neue  Religion  vorgebildeten 
germanischen  Stämme,  die  in  großen  zeitlichen  Abständen  erst  äußerlich, 
lann  auch  innerlich  in  die  neue  Geisteswelt  eintraten. 

Diese  verschiedenen  Kulturgemeinschaften  stehen  aber  zu  demGermanen- 
um  in  ungleichen  Beziehungen.  Innerhalb  der  indogermanischen  Volks- 
^rüderschaft  sind  die  Germanen  einfach  Teilnehmer  am  geistigen  Gesamt- 
este, den  sie  jedoch  unzweifelhaft  früh  zu  vermehren  und  zu  verändern 
begonnen  haben.  Auf  diese  ihre  Entwicklung  übt  die  Entwicklung  der 
3esamtheit  keinen  wesentlichen  Einfluß,  da  die  indogermanische  Gemein- 
schaft schon  stark  auseinanderstrebt.  —  Dagegen  hat  die  römische  Kultur 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  1 


2  Einleitung. 

die  Germanen,  wo  sie  sie  traf,  sehr  stark  beeinflußt:  sie  stießen  hier  mfte 
einer  mächtig  und  organisch  ausgebildeten  Anschauungsgenossenschai 
zusammen.  So  stark  der  Eindruck  aber,  etwa  bei  den  germanischen  Anj 
vvohnern  des  Rheins,  intensiv  sein  mochte,  blieb  er  extensiv  gering,  da  di 
meisten  germanischen  Stämme  und  die  vor  allem,  die  das  Germanentur 
in  der  Weltgeschichte  weiterführen  sollten  (so  die  Niederdeutschen,  di 
Nordgermanen),  mit  den  Römern  nicht  unmittelbar  zusammentrafen.  Viel 
mehr  wurde  den  meisten  fortlebenden  Germanenstämmen  die  antike  Kultui 
deren  Einwirkung  den  Goten  und  Vandalen  verhängnisvoll  geworden  wall 
erst  mittelbar  durch  das  Christentum  übermittelt.  —  Dies  nun  hat  au 
alle  noch  vorhandenen  germanischen  Stämme  sehr  stark  und  bis  in[ 
Innerste  gewirkt,  ohne  doch  übrigens  auch  nur  bei  den  am  entschiedenste 
christianisierten  Völkern  die  ererbte  Eigenart  völlig  umzuformen. 

Es  folgt  hieraus,  daß  der  Ausdruck  »germanisch«  im  Grunde  nu 
für  diejenige  Periode  angewandt  werden  kann,  in  der  eine  bestimmt 
Gruppe  sich  (durch  sprachliche  und  kulturelle  Neuerungen)  aus  der  indo 
germanischen  Gemeinschaft  ausgesondert  hatte  und  noch  eine  im  wesent 
liehen  gleichartige  Einheit  bildete.  Es  war  jedenfalls  die  Zeit,  in  d 
das  spezifisch  germanische  Wesen  am  deutlichsten  hervortrat,  nicht  meh 
dem  der  indogermanischen  Nachbarn  gleich,  und  nicht  durch  die  parti 
kulareh  Eigenheiten  der  Ost-,  West-  und  Nordgermanen  in  seiner  Ein 
heitlichkeit  bedroht.  Damals  hatte  man  sich  der  indogermanischen  Kultu 
entwunden  und  der  antiken  oder  christlichen  noch  nicht  unterworfer 
Damals  und  im  Grunde  nur  damals  muß  es  eine  eigentlich  germanisch» 
Kultur  und  mit  ihr  eine  rein  germanische  Mythologie  gegeben  haben 
Freilich,  selbst  damals  kann  diese  Kultur,  kann  diese  Mythologie  vor; 
fremden  Einwirkungen  nicht  unberührt  geblieben  sein:  die  Germaner 
lebten  auf  keiner  einsamen  Insel;  aber  die  Selbständigkeit  germanischer1 
Wesens  kann  niemals  größer  gewesen  sein  als  in  jener  Epoche. 

Unser  Ideal  wäre  also,  die  Kultur  und  damit  auch  Religion  unJ 
Mythologie  der  ungetrennten  Germanen  zu  ergründen.  Leider  aber  habe«  | 
wir  dafür  so  gut  wie  kein  Mittel;  die  unschätzbaren,  aber  kargen  Nach  i 
richten  der  ältesten  antiken  Berichterstatter,  einige  zweifelhafte  Schlüssi 
aus  der  Sprache  und  zweifelhaftere  aus  dem  archäologischen  Material  sincfl 
alles,  was  unserem  Wissensdurst  entgegenkommt! 

Immerhin  ist  schon  von  vornherein  nicht  zu  bezweifeln,  daß  vor 
diesem  germanischen  Bestand  vieles  in  die  spätere  Entwicklung  über 
gegangen  ist.  Wie  man  auch  die  spätesten,  von  dem  ursprünglicher! 
Bestand  der  Religion  am  weitesten  entfernten  Konfessionen  noch  untei 
den  Begriff  des  »Christentums«  mitzufassen  pflegt,  so  nennen  wir  auch 
die  Religion  der  Isländer  oder  Angelsachsen  noch  »germanische  Reli| 
gion<.     Es    sind   ja  alles    religiöse   Lebensanschauungen   von   Germanen 


§  1.   Aufgabe  und  Umgrenzung.  3 

weshalb  der  —  ebenfalls   oft  verwandte  —  Ausdruck  »Religion  der  Ger- 
manen« immerhin  noch  zutreffender  ist. 

Diese  »Religion  der  Germanen«  ist  stark  genug,  um  die  griechisch- 
römische Religion  so  ziemlich  fernzuhalten,  weil  diese  selbst  kaum  mehr  im 
propagationsfähigen  Alter  stand.  Dagegen  mußte  sie  vor  dem  mächtigen 
•Ansturm  der  christlichen  Mission  weichen  und  konnte  nur  noch  in  ver- 
hältnismäßig geringfügigen  Resten,  meist  verkleidet  und  angepaßt,  die 
Christianisierung  überdauern. 

Demnach  verstehen  wir  unter  »germanischer  Religion  und  Mythologie« 
hier  das  gesamte  Heidentum  germanischer  Nation  und  zwar  erstens  das 
gemeingermanische  und  zweitens  das  auf  germanischem  Boden  partikular 
entwickelte,  insbesondere  das  altnordische  Heidentum.  Das  Ende  ist  uns 
überall  mit  dem  Durchdringen  des  Christentums  gesetzt,  das  bei  den 
Angelsachsen  um  597  beginnt  und  zuletzt  um  1000  n.  Chr.  die  Isländer 
erreicht. 

Es  kommt  uns  darauf  an,  diese  germanische  Religion  in  ihren  Grund- 
zügen darzustellen  und  in  ihrer  Eigenart  zu  charakterisieren.  Deshalb  wie 
aus  methodischen  Gründen  ist  eine  gelegentliche  Rücksicht  auf  allgemeine 
mythologische  Begriffe  und  eine  gelegentliche  Vergleichung  mit  fremden 
Religionen  nicht  zu  vermeiden.  Natürlich  aber  gehen  wir  von  dem  ein- 
heimischen Material  aus  und  benutzen  das  fremde  nur  zur  Deutung  und 
Ergänzung.  — 

Schwieriger   ist   es,   über   den  Begriff  »Religion«  zu  einiger  Klar- 
heit zu  gelangen.   Wir  werden  hierüber  noch  in  einem  eigenen  Paragraphen 
.u    handeln    haben;    für   jetzt    gilt    es   nur,    das   Verhältnis   der   Begriffe 
Religion«  und  »Mythologie«  näher  zu  bestimmen1). 

Lange  Zeit  hat  man  sie  lediglich  der  Anwendung  nach  unterschieden, 
ndem  man  den  Ausdruck  »Religion«  für  die  monotheistischen  Bekennt- 
nisse reservierte  und  für  alle  anderen  lediglich  von  »Mythologie«  sprach. 
Mit  der  Vertiefung  des  religionsgeschichtlichen  Studiums  hat  sich  das  ge- 
ändert; auch  christliche  Theologen  reden  jetzt  ruhig  von  der  altgermanischen 
oder  japanischen  Religion,  und  namentlich  seit  D.  Fr.  Strauß'  Leben 
Jesu  darf  man  auch  von  Mythen  innerhalb  des  Christentums  sprechen. 
Diese  berechtigte  Änderung  im  Wortgebrauch  hat  nun  aber  wieder  viel- 
fach zu  einer  nicht  ebenso  berechtigten  Gleichsetzung  anderer  Art  geführt, 
tso  daß  man  bald  unter  dem  Begriff  »Religion«  auch  die  rein  mytho- 
f'logischen  Bestandteile,  bald  unter  »Mythologie«  auch  die  eigentlich  religiösen 
mit  versteht.   Zumal  die  letztere  Freiheit  ist  (in  Anlehnung  an  jenen  älteren 


])  W.  Bousset,  Das  Wesen  der  Religion,  Halle  1907;  G.  Simmel,  Die 
Religion,  Frankfurt  am  Main  1907;  H.  Usener,  Mythologie,  Arch.  f.  Religions- 
wissenschaft 8,  lf.;  W.  Wundt,  Völkerpsychologie  2,  3,  726 f. 


4  Einleitung. 

Sprachgebrauch)  sehr  verbreitet,  und  fast  alle  die  Werke,  die  »Mythologief 
der  Germanen«,    »Germanische  Mythologie«  u.  dgl.  betitelt  sind,   ziehen 
die   Religion    mit   hinein.     Dies   ist  auch   eine   durchaus   läßliche  Sünde 
und   wir  werden    in    diesem    Band   nicht  selten   von    dieser  Bequemlich 
keit  Gebrauch  machen.    Daneben  ist  doch  aber  wichtig,  sich  gegenwärtig 
zu  halten,  daß  die  beiden  Begriffe  sich  für  die  Religionen  und  Mythologien 
der  Alten   und   der  Primitiven   so  wenig  wie  für  die  der  neueren  Völker 
decken.     In   bestimmten  Fällen  kann  man  geradezu  von  einem  Gegensatz 
ihrer  Tendenzen  sprechen. 

Religion  und  Mythologie  haben  das  gemein,  daß  sie  sich  auf  Über 
sinnliches  beziehen.  In  beiden  wird  eine  Anschauung  des  nicht  Anschau 
baren  erstrebt,  in  beiden  eine  Vergegenwärtigung  des  Unsichtbaren,  ja 
fast  eine  Materialisation  des  Unfaßbaren.  Aber  die  Mythologie  beschränk 
sich  auf  eine  rein  geistige  Vorstellung,  die  Religion  begehrt  praktische 
Wirkung.  Denn  die  Religion  ist,  trotz  ihres  allgemeinen,  die  Gemeind 
oder  den  Stamm  verbindenden  Charakters,  von  allem  Anfang  an  unlöslich 
an  das  individuelle  Erlebnis  und  das  individuelle  Bedürfnis  gebunden 
während  die  Mythologie  durchaus  im  Kollektivbesitz  der  Gemeinschafi 
ruht  —  so  weit  nicht  eben  persönliche  Bedürfnisse  sie  religiös  um- 
formen. 

Klingt  dies  etwas  abstrakt,  so  sei  es  aus  Beispielen  verdeutlicht.  Die 
Vorstellung  von  einem  Gott  Apollon,  wie  auch  wir  sie  noch  als  poetische 
Fiktion  besitzen,  ist  zunächst  eine  rein  mythische.  Gewisse  geheimnisvolle 
Wirkungen  werden  von  einer  gemeinsamen  Ursache  abgeleitet,  die  personi 
fiziert  als  der  fernhintreffende  Gott  erscheint.  Nun  aber  bleibt  es  im  Alter- 
tum  nicht  bei  dieser  Vorstellung.  Chryses,  dem  die  Tochter  geraubt  worden,' 
ist,  wendet  sich  an  diesen  Gott,  zu  dem  er  in  einem  besonderen  Dienst-! 
Verhältnis  steht,  und  fleht  ihn  an,  den  Räuber  mit  seinen  Pfeilen  zu  durch 
bohren.  Hier  haben  wir  einen  Kultus:  Chryses  ist  ein  Priester  des  Apollo 
eine  Kulthandlung:  das  feierliche  Gebet  an  den  Gott;  Religion:  das  per 
sönliche  Verhältnis,  das  sich  in  dem  Kultus  allgemein  und  in  der  Kult- 
handlung speziell  offenbart. 

Ich  kann  also  die  heute  vielfach  (besonders  seit  den  Forschungen 
des  Semitisten  Robertson  Smith)  übliche  geringe  Einschätzung  der  Mytho- 
logie nicht  billigen.  Eduard  Meyer1)  sagt  etwa:  »Die  Mythologie  isi 
ein  Appendix  der  Religion  so  gut  wie  die  Theologie,  nicht  die  Haupt- 
sache.« Nicht  die  Hauptsache,  das  gebe  ich  zu:  die  Hauptsache  ist  in 
der  Tat  die  Religion,  weil  in  ihr  eine  unendliche  Entwicklungsfähigkeit 
und  zugleich  eine  wunderbare  Festigkeit  liegt,  die  beide  der  Mythologi< 
abgehen.     Denn   auf   das   persönliche   Erlebnis   und   das   individuelle  Be 


')  Geschichte  des  Altertums,  2.  Aufl.  I.  2.  S.  780. 


§  1.  Aufgabe  und  Umgrenzung.  5 

lürfnis  ist  alle  menschliche  Evolution  gestellt;  und  aus  ihnen  heraus 
st  die  Religion,  obwohl  in  ihren  rein  praktischen  Anfängen  niedriger 
:u  bewerten,  als  die  poetisch  freiere,  uninteressierte  Mythologie,  schließ- 
ich  doch  überall  weit  über  ihre  Schwester  emporgestiegen.  Sie  ist  die 
iauptsache;  ein  Appendix  aber  ist  die  Mythologie  schon  deshalb  nicht, 
weil  sie  von  der  Religion  überall  vorausgesetzt  wird.  Jedes  Opfer  setzt 
,  >ine  mythische  Vorstellung  voraus:  ehe  einem  Fetisch  oder  einem  Dämon 
3eschenke  dargebracht  werden  können,  muß  sich  die  Anschauung  von 
-inem  Wesen,  das  durch  Geschenke  beeinflußt  werden  kann,  gebildet 
haben.  Die  Religion  entwickelt  sich  auf  Grund  der  Mythologie  durch  eine 
fortwährende  Auslese  aus  dieser.  Deshalb  geht  es  auch  nicht  an,  zwischen 
mythischen  Gestalten  mit  und  ohne  Kultus  einen  prinzipiellen  Unterschied 
zu  machen.  Es  ist  nur  eine  graduelle  Verschiedenheit,  etwa  wie  die 
katholische  Kirche  sie  zwischen  »Seligen«  und  »Heiligen«  aufstellt:  jene 
dürfen,  diese  sollen  angerufen  werden.  In  derselben  Weise  kann  jeden 
Augenblick  eine  mythische  Gestalt  zu  einer  kultischen  aufrücken.  Unter  den 
Göttern  der  Edda  sind  gewiß  viele,  von  denen  wir  nicht  bloß  zufällig 
keinerlei  Nachricht  über  Kult  besitzen;  das  ändert  nichts  an  ihrer  Gleich- 
artigkeit mit  Thor  und  Freya. 

Wir  definieren  also  die  Religion  als  die  Summe  derjenigen  Vor- 
stellungen und  Handlungen,  die  auf  einem  persönlichen  Verhältnis  zwischen 
Menschen  und  mythischen  Gestalten  beruhen  —  Vorstellungen  von  zu- 
nehmender Innigkeit,  die  zuletzt  zu  der  unbedingten  Hingabe  des  Menschen 
an  seinen  Gott  führen;  Handlungen  von  anfangs  grob  praktischem  Zu- 
schnitt, die  allmählich  zu  symbolischer  Bedeutung  geläutert  werden.  Diese 
einzelnen  Handlungen  nennen  wir  Kulthandlungen;  setzen  sich  ihrer 
nehrere  zu  einer  geschlossenen  Kette  zusammen,  so  entsteht  ein  Ritus; 
und  die  Gesamtheit  der  auf  eine  einzelne  mythische  Gestalt  (oder  auch 
Gruppe)  bezüglichen  Kulthandlungen  heißt  Kult.  Somit  ist  schließlich, 
empirisch  betrachtet,  die  Religion  nichts  anderes  als  die  Gesamtheit  der 
von  einer  bestimmten  Gemeinschaft  ausgeübten  Kulte  samt  dem  dahinter 
(mehr  oder  minder  bewußt)  stehenden  Vorstellungskreis. 

Wir  geben  aber  zu,  daß  die  eigentliche  dauernde  Bedeutung  der  Mytho- 
logie (von  ihrer  ästhetischen  und  kulturhistorischen  Wichtigkeit  abgesehen) 
in  der  Vorbereitung  der  Religion  besteht.  Die  Mythologie  ist  die  Lyrik, 
aus  der  die  »höheren  Gattungen«,  Epos  und  Drama,  erwachsen,  von  der  sie 
i  fortwährend  ernährt  und  getränkt  werden  müssen  und  deren  Bedeutung 
doch  nur  ausnahmsweise  die  jener  von  ihr  erzogenen  Gattungen  erreicht. 

Wir  wollen  also  vor  allem  die  altgermanische  Religion  darstellen, 
halten  aber  dafür  eine  eingehende  Schilderung  der  Mythologie  für  un- 
erläßlich. Es  kommt  hinzu,  daß  von  dieser  ungleich  mehr  überliefert  ist 
und  sie  auch  durch  die  großartige  Verschiedenheit  ihrer  Gebilde  ein  all- 


ß  Einleitung. 

gemeineres  Interesse  darbietet  als  die  in  ihren  Erscheinungsformen  wesent-j 
lieh  gleichartige  Religion  x).  — 

Ist  es  durchaus  üblich,  von  germanischer  Religion  zu  sprechen,  so  ist 
dagegen  der  Ausdruck  Religionsgeschichte  auf  ihre  Darstellung 
noch  kaum  angewandt  worden.  In  welchem  Sinne  läßt  er  sich  auf  dies 
Thema  anwenden? 

Wie  die  moderne  Naturforschung  sich  mehr  und  mehr  der  An- 
schauung nähert,  alles  Geschehen  sei  lediglich  auf  Bewegung  zurück- 
zuführen, und  ein  Dualismus  von  beharrendem  Stoff  und  bewegender 
Kraft  müsse  abgelehnt  werden  (energetische  Weltanschauung),  so  betonen 
die  Philologie  und  die  Geschichtswissenschaft  immer  stärker,  daß  alle 
Dinge  in  beständigem  Fluß  und  jeder  »dauernde  Zustand«  eine  bloße 
Abstraktion  sei.  Wie  die  Sprache,  wie  das  Recht,  so  ist  die  Religion  in 
unaufhörlicher  Entwicklung  begriffen,  die  bei  ^len  dreien  erst  aufhören! 
kann,  wenn  sie  selbst  absterben.  Wir  sahen  schon,  wie  die  Religion  sich 
fortwährend  am  Quell  der  Mythologie  nährt,  neue  Kulte  aufnimmt,  ebenso! 
aber  auch  alte  aufgibt.  Die  Kultgebräuche  selbst  zeigen  allerdings  eine 
gewisse  Festigkeit ;  doch  wird  auch  sie  überschätzt.  So  ist  für  den  Kultus 
zu  allen  Zeiten  das  Opfer  unentbehrlich ;  aber  wir  sehen,  wie  es  sich  von 
Menschenopfern  zu  Tieropfern  und  schließlich  zu  symbolischen  Opfer 
gaben  (z.  B.  Gebäck  in  Tierform)  mildert.  Ebenso  ändern  sich  die  Texte 
der    liturgischen    Anrufungen.     Die    Kulte    beeinflussen    sich    gegenseitig 

positiv   oder   negativ,   wie  z.  B.  der  Bilderdienst,   den  die  Evangelischen 

I 

den  Katholiken  vorwerfen,  zu  einer  weitgehenden  Abneigung  gegen  jeden 
Schmuck  im  Gotteshaus  führt.  Kurz,  von  dem  allgemeinen  »Gesetz  deij 
Umwandlung«  ist  die  Religion  nicht  befreit,  so  gern  das  auch  die  Priester 
zu  allen  Zeiten  behauptet  haben:  die  verhältnismäßig  junge  Sitte  der 
indischen  Witwenverbrennung  sollte  uralt  sein  u.  dgl.  m. 

Wenn  wir  also  von  der  Religion  etwa  des  skandinavischen  Nordens 
eine  bestimmte  Darstellung  geben,  so  müssen  wir  immer  mit  der  Möglich 
keit  rechnen,  daß  Dinge,  die  wir  als  gleichzeitig  hinstellen,  in  Wirklichkeit 
verschiedenen  Momenten  der  Entwicklung  angehören.  Vor  allem  aber 
müssen  wir  die  religiöse  Evolution  innerhalb  des  weiten  Zeitraumes,  den 
unsere  Darstellung  zu  umspannen  hat,  stärker  betonen,  als  dies  zumeist 
geschieht.  Diesem  Zweck  dient  eigens  ein  Kapitel  über  die  Entwicklung 
der  germanischen  Religion;  aber  auch  sonst  suchen  wir  die  Ansätze 
zu  Fortentwicklungen  nicht  aus  dem  Auge  zu  verlieren  und  werden 
manches  in  historische  Ordnung  zu  stellen  suchen,  was  gewöhnlich  als 
gleichzeitig  behandelt  wird. 

')  Über  das  Verhältnis  von  Mythus  und  Ritus  vgl.  meinen  Aufsatz  »Mytho- 
logische Fragen«,  Archiv  f.  Rel.-Wissensch.  9,  418  f.;  Wim  dt,  a.  a.  O.  S.  599; 
vgl.  dagegen  Kauffmann  und  Schuck,  Archiv  f.  Rel.-Wissensch.  11,  114. 


Erstes  Kapitel, 

Allgemeine  Voraussetzungen. 

Die  germanische  Mythologie  und  die  germanische  Religion  haben 
zunächst  Anteil  an  den  Eigenschaften  aller  Mythologien  oder  Religionen; 
sie  sind  weiterhin  durch  bestimmte  historische  Faktoren  spezifisch  bedingt. 
Wir  müssen  über  diese  beiden  Gruppen  von  Voraussetzungen ,  die  all- 
gemeinen und  die  speziellen,  sprechen,  ehe  wir  in  die  Darstellung  der 
germanischen  Mythologie  selbst  eintreten  *). 

§  2.    Wesen  und  Begriff  der  Mythologie. 

Wir  pflegen  die  Gesamtheit  der  existierenden  Dinge  in  zwei  große 
Klassen  zu  scheiden :  solche,  die  sinnlich  wahrnehmbar  sind  —  Konkreta  — , 
und  solche,  die  nicht  sinnlich  wahrnehmbar  sind  —  Abstrakta.  Diese 
Scheidung  ist  uralt;  schon  die  Indogermanen  erkennen  die  Sonderstellung 
gewisser  Begriffe  an,  indem  sie  für  dieselben  besondere  sprachliche  Aus- 
Irucksmittel  (Abstraktsuffixe)  verwenden.  So  sind  Worte  wie  »Güte«, 
»Falschheit«  (in  verschiedenen  Sprachperioden)  gebildet  worden,  um  ge- 
wisse Dinge  zu  bezeichnen,  an  deren  Existenz  niemand  zweifelt,  die  aber 
mit  Auge,  Ohr  oder  Tastsinn  nicht  zu  erreichen  sind. 

Auf  der  Grenze  beider  Klassen  stehen  nun  aber  in  unendlicher  Zahl 
die  wichtigsten  Erscheinungen.  Zwar  wir  rechnen  sie  unbedenklich  zu 
den  Abstraktionen;  der  primitive  Mensch  aber  empfand  ihre  Wirkungen 
so  stark  und  unmittelbar,  daß  ihm  die  sinnliche  Wahrnehmung  dieser 
Wirkungen  zu  dem  Glauben  an  sinnliche  Wahrnehmung  ihrer  Ursachen 
wurde.  Es  handelt  sich  um  das  unbegrenzte  Reich  jener  Dinge,  die  die 
modern  -  wissenschaftliche  Mythologie  als  »Kräfte«  bezeichnet;  es  handelt 
sich  weiterhin  um  alle  nicht  wahrnehmbaren  Ursachen  starker  Wirkungen. 
Der  Blitz  schlägt  ein  —  wir  erklären  das  irgendwie  mit  den  Gesetzen  der 
Elektrizität,  der  Naturmensch  mit  dem  Willen  irgendeiner  Persönlichkeit, 
die  den  Blitz  schleudert.    Ein  Mensch  wird  plötzlich  krank  —  die  Bazillen, 


')  Vgl.  allgemein  M.  Jastrow,  The  Study  of  Religion,  London  1901. 


*, 


g  Erstes  Kapitel. 

sagen   wir;   Verzauberung   durch   einen  Hexenmeister,  glaubt  noch  heute'! 
abergläubisches  Volk. 

Die  Mythologie  ist  weder  geheimnisvolle  Philosophie,  wie  die  Roman 
tiker  glaubten,  noch  bloße  Poesie,  wie  andere  gemeint  haben,  noch  bloß« 
Torheit,  wie  die  französischen  Aufklärer  annehmen  mochten ;  sie  ist  primitive 
Wissenschaft,  primitive  Poesie  und  primitive  Unfähigkeit  im  Denken  au 
einmal.  Überall  geht  sie  von  Erfahrungen  aus,  von  Erfahrungen  des 
Einzelnen,  die  sich  denen  seiner  Genossen  angliedern.  (Man  muß  auf- 
hören, mit  dem  unwissenschaftlichen  Begriff  des  »Ersten«  zu  operieren 
es  gibt  keine  »erste  Erfahrung«;  der  Mensch,  der  den  »ersten  Sonnen 
Untergang«  beobachtete,  ist  wie  der  »erste  König«  oder  der  »erste  Schiff er< 
ein  poetisch-philosophisches  Phantom  der  Aufklärungszeit.  Jede  Erfahrung 
die  ein  Mensch  macht,  hat  Vorgänger  in  den  Erfahrungen  seiner  Vor 
fahren.)  Diese  Erfahrungen  geben  uns  ein  Rätsel  auf,  ein  durchaus  prak 
tisches:  die  angenehme  Erfahrung,  etwa  einer  erfolgreichen  Jagd,  weck 
die  Frage,  wie  er  sie  sich  von  neuem  sichern  kann;  die  schmerzliche 
etwa  ein  Todesfall  im  Hause  oder  in  der  Familie,  diejenige,  wie  er  siel 
davor  schützen  kann.  Nun  kennt  der  primitive  Mensch,  wie  im  Grund< 
der  moderne  auch,  die  Ursache  nur  in  einer  begreiflichen  Form:  in  de; 
des  Willens.  Warum  habe  ich  den  Apfel  gegessen?  weil  ich  hungrig  wa 
und  deshalb  etwas  essen  wollte.  Warum  hat  mein  Herr  meinen  Mitsklavei 
getötet?  weil  er  zornig  war  und  ihn  deshalb  töten  wollte.  Es  ist  als4 
ein  unvermeidlicher  Analogieschluß,  daß  hinter  jedem  Ereignis  ein  Willi 
gesucht  wird.  (Man  sieht  hier,  wie  primitiv  der  Grundgedanke  in  Schopen 
hauers  Philosophie  ist!)  Dieser  Wille  verlangt  einen  Träger,  einet] 
Wollenden.  So  erzeugt  jedes  unbegreifliche  Geschehnis  mythische  Wesen] 
Vor  allem  jede  Störung  des  »normalen  Verlaufs«,  jedes  Umbiegen  de 
geraden  Linie:  der  Schlaf  und  gar  der  Tod,  Krankheit,  Sonnenfinsternis! 

Man  darf  nun  aber  nicht  an  einen  langsamen  logischen  Prozeß  denken] 
Vielmehr  vollzieht  sich  diese  Entwicklung  mit  größter  Schnelligkeit.     D 
Primitive   ist  ganz  auf  Anschauung  gestellt:   hinter  jeder  Störung,   hint 
jedem    unerwarteten  Erfolg,   schließlich    hinter  jedem  Ereignis,   das  nichj 
von  ihm  oder  seinesgleichen  unmittelbar  abhängt,  sieht  er  eine  irgendwi 
menschenähnliche  Ursache1).    Mythologie  ist  Anschauung  des  keiner  A 
schauung  Fähigen  und  ist  insofern  auch  Poesie,  wie  sie  in  dem  Bestrebe 
rerum  cognoscere  causas  Wissenschaft  ist.     Vor  allem  ist  sie  Notwe 
des  Menschen  gegen  alles,  was  nicht  seinesgleichen  ist:  indem  er  es  sie 
verähnlicht,  macht  er  es  sich  zugänglich.    Nun  kann  er  gegen  den  Dämo 


]j  Wundts  Mahnung  (3,  643),  der  Mythus  entspringe  aus  der  Anschauung 
nicht  aus  dem  Nachdenken,  ist,  wie  so  oft,  durch  eine  Verbindung  beider  Bd 
griffe  zu  ersetzen. 


§  2.    Wesen  und  Begriff  der  Mythologie.  9 

kämpfen,  zu  dem  Gott  beten ;  das  ist  seine  Art,  die  Natur  zu  bezwingen 
und  ihre  Gestalten  sich  Untertan  zu  machen. 

In  allen  diesen  Dingen  stehen  wir  den  »Naturmenschen«  keineswegs 
so  fern,  wie  unser  Hochmut  wohl  glaubt.  Unsere  erste  Deutung  unbegreif- 
licher Phänomene  ist  auch  heute  noch  mythologisch:  das  Kind  schlägt 
den  Tisch,  an  dem  es  sich  gestoßen  hat,  als  habe  »der  böse  Tisch«  es 
absichtlich  gestoßen.  Nur  kommt  bei  uns  die  kontrollierende  Tätigkeit 
des  Verstandes  hinzu.  Wie  die  mythenbildende  Phantasie  des  Indianers 
das  Wunder  der  Schießwaffe  zu  anderen  Wundern  hinzudenkt,  so 
»apperzipiert«  heute  unser  Verstand  eine  Explosion,  deren  Ursache  wir 
nicht  kennen,  zu  anderen  uns  physikalisch  verständlichen  Phänomenen. 
Sobald  aber  diese  Kontrolle  fehlt  oder  versagt,  gerät  auch  noch  heute  das 
Kind,  der  Schwärmer,  der  Geisteskranke  unmittelbar  in  die  vollste  Mytho- 
logie hinein  *). 

Die  Mythologie  setzt  also  jedesmal  zwei  Dinge  voraus:  ein  »erregendes 
Moment« ,  irgendeine  (wirkliche  oder  vermeintliche)  Tatsache  als  erstes, 
und  eine  zu  ihrer  Erklärung  erdachte  oder  vielmehr  »erschaute«  Gestalt 
als  zweites  gerade  wie  jede  menschliche  Sprachäußerung  zweierlei  voraus- 
setzt: eine  Wahrnehmung  —  das  Prädikat  —  und  einen  Träger  der  wahr- 
genommenen Erscheinung  —  das  Subjekt.  Diese  beiden  sind  für  einen 
»Mythus«  unentbehrlich,  aber  sie  genügen  auch.  »Es  regnet«,  das  ist 
eine  Beobachtung;  »Zeus  regnet«,  das  ist  ein  Mythus.  Ein  Mythus  ist  ein 
Eckchen  Welt,  angeschaut  durch  das  Temperament  eines  primitiven  Menschen. 
Aber  eben  deshalb  bleibt  er  bei  der  Hinzuerfindung  einer  lebendigen 
Ursache  zu  einer  unerklärlichen  Erscheinung  selten  stehen. 

Die  unbekannten  »Kräfte«  sind  von  vornherein  menschenähnlich,  indem 
sie  das  besitzen,  was  wir  als  unser  wesentlichstes  Eigentum  empfinden: 
einen  bewußten  Willen.  Es  ist  weder  richtig,  wenn  man  von  »Personi- 
fikation« spricht,  noch  wenn  man  behauptet,  für  den  ursprünglichen 
Menschen  sei  alles  belebt.  Von  Personifikation  darf  (in  frühen  Stadien; 
späte  Gottheiten  wie  Victoria  oder  Justitia  sind  gewiß  Personifikationen) 
nicht  die  Rede  sein,  denn  der  Neger  »belebt«  den  Fluß  nicht,  sondern 
hält  ihn  für  lebendig.     Aber  auch  das  dürfen  wir  uns  nicht  denken,  daß 


1)  Über  die  psychologischen  Bedingungen  der  Mythologie  vgl.  besonders  das 
große  Werk  von  W.Wun  dt,  Völkerpsychologie,  Band  II,  Leipzig  1905.  G.  F.  Lipps, 
Mythenbildung  und  Erkenntnis,  Leipzig  1909.  Fr.  Schultze,  Psychologie  der 
Naturvölker,  Leipzig  1900.  Vgl.  ferner  Vierkandt,  Naturvölker  und  Kultur- 
völker, Leipzig  1906.  Ed.  Meyer,  Elemente  der  Anthropologie  (Gesch.  d.  Alter- 
tums, 2.  Aufl.  I  1)  Stuttgart  1907.  H.  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur,  Leipzig 
und  Wien  1900  (bes.  S.  5521).  —  Meine  Auffassung,  daß  sich  die  psychologischen 
Probleme  der  Mythologie  fast  nur  negativ  (durch  das  Fehlen  der  Verstandes- 
kontrolle) charakterisieren  lassen,  habe  ich  näher  begründet  in  einem  (noch  nicht 
erschienenen)  Aufsatz  des  Arch.  f.  Rel.-Wissensch. 


jq  Erstes  Kapitel. 

der  Mensch  der  mythologischen  Perioden  alles  für  lebendig  gehalten  habe. 
Wohin  hätte  er  sich  retten  sollen?  er  hätte  kein  Stück  Holz  anfassen,  sich 
auf  keinen  Stein  retten  dürfen.  Vielmehr  unterscheidet  er  bewußt  zwischen 
lebenden  und  unbelebten  Dingen.  Das  tun  manche  Völker  schon  in  der 
Sprache;  es  ist  das  wohl  auch  von  Anfang  an  die  Meinung  unseres 
Neutrums«  gewesen:  die  Indogermanen  scheiden,  was  lebt,  in  männlich 
und  weiblich;  was  nicht  lebt,  gehört  keinem  von  beiden  Geschlechtern 
an<  _  Nun  kann  man  in  vielen  Fällen  wissen,  ob  es  sich  um  lebendige 
(d.  h.  »wollende«)  Gegenstände  handelt:  Menschen  und  Tiere  zeigen  be- 
stimmte Entschlüsse,  machen  Angriffe,  wehren  sich,  sind  also  lebendig. 
Von  anderen  Dingen  kann  man  es  nicht  wissen:  ob  in  einem  Baum, 
einem  Fluß,  einem  Berg  Willen  steckt  oder  nicht,  das  ist  nur  durch  Erfolg 
auszumachen.  Etwa  wie  die  Gläubigen  »Bilder  ohne  Gnad«  von  solchen 
unterscheiden,  die  der  Heilige  mit  einer  Ausstrahlung  seiner  Wunderkraft 
begnadigt  —  es  gibt  kein  äußeres  Kennzeichen ;  hat  das  Bild  Wunder,  so 
ist  es  eben  ein  Wunderbild  *). 

Wo  nun  aber  einmal  die  Vermenschlichung  durch  Annahme  eines 
Willens  stattgefunden  hat,  da  schreitet  sie  auch  weiter.  Wie  die  Helden- 
sage verschiedene  Abenteuer,  die  eigentlich  mehreren  Helden  gehören,  dem 
Einen  Beowulf  zuschiebt,  oder  auch  wie  unsere  Wissenschaft  verschiedene 
Phänomene  Einer  Ursache  (z.  B.  der  Elektrizität)  zuweist,  so  findet  auch 
hier  eine  Vereinfachung  statt,  indem  die  Beweger  verschiedener  Einzel- 
tatsachen identifiziert  werden.  Es  ist  immer  wieder  derselbe  Dämon,  der 
das  Vieh  verhext,  oder  derselbe  Gott,  der  die  Feinde  schlägt.  So  wird 
aus  der  immer  noch  ziemlich  abstrakten  lebendigen  Ursache  wirklich  ein 
lebendiges  Wesen,  dessen  Zeit  mit  allerlei  (wenn  auch  gleichmäßiger) 
Tätigkeit  ausgefüllt  ist.  Wir  haben  Gelegenheit,  seine  Taten  zu  vergleichen, 
und  haben  Grund  dazu,  denn  es  ist  für  uns  ungemein  wichtig,  zu  wissen, 
wann  er  das  Vieh  verhext,  unter  welchen  Umständen  er  die  Feinde  schlägt. 
So  treibt  schon  der  Urmensch  jene  »Psychologie  de  Dieu«,  die  P.  Bourget 
den  Gelehrten  seines  Romans  »Le  dtsctple«  aufstellen  läßt.  Und  so  ent- 
steht dann  wirklich  aus  Beobachtung  und  Vergleichung  eine  Psychologie 
der  Dämonen :  einer  ist  boshaft,  aber  feig  —  man  muß  ihn  schrecken ;  ein 
anderer  ist  dankbar,  ein  dritter  höchst  anspruchsvoll  und  empfindlich.  So 
schreitet  der  anthropomorphische  Prozeß  weiter;  die  lebhafte  Phantasie 
erschaut  die  Gestalten,  bringt  sie  in  Verbindung,  läßt  sie  menschenähnliche 
Schicksale  erleben  —  kurz,  die  poetische  Anschauung  bildet  jenen  elemen- 
taren Mythus  der  Gott  regnet«  zu  einem  romanhaften  Mythus  von  ge- 
stohlenen Regenkühen,  Kampf  und  Befreiung  aus2). 


')  Mehr  hierüber  s.  unter  >  Animismus«. 

2)  Vgl.  hierzu  §  4  «Formenlehre  der  Mythologie «. 


§  2.    Wesen  und  Begriff  der  Mythologie.  1 1 

Ferner  aber  bildet  sich  aus  jener  Beobachtung  und  Vergleichung 
auch  die  Lehre  vom  Umgang  mit  den  Göttern  heraus:  es  entstehen  die 
Kulte  und  Riten.  Und  es  bilden  sich  aus  jener  Psychologie  der  Dämonen 
gemütliche  Beziehungen  heraus:  Haß,  Furcht,  Dankbarkeit,  Liebe  —  Emp- 
findungen, die  in  ihrer  Anwendung  auf  übersinnliche  Wesen  religiöse 
Gefühle  werden.  Wo  auch  nur  das  erste  stattfindet  (wir  bemerkten  aber, 
daß  es  keineswegs  immer  stattzufinden  braucht),  da  entsteht  Religion1). 

Durch  die  Ausbildung  der  Kulte  wird  nun  aber  etwas  weiteres  ge- 
reizt und  gefördert:  die  qualitative  Vergleichung  der  »Kräfte«. 

Wir  kennen  ja  noch  aus  der  Bibel  von  Moses  und  Pharao  oder  von 
dem  Propheten  Elia  den  Wettkampf  der  Schutzgötter;  wir  wissen,  daß 
König  Chlodwig  seine  Taufe  von  einer  derartigen  »Wette«  abhängen 
ließ.  Solche  Vergleichungen  können  nie  gefehlt  haben.  Wie  die  Diener 
in  »Romeo  und  Julia«  mit  dem  Ansehen  ihrer  Herren,  so  prahlen  die 
Gläubigen  mit  der  Macht  ihrer  Schutzpatrone.  Ferner:  die  Macht  der 
Verehrer  strahlt  auf  die  Verehrten  aus.  Ein  Dämon,  dem  Häuptlinge 
dienen,  wird  ein  Häuptling  unter  den  Dämonen;  solche  Umstände  haben 
noch  in  historischer  Zeit  die  Vorherrschaft  Wodans  gefördert.  Endlich 
wirkt  als  allgemeines  Mittel  zur  Orientierung  auch  hier  die  Analogie 
menschlicher  Verhältnisse  mit.  Auf  Erden  gibt  es  streng  eingehaltene 
Rangverhältnisse,  gibt  es  Freundschaften,  Sippen,  Staaten;  es  wird  unter 
den  übermenschlichen  Wesen  nicht  anders  sein.  So  bilden  sich  Rang- 
stufen heraus,  die  für  die  Weiterentwicklung  der  Mythologie  bedeutungs- 
voll sind;  so  entstehen  Ansätze  zur  Legendenbildung,  indem  Gottheiten 
gruppenweise  (etwa  in  Triaden)  zusammengefaßt  werden.  Doch  greift 
dies  schon  in  den  Inhalt  des  nächsten  Paragraphen  über. 

Dabei  bleibt  aber  immer  die  Erfahrung  der  Hauptfaktor  im  Leben 
der  Mythologie.  Ein  jeder  Kult,  eine  jede  Kulthandlung  ist  ein  Experi- 
ment. Es  gilt  festzustellen,  wie  weit  die  Macht  eines  göttlichen  Wesens 
reicht.  Es  gilt  festzustellen,  welche  Anforderungen  ein  jedes  an  seine 
Diener  stellt.  Daher  wird  es  wichtig,  zu  erkennen,  welcher  Gruppe, 
welcher  Klasse  jeder  Dämon  angehört;  zumal  nachdem  sich  verschiedene 
Stufen  überirdischer  Wesen  ausgebildet  haben.  Es  ist  Sache  des  Anrufenden, 
seinen  Götzen  richtig  zu  behandeln.  Daher  ist  es  wichtig,  seine  Klasse 
festzustellen.  Dem  dienen  die  »mythologischen  Rangzeichen«2). 
Wie  der  Häuptling  an  seinem  Federbusch,  der  Gemeindevorsteher  an 
seinem  Stab ,   so   ist  der  Gott  an  bestimmten  Eigenschaften  zu  erkennen ; 


x)  Anderes  über  Religion  im  Verhältnis  zur  Mythologie  M.  Jastrow,  The 
Study  of  Religion  S.  247,  Schuck,  Studier  i  Nordisk  Litterater-  och  Religions- 
historia,  Stockholm  1904  S.  lf.;  vgl.  Kauffmann,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  113, 

2)  Vgl.  meinen  Aufsatz  Zeitschr.  für  deutsche  Philologie  31,  315,  auch  »Raub 
des  Rangzeichens«  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  10,  88  f. 


12  Erstes  Kapitel. 

gerade  wie  eine  päpstliche  Bulle  bestimmte  Bedingungen  aufstellt,  an  derert 
Erfüllung  ein  Heiliger  zu  erkennen  ist1).  Sind  diese  Eigenschaften  mehr 
abstrakter  Art,  weil  sie  nur  die  Klasse  bezeichnen  —  Fähigkeit  der  Ver- 
wandlung, Unverwundbarkeit,  Allwissenheit  und  andere  experimentell  fest- 
zukeilende Gaben  — ,  so  dienen  der  Erkenntnis  individueller  Gestalten  die 
Attribute,  d.  h.  bestimmte  konkrete  Symbole:  ein  begleitendes  Tier 
(Odins  Raben,  die  Tauben  der  Venus),  ein  tragbarer  Gegenstand  (Apfel, 
Blitz,  Schwert),  eine  körperliche  Eigenheit  (die  Brüste  der  Fruchtbarkeits- 
göttinnen, der  Phallus  der  Fruchtbarkeitsdämonen)  —  genau  wie  solche 
Attribute  auch  zur  Individualisierung  der  Kirchenheiligen  dienen2).  Denn 
zur  Individualisierung  treibt  jener  Prozeß  der  Beobachtung  und  Ver 
gleichung  mit  derselben  Notwendigkeit  wie  das  Bedürfnis  der  An 
schauung,  und  mit  ihr  erreichen  wir  die  letzte  Grenze  der  Mythologie, 
soweit  sie  volkstümlich,  soweit  sie  Lebensäußerung  einer  großen  Kultur- 
gemeinschaft ist. 

Die  Entwicklung   der  Mythologie   besteht   also  in  einem  beständigen 
Zuwachs    von    auf    bestimmte    Voraussetzungen    gebauten    Erfahrungen j 
Daneben    hat  aber  jede  mythische  Gestalt  wie  jede  poetische  ihr  eigenes 
Leben;   praktische  Rücksichten,  z.  B.   das  Interesse  von  Gemeinden   und 
Priesterschaften,   wirken   ein;   fremde  Einflüsse  machen  sich  geltend.     So 
ist  an  eine  logische  Einheitlichkeit,  an  ein  festes  System  nicht  zu  denken- 
Die    Mythologie    ist,    um    einen    Ausdruck    Herders    anzuwenden,    ein 
»System   lebendiger  Kräfte«,   die   denn   auch  gegeneinander  wirken.     Voi 
allem   haben   wir   uns   deshalb   vor   einem   prinzipiellen  Eliminieren   allei 
Widersprüche   zu  hüten.     Sie  sind   leicht   wegzu interpretieren ,   aber  zum! 
Schaden    der  Wahrheit.     Der   Gott   Odin   bringt  sich   selbst  zum   Opfet 
dar;  ein  anderer  Gott  stiftet  die  Klassen  der  »Gesellschaft»,  indem  er  bei| 
ihren    ältesten    Vertretern    einkehrt.      Solche    mythologischen    Paradoxieni 
kann  die  Logik  so  wenig  auflösen  wie  die  Antinomien  neuerer  Religionen 
wir  haben  anzuerkennen,  daß  sie  da  sind.    Ja,  es  gibt  Fälle,  in  denen  die 
alte  Überlieferung  selbst  sich  am  Spiel  mit  solchen  Widersprüchen  geüb 
zu   haben  scheint,   indem  sie  die  Verwundung  des  Unverwundbaren,  der 
Tod  des  Unsterblichen,  den  Wettlauf  der  beiden  schnellsten  Tiere  u.  dgl 
vorführte.     Womit   natürlich    nicht  jedem  unerträglichen  Widerspruch  eir 
Freibrief  ausgestellt  sein  soll. 

§  3.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie. 

Wir  sind  bei  unserer  Auseinandersetzung  über  das  Wesen  der  Mythologie 
schon    wiederholt    in    die    »Entwicklung   der  Mythologie«    übergeglitten 

»)  Besonders  die  Wunderkraft;  vgl.  allgemein  Görres,   Christliche  Mystik 
Regensburg  und  Landshut  1836;  H.  Joly,  Psychologie  des  Saints,  Paris  1902. 
2)  J.  v.  Radowitz,  Ikonographie  der  Heiligen,  in  seinen  Schriften  B  1,  1 


§  3.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie.  13 

beides  läßt  sich  nicht  streng  trennen,  denn  das  Wesen  der  Mythologie 
'st  wie  das  jeder  lebendigen  Macht  Entwicklung.  Ehe  wir  aber  die  Stufen 
betrachten,  in  denen  diese  Entwicklung  sich  vollzieht,  müssen  wir  noch 
auf  die  Ausdrucksformen  der  Mythologie  eingehen  —  ein  Kapitel,  das 
man,  sehr  zum  Schaden  unserer  Erkenntnis,  viel  zu  sehr  vernachlässigt 
hat.  Erst  neuerdings  zeigen  sich  in  Dänemark  Ansätze  zum  Studium  der 
mythologischen  Morphologie;  denn  was  dort  an  typischen  Ausdrucksmittein 
der  »Heldensage«  beobachtet  wird,  gehört  vielfach  ebenso  der  Mythen- 
dichtung an  x). 

Es  ist  daran  festzuhalten,  daß  die  Mythologie,  wie  wir  bereits  be- 
tonten, zwar  ihrem  Ursprung  nach  »Wissenschaft«,  aber  ihrer  Form  nach 
»Dichtung«  ist  —  womit  durchaus  nicht  etwa  metrisch  geregelte  Form 
gemeint  ist;  denn  die  »innere  Form«  der  Poesie  ist  wohl  um  Jahrhunderte 
älter  als  die  äußere.  Die  innere  Form  der  Poesie  aber  wird  dadurch 
bedingt,  daß  die  Dichtung  Ausdruck  gehobener  Stimmung  ist.  Daher  ist 
dem  naiven  Menschen  nichts  weniger  natürlich  als  der  Naturalismus:  die 
Ausbildung  einer  »poetischen  Sprache«  ist  überall  selbstverständlich.  Sie 
gräbt  sich  so  tief  in  das  Bewußtsein  des  Volkes  ein,  daß  man  auf  das 
Gedicht  die  Terminologie  des  ältesten  Kunstgewerbes  anwendet:  ein  Ge- 
dicht schmieden  (ältestes  Kunsthandwerk  der  Männer)  oder  weben  (älteste 
Kunstfertigkeit  der  Frauen).  Auch  für  die  Eigenart  der  poetischen  Sprache 
hat  man  eine  so  starke  Empfindung,  daß  Hellenen  und  Germanen  eine 
»Sprache  der  Götter«,  das  heißt  doch  wohl:  in  der  man  zu  den  Göttern 
spricht,  von  der  Sprache  der  Menschen  unterscheiden. 

Auf  die  Einzelheiten,  die  diese  poetische  Sprache  charakterisieren 
(Bewahrung  veralteter  Formen,  Streben  nach  schmuckvollen  Klangwirkungen, 
Durchführen  symbolischer  Nachbildung  des  Inhalts  durch  den  Ausdruck) 
haben  wir  hier  nicht  einzugehen,  wohl  aber  auf  gewisse  Eigenheiten  ihrer 
Gesamthaltung,  die  für  die  Mythologie  wichtig  sind,  weil  oder  insoweit 
sie  Poesie,  und  zwar  alte,  zum  Teil  primitive  Poesie  sind2). 

Primitive  Poesie  ist  idealistisch,  d.  h.  jeder  Gegenstand,  jede 
Person,    die   sie  schildert,   wird   als  in  ihrer  Art  vollkommen  dargestellt. 


*)  H.  Gunkel,  Genesis  S.  XVII  f.:  Kunstform  der  Sagen  der  Genesis  (wichtig 
und  neu);  Axel  Olrik,  Episke  Love  i  Folkedigtninger  (Epische  Gesetze  in  der 
Volkspoesie)  Danske  Studie  1908  S.  691;  deutsch:  Zeitschr.  f.  d.  Alt.  51,  1  f.  —  Für 
einige  mehr  äußerliche,  aber  doch  nicht  unwichtige  Punkte  R.  Petsch,  Neue 
Beiträge  zur  Kenntnis  des  Volksrätsels,  Berlin  1899;  ders.,  Formelhafte  Schlüsse 
im  Volksmärchen,  Berlin  1900.  Vgl.  auch  Müllenhoffs  Einleitung  zu  seinen 
Sagen,  Märchen  und  Liedern  aus  Schleswig-Holstein  und  Lauenburg,  Kiel  1845. 

2)  Über  den  Charakter  der  altgermanischen  poetischen  Sprache  im  Ver- 
hältnis zu  der  altgermanischen  Sprache  überhaupt  vgl.  meine  Altgermanische 
Poesie,  Berlin  1889. 


14  Erstes  Kapitel. 

Die  Poesie  dieser   Perioden    hat   es   nur   mit   echten    Repräsentanten    des 
Gattungscharakters  zu  tun. 

Also:  der  König  ist  von  unbegrenzter  Macht,  der  Held  von  unver- 
gleichlicher Tapferkeit;  der  Berg  reicht  bis  zu  den  Wolken;  ein  Roß  läuft 
mit  der  Schnelligkeit  eines  Pfeils. 

Hierher  gehört  vieles,  was  man  als  »märchenhaft«  bezeichnet.  Dieser 
Ausdruck  ist  aber  nur  dann  am  Platz,  wenn  aus  der  hyperbolischen 
Aussage  Folgerungen  gezogen  werden,  die  überraschend  wirken  sollen. 
Ob  das  der  Fall  ist,  muß  in  jedem  Einzelfall  geprüft  werden.  Wenn  ein 
als  Mensch  verkleideter  Gott  acht  Tage  unverletzt  zwischen  zwei  Feuern 
sitzt,  so  ist  das  die  einfache  Konsequenz  seiner  göttlichen  Natur;  wenn 
dagegen  ein  Riese  eine  Säule  so  wild  ansieht,  daß  sie  von  seinem  Blick 
zerbirst,  so  ist  das  ein  märchenhafter  Zug,  an  dem  die  ungeheure  Kraft 
des  Riesen  frappant  gezeigt  werden  soll x). 

Es    muß   an    dieser  Stelle    gleich    einiges    über   das   Verhältnis   von 
Mythus  und  Märchen  bemerkt  werden.    Es  ist  in  neuerer  Zeit  (besonders 
von    Wundt    in    seiner    Völkerpsychologie)    behauptet     worden ,     das 
Märchen    sei   als  Gattung  älter  als  der  Mythus,     v.  d.  Leyen  (Sagenbuch) 
setzt   das   als  anerkannten  Gewinn   der  Forschung  voraus.     Daß  einzelne 
Märchen   älter  sind   als  einzelne  Mythen,   braucht  heutzutage  nicht  mehr 
erst  erörtert  zu   werden.     Versteht  man  unter  »Märchen«  jede  Erzählung 
mit  »unglaublichem«  Inhalt,   so   stempelt  man   eben  einfach  den  größten 
Teil  der  Mythen  zu  Märchen;  das  aber  darf  man  nicht,  weil  beide  einen 
völlig  verschiedenen  Stilcharakter  haben.    Versteht  man  aber  (mit  Wundt) 
unter     Märchen«  das,   was   wir  noch  heute  darunter  verstehen:   eine  ab- 
sichtliche Erfindung  unmöglicher  Dinge   oder  Handlungen,   so  halte  ich 
den  Satz  für   durchaus  falsch.     Das  Märchen  als  bewußte  Erfindung  ge- 
hört, wie  ich  glaube,  erst  einer  verhältnismäßig  (verhältnismäßig!)  jungen 
Epoche  an,   als   die  Menschen   aus   dem   träumerischen  Glauben   an    die 
Wirklichkeit  aller  Sinneswahrnehmungen  zur  Kritik  überzugehen  begannen. 
Das  Märchen  setzt  eine  bewußte  Unterscheidung  des   Möglichen  und  des 
Unmöglichen   voraus;   für  den  Primitiven   und   für   den  Mythus   gibt   es 
nichts  Unmögliches.    Das  Märchen,  das  uns  heute  als  Inbegriff  der  Naivität 
erscheint,  ist  vielmehr  die  älteste  nicht  rein  naive  Dichtungsgattung ;  es  ist 
von  Anfang  an,  was  es  bei  unseren  Romantikern  noch  ist:    eine  Übung 
der  Phantasie,  ein  Spiel 2).    Charakteristisch  ist  für  das  Märchen  unter  allen 
Umständen,    daß    aus    einer    spezifischen    Prämisse    eine    überraschende 
Folgerung  gezogen  wird.    Jedes  Märchen  hat  gewissermaßen  seine  eigene 


l)  Vgl.  allgemein  v.  d.  Leyen,  Das  Märchen  in  den  Göttersagen  der  Edda, 
Berlin  1899;  Gerland,  Altgriechische  Märchen  in  den  Odyssee,  Magdeburg  1869. 
-)  Vgl.  meine  Deutsche  Stilistik  §  180. 


§  3.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie.  15 

Mythologie,  seine  spezifischen  Wunderwesen.  Es  gibt  z.  B.  auch  im 
Mythus  Dummheit :  dumme  Riesen  werden  von  dem  schlauen  Loki  betrogen, 
törichte  Weiber  von  anderen  Göttern.  Daß  aber  jemand  so  dumm  ist 
wie  der  Hans  im  Glück  des  Volksmärchens  (denn  für  das  Volk  ist  er 
wirklich  nur  dumm,  wenn  er  unserer  gerührten  Überbildung  auch  als 
der  wahrhaft  Glückliche  und  deshalb  Allergescheiteste  erscheinen  mag!) 
—  das  ist  außermythisch,  das  ist  märchenhaft.  Der  Mythus  will  im- 
ponieren, das  Märchen  will  verblüffen. 

Daher  ihre  Stilverschiedenheit,  die  wir  so  energisch  betonen  müssen, 
weil  wir  sie  späterhin  öfters  vorauszusetzen  haben.  Der  Stil  des  Mythus 
ist  einfach;  er  enthält  die  epische  Verknüpfung  zweier  Momente  (z.  B. 
einer  Not  und  einer  Befreiung,  einer  Werbung  und  ihres  Erfolges)  und 
bezieht  sein  Interesse  aus  der  handelnden  Persönlichkeit.  Der  Stil  des 
Märchens  ist  viel  künstlicher;  er  enthält  die  epigrammatische  Entwicklung- 
eines  Moments  aus  dem  andern  und  bezieht  sein  Interesse  aus  der  über- 
raschenden Konsequenz  seiner  Prämisse.  Der  Mythus  erzählt  von  einer 
Jungfrau,  die  ein  Gott  in  langen  Schlaf  versetzt  hat;  endlich  kommt  der 
befreiende  Held  und  erlöst  sie  vom  Schlummer:  der  Mythus  von  der 
Walküre  Brunhild.  Das  Märchen  führt  zwei  spezifische  Bedingungen  ein  : 
die  Königstochter  soll  sich  an  einer  Spindel  stechen  —  und:  sie  soll 
hundert  Jahre  schlafen.  Nun  muß  also  erstens  in  überraschender  Weise 
die  Königstochter  an  die  Spindel  gebracht  werden  und  zweitens  das  Jahr- 
hundert des  Schlafes  vorgeführt  werden  (durch  die  verwilderte  Hecke)  — 
das  Märchen  von  Dornröschen.  Mythen  sind  nicht  epigrammatisch;  sie 
enthalten  nichts,  was  nicht  (vom  Standpunkt  ihrer  Zeit!)  als  möglich  ge- 
dacht werden  könnte;  ihre  Entwicklung  besteht  in  rein  epischer  Ent- 
faltung, nicht  in  logischer  Auswicklung.  In  all  diesen  Punkten  ist  der 
Stil  des  Mythus  von  dem  des  Märchens  fundamental  verschieden,  was 
natürlich  Berührungen  und  Vermischungen  x)  nicht  ausschließt,  zumal  mit 
dem  Fortschritt  der  Zeit  unaufhörlich  Dinge  »unmöglich«  werden,  die 
früher  noch  als  »möglich«  gedacht  waren,  bis  schließlich  kritischen  Perioden 
die  ganze  Mythologie  »märchenhaft«  scheint2). 

Der  Mythus  also  ist  idealistisch  und  hyperbolisch,  aber  nicht  märchen- 
haft. Jene  Tendenzen  aber  genügen,  um  ihn  oft  zu  Superlativen  gelangen 
zu  lassen,  so  daß  es  gleichzeitig  mehrere  »stärkste«  oder  »weiseste»  Riesen 
geben  kann.  — 

Primitive  Poesie  ist  ferner  anschaulich,  d.  h.  jeder  Gegenstand, 
jede  Person,  die  sie  schildert,  wird  phantasiemäßig  wahrgenommen  und 
für  das  geistige  Auge  wahrnehmbar  hingestellt. 


*)  Wie  in  Wundts  überschätzten  »Mythenmärchen«. 

2)  Unkritisch  in  der  Verarbeitung  guten  Materials   Fr.   Linnig,  Deutsche 
Mythenmärchen,  Paderborn  1889. 


Iß  Erstes  Kapitel. 

Hieraus  vor  allem  ergeben  sich  eine  Reihe  von  Ausdrucksmitteln,  die 
an  den  verschiedenen  Enden  der  Welt  mit  überraschender  Gleichmäßig- 
keit wiederkehren,  weil  sie  eben  im  Charakter  der  Mythologie  als  einer 
primitiven  Poesie  begründet  sind1). 

Ich  führe  nur  einige  dieser  Schemata  an,  die  gerade  auch  für  die 
allgemeine  Mythologie  bedeutungsvoll  sind. 

Für  das  naive  Bedürfnis  nach  Anschauung  genügt  die  Aussage  über 
eine  Eigenschaft  nicht:  man  will  Proben  sehen.  Wie  es  im  modernen 
Roman  nicht  genügt,  wenn  der  Autor  versichert,  sein  Held  sei  ein  geist- 
reicher Mann,  sondern  der  Leser  Beispiele  verlangt,  so  muß  sich  auch 
der  starke  oder  weise  Gott  als  stark  oder  weise  legitimieren,  und  zwar 
natürlich  mit  überzeugenden  Proben.  Derartige  Belege  brauchen  mit  der 
eigentlichen  Handlung  nicht  notwendig  in  Verbindung  zu  stehen.  Die 
Riesenstärke  des  als  Braut  verkleideten  Thor  wird  an  seinem  Riesen- 
appetit illustriert,  wie  das  auch  bei  dem  griechischen  Herakles  oder  dem 
indischen  Pushan  geschieht.  Das  ist  eine  Vorbereitung  auf  seine  letzte 
Kraftleistung,  aber  eben  auch  nur  das,  ohne  selbständige  Bedeutung. 

Gerade  aber  hier  ist  auch  wieder  auf  die  Abgrenzung  gegen  das 
Märchen  hinzuweisen.  Thors  Appetit  ist  schon  mit  novellistischem  Be- 
hagen der  Grenze  genähert;  dies  ist  eben  auch  nur  ein  schmückender) 
Zug.  Wenn  dagegen  ein  bekanntes  Märchen  die  Zartheit  der  Prinzessin 
an  der  unter  soundsoviel  Matrazen  und  Betten  versteckten  Erbse  offenbar 
werden  läßt,  so  ist  das  märchenhafte  Übertreibung;  natürlich  hat  nie 
jemand  das  für  möglich  gehalten.  So  ist  denn  überhaupt  ein  Vergleich 
der  Klugheitsmärchen  mit  den  Weisheitsmythen  lehrreich:  die  märchen- 
hafte Klugheit  der  Weinschnüffler  bei  Cervantes  oder  des  Juden  Abner, 
der  nichts  gesehen  hat,  bei  Hauff  (bez.  bei  Voltaire)  soll  (wir  wieder-', 
holen  unsere  Schlagworte)  verblüffen,  die  Weisheit  Odins,  der  allein  dad 
kranke  Roß  zu  heilen  weiß,  imponieren. 

Wichtiger  noch  als  diese  Proben  einer  Eigenschaft  ist  die  Um- 
setzung einer  Aussage  in  Handlung  dann,  wenn  es  sich  um  bestimmte 
wichtige  Momente  handelt.  Ein  gutes  Beispiel  geben  die  »Vorzeichen  des 
jüngsten  Gerichtes«. 

Viele  Völker  haben  die  Vorstellung,  daß  ein  Tag  kommen  werde,  an 
dem  sich  alles  lockern  werde,  was  jetzt  als  unerschütterlich  gilt;  besonders 
auch  (um  es  modern  auszudrücken)  in  moralischer  Hinsicht  —  eine  Vor- 
stellung, die  als  Konsequenz  der  unaufhörlichen  Klage  der  nie  fehlender 
laudatores  temporis  acti  leicht  zu  begreifen  ist2).    Diese  Vorstellung  wird 

l)  Vgl.  meinen  Aufsatz  »Mythologische  Schemata«,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch 
10,  88.    Legendenschemata:  Saintyves,  Les  dieux  S.  238  f.,  auch  S.  261  f. 

-)  Vgl.  Delbrück,  Die  gute  alte  Zeit,  in  seinen  Erinnerungen,  Reden  und 
Aufsätzen,  Berlin  1902,  S.  179. 


§  3.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie.  17 

nun  aber  nicht  mit  moderner  Abstraktion  ausgedrückt:  »es  lösen  sich  alle 
Bande  frommer  Scheu«,  sondern  konkret  und  anschaulich,  indem  diejenigen 
Dinge  negiert  werden,  deren  Existenz  den  ganzen  moralischen  Bau  der 
Gesellschaft  verbürgt.  Sie  ist  auf  die  Sippe  gegründet;  also  ist  das  der 
natürliche  Ausdruck  jener  Vorstellung,  daß  die  Edda  sagt:  »Es  befehden 
sich  Brüder  und  fällen  einander,  die  Bande  des  Bluts  brechen  Schwester- 
söhne«. Das  braucht  also1)  nicht  aus  Ev.  Marc.  13,  12  zu  stammen2). 
Vielmehr  ist  beidemal  nur  der  gleiche  Gedanke  mit  poetischer  Anschaulich- 
keit ausgedrückt  —  der  gleiche  Gedanke,  den  Shakespeare  im  Lear3) 
dramatisiert.  Und  weil  er  nur  eine  furchtbare  Möglichkeit  als  erfüllt  setzt, 
kann  er  sich  auch  wirklich  realisieren :  der  Papst,  der  Beatrice  Cenci  wegen 
ihres  am  Vater  begangenen  Mordes  begnadigen  wollte,  soll  sie  zum  Tode 
verurteilt  haben,  als  ihm  gleichzeitig  von  einem  Vater  gemeldet  wurde,  der 
sein  Kind  tötete  und  (irre  ich  nicht)  von  einem  dritten  Mord  innerhalb 
der  Sippe.  »Sippe  ist  doch  immer  jedem  das  Liebste!«  ruft  noch  ein  später 
christlicher  altenglischer  Schreiber4). 

Und  hier  wieder  illustrieren  wir  den  Abstand  von  Mythus  und  Märchen. 
Der  Mythus  setzt  Dinge  als  wahr,  die  schwer  glaublich,  aber  möglich  sind. 
Das  Märchen  spielt  mit  erfüllten  Unmöglichkeiten:  der  Wald  von  Birnam 
kommt  auf  Macbeth  zu  und  ein  sterblicher  Mensch,  den  keine  Mutter 
gebar,  tötet  ihn. 

Aus  dem  Bedürfnis  der  Anschaulichkeit  folgt  ferner  die  große  Be- 
deutung, die  die  Attribute  im  Mythus  (und  in  der  Heldensage)  besitzen. 
Zahlreiche  Mythen  beschäftigen  sich  mit  Thors  Hammer  oder  dem  wunder- 
baren Schmuck  einer  Göttin  u.  dgl.  Nur  aber  wieder  nicht  so,  wie  im 
Märchen  (z.  B.  Tischlein  deck  dich),  daß  das  Attribut  sozusagen  Haupt- 
person wird,  sondern  so,  daß  es  immer  Objekt  bleibt. 

Spezieil  für  die  Mythologie  wichtig  ist  eine  bestimmte  Form  der 
Attributmärchen,  die  ich  unter  der  Rubrik  »Raub  des  Rangzeichens«5) 
zusammenfasse.  Die  Stellung  jedes  göttlichen  Wesens  ist  durch  seine  Klasse 
bestimmt;  diese  wird  durch  ein  Rangzeichen  (d.  h.  ein  generelles  Attribut, 
ein  Attribut  nicht  der  göttlichen  Person,  sondern  der  Götterklasse)  be- 
zeichnet. Verliert  der  Dämon  sein  Rangzeichen,  so  verliert  er  seinen  Rang. 
Davon  handeln  zahlreiche  Mythen  aller  Völker:  wie  den  Schwanen  Jungfrauen 


')  Müllenhoff,  Deutsche  Altertumskunde  5,  21. 

2)  Wie  E.  H.  Meyer,  Völuspa,  Berlin  1889,  S.  184,  annimmt:  »Es  wird  aber 
überantworten  ein  Bruder  den  andern  zum  Tode,  und  der  Vater  den  Sohn,  und 
die  Kinder  werden  sich  empören  wider  die  Eltern  und  werden  sie  helfen  töten«. 

3)  Die  Töchter  wider  Lear,  Gloster  wider  seinen  Sohn;  Max  Wolff, 
Shakespeare  2,  190. 

4)  B  ran  dl,  Altengl.  Lit.  S.  1079. 

5)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  10,  88  f. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichle.  2 


jg  Erstes  Kapitel. 

das  sie  charakterisierende  Federhemd  geraubt  wird,  oder  den  Göttern  das 
Mittel  unaufhörlicher  Verjüngung  u.  dgl.  Oder  es  wird  ebenso  das  indi 
viduelle  Attribut  geraubt:  Thor,  dem  der  Hammer  gestohlen  ist,  ist  nicht 
mehr  Thor1). 

Gerade  dies  mythologische  Schema  (wie  auch  das  vorige  und  das 
folgende)  haben  zu  unberechtigter  Identifikation  verschiedener  Mythen  ge 
führt,  die  eben  nur  eine  gemeinsame  Einkleidung  besitzen.  Es  ist  —  ich 
muß  mich  selbst  zitieren  — ,  als  erklärte  man  Johannisberger  und  Burgundej 
für  denselben  Wein,   weil  sie  in  gleichartigen  Flaschen  aufgetragen  werden 

Häufig  ist  auch  ein  viertes  Schema,  bei  dem  wieder  spezifisch 
mythologische  Motive  anschaulich  zu  machen  sind.  —  Eine  große  Zah 
mythischer  Figuren  verdankt  ihre  Eigenheit  nicht  allgemein  ihrem  Wesens 
sondern  spezifisch  einer  einzelnen  Tat,  etwa  ihrem  Anteil  an  der  Welt! 
Schöpfung  oder  ihrer  Tätigkeit  in  einem  entscheidenden  Moment  (Noah) 
Es  entspricht  den  Forderungen  der  primitiv- poetischen  Anschaulichkeit 
daß  die  bedeutsame  Singularität  noch  besonders  hervorgehoben  wircf 
Dies  geschieht  durch  die  Formel:  »Alle  —  außer«.  Eine  christlich 
Legende  erzählt,  daß  die  Espe  zum  ewigen  Zittern  verurteilt  sei,  weil  si 
allein  von  allen  Bäumen  Christi  Tod  nicht  beklagt  habe.  Ebenso  spiel 
in  der  altgermanischen  Balderlegende  der  Umstand  eine  große  Rolle,  dal 
von  allen  Wesen  eines  (der  verkleidete  Loki)  über  den  Tod  des  hellet 
Gottes  zu  klagen  verweigerte. 

Der  Baidermythus  enthält  noch  ein  anderes  Beispiel  dieser  mythische) 
Schablone.  Sie  wird  besonders  häufig  angewandt,  um  jene  mythische: 
Antinomien  aufzulösen,  von  denen  wir  schon  sprachen.  Ein  Held  ist  si 
stark,  daß  ihn  eigentlich  niemand  überwinden  kann  —  außer  einem.  Eii 
Gott  kann  eigentlich  nicht  sterben  —  außer  wenn  ...  So  entstehen  di 
Formeln  der  relativen  Unverwundbarkeit.  Achilleus  wie  Siegfried 
sind  nur  an  Einer  Stelle  verwundbar,  ähnlich  Isfendiar  oder  Frothos  Drache2 
Eine  Tat  kann  nur  mit  Philoktets  Bogen  vollbracht  werden;  Balder  kan 
nur  durch  eine  Waffe,  die  keine  Waffe  ist,  getötet  und  Christus  nach  eine 
spätjüdischen  Sage  nur  an  einem  Baum,  der  kein  Baum  ist,  gekreuzt 
werden  —  alle  außer  diesem  einen  hat  er  »in  Bann  genommen«.  Sigtryg 
kann  nur  mit  Gold  getötet  werden|3). 

Ein  anderes  mythisches  Lieblingsmotiv  ist  das  von  dem  dienende 
Gott,  der  sich  für  seine  Knechtschaft  rächt.  Es  beruht  auf  der  Erfahrung 
daß  einem  mächtigen  Herrn  sein  Lieblingsgott  jahrelang  fast  unbedingt  z 

l)  Speziell  hellenisch  scheint  dagegen  das  Mythenschema  vom  angemaßte 
Rangzeichen,  vgl.  u. 

)  Saxo  S.  38,  Herr  mann  S.  77. 
3)  Saxo  1,  17;  Herrmann  S.  21. 


§  2.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie.  19 

gehorchen  scheint  —  bis  er  ihn  plötzlich  umwirft.  Napoleons  Geschichte 
würde  in  mythischer  Formulierung  lauten:  er  fesselte  den  Kriegsgott  in 
seinen  Dienst,  so  daß  Mars  durch  lange  Jahre  ihm  gehorchen  mußte; 
schließlich  empörte  sich  der  Gott  aber  und  schleuderte  den  Fürsten  auf 
eine  einsame  Insel,  wo  er  zerbrach.  —  Übrigens  kann  auch  dies  mytho- 
logische Schema  bereits  unter  dem  Einfluß  der  Heldensage  stehen,  in  der 
das  Motiv  vom  dienenden  und  sich  empörenden  König  naturgemäß  be- 
liebt ist1). 

Endlich  ist  für  jede  Poesie  unvermeidlich,  daß  sie  eine  Anzahl 
symbolischer  Handlungen  einführt,  die  (anders  als  etwa  jene  Umsetzung 
der  moralischen  Vorzeichen  des  Weltuntergangs  in  Handlung !)  dem  wirk- 
lichen Zeremoniell  annähernd  entsprechen.  Dahin  gehören  gewisse  feier- 
liche Begrüßungen,  Ratsversammlungen  der  Götter  in  entscheidenden 
Momenten,  Verbrüderungen  u.  dgl.  m.  (Gerade  solche  rein  typischen  Hand- 
lungen, wie  z.  B.  die  Handwaschungen,  hat  Jensen  in  den  ungeheuerlichen 
Mythenvergleichungen  seines  Buches  »Gilgamesch  in  der  Weltliteratur« 
wiederholt  zum  Angelpunkt  von  Gleichsetzungen  zweier  Erzählungen 
gemacht!).  Oder  es  werden  sonst  typische  Zustände  durch  symbolische 
Handlungen  (Verhüllen  des  Hauptes,  Pfandsetzen  u.  dgl.)  ausgedrückt.  — 

Poesie,  selbst  primitive  Poesie,  ist  aber  auch  ferner  an  die  Ent- 
wicklung einer  gewissen  Technik  gebunden.  Soweit  die  Mythologie 
Poesie  ist,  unterliegt  sie  mit  zunehmender  Entwicklung  in  zunehmendem 
Grade  den  Gesetzen  einer  sich  bildenden  poetischen  Kunst.  Insbesondere 
kommen  von  früh  ausgebildeten  technischen  Hifsmitteln  in  Betracht: 

1.  die  Erregung  von  Spannung  durch  retardierende  Momente,  indem 
z.  B.  Thor  den  gestohlenen  Hammer  nicht  sofort  wieder  erhält,  nachdem 
der  Räuber  gefunden  ist,  sondern  erst  noch  schwierige  Bedingungen 
erfüllen  muß; 

2.  die  Steigerung  durch  zunehmende  Verstärkung,  z.  B.  die  immer 
schwereren  Proben  des  Herakles.  Die  Steigerung  geschieht  in  der  Regel 
in  drei  Stufen  2).  Jedenfalls  aber  ist  von  mehreren  parallelen  Handlungen 
die  letzte  die  am  stärksten  betonte3); 

3.  die  Zählung  als  Hilfsmittel  wird  gern  auch  da  verwandt,  wo  es 
sich  nicht  um  Stufen  der  Steigerung  handelt,  und  zwar  werden  nur  typische 
Zahlen4)  verwandt. 

Über   den  Ursprung  und   die  Bedeutung   der    »heiligen  Zahlen«    ist 


*)  Saxo  1,  17;  Herrmann  S.  21. 

2)  Müllenhoff,  a.  a.  O.  S.  XIII;  vgl.  auch  Olrik,  a.  a.  O.  S.  81. 

3)  Olrik  S.  83. 

4)  Über  die  typischen  Zahlen  der  altgermanischen   Dichtung  —  besonders 

3  und  7  —  vgl.  meine  Altgermanische  Poesie  S.  74  f.;  allgemein  Wundt  S.  530  f., 

besonders  S.  543. 

2* 


20  Erstes  Kapitel. 

in  anderem  Zusammenhang  zu  handeln;  hier  ist  nur  zu  bemerken,  daß 
alle  primitive  Poesie  (besonders  auch  die  germanische)  gern  Gruppen  von 
drei  Dingen  (»Triaden«),  von  sieben  Helden  u.  dgl.  bietet.  Ungerade 
Zahlen  werden  durchweg  bevorzugt  (neben  den  Triaden  Heptaden,  Enneaden 
mit  7  oder  9,  d.  h.  dreimal  drei  u.  a.). 

Bei  göttlichen  Wesen  ist  die  Zählung  fast  stets  von  allgemeiner 
mythologischer  Bedeutung:  sie  stellt  eine  Etappe  auf  dem  Wege  von  un- 
bestimmter Massen haftigkeit  zu  fest  umschriebener  Individualität  dar.  So 
heben  sich  aus  zahlreichen  Dämonen  Gruppen  wie  die  der  drei  Schick- 
salsschwestern, der  neun  Musen  heraus  (besonders  charakteristisch  die 
7-8—12  Adityas1); 

4.  der  Kontrast  in  der  Zeichnung  zweier  Charaktere2).  — 

Die  Mythologie  ist  aber  nicht  bloß  Dichtung,  sondern  in  gewissem 
Sinne  auch  Wissenschaft.  Einige  Hauptformen  des  Mythus  sind  von  hier 
aus  zu  erklären. 

Im  allgemeinen  führten  wir  den  Ursprung  eines  Mythus  auf  eine 
rätselhafte  Naturerscheinung  (das  Wort  im  weitesten  Sinne  genommen) 
zurück!  Tod,  Krankheit,  Sieg  sollen  erklärt  werden.  Oft  handelt  es  sich 
aber  um  kleinere  Probleme,  Probleme  von  mehr  zufälliger  Art.  Dahin 
gehören  drei  Klassen  von  Mythen :  die  ätiologischen,  ikonischen,  etymolo- 
gischen Mythen. 

1.  »Ätiologisch«,  d.  h.  zur  Begründung  einer  auffallenden  Er 
scheinung  »erfunden«,  sind  eigentlich  alle  Mythen.  Speziell  nennt  man 
aber  so  diejenigen  Mythen,  die  eine  auffallende  nicht  typische  Er- 
scheinung, einen  sonderbaren  Brauch,  kurz,  etwas  Singuläres  erklären.  Sie 
sind  namentlich  bei  den  Kulturvölkern  sehr  beliebt,  z.  B.  um  seltsame 
Eigenheiten  von  Tieren  oder  Pflanzen  zu  erklären,  ebenso  aber  auch, 
in  der  allgemeinen  Mythologie:  warum  der  Lachs  am  Ende  schmal  ist, 
Solche  »naturwissenschaftliche  Sagen«  dauern  in  der  Gegenwart  reich 
lieh  fort3). 

Ebenso  werden  auch  heute  noch  auffallende  Eigenheiten  mythisc 
gedeutet:  mehreren  Prinzen,  die  auffallend  hohe  Halsbinden  trugen,  wurd 
nachgesagt,  daß  sie  eines  Mordes  wegen  einen  eisernen  Ring  um  de 
Hals  tragen  müßten,  den  das  Tuch  verberge  u.  dgl.  m. 

'jMacdonell,  Vedic  Mythology  S.  130. 

-)  Olrik  S.  77.  Für  weitere  Einzelheiten  der  mythologisch-epischen  Form 
gebung  verweise  ich  nochmals  auf  Olriks  ausgezeichnete  Studie. 

)Dähnhardt,  Naturwissenschaft.  Volkssagen,  2.  Aufl.,  Leipzig  1908 
Sohns  Unsere  Pflanzen.  Ihre  Namenserklärung  und  ihre  Stellung  in  der  Mytho 
logie  und  im  Volksaberglauben,  4.  Aufl.,  Leipzig  1907.  v.  d.  Leyen,  Sagen' 
mVu'  «m  l\  ~  At,0,°gische  Legenden:  Saintyves,  Les  dieux,  S.  151.  -  Zu: 
Method.k  Wundt  3,  303,  314,  der  diese  Mythen  »explikativ-biologisch«  nennt. 


§  3.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie.  21 

Eine  besondere,  gerade  im  Norden  reich  entwickelte  Gruppe  der 
ätiologischen  Mythen  bilden  die  besitzerklärenden  Mythen,  die 
angeben,  wie  die  Götter  zu  ihren  Schätzen  gekommen  sind:  Odin  zur 
Runenkraft  und  dem  Dichtermeth,  später  auch  zu  Speer  und  Roß;  Freya 
zu  ihrem  Brustschmuck,  Sif  zu  ihren  goldenen  Haaren.  Nach  der  Methode 
der  Erklärung  können  sie  freilich  auch  (wie  vielleicht  die  beiden  letzten) 
ikonische  Mythen  sein :  das  hängt  davon  ab,  ob  die  Tatsache  des  Besitzes 
oder  seine  bildliche  Darstellung  zur  mythischen  Deutung  gereizt  hat. 

Beliebt  sind  auch  überall  die  Erfüllungsmythen,  die  eine  Be- 
dingung, einen  Wunsch,  eine  Metapher  in  Wirklichkeit  umsetzen1).  Ein 
Vater  spricht  den  Fluch  aus,  der  Sohn  solle  sich  nicht  von  der  Stelle 
rühren  können,  und  er  bleibt  durch  Jahre  an  den  Ort  geheftet2);  man  sagt, 
jemand  sei  so  geizig,  daß  er  keinen  Schuh  verschenken  könne,  ohne  die 
Riemen  herauszuziehen  —  und  das  wird  nun  wirklich  von  einem  König 
erzählt3).     Es  sind  gewissermaßen  umgekehrte  ätiologische  Mythen. 

Die  ätiologischen  Mythen  werden  im  großen  und  ganzen  nicht  den 
ältesten  Perioden  zuzurechnen  sein,  da  sie  schon  ein  eigentliches  Nach- 
denken über  Einzelerscheinungen,  ein  Unterscheiden  von  normalen  und 
auffallenden  Gestaltungen  voraussetzen. 

2.  Das  Gleiche  gilt  von  den  ikonischen  Mythen  schon  deshalb, 
weil  sie  die  Anfänge  einer  bildenden  Kunst  voraussetzen.  Irgendein  auf- 
fallendes Bild  wird  durch  einen  daran  gehefteten  Mythus  erklärt.  Auch 
dies  dauert  bis  in  die  Gegenwart  fort;  Th.  Fontane  erzählt  noch  von 
einer  Vergiftungssage,  die  durch  ein  Gemälde  in  einem  märkischen  Schloß 
entstand  4). 

Es  ist  aber  nicht  unmöglich,  daß  für  die  letzten  Phasen  der  allgemeinen 
Mythologie  (Yggdrasill  ?)  die  phantastische  Ausdeutung  von  Skulpturen 
und  anderen  Bildwerken  bereits  produktiv  wurde. 

3.  Da  in  allen  frühen  Perioden  der  Eigenname  eine  große  Rolle  spielt 
und  Wortspiele  mit  Namen  uralt  sind5),  so  kommen  denn  auch  etymo- 
logische Mythen  vor,  die  zur  Erklärung  auffallender  Namen  ersonnen 
sind.  Sie  sind  im  Alten  Testament  nicht  selten  (vgl.  auch  im  Neuen  Testament 
die  Worte  Christi  an  Petrus,  den  »Felsenmann«),  gehören  aber  doch  erst 


J)  Wundt,   *  Wunschmärchen«  3,  89  f.;  Billiger,  Die  Materialisation  reli- 
giöser Vorstellungen,  Tübingen  1905. 
2)  Deutsche  Sagen  I,  310. 
s)  Saxo:  Hugletus  S.  185;  Herr  mann  S.  248;  vgl.  Eddica  minora  N.  XXIII. 

4)  Vgl.  meinen  Aufsatz  Ikonische  Mythen,  Zeitschr.  f.  deutsche  Philologie 
38,  169 f. ;  Legenden:  Delehaye,  Les  legendes  hagiographiques,  Bruxelles  1905, 
S.  51,  92,  124  u.  ö.;  Saintyves.  Les  dieux,  S.  122f. 

5)  Vgl.  Altgerm.  Poesie  S.  296  f. 


22  Ers  tes  Kapitel. 

einer  fast  »gelehrten«  Epoche  an,  die  freilich  auch  in  altgermanischer  Zeit 
schon  hier  und  dort  erreicht  wurden  x). 

Die  Etymologie  besitzt  übrigens  auch  außerhalb  der  Eigennamen 
mythenbildende  Kraft.  Nicht  selten  geht  die  Mythologie  auf  den  Pfaden 
der  Sprache,  indem  sie  die  wirkliche  oder  vermeintliche  Urbedeutung  eines 
Wortes  als  Schlüssel  für  den  Ursprung  der  Sache  benutzt2).  Was  man 
heutzutage  »Volksetymologie«  nennt:  die  Umbildung  unverständlicher  in 
verständliche  Worte  reicht  ebenfalls  bis  in  die  Urzeit  zurück3)  und  ist  früh 
durch  die  »gelehrte*  Tätigkeit  der  Mythologen  unterstützt  worden.  (Be- 
rühmtes Beispiel  ragnarokkr  »Götterverfinsterung«,  seit  Simrock  Götter- 
dämmerung«, für  ragnarok  »Göttergeschick«  *). 

Diesen  drei  Gruppen  von  Mythen  ist  ein  gewisses  Maß  von  Erfindung  II 
gemein.  Eine  Vermutung  muß  als  solche  zuerst  ausgesprochen  sein ,  ist 
aber  von  späteren  rasch  als  tatsächliche  Begründung  angesehen  worden. 
Ich  hörte  heute  morgen,  wie  ein  etwa  vierzehnjähriger  Junge  seinen  vom 
Lande  kommenden  Eltern  erklärte,  der  Berliner  Tiergarten  habe  seinen 
Namen  von  den  »Tieren«  auf  dem  Floraplatz:  dort  liegen  nämlich  große 
Bronzefiguren  vom  Eber,  Hirsch  usw.  von  Siemering.  Natürlich  hat  der  Tier- 
garten seinen  Namen  von  den  früher  darin  gehegten  Tieren ;  aber  die  neue 
etymologische  Deutung  kann  rasch  zu  einem  geglaubten  Mythus  werden. 
Solche  Mythen  haben  daher  auch  in  der  Form  meist  etwas  kunstmäßig  Zu- 
gespitztes: sie  schließen  fast  stets  mit  einem  Satz  wie:  »und  deshalb  heißt  die 
Stelle  ....  bis  auf  unseren  Tag«,  oder:  »und  deshalb  haben  die  Ameisen 
ein  zerbrochenes  Kreuz,  wie  man  noch  heute  sehen  kann«.  Die  unmittelbare 
Erklärung  eines  Phänomens  wird  noch  als  Hauptsache  empfunden,  wogegen 
bei  den  älteren  Mythen  das  Bedürfnis  nach  Deutung  einer  Erscheinung 
längst  hinter  dem  Interesse  an  der  mythischen  Figur  verschwunden  ist.  — 

Dies  dürften  etwa  die  wichtigsten  Eigenheiten  der  Formgebung  in 
der  Mythologie  sein.  Man  sieht,  daß  vieles  einfach  daraus  zu  erklären 
ist,  daß  der  Mythus  eine  Art  Dichtung,  ein  Stück  primitiver  Wissenschaft  — 
und  eben  ein  Teil  der  Mythologie  ist.  Deshalb  ist  jene  Manier,  die  jede 
Einzelheit  ohne  weiteres  »deutet«  und  aus  jedem  Reflex  der  Kunstform 
sofort  einen  »wichtigen  Zug«  macht,  prinzipiell  als  voreilig  und  un- 
wissenschaftlich zu  verwerfen. 


')  Heiligenlegenden  aus  Lesefehlern:  Saintyves,  Les  dieux,  S.  97 f.;  etymo- 
logische Legenden:  Delehaye  a.  a.  O.  S.  235;  H.Günther,  Legendenstudien, 
Köln  1906  S.  72  (z.  B.  St.  Expeditus!). 

'-')  Vgl.  Zeitschr.  f.  d.  Alt.  37,  4  f. 

3)  »Sündflut«,  Flut  zur  Bestrafung  der  Sünde,  für  Sintflut  »große  Flut«;  vgl. 
allgemein  Andresen,  Deutsche  Volksetymologie,  Heilbronn  1883;  O.  Keller, 
Lateinische  Volksetymologie  1891. 

4)  Vgl.  z.  B.  Mogk  S.  882. 


§  3.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie.  23 

Endlich  ist  noch  das  stilistische  Verhältnis  der  Mythologie  zur  Helden- 
sage zu  skizzieren. 

Wir  verstehen  unter  »Heldensage«  die  Gesamtheit  jener  epischen 
Überlieferungen  von  den  Taten  und  Schicksalen  großer  Vorfahren,  die 
fast  jedes  Volk  in  einem  bestimmten  Moment  seiner  Entwicklung  aus  der 
Masse  anders  gearteter  Traditionen  heraushebt  und  als  dichterische  Kunde 
von  der  vergangenen  Heroenzeit  fortpflanzt1). 

Die  Heldensage  hat  mit  der  Mythologie  dies  gemein,  daß  sie  ihrer 
inneren  Form  nach  (auch  sie  nicht  notwendig  der  äußeren  Form  nach!) 
Poesie  ist  und  daß  sie  sich  dennoch  als  Bericht  über  wirkliche  Ereignisse 
gibt.  Es  ist  ferner,  wie  beim  Märchen,  eine  gewisse  Berührung  und  Ver- 
mischung mit  der  Mythologie  eingetreten:  mythologische  Gestalten  haben 
(seltener  als  man  früher  annahm,  aber  in  manchen  Fällen  zweifellos)  Ein- 
gang in  die  Heldensage  gefunden,  heroische  Schemata  und  Ausdrucks- 
mittel (detaillierte  Kampfschilderungen,  höhnisches  Anreizen  vor  der  Schlacht, 
Festschilderungen  u.  a. ;  besonders  auch  erotische  Momente)  hat  die  Helden- 
sage mythologischen  Dichtungen  geliehen.  Obwohl  als  Ganzes  (wie  das 
Märchen)  jünger  als  die  Mythologie,  ist  die  Heldensage  doch  wahrscheinlich 
früher  als  die  Mythendichtung  zu  fester  Form  (in  Gestalt  epischer  Einzel- 
lieder) gelangt;  sie  hat  daher  auf  die  uns  erhaltene  mythologische  Poesie 
noch  einen  starken  Einfluß  ausüben  können,  der  sich  besonders  in  der 
Betonung  moralischer  Eigenschaften  zeigt:  treu  und  untreu;  freigebig  und 
geizig;  tapfer  und  feige2). 

Trotz  diesen  Berührungen  bleibt  der  Stilcharakter  auch  hier  verschieden. 
Insbesondere  bleibt  die  Nähe  der  Heldensage  zur  Geschichte  wichtig. 
Sie  zeigt  sich  namentlich  in  folgenden  Punkten,  die  sämtlich  für  die 
mythologische  Erzählung  im  negativen  Sinne  charakterisiert  sind: 

1.  die  Heldensage  haftet  durchweg  an  einem  bestimmten  Ort,  einer 
genau  bezeichneten  Örtl  ichkeit  (Troja  und  das  Schiffslager  in  der  Ilias; 
zahlreiche  Örtlichkeiten  in  der  Odyssee;  der  Wasgenstein  in  der  Walthari- 
sage,  die  Halle  Heorot  im  Beowulf  usw.).  Die  mythologische  Erzählung 
ermangelt  zwar  nicht  durchweg  lokaler  Ausgangspunkte,  gibt  sie  aber  bald 
auf  oder  läßt  sie  jedenfalls  ganz  unbetont;  die  ungeheure  Mehrzahl  der 
Mythen    aber    besitzt    überhaupt    keinen    lokalen    irdischen    Bodenpunkt- 


1)  W.  Grimm,  Die  deutsche  Heldensage,  2.  Aufl.,  herausgegeben  von 
K.Müllenhoff,  Berlin  1867.  B.  Symons  Heldensage:  in  Pauls  Grundriß  der 
germ.  Phil.,  2.  Aufl.  III  606 f.  J.  Grimm,  Gedanken  über  Mythus,  Epos  und 
Geschichte,  Kl.  Sehr.  4,  74.  A.  Heusler,  Geschichtliches  und  Mythisches  in  der 
germ.  Heldensage,  Berl.  Sitzungsber.  1909,  XXXVII.  Allgemein  vgl.  W.  Wundt, 
Völkerpsychologie  Bd.  II. 

2)  Einfluß  der  heroischen  Dichtung  auf  die  mythologische  auch  sonst;  vgl. 
2.  B.  Drerup,  Homer,  München  1903,  S.  110. 


24  Erstes  Kapitel. 

Mythische  Erzählungen,  die  an  bestimmte  Örtlichkeiten  anknüpfen  (wie 
z.  B.  die  Bergentrückungssagen  vom  Kyffhäuser  und  dem  Unterberg),  sind 
von  der  Heldensage  beeinflußt.  Die  einzige  generelle  Ausnahme  bilden 
Tempelsagen,  die  an  einen  bestimmten  »Gnadenort«  anknüpfen;  aber  auch 
hier  ist  die  Lokalisierung  oft  erst  nachträglich  eingefügt. 

2.  die  Heldensage  ist  im  gleichen  Sinne  auf  einen  bestimmten  Zeit- 
punkt festgelegt  —  natürlich  den  Zeitpunkt  einer  heroischen  Zeitrechnung. 
Gern  wird  durch  Nennung  von  Namen,  deren  Träger  an  der  Handlung 
selbst  nicht  beteiligt  sind  (wie  Odoaker  im  Hildebrandslied,  Walter  von 
Aquitanien  im  Nibelungenlied)  eine  heroische  Datierung  angedeutet;  oder 
sie  wird  durch  die  Nennung  des  damals  regierenden  Herrschers  gegeben. 
Mindestens  wird  durch  eine  Einführung  wie:  »in  alten  Nachrichten  steht«  — 
»alte  Lieder  erzählen«  —  eine  Zurückschiebung  auf  der  zeitlichen  Bahn 
betont.  Dagegen  spielt  der  Mythus  im  zeitlosen  Raum.  Die  wenigen 
Fälle,  wo  auch  hier  eine  Anknüpfung  an  historische  Daten  vorliegt,  sind 
entweder  durch  Heroisierung  geschichtlicher  Persönlichkeiten  (wie  Hrölfj 
Kraki)  oder  durch  priesterliche  Einfügung  veranlaßt. 

3.  die  Heldensage,  als  die  heroisierte  Erzählung  von  einer  ganzen | 
Geschichtsepoche,  operiert  mit  einer  großen  Zahl  von  Personen 
und  liebt  es,  auch  das  einzelne  »Ereignislied«  mit  Namen  zu  füllen.  Die 
mythologische  Erzählung  hat  es  dagegen  nur  mit  wenigen  Gestalten  zul 
tun.  Ausnahmen  finden  sich  auf  beiden  Seiten,  aber  immer  motiviert: 
eine  »Götterparade«  wie  die  Schilderung  des  letzten  Kampfes  muß  natürlich 
viele  Namen  bringen,  und  wenn  Siegfried  in  der  Einsamkeit  aufwächst, 
kann  er  nicht  von  vielen  Helden  umgeben  sein. 

4.  die   Heldensage  hat   überhaupt  die  Neigung  zu   detaillierter 
Schilderung,  insbesondere  zur  Beschreibung  von  Waffen  und  Kleidungen,  j 
Festen  und  Unterredungen.     Wohl  ist  von  dem  knappen  Stil  der  ältesten! 
Einzellieder    noch   weit   bis   zu    der  epischen    »Breite«    der   Volksepen1), 
aber    eine    gewisse    Neigung    zum    historischen   Detail    ist    doch    schon 
den  frühesten  Urkunden  eigen.    In  dem  kurzen  Hildebrandslied  steht  mehr 
über   die  Ausrüstung   der  Helden   als   in   der  ganzen  Edda  über  die  der 
Götter;  wie  Thors  Hammer  aussieht,  erfahren  wir  nie,  oft,  wie  ein  Schwert! 
geschmückt  ist     Es  ist  kein  Zufall,   daß  fast  überall  heroische  Epen  ent-1 
standen  sind  (Ilias  und  Odyssee;  das  persische  Schahnahme;  Mahabhärata; 
bei  uns  Beowulf,   Nibelungenlied,  Kudrun),   aber  nur  einmal  unter  ganz] 
besonderen    Umständen    ein   mythisches  Epos:    Kalewala   bei   den  Finnen] 
durch  die  Redaktionstätigkeit  des  gelehrten  Lönnrot. 

5.  die  Heldensage  legt  auf  die  gemütlichen  Beziehungen  der 

l)  Vgl.  Ker,  Epic  and  romance,  London  1897;   Heus ler,  Lied  und  Epos. 
Dortmund  1907;  john  Meier,  Wesen  und  Werden  des  Volksepos,  Halle  1909. 


§  3.    Zur  Formenlehre  der  Mythologie.  25 

Menschen  viel  mehr  Wert  als  der  Mythus:  Freundschaft,  Haß,  vor  allem 
aber  Liebe  sind  in  der  Mythologie  wohl  überhaupt  erst  unter  ihrem  Ein- 
fluß (wie  schon  bemerkt)  zu  einiger  Entfaltung  gekommen.  Eigentliche 
mythische  Liebesgeschichten  (Ares  und  Aphrodite  in  der  Odyssee;  Odins 
Liebesabenteuer  in  den  Hävamäl)  stehen  allemal  unter  dem  Verdacht 
später  Entstehung  oder  sind  (wie  das  nordische  Gedicht  Skirnisför)  völlig 
im  heroischen  Ton  gehalten  *). 

Die  Annäherung  an  den  heroischen  Stil  würde  in  höherem  Maße, 
als  es  bisher  geschehen,  zur  Deutung  mythologischer  Dichtungen  benutzt 
werden  können  —  wenn  wir  nur  über  deren  Entstehungszeit  besser  unter- 
richtet wären! 

Einige  Momente,  die  auch  für  die  Formengebung  der  Mythologie 
nicht  ohne  Bedeutung  sind,  werden  im  nächsten  Paragraphen  noch  zur 
Sprache  kommen.  Jedenfalls  aber  genügt  wohl  schon,  was  wir  anzuführen 
hatten,  um  die  methodische  Wichtigkeit  zu  erweisen,  die  die  viel  zu  wenig 
gewürdigte  Formensprache  der  Mythologie  besitzt.  Statt  gleich 
an  die  gefährliche  »Deutung  der  Mythen«  zu  gehen,  sollte  man  immer 
erst  ihre  wissenschaftliche  Interpretation  versuchen.  Was  bedeutet  es,  wenn 
eine  bestimmte  typische  Handlung  vorgenommen  wird?  was  bedeutet 
eine  bestimmte  Zahl  bei  Götternamen  für  deren  Stellung  in  der  Religions- 
geschichte? sind  bestimmte  äußere  Ursachen  der  Mythenbildung  wahr- 
scheinlich? Derartige  Fragen,  im  Einzelfall  natürlich  häufig  gestellt  und 
oft  glücklich  beantwortet,  müssen  generell  gestellt  und  beantwortet  werden^ 
wenn  wir  zu  einer  wirklichen  »Grammatik  der  Mythologie«,  zu  einer 
wissenschaftlich  strengen  Deutung  der  Mythen  und  Riten  gelangen  wollen, 
wie  vor  allem  Usener  sie  anstrebte. 

Von  größter  Wichtigkeit  ist  dabei  auch  hier  die  Interpretation  der 
Texte  —  nicht  bloß  die  sprachliche,  sondern,  wie  gerade  auch  wieder 
Usener  betont ,  die  psychologische.  Moltke  Moe  hat  vor  kurzem 2) 
einen  Aufsatz  über  die  »mythische  Denkweise«  veröffentlicht;  in  diese  Art 
des  Denkens  und  mehr  noch  des  Anschauens  muß  der  Mythologe  sich 
eingewöhnen.  Mehr  noch!  es  genügt  nicht,  daß  er  »mythisch  denken« 
lernt  —  er  muß  sich  auch  die  spezifische  Anschauungsweise  jeder  einzelnen 
mythologischen  Periode  anzueignen  suchen,  der  fetischistischen  wie  der 
animistischen  oder  götterverehrenden.  Und  endlich:  er  muß  auch  deren 
Mischungen  verstehen;  denn  kaum  ein  Mythus  ist  uns  ja  in  »reiner«  Form 
erhalten  —  ganz  »primitive  Mythen«  haben  sich  so  wenig  auf  unsere  Tage 


x)  Den  Versuch,  alle  Heldensagen  auf  Mythologie  zurückzuspitzen,  machte 
W.  Müller,  Mythologie  der  deutschen  Heldensage,  Heilbronn  1886.  Mytho- 
logisches im  Epos  vgl.  z.  B.  W.  Schwartz,  Nachklänge  prähistorischen  Volks- 
glaubens im  Homer,  Berlin;  und  besonders  bei  Rohde,  Psyche. 

2)  In  der  Zeitschrift  Maal  og  Minne,  Kristiania  1909,  S.  1  f. 


25  Erstes  Kapitel. 

hin  gerettet  wie  >  jungfräuliche  Urwälder«.    Oft  enthält  ein  Mythus  in  sich 
bereits  die  Deutung,   die  eine  spätere  Epoche  ihm  gab:    das  animistische 
Moment  wird  im  Sinne  der  götterverehrenden  Zeit  umgedeutet  und  um- 
gebogen,  so   daß   wir   es   vergewaltigen,   wenn   wir  diesen  inneren  Ent- [I 
Wicklungen  nicht  nachgehen. 

Hierin  liegt  eine  böse  Klippe  für  die  Mythendeutung.  Zunächst 
verlangen  viele  Mythen  überhaupt  keine  »Deutung«:  sie  sind  ganz  reine 
Produkte  der  epischen  Gestaltungslust,  die  mit  gegebenen  Personen  und 
Motiven  erfinderisch  schaltet.  Soweit  sie  aber  wirklich  Deutung  ver- 
langen —  und  das  bleibt  wohl  immerhin  der  häufigere  Fall  — ,  ist  eben 
die  ursprüngliche  Meinung  nur  zu  oft  von  der  jüngeren  zu  scheiden. 
Auch  im  Altertum  waren  die  Naturmythen  einmal  »Mode«  und  zwangen 
manches  in  ihre  Analogie,  was  von  vornherein  mit  Sonne,  Mond  und 
allen  Sternen  nichts  zu  tun  hatte. 

Edward  Schröder  hat  seine  epochemachenden  Namenforschungen  vor 
allem  auf  den  Grundsatz  gebaut,  daß  wir  zunächst  die  Eigennamen  nicht 
»erklären«,  sondern  ihre  Gesetze  ergründen  sollten.  Ähnliches  gilt  von  der 
Mythendeutung.  Hauptgedanke  muß  deshalb  bleiben,  nichts  zu  isolieren, 
aus  dem  Zusammenhang  gerissen,  verliert  alles  seine  klare  Erscheinung 
und  organische  Struktur,  und  dann  erhalten  war  die  Mythenpräparate  der 
Stucken  und  Jensen  statt  lebendiger  Mythen.  Dies  Verankern  in  Ort  und 
Zeit  schützt  auch  vor  dem  allzu  raschen  Gebrauch  der  mythologischen 
und  folkloristischen  Parallelen,  durch  den  etwa  Schwally  seine  »Semitischen 
Kriegsaltertümer«  sichtlich  geschädigt  hat1).  Es  gilt  auch  hier  mit  Ent- 
sagung die  ars  nesciendi  zu  üben  und  die  Dilettanten,  die  in  der  »rest- 
losen Erklärung«  eines  alten  Denkmals  einen  Triumph  ihrer  Methode  sehen, 
möge  etwa  H.  Stuhls  lustige  »urdeutsche«  Erklärung  des  altrömischen 
Arvalliedes2)  darüber  belehren,  daß  eine  lückenlose  Deutung  fast  stets  ein 
Kriterium  gegen  die  Richtigkeit  der  angewandten  Methode  ist! 

§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie. 

Über  einen  der  wichtigsten  Punkte  in  der  Entwicklung  der  Mythologie 
mußten  wir  schon  sprechen:  wir  sahen,  wie  fortwährend  neue  Mythen 
entstehen  und  wie  die  Mythologie  aus  ihrem  Vorrat  beständig  an  die 
Religion  abgibt.  Jede  mythische  Gestalt,  die  einen  Kult  erhält,  jeder 
Mythus,  der  zu  einem  Kult  in  feste  Beziehung  gebracht  ist,  ist  von  da 
an  bis  auf  weiteres  gefestigt,  der  inneren  Evolution  anderer  mythologischer 
Gebilde  entzogen.  Freilich  ist  auch  diese  Festigkeit  nur  relativ;  aber  der 
kultisch  gesicherte  Mythus  hat  doch  dem  »freien«  Mythus  gegenüber  etwa 

1)  Vgl.  auch  Dibelius,  Die  Lade  Jahwes,  Göttingen  1903,  S.  6. 

2)  Stuhl,  Ein  3000  Jahre  altes  deutsches  Sprachdenkmal,  Würzburg  1909. 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  27 

so  viel  mehr  Bürgschaft  der  Erhaltung  und  etwa  so  viel  mehr  Schutz  vor 
Umformung  wie  das  gedruckte  Lied  gegenüber  dem  nur  mündlich  über- 
lieferten. 

In  diesem  Sinne  also  gibt  es  unzweifelhaft  eine  typische  Entwicklung 
der  Mythologie.  Ist  sie  aber  auch  sonst,  innerhalb  der  » eigentlichen« 
Mythologie,  vorhanden  ? 

Diese  Frage  ist  ein  Einzelfall  des  allgemeinen  Problems,  ob  die  Ent- 
wicklung innerhalb  der  Menschheit  im  wesentlichen  parallele  Wege  ver- 
folgt oder  nicht.  Sie  wird  (von  vermittelnden  Richtungen  abgesehen)  in 
zwei  entgegengesetzten  Meinungen  beantwortet.  Die  psychologische 
Richtung  glaubt,  daß  aus  der  wesentlichen  Gleichheit  der  Anlage  und  der 
wesentlichen  Gleichheit  der  umgestaltenden  Faktoren  sich  für  die  nationale 
Entwicklung  im  wesentlichen  gleichartige  Wege  ergeben.  (Die  Wieder- 
holung des  Wortes  »wesentlich«  soll  die  Relativität  dieser  Gleichheit  und 
Gleichartigkeit  unterstreichen.)  Ihre  Hauptvertreter  innerhalb  der  Mythologie 
sind  jetzt  die  sog.  Folkloristen  (Man  n  hardt,  Tyl  or,  Lang,  Frazer  u.  a.). 
—  Die  geographische  Richtung  glaubt,  daß  jede  eigentümliche  Bildung 
das  Produkt  ganz  spezifischer  Bedingungen  sei,  die  sich  nur  einmal  und 
an  einem  Punkte  finden,  und  daß  von  hier  dann  durch  Wanderung  die 
betreffende  Bildung  zu  anderen  Punkten  gelangt  sein  müsse.  Sie  wurde 
durch  den  berühmten  Geographen  Ratzel  zu  großem  Ansehen  gebracht, 
ist  jedoch  in  dieser  Ausprägung  innerhalb  der  mythologischen  Forschung 
nur  schwach  vertreten  *).  In  naiver  empirischer  Weise  aber  wird  die  An- 
sicht von  der  Ausstrahlung  aller  Religionen  von  einem  Zentrum  vielfach 
vertreten,  wie  früher  durch  die  romantischen  Religionsvergleicher  (Creuzer, 
Kanne);  so  neuerdings  besonders  durch  den  »Panbabylonismus«  der 
Assyriologen  (Hugo  Win  ekler2). 

Zwischen  beiden  Ansichten  steht  die  verhältnismäßig  selten  vertretene 
Meinung,  daß  zwischen  den  Religionen  der  verschiedenen  Völker  über- 
haupt keinerlei  Beziehungen  existieren,  sondern  jede  an  ihrem  Ort  boden- 
ständig und  selbständig  erwachsen  sei 3).    Dieser  Theorie,  so  geistreich  sie 

*)  Am  scharfsinnigsten  durch  O.  Gruppe,  Die  griechischen  Kulte  und  Mythen 
in  ihren  Beziehungen  zu  den  orientalischen  Religionen,  Bd.  I,  Leipzig  1887. 

2)  Vgl.  allgemein  Wund t,  Völkerpsychologie;  Edv.  Lehmann,  Die  Anfänge 
der  Religion  und  die  Religion  der  primitiven  Völker  in  der  Kultur  der  Gegen- 
wart«, Berlin  u.  Leipzig  1906,  Teil  I,  Abteilung  III  1,  S.  1  f . ;  Breysig,  Die  Ent- 
stehung des  Gottesgedankens  und  der  Heilbringer,  Berlin  1905;  dazu  P.  Ehren- 
reich, Götter  und  Heilbringer,  Berlin  1906.  —  Für  die  methodischen  Hilfsmittel 
zur  Beurteilung  der  Streitfrage  meine  Kriterien  der  Aneignung,  Leipzig  1906; 
Wundt  3,  508 f. 

8)  Vodskov,  Rig.-Veda  og  Edda,  Kopenhagen  1890;  vgl.  die  analoge  Ab- 
lehnung einer  Vergleichung  der  verschiedenen  Volksepen  durch  Nöldeke,  Das 
iranische  Nationalepos,  Straßburg  1896. 


J 


i 


23  Erstes  Kapitel. 

verfochten  worden  ist,  widersprechen  zu  laut  die  Tatsachen  genauer  Über  a 
einstimmungen  zwischen  national  getrennten  Gemeinschaften,  als  daß  will 
auf  sie  einzugehen  brauchten. 

Die  geographische  Erklärung  ist  in  sehr  vielen  Einzelfällen  unzweifel 
haft  allein  berechtigt.  Wanderungen  von  Kulten  sind  uns  direkt  bezeugt 
wie  aus  dem  römischen  so  aus  dem  germanischen  Altertum.  Eine  jed< 
Weltreligion  ist  durch  Verbreitung  von  einem  Zentrum  entstanden,  unc 
gewiß  hätten  die  Germanen  so  wenig  das  Christentum  hervorgebracht  wi< . 
die  Chinesen  den  Buddhismus,  zu  dem  sie  sich  jetzt  bekennen.  Aber  ej 
ist  doch  auch  bei  Stämmen,  die  sich  nie  berührt  haben,  eine  solche  Über 
einstimmung  in  gleichen  Glaubensformen  bei  gleicher  Kulturstufe  be 
obachtet  worden,  daß  man  mit  der  geographischen  Methode  allein  nich 
auskommt.  Ferner  hat  man,  was  vor  allem  wichtig  ist,  eine  überwiegende 
Analogie  in  der  Entwicklung  auf  den  verschiedensten  Gebieten  nicht  nui 
behauptet,  sondern  auch  erwiesen  x). 

Diese  Analogien  der  Glaubensformen  im  Einzelnen  sowie  ihrer  Ent 
wicklung  auf  weitere  Strecken  sind  für  Mythologie  und  Religion  durch 
die  Folkloristen«  zur  Evidenz  gebracht  worden,  die  in  den  volkstümlicher] 
Überlieferungen  der  ganzen  Erde  wesentlich  die  gleichen  Elemente  unc 
wesentlich  die  gleichen  Tendenzen  nachgewiesen  haben2). 

Es  ist  so  eine  »vergleichende  Mythologie«  neuen  Stils  entstanden,  die 
sich  zu  der  früher  so  benannten  verhält  wie  die  Sprachvergleichung  seit 
J.  Grimm  und  Bopp  zu  der  vor  diesen  Meistern  betriebenen:  sie  ver- 
gleicht nicht  mehr  die  fertigen  Mythen,  sondern  deren  Elemente  und  Ent 
Wicklungstendenzen,  wie  jene  nicht  mehr  die  Worte,  sondern  die  Wurzeln 
und  die  flexivischen  und  syntaktischen  Regeln.  —  Freilich  fehlt  noch  viel, 
daß   die   methodische  Sicherheit   der  Linguistik  erreicht  wäre;   Atavismen 

1)  Vgl.  für  frühe  Stufen  E.  Grosse,  Die  Formen  der  Familie  und  der  Wirt- 
schaft, Leipzig  1895;  Breysig,  Der  Stufenbau  der  Weltgeschichte,  Berlin  1905; 
für  die  Durchführung  bis  zur  Gegenwart  Lamprecht,  Deutsche  Geschichte, 
Berlin  1891  f.;  Breysig,  Kulturgeschichte,  Berlin  1900  f.;  allgemein  auch 
H.  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur,  Leipzig  1900. 

2)  Wichtig  besonders  W.  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte,  Leipzig  1875; 
E.  B.  Tylor,  Anfänge  der  Kultur,  Leipzig  1873;  J.  G.  Frazer,  The  golden 
Bough,  2.  Ausg.,  London  1900,  3.  Ausg.  im  Erscheinen;  Andrew  Lang,  Custom 
and  myth,  2  Ausg.  1885;  R.  Andree,  Ethnographische  Parallelen,  Braunschweig 
1878  u.  1889;  die  Flutsage  ebd.  1891;  Oobiet  d'Alviella,  La  migration  des 
symboles,  Paris  1891  (dem  geographischen  Standpunkt  nahe).  Für  einzelne  Er- 
scheinungen z.  B.  Lukas,  Die  Grundbegriffe  der  Kosmogonien  aller  Völker, 
Leipzig  1893;  P.  Saintyves,  Les  dieux  successeurs  des  Dieux;  Paris  1906;  Les 
Vierges  meres,  Paris  1908;  A.  van  Gennep:  Les  rites  du  passages,  Paris  1907. 

Analyse  der  Grundelemente  des  religiösen  Empfindens:  W.  James,  The 
vanet.es  of  rehgious  experience,  London  1902,  deutsch  von  Wobbermin,  Die 
religiöse  Erfahrung,  Leipzig  1907. 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  29 

dscher  Vergleiche  sind  noch  gar  nicht  ganz  zu  vermeiden,  was  auch  für 
ie  oben  genannten  Schriften  gilt *). 

Wir  stellen  uns  also  auf  den  Boden  dieser  vergleichenden  Mytho- 
Dgie.  Sie  setzt  im  allgemeinen,  wie  schon  betont,  die  überwiegende 
jleichartigkeit  sowohl  der  Völker  als  der  Entwicklungsfaktoren  voraus; 
m  einzelnen  ist  natürlich  jedesmal  zu  prüfen,  ob  diese  vorausgesetzte 
Übereinstimmung  nicht  durch  Störungen  irgendwelcher  Art  (besonders 
lurch  Entlehnungen)  getrübt  ist.  —  Als  besonderer  Triumph  der  Methode 
st  es  zu  bezeichnen,  daß  schon  wiederholt  dunkle  Punkte  nationaler 
Mythologien  durch  Vergleichung  mit  stammfremden  Mythologien  auf- 
geklärt werden  konnten 2). 

Von  den  neueren  Darstellungen  der  germanischen  Mythologie  ist  die 
roxi  E.  H.  Meyer  großenteils,  die  von  Mogk  durchweg  im  Sinne  dieser 
Anschauungen  gehalten. 

Was  läßt  sich  nun  ungefähr  über  diese  typische  Entwicklung 
jer  Mythologie  aussagen  3)  ? 

Die  folgende  Entwicklung  deckt  sich  mit  keiner  der  von  Wundt, 
Edv.  Lehmann  oder  anderen  gegebenen  Darstellungen,  stimmt  aber  in  den 
Hauptpunkten  mit  diesen  und  der  jetzt  herrschenden  Anschauung  überein. 
Es  lassen  sich  etwa  folgende  Stufen  der  religiös-mythologischen  Vor- 
stellungen unterscheiden,  deren  Reihenfolge  im  ganzen  eine  Entwicklung 
von  Dunkelheit  zu  Klarheit  und  von  völlig  isolierten,  weil  individuellen 
Konzeptionen  zu  zusammenhängenden  Kollektivanschauungen  darstellt: 


1)  Für  die  kritische  Bearbeitung  einzelner  Mythen  hat  die  klassische  Philologie 
bedeutendes  geleistet;  von  hier  gehen  die  wichtigen  Schriften  H.  Useners  zur 
Mythenvergleichung  und  Religionsgeschichte  aus.  Für  die  altgermanische  Philologie 
ist  die  Bahn,  trotz  mancher  bedeutender  Vorläufer  (Müllen hoff),  eigentlich  erst 
durch  Axel  Olrik  eröffnet. 

2)  Natürlich  nicht  immer  durch  Studien  zur  vergleichenden  Mythologie, 
sondern  auch  durch  Werke  nationaler  Mythenforschung.  Wichtig  besonders 
Robertson  Smith,  Religion  der  Semiten,  übs.  von  Stube,  Freiberg  1899; 
Wellhausen,  Prolegomena  zur  hebr.  Religionsgeschichte,  Göttingen  1878,  1895; 
H.  Gunkel,  Die  Genesis.  2.  Aufl.,  1902;  Oldenberg,  Die  Religion  des  Veda, 
Bd.  94;  W.  Röscher  (u.  A.),  Ausführliches  Lexikon  der  griechischen  und  römischen 
Mythologie,  Leipzig  1884 f.;  Rohde,  Psyche  (zur  griechischen  Religionsgeschichte), 
2.  Aufl.,  Leipzig  1897;  Usener,  Götternamen,  Bonn  1896,  Die  Sintflutsagen  1899, 
Dreiheil  1903;  Di  eis,  Sibyllinische  Blätter,  Berlin  1890;  ferner  die  Schriften  über 
antik-christliche  Religionsmischungen  von  Usener,  Dieterich,  Reitzen stein, 
Wendland,  Deismann  u.  a.  Vgl.  allgemein  »Kultur  der  Gegenwart«,  Teil  I, 
Abteilung  III,  1:   »Die  orientalischen  Religionen«. 

Für  die  allgemeine  Geschichte  der  Religionen:  C.  P.  Tiele,  Geschichte 
der  Religion  im  Altertum  übs.  von  G,  Gehrich,  Gotha  1896;  ders. ,  Kom- 
pendium der  Religionsgeschichte,  3.  Aufl.,  bearbeitet  von  N.  Süderblom, 
Breslau  1903. 

s)  Vgl.  Schrader,  Sprachvergleichung  unz  Urgeschichte,  S.  420 f. 


«q  Erstes  Kapitel. 

1.  die  ursprünglichste  Gestaltung   des  religiösen  Empfindens  schein 
zu   sein,   was   Usener   (»Götternamen«)   entdeckt  und    »Augenblicks- 
götter '    benannt   hat.     Irgendein   beliebiger   konkreter  Gegenstand  wird 
unter  dem  Druck  einer  momentanen  Erregung  als   »göttlich«  angeschaut: 
»in    voller   Unmittelbarkeit    wird    die   einzelne    Erscheinung    vergöttlicht, 
ohne  daß  ein  auch  noch  so  begrenzter  Gattungsbegriff  irgendwie  hinein 
spielte:  das  eine  Ding,  das  du  vor  dir  siehst,  das  selbst  und  nichts  weiter 
ist  der  Gott« 2).    So  eine  Lanze,  die  den  Feind  getroffen  hat;  der  Donner- 
keil u.  a. 3).     Diese   höchst  primitive  Form  resp.  Verehrung  darf  mit  dem 
äußerlich  sehr  ähnlichen  Fetischismus  nicht  (wie  es  auch  Usener  tut)  ver 
wechselt  werden :  der  Fetisch  ist  nur  ein  Sinnbild  des  Gottes,  der  als  Augen 
blicksgott  verehrte  Gegenstand  der  Gott  selbst. 

2.  Wird  nämlich  diese  mythologische  Auffassung  eines  konkreten 
Gegenstandes,  mit  der  unmittelbar  auch  ein  Kult  verbunden  ist,  dauernd 
festgehalten,  über  den  erregten  Moment  hinaus  gewahrt,  so  muß  die  un- 
mittelbare »Anschauung  des  Gottes  verloren  gehen,  und  der  Gegenstand 
wird  nur  noch  als  Träger  einer  allverbreiteten  geheimnisvollen  göttlichen 
Kraft  angesehen.  In  gleicher  Weise  entsteht  aber  auch  sonst  unmittelbar 
der  Fetisch4).  Als  charakteristisch  für  den  Fetisch  erscheint  mir5),  daß 
er  mit  bewußtem  Willen  eingesetzt  ist:  ein  konkreter  Gegenstand  wird 
zum  Inhaber  der  göttlichen  Kraft  »gesalbt« 6).  Der  Fetisch  kann  daher' 
auch,  was  sehr  wichtig  ist,  abgesetzt  werden:  tut  er  seine  Schuldigkeit 
nicht,  so  wird  er  von  dem  Neger  geprügelt  und  zerschlagen.  —  Allerdings 
wird  man  aber  annehmen  müssen,  daß  zu  der  »Fetischisation«  immer  ein 
besonderer  Anlaß,  eine  Aufforderung  vorlag :  die  merkwürdige  Gestalt  eines 
Baumstumpfes  oder  Steins,  seine  wunderbare  Herkunft7),  sein  Alter  (er- 
erbte Werkzeuge). 

Der  Fetischdienst  ist  über  die  ganze  Welt  verbreitet;  der  Speer  des  Mars 
in  Rom   gehört  hierher  und  wahrscheinlich  auch  der  Hammer  des  Thor. 


*)  »Sondergötter«  bei  O.  Schrader,  Sprachvergleichung  und  Urgeschichte, 
S.  435.  Den  Ausdruck  hat  auf  Useners  Veranlassung  Edv.  Lehmann  zur 
Wiedergabe  des  lat.  dei  certi  geprägt. 

2)  Usener,  S.  280. 

3)  S.  285  f. 

4)  Portugies.  feitifao,  Götze  =  facticium;  vgl.  Schrader,  Reallexikon  der 
indogermanischen  Altertumskunde  I,  303;  ders.,  Sprachvergleichung  und  Ur- 
geschichte, S.  451;  der  Terminus  wurde  von  dem  geistreichen  Franzosen  de 
Brosses  in  der  Aufklärungsepoche  eingeführt. 

B)  Vgl.  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  320. 

6)  Das  Salben  der  Könige  stammt  vielleicht  von  dem  ursprünglichen  Putzen 
des  Fetisch;  vgl.  a.  a.  O. 

7)  Der  schwarze  Stein  in  der  Kaaba  zu  Mekka  wahrscheinlich  ein  Meteorstein; 
Steinkultus  auch  bei  Griechen,  Germanen,  Hunnen,  Schrader,  a.  a.  O.  2,  862. 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  31 

Mit  gereinigteren  Empfindungen  haben  wir  ähnlichen  Kultus  noch  heute: 
Fahnen,  Reichsinsignien  u.  dgl.  m.  scheinen  etwas  von  ihrer  symbolischen 
Bedeutung  unmittelbar  in  ihren  materiellen  Bestandteilen  zu  bergen. 

Der  Augenblicksgott  war  individuell,  der  Fetisch  ist  zu  allgemeinerem 
Kult  geeignet.  Ein  historisches  Beispiel  der  Einsetzung  eines  Fetischs  ist 
uns  vielleicht x)  in  der  altnordischen  Geschichte  vom  Völsi 2)  erhalten. 

Die  große  Ursprünglichkeit  des  Fetischdienstes  wird  durch  die  niedrige 
Kulturstufe  derjenigen  Völker  verbürgt,  bei  denen  er  (fast?)  die  einzige 
Form  der  Religion  ist.  Daneben  erhält  er  in  der  gleichsam  symbolischen 
Auffassung  ein  Element,  das  seine  Fortdauer  bis  in  die  kultiviertesten 
Zeiten  ermöglichte.  Man  darf  aber  natürlich  nicht  an  unseren  Symbol- 
begriff (die  Ersetzung  abstrakter  oder  doch  nicht  völlig  realisierbarer  Dinge 
durch  konkrete)  denken.  Allerdings  ist  der  angebetete  Stein  für  den  Neger 
nicht  ein  Gott,  sondern  ein  Inhaber  göttlicher  Kraft,  und  diese  wird  an- 
gebetet ;  aber  diese  wird  als  ganz  materiell  in  ihm  anwesend  gedacht.  So 
kommt  auch  in  psychologischer  Hinsicht  das  Primitive  des  Fetischismus 
zum  Ausdruck:  eine  gewisse  Hilflosigkeit  gegenüber  den  »Kräften«.  Die 
zugrunde  liegende  mythologische  Anschauung  ist  einfach  die,  daß  es  ge- 
heimnisvolle Mächte  gibt  —  eine  Erfahrung,  die  schon  immerhin  gegen- 
über der  naiven  Anerkennung  einzelner  Götterdinger  einen  Fortschritt 
bedeutet.  Aber  der  Fetischist  weiß  nicht,  wo  dies  geheimnisvolle  Fluidum 
zu  fassen  ist,  und  deshalb  bannt  er  es  an  eine  konkrete  Stätte.  Auch  hier 
die  religiöse  Paradoxie,   daß   der  Gläubige  sein  eigenes  Werk  verehrt3)! 

3.  Wenn  in  dem  Fetisch  unklar  die  Macht  angebetet  wurde,  so  kann 
eine  weitergehende  Abstraktion  die  Macht  an  sich  verehren.  Dies  ist  das 
Wesen  der  zeitlich  wohl  am  längsten  ausgedehnten  Religionsperiode:  das 
Wesen  des  vielfach  ganz  irrig  beurteilten  Animismus. 

Wir  sahen,  daß  die  Scheidung  des  »Lebendigen«  von  dem  »Un- 
lebendigen« ein  Urphänomen  der  Mythologie  ist.  Wert  hat  vor  allem 
das  Lebende.  Die  Kraft  nun,  die  das  Lebende  vom  Toten  scheidet,  wird 
verehrt.  Das  ist  die  mythologische  Grundanschauung  des  »Seelenglaubens« 
und  »Seelenkults«. 

Diese  Kraft,  die  etwa  eben  unserem  Begriff  »Seele«  entspricht,  hat 
viele  Bezeichnungen.  Sie  versuchen  eben  alle,  das  Unfaßbare  zu  erfassen. 
Diese  Kraft  heißt  »Name«  (weil  erst  mit  dem  Namen  das  Leben  anerkannt 
wird;  vgl.  die  Benennung  aller  Tiere  durch  Adam  oder  die  Namenverleihung 
an  die  Urmenschen)  oder  »Geheimnis«  (altgermanisch  rund)  oder  »Seele», 

*)  Gegen  Heusler,  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  13,  30  vgl.  Kauffmann, 
Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  8,  126. 

2)  Heusler  a.  a.  O.  S.  25 f. 

3)  Vgl.  auch  Hebbels  Fragment  »Moloch«,  wo  dem  Motiv  der  Fetisch- 
einsetzung allerdings  eine  andere  Wendung  gegeben  wird. 


32  Erstes  Kapitel. 

»Hauchs    »Atem«.     In    der  Mythologie   ist   es  vielfach  üblich  gewordetl 
fremde   Ausdrücke   dafür   zu   verwenden,   um    die   Mißverständnisse  ausj 
zuschließen,  die  unsere  einheimischen  Benennungen  erwecken.    Zu  einigdl 
Berühmtheit   hat   es    das   orenda   der  Huronen   gebracht1):    >L'orendd\ 
c'est  du  pouvoir,  du  pouvoir  mystique.    II  7t' est  rien  dans  la  natur  I 
et,  plus  spicialement  il  n'est  d'etre  anime  qui  n'ait  son  orenda  .  .  I 
Les  phenomenes  naturels,  comme  l'orage,  sont  produits  par  Torendi  * 
des  esprits  de  ces  phenomenes«2).    In  Melanesien  ist  es3)  das   mana 
das   zugleich   eine  Eigenschaft   (man   könnte  sagen:    die  Eigenschaft)  un< 
eine  Substanz  ist;  es  beherrscht  die  Dinge,  läßt  sich  aber  aus  ihnen  heraus 
holen:    »il  est  par  natur e  transmissible.«     In  Indonesien  gibt  es  ein 
Seele  des  Menschen,   die  identisch  ist  mit  der  »Lebenskraft,  die  die  ganz< 
Natur  erfüllt«4).  -     Ebenso  in  den  Religionen  der  alten  Kulturvölker:  »Der 
Unterschied  zwischen  lebenden  Wesen  und  unbelebten  haben  die  Ägypte  j 
sich  von  jeher  so  gedacht,  daß  jenen  eine  besondere  Kraft  eingeflößt  sei 
die  sie  den  Ka  nennen«5);  sie  trennen  den  allgemeinen  Ka  von  der  indi 
viduellen  Seele,   wie   das  früher  für  die  Indonesier  z.  B.  auch  behaupte 
wurde6). 

Diese  »Kraft«  also  ist  es,  die  den  Menschen  zum  Wollen  und  zum  Handelr 
fähig  macht,  ebenso  aber  auch  alles,  was  sonst  will  und  handelt,  dazu  be- 
fähigt. Die  Kraft  also,  diese  allgemeine  mythologische  Konzeption,  wird  eine: 
Kultus  gewürdigt,  sobald  besondere  Gründe  vorhanden  sind,  die  »Kraft 
eines  einzelnen  zu  fürchten  oder  von  ihr  etwas  zu  erhoffen.  So  wird  die 
animistische  Mythologie  zum  religiösen  Seelenkult  namentlich  bei  folgenden 
Kategorien  von  »Geistern«: 

a)  die  Ahnen  und  überhaupt  die  Toten,  auf  deren  Kult  einzelne 
Forscher  (besonders  J.  Lippert)  übertreibend  alle  Mythologie  zurück 
geführt  haben.  Die  natürliche  Ehrfurcht  des  abhängigen  Kindes  von  dem 
Vater  überdauert  das  Grab;  gleichzeitig  aber  besteht  zwischen  dem  lebenden 
Erben  und  dem  gleichsam  beraubten  Vorbesitzer  ein  heimlicher  Kampf. 
Die  mythologische  Grundanschauung  ist  die,  daß  die  Seele  den  (durch 
ihr  Entweichen  leblos  gewordenen)  Körper  noch  längere  Zeit  umkreist: 
sie  kann   sich  schwer  von  ihm  trennen.     Daraus  entsteht  unter  dem  Ein- 


*)  Hubert  et  Mauss,  Thiorie  generale  de  la  magie,  in  L'annee  socio- 
logique  VII,  Paris  1904,  S.  113;  vgl.  Kauffmann,  Aren.  f.  Rel.-Wissensch.  7,  132. 

2)  a.  a.  O. 

8)  Ebd.  S.  108  f. 

4)  Juynboll  nach  Kruyl,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  127. 

*)  Erman,  Die  ägyptische  Religion,  S.  88. 

6)  Über  die  beiden  Arten,  wie  die  folkloristische  Mythologie  die  »Kraft«  deutet, 
vgl.  van  Gennep,  Rites  de  Passage  S.  8  (gegen  Hubert  und  Mauss  S.  3  Anm.; 
vgl.  auch  S.  181). 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  33 

iruck  jener  seelischen  Störungen  der  aus  Ehrfurcht  und  Furcht,  ja  fast 
itwas  wie  schlechtem  Gewissen  wundersam  zusammengesetzte  Kult  der 
eigenen  Ahnen  und  anderer  für  den  Stamm  wichtiger  Toten.  Unter  den 
Kulturvölkern  haben  die  Römer  ihn  am  kräftigsten  entwickelt  und  am 
reuesten  bewahrt. 

Der  Ahnenkult  ist  von  großer  Wichtigkeit  für  die  Fortentwicklung 
jer  Mythologie.  Erstens  wird  hier  zuerst  eine  regelmäßige  Tradition 
eingeleitet:  jede  festliche  Gelegenheit  zwingt,  den  Ahnherrn  mit  Opfern 
i\x  ehren,  während  die  Anrufung  des  Fetisches  vom  Zufall  des  Bedürfnisses 
ibhängig  bleibt.  Zweitens  tritt  hier  auch  zuerst  die  Pflicht  des  Kultus 
ein:  die  Ehrung  ist  obligatorisch  für  den  ganzen  von  dem  Ahnen  ab- 
hängigen Stamm.  So  früh  treten  die  Ansätze  einer  eigentlichen  »Staats- 
'eligion«  hervor  und  so  früh  die  Abhängigkeit  jeder  Kirche  vom  Staat1)! 

Nur  eine  Spezialform  des  Ahnenkultes  scheint  der  Totemismus  zu 
sein:  die  weit  verbreitete  Sitte,  allerlei  Tiere  als  Ahnherren  des  Stammes 
mit  Opfern  und  gesetzlichen  Gebräuchen  zu  ehren.  Die  wahrscheinlichste 
Erklärung  der  seltsamen  Erscheinung  ist  doch  wohl  die,  daß  hier  die 
Vorstellungen  von  Totengeistern  und  Tiergeistern  kombiniert  sind:  die 
Seelen  der  Ahnen  nahmen  Tiergestalt  an,  und  eine  jener  wunderlichen 
Totemsäulen,  auf  denen  von  unten  bis  oben  Wolf,  Schlange,  Adler  usw# 
übereinander  geschnitzt  zusammenhocken,  würde  also  gleichzeitig  einen 
Stammbaum  und  einen  Katalog  der  obligatorischen  Totenopfer  dar- 
stellen. —  Wie  sich  das  aber  auch  verhalte,  jedenfalls  haben  wir  kein 
Recht  (wie  das  früher  gern  geschah),  den  Totemismus  als  eine  mythologisch- 
religiöse Durchgangsform  anzusehen,  die  an  innerer  Notwendigkeit  mit 
den  anderen  auf  gleicher  Stufe  stände. 

b)  Die  Naturgeister,  d.  h.  die  Kräfte  solcher  Naturerscheinungen, 
tie  für  den  Menschen  wichtig  sind.  Zunächst  sind  das  wohl  die  »kleinen«, 
die  unmittelbaren  Nachbarn  und  täglichen  Besucher  des  primitiven  Menschen: 
der  Strom,  der  überschwemmen  und  den  Besitz  wegreißen  kann;  der 
Sturm,  der  die  Hütte  auseinanderreißt;  die  Regenwolke,  der  Blitz,  das 
Feuer,  d.  h.  nicht  das  »Element«,  sondern  das  einzelne  im  Wald  oder  auf 
dem  Heerd  brennende  Feuer.  Erst  später  werden  die  »großen«  Regula- 
toren verehrt:  Sonne,  Mond,  Himmel,  Erde;  jedem  Bauern  ist  der  Landrat 
wichtiger  als  der  Kaiser.  Nach  den  Kompetenzgrenzen  zwischen  der  Erde 
und  ihren  Strömen,  dem  Himmel  und  seinen  Planeten  fragt  dabei  noch 
keine  überwitzige  Theologie. 

Durchaus  muß  aber  betont  werden,  daß  nicht  die  Naturerscheinungen 
angebetet   werden,    sondern    die    in    und    über    ihnen   waltenden   Kräfte. 


*)  Vgl.  Sir  A.  C.  Lyall,  Presential  Adress:  Transactions  of  the  3.  Congress 
pr  the  History  of  Religions,  Oxford  1908,  I  1  f. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  3 


«4  Erstes  Kapitel. 

Natürlich  sind  große  Mißverständnisse  möglich,  wie  sie  noch  heute  ir 
abergläubischem  »Bilderdienst«  begegnen:  das  Symbol  wird  für  die  Sach 
selbst  genommen.     Sonst  aber  möchte  man  unseren  guten  alten  Brocke 

zitieren : 

Fast  die  meisten  Menschen  meinen, 
Wasser  sei  ein  Element, 
Das  wir  zwar  nicht  ganz  verneinen; 
Wenn  mans  aber  recht  erkennt, 
Muß  ja  die  Vernunft  gestehen, 
Daß,  was  wir  von  Wassern  sehen, 
Nur  der  Körper,  der  den  Geist 
Ganz  verborgen  in  sich  schleußt1). 

Nur  dieser  » Geist  des  Wassers«  wird  verehrt.  So  bemerkt  etwl 
J.  Raum2)  für  ein  primitives  Volk  in  Deutsch-Ostafrika:  »Die  Dschagg^ 
sind  nun  aber  keineswegs,  wie  man  gemeint  hat,  Sonnenanbeter,  sondert 
Ruwa  ist  ein  geistiges  Wesen,  das  auf  der  Sonne  resp.  auf  dem  Himmels 
gewölbe  seinen  Sitz  hat3).« 

Schon  deshalb  führt  von  hier  kein  Weg  zu  dem  Universalmittel  dej 
Erklärung  aller  Mythen  als  »Naturmythen«,  wie  C  F.  Dupuis4)  si 
zuerst  in  großem  Maßstab  versucht  und  später  Max  Müller  (für  dil 
Sonne),  Schwartz  (für  das  Gewitter),  La i st n er  (für  den  Nebel)  sie  durch] 
geführt  haben;  augenblicklich  macht  es  Siecke  und  seine  Gesellschal 
für  vergleichende  Mythenforschung  mit  dem  Mond  und  wird  dabei  voj 
anthropologischer  Seite  ermutigt5).  —  Ein  Beispiel  für  die  Gefahren  dd 
Naturmythologie  auch  bei  verständigerer  Handhabung!  Die  vedische  Gotj 
heit  Apäm  napät  wird6)  gedeutet  als  eine  Wassergottheit  —  eine  Feueil 
gottheit  —  der  Mond  —  die  Sonne  —  der  Blitz!  Die  »Naturgeister, 
sind  eben  völlig  gleichartig  mit  anderen  Geistern,  und  deshalb  sind  etw 
die  Laren  oder  Penaten  so  wenig  auf  Naturgottheiten  zurückzuführen  wi 
umgekehrt;  und  gar  jene  »großen  Naturgötter«  sind  (trotz  einigen  auf  dil 
Sonne  deutenden  Spuren)  schwerlich  als  Mittelpunkte  nationaler  Mythologie] 
denkbar:  die  sind  partikularistisch  und  nicht  kosmopolitisch  und  verlange 
individuelle  Beziehungen. 


1)  »Irdisches  Vergnügen  in  Gott«,  »Das  Wasser«,  S.  301,  Str.  19  dd 
4.  Auflage. 

2)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  10,  293. 

8)  Im  Veda  steht  Sürya,  der  Sonnengott,  noch  neben  einer  rein  sachliche 
Behandlung  der  Sonne  (Macdonell  S.  31). 

4)  Origine  de  tous  les  cultes  ou  Religion  universelle  1809;  Neudruck  Paris  186^ 

B)  Vgl.  Ehrenreich,  Deutsche  Literaturzeitung  1909,  S.  753;  s.  dagege 
über  Sieckes  Urreligion  der  Indogermanen ,  Breslau  1907,  das  sachverständig 
Urteil  von  Detter,  Ark.  for  nord.  Fil.  17,  93. 

6)  Macdone1!  S.  170. 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  35 

c)  Die  wilden  Tiere,  zumal  die  gefährlichen,  sind  ebenfalls  Be- 
sitzer von  Willen  und  Kraft.  Die  in  ihnen  hausenden  Geister  müssen 
durch  Kult  besänftigt  werden;  zuerst  gewiß  wieder  der  Wolf,  den  man 
wirklich  im  Walde  heulen  hört,  das  Krokodil,  das  gestern  ein  Kind  ge- 
raubt hat.  In  Ägypten,  dem  klassischen  Lande  des  Tierkultus x)  wird  noch 
in  der  Römerzeit  einer  erschlagenen  Giftschlange  eine  gefühlvolle  Grab- 
schrift gesetzt2),  gewiß  um  ihren  Geist  zu  versöhnen;  und  wenn  Christus 
die  Dämonen  Besessener  in  die  Säue  fahren  läßt,  herrscht  gewiß  noch 
die  Anschauung  vor,  daß  die  unruhigen,  schmutzigen  Tiere  die  Behausung 
von  Dämonen  sind. 

Der  Tierkult  hat  im  allgemeinen  schwerlich  die  gleiche  Ausdehnung 
besessen  wie  Ahnen-  und  Naturgeisterverehrung.  Er  ist  auch  zumeist 
rasch  überwunden  worden :  die  Götter  wurden  (aus  noch  zu  erörternden 
Gründen)  vielfach  in  Tiergestalt  verehrt  und  lösten  so  die  Tiergeister  ab8) 
wobei  freilich  Verwirrung  nicht  ausbleiben  kann4).  Die  früheren  Tier- 
bilder der  Götter  sind  dann  später  (s.  u.)  oft  zu  deren  > Attributen«  ge- 
worden 5). 

4.  In  diesen  drei  Stadien  finden  wir  als  gemeinschaftliche  mytho- 
logische Grundanschauung  die  einer  Kraft«,  die  nützen  und  schaden 
kann  und  auf  die  deshalb  eingewirkt  werden  muß,  damit  sie  nützt,  und 
vor  allem,  damit  sie  nicht  schadet.  Jede  dahin  zielende  Tätigkeit  wird  zu 
einem  Kult;  jeder  Bericht  über  eine  Leistung,  die  eine  jener  Kräfte  voll- 
bracht haben  soll,  wird  zu  einem  Mythus. 

Ferner  aber  ist  der  Phase  der  Augenblicksgötter,  derjenigen  des 
Fetischismus  und  derjenigen  des  Animismus  noch  ein  wichtiger  Punkt 
gemein:  die  lokale  Gebundenheit  der  Kräfte.  Der  Gott  sitzt  in 
dem  Donnerkeil,  in  dem  Pfahl,  oder  er  ist  mit  dem  Körper  von  Mensch 
oder  Tier  verbunden  (auch  noch  nach  dem  Tode,  denn  er  hält  sich  in 
dessen  Bezirk);  er  wohnt  im  Strom.  Aber  schon  so  weit  können  wir 
doch  eine  zunehmende  Lockerung  erkennen.  Der  Augenblicksgott  ist  mit 
dem  verehrten  Objekt  schlechterdings  identisch ;  der  Fetisch  schon  ist  nur 
sein  Aufbewahrungsort;  der  >Geist«  aber  hat  eine  relative  Bewegungs- 
freiheit, die  bei  den  Totengeistern  am  deutlichsten  hervortritt. 

Der  für  die  ganze  Entwicklung  der  Mythologie  vielleicht  folgen- 
reichste Schritt  geschieht  nun,  indem  diese  materielle  Gebundenheit  völlig 


!)  Vgl.  Erman,  a.  a.  O.  S.  176. 

2)  Ebd.  S.  220. 

3)  Ed.   Meyer,   Gesch.   d.  Altertums,   1.   Aufl.  2,   98;   Schrader,    Real- 
lexikon 2,  677. 

4)  Vgl.  z.  B.  Erman,  S.  25. 

5)  Eine  sicher  übertriebene  Bedeutung  legt  dem  Tierkult  neuerdings  Breysig, 
Entstehung  des  Gottesgedankens,  bei. 

3* 


oa  Erstes  Kapitel. 

aufgehoben  wird.  Wohl  bleibt  noch  lange  ein  Substrat  für  die  göttliche 
Kraft  erwünscht;  aber  es  erscheint  als  von  ihr  selbst  willkürlich  gewählt. 
Aber  an  sich  werden  sie  nun  als  »reine  Kräfte«  gedacht,  die  unfaßbar  in 
der  Welt  umherfahren:  dies  ist  die  Stufe  des  Dämon ismus. 

Es  ist  die  höchste  Stufe,  die  von  allen  Völkern  erreicht  werden 
kann.  Die  nächste,  die  der  Götter,  unterscheidet  kulturfähige  von  dauernd 
primitiven  Völkern.  Man  faßt  daher  auch  diese  vier  Stufen  als  die  der 
niederen  Mythologie  zusammen  und  stellt  ihr  die  Götterverehrung 
als  höhere  Mythologie  gegenüber.  In  der  Tat  liegt  aber  zwischen 
den  drei  ersten  Phasen  und  dem  Dämonismus  eigentlich  eine  viel  schärfere 
Scheidung  als  zwischen  den  beiden  höchsten  Stufen. 

Es  handelt  sich  um  einen  Prozeß,  der  sich  bei  allen  höheren  Lebens- 
äußerungen wiederholt.  Es  ist  kaum  zu  bezweifeln,  daß  der  primitive 
Mensch  wie  das  Tier  nur  sprach,  wenn  er  auf  eine  Reizung  unmittelbar 
reagierte.  Die  Loslösung  der  Mitteilung  von  ihrem  unmittelbaren  Anlaß, 
in  der  eigentlich  der  gesamte  Vorzug  der  Menschen-  vor  der  Tiersprache 
besteht,  mußte  erst  langsam  errungen  werden.  —  Ebenso  hat  namentlich 
Herder  oft  betont,  daß  alle  Poesie  der  Vorzeit  unmittelbar  an  einen 
bestimmten  Anlaß  gefesselt  ist;  erst  die  Bildungsdichter  (auch  schon  des 
Altertums)  besingen  längst  vergangene  Ereignisse.  —  So  also  ist  auch  die 
Vorstellung  der  Kraft  zunächst  an  einen  bestimmten  Träger  gebunden,  bis 
sie  sich  loslöst  und  eine  »reine  Anschauung«  möglich  wird. 

Natürlich  darf  man  sich  diese  Entwicklung  nicht  als  eine  rein  ge- 
dankenmäßige, logische  denken.  Auch  sie  ist  an  bestimmte  Erfahrungen 
gebunden.  Unerklärliche  Störungen  des  normalen  Verlaufs  werden  be- 
obachtet, die  doch  durch  eine  ganz  bestimmte  Verletzung  hervorgerufen 
scheinen:  beim  »Hexenschuß«  plötzlich  eine  Empfindung,  als  dringe  ein 
Pfeil  in  die  Schulter,  und  nichts  in  der  Nähe,  was  ihn  entsandt  haben 
könnte;  oder  ein  unerklärliches  Geräusch  u.  dgl.  Solche  Dinge  sind 
wohl  zuerst  auf  unsichtbare  Kräfte  —  auf  Dämonen  —  zurückgeführt 
worden. 

Die  unermeßliche  Bedeutung  dieser  Neuerung  liegt  nun  aber  wieder 
in  einer  mythologischen  Antinomie.  Das  Volk  will  eben  sehen;  das 
Bedürfnis  nach  Anschauung  liegt  ja  aller  Mythologie  zugrunde.  Eine 
abstrakte  Kraft,  eine  Ätherwelle  etwa  mag  sich  der  zur  Abstraktion  er- 
zogene Mensch  unserer  Zeit  vorstellen  können  (Gottfried  Keller  konnte 
es  nicht  und  sah  die  Begriffe  der  Anatomie,  als  er  bei  Henle  in  Heidel- 
berg hörte,  in  Anschaulichkeiten  verwandelt)  —  der  Primitive  kann  es 
jedenfalls  nicht.  Die  Kraft,  die  sich  bewegt,  einen  Willen  hat,  uns  ver- 
letzt, bedarf  einer  gewissen  Körperlichkeit.  So  entsteht  auf  dieser  Stufe 
zuerst  die  Aufgabe,  den  übersinnlichen  Wesen  eine  anschaubare  Form  zu 
geben  —  die  Aufgabe,   aus   der  die  höchste  Kunstleistung  der  Welt,   die 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  37 

hellenische  Skulptur,  hervorgewachsen  ist;   freilich  auch  die  Aufgabe,  die 
einen  rein  geistigen  Theismus  nahezu  undurchführbar  macht. 

Die  an  ein  Substrat  gebundenen  »Überwesen«  haben  eben  schon  eine 
Form:  die  des  Steins,  des  Stroms.  Das  ist  freilich  eigentlich  nur  ein 
Kleid,  das  ihre  wirkliche  Form  nur  verbirgt;  aber  es  genügt  der  Vor- 
stellung. Wie  aber  soll  ich  mir  die  Macht  vorstellen,  die  mir  plötzlich 
einen  Schmerz  in  den  Arm  zaubert?  Es  bleibt  nur  möglich,  zu  den  be- 
kannten Gestalten  anderer  wollender  Wesen  seine  Zuflucht  zu  nehmen: 
tier-  oder  menschenähnlich  werden  sie  wohl  sein.  Aber  gleichzeitig  er- 
wartet man  doch,  daß  sich  ihr  Wesen  deutlicher  in  der  Erscheinung  aus- 
spricht. Einen  bösen  Dämon  stellt  man  sich  mit  bösem  Ausdruck  vor, 
vielleicht  wie  ein  tückisches  Tier  oder  wie  einen  bösen  Feind.  Die  Phy- 
siognomik beginnt  zu  arbeiten,  bis  sie  in  den  Göttergestalten  des  Olymps 
für  Weisheit,  Jugendfrische,  Kraft  den  denkbar  höchsten  Ausdruck  —  in 
Menschenform  gefunden  hat. 

Noch  aber  wirkt  solcher  Gestaltung  eine  wichtige  Tatsache  entgegen. 
Unzählig  drängen  sich  die  Dämonen  auf;  sie  erfüllen  alles;  nirgends  ist 
man  sicher,  daß  nicht  einer  von  ihnen  lauert.  (Man  denke  wieder  an  unsere 
modernen  Dämonen,  die  Bazillen !)  Diese  Massenhaftigkeit  wirkt  zunächst 
einer  strengen  Durchbildung  der  Form  entgegen.  Auch  konkurrieren  noch 
zu  viele  Versuche,  das  Unfaßbare  zu  fassen ;  sie  finden  ihren  mythologischen 
Ausdruck  in  der  Wandlungs-  und  Verwandlungsfähigkeit  der  Dämonen, 
wie  ihre  ursprüngliche  Formlosigkeit  ihn  in  der  Annahme  von  Riesen- 
und  Zwerggestalten  findet. 

Aber  damit  ist  die  Bedeutung  des  Dämonenglaubens  für  die  Ent- 
wicklung der  Mythologie  noch  nicht  erschöpft.  Auch  diejenige  Auffassung 
sprießt  hier  empor,  die  alle  Religion  umgestalten  soll :  die  ethische  Be- 
wertung. 

Die  »Götter«  der  niederen  Stufen  sind  wirklich  »jenseits  von  gut  und 
böse« :  es  kommt  lediglich  darauf  an,  ob  sie  dem  Opfernden  günstig  sind 
oder  nicht,  und  bei  dem  Fetisch  noch  darauf,  ob  er  tüchtig  ist,  d.  h. 
leistet,  was  von  ihm  verlangt  wird.  Aber  bei  den  Dämonen  beginnt  eine 
objektive  Scheidung:  ganze  Klassen  werden  als  gütig  oder  bösartig  an- 
gesehen (altgermanische  Licht-  und  Dunkelalfen),  auch  wohl  im  Kampf  mit- 
einander gedacht  —  eine  Anschauung,  aus  der  schließlich  ein  Dualismus 
erwachsen  kann  (wie  in  der  altpersischen  Religion)  oder  die  Vorstellung 
eines  letzten  Kampfes  zwischen  den  (altgermanischen)  menschenfreundlichen 
Göttern  und  menschenfeindlichen  Riesen  und  Ungeheuern. 

So  sind  wir  in  der  Vorhalle  zu  der  höchsten  Form  der  Mythologie: 
zu  der  Götterbildung 2). 


*)  Vgl.  über  den  Ursprung  der  Göttervorstellungen  Wundt  3,  403 f. 


38  *  Erstes  Kapitel. 

5.  Aus  der  unendlichen  Zahl  der  Dämonen  treten  allmählich  einzelne 
deutlicher  hervor.  Sie  gewinnen  an  Macht;  sie  werden  in  ihren  »Ressorts« 
unbeschränkte,  allgemein  anerkannte  Vorsteher.  Gefördert  wird  diese  Evo- 
lution besonders  auch  durch  den  noch  zu  besprechenden  häufigen  Prozeß 
der  Kollektivierung,  indem  z.  B.  zahlreiche  Walddämonen  durch  einen 
einzigen  Waldgott  vertreten  werden.  Aber  die  Umwandlung  liegt  über- 
haupt im  Zug  der  mythologischen  Entwicklung.  Ihr  Hauptkennzeichen  ist  die 
entschiedene  Individualisierung  der  Gestalten,  und  wir  sehen,  daß 
bereits  der  Dämonenglaube  diese  Wege  einschlägt.  Ein  äußeres  Kennzeichen 
dafür  ist  dies,  daß  bereits  Dämonen  nicht  selten  mit  persönlichen  Eigen- 
namen begabt  werden.  Der  Augenblicksgott  hat  eine  sachliche  Benennung, 
der  Fetisch  und  der  Geist  eine  allgemeine  (»Bei  euch,  ihr  Herren,  kann  man 
das  Wesen  gewöhnlich  aus  dem  Namen  lesen«  — ),  doch  mögen  schon  Aus- 
nahmen begegnen ;  bei  den  Dämonen  tritt  neben  eine  solche  Benennung  be- 
reits öfters  der  eigentliche  Eigenname,  d.  h.  die  Anerkennung  der  individuellen 
Persönlichkeit.  Bei  den  Göttern  aber  ist  dieser  Besitz  bereits  etwas  fast  Selbst- 
verständliches. Freilich  kommen  »unvollständige  Namen«  vor:  Benennung 
nach  dem  Ort  (»die  Göttin  von  Pessinus«)  oder  der  Art  (»der  Krieger«, 
oft:  »der  Herr«);  dann  sind  die  Götter  eben  erst  frisch  aus  dem  Dämonismus 
herausgewachsen.  Bald  erhalten  dann  aber  auch  solche  Benennungen  (alt- 
germanisch Balder,  Frey)  die  volle  Geltung  von  Personennamen. 

Endlich  findet  erst  innerhalb  der  Götterwelt  die  Moralisierung  der 
Religion  ihre  volle  Geltung,  indem  die  Menschheit  ihrem  Bedürfnis  nach 
ethischen  Idealen  genügt. 

Was  unterscheidet  nun  die  Götter  von  den  Dämonen  *)  ? 
a)   Innerliche  Charakteristika. 

Hauptkennzeichen  des  Gottes  ist  die  bestimmte  Umschrei- 
bung seiner  Tätigkeit.  Der  Augen blicksgott  und  der  Fetisch  können 
alles,  der  Dämon  immer  noch  mancherlei.  Aber  eben  deshalb  kann  das-  I 
selbe,  was  der  eine  Fetisch  oder  Dämon  kann,  auch  noch  manch  anderer 
seinesgleichen.  Für  den  Gott  dagegen  ist  die  Mitbewerberschaft  entweder 
lokal  oder,  was  der  wichtigere  Fall  ist,  beruflich  ausgeschlossen.  Er  ist 
ein  kosmischer  Beamter,  der  dem  Krieg,  der  Landwirtschaft,  der  Justiz, 
dem  Handel  vorsteht  wie  ein  moderner  Minister.  Dies  ist  wahrscheinlich 
auch  zumeist  der  Weg,  wie  der  Dämon  zum  Gott  wird:  daß  er  alle 
Konkurrenten  um  die  Kundschaft  (man  soll  sich  hier  lieber  zu  realistisch 
ausdrücken  als  zu  idealistisch!)  aus  dem  Felde  schlägt. 

Hiermit  hängt  unmittelbar  jene  zunehmende  Individualisierung 
zusammen,  die  gern  durch  Epitheta,  Attribute,  Eigenheiten  im  Kultus  unter- 
strichen wird. 


l)  Für  die  Hellenen  vgl.  Preller  I,  111;  allgemein  Wund t  3,  336;  395;  431. 


I 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  39 


Die  ganze  Entwicklung  führt  ferner  zu  einer  zunehmenden  An- 
näherung an  menschliche  Formen,  die  in  vollständiger  Ver- 
menschlichung endet  —  für  unsere  Begriffe  vielleicht  eine  Herabsetzung  des 
»Geistes«,  für  die  Völker  das  Höchste,  was  sie  geben  konnten:  daß  sie 
(wie  Lichtenberg  zuerst  das  Bibelwort  umgekehrt  hat)  nach  ihrem  Bilde 
Gott  schufen.  Ein  lehrreiches  Beispiel  ist  die  Entwicklung  Thors  und 
Lokis  in  der  altgermanischen  Mythologie x). 

Ein  höheres  geistiges  Vermögen  wird  im  allgemeinen  voraus- 
gesetzt Aber  wenn  ein  Gott  alles  weiß  wieVaruna2)  und  Frigg3)  oder 
alles  sieht  wie  Pushan4),   so  muß  das  besonders  hervorgehoben  werden. 

b)    Äußerliche  Charakteristika. 

Als  Rangzeichen  der  Götter  können  etwa  angesprochen  werden: 

Der  Besitz  eines  Eigennamens,  oder  mehrerer,  weil  der  Gott 
viele  Dämonen  aufzehrt;  die  Priester  sind  darauf  stolz  wie  ein  Herold  auf 
den  großen  Titel  seines  Fürsten5). 

Der  Besitz  fester  Kultusstätten.  Der  Fetisch  ist  Kultgegen- 
stand und  Kultstätte  zugleich ;  die  Dämonen  werden  verehrt,  wo  man  sie 
trifft;  der  Gott  hat  wie  ein  Fürst  Paläste,  in  denen  er  anzutreffen  ist 

Der  Gott  steht  in  bestimmten  Beziehungen  zu  seines- 
gleichen, Gegenüber  dem  Anarchismus  der  Dämonen  haben  wir  hier 
ein  Abbild  staatlich  geordneter  Verhältnisse.  Zwar  kann  auf  einem  be- 
stimmten Gebiet  ein  Gott  zur  alleinigen  Anerkennung  gelangen6);  auch 
Jehovah  ist  wohl  •  erst  so  zum  alleinigen  Gott  geworden).  Aber  auch 
dann  bleibt  die  Vorstellung,   daß  es  andere  Götter  gibt,    die  ihm  gleich- 


1)  Nicht  notwendig,  aber  häufig  scheint  die  Anthropomorphisierung  auf  dem 
Umweg  über  die  Tiergestalt  erreicht,  so  daß  das  formlose  dämonische  Wesen 
zunächst  in  die  physiologisch  deutliche  Erscheinung  eines  wohlbekannten  Tieres 
gebannt  wird.  So  ist  in  Griechenland  das  zweite  Jahrtausend  vor  Christi  die 
Blütezeit  theriomorpher  Göttervorstellungen :  Athene  als  Eule,  Hera  als  Kuh, 
Dionysos  als  Stier,  Zeus  als  Wolf  verehrt  (Solmsen,  Zs.  f.  vgl.  Sprachf.  42,  233). 
Es  ist  aber  z.  B.  für  die  Germanen  nicht  nachzuweisen,  daß  etwa  Thor  je  in 
Ziegengestalt  verehrt  worden  wäre  —  von  woher  man  seinen  roten  Bart  deuten 
könnte.    Für  den  Veda  vgl.  Macdonell  S.  147. 

2)  Macdonell  S.  26. 
3j  Lok.  Str.  26.  . 

4)  Macdonell  S.  35. 

5)  Re,  der  Gott  mit  den  vielen  Namen  ohne  Zahl«:  Er  man,  Ägyptische 
Religion,  S.  61;  die  Namen  Jehovas;  Namen  des  keltischen  Mars:  Anwyl, 
Celtic  Religion,  S.  39;  der  Namenskatalog,  den  Odin  in  den  Grimnismäl  her- 
sagt; allgemein  Usener,  Göttliche  Synonyme,  Rheinisches  Museum  f.  Philologie 
1898,  S.  323  f. 

6)  »Henotheismus-  nach  Max  Müllers  Ausdruck;  das  berühmteste  Bei- 
spiel die  Neuerung,  durch  die  ägyptische  Könige  den  Sonnengott  über  alle 
anderen  hoben:  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Altertums,  2.  Aufl.,  I  2,  192. 


4q  Erstes  Kapitel. 

artig  sind,  nur  daß  man  von  ihnen  kultisch  keinen  Gebrauch  macht.  E 
ist  gleichsam  auf  höherer  Stufe  eine  Wiederholung  der  Fetischeinsetzung 
der  Ausstattung  mit  Machtfülle. 

Vielleicht  hat  in  indogermanischer  Zeit  und  schon  früher  auf  weiter 
Bezirken  der  Wagen  als  ein  äußeres  Kennzeichen  des  Gottes  gegolten;  wi< 
die  Fürsten  der  Erde  werden  die  Fürsten  der  Götterwelt  durch  den  »be 
weglichen  Thron«  geehrt.  Wenigstens  ist  auffallend,  daß  wie  ägyptische  unc 
persische  Gottheiten,  wie  Jahve  bei  den  Hebräern  !)  auch  fast  alle  indischer 
Götter  Wagen  besitzen,  die  oft  ausführlich  geschildert  werden2),  ebensc 
viele  hellenische  und  von  den  germanischen  z.  B.  Odin,  Thor,  Frey.  — 
Der  Wagen  scheint  ursprünglich  eine  bewegliche  Kultstätte  zu  sein3) 
dieser  praktische  Ursprung  und  die  Vorstellung  von  der  Vornehmhei 
solcher  rein  passivischen  Ortsveränderung  mögen  zusammengewirkt  haben 
um  ihn  den  Göttern  fast  so  unentbehrlich  zu  machen,  wie  es  den  Königer 
der  Thron  ist.  Allerdings  scheinen  nur  die  Inder  dies  Rangzeichen  durch 
geführt  zu  haben  (doch  haben  auch  sie  in  nachvedischer  Zeit  z.  B.  Vishnus 
Wagen  durch  den  Vogelkönig  ersetzt,  auf  dem  er  reitet4).  Bei  den  Hellener 
haben  nur  Elementargottheiten  den  Wagen:  Eos  Helios  Nyx  Selene5) 
gelegentlich  aber  fahren  wohl  auch  andere6). 

Ein  besonderes  Kennzeichen  der  indogermanischen  Götter  schein 
ferner  der  Besitz  einer  eigenen  Nahrung,  eines  Unsterblichkeits 
tranks,  der  ihre  ewige  Jugend  verbürgt  oder  erneut.  Unmittelbar  er 
halten  ist  er  bei  Hellenen 7)  und  Indern 8) ;  aber  daneben  ist  er  bei  der 
letzteren  in  den  Opfertrank  Soma9)  verwandelt  und  scheint  bei  den  Ger 
manen  in  den  Dichtertrank 10)  übergegangen  (in  quandam  similitudinem 
vini  corruptus!)  zu  sein.  Vielleicht  hat  auch  der  Veda  die  ursprünglich« 
Art  gewahrt,  und  der  »Unsterblichkeitstrank«  ist  nur  rationalistische  Um 
deutung  des  Opfergetränks  für  die  Götter. 

Die  Vorstellung   einer    besonderen   Sprache    der   Götter    ist    zwa 
Hellenen  und  Germanen   gemein11)   und  fehlt12)  auch  den  Indern  nicht 

*)  Dibelius,  Die  Lade  jahves,  Göttingen  1906. 

Macdonell  S.  17;  vgl.  z.  B.  Savitri  S.  32,  die  Acvins  S.  50,  Indra  S.  55 
Väya  S.  82. 

3)  Vgl.  die  methodologisch  ausgezeichnete  Studie  von  Dibelius. 

4)  Macdonell  S.  152,  vgl.  39. 
6)  Vgl.  Preller  1,  431.  433.  441.  444. 

6)  Vgl.  allgemein  J.  Grimm,  Mythologie  1,  273. 

7)  Nektar  und  Ambrosia:  Prell  er  113,  2. 

8)  amrta :  ebd. 

9)  Vgl.  Macdonell,  Vedic  Mythology,  S.  104 f. 
10)  Vgl.  unten. 

n)  J.  Grimms  Mythologie  1,  275 f. 
12)  Nach  v.  N egelein,  Germ.  Myth.  S.  23. 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  41 

scheint  aber1)  bloß  eine  Bezeichnung  für  Eigenheiten  der  poetischen 
Sprache  zu  sein2). 

Abzulehnen  ist  die  Vorstellung  von  einer  besonderen  Heimat,  einem 
Land  der  Götter.  Ich  möchte  zwar  nicht  mit  J.  v.  Negelein3)  glauben, 
daß  sie  für  die  Alten  einfach  auf  Erden  lebten  —  sie  »erscheinen«  ja 
immer  erst  und  »verschwinden«  wieder,  wofür  germanisch  sogar  ein  be- 
sonderer Terminus  zu  existieren  scheint4)  — ,  aber  man  gibt  sich  keine 
Rechenschaft  darüber,  von  wo  sie  kommen,  wohin  sie  kommen  —  wie 
der  Wind  nach  dem  Wort  des  Apostels.  Noch  in  der  alten  Dichtung 
bricht5)  durch  alle  Lokalisierung  in  'Asgard  die  alte  Anschauung  durch, 
daß  sie  eigentlich  einfach  »irgendwo«,  in  Utgard,  außerhalb  der  Welt 
wohnen  —  gewiß  nicht  in  einem  geschlossenen  Himmel,  wie  später6). 

Alt  ist  dagegen  ein  anderer  Zug,  der  der  späteren  Klassifikation 
und  Ethisierung  vorarbeitet:  als  ein  ungemein  häufiges  Kennzeichen  der 
Götter  erscheinen  siegreiche  Kämpfe  mit  Dämonen.  Da  nun 
diese  Dämonen  den  Menschen  feindlich  waren,  und  der  gegen  sie  sieg- 
reichen, von  den  Menschen  angerufenen  Macht  somit  die  Vertretung  der 
»guten  Sache«  zufiel,  so  erscheinen  sie  hier  bereits  avant  la  lettre 
als  Verfechter  des  »guten  Prinzips«.  In  vielen  Fällen  wird  geradezu  die 
vermeintliche  Vernichtung  böser  Götter  dazu  geführt  haben,  daß  Dämonen 
zu  Göttern  »erhoben  wurden«,  etwa  wie  »Selige«  nach  der  katholischen 
Terminologie  ihrer  Wundertaten  wegen  als  Heilige  kanonisiert  werden. 
Solche  »überdämonische  Leistungen«  scheinen  insbesondere 
Indras  Sieg  über  Vrtra,  Apollons  Tötung  des  Python,  Thors  Riesen- 
kämpfe. Natürlich  dauert  aber  der  Kampf  mit  den  Unholden  fort;  Beowa 
ist  trotz  seiner  siegreichen  Kämpfe  mit  Grendel  und  Grendelin  kein  Gott 
geworden. 

Ein  eigentümlicher  Zug  solcher  Dämonenkämpfe  (der  mythischen  und 
zum  Teil  noch   der  heroischen)  ist  die  Verstümmelung.     Der  älteste 


*)  Nur  eine  Dichterfiktion  nach  Prell  er  a.  a.  O. 

2)  Meine  Altgerm.  Poesie  S.  484 f.  —  Ihr  seid  ja  Menschen  —  wollt  Ihr  denn 
der  Götter  Sprache  hören?    (Platen.) 

3)  Germ.  Myth.  S.  26. 

4)  Altnordisch  hverfa,  Golther  S.  198. 

5)  Vgl.  Golther  S.  200. 

6)  Bei  den  Juden  scheint  die  Vorstellung  von  einem  »Gottesberg  im  Norden« 
sehr  alt  zu  sein  (Gunkel,  Genesis,  S.  33).  Sie  ist  es  auch  bei  den  Hellenen, 
wo  aber  dort  nicht  die  Götter,  sondern  die  seligen  Heroen  wohnen:  »hoch  über 
dem  nie  erklommenen  Hauptberg,  oder  einfach:  über  den  Bergen,  im  Himmel« 
liegt  das  Land  der  Hyperboreer,  deren  wahres  Wesen  Otto  Schroeder  (Arch. 
f.  Rel.-Wissensch.  8,  69  f.,  speziell  S.  83)  so  schön  aufgedeckt  hat,  der  verklärten 
Ahnen  —  der  einzigen  Götter  einer  noch  götterlosen  Zeit  (vgl.  auch  Körte 
ebd.  10,  152). 


49  Erstes  Kapitel 

Kampf  wird  ohne  Waffen  geführt,  weil  diese  hier  versagen1),  was  dann 
den  Ruhm  des  Siegers  steigert2).  So  zerreißen  die  Götter  den  Ymi8)  wie 
in  ungezählten  Kosmogonien  Götter  oder  Urmenschen  zerteilt  werden;  so 
reißt  Beowulf  dem  Grendel  Glieder  aus  nach  alter  Sagenform4);  so  haut 
Hadding  die  Gespensterhand  ab5);  so  spielt  der  abgehauene  Drachenkopf 
u.  dgl.  noch  in  der  Tristansage  eine  große  Rolle.  Aber  auch  Götter 
werden  in  solchen  Kämpfen  verstümmelt:  von  einem  anderen  Gott,  wie 
Zeus  den  Kronos  seines  Gliedes  beraubt,  oder  von  den  Dämonen,  wie  in 
der  altnordischen  Mythologie  der  einhändige  Ty  —  was  sich  wieder  in 
der  Heldensage  abspiegelt  (Waltharius).  Wie  den  Drachen,  wird  den 
Feinden  der  Kopf  abgesäbelt6),  was  denn  freilich  in  Wirklichkeit,  wie 
noch  neuerdings  in  den  bosnischen  Kämpfen  der  Österreicher,  nicht  selten 
geschehen  sein  mag7). 

Mit  den  Kämpfen  (oder  auch  mit  der  Wagenfahrt?)  hängt  es  viel- 
leicht zusammen,  daß  die  Götter  oft  von  Dienern  oder  Dienerinnen 
begleitet  sind,  die  vorzugsweise  Botendienste  zu  leisten  haben  (Iris  bei 
Zeus,  Matrisvan  bei  Vivasvat,  Skirnir  bei  Frey),  doch  zuweilen  auch  als 
Schildhalter  dienen  (Thjälfi  bei  Thor).  Einen  ganzen  weiblichen  Haus- 
staat hat  Frigg  um  sich.  Doch  sind  das  oft  späte  Nachbildungen  nach 
dem  Muster  der  Herolde  und  Waffenträger  im  Epos;  so  ist  der  altnordische 
Götterbote  Hermod  gewiß  jung,  Freys  Diener  Byggvir  ist  es  wahr- 
scheinlich. —  Aber  kein  Dämon  hat  Diener;  es  ist  wieder  ein  soziales 
Rangzeichen,  wie  der  Wagen.  — 

Keins  dieser  Rangzeichen  ist  absolut  unentbehrlich;  doch  wird  das 
dritte  kaum  je  fehlen,  das  zwischen  der  charakterlosen  Gleichheit  der 
Dämonenwelt  und  der  strengen  Isolierung  des  Monotheismus  in  der  Mitte 
des  Weges  steht.  Aber  der  Typus  des  Gottes  ist  doch  kaum  je  ver- 
kennbar ;  zumal  der  gesamte  Habitus  der  Mythologie  in  einer  bestimmten 
Epoche  uns  zu  Hilfe  kommt. 

Kennzeichen  der  Epoche  der  Götterverehrung  sind  nämlich 
innerlich  (wie  schon  erwähnt)  die  beginnende  Ethisierung;  äußerlich  die 
Entstehung  eines  Priesterstandes,  der  den  spezifischen  Kult  des  einzelnen 
Gottes  beherrscht,  womit  dann  allmählich  auch  der  Bau  von  Tempeln, 
die  Herstellung  von  typischen  Weihegeschenken  u.  dgl.  m.  zusammen- 
hängt. 


')  Vgl.  Brau  dl,  Altengl.  Lit.,  S.  995. 

2)  Ebd.  S.  1014. 

B)  Gylf.  c.  S,  Gering  S.  303. 

4)  Laistner,  Rätsel  der  Sphinx,  S.  39;  vgl.  Brandl  S.  993. 

R)  Saxo  S.  23;  Herr  mann  S.  28. 

G)  Waltheof,  vgl.  Brandl  S.  1084. 

7)  Saxo  1,  32,  Herrmann,  S.  40. 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  43 

Hiermit  ist  eigentlich  die  Entwicklung  der  Mythologie  abgeschlossen. 
£wei  Stufen,  die  noch  folgen  können,  liegen  im  Grunde  schon  jenseits 
ier  Mythologie;  die  eine  ist  ganz  religiöser  Natur,  die  andere  von  ge- 
ehrter Art. 

6.  Die  Ethisierung  wird  zwar  nirgends  (auch  nicht  im  Alten 
Testament)  vollständig,  aber  doch  in  weitgehendem  Maße  durchgeführt, 
indem  die  Menschheit  selbst  sich  moralisch  entwickelt,  erzieht  sie  ihre 
3ötter.  Auf  die  Einwirkung  der  Heldensage  ist  dabei  schon  hingewiesen. 
\uch  die  Durchführung  staatlicher  Organisationen  fördert  den  Standpunkt 
der  sozialen  Moral,  auf  den  außerdem1)  der  Priesterstand  Einfluß  ge- 
winnt. Allerdings  ist  diese  Ausbildung  vielfach  bestritten  worden:  die 
christliche  Theologie  glaubte  eine  Offenbarung  der  Moral  annehmen  zu 
müssen  und  sah  deshalb  in  den  ethischen  Tendenzen  der  heidnischen 
Religionen  nur  Überreste  älterer  Vollkommenheit.  Diese  sogenannte 
»Dekadenztheorie«  ist  neuerdings  von  dem  geistreichen  Andrew  Lang2) 
wieder  aufgenommen  worden;  die  Entwicklung  mehr  noch  der  >bösen 
als  der  guten  Götter  (Loki)  genügt  fast  allein  zu  ihrer  Widerlegung. 

7.  Erst  beim  Absterben  der  Mythologie  pflegt  sich  eine  syste- 
matische Kodifikation  mit  festen  Zahlen  (die  zwölf  olympischen 
Götter),  Aufteilungen  der  Reiche  und  Elemente  (Zeus,  Poseidon,  Pluton), 
symmetrischem  Aufbau  der  ganzen  Götterwelt  herauszubilden.  Ansätze 
liegen  weit  zurück:  in  der  Zählung  als  epischem  Hilfsmittel  (s.  o.),  in 
den  Kämpfen  der  Götter  usw.  Trotzdem  gelingt  die  eigentliche  Syste- 
matisierung erst  unter  dem  starken  Einfluß  der  ausgebildeten  Heldensage, 
durchgebildeter  staatlicher  und  sozialer  Verhältnisse  und  einer  über  rein 
praktische  Bedürfnisse  fortschreitenden  wißbegierigen  Wissenschaft.  — 

Dies  mag  ein  ungefähres  Bild  der  typischen  Entwicklung  geben,  ohne 
laß  wir  alles  so  genau  zu  wissen  glauben!  Natürlich  wird,  wie  überall 
eine  völlig  normale  Entwicklung  auch  hier  der  seltenste  Fall  sein.  Aber 
im  großen  und  ganzen  dürfte  diese  Stufenfolge  historisch  wie  psycho- 
logisch so  weit  gestützt  sein,  als  das  einstweilen  möglich  ist. 

Nun  ist  aber  noch  ein  Satz  zu  betonen,  auf  dessen  fundamentale  Be- 
deutung man  erst  neuerdings  (in  der  germanischen  Religion  besonders 
durch  E.  H.  Meyer;  aufmerksam  geworden  ist:  diese  Stufen  schließen 
sich  nicht  etwa  aus,  sondern  keine  Phase  der  Mythologie  kommt  rein 
vor  (außer  natürlich  der  ersten).  Die  älteren  Stufen  dauern  fort 
(wie  in  den  höheren  Metaükulturen  noch  Werkzeuge  der  früheren  Zeiten;. 
Die  niedere  Mythologie  lebt  noch  heute;  und  in  der  Verehrung  auch  des 
einzigen  Gottes  fehlt  es  nicht  an  animistischen,  sogar  an  fetischistischen  Zügen. 


!)  Ed.  Meyer  a.  a.  O.  S.  824 f. 

2)  The  Making  of  religion,  London  1906. 


44  Erstes  Kapitel. 

Diese  Mischungen  sind  (wie  die  Sprachmischungen  und  Mischsprache 
erst  seit  kurzem  eingehender  studiert  worden.    Den  klassischen  Fall  bilde 
der   >  Synkretismus  <  der  römischen  Kaiserzeit1). 

Doch  liegen  auch  für  die  Mischung  germanischen  Heidentums  m 
dem  Christentum  interessante  Zeugnisse  und  Untersuchungen  vor,  dere 
Analogie  für  ähnliche  Legierungen  in  früheren  Perioden  merkbar  ist2). 

Die  Fortdauer  überwundener  mythologisch  -  religiöser  Anschauunge 
in  höherstehenden  Epochen  bezeichnen  wir  als  »Aberglauben«  3).  — 

Aber  die  prinzipielle  Obereinstimmung  zwischen  den  verschiedenste: 
Mythologien  ist  nicht  auf  den  allgemeinen  Gang  der  Evolution  beschränk 
Auch  innerhalb  der  Entwicklung  wiederholen  sich  überall  bestimmt 
Umbildungen,  die  nicht  gerade  jedesmal  eine  neue  Stufe  herbeiführer 
sie  doch  aber  vorbereiten  helfen.  Vorzugsweise  gehören  sie  überhaur. 
erst  der  Stufe  der  Götterverehrung  an.  Die  wichtigsten  Prozesse  diese 
Art  sind  die  folgenden,  die  ich  zum  Teil  schon  erwähnen  mußte,  hie 
aber  noch  einmal  zusammenstellen  will: 

1.  Die  Anpassung.  Mythen  und  mythische  Figuren,  die  dej 
Stempel  einer  früheren  Kultur-  und  Religionsperiode  noch  gar  zu  deutlic 
tragen,  werden  selten  aufgegeben,  in  der  Regel  vielmehr  durch  (unbewußte 
Änderungen   der  jüngeren  Empfindung  angepaßt.     Drei  Hauptfälle  sind] 

die  Umwandlung  der  ursprünglich  verehrten  Fetische  oder  Tiere  i| 
Attribute  der  Götter; 

die  Umwandlung  der  Opfer  aus  blutigen  in  unblutige,  in  der  Rege 
in  der  Folge  Menschenopfer,  Tieropfer,  symbolische  Opfer4); 

die  Umwandlung  von  Symbolen5). 

2.  Systole  und  Diastole  —  um  Lieblingstermini  Goethes  anl 
zuwenden  — .  Gestalt  und  Zahl  der  Götter  sind  in  Fluß,  und  zwar  ii 
beiderlei  Richtung: 

verschiedene  Dämonen  wachsen  gleichsam  in  eine  Gestalt  zusammen  - 
ein  wichtiger,  noch  nicht  genügend  gewürdigter  Prozeß,  den  wir  ein 
Vorstufe  zur  Götterbildung   nannten.     Ich   bezeichne  diesen  Vorgang  al 


i)  Wendland,  Die  hellenisch-römische  Kultur,  Tübingen  1907. 

-)  Bernoulli,  Die  Heiligen  der  Merowinger  (Fortdauer  uralter  heidnische 
Vorstellungen  im  christlichen  Kult),  Freiberg  1897  (vgl.  auch  Trede,  Das  Heider 
tum  in  der  katholischen  Kirche,  Gotha). 

3)  C.  Meyer,  Der  Aberglaube  des  Mittelalters  und  der  folgenden  Jahrhundert« 
Basel  1884;  Ad.  Wuttke,  Der  deutsche  Volksaberglaube  der  Gegenwart,  3.  Auf 
bes.  von  E.  H.  Meyer,  Berlin  1900;  Roch  holz,  Glaube  und  Brauch  im  Spiege 
der  heidnischen  Vorzeit,  Berlin  1867.  —  Viel  Material  in  volkskundlichen  Samm 
lungen  und  Zeitschriften,  bes.  Zeitschrift  des  Vereins  für  Volkskunde,  Berlin. 

4)  Tiere  in  Gebäckform,   Blumen  u.  a.  vgl.  Mogk,  Menschenopfer,  S.  601 
r)  Vgl.  Gobletd'Alviella,  La  migration  des  symboles,  Paris  1891,  S.  2171 


§  4.    Typische  Entwicklung  der  Mythologie.  45 

(ollektivierung.     Eine  Zwischenphase   ist  die,  daß  ein  Dämon  sich 
Js  »Fürst«  über  seinesgleichen  erhebt; 

oder  ein  Gott  wird  nach  seinen  Funktionen  in  verschiedene  Gestalten 
:erlegt,  z.  B.  der  Kriegsgott  in  den  des  Fern-  und  den  des  Nahkampfes: 
Jpaltung  der  Göttergestalten  *).  Begünstigt  wird  sie  durch  die 
verschiedenen  Namen  und  Beinamen  der  Götter2).     Die  neuen  Gestalten, 

lue  so  entstehen,  pflegt  man  (seit  Usener)  als  »Hypostasen«  zu  bezeichnen; 

I  ilso  etwa:  der  Heilgott  ist  eine  Hypostase  des  Weisheitsgottes. 

3.  Systematisierung:    die   Beziehungen    der   Götter    zueinander 
werden  in  immer  deutlichere  Formen  gebracht,  wobei  (unter  vorbildlicher 
:iiife  der  Heldensage)  besonders  benutzt  werden: 

die  Genealogie:  ein  Gott  wird  zum  Vater  oder  Erben  oder  Bruder 
des  andern;  ebenso  werden  Ehen  gestiftet3); 

i        die  soziale  Ordnung:   der  Hauptgott  wird  »König  der  Götter«, 
rdeinere  Götter  werden  zu  »Dienern«  der  größeren; 

Freundschaft  und  Gegnerschaft  (Thor  und  Loki). 

4.  Historisierung:  die  mythischen  Gebilde  werden  immer  näher 
an  die  heroischen  und  historischen  herangebracht.  Insbesondere  kommen 
in  Betracht: 

die  historische  Konzentration:  ein  typischer  oder  periodischer 
Vorgang  wird  als  einmaliges  historisches  Ereignis  aufgefaßt.  In  gewissem 
Sinne  ist  das  ja  bei  jedem  Mythus  der  Fall,  indem  etwa  der  periodische 
Sonnenuntergang  auf  irgendweiche  Flucht  der  verfolgten  Sonne  in  eine 
dunkle  Höhle  gedeutet  wird.  Aber  dabei  bleibt  man  doch  im  Zeitlosen; 
leu  ist,  daß  eine  wirkliche  Datierung,  ein  Unterbringen  innerhalb  der  Ge- 
schichte versucht  wird.  Auf  die  Wichtigkeit  dieses  Prozesses  hat  zuerst 
vieder  der  große  Erneuerer  der  Mythologie,  H.  Usener,  hingewiesen4); 
iO  sind  etwa  mythische  Vorstellungen  mit  der  Sage  von  Ilions  Fall 5)  kom- 
biniert worden; 

der  Euhemerismus:  so  nennen  wir  nach  dem  Namen  des 
griechischen  Mythendeuters  Euhemeros  die  Methode,  die  Götter  für 
historische  Persönlichkeiten  zu  erklären.  So  hat  bei  uns  Saxo  Gram- 
maticus  Odin  für  einen  alten  König  ausgegeben.  —  Der  Euhemerismus 
ist  allerdings  vorzugsweise  gelehrten  Ursprungs,  doch  kommt  auch  volks- 
tümliche Umdeutung  von  mythischen  in  historische  Gestalten  vor6). 


x)  Vgl.  z.  B.  Erman,  Kultur  der  Gegenwart  I,  III,  S.  31. 

2)  Vgl.  Saintyves,  Les  dieux,  S.  283 f.  (sehr  lehrreich). 

3)  Vortrefflich  hierüber  im  einzelnen  Macdon  eil,  Vedic  Mythology,  S.  11. 

4)  »Heilige  Handlung«,  Archiv  f.  Rel.-Wissensch.  7,  381  f. 

5)  Ebd.  S.  333. 

6)  Vgl.  Edv.  Lehmann,  Guder  og  helte  Kjöbenh.  1898,  S.  1  f . 


46  Erstes  Kapitel. 

5.  Umgekehrt  wieder  kommt  auch  Myth isierung  der  Religions 
geschichte  vor:  ihre  historischen  Vorgänge  werden  dem  mythischer 
Stil  angepaßt.     Insbesondere  werden 

Kämpfe  oder  Gegensätze  zwischen  religiösen  Parteien  als  Götter 
schlachten  gedeutet.  So  scheint  der  altgermanische  Mythus  vom  Vanen 
krieg  entstanden.  Ähnlich  verfuhr  z.  B.  auch  der  Gnostizismus,  indem  d 
die  heidnischen  Götter  als  wirklich  existierende,  aber  von  der  christliche: 
Gottheit  besiegte  Wesen  auffaßte  (Mythen  von  Zeus  und  Kronos); 

die  Priester,  die  in  symbolischen  Handlungen  den  Gott  zu  ver 
treten  haben,  werden  mit  ihm  völlig  identifiziert,  so  daß  z.  B.  der  Ver 
treter  des  bösen,  dunkeln  Gottes  wirklich  getötet  wird  (altgermanische 
Kult  der  Nerthus).  Diese  Gleichsetzung  von  Gott  und  Prieste 
kann  bis  zu  der  Fetischverehrung  des  höchsten  Priesters  führen  *). 

6.  Nochmals   ist  an  die   von    uns  schon  betonte  Loslösung  vo 
der  Gelegenheit   zu   erinnern.     Sie  führt   (wie   überall   in    der  Welt] 
dazu,   daß  das  Mittel  zum  Zweck,  die  Hauptsache  zur  Nebensache  wir 
Insbesondere  kommt  hier  der  Kult  in  Betracht  und  zwar 

mit  der  Erstarrung  des  Rituals.    Kultgebräuche,  Gebete,  Fest 
die   ursprünglich   an  bestimmte  Gelegenheit  geheftet  waren,  werden  zu 
ständigen  Bestandteil  anderer  Riten ;  Lieblingszeremonien  werden  bei  aller 
Gelegenheiten  durchgeführt ; 

mit  der  Periodisierung  der  Opferfeste.  Die  großen  Moment« 
der  Begegnung  von  Mensch  und  Gott  werden  ursprünglich  nur  bei  be 
stimmtem  Anlaß  gefeiert,  etwa  nach  einem  Sieg,  bei  der  Ernte.  Allmählich 
wird  (wohl  ohne  Zweifel  durch  die  Priester)  ein  ewiger  Festkalender  ein] 
geführt,  der  bestimmte  Feiern  ein-  für  allemal  auf  bestimmte  Jahreszeiter; 
oder  (nach  Durchführung  eines  allgemeinen  Kalenders)  auf  bestimmte  Tage 
festlegt.  Dies  ist  erst  möglich,  wenn  der  Kultus  eine  nationale  Bedeutung 
und  die  nationale  Organisation  eine  gewisse  Festigkeit  erlangt  hat.  Die 
altgermanische  Religion  hat  im  Norden  auch  diese  Stufe  der  Regulierung 
erreicht. 

Halten  wir   uns   neben   dieser   halben  Zwölfzahl   von    mythologisch- 
religiösen Umbildungen  noch  die  allgemeinen  Tendenzen  der  Heroisierung 
Ethisierung,    Zählung    und    Kodifikation    gegenwärtig,    so    dürften    die| 
Faktoren,  denen  die  Mythengeschichte  ihre  Entwicklung  verdankt,  mit  leid 
licher   Vollständigkeit   aufgezählt   sein,    und   wir   können    nun   zu   dieser 
selbst  übergehon. 

J)  Klassisches    Beispiel    der    Dalai   Lama;    vgl   z.    B.    Grünwedel,    Der 
Lamaismus,  Kultur  der  Gegenwart,  Teil  I,  Abt.  III,  S.  147 f. 


Zweites  Kapitel. 
Spezielle  Voraussetzungen. 

Die  typische  Entwicklung  ist  natürlich  überall  durch  ethnographische 
und  historische  Entwicklung  modifiziert.  So  denn  auch  bei  den  Indo- 
germanen  und  den  Germanen. 

Über  die  »arische  Rasse«,  wenn  es  eine  (oder  zwei)  gab,  wissen  wir 
wenig;  die  Urheimat  ist  uns  unbekannt,  und  damit  die  ältesten  ethno- 
graphischen und  geographischen  Einflüsse;  erst  recht  sind  uns  die  ältesten 
Schicksale  dieser  Kulturgemeinschaft  (und  damit  die  frühesten  historischen 
Einwirkungen)  verborgen.  Was  wir  etwa  wissen  können,  hilft  uns  wenig: 
Ursprung  in  der  gemäßigten  Zone,  große  Wanderungen,  Kämpfe  mit 
fremden  Völkern.  Über  die  Eigenheit  der  Indogermanen  können  wir  uns 
auch  nur  aus  ihrer  Sprache  —  und  ihrer  späteren  Entwicklung  einiger- 
maßen deutliche  Vorstellungen  machen.  Eine  allgemeine  Tendenz  auf 
Vereinfachung,  Konzentration  scheint  den  beiden  großen  Sprachgemein- 
schaften, den  Indogermanen  und  den  Semiten,  gemein ;  sie  zeigt  sich  auch 
in  der  Mythologie  als  eine  Richtung  auf  den  Monotheismus  (die  aber 
auch  sonst,  z.  B.  bei  den  Ägyptern,  den  Indianern  begegnet). 

Die  letzte  Charakteristik  der  Indogermanen  hat  Ed.  Meyer *)  ge- 
geben : 

»Eine  gewaltige  schöpferische  Kraft  der  Phantasie,  welche  bei  aller  Kühnheit 
doch  Maß  zu  halten  weiß,  und  daneben  die  Gabe  des  Enthusiasmus  können  als 
das  charakteristische  Erbteil  der  Indogermanen  gelten.  Auf  ihnen  beruht  es,  daß 
die  Empfindungs-  und  Denkweise  zwar  schwerlich  an  Tiefe  und  Leidenschaftlich- 
keit, wohl  aber  an  Innigkeit  und  Naturwahrheit  den  anderen  Völkern  überlegen 
ist,  daß,  wie  die  indogermanischen  Sprachen  vielseitiger  ausgebildet  und  ge" 
staltungsfähiger  sind  als  irgendwelche  andere,  so  auch  in  der  Kultur,  in  der  Fort- 
entwicklung des  geistigen  Lebens  der  Menschen  indogermanische  Völker  schließ- 
lich die  Führung  übernommen  und  weit  ältere  Kulturvölker  überall  zurückgedrängt 
haben.  In  diesem  geschichtlichen  Prozeß  offenbart  sich  zugleich  die  Fähigkeit, 
fremdes  Gut  aufzunehmen  und  weiterzubilden,  welche  die  Indogermanen  vor 
anderen  Völkern  auszeichnet:  sie  haben  zur  Entwicklung  der  universellen  Kultur 


J)  Gesch.  d.  Altertums,  2.  Aufl.  I  2  S.  782. 


48  Zweites  Kapitel. 

vielleicht  ebensoviel  durch  diese  Aneignung  und  schöpferische  Assimilation  fremder 
Anregungen,  als  durch  unabhängige  Neuschöpfungen  beigetragen.  Diese  Freiheit 
und  Beweglichkeit  des  Geistes,  der  sich  nicht  durch  feste  Schranken  gegen  das 
Fremde  absondert,  ebensowenig  aber  es  sklavisch  nachahmt,  sondern  es  erwirbt 
und  neu  gestaltet,  hängt  aufs  engste  mit  der  universellen  Richtung  zusammen, 
welche  die  Gestaltung  der  indogermanischen  Religion  beherrscht.« 

Aus  dieser  nationalen  Charakteranlage  geht  denn  auch  der  allgemeine 
Charakter  der  indogermanischen  Religion  hervor,  den  derselbe  Kenner1) 
wie  folgt  charakterisiert: 

»So  stark  auch  oft  in  der  Sonderentwicklung  der  Einzelvölker  die  Stammes- 
götter und  die  lokalen  Kulte  hervortreten,  so  behalten  die  indogermanischen 
Götter  doch  immer  einen  universellen  Zug.  Sie  sind  immer  Mächte,  die  trotz 
des  Lokalkultus,  der  eine  bestimmte  Gruppe  an  sie  bindet,  weit  über  diese  hinaus_ 
greifen  und  in  der  ganzen  Welt  wirken,  die  man  daher  unbedenklich  auch  in 
den  gleichartigen  Gottheiten  der  anderen  Völker  wiederfindet,  in  scharfem  Gegen- 
satz z.  B.  zu  der  Exklusivität  der  semitischen  Götter;  daher  finden  die  religiösen 
Bewegungen,  welche  von  Indogermanen  ausgehen,  niemals  an  den  Grenzen  des 
eigenen  Volkstums  eine  unübersteigbare  Schranke,  sondern  setzen  sich  immer 
über  diese  hinweg  und  sind  ihrer  Tendenz  nach  durchweg  universell.« 

Ist  hiermit  für  die  Eigenart  der  indogermanischen  Religion  vielleicht 
das  erlösende  Wort  gesprochen,  so  kann  ich  mich  dagegen  der  weiteren 
Behauptung  Ed.  Meyers  nicht  anschließen,  der  indogermanischen  An- 
schauung sei  die  Scheidung  zwischen  dem  toten  Stoff  und  der  in  ihm 
wirksamen  Lebenskraft  fremd,  die  uns  in  dem  religiösen  Denken  der 
Ägypter  und  Semiten  entgegentritt;  für  sie  sei  vielmehr  jede  Natur- 
erscheinung die  Manifestation  einer  göttlichen  Kraft,  »so  daß  Gott  und 
Welt  vollkommen  identisch  und  in  ihrer  Entstehung  eins  sind« 2).  Dies 
scheint  mir  mit  den  Beseelungssagen  nicht  vereinbar,  wie  sie  nicht 
nur  in  der  (vielleicht  christlich  beeinflußten)  altgermanischen  Legende  von 
Ask  und  Embla,  sondern  auch  bei  den  Hellenen  (Deukalion)  und  sonst 
begegnen.  Diese  Ansicht  scheint  mir  überhaupt  durch  die  Masse  der 
animistischen  Bekundungen  widerlegt,  die  überall  auch  bei  den  Indo- 
germanen die  göttliche  Lebenskraft  von  dem  toten  Stoff  unterscheiden; 
ja  schon  die  Existenz  des  Neutrums  in  der  Grammatik  scheint  mir  die 
Anerkennung  unbelebten  Stoffes  zu  erweisen. 

Die  Hauptsache  bleibt,  daß  keine  Mythologie  eine  gleiche  Ausbildungs- 
fähigkeit bewiesen  hat  wie  die  der  Indogermanen.  Wenn  man  gesagt 
hat,  Genie  sei  Entwicklungsfähigkeit,  so  sind  eben  sie  die  Träger  des 
Genies  in  der  Weltgeschichte  —  in  der  Weltgeschichte  wie  in  der  Religion3). 

')  a.  a.  O.  S.  776. 

*)  a.  a.  O.  S.  776. 

3)  Für  die  Religion  der  Indogermanen  verweise  ich  nur  auf  O.  Schrader, 
Reallexikon  der  indogermanischen  Altertumskunde,  Leipzig  1901,  und  Eduard 
Meyer,  Geschichte  des  Altertums  a.  a.  O.;  kurze  Übersicht  vom  indischen 
Standpunkt  aus  bei  Macdon  eil  S.  8. 


§  14.    Zaubermenschen.  129 

die  Deutung  aus  Maske  und  Wolfspelz1).    Dagegen  könnten  Atavismen 
aus  kannibalischen  Perioden  im  Blut  nachwirken2). 

Die  Gestalt  hat  ein  grausiges  Interesse  bis  auf  unsere  Tage  hin3). 
Es  ist  der  Zwang  zum  Übeltun,  die  »Wut  zur  Wut«,  was  hier  als 
beunruhigendes  Rätsel  in  die  Erscheinung  tritt.  Wir  haben  hier  durchaus 
das,  was  wir  noch  heute  »das  Dämonische«  nennen4). 

Der  Werwolf  ist  also  ein  Mensch,  den  in  bestimmten  Zeiten  die  Wut 
packt.  Es  geschieht  immer  nur  bei  eintretender  Dunkelheit,  zuweilen  auch 
nur  in  den  Zwölfnächten,  zumal  wenn  auch  sein  Geburtstag  in  diese  Zeit 
fällt.  Wenn  es  ihn  packt,  muß  er  Blut  haben.  Manchmal  lebt  er  auch 
sieben  oder  neun  Jahre  als  Wolf  (vgl.  das  Märchen  vom  Bärenhäuter), 
wird  aber  geheilt,  wenn  er  neun  Jahre  lang  kein  Menschenfleisch  nahm 5). 

Der  Werwolf  wird  wie  die  Hexe  für  seine  Untaten  verantwortlich  ge- 
macht. Noch  im  16. — 1 7.  Jahrhundert  begegnen  uns  Werwolf sprozesse;  1589 
wurde  Peter  Stube,  der  Werwolf  von  Epprath,  in  Köln  hingerichtet,  weil  er 
bekannte,  in  Wolfsgestalt  1 3  Kinder  zerrissen  und  ihr  Gehirn  aus  dem  Kopf 
gefressen  zu  haben;  1610  ebenso  in  Lüttich  zwei  Werwolf e6).  —  Der 
Aberglaube  besteht  noch  heute  besonders  in  Nord-  und  Ostdeutschland 7), 
ebenso  in  England8).  Eine  Abart  ist  der  vampyrartig  auftretende  west- 
fälische » Boxen wolf»,  der  Begegnenden  aufhockt  und  ihr  Gesicht  zer- 
fleischt9). 

Der  Obergang  in  den  Tierzustand  wird  durch  Zaubermittel  bewirkt, 
besonders  durch  den  »Wolfsgürtel«;  dieser  Zauber  macht  sie  dann  auch 
»gefroren«,  d.  h.  für  gewöhnliche  Waffen  unverletzlich10). 

Schutz  vor  Werwölfen  gewährt  die  Anrufung  mit  dem  Taufnamen 
(vgl.  die  Vertreibung  des  Alps  durch  den  Schrei);  ein  Wurf  mit  Stahl 
oder  Eisen ;  eine  Verwundung,  an  der  der  nicht  verwandelte  Mensch  dann 
später  wieder  zu  erkennen  ist11). 

An  diese  periodisch  zu  niederer  Stufe  herabsinkenden  Werwölfe  kann 
man  diejenigen  Menschen  anschließen,  die  periodisch  zum  ragr,  zum 
Weibmenschen,  zu  werden  verdammt  sind,  wie  jener  Refr,  der  jede  neunte 


!)  Vgl.  Wundt  1,  379. 

2)  Vgl.  Andree,  Die  Anthropophagie,  S.  1885. 

3)  Prosper  Merimee,  Lokis;  vgl.  Filon,  Merimee,   Paris  1898;  S.  148. 

4)  Zola,  la  bete  humaine. 

5)  Meyer  S.  85. 

6)  Vgl.  Andree  a.  a.  O.  über  moderne  Fälle  von  Anthropophagie. 

7)  Wuttke  S.  259f. 

8)  Mogk  S.  272. 

9)  Meyer  S.  86,  Mogk  S.  272. 
10)  Mogk  S.  272. 

n)  Meyer  S.  85. 
Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  9 


■ 
joq  Drittes  Kapitel. 

Nacht  zum  Weibe  wurde *).  Doch  ist  dies  wohl  nur  eine  Formel  für  ein 
Laster,  dem  der  Unglückliche  immer  wieder  unterliegt;  man  denke  an 
»Quartalssäufer«  wie  den  armen  Fritz  Reuter! 

Verzauberung  von  Menschen  in  Tiergestalt  durch  Götter  oder  Zauberer 
in  anderen  Mythologien  häufig,  kommt  in  der  germanischen  Mythologie 
nie  vor.  — 

Die  Berserker2)  stehen  den  Werwölfen,  wie  schon  erwähnt,  seh 
nahe;  die  Weiber  der  Berserker3)  werden  »Wölfinnen«  genannt4).  SU 
sind  aber  eine  spezifisch  germanische  Erscheinung,  gleichsam  eine  Ver 
körperung  des  furor  teutonicus.  Allerdings  begegnet  der  plötzliche  Zu 
stand  wilder  Wut,  den  wir  nach  seiner  klassischen  Vertretung  bei  der 
Malayen  »Amoklaufen«  nennen,  auch  sonst  bei  primitiven  Völkern  unc 
Menschen 5).  Das  Eigenartige  bei  den  Berserkern  aber  ist,  daß  diese  Wut 
anfalle  in  den  Dienst  des  Krieges  gestellt  werden6). 

Die  Berserker  »sind  Menschen,  stärker  und  wilder  als  andere,  dii 
in  Berserkerwut  geraten  und  über  die  Menschen  wie  wilde  Tiere  her 
fallen.  Dann  sind  sie  unwiderstehlich,  sie  scheuen  weder  Eisen  nocl 
Feuer» 7).  Sie  beißen  in  der  Wut  in  die  Schilde  und  gebärden  siel 
wie  Wahnsinnige.  Nachher  sind  sie  machtlos  und  erschöpft,  wie  di 
Hexen  nach  dem  Ritt.  —  Die  »Berserker«,  d.  h.  »Bärengewandskerle< 
werden  ursprünglich  wohl  wirklich  als  Bärenmenschen,  den  Wer 
wölfen  entsprechend,  gedacht  worden  sein;  sie  heißen  auch  gelegentlicl 
ülfhednar,  »Wolfsgewandige« 8).  Später  wird  ein  ekstatischer  Krampf 
zustand  nach  dem  Muster  solcher  fabelhafter  Zaubermenschen  syste 
matisch  erzielt  worden  sein.  Könige  halten  sich  eine  Garde  voi 
solchen  Bärenmützen;  berühmt  sind  die  zwölf  Berserker  Hrolf  Kraki« 
die  des  Harald  Schönhaar  (um  900).  Wiederum  ist  an  Starkad9)  zu  er 
innnern. 

Die  Sage  lebt  in  Norwegen  fort,  sogar  häufiger  als  die  von  de 
Wolfsverwandlung.  Beides  ist,  wie  man  sieht,  nicht  ganz  gleichartig:  da 
Werwolfstum  ist  eine  Krankheit,  ein  Fluch,  das  Berserkertum  eine  zweel 
dienliche  Begabung.     Auch  unterscheidet  sie,  daß  die  Werwölfe  nur  vei 

1)  Vgl.  u.,  auch  Lok.  Str.  23.  33. 

2)  Mogk  S.  273,  Golther  S.  102,  Meyer  S.  86f.,  227. 
8)  Härb.  Str.  37. 
*)  Ebd.  39. 
B)  Vgl.  o.  S.  128;  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1897  S.  342  f. 

6)  Schilderung  bei  Saxo  S.  222,  223,  H  ermann  S.  295,  297,  vgl.  Olril 
Danmarks  Heltedigtning  S.  201  f. 

7)  Mogk  a.  a.  O. 

8)  Golther  S.  103. 
■)  Siehe  o.  S.  123,  auch  Lok.  Str.  23.  33. 


§  14.    Zaubermenschen.  131 

einzelt  (oder  höchstens  paarweise  wie  Sigmund  und  Sinfjötli),  die  Berserker 
in  geschlossenen  Gruppen  auftreten  x).  Werwolf  und  Berserker  scheinen 
immer  männlich  zu  sein2).  — 

Gestaltentauscher  kann  man  die  Menschen  nennen,  die  frei- 
willig Tiergestalten  annehmen  können  wie  die  Werwölfe  unter  dem  Fluch ; 
sie  sind  nach  nordischem  Ausdruck  eigi  einhamir,  nicht  eingestaltig,  und 
fähig  at  skipta  hömum,  die  Gestalten  zu  tauschen,  at  hamask,  die  Hülle 
zu  wechseln  usw. 3).  So  sitzt  der  Jarl  Fränmar 4)  in  Adlergestalt  verwandelt 
auf  einem  Haus,  um  die  Frauen  durch  Zaubermacht  zu  schützen. 

Der  viel  umstrittene  B  i  1  w  i  s 5)  kann  ebenfalls  ein  Zaubermensch  sein, 
ein  »männliches  Gegenstück  der  Hexe«.  Er  reitet  zu  gegebenen  Zeiten, 
namentlich  in  der  Nacht  vor  Walpurgis  oder  (wie  die  Hexen)  vor  Johannis- 
abend  auf  einem  Bock  durch  die  Saat,  die  er  mit  einer  Sichel  am  Fuß 
zerschneidet.  Das  Dämonische  besteht  in  der  Unfaßbarkeit  und  dem  selt- 
samen Reittier.  —  Schutzmittel:  Knabenkleider  am  »Pilbisbaum«  aufhängen6), 
was  wohl  eine  Art  Vogelscheuche  vorstellt7).  — 

Hexen8).  Althochdeutsch  hagazussa,  mittelniederländisch  haghe- 
tisse  (zu  hag  Wald)9)  bedeutet  ursprünglich  »Gauklerin«10).  Daneben 
kommt  von  anderen  Terminis  besonders  unholda,  »Feindin«,  in  Betracht11); 
altnordisch  tünridur,  althochdeutsch  gunriten,  Zaunreiterinnen,  weil  sie 
auf  dem  Pfahl  reiten ;   lateinisch  zumeist  striga. 


*)  Aus  anderen  Mythologien  sind  am  ersten^die  Mänaden  (Preller  1,  694)  in 
ihren  orgiastischen  Exzessen  vergleichbar:  sie  zerreißen  lebende  Tiere,  überfallen 
auch  Menschen.  Doch  sind  diese  Erregungen  an  bestimmte  Feste  gebunden 
\Schwally,  Semitische  Kriegsaltertümer,  Leipzig  1901,  1,  101  vergleicht  Simson, 
auch  Tydeus  und  Polyneikes.  —  Die  pathologischen  Wutanfälle  irischer  Helden 
and  ihrer  nordischen  Schüler  wie  Egill  (vgl.  Olrik,  Nordisches  Geistesleben, 
S.  81,  139)  stellen  einen  Berserkerzustand  dar,  der  aber  keine  allgemeine  Eigenart 
der  betreffenden  Persönlichkeiten  ausmacht. 

2)  Doch  vgl.  die  zitierte  Stelle  aus  dem  Härbardslied  und  Lex  salica,  Tit.  64 
(bei  Franck,  Geschichte  des  Wortes  Hexe  S.  16):  »si  Stria  hominem  come- 
derit«,  dagegen  aber  Kap.  376  (ebd.  S.  17):  »quod  christianis  mentibus  nullatenus 
credendum  est,  nee  possibile  ut  mulier  hominem  vivum  intrinsecus  possit 
comedere.«    (Andere  Parallelstellene  ebd.) 

3)  Golther  S.  100. 

4)  zu  Helg.  Hjorv.  Str.  5. 

5)  Siehe  o.  S.  111,  Meyer  S.  164,  Golther  S.  158,  Mogk  S.  273. 

6)  Meyer  a.  a.  O. 

7)  Eine  römische  Gottheit,  die  der  Saat  feindlich  ist:  Lua  Mater  (Wissowa 
>S.  171). 

8)  Mogk  S.  274,  278,  Golther  S.  116,  Meyer  S.  133. 

9)  Nach  Kluge,  Etym.  Wb.,  S.  167. 

10)  Nach  Francks  (auch  inhaltlich  wichtiger)  Geschichte  des  Wortes  Hexe, 
Bonn  1900. 

n)  Kauffmann,  PBB.  18,  151;  Franck  S.  14. 

9* 


132  Drittes  Kapitel. 

Die  christliche  Vorstellung  ist  von  der  heidnischen  zu  scheiden.  Abed 
Hexen  im  spezifischen  Sinne,  d.  h.  Menschen  mit  dem  Vermögen  zu 
hexen,  sind  schon  im  6.  Jahrhundert  bezeugt1).  —  Die  Hexe  der  alten 
Anschauung  ist  ein  Weib,  das  nach  eigenem  Willen  sich  den  weib- 
lichen Dämonen  (Unholden)  anschließt2),  mit  ihnen  den  Scharen  des 
wilden  Heeres  sich  zugesellt.  Aus  dieser  Gemeinschaft  kommen 
zunächst  ihre  bösen  Kräfte:  die  Hexen  machen  Wetter,  weil  sie  nun 
—  zeitweilig  —  zu  den  Wettergeistern  gehören;  sie  verderben  die  Milch 
weil  die  Gewittergeister  sie  gerinnen  machen;  sie  bringen  Krankheit,  wie 
die  Dämonen  den  » Hexenschuß «  verursachen.  Auch  die  Fähigkeit 
sich  in  Nachttiere  (Katzen,  Kröten,  Eidechsen,  Eulen,  doch  auch 
Hunde  und  andere  Seelentiere)  zu  verwandeln3),  haben  sie  von  der 
Elementargeistern  (daher  isländisch  hamhleypa ,  die  in  anderer  Gestal 
Laufende) 4). 

Erst  später  kommt  statt  der  Aufnahme  in  das  wilde  Heer  der  Pak 
mit  dem  Teufel  und  das  widerlich  pervers-erotische  (»satanische«)  Elemen 
in  die  Hexenvorstellung. 

Die  Hexe  ist  wie  der  Alpreiter  vorbestimmt:  zusammengewachsene 
Brauen,  rote  Triefaugen,  watschelnder  Gang  sind  Indizien5).  Aber  dazt 
muß  sie  doch  eigenen  Willen  fügen,  muß  von  alten  Hexen  lernen  unc 
sich  salben  lassen.  Die  Salbung  ist  eine  Parodie  der  feierlichen  Salbung 
von  Priestern,  Königen,  Sterbenden:  eine  »schwarze  Messe«.  —  Danr 
fährt  sie  in  die  Hexenkraft  und  kann  nun  (wie  die  Walküre)  durch  die 
Luft  reiten.  Dies  ist  an  die  Nacht  und  zumeist  noch  an  bestimmte  Nächte 
(Walpurgis)  gebunden.  Diese  Feste  sind  für  den  Massencharakter  der  Hexe 
besonders  charakteristisch;  sie  wählen  dazu  Berge,  die  ursprünglich  wohl; 
vom  Wütenden  Heer  umtobte  Totenberge  sind  (Brocken  als  Blocksberg)6).  — \ 
Sonst  ist  die  Hexe  der  Mahrt  ganz  ähnlich  7). 

Wie  furchtbar  sich  der  Hexenglaube  entwickelt  hat 8),  ist  weltbekannt 
Für  die  mittelalterliche  Hexe  ist  dann  —  außer  den  teuflischen  Zere 
monien  —  bezeichnend,  daß  sie  durch  Zauber  sich  Dinge  dienstbar 
machen  kann:  sie  melken  Mich  aus  Brettern,  reiten  auf  Besen,  doch 
auch  (wie  die  Zwerge  und  der  Bilwis)  auf  Böcken.  Aber  nur  das  Reiten 
auf   Holzpfählen   ist    ursprünglich.     Doch    schon    das   isolierte  Auftreten 


J)  Franck  S.  18. 

2)  Vgl.  Golther  S.  656. 

3)  Mogk  S.  276,  Wuttke  S.  155,  173,  217. 

4)  Golther,  Mythus  u.  Rel.  d.  Germ.  S.  16. 
B)  Mogk  S.  277;  nach  späten  Zeugnissen. 
ü)  Vgl.  Mogk  S.  277 f. 

7)  Meyer  S.  133,  Golther  S.  117.. 

8)  Vgl.  z.  B.  Meyer  S.  30 f.,  63 f.;  J.  Hansen,  Zauberwahn,  Inquisition 
und  Hexenprozesse,  Bonn  1901. 


§  14.    Zaubermenschen.  133 

der  christlichen    Hexe   widerspricht   ihrem    ursprünglichen    Charakter.    — 
Schutz  vor  dem  Behexen  gewähren  Zauberrunen  x). 

Zauberer2).  Das  Wort  und  der  Begriff  sind  in  neuerer  Zeit  etwas 
mißbraucht  worden;  namentlich  der  um  die  Aufklärung  mexikanischer  Riten 
verdiente  G.  Th.  Preuß  neigt  dazu,  alle  ursprüngliche  Religion,  ja  fast  alle  ur- 
sprüngliche Tätigkeit  unter  die  Rubrik  »Zauberei«  zu  fassen,  und  W.  Wundt 
ist  ihm  darin  in  bedenklichem  Maße  gefolgt.  Ich  habe  meinen  Wider- 
spruch gegen  diese  mythologische  Mode3)  ausführlich  begründet  und  darf 
mich  hier  auf  die  Erklärung  beschränken,  daß  ich  Wort  und  Bedeutung  in 
dem  früher  üblichen  Umfang  gebrauche4).  Ich  verstehe  also  unter  Zauber 
die  Mittel,  Dinge  zu  vollbringen,  die  eigentlich  »über  unsere  Kraft« 
hinausgehen,  indem  man  sich  einen  Anteil  an  der  Kraft  höherer  Mächte 
verschafft. 

Hierbei  sind w zu  scheiden:  allgemein  zugängliche  und  nur  einzelnen 
zugängliche  Zaubermittel.  Wer  die  ersteren  besitzt,  steht  zeitweilig,  wer 
die  letzteren  besitzt,  dauernd  den  »Dämonen«  nahe;  die  Besitzer  der 
reservierten  Zaubermittel,  die  Zauberer,  sind  (wie  die  Hexen)  menschliche 
Dämonen. 

1.  Unter  den  allgemein  zugänglichen  Zaubermitteln  sind  zunächst  die 
Runen  zu  nennen.  Sie  sind  jederzeit  verwendbar.  »Der  Besitz  der  Rune 
gibt  eine  ganz  begrenzte,  auf  einen  bestimmten  Zweck  eingeschränkte 
Wunderkraft«  5).  Die  Rune  als  das  Geheimnis  der  Dinge,  die  Seele  auch 
der  Gegenstände  gibt  dem,  der  sie  kennt,  Macht  über  das  Ding  oder 
die  Person.  Die  wichtigsten  Runen  dieser  Art  werden  aufgezählt  in  den 
rünatal 6). 

Die  Runen  stehen  unter  Odins  Schutz7),  sind  aber  jetzt,  nachdem  er 
sie  fand,  allgemein  zugänglich,  etwa  wie  das  Feuer  seit  Prometheus.     Sie 


*)  Vgl.  Golther  S.  119,  Häv.  Str.  154:  Einen  zehnten  (Spruch)  kenn'  ich, 
wenn  Zauberweiber  im  Fluge  durchfahren  die  Luft. 

2)  Vgl.  Gering,  Über  Weissagung  u.  Zauber,  Kiel  1902. 

3)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  9,  418;  10,  88  f. 

4)  Vgl.  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  31,  319. 

5)  a.  a.  O.  S.  317. 

6)  Häv.  Str.  145  f.  (Sprüche  gegen  Kummer,  Krankheit,  Gefahr  in  der  Schlacht, 
Brand,  Streit  an  der  Tafel  —  crebrae  .  .  .  rixae  raro  conviciis  saepius  caede  et  vulne- 
ribus  transiguntur,  Tac.  Germ.  c.  22  — ,  Seesturm,  Hexerei;  am  Ende  ein  paar 
positive  Sprüche  für  Zauber,  Patenschaft,  Erwerbung  von  Gunst),  Sgdm.  Str.  6  f. 
(ebenfalls  hauptsächlich  defensiv  gegen  Gift,  Seesturm,  Krankheit;  positiv  für 
Sieg,  Entbindung  schwangerer  Frauen,  Beredsamkeit)  und  Rig.  Str.  44  f.  (defensiv 
gegen  Waffen  und  Seesturm,  Feuer  und  Krankheit;  positiv  zum  Verständnis  der 
Vögel,  d.  h.  zur  Mantik);  vgl.  auch  Gripisspä  Str.  17.  (Allgemein  vgl.  in  eine 
Altgermanische  Poesie  S.  23  f.). 

7)  Golther  S.  340. 


J34  Drittes  Kapitel. 

müssen,  wie  die  Hexenkunst,  erlernt  werden;  die  Hauptsache  ist  dabei 
ein  bestimmtes  Runenwort,  ohne  Zweifel  oft  identisch  mit  den  als 
Runennamen  verwandten  Worten  wie  altnordisch  fd,  Besitz,  Tyr  Name 
des  Kriegsgottes.  Der  Spruch  wird  dann  feierlich  »geraunt«1):  das  ist  ein 
Carmen,  ein  feierlich  vorgetragener  Zauberspruch.  (»Beschwören«  heißt 
ursprünglich  »besummen«.)2)  Vielleicht  unterschied  man  Runen  von  ver- 
gänglicher und  solche  von  dauernder  Kraft3). 

Die  Rune  als  Zauberspruch  besteht  aus  zwei  Teilen :  einem  allgemeinen 
und  einem  speziellen,  durch  dessen  Hinzufügung  der  Zauber  erst  »perfekt< 
wird.  Ausführlich  ist  das  in  dem  Eddagedicht  Skirnismäl4)  beschrieben: 
der  Götterbote  Skirnir  hat  einen  Zauberzweig,  den  er  mit  feierlicher  Rede 
weiht;  dabei  schnitzt  er  in  ihn  ein  Zeichen  ein,  das  sich  auf  die  zu  be- 
zaubernde Gerd  bezieht,  und  wendet  damit  den  Spruch  gegen  sie.  Er 
kann  aber  den  Zauber  aufheben,  indem  er  die  auf  sie  bezügliche  nota 
wieder  wegschneidet5).  Das  eigentlich  Zauberkräftige  ist  dabei  die  Rune; 
aber  eine  Verbindung  von  Wort  und  Tat  —  Spruch  und  symbolischer 
Gebärde  —  ist  allem  Zauber  unentbehrlich.  —  Oder  der  Skalde  Egil 
Skallagrimsson  errichtet  gegen  den  König  Eirik  eine  »Neidstange«  und 
spricht  dazu  Zauberworte,  die  den  König  aus  seinem  Reich  treiben6): 
auch  hier  sind  die  Worte,  und  unter  ihnen  wieder  die  Rune  mit  der  An- 
wendung auf  Eirik,  die  Hauptsache,  die  Neidstange  ist  nur  das  Werk- 
zeug der  Übermittelung.  Oder  Thorleif  will  sich  an  dem  Jarl  Häkon 
rächen:  »er  kommt  verkleidet  in  seine  Halle  und  trägt  ein  Gedicht  vor,  das 
,das  Nebellied'  genannt  wird.  Infolgedessen  wird  es  in  der  Halle  dunkel, 
die  Waffen  rühren  sich  und  töten  viele  Leute,  der  Jarl  wird  krank;  Bart 
und  Haupthaar  fallen  aus.«  Man  braucht  das  gewiß  nicht  mit  Alexander 
Bugge7)  auf  irischen  Einfluß  zu  schieben:  es  ist  runischer  Wetterzauber. 
So  macht  Thorgerd  Hölgabrud8)  Hagel  —  und  eine  Rune  heißt  »Hagel 
so  ist  der  Gebetzauber  für  Regen  besonders  altertümlich9).  Und  die 
ägyptischen  und  hebräischen  Zauberer  vor  Pharao  10)  werden  es  nicht  anders 
gemacht  haben,  wenn  auch  nur  der  Stab  erwähnt  wird  und  weder  der 
Spruch  noch  die  symbolische  Handlung.  Dergleichen  ist  universaler  Aber- 
glaube, weder  bei  den  Germanen  spezifisch  noch  bei  den  Iren. 

*)  Vgl.  Golther  S.  629;  zu  griechisch  tgefw. 

2)  Kögel,  Oesch.  d.  d.  Lit.  1,  81. 

8)  Vgl.  Rig.  Str.  44  (anders  Heinzel-Detterz.  d.  St.). 

4)  Gering  Edda  S.  52f. 

5)  Str.  37. 

6)  Vgl.  Olrik,  Altnordisches  Leben,  S.  136;  Golther  S.  642. 
"')  Zs.  f.  d.  Alt.  51,  33. 

8)  Golther  S.  485. 

9)  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  439 f. 

10)  2.  Mos.  Kap.  7. 


§  14.    Zaubermenschen.  135 

Nur  eine  Abart  des  Runenzaubers x)  ist  der  Namenzauber2). 
Der  Namen  ist  die  individuelle  Rune  einer  Person,  er  drückt  ihr  Wesen 
aus,  was  durch  die  ausnahmslos  bedeutungsvollen  Eigennamen  erleichtert 
wird.  Jeder  Eigenname  ist  ein  Wunsch:  der  Sohn  soll  ein  Held  im 
Kampf  sein,  die  Tochter  Friedens-  und  Zauberkraft  besitzen;  erst  recht 
gilt  das  von  denen  der  Götter:  einer  soll  der  »gnädige  Herr«,  eine  andere 
»die  Spenderin  der  Fülle«  sein.  Hier  kann  also  z.  B.  der  Segen  oder 
die  Verwünschung  leicht  anknüpfen.  —  Vielleicht  hängt  auch  die  Rune 
der  Namengebung 3)  hiermit  zusammen4). 

Die  Rune  läßt  sich  verschenken  und  rauben5).  Ohne  ihren  Besitz 
sind  in  bestimmten  Fällen  selbst  die  Götter  ohnmächtig;  so  versteht  nach 
dem  Merseburger  Zauberspruch  nur  Wodan  das  Roß  zu  heilen,  weil  nur 
er  die  richtigen  Worte  besitzt. 

Schutz  vor  Runenzauber  verleiht  allgemein  die  Benennung  mit  -run 
(oder  soll  sie  Runenkraft  verleihen?).  Sie  wird  nur  bei  Mädchen  an- 
gewandt, da  nur  die  Frau  sanctum  quoddam  et  providum  aliquid 
besitzt6):  die  Tochter  Sigrun,  Hildrun,  Ortrun,  Friderun,  Runhild  schützt 
dann  wohl  das  ganze  Heim 7).  Spezieller  wirken  Gegenrunen ,  wie  wir 
solche  gegen  Hexerei8)  treffen9);  daher  können  je  nach  der  Art  der  An- 
wendung Runen  schaden  oder  helfen 10). 

Der  Runenzauber  bedarf  aber  der  Verbindung  einer  Handlung  mit 
einem  Spruch l x).  Dieser  kann  gesteigert  werden  zu  dem  Zauberlied12). 
Das  Wort,  feierlich  gesprochen,  macht  erst  das  Zeichen  lebendig,  fügt  das 
»Wort«  zum  »Werke«  18).  Aber  das  Zauberlied  unterscheidet  sich  von  dem 
Runenspruch  dadurch,   daß  der  Art  des  Vortrags,   der  Melodie  mit  ihrer 


1)  Vgl.  Brandl,  Altengl.  Lit.  S.  1129  allgemein. 

2)  Nyrop  Navnets  magt,  Mindre  afhandl.  udg.  af  det  phil.-hist.  samf.,  Kopen- 
hagen 1887,  S.  118 f.;  vgl.  Kahle,  Anz.  f.  d.  Alt.  29,  300. 

3)  Häv.  Str.  157. 

4)  Der  Namenzauber  ist  überall  verbreitet,  sehr  stark  z.  B.  bei  den  Hebräern : 
Zauber  mit  dem  wundertätigen  Namen  Gottes  (auf  einen  Zettel  geschrieben  und 
in  die  Gehirnschale  gelegt,  stattet  er  einen  Menschen  aus  Lehm  mit  dem  Schein 
des  Lebens  aus:  »Golem«);  Namenstausch,  um  den  Todesengel  zu  täuschen  usw. 

5)  Meine  Altgermanische  Poesie  S.  48. 

6)  Tac.  Germ.  Kap.  8. 

7)  Vgl.  Golther  S.  643. 

8)  Häv.  Str.  154. 

9)  Vgl.  Golther  S.  642. 
10)  Ebenda. 

xl)  Vgl.  Brandl,  Altengl.  Lit.,  S.  955 f. 

12)  Vgl.  Golther  S.  644,  Mogk  S.  404. 

13)  Häv.  Str.  141,  also  nicht  mit  Meyer  S.  379  aus  Ev.  Joh.  1,  1—3  abzu- 
leiten.   Vgl.  Müllenhoff  und  Liliencron,  Zur  Runenlehre. 


136  Drittes  Kapitel. 

symbolischen  Auf-  und  Abbewegung  eine  selbständige  zaubermäßige  Be- 
deutung zugeschrieben  wird.  Es  ist  also  hier  die  »Handlung«,  das  »Werk« 
in  den  Vortrag  des  Wortes  selbst  hineingetragen.  —  Hierfür  haben  wir 
feste  Termini:  galdr,  angelsächsisch  gealder,  althochdeutsch  galster, 
scheint  mehr  das  gesungene,  althochdeutsch  spell,  altnordisch  spjall1) 
das  rezitierte  Zauberlied  zu  bedeuten2).  —  Wenn  finnisch  runo  »Zauber- 
lied<   heißt3),  so  setzt  dies  wohl  eine  mittlere  Form  voraus. 

Statt  mit  der  Rune  (die  die  Seele  des  Dinges  selbst  gibt),  kann  der 
Spruch  oder  Gesang  mit  einer  symbolischen  Handlung  verbunden  werden, 
die  die  gewünschte  Besitzergreifung  u.  dgl.  darstellt.  Dies  ist  dann  der 
eigentliche  Zauberspruch,  bei  dem  nicht  mehr  das  eine  Zauberwort, 
auch  nicht  mehr  der  zauberkräftige  Vortrag,  sondern  die  symbolische,  von 
den  Worten  nur  verdeutlichte  Handlung  den  Hauptteil  des  Zaubers  aus- 
macht4). Der  Zauberspruch,  die  häufigste  Form  des  Redezaubers,  kann 
die  Rune  entbehren,  weil  er  sie  durch  eine  symbolische  Handlung  ersetzt. 
In  Skirn.5)  werden  die  Runenzeichen  »Wollust,  Wahnsinn,  Wut«  eingekerbt 
und  gesprochen:  das  ist  Runenzauber.  Statt  dessen  wäre  nun  eine  sym- 
bolische Handlung  denkbar,  die  durch  Gebärden  die  Wollust,  den  Wahn- 
sinn, die  Wut  darstellte  und  dies  durch  die  begleitenden  Worte  wiederum 
verdeutlichte:  das  wäre  dann  Spruchzauber.  Einer  der  ältesten  Zauber- 
sprüche lautet  z.  B.:  »Bein  fügt  sich  zu  Beine,  als  wenn  sie  geleimt  wären.« 
Dabei  fügt  der  Arzt  die  auseinander  gerissenen  Glieder  in  die  richtige 
Ordnung.  Für  unsere  Anschauung  ist  das  die  Hauptsache;  aber  der 
Primitive  denkt  nicht,  daß  eine  Störung  der  Ordnung  ohne  göttliche  Hilfe 
geheilt  werden  kann.  Er  tut  also  das  nur  scheinbar,  was  die  Heilgötter 
in  Wirklichkeit  tun  sollen,  und  verdeutlicht  dies  durch  die  Worte,  deren 
genau  berechnete  Anordnung  wieder  seine  Handlung  nachbildet.  Ich 
wenigstens  vermag  den  »sympathischen  Zauber«,  der  eine  so  ungeheure 
Ausdehnung  —  auch  noch  im  heutigen  Aberglauben 6)  —  in  allem  Zauber- 
wesen hat,  nur  so  zu  verstehen:  es  wird  den  Mächten,  die  allein  das 
Gewünschte  leisten  können,  vorgemacht,  was  sie  tun  sollen.  Ein  Bild 
des  Verhaßten  wird  durchbohrt  —  damit  sie  ihn  selbst  durchbohren. 
Später  freilich  geht  dies  Zwischenglied  verloren  und  man  meint  mit  dem 
Abbild  den  Gegenstand  selbst  zu  treffen7). 


*)  Edw.  Schröder,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  37,  241  f. 

2)  Ein  solches  in  der  Herraudsaga,  vgl.  M[ogk  S.  405. 

3)  Comparetti,  Kalewala,  Halle  1892,  S.  240 f. 

4)  Allgemeines  über  »Sympathetic  Magic«  z.  B.  Fräser  1    8 f. 
B)  Str.  37. 

«)  Wuttke  S.  185 f. 

7)  Solche  Zaubersprüche  besitzen  wir  schon  aus  indogermanischer  Zeit,  viel- 
leicht gar  aus  noch  früherer,  denn  sie  begegnen  zum  Teil  auch  schon  bei  den 


§  14.    Zaubermenschen.  137 

Hauptzweck  ist  das  Heilen  (d.  h.  das  Rückgängigmachen  dämonischer 
Verletzungen)  und  das  Schützen  (d.  h.  ihre  Verhinderung).  Die  typische 
Form  ist  die,  daß  ein  epischer  Bericht  vorangeht,  der  von  früherer  glück- 
licher Anwendung  der  Formel  erzählt  und  dadurch  den  vergangenen 
Moment  erneuert :  hierdurch  wird  der  damals  tätige  Gott  gleichsam  herbei- 
gezaubert, und  nun  folgt  in  seiner  Gegenwart  die  Vornahme  der  sym- 
bolischen Handlung  unter  Begleitung  der  symbolischen  Worte l).  Der  epische 
Bericht  dient  also  ursprünglich  nicht  bloß  zur  Beglaubigung,  sondern  un- 
mittelbar zur  Übertragung  der  göttlichen  Wunderkraft  auf  den  Sprecher, 
der  sich  als  Stellvertreter  des  Gottes  gibt. 

Der  Zauberspruch  setzt  unmittelbare  Anwendung  voraus;  daher  die 
Praepositionen  bei  den  betreffenden  Worten :  InMuv  incantare  btgalan 2). 
Er  wird  durch  seine  Nominalform  als  Werkzeug  bezeichnet:  Carmen  hat 
das  Suffix  für  selbsttätige  Werkzeuge  (wie  z.  B.  die  den  Teig  in  die  Höhe 
treibende  »Bärme«).  —  Man  muß  sehr  genau  sein:  nur  wer  den  Spruch 
Mola  conda ,  genau  gelernt  hatte,  konnte  ihn  heilkräftig  anwenden. 
Während  Rune  und  Zauberlied  gern  auch  schlimmen  Zwecken  dienen, 
wird  der  Zauberspruch  wenigstens  vorzugsweise  zur  »weißen  Magie«  ge- 
braucht. 

Wird  endlich  die  symbolische  Handlung  zur  Hauptsache,  der  be- 
gleitende Text  zur  Nebensache,  so  entsteht  die  Zauberhandlung  oder 
das,  was  man  im  engeren  Sinne  »Zauber«  nennt. 

Vorzugsweise  ist  das  allerdings  den  eigentlichen  Zauberern  reserviert; 
doch  kann  viel  davon  auch  der  Laie  erlernen  und  nachahmen.  Übrigens 
oind  auch  hier  die  Grenzen  flüssig.  Bei  Egil  ist  offensichtlich  der  Spruch 
noch  die  Hauptsache;  später  kann  das  Setzen  der  Schimpfstange  (nidstöng) 
dafür  gehalten  werden.  —  Nun  gibt  es  auch  Fälle,  wo  die  Wirkung 
durch  einen  weiten  Zeitraum  von  der  Handlung  getrennt  ist.  f?s  wird 
z.  B.  in  der  »Judenbuche«  von  Annette  v.  Droste  erzählt  ,  wie  in  einen 
Baum  eine  Verfluchung  gegen  einen  Mörder  eingeschnitten  wird:  »Wenn 
du  dich  diesem  Orte  nahest,   so  wird  es  dir  ergehen,   wie  du  mir  getan 


Assyrern  (vgl.  Goedeke,  Grundriß  z.  Gesch.  d.  d.  Lit.  §  10,  2;  Kuhn,  Ztschr. 
f.  vergl.  Sprachforschung  13,  49 f.,  113 f.;  Scherer,  Gesch.  d.  d.  Lit.  S.  15;  auch 
kKaegi,  Der  Rigveda,  Leipzig  1881,  Anm.  12,  Anm.  105  und  allgemein  Anm.  82, 
Anm.  95).  —  Ein  solcher  Spruch  auch  Adams  Gruß  an  Eva  1.  Mos.  2,  23:  »Bein 
von  meinem  Bein,  Fleisch  von  meinem  Fleisch.« 

*)  Treffliches  Beispiel  der  erste  Merseburger  Spruch,  Müllenhoff  und 
Scherer,  Denkmäler  IV,  1.  Beispiele  der  symbolischen  Handlung:  Fortwerfen  des 
Pfeils,  damit  der  Dämon  den  unsichtbaren  Pfeil  beseitigt,  den  die  Hexe  in  den 
Körper  geschossen  hat ;  oder  Loslösung  eines  Bandes,  damit  die  Walküren  einen 
gefesselten  Freund  befreien  u.  dgl.  m. 

2)  Golther  S.  628. 


138  Drittes  Kapitel. 

hast«1).  Dies  ist  kein  Runenzauber:  es  enthält  kein  Zauberwort;  kein 
Lied  oder  Spruch  trägt  den  Zauber,  sondern  die  Handlung  der  Einkerbens 
selbst.  Sobald  der  Mörder  dem  Baum  naht,  wird  dieser  sprechen  und 
rächen.  Das  ist  also  reiner  Zauber:  der  Baum  wird  mit  der  Kraft  des 
Rachegottes  ausgestattet.  — 

Jedem  zugänglich,  aber  nur  in  erhöhten  Momenten2)  sind  ferner 
solche  Zauberkünste,  die  schon  für  die  Vorbereitung  (nicht  bloß  für  die 
Vollendung)  göttlicher  oder  dämonischer  Unterstützung  bedürfen.  Sie 
haben  statt  an  absolut  bestimmten  Zeiten:  viele  Zaubergebräuche  haften 
an  gewissen  Nächten  (seltener  Tagen),  Konstellationen  usw.,  weil  die 
Dämonen  besonders  in  den  Zwölfnächten  zugegen  sind  oder  zu  be 
stimmten  Fristen  vorzugsweise  gnädig  scheinen3);  oder  an  relativ  be 
stimmten  Zeiten,  die  wir  schon  aufgeführt  haben  und  die  die  Ekstase 
begünstigen;  sie  haben  die  Kraft  von  Segen  und  Fluch,  ja  machen  diese 
erst  zauberkräftig4). 

Hauptfälle  der  unter  solchen  Umständen  allgemein  zugänglichen 
Zauberformen  sind  erstens  Segen  und  Fluch,  zweitens  Weissagung.  Doch 
geht  die  letztere  allmählich  fast  vollständig,  die  erstere  in  bestimmten 
Fällen  an  die  Priester  über. 

Segen  und  Fluch  sind  von  den  übrigen  »Zaubersprüchen«  da- 
durch unterschieden,  daß  sie  nicht  etwas  Einzelnes  bezwecken,  sonderr 
ganz  allgemein  jemanden  der  Gunst  oder  dem  Zorn  der  Götter  an 
empfehlen.  Oder  vielmehr:  für  unsere  heutige  Empfindung  handelt  es 
sich  nur  um  eine  Empfehlung  —  für  die  primitive  Anschauung  um  einer 
Zwang:  der  Gott  muß  erfüllen,  was  man  in  der  richtigen  Form  er- 
beten  hat5). 


*)  Vgl.  das  Motiv  der  Kraniche  des  Ibykus :  der  Täter  wird  —  geistig  odei 
wirklich  —  an  den  Tatort  gezwungen  und  dort  gleichsam  in  flagranti  bestraft 

2)  Vgl.  o.  S.  78. 

3)  Vgl.  Wuttke  S.  56f. :  »Die  zauberischen  Zeiten«.  —  Das  Gleiche  gilt  voi 
den  »zauberischen  Orten«,  vgl.  ebd.  S.  89:  Kreuzwege  §  108;  Schwelle,  Herd  usw 

4)  Vgl.  Golther  S.  628 f. 

B)  Den  stärksten  Ausdruck  findet  diese  Vorstellung  von  der  zwingender 
Macht  des  Gebets  bei  den  Indern:  die  Götter  zittern  vor  der  Gebetskraft  eine 
Frommen;  ja  die  Kraft  der  Andacht  wird  sogar  in  einem  eigenen  Gott,  Brhaspat 
(vgl.  Macdon  eil,  S.  104)  verkörpert.  Ebenso  bei  den  buddhistischen  Chinesen 
Wünsche,  vorausgesetzt,  daß  sie  ehrlich  gemeint  sind,  haben  wirkende  Kraft 
(de  Groot,  Kultur  der  Gegenwart,  a.  a.  O.  S.  189).  —  Aber  es  ist  bekannt,  daf 
noch  z.  B.  Martin  Luther  die  gleiche  Anschauung  hegte.  Als  er  1540  für  dei 
kranken  Melanchthon  betete:  »mußte  unser  Herrgott  herhalten,  denn  ich  war 
ihm  den  Sack  vor  die  Tür  und  rieb  ihm  die  Ohren  mit  allen  Verheißungen  de 
Gebets,  die  ich  aus  der  heiligen  Schrift  zu  erzählen  wußte,  so  daß  er  mich  an 
hören  mußte,  wenn  ich  anders  seinen  Verheißungen  trauen  sollte«.    (Vgl.  z.  B 


§  14.    Zaubermenschen.  139 

Segen  und  Fluch  sind  Zauberhandlungen,  insofern  ihre  Wirkung  auf 
höhere  Wesen  als  sicher  angenommen  wird ;  im  übrigen  tritt  das  Zauber- 
mäßige in  ihnen  so  stark  zurück,  daß  sie  in  abgeschwächter  Form  in  der 
Religion  der  Gegenwart  fortdauern.  Freilich  eben  heute  nur  noch  als 
Anrufungen  der  Himmlischen,  während  in  der  ältesten  Zeit  auch  hier 
erstens  eine  das  Wort  stützende  symbolische  Handlung,  zweitens  eine  be- 
stimmte symbolische  Wortfolge  oder  die  Anwendung  eines  bestimmten 
»starken«  Wortes  erforderlich  sind1). 

In  dieser  Gefahr,  durch  einen  unvorsichtigen  Ausdruck  Gutes  in 
I  Böses  zu  verwandeln,  liegt  wohl  auch  eine  der  verbreitetsten  und  hart- 
näckigsten Formen  des  Aberglaubens  begründet:  die  Vorstellung  vom 
»Berufen«2).  Indem  man  den  einen  Gott  zu  unbedingt  lobt,  verletzt 
man  andere  (Motiv  der  Hippolytos  -  Legende) ;  man  muß  deshalb  jedem 
lobenden  Wort  eine  Verwahrung  beifügen8).  Die  rationalistische  Vor- 
stellung vom  Neid  der  Götter  (Herodot)  bringt  gewiß  erst  eine  jüngere 
Spekulation;  ursprünglich  zürnten  Apollon  und  Artemis  den  Niobiden 
schwerlich,  weil  Niobe  sich  der  Leto  gegenüber  überhoben  hatte,  sondern 
weil  sie  sich  ohne  Verwahrung  gerühmt  hatte4). 


G.  Freytag,  Bilder  aus  der  Vergangenheit,  Werke  19,  131).  Im  Grunde  hegt 
wohl  jeder,  dessen  Gebet  unerfüllt  bleibt,  die  heimliche  Vorstellung,  er  habe 
nicht  richtig  gebetet  (vgl.  auch  James,  Religious  experience,  S.  466 f.;  über  die 
Wichtigkeit  des  richtigen  Betens  de  Maistre,  Soirees  de  St.  Petersbourg,  N.  VI). 

x)  Symbolische  Handlung:  Fast  überall  wird  eine  bestimmte  Haltung  beim 
Gebet  vorgeschrieben;  dazu  kommen  bestimmte  Riten  für  jede  Anrufung,  z.  B. 
bei  den  Ägyptern  (Erman,  Ägyptische  Religion,  S.  156),  bei  den  Indern  (H  ille- 
brandt  S.  171  f.),  den  Römern  (Wissowa,  S.  332,  6).  Die  unmittelbare  Zauber- 
gewalt der  symbolischen  Handlung  beim  Segen  ausdrücklich  bezeugt  2.  Mose  17,  11 : 
»Und  dieweil  Mose  seine  Hand  empor  hielt,  siegte  Israel;  wenn  er  aber  seine 
Hand  niederließ,  siegte  Amalek.«  —  Das  starke  Wort:  beim  germanischen  Segen 
scheint  das  Wort  »heil«  Kernwort  zu  sein  (meine  Altgermanische  Poesie  S.  384). 
Sonst  ist  die  Reihenfolge  die  Hauptsache;  so  bei  den  lateinischen  indigitamenta 
(Wissowa  S.  333).  »Das  Wort  kann  in  feierlicher  Fassung  zu  Fluch  oder  Segen 
werden«  (Hillebrandt  S.  169):  ein  berühmtes  Beispiel  für  die  Wandlung  der 
Fluch  —  Segen  Bileams  (4.  Mose,  Kap.  23),  den  freilich  der  biblische  Geschichts- 
bericht rationalisierend  in  eine  Änderung  des  gewünschten  Textes  verwandelt, 
während  ursprünglich  die  Verfluchung  wohl  gegen  den  Willen  Sprechenden  durch 
die  Art  des  Vortrags  zum  Segen  wurde. 

2)  Vgl.  Wuttke,  Register  s.  v. 

3)  Wuttke,  S.  282. 

4)  Die  alte  Vorstellung  Häv.  Str.  144:  »Im  Unmaß  opfern  ist  ärger  als  gar 
nicht  beten,  Gabe  schielt  stets  nach  Entgelt«.  Übrigens  ist  diese  Vorstellung  so 
fest  in  der  menschlichen  Ängstlichkeit  begründet,  daß  noch  eben  Otto  Ludwigs 
Tochter  ihr  auf  Grund  ihrer  Verbreitung  einen  transzendenten  Wert  zuerkannt 
wissen  wollte  (*quod  semper,  quod  ubique,  quod  ab  omnibus  ...«):  Ludwig 
Eccard,  Erlebte  Gedanken,  Dresden  1909  Pierson,  S.  15. 


140  Drittes  Kapitel. 

Beispiele  von  Segen  und  Fluch  sind  in  der  altgermanischen  Literatur 
mehrfach  und  zum  Teil  sehr  ausführlich  erhalten  x).  Hauptfälle  der  wirk- 
samen Anwendung  sind:  zunächst  privater  Anwendung  in  Verfluchung 
oder  Segenserteilung  durch  den  Geschädigten  oder  seine  Gönner;  entweder 
bei  besonderer  Gelegenheit  (Segen  beim  Abschied)  oder,  in  der  Regel,  bei 
bestimmendem  Anlaß  und  unter  dessen  unmittelbarer  Wirkung  (so  die 
feierliche  Verfluchung  Hedins)2)  —  im  Typus  mit  dem  großen  Kirchen- 
bann noch  heute  übereinstimmend3). 

Ist  zu  Fluch  und  Segen  so  jeder  berechtigt  (und  daher  auch  fähig), 
so  bildet  sich  allmählich  doch  die  Anschauung  heraus,  daß  bestimmte 
Persönlichkeiten  hierzu  besondere  Kraft  besitzen4).  Sobald  ein  Priester- 
stand entsteht,  kann  der  Priester  auch  für  den  einzelnen  diese  Akte  über- 
nehmen 5).  Endlich  wird  der  Priester,  als  zeitweiliger  Vertreter  der  Götter, 
offiziell  damit  betraut,  Segen  über  die  eigene,  Fluch  über  die  feind- 
liche Volksgemeinde  zu  sprechen6). 

Ich  behandle  Segen  und  Fluch  an  dieser  Stelle,  weil  sie  mir  dem 
Zauber  näher  zu  stehen  scheinen  als  dem  Kultus;  eine  Zwischenstellung 
ist  nicht  abzuleugnen.  Aber  während  Kulthandlungen  wirklich  nur  eine  An- 
rufung des  Gottes  bedeuten,  wird  hier,  wie  bei  anderen  Zauberhandlungen, 
das  unmittelbare  Erzwingen  der  Wirkung  vorausgesetzt.  Wie  beim  Zauber, 
gibt  es  auch  hier  besonders  geeignete  Persönlichkeiten,  symbolische  Hand- 
lungen, endlich  die  charakteristische  Dämonisierung  der  Dinge. 
Wie  wir  sahen,  daß  es  für  die  Hexen  charakteristisch  ist,  daß  sie  unbelebte 
Gegenstände  in  Dienst  nehmen,  so  fordert  Sigrun7),  daß  den  Hedin  die 
Eide,  die  er  brach,  beißen  sollen,  und  daß  das  nicht  Metapher  ist,  zeigen 
Analogien  wie  5.  Mose  28,  45:  »Und  werden  alle  Flüche  über  dich 
kommen  und  dich  verfolgen  und  treffen,  bis  du  vertilget  werdest«  Ebenso 
gehen  im  Weingartner  Reisesegen8)  von  jedem  segnenden  Finger  elf 
Engel  aus  9). 


*)  Meine  Altgermanische  Poesie,  S.  48 f. 

2)  Helg.  Hund.  Str.  29;  Gering,  Edda,  S.  178. 

3)  Analoge  Fälle  sind  in  der  Bibel  die  Verfluchung  Kains,  der  Segen  an 
Jakob,  die  Verfluchung  des  Feigenbaums.  —  Noch  Walther  v.  d.  Vogelweide  in 
seinem  Dank  an  Ludwig  (18,  15)  bewahrt  formelhafte  Wendungen  feierlicher 
Segenssprüche. 

4)  Klassisches  Beispiel  wieder  Bileam,  der  4.  Mose,  Kap.  22  zur  Verfluchung 
der  Israeliten  eingeladen  wird.  —  Vgl.  B.  Du  hm,  Die  Gottgeweihten,  Tübingen 
1905,  S.  8. 

fi)  Vgl.  Meyer  S.  303.  «)  Meyer  S.  31-33;  58. 

7)  Helg.  Hund.  2,  29. 

8)  Müllenhoff  und  Scherer,  Denkmäler  IV,  8. 

9)  Die  Erinnyen,  vgl.  Preller  1,  835,  erscheinen  als  Verkörperungen  dieser 
verfolgenden  Flüche,  gerade  wie  die  Litai  (ebd.  534)  die  Gebete  verkörpern; 
ebenso   der  lOQxoq   selbst   (vgl.  R.  Hirzel,   Der  Eid,   Leipzig   1901);   und   das 


§  14.   Zaubermenschen.  141 

Dem  Fluch  und  Segen  sind  durch  ihren  Charakter  von  Anrufung 
und  Beschwörung  nach  verwandt  Eid  und  Gelübde1),  die  wir  aber  ihres 
feierlicheren  Charakters  wegen  bei  den  Kulthandlungen  besprechen.  — 

Auch  die  Weissagung  ist  ursprünglich  eine  an  relativ  bestimmte 
Zeiten  geknüpfte  Form  des  Zaubers  —  wenn  sie  auch  später  gleichfalls, 
nachdem  die  Priester  sich  ihrer  bemächtigt  hatten,  in  den  regelmäßigen 
Kultus  aufgenommen  wurde2).  Schon  Nietzsche  hat  mit  Recht  betont, 
daß  Prophezeien  nichts  anderes  ist  als  ein  Binden  und  Festlegen  der  Zu- 
kunft, und  daß  es  in  alten  Zeiten  auch  nicht  anders  aufgefaßt  wurde3). 
Die  Weissagung  ist  also  gewissermaßen  eine  in  die  Zukunft  verschobene 
Form   von  Segen  oder  Fluch. 

Die  ursprüngliche  Vorstellung  des  Weissagens  werden  wir  uns  ganz 
körperlich  vorstellen  müssen.  Der  Mensch  macht  die  Erfahrung,  daß  er 
etwas  Herannahendes  vorher  wahrnimmt,  z.  B.  aus  dem  Staub  auf  der 
'Straße  heransprengende  Reiter;  oder  daß  von  einem  Wartturm  her  schon 
Dinge  gesehen  werden  können,  die  man  sonst  erst  später  entdecken  würde. 
Diese  Erfahrung  wird  gesteigert:  es  hat  jemand  so  scharfe  Augen,  daß 
er  die  Feinde  schon  sieht,  während  sie  eben  erst  aufbrechen  und  erst  in 
Tagen  oder  Wochen  mit  gewöhnlichen  Augen  wahrgenommen  werden 
können;  dann  besitzt  er  eben  das  »zweite  Gesicht«,  die  Gabe  des  Voraus- 
sehens. Sie  gilt  unter  den  schottischen  und  westfälischen  Bauern  —  wo 
diese  Leute  Kieker  heißen  —  als  weit  verbreitet4).  Mit  Recht  wird  diese 
Gabe,  mit  der  Verborgenes  zu  erkennen  (z.  B.  versteckte  Schätze),  zu- 
sammengestellt 5). 

Zunächst  also  erscheint  das  Voraussehen  nur  als  eine  gesteigerte 
körperliche  Funktion  (und  das  Voraussagen  als  der  Bericht  darüber).  Nun 
soll  erstens  dies  Voraussehen  erzwungen  werden  und  zwar  auf  unerhörte 
Entfernungen  in  Raum  und  Zeit ;  dazu  ist  ein  Anteil  an  der  prophetischen 
Gabe  der  Dämonen  (besonders  der  Geister  des  fließenden  Wassers;  denn 
dies  versinnbildlicht  den  ununterbrochenen  Fluß  der  Dinge6)  erforderlich. 

häufige  Sagenmotiv,  daß  ein  böser  Fürst,  wie  Kambyses  oder  Geiröd  in  den 
Grimnismäl  in  sein  eigenes  Schwert  stürzt,  ist  vielleicht  nur  Umsetzung  einer 
Verfluchung  wie  Helg.  Hund.  2,  31  —  »nicht  schneide  das  Schwert,  das  du 
schwingst  im  Streite,  es  singe  denn,  Mörder!  dir  selber  ums  Haupt!«  —  in  epische 
Wirklichkeit  (vgl.  Saxo  über  Hading,  S.  30,  Hermann,  S.  37). 

*)  Vgl.  z.  B.  Vkv.  Str.  33. 

2)  H.  Gering,  Über  Weissagung  und  Zauber,  Kiel  1902. 

■)  »Die  fröhliche  Wissenschaft« ,  S.  106 ;  vgl.  meine  Altgermanische  Poesie,  S.  50. 

4)  Vgl.  Wuttke,  S.  321  f.;  über  das  Wahrsagen  überhaupt  ebd.  S.  193 f. 

5)  Wuttke,  a.  a.  O. ;  »Fernsehen  im  Raum  und  Vorschauen  in  die  Zeit«, 
G  ö  r  r  e  s,  Christliche  Mystik  2, 129  f . ;  J  o  1  y,  Psychologie  des  Saints,  Paris  1902,  S.  77.  — 
Eine  prachtvolle  Veranschaulichung  des  sinnlichen  Voraussehens  in  C.  F.  Meyers 
Gedicht  »Der  Mönch  von  San  Bonifacio«;  im  Märchen:  Brüder  Grimm  1,  375. 

6)  Vgl.  Mogk,  S.  4001;  Meyer,  S.  306f.,  327;  Golther,  S.  646 f. 


142  Drittes  Kapitel. 

Und  zweitens  soll  das  Erschaute  festgelegt  werden,  so  daß  auch  kein 
Gott  es  mehr  ändern  kann  —  und  deshalb  muß  auch  die  Verkündigung 
in  feierlicher  Weise  erfolgen. 

Man  ersieht  aus  dem  allen,  daß  die  Prophetie  ein  schwierigerer  und 
zaubermäßigerer  Akt  ist  als  Segen  und  Fluch.  Besonders  gern  überläßt| 
man  sie  denn  auch  wirklich  den  Zauberern  x).  Auch  überwiegt  hier  die 
öffentliche,  sozusagen  staatliche  Anwendnng  von  allem  Anfang  an  be- 
deutend. —  Nötig  aber  ist  beides  nicht.  Es  gibt  auch  private  Befragung 
der  Zukunft,  und  sie  steht  jedem  offen,  freilich  nur  unter  bestimmten  Be 
dingungen.  Eine  völlige  Loslösung  von  aller  zeitlichen  Gebundenheit,  wie 
bei  der  Astrologie  des  16.  und  17.  Jahrhunderts,  ist  noch  nicht  denkbar. 

Die  private  Anwendung  ist  für  die  ältere  Zeit  nur  aus  dem  Volksglauben] 
belegt2).     Aber  schon  früh  wird  man  aus  dem  Rauhreif  oder  der  Stern 
zahl   die  Ernte  prophezeit  haben,   und  gewiß  sehr  alt  ist  der  Nacktheits 
zauber:   vom  Kreuzweg3)   oder   in    der  Stube4)  sieht  man  in  bestimmten 
Nächten    die  Zukunft,   wenn   man   sich   völlig  entkleidet   und   bestimmte 
symbolische  Handlungen   vornimmt5).     Die  Bedeutung   der  Nacktheit   is 
trotz  mancher  Versuche  nicht  völlig  aufgeklärt. 

Eine    Mittelstufe    zwischen    staatlicher    und    private 
Prophetie  ist  das  Befragen  eines  offiziellen  Wahrsagers,  eines  Zauberers 
bei  den  Skandinaviern  gern  eines  zauberkundigen  Finnen6). 

Bei  öffentlicher  Anwendung7)  befragt  der  Priester  für  das  Volk 
die  Götter  und  zwar  durch 

a)  die  Runen,   d.  h.  durch  ein  allgemein  zugängliches  Zaubermittel 
zu   dessen  richtiger  Anwendung  und  Auslegung  man  aber  der  doppelten 
Weihe  der  Person  (Priester)  und  des  Moments  bedarf8). 

b)  Loosen  auf  Ja  oder  Nein?  auf  bestimmte  Personen9). 

c)  Auspicia 10),  d.  h.  Befragung  von  Dingen,  auf  deren  Gestaltung 
der  Mensch  gar  keinen  Einfluß  hat.  Diese  Form  der  Weissagung  beruht 
ursprünglich  wohl  auf  der  Geisterbeschwörung  »):  die  (selbst  wahrsagenden) 

x)  Vgl.  z.  B.  Meyer  S.  42  306  f. 
a)  Vgl.  Wuttke  S.  329 f. 

3)  Meyer  S.  327,  vgl.  308. 

4)  Wuttke  S.  350. 

5)  Vgl.  Weinhold,  Znm  altgerm.  Ritus. 

6)  Golther  S.  306. 

7)  Mogk  S.  400. 

8)  Über  die  Form  der  Befragung  vgl.  Müllenhoff  und  Liliencron,  Zur 

Kunenlehre;  meine  Altgermanische  Poesie,  S.  494 f.;  Mogk,  S.  401. 

")  Mogk  S.  176;  vgl.  z.  B.  bei  den  Chinesen:  de  Groot, '  Kultur  der 
Gegenwart  III  1,  176. 

,0)  Tac.  Germ.,  Kap.  10:  auspicia  sortesque  ut  qui  maxime  observant. 
»)  Vgl.  Golther  S.  65  Anm. 


§  14.   Zaubermenschen.  143 

Geister  werden  veranlaßt,  sich  zu  äußern.  Dies  tun  sie  aber  nur  in  feier- 
lichen Momenten,  nach  Anrufung,  die  z.  B.  in  der  Handlung  des  Opfers 
an  sich  liegt,  so  daß  die  Befragung  von  Opfertieren  (durch  Deutung  der 
Eingeweide:  haruspictn1)  möglich  ist.  Sie  geschieht  »nach  einem 
komplizierten  System  vielfach  sich  auch  kreuzender  Lehrsätze  und  Regeln« 
und  kann  als  die  frühest  ausgebildete  wissenschaftliche  Technik  bezeichnet 
werden. 

Bei  den  Germanen  scheinen  unter  den  vielerlei  möglichen  Arten  der 
auspicia  die  akustischen  über  die  optischen  überwogen  zu  haben.  Arten 
der  Auspicien  sind  gerichtet  auf: 

a)  das  Wiehern  heiliger  Rosse  (wie  bei  den  Persern):  wenn  sie 
schnauben  und  wiehern,  spricht  der  Gott  aus  ihnen  2), 

b)  den  Flug  der  Vögel,  wohl  besonders  der  heiligen  Raben  (sie  fliegen 
etwa  auf  die  Beute  zu3), 

c)  Richtung  und  Geräusch  des  Windes, 

d)  den  Klang  des  barditus4):  sunt  Ulis  haec  quoque  carmina 
quorum  relatu,  quem  barditum  vocant,  accendunt  animos  futuraeque 
pugnae  fortunam  ipso  cantu  angurantur  terrent  enim  trepidantve 
prout  sonuit  acies5).  Der  angerufene  Kriegsgott  spricht  aus  dem 
Widerhall6), 

e)  die  Träume:   die  Seele   im   freien  Zustand  gewinnt  Geisteskraft7). 
Durchaus   aber  sind  all   diese  Weissagungen   an   den    »pathetischen 

Moment«  gebunden.  Er  kann  sich  von  selbst  einstellen,  durch  die  Er- 
regung vor  der  Schlacht,  die  Feststimmung,  den  nahenden  Tod;  oder  er 
wird  vorbereitet  durch  allerlei  Mittel  des  Rausches  usw.8). 


J)  Vgl.  Wissowa,  S.  470f. 

2)  Tac.  Germ.,  Kap.  10:  proprium  gentis  equorum  quoque  praesagid  ac 
monitus  experiri.  Solche  heiligen  Rosse  werden  in  Drontheim  für  Frey  gezüchtet. 
Mogk,  S.  402. 

3)  Vgl.  Tac:  avium  voces  volatusque  interrogare ;  Indic.  superstit.  13;  Zeitschr. 
f.  d.  Phil.  16,  186.  191.  —  Vögelsprache  Fäfnismäl  Str.  32  f.  und  im  Märchen.  — 
Meyer,  S.  306. 

4)  Tac.  Germ.,  Kap.  3. 

5)  Trotz  der  letzten  Auslegung  von  Brückner,  Festschrift  zur  Baseler 
Philologen- Versammlung  1907,  S.  65  f.,  bleibe  ich  bei  der  alten  Deutung  «Schild- 
gesang*; vgl.  Häv.  Str.  155:  »ich  raun'  in  die  Schilde«;  Rambaud,  Geschichte 
Rußlands,  Berlin  1887,  S.  44. 

6)  Psychologische  Grundlage  in  der  Stimmung  des  Heeres.  Der  blinde 
Harald  erkennt  die  Niederlage  aus  dem  traurigen  Gemurmel  der  Seinigen  (G  ol  t  h  e  r, 
S.  331).  —  Zu  Thor  bringt  den  barditus  in  Beziehungen  Mogk,  Sammlung 
Göschen,  S.  61. 

7)  Golther,  S.  659. 

8)  Vgl.  o.  S.  78.  Über  Wahrsagerei  wie  über  Zauber  enthalten  alle  folklo- 
ristischen und  mythologischen  Werke  ein  unerschöpfliches  Material,  das  aber  doch 


144  Drittes  Kapitel. 

2.  Aber  neben  den  allgemein  zugänglichen  Zaubermitteln  gibt  es 
Zaubermittel,  die  nur  Einzelnen  zugänglich  sind.  Diese  Einzelnen  sind 
Priester  oder  Zauberer. 

Die  Priester  sind  durch  ihr  Amt,  die  Zauberer  durch  persönliche 
Begabung  oder  Erwerbung  im  Besitz  übernatürlicher  Kräfte,  weil  sie  Anteil 
an  der  Macht  der  Götter  oder  Dämonen  empfangen  haben. 

Bei  dem  Priester  ruht  die  Kraft  in  der  ein  für  alle  Mal  vollzogenen 
Weihe ;  sie  bezieht  sich  zunächst  nur  auf  einzelne  Funktionen,  greift  dann 
immer  weiter,  bis  schließlich  die  Lamas  leibhafte  Fetische  werden1).  — 
Der  Zauberer  empfängt  entweder  ebenfalls  die  Weihe,  nämlich  indem  er 
von  einem  anderen  eingeführt  wird  (»apostolische  Sukzession« :  dieser  kirch- 
lichen Lehre  liegt  noch  die  Vorstellung  von  der  Unersetzbarkeit  der  un- 
mittelbaren Übertragung  zugrunde),  oder  er  erwirbt  sie  selbst  (wie  sein 
Schutzgott  Odin 2).  Er  steht  in  der  Mitte  zwischen  bösen  Zaubermenschen 
(Werwolf,  Hexe)  und  Priestern  als  Vertretern  der  weißen  Magie:  er  kann 
seinen  Zauber  zum  Guten  und  zum  Bösen  verwenden. 

Die  Priester  also  beziehen  ihre  Zauberkraft  aus  dem  Kultus  und  sind 
deshalb  an  anderer  Stelle  zu  besprechen.  Der  Zauberer  aber  ist  eine 
Hauptfigur  der  niederen  Mythologie3). 

Über  die  ganze  Welt  ist  die  Vorstellung  verbreitet,  daß  gewisse  (meist 
männliche,  doch  gerade  im  germanischen  Norden  oft  auch  weibliche) 
Persönlichkeiten  durch  ihre  besonderen  Beziehungen  zu  den  Dämonen  auf 
diese  einen  (gewöhnlichen  Sterblichen  versagten)  Zwang  auszuüben  ver- 
mögen. Man  nennt  sie  »Medizinmänner«  (weil  sie  besonders  auch  zur 
Heilung  von  Krankheiten  berufen  werden),  Zauberer,  vor  allem  mit  einem 
von  sibirischen  Urvölkern  stammenden  Terminus  »Schamanen«4). 

Die  Vorstellung  hat  mancherlei  Wurzeln  in  Erfahrung  und  Psychologie: 
ekstatische,  auch  kranke  Personen  üben  auf  bestimmte  Kranke  einen 
»dämonischen«  Einfluß  aus5);  deshalb  stellt  der  altnordische  Ausdruck 
trolldom  für  Zauberei  den  (gefährlichen)  Zauberer  mit  den  Unholden 
auf   eine  Stufe6).     Dazu   kommen   zufällige  Erfolge,   vom  Eigennutz  aus- 


fast  immer  nur  die  überall  gleichen  Hauptlinien  bestätigt.  Ich  verweise  hier  nur 
des  Beispiels  wegen  für  Vorzeichen  auf  Hillebrandt,  S.  183,  und  allgemein 
auf  H.  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur,  S.  590f.  —  Zeus  wie  Odin  Schutzherr 
der  Mantik:  Preller  1,  142. 

l)  Vgl.  Frazer  1,  42f. 

'-)  Häv.  Str.  138  f. 

*)  Allgemein  vgl.  Edv.  Lehmann,  Kultur  der  Gegenwart,  S.  lOf.  und  von 
der  dort  zitierten  Literatur  besonders  H.  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur. 
S.  595  f. 

*)  Vgl.  Edv.  Lehmann  a.  a.  O.  S.  15. 

5)  Björnson,  Über  unsere  Kraft. 

6)  Golther  S.  648. 


§  7.    Die  Quellen.  65 

für  sein  Alter  mehr  auszusagen,  als  seine  Zugehörigkeit  zu  einer  bestimmten 
Schicht  von  Überlieferungen1). 

Im  übrigen  müssen  wir  für  Auffassungen  und  Darstellungen  der  ger- 
manischen Mythologie  auf  unser  Schlußkapitel  verweisen.  Wir  selbst 
stellen  uns  etwa  auf  den  Standpunkt  eines  aufgeklärten  Heiden,  der  sich 
(wie  der  König  in  der  Prosa-Edda)  die  Eigenart  der  allgemeinen  Mytho- 
logie von  einem  Priester  erklären  läßt  —  für  den  wir  freilich  moderne 
Termini  voraussetzen  müssen! 


J)  Nachstehend  eine  kurze  Übersicht  der  wichtigsten  heute  noch  brauchbaren 
Darstellungen.  Grundlegend  und  unentbehrlich  bleibt  J.  Grimm,  Deutsche 
Mythologie.  Von  neueren  Darstellungen  scheint  mir  die  vorzüglichste  die  von 
Mogk  in  Pauls  Grundriß  der  germ.  Phil.,  1.  Aufl.  1,  982f.;  2.  Aufl.  1,  230f. 
Die  beiden  Bücher  von  E.  H.  Meyer,  Germanische  Mythologie,  Berlin  1891  (Rec. 
Mogk,  Indogermanische  Forschungen,  Anzeiger  3,  22)  und  besonders  Mythologie 
der  Germanen,  Straßburg  1903,  sind  wertvoll  namentlich  in  der  Darstellung  der 
niederen  Mythologie,  aber  wegen  ihres  einseitigen  Standpunktes  (von  dem  aus 
der  gelehrte  Verfasser  überall  christliche  und  gelehrte  Einflüsse  wittert)  nur  mit 
Vorsicht  zu  bemerken.  Diesen  Standpunkt  teilt  die  geschickte  Materialsammlung 
von  W.  Golther,  Handbuch  der  germanischen  Mythologie,  Leipzig  1895  (Rec. 
R.  M.  Meyer,  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volkskunde  1896,  S.  87 f.).  Oberflächlich  ist 
seine  populäre  Schilderung  Religion  und  Mythus  der  Germanen,  Leipzig  1909.  — 
Lehrreich  durch  den  religionsvergleichenden  Standpunkt  Chantepie  de  la 
Saussaye,  Religion  of  the  Teutons  (Handbooks  of  the  History  of  Religion  III), 
Boston  1902;  in  kürzerer  Form  holländisch  erschienen:  Geschiedenis  van  den  Gods- 
dienst  der  Germanen,  Haarlem  1900.  —  Neue  Gesichtspunkte  bringt  Fr.  v.  d.  Ley  e  n, 
Deutsches  Sagenbuch  I,  Leipzig  1909  (Rec.  A.  Brandl,  Arch.  f.  n.  Spr.  121,  467).  — 
Von  den  kürzeren  populären  Darstellungen  scheint  mir  nur  die  von  Mogk  (in 
?der  »Sammlung  Göschen«),  obwohl  zu  »folkloristisch«  gestimmt,  empfehlenswert. 
Die  nordische  Mythologie  allein  stellt  A.  W.  Craigie,  The  Religion  of  ancien 
the  Scandinavia,  London  1906,  dar.  Eine  historische  Entwicklungsgeschichte  der 
germanischen  Mythologie  sucht  außer  Chantepie  de  la  Saussaye  und 
v.  d.  Leyen  zu  geben  Noreen,  Spridda  Studier,  Stockholm  o.  J.,  1,  19 f. ;  vgl. 
auch  Symons,  Ontwikkelingsgang  der  Germaansche  Mythologie,  Groningen  1892. 


Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte. 


Drittes  Kapitel. 

Niedere  Mythologie. 

Die  niedere  Mythologie  reicht  nach  unseren  Ausführungen  bis  zu  den 
Anfängen  des  Götterglaubens.  Ihre  wichtigsten  Quellen  liegen  in  dem 
vorsichtig  auszudeutenden  »Aberglauben«  und  den  damit  zusammen- 
hängenden Sitten  und  Gebräuchen,  die  sich  (freilich  überwiegend  ohne 
Erinnerung  an  ihre  ursprüngliche  Bedeutung)  oft  merkwürdig  treu  bis  in 
die  neuere  Zeit,  wenigstens  bis  zu  der  Aufklärungspolizei  des  aufgeklärten 
Despotismus,  erhalten  haben.  Daneben  hat  die  Erschließung  aus  der 
Analogie  gerade  hier  kräftig  mitzuarbeiten,  da  die  primitiven  Völker  der 
Gegenwart  (»Naturvölker«)  sich  zumeist  noch  auf  der  Stufe  der  niederen 
Mythologie  (besonders  des  Animismus)  befinden  und  (s.  o.)  auch  die  Indo- 
germanen  vor  der  Völkertrennung  dort  gestanden  zu  haben  scheinen. 

§  8.    Die  untersten  Stufen. 

1.    »Augenblicksgötter«    sind   kaum   nachzuweisen.     Vielleicht 
kann  man  die  Erzählung  von  dem  Isländer  Thorolf  hier  anziehen.    Dieser!} 
Verehrer  Thors  wanderte  aus  Norwegen  aus  und  brach  dabei  einen  Thors-1 
tempel  ab;   den  Pfeiler,  in  den  das  Bild  des  Gottes  geschnitzt  war,  war! 
er  voraus  in  die  See,  und  wo  dieser  ans  Land  stieß,  baute  er  sich  an  — 
die  gleiche  Form  des  Orakels  wie  oft  in  Kirchen-  und  Klostergründungs 
sagen.    Dort  stand  ein  Vorgebirg  und  auf  ihm  ein  Berg;    »dem  wandt« 
Thorolf  so  große  Verehrung  zu,  daß  niemand  ihn  ungewaschen  anseher 
durfte,   und   weder  Tiere   noch  Menschen   sollten   auf  dem  Berge  getöte 
werden«1).    Wahrscheinlich  bedeutet  das  nur,  daß  der  Berg  »tabu«  wurde 
eine  heilige  Stätte,  durch  Thor  geweiht;  denkbar  wäre  aber  auch,  daß  e: 
als  Haupt  des  Vorgebirges,  das  die  Auswanderer  aufnahm,  selbst  für  göttlicl 
erachtet  worden  wäre:   dahin  deutet  das  Verbot,   ihn  ohne  Reinigung  zi 
betrachten  (gleichsam  mit  den  Augen  zu  »betreten«)2). 

')  Golther  S.  122,  249. 

-)  Über  Brynhilds  »Anrufung  von  Tag  und  Nacht«  (Sgdr.  Str.  3)  vgl.  u. 


§  8.    Die  untersten  Stufen.  67 

2.  »Fetischismus«  ist  natürlich  viel  stärker  vertreten,  schon  wegen 
der  größeren  Festigkeit  der  Oberlieferung. 

Albrecht  von  Halberstadt  hat  —  freilich  nicht  aus  wirklicher 
Kenntnis !  —  den  Fetischismus  und  Animismus  seiner  Vorfahren  anmutig 
geschildert: 

holze  und  steine 

ir  oppher  sie  brachten  . .  . 

sie  wären  unversunnen 

und  geloubten  an  die  brunnen 

und  an  die  boume  in  dem  walde1). 

Auch  die  Wissenschaft  hat  auf  diese  Fortdauer  des  Fetischismus  sehr 
früh  geachtet.  Rühs2)  sagt:  »Es  finden  sich  die  unzweideutigsten  Spuren, 
daß  ungeachtet  man  bereits  Hauptgötter  und  Nationaltempel  hatte,  manche 
Individuen  noch  ihre  besonderen  Fetische  verehrten;  so  opferte  z.  B.  ein 
norwegischer  Stammkönig  Rogwald  einer  Kuh,  ein  Isländer  Brandr  seinem 
Roß  Freyfor  .  .  .« 

Die  ausführliche  Schilderung  der  Einsetzung  eines  Fetisches  sehe  ich 
(gegen  Heusler)  in  der  Erzählung  vom  Völsi3). 

Heusler4)  möchte  nur  an  einen  alten  Ritus  glauben,  bei  dem  der 
Phallus  als  Opfergabe  herumgereicht  wurde;  der  christliche  Bericht- 
erstatter erst  habe  daraus  einen  Fetisch  gemacht.  Ist  aber  etwas,  was 
täglich  umhergereicht  wird,  eine  Opfergabe?  Mir  scheint  alles  klar, 
wenn  die  Bauern  das  —  etwa  besonders  starke  —  Glied  zum  Fetisch 
machen,  es  bekleiden  und  benennen  (mit  dem  unverständlichen  Namen 
»Mörnir«)   und   ihm   jeden   Abend   eine  Strophe  als  symbolische  Opfer- 


J)  Prolog  der  Metamorphosen,  vgl.  Edw.  Schröder,  Gott.  Ges.  d.  Wiss. 
1909,  S.  77  f. 

2)  Die  Edda,  1812,  S.  13. 

3)  Heusler,  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volkskunde,  13,  24 f.  Im  nördlichen  Nor- 
wegen, in  abgelegener  Gegend,  stand  ein  Bauerhof,  bewohnt  vom  Bauer  mit 
seiner  Frau,  mit  Sohn  und  Tochter,  Knecht  und  Magd;  zu  denen  war  der  neue 
Glaube  noch  nicht  gedrungen.  Einmal  .  .  .  starb  der  fette  Lasthengst,  und  als  man 
ihn  ausbälgte,  um  nach  der  Sitte  der  Heiden  sein  Fleisch  zu  genießen,  da  schnitt 
ihm  der  Knecht  das  Zeugungsglied  ab  und  wollte  es  wegwerfen ;  der  Bauernsohn 
aber  nahm  es  und  wies  diesen  ,  Völsi'  (»starkes  Glied«  ?  vgl.  Heusler  S.  34)  unter 
Gelächter  den  drei  Frauensleuten  vor.  .  .  .  Die  Mutter  nahm  den  Völsi  an  sich, 
trocknete  ihn,  wickelte  ihn  in  ein  Tuch  und  legte  Kräuter  dazu,  damit  er  nicht 
faule.  Durch  die  Kraft  des  Teufels  wuchs  der  Völsi  und  erstarkte.  Die  Bäuerin 
wendete  ihm  all  ihren  Glauben  zu  und  hielt  ihn  als  ihren  Gott;  auch  die  Haus- 
genossen verleitete  sie  zu  diesem  Irrglauben.  Jeden  Abend  wurde  der  Völsi  herein- 
getragen, von  dem  einen  zum  anderen  gereicht,  und  jedes  sprach  eine  Strophe 
über  ihn.«  —  Das  erfährt  dann  der  fromme  König  Olaf,  geht  verkleidet  zu  diesem 
Abendgottesdienst,  und  wirft  schließlich  den  Völsi  dem  Haushund  vor,  zum  Ent- 
setzen der  fanatischen  Bäuerin. 

4)  a.  a.  O.  S.  31. 

5* 


58  Drittes  Kapitel. 

gäbe  bringen.  Phallische  Züge  fehlen  keiner  Mythologie1),  auch  nicht 
(wie  Heusler  selbst  anmerkt)  der  altgermanischen.  —  Hier  hätten  wir  also 
die  bewußte  Einsetzung  eines  zufälligen  Gegenstandes,  das  als  Symbol  der 
Fruchtbarkeit  zum  Hausgott  wird2). 

Fetischismus  liegt  wohl  auch  noch  in  einigen  Fällen  vor,  in  denen 
E.H.Meyer3)  und  Mogk4)  Baumkult  animistisch  deuten.  Die  Obergänge 
sind  ja  sehr  fein;  der  Unterschied  liegt  einerseits  in  der  von  uns  kaum 
je  kontrollierbaren  Einsetzung,  andererseits  darin,  daß  nicht  lokalisierte 
Geister  (wie  beim  Animismus),  sondern  allgemeine  Kräfte,  die  hier  nur 
> deponiert«  sind,  Verehrung  genießen.  In  diesem  Sinne  haben  wir  wohl 
Fetischismus,  wenn  verehrt  werden : 

Steine.  Der  heilige  Eligius  verbietet  ad  petras  luminarias  facere; 
der  Indiculus  superstitionum  —  ein  Verzeichnis  abergläubischer  Gebräuche, 
auf  deren  Ausrottung  die  Geistlichen  halten  sollen  —  spricht  de  Ms,  qttae 
faciunt  super  petras.  Die  Steinfetische  werden  geschmückt  und  gesalbt. 
Burchard  von  Worms  gegen  die  vota  ad  lapides:  Gelübde,  dem  Stein- 
götzen dargebracht. 

In  Giljä  im  Norden  von  Island  stand  ein  Stein,  in  dem  der  Fetisch 
der  Familie  Codrans  wohnte;  er  ließ  sich  erst  taufen,  als  der  Bischof  den 
Stein  durch  seinen  beschwörenden  Gesang  zerbrochen  hatte.  Ein  anderer 
Isländer  verehrte  die  »Kriegssteine«,  die  wohl  einmal  in  einem  Kriege 
Dienste  getan  hatten5). 

Gewählt  werden  wohl  besonders  Steine  von  auffallender,  besonders  von 
menschenähnlicher  Form.    An  solche  knüpfen  noch  spät  Sagen :  sie  sollen 
versteinerte   Menschen    darstellen6);    so    der  bekannte   Hans   Heiling   bei) 
Karlsbad.     Solche  Versteinerungen    (durch    den   Tagesanbruch)    erzähltei 
eddische  Gedichte7). 

Felsen  erfahren  gleiche  Verehrung;  sie  sind  ja  große  Steine.  S< 
das  von  Thorolf  verehrte  Vorgebirge  Thorsnaes 8).  Vielleicht  knüpfen  dii 
Brockensagen  an  solchen  Kultus  des  seltsam  gelagerten  Berges  an9). 


*)  Reiche,  aber  unkritische  Aufzählung   bei  J.  A.  Dufaure,   Des  divinites 
generatrices,  Neudruck  Paris  1905. 

-)  Aufzählung  der  altindischen  Fetische  bei  Macdon  eil  S.  154  f. 

3)  So  zitiere  ich  die  Mythologie  der  Germanen;  S.  151. 

4)  a.  a.  O.  S.  387. 

5)  Craigie,  Religion  of  Ancient  Skandinavia,  S.  37. 

6)  Wie  die  Salzsäule  Lots  Weib:  Gunkel,  Genesis  S.  193. 

7)  Helg.  Hjörv.  Str.  3,  Alv.  36. 

8)  Gother  S.  122,  248;  s.  o.  S.  66. 

9)  Könnte  die  ägyptische  Göttin,  die  »die  westliche  Spitze«  heißt  (Erman 
Ägyptische  Religion  S.  79)  nicht  ursprünglich  wirklich  der  Fetisch  eines  Felsen! 
gewesen  sein?  —  Fetischismus  von  Steinen  bei  den  finnischen  Nachbarn  beliebt 
Castren,  Finnische  Mythologie  S.  223.  —  Von  ferneren  Beispielen  nenne  ich  nui 


i 


I 


§  8.    Die  untersten  Stufen.  69 

Eine  Hauptklasse  der  Fetische  bilden  die  Pfähle  und  Baum- 
stümpfe1). Von  hier  kommt  vielleicht  unser  Wort  »Götze«2).  —  Über 
den  Zusammenhang  der  roten  Pfahlfetische  mit  den  geschnitzten  Götzen- 
bildern am  Hauptpfeiler  der  Tempel  3)  ist  später  zu  handeln 4). 

Wohl  die  weiteste  Ausdehnung  hat  der  Kult  der  Bäume5).  Er  ist 
von  der  späteren  Verehrung  des  Wald-  und  Feldgeistes  zu  scheiden6): 
nicht  ein  Geist  im  Baume  wird  verehrt,  sondern  dieser  selbst 7).  Vielleicht 
ist  der  Wodanskult  (s.  u.)  aus  der  Verehrung  breiter  laubreicher  Bäume  er- 
wachsen. Besonders  hohe  und  breite  Bäume  genossen  jedenfalls  be- 
sonderer Verehrung.  Dahin  gehört  die  berühmte  sächsische  Irminsul 
bei  Eresberg  (heute  Stadtberge),  das  nationale  Hauptheiligtum  des  Stammes 8), 
das  772  von  Karl  dem  Großen  zerstört  wurde;  er  fand  dort  Silber  und 
Gold  (Votivgaben?  Schmuck?  wie  Xerxes  einen  prächtigen  Baum,  zum 
Hohngelächter  der  Hellenen,  schmücken  ließ).  Als  eine  mythische  Steigerung 
solcher  Götterbäume  faßt  man  gewöhnlich  die  Weltesche  Yggdrasill 
auf,  wie  ich  glaube,  mit  Unrecht. 

Der  heilige  Baum  heiligt  seine  Umgebung9).  So  entstammt  die  Heilig- 
keit des  berühmten  Haupttempels  zu  Upsala  wahrscheinlich  dem  daneben 
stehenden  Riesenbaum10),  und   er   ist  vielleicht  nur  an   diesen  angebaut, 


die  Kaaba  in  Mekka,  den  Nabel  der  Erde  in  Delphi,  einen  weißen  Stein,  J.  Grimm, 
Kl.  Sehr.  2,  70;  vgl.  Goldziher,  Kultur  der  Gegenwart  I;  III,  1,  S.  90  und  den 
Lapis  manalis  der  Römer,  Wissowa  S.  106.  Allgemein  vgl.  P.  Saintyves, 
Les  vierges  meres,  Paris  1908,  S.  19  f.  (unkritische  Materialsammlung). 

*)  Über  die  »Säule«  (d.  h.  den  zurechtgestutzten  Pflock)  als  indogermanisches 
Kultobjekt  vgl.  Schrader,  Reallexikon  2,  860;  Meringer  Indogermanische 
Forschungen  18,  277 f.,  Much,  Wörter  und  Sachen  1,  39 f. 

2)  Vgl.  Meringer  S.  280. 

3)  Vgl.  auch  Much  a.  a.  O. 

4)  Der  Pfahl  ist  Urform  sowohl  der  griechischen  Herme  (s.  o.)  als  auch  wahr- 
scheinlich der  Totem -Säulen:  die  erst  nur  symbolisch  verstandene  Tier-  oder 
Menschenähnlichkeit  wird  deutlicher  ausgearbeitet.  Der  Kult  geht  vielleicht  von 
den  durch  den  Blitz  abgestumpften  und  abgeschälten  Bäumen  aus,  in  die  der 
Blitz  hineingefahren  war.  Ein  heiliger  Pfahl  neben  dem  Altar  in  Jerusalem 
2.  Könige  23,  6  (vgl.  Giesebrecht,  Grundzüge  der  israelitischen  Religions- 
geschichte, S.  31),  den  die  Eiferer  beseitigten  wie  die  presbyterianische  General- 
versammlung das  katholische  Kreuz  aus  der  Kirche:  vgl.  Brand  1,  Altengl.  Lit. 

;  S.  1030. 

5)  Mannhardt,  Baumkultus  der  Germanen,  Berlin  1875,  grundlegend;  vgl. 
E.  H.  Meyer  S.  20,  26,  30,  150f.,  Mogk  S.  293. 

6)  Golther  S.  152f. 

7)  Frazer,  The  golden  bough  1,  64:  »der  Baum  wird  bald  als  der  Körper, 
bald  nur  als  das  Haus  des  Baumgeistes  betrachtet«;  nur  im  ersten  Fall  haben 

■  wir  Fetischismus. 

8)  E.  H.  Meyer  S.  25,  312;  vgl.  Much  S.  40. 

9)  L.  Castren,  Finnische  Mythologie,  S.  206,  226. 

10)  Golther  S.  598. 


70  Drittes  Kapitel. 

etwa  um  die  Weihegaben1)  aufzunehmen,  wie  man  noch  jetzt  in  der 
Nähe  italienischer  Wallfahrtskapellen  (z.  B.  bei  Brissago  am  Lago  Maggiore) 
derartige  Depothäuser  findet.  —  Durch  diese  Emanation  der  Heiligkeit 
wird  aus  dem  heiligen  Baum  ein  heiliger  Hain:  die  Irminsäule  wird  bald 
als  »Idol«,  bald  als  »Hain«  bezeichnet.  Doch  ist  es  wohl  möglich,  daß 
der  Hain  auch  unmittelbar  verehrt  wurde.  Jedenfalls  stand  er  schon  bei 
den  Urgermanen  in  Verehrung2). 

Ein  Fortleben  des  Baumkultus  nimmt  man  gewöhnlich  in  den  »Mai 
bäumen«  der  Frühlingsfeste  an,  indem  ein  ausgewählter  Baum  mit  Bändern 
und  anderem  Schmuck  behangen  wird3);  auch  an  den  geschmückten 
Weihnachtsbaum  hat  man  gedacht,  der  aber  nicht  vor  1605  nachzuweisen 
ist4).  —  Die  mythologischen  Beziehungen  zwischen  Mensch  und  Baum, 
auf  die  Much 6)  verweist,  haben  zu  dem  Baumkultus  schwerlich  beigetragen ; 
denn  die  Auffassungen  des  Menschen  als  eines  rein  vegetativen,  früchte- 
tragenden Wesens  sind  der  des  Baumes  als  eines  göttlichen,  willensbegabten 
Wesens  fast  entgegengesetzt6). 

Die   zweite   Hauptkategorie    der   Fetische  sind   wohl    die  Waffen; 
bei   ihnen   tritt  wieder   die  Verwandtschaft  mit  den  »Augenblicksgöttern 
besonders  deutlich  hervor. 

Tacitus7)  erwähnt,  daß  die  Germanen  zum  Kriege  effigies  et  signa 
quaedam  detracta  lucis  in  proelium  ferunt.  Man  hat  die  effigies 
die  Tacitus  an  anderer  Stelle 8)  ferarum  imagines  nennt,  als  Symbole 
der  den  Göttern  heiligen  (Totem?)  Tiere,  die  signa  als  deren  Attribute 
aufgefaßt9).  Aber  die  Aufbewahrung  im  heiligen  Hain  läßt  an  Fetische 
denken:  Wodans  Speer,  Donars  Hammer,  Tius  Schwert  werden  als  wirk- 
liche Helfer  herausgebracht. 


*)  E.  H.  Meyer  S.  316. 

2)  Tacitus,  Germ.  9:   »lucos   ac  nemora   consecrant  deorumque  nominibu 
appellant  secretum  illud  quod  sola    reverentia  videnH ;  vgl.  Mogk  S.  396. 

3)  So  Mogk  und  Much,  a.  a.  O. 
*)  Tille,  Geschichte  der  deutschen  Weihnacht,  Leipzig  1893,  S.  257;  Kron- 
feld, Der  Weihnachtsbaum,  Oldenburg  u.  Leipzig  1907,  S.   156  f. 

5)  a.  a.  O. 

6)  Primitiver  Baumkultus :  Fraze  r  1,48  f.;  Bei  den  Indern  :Macdonel  IS.  154 
Menschen  als  Bäume  keine  primitive  Vorstellung,  sondern  erst  aus  den  Anfänger 
des  Götterkultes:  so  griechisch  bei  den  als  erste  Menschen  »wie  Bäume  von  dei 
Erde  emporgetriebenen«  Kureten  (Preller  1,  641),  so  bei  vielen  anderen  Völkerr 
(P.  S  a i n  ty  v e  s ,  Les  Vierges  Meres  S.  56  f.).  Diese  Vorstellung  von  den  Menscher 
als  »Naturprodukten«  scheint  eine  Scheidung  der  mechanisch  arbeitenden  »Natur« 
von  der  Geisteswelt»  vorauszusetzen,  die  schwerlich  sehr  frühen  Kulturperioder 
zuzutrauen  ist.    Vgl.  auch  Lukas,  Kosmogonien  S.  253. 

7)  Germ.  c.  7. 

8)  Hist.  4,  23. 

9)  Golther  S.  602. 


: 


§  8.    Die  unterste  Stufe.  71 

Jedenfalls  sind  alle  drei  ursprünglich  Fetische  gewesen,  besonders  der 
Hammer  —  ob  er  nun  ursprünglich  als  Waffe  oder  als  Werkzeug  ver- 
ehrt wurde.  Noch  spät  wird  er  als  Signum,  als  Amulet  und  Talisman 
verwandt1).  Thor  »weiht«,  weil  er  den  Hammer  besitzt2).  Eine  phallische 
Bedeutung3)  braucht  man  trotz  seiner  Verwendung  zur  Hochzeitsweihe 
nicht  anzunehmen.  Ebensowenig  ist  die  Erklärung,  daß  der  Hammer  der 
Donnerkeil  sei,  weil  er  immer  wieder  in  die  Hand  Thors  zurückkehrt4), 
zwingend.  —  So  häufig  war  die  Verwendung  des  Hammers,  daß  später 
Verwechslung  mit  dem  Kreuzeszeichen  eintrat5). 

Man  hat  für  den  heiligen  Hammer  ein  vorgermanisches  Alter  an- 
genommen. In  Kreta  war  schon  lange  vor  der  mykenischen  Kultur  das 
Doppelbeil  Symbol  des  Donnergottes  und  »auf  seinem  Wege  nach  dem 
Norden,  wo  er  dreitausend  Jahre  später  als  Thorshammer  erscheint«6). 
Die  labrys1)  »war  nicht  ein  Symbol,  sondern  das  unmittelbare  Bild  der 
Gottheit;  die  übernatürliche  Macht  wohnte  in  ihm«8).  Also  ein  vor- 
germanischer Fetisch,  und  doch  zugleich  Sinnbild  schon  eines  Gottes? 
Jedenfalls  scheint  es  einfacher,  anzunehmen,  daß  ursprünglich  der  heilige 
Hammer  lediglich  wirklich  ein  solcher  mit  Fetisch eigenschaften  war,  der 
dann  später  auf  den  Donnergott  und  sein  Symbol,  den  einschlagenden 
Blitz,  bezogen  wurde.  Kann  die  gleiche  Wandlung  sich  nicht  aber  im 
Norden  selbständig  vollzogen  haben?  Ist  der  Thorshammer  notwendig 
von  der  kretischen  Labrys  abzuleiten  ? 9)  Kann  nicht  eben  jeue  Verwechslung 
mit  dem  Kreuz  bedenklich  stimmen?  Ich  möchte  jedenfalls  glauben,  daß 
überall  der  Werkzeug-  oder  Waffenfetisch  das  Ursprüngliche  ist  und  nicht 
die  Symbolbeziehung.  Ob  die  Amulette  (Bernsteinhammer  u.  dgl.)  schon 
auf  Thor  Bezug  haben,  bleibt  gleichfalls  fraglich  10). 

Die  bedeutendste   Rolle   unter   den   Warf enfeti sehen   spielt    aber  das 


J)  Golther  S.  251,  2. 

2)  Thrymsk.  Str.  30. 

3)  E.  M.  Meyer,  Germanische  Mythologie,  S.  212. 

4)  Ders.,  Myth.  d.  Germ.,  S.  159. 

5)  Goblet  d'Alviella,  Migration  des  symboles,  S.  21  u.  ö. 

6)  S.  Müller,  Urgeschichte  Europas,  S.  59. 

7)  a.  a.  O.  S.  69. 

8)  a.  a.  O.  S.  151. 

9)  Ebd.  S.  186;  dagegen  Much,  Gört.  Gel.-Anz.  1909,  Nr.  2,  S.  95  f. 

10)  Heilige  Speere  finden  sich  auch  in  Ägypten  (Er man  S.  214)  und  werden 
dort  gleichfalls  in  verkleinertem  Abbild  als  Amulette  getragen.  Heilige  Waffen, 
besonders  Bogen,  im  Veda  Macdonell  S.  155.  Heilige  Speere,  ebenfalls  in  der 
Mehrzahl,  und  heilige  Schilde  (ancilia)  bilden  einen  Hauptgegenstand  im  Kult 
des  Mars  (Wissowa  S.  131).  Über  die  heilige  Lanze,  ein  Abzeichen  des 
(deutschen)  Reichs  A.  Hofmeister,  Breslau  1908  —  sie  bezeichnet  bereits  den 
(häufigen)  Übergang  von  Waffen  zu  Insignien. 


72  Drittes  Kapitel. 

Schwert.  Der  Schwertdienst  ist  bei  den  Quaden  ausdrücklich  bezeugt1) 
ebenso  heißt  bei  den  Sachsen  die  Hauptwaffe,  das  kurze  Schwert,  sahs 
und  der  Kriegsgott  Saxnot  —  mag  er  nach  dem  Schwert  oder  nach  dem 
Volk  benannt  sein  oder  dies  nach  dem  Stammheiligtum.  Auch  sons 
fehlt  es2)  nicht  an  Spuren  des  Schwertkultes  in  der  germanischen  Mytho 
logie.  Eine  ursprüngliche  Beziehung  des  Schwertes  auf  die  Sonne3 
möchte  ich  auch  hier  bezweifeln ;  später  wird  auch  hier  der  Fetisch  zun 
Attribut4). 

Sehr  nahe  liegt  die  Fetischisierung  von  Insignien,  wie  dem  Szeptei 
von  Chaeronea5),  dem  Mantel  des  Elia6)  und  hebräischen  Feldzeichen7). 
Wir  finden  in  der  germanischen  Mythologie  keine  Analoga;  Thors  Kraft| 
gürtel  ist  von   ganz  anderer  Art.  —  Zu   den  heiligen  Opfergefäßen  dei 
Inder8)   ist  an  die  altnordischen  Namen  mit  -ketill  »Kessel«  zu  erinnern 

Den  Waffen  stehen  die  Werkzeuge  nah  (s.  o.  zum  Hammei 
Thors).  Wir  wissen  nicht,  ob  von  den  zahllosen  Grabfunden  nicht  manch< 
Spindel  u.  dgl.  eine  Fetischbedeutung  hatte;  die  Wundermittel  de 
Grottasöngr 9)  sind  rein  märchenhaft  wie  der  Besen  von  Goethes  Zauber 
lehrling. 

Schon  in  der  Geschichte  vom  Völsi  trafen  wir  eine  letzte  Kategori« 
von  Fetischen:  Körperteile.  »In  der  fabelhaften  Erzählung  von  J)or 
stein  Boejarmagn  besitzt  König  Geirrodr  ein  Trinkhorn,  an  dessen  Spitz* 
sich  ein  Menschenhaupt  mit  Fleisch  und  Mund  befindet,  das  dem  Köni^ 
zukünftige  Dinge  prophezeit.  Ebenso  besaß  ferner  nach  einer  alten  Ober 
lieferung  ein  Isländer  namens  Thorleifur  den  Kopf  eines  ertrunkenen  Manne 
(nach  anderen  den  eines  Kindes),  den  er  in  einer  Kiste  aufbewahrte 
Dieser  offenbarte  ihm  alles,  was  er  zu  wissen  wünschte«  10).    Daß  das  Hau 


e 


*)  Mogk  S.  317. 

2)  S.  ebd. 

8)  Mogk  a.  a.  O.:  »das  Schwert  kann  nichts  anders  als  die  leuchtend 
Sonne  sein.« 

4)  Vgl.  auch  zur  Etymologie  von  hamar  und  sahs  Much,  Abhandlunge 
zur  germanischen  Philologie,  Festgabe  f.  Heinzel,  Halle  1898,  S.  232,  Anz.  f.  d 
Alt.  28,  306.  —  Schwertfetischismus  zeigt  sich  z.  B.  bei  den  Chinesen  in  dei 
Legenden  von  der  Verwandlung  der  Seelen  in  Schwerter  (Pfitzmaier 
Sitzungsber.  Wiener  Akad.  1878).  Auch  die  Sichel  des  Kronos  ist  »das  gewöhn 
liehe  Krummschwert«  (Preller  1,  53)  und  wohl  erst  später  Attribut  geworden 
woraus  sich  dann  äthiologische  Mythen  entwickeln  konnten. 

B)  H.  Diels  Berliner  Rektorrede  1905. 

6)  2.  Könige  2,  8;  vgl.  1.  Könige  19,  19. 

7)  Seh wally,  Semitische  Kriegsaltertümer,  S.  16. 

8)  Macdonell  S.  154. 

9)  Gering,  Edda,  S.  377;  vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen  in  der  Edda,  S.  58 
')  Mogk  S.  306. 


§  9.    Die  Seelen.  73 

des  Toten  guten  Rat  erteile  und  die  Zukunft  künde,  ist  auch  sonst  alter 
Volksglaube1).  Mit  dem  Mythus  von  Mimirs  Haupt  möchte  ich  das  aber 
lur  so  weit  in  Verbindung  setzen,  als  dieser  alte  Naturmythus  vielleicht 
im  Sinne  jenes  fetischistischen  Aberglaubens  gedeutet  wurde2).  Dagegen 
ist  an  o!as  Märchen  vom  sprechenden  Pferdehaupt  (Falada)  zu  erinnern3). 

Nächst  dem  Kopf  ist  der  Schädel  zum  Fetischdienst  geeignet;  die 
grausige  Sitte,  aus  dem  Schädel  erschlagener  Feinde  zu  trinken  (Alboin!), 
stammt  vielleicht  von  hier:  der  Fetisch  wurde  zunächst  geschmückt,  in 
Gold  gefaßt,  mußte  dann  den  Trank  weihen4). 

Der  Kult  des  Fetisches  hat  überall  seinen  Mittelpunkt  in  dessen  Be- 
kleidung5)  und  Ausschmückung.    (Auch   dies  ist  beim  Völsi  angedeutet). 

§  9.    Die  Seelen. 

Animismus  und  Dämonismus  sind  ohne  eine  Auseinandersetzung  über 
die  Psychologie  der  Naturvölker,  d.  h.  ihre  Anschauungen  von  der  Seele, 
nicht  zu  verstehen6). 

Das  Grundproblem  aller  Psychologie  ist  auch  schon  für  die  Primitiven 
(und  gerade  für  sie)  in  aller  Stärke  vorhanden:  das  Rätsel,  was  das 
»Lebendige«  von  dem  »Unbelebten«  unterscheide.  Wir  sahen  schon,  daß 
der  Begriff  des  Lebens  für  die  primitive  Erfahrung  mit  dem  des  Wollens 
zusammenfällt.  Irgend  etwas  also  ist  da,  das  im  Menschen,  ebenso  aber 
auch  im  Tier,  im  bösen  oder  guten  Geist  wirkt.    Wir  nennen  es  »Seele«. 

Es  entsteht  ein  weiteres  Problem.  Zunächst  wird  diese  Seele  als 
etwas  rein  Individuelles  vorgestellt;  jedes  Wesen  hat  seine  eigene  Seele. 
Weiter  aber  wird  auch  die  Gleichartigkeit  dieser  Seelen  empfunden,  so 
daß  z.  B.  die  Indonesier  die  Einzelseele  nur  als  Teil  der  das  Universum 
durchdringenden  Lebenskraft  ansehen 7) ,  wie  der  einzelne  Bach  ein  Teil 
des  Wassers    ist.   —   Indeß    scheinen   solche   Spekulationen   den   ältesten 


*)  Mogk  S.  381. 

2)  Vgl.  ebd.  S.  374  f. 

3)  Man  denke  an  die  abergläubischen  Gebräuche  mit  Körperteilen  erhängter 
Verbrecher.    —    Die    Medusa    hat    vielleicht    auch    fetischistische   Züge    (vgl. 

'Preller  2,  641  f.). 

4)  Über Phallusdienst  s.  o.  (Dufaure,  Divinites  generatrices ;  vgl.  Florenz, 
Über  shintoistischen  Phalluskult :  Kultur  der  Gegenwart  S.  219 ;  ebenso  z.  B.  Arch. 
f.  Rel.-Wissensch.  11,  549  über  die  Bavumba).  Bei  ityphallischen  Gottheiten 
(Frey  —  Priapus)  ist  der  Fetisch  wieder  zum  Attribut  umgewandelt.  Ein  aus- 
gestopftes Robbenfell  als  Fetisch  in  Tanara,  Kern,  Arch.  f.  Rl.-Wissensch.  10,82. 

5)  Godden,  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1895,  S.  100. 

6)  F.  Schul  tze,  Psychologie  der  Naturvölker;  vor  allem  aber  Frazer  1,  121  f.; 
Wundt2,  lf.  —  Ein  Beispiel  dieser  Psychologie  mein  Aufsatz  »Begriff  des 
Wunders  in  der  Edda«,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  31,  315. 

7)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  127. 


•74  Drittes  Kapitel. 

Phasen   und  so  auch  der  altgermanischen  Religion  auf  animistischer  und 
dämon istischer  Stufe  noch  fernzuliegen. 

Die  germanischen  Ausdrücke  für  die  Seele  sind  denen  anderer  Sprachen 
analog:  west-  und  ostgermanisch  saivala  wohl  zu  gotisch  saivs  —  »See 
das  Bewegliche  (»Des  Menschen  Seele  gleicht  dem  Wasser«,  Goethe; 
>mein  Herz  gleicht  ganz  dem  Meere«,  Heine);  altnordisch  önd  zu  an, 
hauchen«;  altnordisch  hugr:  »Gedanke«1).  Das  Merkwürdigste  wäre 
unser  »Geist«,  wenn  es  wirklich2)  zu  einem  Verb  »wüten,  lebhaft  erregt 
sein«  gehört  —  wie  der  Name  Wodan  zu  »wüten«. 

Das  Leben  also  ist  an  den  Besitz  dieser  Seele  gebunden  —  eine 
Konzeption,  die  in  erneuter  Form  noch  der  junge  Alexander  v.  Humboldt8) 
teilte  und  die  der  moderne  »Neovitalismus«  auffrischt.  »Das  physische 
Leben  selber  war  ein  Wesen  das  im  Tode  sich  löste«  4). 

Die  Seele  hat  zwei  Hauptvermögen,  die  die  mittelhochdeutsche  Sprach 
als  muot  (Begehren,  Wollen)  und  stnne  (Denken,  Verstand)  unterscheidet 
Sie  ist  also  einfach  eine  Verkörperung  der  Kausalität:  etwas  geschieht 
weil  etwas  gewollt  wurde;  etwas  wurde  gewollt,  weil  etwas  gedacht  wurde 
Dieser  Prozeß  wird  sehr  oft  vorgeführt,  besonders  in  der  Heldensage; 
man  denke  an  die  inneren  Dialoge  des  Odysseus  mit  seinem  göttlichen 
Herzen5).  Oder  er  wird  mythisch  umkleidet,  wie  wenn  die  Gedanken! 
Sigurds  (in  den  Fafnismäl)  als  sprechende  Vögel  verkleidet  sind  (Odins 
Raben  heißen  Sinn  und  Gedanke!).  Oder  eine  besonders  wichtige  OberJ 
legung  wird  in  die  symbolische  Handlung  einer  ganzen  Ratsversammlung 
umgesetzt:  wenn  Odin  nicht  weiß,  was  er  tun  soll,  um  die  von  Baldrs 
Träumen  vorverkündeten  Ereignisse  abzuwehren,  beruft  er  eine  Götter-i 
Versammlung  —  hier  wird  das  Denken  laut,  —  und  befragt  eine  Seherin  — , 
hier  soll  das  Wollen  offenbart  werden  (Vegtamskvida).  —  Diese  Grund-j 
anschauung  hat  nun  aber  eine  wichtige  praktische  Konsequenz.  Alles* 
Wollen  müßte  eigentlich  vernünftig,  zweckentsprechend  sein.  Die  tägliche 
Erfahrung  aber  von  der  unvernünftigen  Vernunft,  dem  schädlichen  Wollen 
ist  da;  sie  kann  nur  so  erklärt  werden,  daß  die  Seele  nicht  vollkommen 
leistungsfähig  ist:  Besessenheit,  Verzauberung,  Entfernung  der  Seelenkraft 
dienen  der  Erklärung. 

Wie  nun  aber  die  Energie  der  Menschen  (und  anderer  Wesen)  ver- 
schieden ist,  so  müssen  auch  die  Seelen  verschiedene  Kraft  besitzen.     Es 


»)  Meyer  S.  72,  Golther  S.  89. 
2)  Nach  Kluge,  Etymologisches  Wörterbuch,  5.  Aufl.  S.  132. 
')  In  seiner  Fabel  von  der  »Lebenskraft«,  »Ansichten  der  Natur«. 
*)  Meyer  S.  71. 

5)  Aus  solchen  inneren  Zwiegesprächen  ist,  wie  eben  jetzt  J.  Leo  dargetan 
hat,  der  Monolog  in  der  dramatischen  Weltliteratur  hervorgegangen. 


§  9.    Die  Seelen.  75 

sind  also  Rangstufen  vorhanden  von  den  blöden  Toren  späterer  Eddalieder 
oder  dem  Knecht  der  Rigsfmla  bis  zu  göttlichen  Wesen  herauf.  Die 
Seele  handelt  ein-  für  allemal  nach  Maßgabe  ihrer  Kraft  —  es  sei  denn 
eben,  daß  Trunkenheit,  Müdigkeit,  Verzauberung  sie  lähmen *).  —  Sie  kann 
aber  (und  dies  ist  eine  spezifisch  altertümliche  Vorstellung)  auch  durch 
ihr  Übermaß  behindert  werden2).  —  Besonders  die  keltische  Heldensage 
arbeitet  mit  dieser  Kraftüberfrachtung  der  Helden.  In  der  alten  Mythologie 
tritt  sie  mehr  bei  Göttern  hervor,  insbesondere  bei  Thor:  um  nicht 
immerfort  Schaden  anzurichten,  tut  er  den  Überschuß  für  gewöhnlich  ab 
und  »fährt  hinein«,  sobald  es  nötig  wird;  gerade  wie  Aphrodite  ihre  Anmut 
zum  Teil  in  ihrem  Gürtel  versteckt. 

Dies  also  sind  die  Grundanschauungen  der  primitiven  Seelenlehre. 
Wir  haben  auf  Grund  dieser  Voraussetzungen  von  jetzt  ab  für  jede  Kategorie 
von  Wesen  die  »Seele«,  die  »Kraft«  zu.  prüfen. 

Zunächst  für  den  Menschen;  denn  von  seiner  inneren  Erfahrung 
geht  die  ganze  Vorstellung  aus. 

1.  Gestalten  der  Seele.  Sie  ist  ein  »Geist«  und  deshalb  normaler- 
weise unsichtbar;  das  ist  ja  eben  die  Grundanschauung,  daß  hier  etwas 
wirkt,  das  sinnlich  nicht  wahrnehmbar  ist.  Sie  ist  ferner  an  einen  Ort 
gebannt,  nämlich  an  den  Körper  des  Menschen.  Nur  wenn  sie  ihr  Ge- 
fängnis verläßt,  wird  sie  sichtbar.  Dann  aber  in  vielen  Formen,  von  denen 
jedoch  jede  elementare  als  die  einzige,  sei  es  dieser  Seele,  sei  es  der  Seele 
überhaupt,  gilt  (anders  ist  es  bei  den  Tiergestalten,  s.  u.): 

Als  leichte  Elementarerscheinung:  als  Rauch  (hebräisch  ruach, 
lateinisch  ammus3).  So  steigt  sie  als  schwarzer  Rauch  aus  dem  Halse 
der  schlafenden  (und  träumenden)  Magd.  Dies  »luftige  Gebilde«  steht 
an  der  Grenze  der  Wahrnehmbarkeit;  man  denke  auch  daran,  wie 
bei  scharfem  Frost  der  Atem  sichtbar  wird  (an  »Rauch  des  Lebensfeuers« 
ist  schwerlich  zu  denken);  als  Wind4),  d.  h.  als  unfaßbare,  bewegende 
Kraft;  als  Wölkchen,  gewissermaßen  eine  Kombination  von  Rauch  und 
Wind:  ein  zusammengeballter,  vom  Wind  getriebener  Hauch.  (Dies  gibt 
zuerst  Gelegenheit  zu  Differenzierungen:  »nach  dem  neueren  germanischen 
Aberglauben   schwebt   in  Tirol   die  Seele  eines  Tugendhaften   als  weißes 


*)  In  der  Ritterzeit  wird  diese  Lähmung  des  Wollens  durch  die  Liebe  ein 
beliebtes  Thema;  das  »verligen«  z.  B.  in  Hartmans  v.  Aue  Erec. 

2)  Mythologisch  märchenhafter  Ausdruck  der  schädlichen  Überkraft  im  Grotta- 
söngr,  wo  die  Mühlen  so  viel  Salz  mahlen,  daß  die  Schiffe  sinken;  man  denke 
an  die  Erfahrung,  die  Chamissos  Schlemihl  im  Anfang  mit  den  Siebenmeilen- 
stiefeln macht. 

3)  Vgl.  Golther  S.  80. 

4)  Mogk  S.  255,  Meyer  S.  72. 


7ß  Drittes  Kapitel. 

Wölkchen  aus  dem  Munde«)1);  als  Flämmchen2):  Emanation  der  Lebens- 
kraft ,  der  »Seelenwärme< .  Besonders  beliebt  ist  die  Vorstellung,  »daß 
sich  die  Geister  als  Flammen  auf  den  Grabhügeln  oder  in  ihrer  Nähe  auf- 
hielten, daß  sie  sich  als  Flammen  in  den  Lüften  zeigten.  In  der  alt- 
nordischen Hervararsage  wird  erzählt,  daß  die  Seele  Angantys  und  seiner 
Brüder  allnächtlich  auf  ihren  Gräbern  erschienen  seien«.  »Hierin  wurzeln 
die  vielen  Erscheinungen,  die  die  deutsche  Volkssage  als  Feuermänner, 
Leuchtemännekens,  feurige  Mannen  usw.  kennt«  3).  Diese  Lieblingsvorstellung 
wird  durch  Erscheinungen  wie  die  Irrwische,  durch  allerlei  unerklärliches 
Aufleuchten  im  Dunkel  u.  dgl.  genährt,  vor  allem  aber  wohl  durch  die 
Analogie  in  dem  plötzlichen  Aufzucken  und  Erlöschen;  ist  doch  noch 
uns  dies  Erlöschen  der  Lebensflamme  eine  unentbehrliche  Metapher. 
In  Tiergestalt:  Diese  Gestalten  sind  den  vorigen  wahrscheinlich  nicht 
völlig  gleichzustellen.  Jene  einfachen  Formen  sind  unmittelbarer  Aus- 
druck der  Lebensvorstellung;  die  Tiergestalt4)  ist  angenommen  und 
setzt  also  die  Verwandlungsfähigkeit  der  Seelen  voraus5).  Sie  nehmen 
(wie  die  Verwandlungsmenschen,  s.  u.)  die  Gestalt  an,  die  sie  gerade 
brauchen.  Die  Seele  erscheint:  als  Vogel,  um  davonzufliegen,  und  zwar 
wieder  gern  mit  Differenzierung:  dunkle  Seelen  als  Raben  und  Krähen, 
helle  als  Tauben  und  Schwäne6);  als  Schmetterling,  Motte,  Biene,  Käfer, 
um  ihr  altes  Heim  zu  umflattern;  als  Schlange7)  für  einen  Weg  am 
Boden,  wie  in  der  berühmten  Sage  vom  Frankenkönig  Guntram8); 
als   Maus   oder   Ratte,   um   sich   unmerklich   durchzuschleichen;   so    sind 


»)  Meyer  S.  79;  vgl.  Golther  S.  81. 

2)  Mogk  S.  266,  Meyer  S.  75,  Golther  S.  81. 

3)  Mogk  S.  260. 
*)  Golther  S.  81. 
B)  Vgl.  Meyer  S.  82. 

6)  Ebd.  S.  76. 

7)  Meyer  S.  79. 

8)  Golther  S.  83,  Mogk  S.  262  nach  Paulus  Diaconus  3,  34.  Der 
König  war  auf  die  Jagd  gegangen.  Er  schlief  ein;  nur  sein  treuer  Diener  war  I 
bei  ihm.  Als  er  nun  entschlafen  war,  schlich  aus  Guntrams  Munde  ein  Tierlein 
hervor  in  Schlangenweise,  lief  fort  bis  zu  einem  nahe  fließenden  Bach,  an  dessen 
Rand  stand  es  still  und  wollte  gern  hinüber.  Das  hatte  alles  des  Königs  Gesell, 
in  dessen  Schoß  er  ruhte,  mit  angesehen,  zog  sein  Schwert  aus  der  Scheide  und 
legte  es  üher  den  Bach  hin.  Auf  dem  Schwerte  schritt  nun  das  Tierlein  hinüber 
und  ging  zum  Loch  eines  Berges,  da  hinein  schlopf  es.  Nach  einigen  Stunden 
kehrte  es  zurück  und  lief  über  die  nämliche  Schwertbrücke  wieder  in  den  Mund 
des  Königs.  Der  König  erwachte  und  sagte  zu  seinem  Gesellen :  Ich  muß  Dir 
meinen  Traum  erzählen  und  das  wunderbare  Gesicht,  das  ich  gehabt.  Ich  er- 
blickte einen  großen,  großen  Fluß,  darüber  war  eine  eiserne  Brücke  gebaut;  auf 
der  Brücke  gelangte  ich  hinüber  und  ging  in  die  Höhle  eines  hohen  Berges;  in 
der  Hohle  lag  ein  unsäglicher  Schatz  und  Hort  der  alten  Vorfahren.    Da  erzählte 


§  9.    Die  Seelen.  77 

noch  in  der  (späten)  Sage  vom  Rattenfänger  von  Hameln  die  Ratten 
eigentlich  Seelen,  die  in  den  Totenberg  geholt  werden  x). 

In  anderen  Formen.  Was  es  bedeutet,  wenn  eine  Seele  einem 
Tannenzapfen  oder  einer  Artischocke  ähnlich  sein  soll2),  weiß  ich  nicht; 
wohl  etwas  Allegorisches. 

2.  Bewegung  der  Seele.  Diese  Epiphanien  der  Seele  »bei 
lebendigem  Leibe«  sind  an  bestimmte  Bedingungen  geknüpft.  Die  Seele 
wird  nur  sichtbar,  wie  wir  schon  sagten,  wenn  sie  den  Körper  verläßt. 
Das  tut  sie  immer  beim  Tod  (»die  Ratten  verlassen  das  Schiff«);  sonst 
aber  in  zwei  Fällen:  dem  leichteren  und  regelmäßigen  des  Traums,  dem 
schwereren  und  selteneren  der  Ekstase. 

Der  Schlaf  ist  ein  rätselvolles  Problem.  Das  Leben  ist  gleichsam 
suspendiert,  und  beim  Erwachen  ist  alles,  wie  es  gewesen.  (Der  Gedanke 
ist  märchenhaft  ausgemalt  im  Märchen  vom  Dornröschen:  die  erstarrte 
Ohrfeige  des  Kochs;  poetisch  vergegenwärtigt  in  den  mythisch  ent- 
sprechenden Sigrdrifümäl.) 

Nun  aber  vollends  der  Traum  verdoppelt  das  Rätsel:  das  Leben  ist 
aufgehoben  —  und  doch  geht  die  Empfindung  weiter;  es  ist,  als  wäre 
eine  andere  Walze  in  die  Maschine  eingeschoben.  Das  Rätsel  des  Traums 
beschäftigt  ja  heute  noch  die  Psychologie  fast  unverändert,  nur  daß 
sie  heute  mit  der  Technik  des  Traums  arbeitet  wie  einst  mit  seiner 
Symbolik3). 

Es  ist  begreiflich,  daß  der  Traum  schon  die  Primitiven  stark  be- 
schäftigt.    Auf    Traumerscheinungen    wie    den    Alpdruck    hat    Laistner4) 


der  Gesell  ihm  alles,  was  er  unter  der  Zeit  des  Schlafes  gesehen  hatte,  und  wie 
der  Traum  mit  der  wirklichen  Erscheinung  übereinstimmte.  Darauf  ward  an 
jenem  Ort  nachgegraben  und  in  dem  Berg  eine  große  Menge  Goldes  und  Silbers 
gefunden,  das  vor  Zeiten  dahin  verborgen  war.« 

*)  Alle  diese  Erscheinungsformen  sind  über  die  ganze  Welt  verbreitet,  be- 
sonders die  der  Schlange  (z.  B.  bei  den  Hellenen  Meyer  S.  77),  deren  sonder- 
bare gelenklose  Bewegung  sie  besonders  unheimlich  macht,  und  des  Vogels 
(z.  B.  Frazer  1,  124). 

2)  Deutsche  Sagen  I,  IV  186. 

3)  Artemidoros,  Symbolik  der  Träume,  übs.  m.  Anmerkungen  von  Fr.  S. 
Krauß,  Wien  1881;  vgl.  dazu  Th.  Gomperz,  Traumdeutung  und  Zauberei, 
Wien  1866;  Gotthilf  Heinr.  v.  Schubert,  Symbolik  des  Traumes,  1814; 
Sante  de  Sanctis,  Die  Träume,  übs.  v.  O.  Schmidt  nebst  Einführung  von 
P.  J.  Möbius,  Halle  1901;  Sigm.  Freud,  Die  Traumdeutung,  Leipzig  1900.  — 
In  der  altnordischen  Literatur  wird  die  Symbolik  des  Traums  gern  in  den  Dienst 
der  gleichen  Technik  gestellt ;  vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  68 ;  H  e  n  z  e  n ,  Die 
Träume  in  der  altnordischen  Prosaliteratur. 

4)  Das  Rätsel  der  Sphinx,  Berlin  1889. 


7g  Drittes  Kapitel. 

fast  die  ganze  Mythologie  aufgebaut1),  und  v.  d.  Leyen2)  ist  ihm  darin 
gefolgt.  Ich  glaube  aber,  daß  man  hierbei  das  moderne,  ich  möchte  sagen 
literarisch  und  künstlerisch  gebildete  Träumen  zu  unmittelbar  in  die  ein- 
facheren Verhältnisse  der  Urzeit  überträgt.  Nicht  was  er  träumt  —  daß 
er  träumt,  ist  für  den  Primitiven  das  Merkwürdige.  Es  läßt  sich  auf 
zweierlei  Weise  erklären.  Entweder:  die  Seele  wandert  und  sieht  ferne 
Dinge3)  —  oder  umgekehrt  fremde  Geister  packen  den  (unverteidigten) 
Körper.  Der  letzte  Fall  gehört  dem  Dämonenglauben,  der  erste  in  die 
Seelenlehre:  die  Seele  erzählt  dem  Körper,  was  sie  auf  ihren  Wanderungen 
erblickt. 

Es  gibt  aber  Fälle,  in  denen  die  Trennung  der  Seele  vom  Körper 
unmittelbar  gefühlt  wird.  Wir  nennen  solche  Fälle  die  der  Ekstase, 
d.  h.  des  Aufenthalts  der  Seele  außerhalb  des  Körpers4).  Der  Begeisterte 
ist  »außer  sich«  und  bleibt  sich  doch  seiner  Seele  bewußt;  sie  tritt  gleich- 
sam nur  an  das  Tor,  ohne  den  Körper  ganz  zu  verlassen,  der  aber  doch 
in  den  stärksten  Momenten  mit  seinen  -verglasten  Augen,  mit  der  Starrheit 
der  Verzückung  (»Trance<  in  der  neueren  Suggestionsliteratur)  fast  dem 
eines  Toten  gleicht. 

Die  Ekstase  ist  an  bestimmte  Momente  geknüpft5).  Es  sind  Momente, 
die  auch  auf  uns  noch  »berauschend«  wirken: 

Der   Rausch    selbst,    die  Trunkenheit;   durch   vorbereitende  Mitte 
(Einsamkeit,  Fasten,  rhythmische  Bewegung)  gesteigert  das  Hauptmittel  der 
Zauberer,  um  sich  in  ekstasische  Zustände  zu  versetzen6);  der  geistige 
Rausch,  die  Übermacht  eines  einzelnen  Gefühls,  besonders  des  Zorns7)}! 
die  Nacht   mit  ihrer  betäubenden  Stimmung8)   und  besonders   heiligeJ 
Abende  und  Nächte  wie  der  Jul-Abend9);   der  Tod  als  Abend  desj 
Lebens:   dem  Sterbenden   verdoppeln   sich  die  Kräfte10),   besonders  auch] 
die  des  Geistes:  der  Fluch  des  Sterbenden  hat  wunderbare  Macht11),  der) 

J)  Vgl.  Golther  S.  73. 

2)  Arch.  f.  n.  Spr.  113,  249f.,  114,  1  f.,  115,  1  f . 

3)  Wie  in  Guntrams  Fall;  vgl.  allgemein  Mogk  S.  261. 

4)  Achelis,  Die  Ekstase,  Berlin  1882;  Edv.  Lehmann,  Mystik  in  Heiden 
tum  und  Christentum,  Leipzig  1908,  S.  7 f.:  Ekstase  für  den  christlichen  Heiligen 
Görres,  Christliche  Mystik,  S.  245 f. 

B)  Vgl.  meinen  Aufsatz  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  31,  325. 

6)  Vgl.  Edv.  Lehmann  a.  a.  O. 

7)  Berserker  im  Norden  und  ihre  Weiber,  Härbardslied  Str.  39;  vgl.  di< 
wütende  Raufsucht  der  bayerischen  Dorfleute,  Zeitschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1897 
S.  243. 

8)  Problematische  Behauptungen  über  Mondzauber  bei  Falk,  Arck.  f.  nord 
Phil.  6,  276. 

9)  Helg.  Hjorv.  zu  Str.  31 ;  vgl.  das  christliche  Pfingstwunder. 
10)  Sigurds  Tod,  Sigurd  en  skamna  Str.  22—23 
u)  Fäfn.  zu  Str.  2. 


§  9.    Die  Seelen.  79 

Sterbende  erblickt  die  Zukunft1);  der  Abend  aller  Abende,  der 
letzte  Tag2). 

Es  sind  Zeiten,  in  denen  das  Chaos,  die  Rückkehr  des  Lebens  ins 
Ungeformte,  einzutreten  scheint:  alle  Formen  verschwinden  und  die  Seele 
nähert  sich  ihrer  ursprünglichen  Ungebundenheit. 

3.  Verdoppelung  derSeele.  Schon  hier  beobachtet  der  Mensch 
seine  eigene  Seele  und  sieht  mit  Staunen,  wie  sie  über  ihn  herauswächst. 
Diese  Erfahrung  oder  vielmehr  dieser  Eindruck  kann  sich  aber  noch  steigern : 
es  gibt  Menschen,  die  beständig  die  Empfindung  einer  mehrfachen  Seele 
haben.  Sokrates  sah  die  Eingebungen  seines  Geistes  als  Einflüsterungen 
seines  »Dämoniums«  an  und  ihm  folgt  Platen: 

Wie?  mich  selbst  je  hätt  ich  gelobt?    Wo?  wann?  es  entdeckte 

Irgendein  Mensch  jemals  üble  Gedanken  in  mir? 

Nicht  mich  selber,  ich  rühmte  den  Genius,  welcher  besucht  mich, 

Nicht  mein  sterbliches,  mein  flüchtiges,  irdisches  Nichts ! 

Weil  ich  bescheiden  und  still  mich  selbst  für  viel  zu  gering  hielt, 

Staunt'  ich  in  meinem  Gemüt  über  den  göttlichen  Geist. 

Von  solchen  Eindrücken  geht  die  Vorstellung  einer  doppelten  (oder 
noch  mehrfachen)  Seele  aus3). 

Diese  zweite  Seele  kann  nun,  wie  die  erste,  sichtbar  werden,  aber 
auch  sie  scheint  hierin  an  die  hohen  Momente  (besonders  Fest  und  Tod) 
gebunden.  Wir  wissen  von  dieser  Vorstellung  Näheres  nur  aus  dem 
Norden,  wo  sie  sich  in  vollkommener  Deutlichkeit  kristallisiert  hat. 

Sie  heißt  dort  Fylgja4)  oder  Fylgj  ukona5).  Sie  ist  weiblich 
(während  sonst  die  innewohnende  Seele,  wenn  überhaupt,  als  ein  Miniatur- 
bild des  Körpers  aufgefaßt  wird) 6)  und  kann  wieder  Tiergestalt  annehmen, 
besonders  die  von  Haustieren  (Geißbock,  Hengst)  oder  von  wilden  Tieren 
(Wolf,  Bär).  Sie  besucht  den  Menschen,  wenn  er  zugänglich  ist:  im 
Rausch  wie  Hedin 7),  kurz  vor  dem  Tod :  Thidrandi,  sieht  in  einer  mond- 
hellen Nacht  die  neun  Schutzgeister  der  Geschlechter  in  weißen  Gewändern 
und  auf  weißen   Rossen   gegen   neun   andere   in    schwarzen   Gewändern 


J)  Sig.  sk.  Str.  52f.;  vgl.  Altgerm.  Poesie  S.  51. 

2)  Vol.  Str.  45;  vgl.  Helg.  Hund.  2,  39. 

3)  Sie  ist  z.  B.  bei  den  Ägyptern  kanonisiert:  neben  der  Seele,  die  den  Leib 
des  Sterbenden  in  Vogelgestalt  verläßt,  noch  das  Ka,  die  Lebenskraft?  (Er man, 
Ägyptische  Religion  S.  88,  109).  —  Die  »Außenseite«'  wird  oft  märchenhaft  mate- 
rialisiert: in  Meleagers  Holzblock,  in  des  Nisus  Goldhaar  steckt  die  Lebenskraft 
(Frazer  1,  305),  während  sie  doch  außerdem  wie  andere  Menschen  leben, 
denken,  handeln. 

4)  Vgl.  Mogk  S.  271. 

5)  »Folgerin,  Folgefrau«,  E.  H.  Meyer  S.  262. 

6)  Frazer  1,  122. 

7)  Helg.  Hjorv.  zu  31. 


gQ  Drittes  Kapitel. 

reiten,  von  denen  er  getötet  wird1).  Hier  haben  wir  gleich  die  weitere 
Spaltung:  Gisli  hat  zwei  Traumweiber,  deren  eine  wohlwollend  gesinnt! 
ist,  die  andere  ungünstig2)  —  das  sind  zwar  keine  eigentlichen  Fylgjur, 
aber  doch  Traumgeister,  die  diesen  angenähert  sind.  Übrigens  könnte 
diese  Einteilung  in  helle  und  dunkle  Schutzgeister  auf  christlichen  Ein- 
fluß zurückgehen  (Bürgers  Ballade  vom  wilden  Reiter);  freilich  gibt  es 
auch  helle  und  dunkle  Elfen. 

Während  die  Fylgja  nur  eben  die  Verkörperung  der  entwickelten 
Seele  ist,  die  Unglaubliches  rät,  ob  nun  Gutes  oder  Böses,  hat  die 
hamingja  völlig  den  Charakter  des  »Schutzengels«.  Mogk3)  faßt  die 
hamingja  als  identisch  mit  der  Fylgja:  sie  sei  nur  die  mit  einer  Hülle 
(altnordisch  hamr),  z.  B.  der  Tiergestalt,  bekleidete  Fylgja4).  Aber  daß 
sie  immer  gütig  scheint5),  bedeutet  doch  wohl  nur  einen  Unterschied:  sie 
ist  die  ethisch  umgedeutete  Fylgja 6). 

Sie  wird  so  persönlich  vorgestellt,  daß  man  über  sie  (wie  über  einen 
Schatten)  stolpern  kann7).  Auf  Denksteinen  wird  sie  abgebildet8).  Einen 
Kultus  genießt  sie  nicht,  sie  ist  ja  ein  Teil  des  eigenen  Selbst.  Nicht 
jeder  besitzt  eine  Fylgja 9) :  sie  ist  ein  individueller  Vorzug. 

4.  Die  Seele  nach  dem  Tode.  Die  Seele  kann  also  bei  Leb- 
zeiten sichtbar  werden  und  zwar  auch  Unbeteiligten:  die  hugir  fremder 
Männer  erscheinen10)  als  Wölfe,  die  den  Träumenden  überfallen.  Damit 
ist  ihr  Benehmen  nach  dem  Tod  vorgezeichnet11). 

Sie  bleibt  zunächst  einen  Augenblick  in  der  Nähe  des  Leibes,  nament- 
lich so  lange  dieser  noch  warm  ist12).  Dann  aber  »kehrt  sie  in  die  ewig 
belebte  Natur  zurück«13),  in  die  große  Vorratskammer  der  Existenz 
(Die  Vorstellung,  daß  sie  zur  Wiedergeburt  aufbewahrt  werde  scheint 
jünger  und  vereinzelt.)    Sie  kann  einfach  spurlos  in  die  Natur  aufgehen, 


x)  Olafsaga  Tryggvasonar  K.  215,  Golther  S.  99. 
'-')  Golther,  ebd.  nach  Gislasaga  Sürssonur  41. 

3)  S.  271. 

4)  Andere  Etymologie  bei  E.  H.  Meyer  S.  262. 

5)  Vigaglumssaga  c.  9. 

6)  Den  Unterschied  sucht  mehr  in  der  allgemeinen  Schicksalsbedeutung  dei 
hamingja,  während  die  Fylgja  »nur  eben  den  Begriff  der  Begleitung«  aus- 
drücke, Rieger,  Zs.  f.  d.  A.  42,  277f.;  vgl.  auch  Grönbech,  Lykkmand  og 
Niding,  S.  189. 

7)  Mogk  S.  271. 

8)  Rosenberg;,  Nordboernes  Aandsliv  1,  49. 

9)  Vgl.  Golther  S.  99 f.,  Mogk  S.  251,  271,   Meyer  S.  262. 
10)  Mogk  S.  271. 
n)  Ebd. 

1-)  Vgl.  Meyer  S.  71. 
13)  Ebd. 


§  9.    Die  Seelen.  81 

wie  der  Chor  in  Goethes  Helena1).  Häufiger  aber  sucht  sie  eine  neue 
»Haut«,  eine  Bekleidung,  gewissermaßen  eben  als  Schutz  gegen  dies  Auf- 
gehen 2)i  Im  ersten  Fall  bleiben  die  Seelen  eben  unsichtbar  oder  werden  nur 
noch  innerhalb  einer  Übergangsperiode  vorübergehend  in  jenen  Gestalten 
als  Flamme,  Rauch,  Vogel,  Schlange  usw.  erblickt.  Im  anderen  fahren  sie 
zwar  in  ganz  ähnliche  Kleider,  aber  in  individuellerer  Ausprägung. 
Die  Tiergestalt  wird  dann  symbolisch  gefaßt,  so  daß  sie  das  Wesen 
der  darin  hausenden  Seele  offenbart3):  »es  ist  der  Geist,  der  sich  den 
Körper  baut«.  Dies  geschieht  im  Sinne  jener  uralten  Tierphysiognomik, 
die  in  dem  Fuchs  das  Sinnbild  der  Schlauheit,  in  dem  Adler  das  der 
Stärke  erblickt.  Diese  Anschauung  dauert  bis  auf  die  Gegenwart:  listige 
Männer  gehen  als  Füchse  um,  grausame  als  Wölfe,  Geizhälse,  Missetäter  als 
schwarze  oder  feurige  Hunde4).  Dabei  ist  christlicher  Einfluß  nicht  aus- 
geschlossen, die  Grundlage  aber  uralt. 

Nun  aber,  in  solche  Hüllen  gekleidet,  haben  die  Seelen  völlige  Frei- 
heit der  Bewegung.  Demnach  können  sie  schaden;  und  daß  sie  dem 
Erben  schaden  wollen,  der  in  ihrem  Bezirk  wohnt,  ist  wahrscheinlich.  Es 
gilt  sich  also  zu  schützen:  der  Totenkult  wird  erfordert. 

Wir  verfolgen  zunächst  die  weiteren  Schicksale  der  freigewordenen 
Seele. 

Sie  fährt  umher,  zunächst  auf  bestimmten  Wegen  und  zu  bestimmten 
Zeiten 5) :  es  sind  wieder  Nacht  und  Winter  (die  Nacht  des  Jahres) ;  außer- 
dem gibt  es  besondere  Gespensterzeiten.  Ebenso  steht  es  mit  den  Örtlich- 
keiten :  Kreuzwege  (warum  eigentlich  ?).  Daher  treffen  sie  sich  und  bilden 
dann  ein  Heer 6) :  das  »wilde  Heer«7).  Weniger 8)  sucht  den  Glauben 
an  das  wilde  Heer  schon  für  urgermanische  Zeit  zu  erweisen,  und 
nach  Olrik9)  war  Odin  von  vornherein  sein  Führer;  ich  möchte  im 
Gegenteil  glauben,  daß  er  das  erst  spät  wird  10).  Er  wird  erblickt,  wenn 
der  Sturm  die  Wolken  (==  Seelen)  umhertreibt;  dann  glaubt  man  auch 
Schlachten  in  der  Luft  zu  sehen11),  die  in  der  Heldensage  ein  Abbild 
finden  (Kampf  zwischen  Hagen  und  Hetel  in  der  Kudrun)  nnd  vielleicht 


J)  Am  Schluß  des  dritten  Aktes  von  Faust,  II.  Teil. 

2)  Mogk  S.  254,  263,  Golther  S.  80,  Meyer  S.  71  f. 

3)  Vgl.  Mogk  S.  303. 

4)  Wuttke,  Volksaberglaube,  §  75. 

5)  Mogk  S.  259. 

6)  Meyer  S.  255. 

7)  Mogk  S.  255,  Meyer  S.  66,  73,  180,  328,  3831,  Golther  S.  283f. 

8)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  9,  221, 

9)  Nordisches  Leben  S.  22,  26. 

10)  Auch  bei  den  Indern  führt  die  Seelen  kein  Gott,  sondern  der  erste  Mensch, 
Yama:  Macdonell  S.  173. 

k11)  Mogk  S.  255,  Golther  S.  89. 
Meyer,  Altgermanische  Religfonsgeschichte.  6 


§2  Drittes  Kapitel. 

auf  den  Mythus  von  dem  beständigen  Kampf  der  Einherier  (Geister  der 
auf  dem  Schlachtfeld  Gefallenen)  Einfluß  geübt  haben.  (Auch  besondere 
weibliche  Heere  mit  Holle  oder  Perchta  als  Führerin  werden  gebildet,  s.  u.) 
Die  Einherier  also  haben  einen  ganz  bestimmten  Weg:  ihre  Seelen  ziehen 
nach  Walhall1).  Erst  von  hier  aus,  glaube  ich,  wird  Odin  Führer  der 
wilden  Jagd,   der  große  Reiter  Hackelberend 2). 

Schließlich  also  findet  auch  die  »bekleidete«  Seele  ein  neues  Heim 
aber  es  ist  kein  individuelles,  wie  der  Menschenleib,  sondern  die  neue 
Herberge  ist  ein  Gesamtheim ;  ein  Gesamtkörper  gleichsam,  der  die  ruhe- 
lose Seele  aufnimmt3).  Doch  kamen  auch  hier  wohl  Differenzen  vor. 
Ertrunkene  müssen  ihre  Seelen  im  Wasser  lassen 4) :  der  Seelenvogel  mag 
in  den  Wolken,  die  Seelenschlange  in  Brunnen  und  Gewässern  ver- 
schwinden 5).  Im  allgemeinen  ist  aber  diese  Differenzierung  abzulehnen :  die 
Seelen  gehen  zur  Ruhe  in  die  Berge6).  Das  ist  eine  sehr  natürliche  An- 
schauung. Der  Berg  erscheint  als  großer  Grabhügel,  und  der  Horror 
vacui  der  Volksphantasie  will  diese  großen  Hohlräume  ausfüllen.  Dazu 
kommt,  daß  «in  Höhlen  wohnt  der  Drachen  alte  Brut«  7). 

Nordische  Sagen  erzählen 8)  anschaulich  von  dem  Leben  der  Seelen 
im  Berg:  ein  Knecht  sieht,  wie  ein  Berg  sich  öffnet,  er  sieht  darin  Feuer, 
hört  Lärm  und  Hörnerklang,  und  wie  die  drin  im  Berg  seinen  Herrn 
Thorstein  begrüßen  —  er  hat  mit  dem  »zweiten  Gesicht«  die  Ankunft 
von  Thorsteins  Seele  in  dem  Totenberg  vorausgesehen.  An  den  Ratten- 
fänger von  Hameln  wurde  schon  erinnert. 

Selbst  für  die  Einherier  scheint  der  Berg  zuweilen  notwendiger  Durch- 
gang: so  muß9)  König  Svegdir  erst  dorthin,  um  zu  Odin  zu  gelangen.  — 
Eine  heroische  Umdeutung  dieses  Eingangs  der  Helden  ist  die  berühmte 
Sage  von    der   Bergentrückung  großer  Fürsten10): 

»Im   Kyffhäuser   sitzt   Friedrich  IL,   später   Friedrich   Barbarossa,   derselbe,; 
Friedrich  in  einer  Felsenhöhle  bei  Kaiserslautern,  Wittekind  in  einem  Hügel  beim 


x)  Vaf.  Str.  40f.,  Grim.  Str.  18f.,  Mogk  S.  256,  Golther  S.  313f.,  Meye 
S.  292  f. 

2)  Golther  S.  286,  s.  u. 

3)  Mogk  S.  256,  Golther  S.  83. 

4)  Golther  S.  90. 

5)  Mogk  S.  358  nach  Mannhardt,  Germ.  Myth.,  S.  95,  271  f.    Allgemeir 
vgl.  Bastian,  Die  Verbleibungsorte  der  abgeschiedenen  Seelen. 

6)  Mogk  S.  287. 

7)  Ebenso  z.  B.  indisch  (Oldenberg,  Religion  des  Veda,  S.  242,  255) 
griechisch  (Rhode,  Psyche  S.  104). 

8)  Golther  S.  88. 

9)  Heinskringla  S.  12. 
10)  Kampe rs,    Die   deutsche   Kaiseridee   in   Prophetik  und  Sage;   ders. 

Kaiserprophetien  und  Kaisersagen.    Münehen  1895,  S.  133  f. 


§  9.    Die  Seelen.  83 

westfälischen  Dorfe  Mehnen,  Siegfried  im  Bergschloß  Geroldseck,  Heinrich  der 
Vogler  im  Sudemerberge  bei  Goslar,  Karl  im  Untersberg  bei  Salzburg,  Holger 
Danske  unter  dem  Fels  von  Kronborg  bei  Kopenhagen,  Olaf  in  Schweden  usw. 
Die  einzelnen  geschichtlichen  Gestalten  sind  meist  spät  und  auf  gelehrtem  Wege 
in  die  Volkssage  gelangt« x).  —  Solchen  bergentrückten  Helden  widmen  die 
Griechen  einen  Kult2). 

Mit  Odin  haben  diese  Sagen  nichts  zu  tun3);  es  ist  eben  nur  vor- 
nehmen Herren  ein  eigener  Berg  eingeräumt  worden.  Die  Erwartung 
ihrer  Wiederkehr  aber  hängt  mit  einer  anderen  mythologischen  Vorstellung 
zusammen,  der  nämlich,  daß  »die  Geister  der  Verstorbenen  zu  gewissen 
Zeiten  wieder  die  Oberwelt  heimsuchen«4).  Davon  berichten  manche 
Sagen;  so  die  Chronik  von  Ursperg5)  von  den  animae  militum  inter- 
fectorum  bei  Worms  1223.  Oder  es  kehren  wenigstens  einzelne  Seelen 
zurück,  etwa  zu  Gedenktagen,  oder  durch  Sehnsucht  herbeigerufen  (schönstes 
Beispiel  in  der  Heldensage  von  Helg.  Hund.  Str.  38 f.;  dazu  die  Sage 
vom  Thränenkrüglein) 6).  Zu  dieser  Vorstellung  haben  unzweifelhaft  die 
Träume  viel  beigetragen,  die  das  Bild  der  Verstorbenen  vor  die  Augen 
zaubern7),  daneben  aber  auch  die  Erscheinung  eines  psychologisch- 
optischen »Nachbildes«,  indem  jemand,  den  man  sich  oft  und  viel  ver- 
gegenwärtigt, plötzlich  leibhaft  dazustehen  scheint8). 

Diese  Geister,  die  von  der  Totenheimat  zu  den  Lebenden  beurlaubt 
sind,  werden  objektiv  »Wiedergänger«  (dies  auch  der  einheimische  Titel 
von  Ibsens  »Gespenstern«;  französisch  »revenants«),  subjektiv  »Ge- 
spenster« (Trugbilder)  genannt.  Meist  erscheinen  sie  in  reduzierter  Wirk- 
lichkeit, als  Schattenbilder  oder  noch  häufiger  als  Nebelgestalten  (die 
Seelen wölkchen  in  menschenähnlicher  Gestalt),  oft  »von  Grabesdunst  um- 
wittert, entstellt  oder  verklärt,  zuweilen  ins  Riesenhafte  ausgereckt« 9).  Der 
Gespensterglaube  hat  sich  mit  großer  Hartnäckigkeit  bis  in  die  Gegen- 
wart behauptet  und  sogar  durch  den  Spiritismus  neue  Nahrung  erhalten. 

Die  Gespenster  erscheinen   fast  stets  bei  Nacht 10). 

Wenn  die  Toten  periodisch  wiederkehren,  hat  dies  weniger  Be- 
unruhigendes,  als   wenn   solche  einzelnen  Seelen  anklopfen.     Dies  erregt 


!)  Golther  S.  89. 

2)  Rohde,  Psyche,  S.  111. 

3)  Mogk  S.  257. 

4)  So  bei  den  Römern:  Wissowa  S.  188. 

5)  Mon.  Germ.  8,  261. 

6)  Vgl.  allgemein  Meyer  S.  91  f. 

7)  Vgl.  Rohde,  Psyche  679,  2. 

8)  Interessantes  Zeugnis  bei  v.  Krosigk,  Generalfeldmarschall  v.  Steinmetz. 
Berlin  1900,  S.  147;  ich  habe  selbst  kürzlich  Verstorbene  wiederholt  auf  der 
Straße  zu  erkennen  geglaubt. 

9)  Meyer  S.  93. 

10)  Helg.  Hund.  2,  50. 

6* 


84  Drittes  Kapitel. 

Besorgnis;  es  entstehen  ätiologische  Mythen.  Bei  den  Primitiven  wie  bei 
den  Indern,  Persern  u.  a.  *)  glaubt  man,  die  Toten  wollten  die  Lebenden 
plagen.  Besonders  kehren  die  Seelen  der  Ermordeten  wieder,  um  Rache  zu 
fordern  (Hamlet);  das  tun  sie  auch  im  »Bahrrecht«,  wenn  sie  bei  der  An- 
näherung des  Mörders  an  die  Leiche  das  Blut  fließen  lassen,  d.  h.  auf  einen 
Augenblick  den  Körper  wieder  beleben2),  um  Anklage  zu  erheben. 
Diese  Vorstellungen  steigern  sich  zu  denen  von  den  »Nachzehrern«  oder 
>Neuntötern«,  die  erst  beruhigt  sind,  nachdem  sie  eine  heilige  Zahl  von 
Opfern  ins  Grab  nachgezogen  haben.  Slawisch  und  erst  im  18.  Jahr 
hundert  nach  Deutschland  gedrungen  ist  die  spezifische  Form,  daß  der 
Tote  nach  dem  Blute  des  Lebenden  verlangt,  um  sich  noch  eine  kurze 
Lebenszeit  zu  sichern3). 

Erst    aus    diesen    Gespenstererscheinungen    wird    sich,    glaube   ich 
die  Vorstellung  von   der   Wiedergeburt4)  gebildet  haben,   d.  h.   der 
periodischen  Wiederkehr  der  Seele  in  ihre  Sippe.    Sie  wird  durch  allerle 
Erfahrungen    begünstigt:    die    Ähnlichkeit   von    Enkel    und    Großvater: 
wiederkehrende  Gewohnheiten;   selbst   jene   merkwürdigen    Erinnerungs- 
vorstellungen,   in    denen    man    noch    nie    Gesehenes    wiederzuerkennen^ 
glaubt,  und  die  schon  bei  Piaton  eine  Rolle  spielen.    Die  häufige  (auchi/ 
z.  B.  in  Athen   gefestigte)  Sitte,   den  Enkel   nach   dem  Großvater  zu  be 
nennen,  anfänglich  eine  Huldigung,  kann  später  diesem  Glauben  Vorschuh  fl 
geleistet  (und  wiederum  von  ihm  Förderung  erfahren)  haben.     Daß  abeil 
diese  Sitte  den  Glauben  an  die  Wiedergeburt  schon  voraussetzt5),  scheint  mh 
so  unwahrscheinlich,  wie  daß  sie  »der  eigentlich  heidnische  Unsterblichkeitsj 
glaube<   gewesen  sei6).    Die  Zeugnisse7)  scheinen  mir  in  doppelter  Weis*1» 
einer  einschränkenden  Interpretation  zu  bedürfen.    Erstens  sind  die  Zeug 
nisse  fast  ganz  auf  den  Norden  beschränkt;   denn  wenn  Asinius  Pollicl 
von   den   Germanen   des  Ariovist  als  Ursache   der  Todesverachtung  di^ 
iXnlg  dpaßuootcog  angibt,   kann  diese  Hoffnung  auf  Wiederbelebung  siel 
allerdings  auf  Walhall  und  die  Einherier8)  beschränken.     Wichtiger  abe 
scheint  mir,  daß  nirgends  von  einer  allgemeinen  Wiedergeburt  di< 


')  Meyer  S.  93. 
2,  Meyer  S.  85. 

3)  Stefan   Hock,  Die  Vampyrsage  und  ihre  Verwertung  in  der  Literatur 
Stuttgart  1900. 

4)  Mogk  S.  257. 

5)  Olrik  S.  17. 

6)  Ebd.  S.  101. 

7)  Bei  Golther  S.  96;  Mogk  a.  a.  O.;  allgemein  vgl.  Jiriczek,  Seelen 
glaube  und  Namengebung,  Mitteilungen  d.  Schles.  Ges.  f.  Volksk.  1  (3)  30,  mi 
nur  aus  dem  kurzen  Referat  der  Jahresberichte  für  germanische  Philologie  1 
(1895)  S.  146  Nr.  37  bekannt. 

8)  Wie  auch  Golther  anheim  gibt. 


§  9.    Die  Seelen.  85 

Rede  ist.  In  der  berühmten  Eddastelle1)  heißt  es  nur:  »das  war  in  alter 
Zeit  Glaube,  daß  Menschen  wiedergeboren  werden  könnten;  jetzt  aber 
heißt  das  alter  Weiber  Wahn« 2).  Ja,  die  wichtigen  Stellen,  in  denen  Geister 
»um  des  Namens  willen  kommen«  3),  d.  h.  bitten,  daß  einem  erwarteten  Kind 
ihr  Name  beigelegt  werde,  beweisen  doch  wohl,  daß  ohne  besondere  Ver- 
anstaltung die  Wiedergeburt  nicht  erfolgte.  Der  Name  ist  ja  mit  geheimnis- 
voller Kraft  verbunden ;  mit  seiner  Erneuerung  (wie  wenn  Helgi  Hundingsbani 
als  Helgi  Haddingjaskati  wiedergeboren  wird;  seine  Geliebte  Sigrun  aller- 
dings als  Kara)  wird  die  Seele  erneuert.  Es  ist  eine  Vorstellung,  wie 
auch  der  alte  Goethe  sie  hegte:  daß  die  Natur  auserlesenen  Geistern 
ein  Weiterwirken  »schuldig  sei«;  gestützt  durch  metaphorische  Vergleiche, 
wie  wenn  von  einem  »zweiten  Judas«  gesprochen  wird,  und  vielleicht  zu- 
weilen auch  von  den  Dichtern  künstlich  zur  Verbindung  zweier  Sagen 
benutzt4).  Dem  widerspricht  auch  nicht,  daß  Hagen5)  ausdrücklich  der 
Brynhild  die  Wiedergeburt  verwünscht:  von  ihr  könnte  man  sich  der 
Wiederkunft  versehen.  (Macbeth  zu  seiner  Lady:  »Gebär  mir  keine  Töchter!«, 
gerade  wie  auch  Lear  den  Schoß  seiner  undankbaren  Tochter  verflucht.) 

Ich  glaube  also,  etwa  dies  läßt  sich  annehmen:  die  Seelen  begehren 
oft  wieder  zum  Leben,  aber  nur  wenigen  wird  die  Wiedergeburt  gewährt, 
und  zwar  scheint  dabei  zumeist  noch  Hilfe  der  Lebenden  erforderlich.  Der 
Name  wird  dabei  als  die  Hülle,  in  die  die  Seele  einschlüpfen  kann,  dar- 
geboten. 

Golther  wirft6)  die  Wiedergeburt  mit  der  Seelenwanderung 
zusammen.  Aber  unter  »Seelen Wanderung«  versteht  man  die  periodische 
Wiederkehr  der  Seele  (nicht  die  einmalige),  und  zwar  in  einer  geordneten 
Folge  wechselnder  Gestalten 7).  Für  die  Existenz  dieses  Glaubens  bei  den 
alten  Germanen  fehlt  jeder  Anhalt;  die  Tiergestalten  der  Totengeister 
haben  in  ihrem  Mangel  einer  geordneten  Folge  durchaus  nichts  mit  der 
Seeienwanderung  zu  tun. 

Dem  entspricht  es,  daß  auch  über  die  Präexistenz  der  Seele 
keinerlei  Vorstellungen  zu  herrschen  scheinen:  ihre  Existenz  ist  eben,  wie 
die  der  Menschen  selbst,  ein  einmaliges,  durch  Anfang  und  Ende  be- 
grenztes Faktum.     Der  Ammenglauben   vom  Holen   der  Kinder  aus  dem 


J)  Zu  Helg.  Hund.  50. 

2)  Gering,  Edda  S.  182. 

3)  Maurer,  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1895,  S.  99. 

4)  Vgl.  Heinzel  und  Detter,  Saemundar  Edda,  Leipzig  1993;  2,  364. 
•)  Sig.  sk.  Str.  45. 

6)  a.  a.  O.  S.  96. 

7)  Paradigma  die  buddhistische  Seelenwanderung  mit  schon  vedischen  An- 
sätzen, Oldenberg,  Religion  des  Veda,  S.  561 ;  in  der  Kultur  der  Gegenwart  I,  III, 
S.  61;  vgl.  allgemein  Bertholet,  Seelenwanderung,  Tübingen  1904. 


§5  Drittes  Kapitel. 

Teich1)  ist  nur  die  Umdeutung  einer  realistischen  Tatsache;  ebenso  muß 
man  2)  jeden  Zusammenhang  des  wohl  erst  aus  gelehrten  Reminiszenzen 
erwachsenen  mittelalterlichen  »Jungbrunnens«  mit  dem  Seelenglauben  ab- 
weisen. Soweit  man  sich  in  alter  Zeit  über  diese  Probleme  Gedanken  macht 
(welche  geringe  Rollen  spielen  sogar  in  der  theologischen  Spekulation  des 
Christentums  Theorien  wie  die  des  Traducianismus!),  denkt  man  wohl 
einfach  an  eine  vorherige  Gestaltung  der  Körper,  denen  dann  die  Seele 
zuerteilt  wird,  durch  die  Götter3),  durch  die  Paten  bei  der  Namens- 
verleihung 4)  oder  wie  sonst.  Von  einer  Präformation  oder  Präexistenz  der 
Seele  findet  sich  keine  Andeutung;  es  sei  denn  in  der  späten  Spekulation 
von  Utgard,  dem  Reich  der  Seelen  5).  Oder  hat  Hoenir  die  Verteilung  der 
Seelen  unter  sich?1 

Dies  dürfte  etwa  die  altgermanische  Lehre  von  den  Seelen  sein;   sie 
stimmt  in  den  wesentlichen  Punkten,  wo  wir  sie  prüfen  können,  mit  der 
anderer  Völker  auf  gleicher  Kulturstufe  überein  und  hat,   wie  bei  ihnen 
zur   praktischen  Folge  den  Ahnen-  oder  Totenkult,  den  Animismus,   und 
in  weiterer  Ausbildung  den  ihm  eng  verwandten  Dämonismus. 

§  10.    Ahnengeister  und  Totenkult6). 

Wir  haben  schon  die  Anschauung  abgewehrt,  daß  für  die  animistische 
Weltanschauung  die  ganze  Welt  belebt  sei.  Es  ist  vielmehr  nur  eine 
freilich  unbegrenzte  Anzahl  von  Seelen  da,  die  sich  irgendwo  niederlassen 
oder  niedergelassen  haben  können.  Man  kann  neunundneunzig  Bäume 
fällen  —  und  im  hundertsten  sitzt  plötzlich  eine  Hamadryade.  Man  kann 
Dutzende  von  Wölfen  töten,  aber  einer  ist  ein  Werwolf.  Das  kann  man 
nie  vorher  wissen;  so  wenig,  wie  etwa  heute,  wo  in  einem  Bergwerke 
Goldadern  sind.  Anzeichen  besitzt  man;  Gewißheit  gibt  erst  die  Er- 
fahrung. 

Genau  weiß  man  eigentlich  nur  an  Einer  Stelle,  daß  eine  »freie«  Seel 
da  weilt:  an  der  Leiche  des  eben  Gestorbenen.  Freilich  ist  sie  nur  relativ 
>frei<,  aber  doch  fähig,  uns  zu  schaden.  Sie  sieht  zu,  was  wir  tun;  wii 
müssen    ihre   Empfindungen    schonen7).      Daher    auch    der   Spruch:    de 


J)  Mogk  S.  358;  vgl.  auch  Saintyves,  Les  Vierges  meres,  S.  39f. 

2)  Mit  Mogk  S.  259. 

3)  Vgl.  Vol.  Str.  18. 

4)  Vgl.  Helg.  Hjörv.  zu  Str.  6. 
B)  Gylfaginning  Kap.  46  f.,  s.  u. 
«J  Mogk  S.  249 f.;   E.  H.  Meyer  S.  681;  Golther  S.  72f.;  Chanfepi 

de  la  Saussaye  S.  289f.;  W.  Wundt  2,  142 f. 

7)  Maupassants   köstliche    Satire    »En  famille«    übersetzt    die   Situation   ii 
modernen  Realismus. 


§  10.    Ahnengeister  und  Totenkult.  87 

mortuis  nil  nisibene ;  die  Pietät  der  natürlichen  Menschen  ist  auf  Furcht 
gegründet. 

Hieraus  gehen  wichtige  Pflichten  hervor  —  vielleicht  die  ältesten, 
bei  denen  dieser  Begriff  überhaupt  erwachte  und  den  Menschen  zum  Be- 
wußtsein kam. 

Zunächst  hat  man  Pflichten  gegen  den  Körper  des  Verstorbenen. 
Man  muß  ihn  zur  Ruhe  bringen  (altn.  hylja).  Vor  allem  muß  dieser 
letzte  und  wichtigste  Besitz  des  Toten  vor  jeder  Verletzung  gehütet  werden. 
»Mit  solcher  Strenge  wahrt  das  bajuwarische  Volksrecht  die  Unverletzlich- 
keit der  Toten,  daß  selbst  derjenige,  der  beim  Wegschießen  der  Aasvögel 
die  Leiche  mit  dem  Pfeil  verwundete,  in  Todesstrafe  verfiel« l).  Es  wird 
daher  auch  die  äußerste  Pietätlosigkeit  durch  symbolische  Handlungen  so 
ausgedrückt,  daß  der  Sohn  nach  der  Leiche  des  Vaters  schießt  (in  einer 
Variante  der  Erzählung  von  den  drei  Ringen)  oder  die  Witwe  an  dem 
Körper  des  Verstorbenen  Leichenschändung  begeht2).  Die  Zeremonien 
des  Schließens  von  Auge  und  Mund,  des  Waschens  und  Kleidens  sind 
genau  geregelt 3). 

Diese  Sorgen  um  den  Körper  schließen  mit  der  Beisetzung  ab, 
die  in  ihren  beiden  wechselnden  Hauptformen  —  Verbrennen  und  Be- 
graben—  auf  die  völlige  Unschädlichmachung  des  Seelenhauses  abzielt4). 

Die  Gräber  sind  oft  prunkvoll5);  in  späterer  Zeit  gilt  ein  Denkstein 
im  Norden  als  unentbehrliche  Ehre6).  Die  meisten  uns  erhaltenen  Runen- 
inschriften sind  solche  Denkmäler  (nicht  notwendig  am  wirklichen  Grab). 

Über  die  ganze  Welt  ist  dabei  der  Brauch  verbreitet,  den  Toten  aus- 
zustatten: man  gibt  der  Frau  Schmuck  und  Werkzeuge  der  Handarbeit 
mit ,  dem  Mann  Waffen ,  dem  Häuptling  auch  noch  Gefolge  und  Roß  7). 
Man  erklärt  diese  Sitte  —  von  der  Spuren  noch  fortleben  —  zumeist 
dahin,   daß   dem   Toten    im  Jenseits   die  Ausrüstung  nicht  fehlen  soll8), 


')  E.  H.  Meyer  S.  96. 

2)  Motiv  der  «Matrone  von  Ephesus«;  vgl.  Grisebach,  Die  treulose  Witwe, 
Berlin  1873. 

3)  E.  H.  Meyer,  Deutsche  Volkskunde,  S.  370.  —  Am  weitesten  haben  die 
Ägypter  die  Sorge  um  den  Körper  des  Toten  getrieben;  vgl.  Erman,  Ägyptische 
Religion  S.  115 f.;  demnächst  die  Chinesen;  vgl.  de  Groot,  Kultur  der  Gegen- 
wart a.  a.  O.  S.  170.  Von  Griechen  übernommen:  Hackl,  Arch.  f.  Rel.- 
Wissensch.  12,  195.  Aber  auch  z.  B.  bei  den  Indern  ist  der  Ritus  sehr  genau 
ausgearbeitet,  vgl.  Hillebrandt,  Ritualliteratur  S.  87  —  wohl  nicht  ohne  be- 
wußte Mitwirkung  einer  interessierten  Priesterschaft. 

4)  Über  die  indogermanischen  Bestattungsformen  Ed.  Meyer  S.  271 ,  über 
die  germanische  Mogk  S.  251,  Meyer  S.  107. 

5)  Meyer  S.  111. 

6)  Hävamäl  Str.  72. 

7)  Vgl.  z.  B.  Gudmundsson  in  Pauls  Grundriß,  2.  Aufl.  3,  427 f. 

8)  Vgl.  auch  Mogk  S.  251  f. 


g3  DHttes  Kapitel. 

und  dieser  Gedanke  ist  unzweifelhaft  herrschend  geworden ;  aber  in  der 
Urzeit,  in  der  die  Vorstellung  von  der  scharfen  Scheidung  zwischen 
Körperlichem  und  Geist  lebendig  war,  wird  man  wohl  eher  an  eine  sym- 
bolische Abfindung  des  Erblassers  gedacht  haben.  Daher  auch  die  genaue 
Bemessung  der  Totenaussteuer *).  —  Dem  entspricht  es  auch,  wenn  Jüng- 
lingen und  Mädchen,  die  vor  der  Ehe  gestorben  sind,  symbolisch  Bräutigam 
oder  Braut  angetraut  werden,  um  die  Forderungen  des  unvollendeten  Lebens 
(die  Braut  von  Kotinth  und  das  Lenorenmotiv ;  Klage  der  sterbenden 
Antigone)  abzufinden2)! 

Sodann  haben  die  Überlebenden  vielfach  noch  an  sich  selbst  allerlei 
Zeremonien  zu  vollziehen,  deren  Grundgedanke  der  der  Reinigung  ist; 
sie  sind  wohl  nur  in  priesterlich  verwalteten  Religionen  —  in  denen  der 
Kultus  der  Reinigungen  immer  besondere  Ausdehnung  findet  —  fest  aus- 
gebildet3). 

Auf  einen  längeren  Zeitraum  aber  erstreckt  sich  der  wichtigste  Teil 
des  Bestattungsritus:  die  Sorge  um  dieSeele  des  Toten.  Dies  ist  der 
Totenkult,  der  eine  Zeitlang  für  die  Wurzel  aller  Religion  galt4),  und 
der  jedenfalls  wirklich  den  ersten  festen,  dogmatisch  und  rituell  erhärteten 
Kern  des  Kultus  überhaupt  bildet. 

Wenn  schon  der  Moment  des  Sterbens  besondere  Kraft  verleiht,  wie 
viel  mehr  ist  die  ganz  befreite  Seele  zu  fürchten! 

Man  macht  ihr  den  Weg  frei,  damit  sie  ja  nicht  im  Heim  bleibt: 
das  Fenster  wird  geöffnet,  die  Töpfe  umgekehrt,  damit  sie  nicht  in  ihnen 
hängen  bleibt  oder  sich  versteckt. 

Die  Rückkehr  wird  ihr  erschwert.  Vielleicht  gehört  dazu  auch  das 
Schließen  des  Augfes5).  Die  Leiche  wird  so  herausgetragen,  daß  ihre 
Füße  in  der  Tür  bleiben;  so  wird  sie  den  Rückweg  nicht  finden.  So  lag 
schon  Patroklus'  Leichnam  mit  dem  Gesicht  der  Zelttür  zugewandt6)- 
Doch  spielt  auch  der  Gedanke  mit,  daß  der  Tote  freiwillig  aus  dem  Haus 
zu  gehen  scheint. 

Öfters  wird  die  Seele  »gebadet«,  indem  man  ihr  Wasser  ans  Fenster 
setzt;  soll  sie  damit  für  ihren  Weg  gerüstet  werden? 

Es  folgt  die  Toten  klage  als  Abschiedsgruß  7).   Dies  ist  ein  besonders 

*)  Meyer  S.  114. 

2)  O.  Schrader,  Toterihochzeit,  Leipzig  1905.  Vgl.  Mogk  S.  251  f.,  Meyer 
S.  103,  Chantepie  S.  306. 

3)  Vgl.  Hillebrandt  a.  a.  O.  S.  89. 

4)  Vgl.  Ed.  Meyer,  Register  s.  v. 

5)  Golther  S.  91. 

6)  Meyer  S.  104. 

7)  Vgl.  Müllenhoff,  De  antiquissima  Germ,  poesi  chorica,  Kiel  1845, 
Meyer  S.  105. 


§  10.    Ahnengeister  und  Totenkult.  89 

wichtiger  Akt.  Vielerlei  wirkt  zu  seiner  Bedeutung  zusammen.  Zunächst 
ist  es  eine  pflichtmäßige  Huldigung,  zugleich  aber  auch  die  Stilisierung 
einer  naturgemäßen  Empfindung;  es  ist  weiterhin  aber  auch  durch  den 
Grad  seiner  Intensität  ein  Gradmesser  der  sozialen  Stellung  des  Gestorbenen : 
Knechte  werden  noch  im  Mittelalter  nicht  beklagt,  nur  Ritter1).  Endlich 
aber  ist  die  Totenklage  auch  auf  den  Toten  selbst  berechnet,  dem  sie 
nachdrücklich  den  Abschied  gibt.  Sie  wird  deshalb  nicht  bloß  durch  die 
wirklich  Beteiligten,  sondern  auch  noch  durch  bezahlte  Klageweiber  aus- 
geübt —  ein  uralter,  noch  heute  bestehender  Brauch 2).  —  Anderseits  muß 
man  sich  vor  zu  wilder  Klage  hüten:  sie  beschwert  den  Toten3). 

Der  Tod  wird  verkündet:  man  sagt  ihn  den  Haustieren,  den  Bienen  an. 
Diese  Tod  es  ansage  ist  ein  Akt  der  Erbübernahme  und  zugleich  der 
Courtoisie4). 

Den  Schluß  bilden  Leichenwache  und  Leichenschmaus  (im 
Nibelungenlied  drei  Tage  und  drei  Nächte  der  Wache,  jetzt  meist  zwei 
Nächte).  Die  Wache  bedeutet  Abwehr  des  Geistes,  der  noch  die  Bahre 
umkreist;  der  Schmaus  seine  definitive  Verabschiedung:  »die  Seele  des 
Verstorbenen  galt  als  anwesend,  ja  als  der  Gastgeber«  5).  Der  Umfang  des 
Schmauses6)  entspricht  wieder  der  dem  Toten  zuzumessenden  Ehre7): 
1000 — 1500  Gäste  werden  auf  Island  vermeldet8);  Maßregeln  gegen  sie 
werden  auch  in  Hellas  und  Rom  erforderlich. 

Nun  werden  die  Spuren  vertilgt:  Leichenstreu  und  Leichenbrett 
(rebrett)  verbrannt9). 

Hiernach  beginnt  erst  der  eigentliche  Totenkult.  Meyer  unter- 
scheidet »Seelenpflege«  und  »Seelenabwehr« ,  aber  die  Pflege  dient  auch 
der  Abwehr:  die  Seele  darf  nicht  erzürnt  werden. 

Der  wichtigste  Akt  sind  die  nirgends  fehlenden  Toten o pf er 10): 
Stiere  und  Böcke11),  erneutes  Totenmahl;  noch  1000  eifert  Burchard  von 
Worms  gegen  die  oblationes,  quae  in  quibusdam  locis  ad  sepulchra 


*)  Veldekes  Enit  v.  6425;  vgl.  Allgemeine  Deutsche  Biographie  39,  569- 

2)  Vgl.  z.  B.  E.  H.  Meyer,  Badisches  Volksleben  S.  585,  594. 

3)  Ritter  Aage  u.  a.  Sagen,   vgl.  Meyer  S.  100;  als  z.  B.  bei  den  Hellenen 
Rohde,  Psyche  S.  206,  2. 

4)  E.   H.  Meyer,  Deutsche  Volkskunde  S.  269.  —  Wird  so  der  Tod  des 
großen  Pan  angesagt?  vgl.  Prell  er  1,  745,  Anm.  6. 

B)  Rohde  S.  213. 

6)  Vgl.  Meyer  S.  116. 

7)  Mogk  S.  253. 

8)  Ähnliche  Übertreibungen  z.  B.  in  der  Oberpfalz ;  E.  H.  Meyer,  Deutsche 
Volkskunde  S.  274, 

9)  Ebd.  S.  271. 
10)  Meyer  S.  115. 

n)  Nach  Bericht  des  Papstes  Zacharias  um  748. 


gQ  Drittes  Kapitel. 

mortuorum  fiunt.  Insbesondere  scheinen  am  Ende  der  Trauerzeit1) 
die  Zeremonien  erneut  zu  werden. 

Endlich  folgen  periodische  Erinnerungsfeste,  zunächst  für  den 
einzelnen  am  »Jahrestag«2),  später  in  Form  einer  gemeinsamen  Feier  der 
Ahnen  durch  drei  Generationen3). 

Mit  diesem  Ritual  ist  die  Seele  »abgefunden«.  Freilich  braucht  man 
sie  unter  Umständen  noch  einmal:  sie  behält  die  Gabe  der  Weissagung 
vom  Tode  her  bei  und  läßt  sich  deshalb  befragen4).  Dazu  dienen  die 
dadsidas 5).  Sie  begegnen  öfters  in  der  Edda  (Gröagaldr)  und  altnordischen 
Sage  (Hervararsaga)  und  haben  auch  eigenen  Zauberritus: 

So  kann  ich  ritzen  und  Runen  färben, 
daß  vom  Stamme  der  Gestorbene  steigt 
und  Worte  wechselt  mit  mir6). 

Aber  im  ganzen  ist  und  bleibt  man  gern  von  den  Toten  geschieden 
Indem  aber  dieser  Totenkult  durch  Generationen  fortgeführt  unc 
bei  jeder  Bestattung  erneuert  wird  —  die  Toten  werden,  wie  bei  unserer 
Leichenreden,  heraufbeschworen,  bei  den  Römern  sogar  bildlich  ver 
gegenwärtigt  —  wird  er  zum  Ahnenkult7).  Besonders  sollen  die  Seeler 
der  großen  Ahnen  helfen  (der  tote  Cid).  Man  läßt  sie  bei  feierlicher 
Gelegenheiten8)  begrüßen;  etwa  wie  bei  jedem  Appell  des  Regiment« 
dem  Latour  d'Auvergne,  der  »erste  Grenadier  Frankreichs«,  angehör 
hatte,  mit  dem  Aufruf  begonnen  werden  mußte:  «Latour  d'Auvergne?; 
y>Mort  sur  le  champ  d'honneur«.  Man  sucht  das  Leben  des  großei 
Toten  fortzusetzen9). 


*)  Durch  die  Erbteilung  bezeichnet:  im  Norden  am  7.  oder  30.  Tage,  Meye 
S.  117;  in  Athen  Opfer  am  3.,  Opfermahl  am  30.  Tage,  Rohde  S.  214;  in  Indier 
nach  der  Person  des  Toten   abgestuft    Hillebrandt  S.  89;  andere  Völker  vg 
Meyer  S.  118. 

2)  B.W.  Leist,  Alt-arisches  Jus  gentium,  Jena  1889,  S.  202;  für  die  Hellenei 
vgl.  Rohde  S.  215. 

■)  Meyer  S.  119,  121.  Vgl.  die  periodische  Verjagung  der  bösen  Geiste 
bei  den  Australiern,  Frazer  2,  163. 

4)  Mogk  S.  253;  allgemein  Tylor,  Ursprung  der  Kultur  1,  436;  2,  23  u.  a. 
Rohde  S.  313;  Saul  und  der  Geist  Samuels.  —  Noch  jetzt  in  der  Bretagne?  vg 
Ztschr.  f.  d.  Ver.  f.  Volksk.  19  (1909)  S.  202. 

5)  Indic.  superstit:  »de  sacrilegio  super  defunctos  id  est  dadsidas«)  Burchar 
von  Worms :  carmina  diäbolica  qui  supra  mortuum  noctumis  horis  cantantur.  - 
Kögel,  Gesch.  d.  altdeutschen  Lit.  1,  50 f.  faßt  sie  irrig  als  Bannlieder  auf. 

6)  Häv.  156,  Gering. 

7)  Golther  S.  92f.;  Meyer  S.  122 f. ;  Chantepie  S.  300. 

s)  Z.  B.  bei  der  Vermählung  durch  das  Brautpaar:  indisch,  griechisch 
römisch,  deutsch.     Meyer  S.  122. 

9)  König  Svein  als  Knuts  Erbe,  Meyer  S.  123;  vgl  Wilib.  Alexis,  De 
falsche  Woldemar. 


§  10.    Ahnengeister  und  Totenkult.  91 

Schließlich  werden  hervorragende  Ahnen  ausdrücklich  vergöttert1). 
Die  Apotheose  bleibt  in  der  Regel  auf  Könige  beschränkt  und 
scheint  bei  den  Ostgermanen  am  häufigsten  vorgekommen  zu  sein2). 
Von  den  Schweden  werden  mehrfach  Vergötterungen  berichtet,  darunter 
eine  feierliche  Einsetzung  des  Königs  Erich  auf  eine  Vision  hin.  Solche 
Apotheose  kann  unmittelbar  an  den  Tod  eines  verehrten  Fürsten  an- 
schließen3). Aber  in  der  Regel  gilt  sie  längst  verstorbenen  Königen:  die 
Fürsten  wollen  von  Göttern  abstammen  —  entweder  indem  sie  solche  an 
die  Spitze  der  Stammbäume  setzten  4)  oder  eben  indem  sie  die  wirklichen 
Ahnen  vergötterten. 

Als  Kult  sind  bei  König  Olaf  Fruchtbarkeitsopfer  bezeugt5). 

Ausnahmsweise  wird  Vergötterung  auch  von  Nicht -Fürsten  belegt: 
Thorolf,  Thorsteins  Sohn  freilich,  dessen  Großvater  Grim  nach  seinem  Tode 
mit  Opfern  verehrt  wurde6),  war  ein  Häuptling.  Aber  der  Dichter  Bragi 7) 
könnte  höchstens  ein  »König  der  Sänger«  heißen;  nur  ist  es  nicht  sicher, 
ob  er  mit  dem  Gott  Bragi  identisch  ist8). 

Solche,  wenn  auch  vereinzelte,  Fälle  stützen  dann  den  Euhemerismus 
der  christlichen  Mythologen,  denen  etwa  (in  der  Ynglingasaga)  Frey  als 
vergötterter  König  gilt. 

Schließlich  geht  die  Abstraktion  über  die  Ahnenpersönlichkeiten  hinaus. 
Wie  wir  von  einem  »Geist  der  Hohenzollerndynastie«  sprechen,  so  gibt 
es  eine  kyn-  und  aettar-fylgja9),  einen  Schutzgeist  von  Sippe  und 
Geschlecht.  So  teilt  schon  Helgi  Hjorvardsson  in  dem  nach  ihm  be- 
nannten Eddagedichte  seine  Folgegeister  mit  Hedin:  anders  als  durch 
solche  Gemeinschaft  ist  es  schwerlich  zu  erklären,  daß  Hjörvards  fylgjur 
dem  Hedin  in  einem  verhängnisvollen  Moment  begegnen10).     Schließlich 


x)  Dies  sind  die  indischen  »Väter«,  worunter  auch  die  Helden  des  Schlacht- 
feldes.   Vgl.  Macdonell  S.  170. 

2)  Zeugnisse  bei  Golther  S.  93:  »Nach  Jordanes  werden  die  Ahnen  der 
gotischen  Königsgeschlechter  als  höhere  Wesen  beobachtet,  ja  geradezu  als 
Götter  bezeichnet«. 

3)  Ebd.  S.  94. 

4)  Wie  die  Julier  in  Rom ;  angelsächsische  Stammtafeln :  J.  G  r  i  m  m ,  Mytho- 
logie 3,  379. 

5)  Golther  S.  34,  Mogk  S.  385. 

6)  Golther  S.  94. 

7)  Mogk  S.  366,  vgl.  u. 

8)  Der  angeblich  500  Jahre  alte  Riese  Gudmund,  Meyer  S.  247,  ist  kein 
vergötterter  Mensch,  sondern  genießt  als  Riese  Kultus.  Heroen  bei  den  Hellenen: 
Roh  de,  Psyche  S.  1371;  bei  den  Indern:  Macdonell  S.  146;  bei  den  Juden: 
Gunkel,  Genesis  S.  51.  Vgl.  allgemein  Edv.  Lehmann,  Guder  og  helte 
Köb.  1898. 

9)  Meyer  S.  264;  Mogk  S.  271. 

10)  Zu  Str.  34  a.  a.  O. 


92  Drittes  Kapitel. 

verdünnt  sich  der  Begriff  ganz  und  verliert  als  bloße  Abstraktion  die 
Kultfähigkeit. 

Allerdings  ist  es  auch  möglich,  daß  derartige  »abstrakte  Ahnen- 
geister« zur  Verehrung  gelangen,  und  zwar  in  Tiergestalt:  im  Tote- 
mismus.  Die  Meinung,  daß  die  effigies  der  kämpfenden  Germanen1), 
die  ferarum  imagines2)  so  aufzufassen  seien,  haben  wir  aber  bereits 
abgelehnt.  Nirgends  ist  eine  Abstammung  von  einem  Totem-Tier  bezeugt; 
und  die  mit  den  Namen  heiliger  Tiere  (wie  Wolf  und  Rabe;  beides  ver- 
eint in  mittelhochdeutsch  Wolfram)  gebildeten  Eigennamen  lassen  sich 
auf  keinen  bestimmten  Bezirk  einschränken  und  sind  deshalb  als  allgemein 
religiöse  Namen  anzusehen.  Wir  wissen  nichts  von  einem  altgermanischen 
Totem  ismus  3). 

Etwas  anderes  ist,  daß  aus  den  Waffen  der  Tiere  Amulette  gemacht 
werden:  die  Klaue  des  Bären,  der  Schnabel  des  Adlers:  hier  sitzt  die 
Kraft  des  Tieres,  seine  Seele4);  wer  sie  sich  aneignet,  besitzt  sie5), 
v.  d.  Leyen6)  denkt  allerdings  an  Totemismus. 

§11.    Naturgeister  und  Naturkuli 

Wir  müssen  nochmals  auf  gewisse  durchgreifende  theologische  Ver- 
schiedenheiten der  Naturgeister  von  den  Totengeistern  hinweisen:  Die 
letzteren  sind  obligatorisch,  die  Naturgeister  fakultativ  zu  verehren.  Weder 
kann  man  von  vornherein  wissen,  wo  ein  Naturgeist  steckt,  noch  ob  man 
zu  ihm  in  ein  bestimmtes  Verhältnis  treten  muß:  die  meisten  gehen  den 
einzelnen  gar  nichts  an  und  er  hat  zu  ihnen  nicht  mehr  Beziehungen  als 
etwa  ein  frommer  Katholik  zu  der  überwiegenden  Masse  der  Heiligen. 
Nur  die  »großen  Heiligen«  sind  ihm  wichtig  —  und  sein  persönlicher 
Schutzpatron. 

Dafür  liegt  in  dem  Kult  der  Naturgeister  von  vornherein  ein  kollek- 
tives Element,  das  einen  wichtigen  Schritt  in  der  gemeinschaftlichen  (und 
schließlich  staatlichen)  Aneignung  der  Numina  bedeutet.  Denn  das  per- 
sönliche Interesse,  das  etwa  ein  Flußgott  erweckt,  ist  allen  Anwohnern 
des  Flusses  gemein:  so  entstehen  hier  »Amphiktyonien«,  wenn  auch  im 
kleinsten  Maßstab,  Kult-  und  Gebetgemeinschaften,  die  über  den  Rahmen 
der  Sippe   herausgehen.     Der  Fetisch   gehört   dem   einzelnen,   die  Manen 

^Oolther   S.  602;   vgl.   Müllenhoff,   Poesis   chorica  S.   13,    Linden- 
schmit,  Handbuch  d.  d.  Altertumskunde  1,  278. 
2)  Tacitus  Hist.  4,  22. 

und  erst  recht  der  semitische  (vgl.  z.  B.  Mein  hold,  Deutsche  Literaturzeitung 
1909  S.  2226). 

8)  Ebenso  zweifelhaft  ist  der  altindische  Totemismus  (Macdonell  S.  153) 

*)  Vgl.  Häv.  Str.  15-18. 

r>)  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch  S.  69.  vgl.  69. 

ü)  a.  a.  O.  S.  71. 


§11.    Naturgeister  ;md  Naturkult.  93 

dem  Geschlecht,  die  Naturgeister  einer  »freien  Gemeinde« ;  mit  den  Göttern 
wird  die  volle  Nationalisierung  der  Religion  erreicht. 

Auch  das  glauben  wir  wiederholt  betonen  zu  müssen,  daß  der  Natur- 
geist an  einem  bestimmten  Stück  Natur  haftet.  »Der  Mythus  ist 
ein  Stück  Natur,  angesehen  durch  ein  primitives  Temperament.«  Es  gibt 
keinen  allgemeinen  Geist  des  Wassers,  des  Himmels, 
sondern  nur  einenDämon,  der  über  das  Wasser  gesetzt  ist, 
einen  göttlichen  Herrscher  über  dem  Himmel  —  und  auch 
das  sind  schon  spätere  Einrichtungen  1).  Erst  bei  den  Göttern  wird  diese 
Bindung  gelöst:  Poseidon  wohnt  für  gewöhnlich  in  seinem  Element, 
kann  es  aber  verlassen ;  Pluto  kann  auf  die  Erde  kommen,  um  Proserpina 
zu  rauben.  —  Eine  Ausnahme  macht  vielleicht  der  Feuergeist ;  aber 
auch  er  ist  wohl  erst  gebundener  Dämon,  später  ungebundener  Gott. 

Naturgeister  sind  also  Seelen,  die  in  Wald,  Feld,  Wasser,  Wind,  Berg, 
Gesteinen  usw.  wohnen;  diese  Behausungen  bedeuten  für  sie  etwa,  was 
der  Körper  für  den  Menschen.  Aber  sie  sind  stärker  als  die  Menschen- 
seelen, wie  ihr  »Haus«  größer  ist  als  das  unserer  Seele. 

Der  Ursprung  dieser  Vorstellung  und  des  daraus  resultierenden  Kults 
liegt  wieder  in  der  Erfahrung  (schädliche  und  günstige  Winde  usw.),  die 
freilich  bereits  in  der  fertigen  Form  der  Seelenlehre  »apperzipiert«  wird. 
Berührungen  mit  dem  Fetischismus  (heilige  Steine,  Berge,  Bäume)  sind 
unvermeidlich.  Doch  bleibt  im  ganzen  der  Unterschied  bestehen,  darin 
begründet,  daß  die  Kompetenz  des  Naturgeistes  viel  stärker  individualisiert 
ist.  Der  als  Fetisch  verehrte  Baum  kann  im  Prinzip  alles  leisten;  der  in 
einem  Baum  hausende  Geist  nur  Dinge,  die  unmittelbar  mit  seinem  Wesen 
zusammenhängen.  So  wenig  wie  man  Trauben  vom  Dornbusch  lesen 
kann,  so  wenig  kann  man  etwa  von  einem  Gewittergeist  Heilung  einer 
Krankheit  erflehen. 

Für  die  Psychologie  der  Naturgeister  gilt  der  allgemeine  Satz,  daß 
sie  den  Charakter  ihrer  Behausung  annehmen  —  man  könnte  von  einer 
»Milieu -Lehre«  sprechen.  Windgötter  sind  wild,  Wassergeister  leicht 
elegisch,  Hausgeister  gemütlich  usw. ;  gerade  wie  die  poetische  Einfühlung 
noch  heute  solche  Wesen  anschauen  wird.  Fouques  Undine  und 
Andersens  Seejungfer2)  sind  von  Goethes  Erdgeist  (im  »Faust«)  elementar 
geschieden;  und  umgekehrt  nehmen  Gestalten  wie  Otto  Ludwigs  Erb- 
förster oder    Scheffels    Mann   in   der    Höhle    infolge    der    Durchführung 


x)  Schon  im  alten  Ägypten  des  15.  Jahrhunderts  vor  Christi  betont  Amenophis 
ausdrücklich,  »daß  man  nicht  das  Gestein  selbst  verehre,  sondern  das  Wesen, 
das  sich  in  ihm  offenbart«  (Erman,  Ägyptische  Religion  S.  66). 

2)  Über  die  in  diesem  Sinne  G.  Brandes  sehr  geistreich  geschrieben  hat: 
Moderne  Geister«,  Frankfurt  a.  Main  1882,  S.  123  f. 


Q4  Drittes  Kapitel. 

ihrer  Psychologie  fast  den  Charakter  vermenschlichter  Wald-  oder  Höhlen 
dämonen  an. 

Die  Naturgeister  treten  einzeln  auf  (wenigstens  in  der  Regel),  setzet 
aber  die  Existenz  von  mehr  ihresgleichen  voraus.  —  Als  ihre  Rang 
zeichen  lassen  sich  etwa  angeben:  besondere  Neigung  zum  Gestalten 
tausch  J),  besonders  aber  der  nahe  Verkehr  mit  den  Menschen.  (Doch  sine 
einige  auch  menschenscheu.) 

Ich  unterscheide  erstens  Geister  der  unkultivierten  Natur:  Wald,  Wasser 
Wind  usw.;  zweitens  der  kultivierten  Natur:  Feld,  Haus  usw.  Daß  di< 
letzteren  —  herkömmlicherweise  —  unter  den  BegriTff  »Naturgeister«  mit 
gefaßt  werden,  ist  berechtigt,  weil  eben  für  die  primitive  Anschauung  eil 
Haus  so  gut  ein  Stück  »Natur«  ist  wie  eine  Höhle,  und  ein  Feld  wi< 
ein  Berg;  aber  aus  der  anderen  Stellung  der  Menschen  zu  diesen  Objekter 
ergeben  sich  doch  sekundäre  Verschiedenheiten  in  ihrem  Verhältnis  zi 
den  »Kulturgeistern«2). 

I.    Geister  der  unkultivierten  Natur. 

1.  Waldgeister3).  Sie  wohnen  zunächst  im  einzelnen  Baum 
Der  Baum  ist  besonders  leicht  dem  menschlichen  Körper  zu  vergleichen  4) 
die  Äste  als  Arme,  das  »Haupt«,  die  Wurzeln  als  Füße.  Daher  wird  die 
Menschenähnlichkeit  besonders  betont:  der  Baumgeist  blutet,  wenn  sein 
Baum  verwundet  wird  —  Blut  als  Zeichen  der  Menschenähnlichkeit 
Gedacht  ist  dabei  wohl  zunächst  an  das  herausfließende  Harz  oder  den 
heraustretenden  Saft.  —  Sie  werden  meist  weiblich  gedacht5),  wie  auch 
das  grammatische  Geschlecht  der  Baumnamen  meist  weiblich  ist:  Ursache 
ist  die  Anschauung  der  Fruchtbarkeit.  Das  gleiche  Verbum  drückt  in 
den  indogermanischen  Sprachen  das  »Tragen«  des  Baumes  und  des 
Weibes  aus. 

Vielleicht  schon  einen  Schritt  weiter  bedeutet  die  häufige  Benennung 
nach  einer  Baumart6):  Hollunderfrau  in  Schonen,  Eschenfrau7).  Sie  sind 
vielleicht  bereits  kollektiviert:  Hüterinnen   einer  (aus  irgendeinem  Grunde 

*)  Der  Robbengott  Proteus  als  sprichwörtlicher  Verwandlungskünstler;  vgl. 
Preller  1,  609. 

2)  Reiches  Material  besonders  bei  Frazer,  vgl.  Register,  s.  v. 

3)  Mogk  S.  293,  Golther  S.  152,  Meyer  S.  151f.,  der  sie  mit  Unrecht 
»Elfen«  nennt. 

4)  Golther  S.  153. 

5)  Wie  die  griechischen  Hamadryaden,  Preller  1,  723. 

6)  Mogk  S.  294. 

7)  Anders  die  Urmenschen  Ask  und  Embla,  Esche   und  Erle,  Vol.  Str.  17. 


§  11.    Naturgeister  und  Naturkult.  95 

ielleicht  besonders  wertvollen?)  Baumart;  vielleicht  aber  haben  sie  ein- 
ach  nach  dem  Baum,  in  dem  man  sie  traf,  ihren  Namen  *). 

Der  Kult  dieser  Baumgottheiten  besteht  in  Opfer  und  Gebet 2).  Daß 
*r  sich  mit  dem  Ahnenkult  verquickt  habe  und  schwedische  Familien  sich 
lach  einem  Baum  benannt  hätten3),  ist  abzuweisen,  weil  von  solchem 
3aum-Totemismus  ältere  Zeugnisse  nicht  vorliegen  und  die  Benennung 
ein  lokal  zu  fassen  sein  wird,  wie  etwa  der  Name  des  bekannten  Biblio- 
graphen von  der  Linde  (französisch  Duchene  u.  dgl.). 

In  der  Regel  aber  werden  sie  dem  ganzen  Wald  zugewiesen  und 
danach  Waldleute,  WJld-,  Holz-,  Moosleute  benannt,  oder  auch  wieder 
mit  Betonung  des  weiblichen  Geschlechts  Waldfänken  in  Oberdeutsch- 
land, Buschfräulein  in  Mitteldeutschland,  Laubfrau  in  Schweden  u.  dgl.  m. 
Beliebt  sind  auch  enkomiastische  Benennungen  wie  »salige  Fräulein«  (Tirol). 

Die  Waldfrau  ist  im  Typus  von  der  Baumnymphe  durch  geringere 
Zartheit  unterschieden ;  daher  begegnet  auch  hier  viel  öfter  der  männliche 
Geist  neben  dem  weiblichen.  —  Ihre  Erscheinung  ist  vorzugsweise  der 
von  alten,  bemoosten  Bäumen  angeglichen:  behaarter  Körper,  altes 
runzliges  Gesicht,  Moos  als  Bekleidung  bei  den  männlichen,  langes 
flatterndes  Haar  (Moosflechten),  große  herabhängende  Brüste  bei  den 
weiblichen,  zuweilen  auch  hohler  Rücken4).  Übrigens  tritt  auch  hier 
das  Gesetz  der  Anpassung  in  Wirksamkeit:  »Im  hochstämmigen,  sturm- 
bewegten, schaurigen  Bergwald  werden  mehr  Riesen  hausen,  im  lichten, 
freundlichen,  sonn-  und  mondbeglänzten  Hain  treiben  Elbe  ihr  Wesen«  5. 
Solche  Waldriesen  (diese  häufiger  als  Waldriesinnen)  erscheinen  wie  große 
Pichten,  und  haben  wohl  noch  einen  weiteren  Baumstamm  als  Attribut  in 
der  Hand6).  »Je  höher  wir  in  das  Gebirge  hinaufsteigen,  desto  über- 
menschlicher werden  diese  Gestalten  der  Volksdichtung« 7). 

Sie  treten  gern  zu  den  Menschen  in  Beziehung:  an  dem  lokalen 
Waldriesen  Rübezahl  aus  dem  Riesengebirge  ist  dieser  Charakter  des 
neckenden  Dämons  uns  am  meisten  vertraut,  weil  Johannes  Praetorius8) 
sein  Homer  und  Musaeus  (in  den  »Volksmärchen«)  sein  Virgil  geworden 


*)  Eichen-Geister  bei  den   Kelten:   Anwyl,  Celtic  Religion,  S.  32,  davon 
die  »Druiden«  benannt,  ebd.  S.  44. 

2)  Meyer  S.  90. 

3)  Wie  die  des  Linnaeus  nach  der  Linde,  ebd. 

4)  Vgl.  das  Gespräch  zwischen  Mephisto  und  der  Hexe  in  der  Walpurgis- 
nacht des  »Faust«. 

B)  Golther  S.  153  —  wobei  freilich  der  Hain  etwas  Matthissonisch  senti- 
mentalisiert  ist! 

6)  Golther  S.  188;  die  «wilden  Männer«  im  Preußischen  Wappen. 

7)  Ebd.  194. 

8)  Vgl.  Zarncke,  Allgemeine  Deutsche  Biographie  26,  250;  über  seine  Vor- 
läufer Zacher,  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  16,  473. 


Ii 


96  Drittes  Kapitel. 

ist  Im  Grunde  sind  sie  gutmütig;   besonders  empfehlen  oder  reichen  si< 
heilende   Kräuter1).     Aber   sie  ärgern   und   necken   die   Menschen    gern 
sie  führen  sie  in  die  Irre;  auch  daß  sie  Seuchen  schicken,  freilich  auch  bei 
sänftigen,  wird  ihnen  zugetraut2).    Sie  können  unsichtbar  bleiben  oder  ir 
allerlei  Verwandlungen  auftreten 8),  z.  B.  als  Würmer,  Schmetterlinge,  Un 
geziefer  verkleidet4).    Wie  andere  Naturgeister  (besonders  die  des  Wassers 
begehren  sie  nach  menschlicher  Liebe  und  erzeugen  Kinder  mit  den  Sterb 
liehen:    ein   Ausdruck    ihrer  Menschennähe.      Mit   anderen   Naturgeisterri 
teilen  sie  auch  die  Gabe  der  Weissagung 5).    Berührungen  dieser  scharen! 
weise  auftretenden  Walddämonen   mit  den  Seelen6)  sind   unausbleiblich 
So  erwächst  aus  dem  Grab  des  Toten  ein  belebter  Baum  u.  dgl.  m.    Doch 
fehlt  ihnen  im  allgemeinen  das  Feierliche  der  Totengeister  durchaus. 

Wir  sahen  den  Spielraum  der  Waldgeister  sich  ausdehnen:  si 
wohnen  erst  nur  in  einem  bestimmten  Baum,  dann  in  den  Bäumen  einei 
bestimmten  Art,  dann  in  einem  bestimmten  Wald 7).  Nun  tritt  der  mytho- 
logische Prozeß  der  Kollektivierung  ein,  und  alle  Dämonen  des  Waldes 
werden  in  der  Gestalt  Einer  Waldfrau  zusammengefaßt.  Sie  vertritt  den  »Geis 
des  Waldes <  als  Ganzes.  Sie  existiert  vielleicht  schon  in  indogermanische! 
Zeit,  wie  Meyer8)  anzunehmen  scheint;  ich  halte  vielmehr  nur  diese 
Evolution  zur  Zeit  des  berühmten  vedischen  Liedes  an  die  Waldfrau 9 
schon  für  abgeschlossen,  während  sie  bei  uns  erst  in  historischer  Zeit  dies 
Ziel  erreicht:  da  haben  wir  z.  B.  eine  schwedische  Waldfrau.  Übrigens 
schließt  die  Existenz  dieses  Kollektivgeistes  (wie  auch  sonst  in  analoger 
Fällen)  die  von  Einzelgeistern  keineswegs  aus. 

Auch  ein  männlich  kollektiver  Waldgeist  wird  von  Saxo10)  bezeugt 
Kauffmann  hat  einen  »großen  Waldgott  der  Germanen«  nachzuweisen*' 
versucht11). 

An  die  Waldgeister,  wie  an  alle  mit  dem  Menschen  in  engen  Be- 
ziehungen stehenden  Dämonen,  knüpft  die  mythologische  Novellistik  an 
»Überall  verbreitet  ist  der  Mythus,   daß  der  Sturm,  der  wilde  Mann  oder 


T)  Wate  hat  Kudrun  Str.  529  von   einem  wilden  wibe  die  Heilkunst  erlernt, 
vgl.  Meyer  S.  195. 

-)  Golther  S.  294. 

3)  Golther  S.  154. 

4)  Ebd.  S.  194. 
8)  Mogk  S.  294. 

6)  Golther  S.  155. 

7)  Umgekehrte  Entwicklung  nimmt  Thümmel,  P.B.B.  35,  117,  an. 

8)  S.  191. 

9)  Rigveda  10,  145;   Rig-Veda,  übs.  von  Graßmann,  Leipzig  1887,  2,  415. 
,0)  Vgl.  Meyer  S.  395. 
")  P.B.B.  IS,  157f.,  bes.  175. 


§11.    Naturgeister  und  Naturkult.  97 

der  wilde  Jäger  das  Waldfräulein  verfolgt«1):  die  »Windsbraut«.  Es  ist 
ein  Einzelfall  jener  poetischen  Kombination  von  mythologischen  Einzel- 
gestalten, wie  wir  sie  schon  besprochen  haben. 

Der  »Waldkult«2)  gilt  nicht  diesem  Wesen,  sondern  unmittelbar 
dem  fetischistisch  verehrten  Hain3). 

Blumengeister  kennt  das  Altertum  nicht ;  die  anmutigen  Blumen- 
mädchen des  Alexanderliedes4)  gehören  erst  dem  Mittelalter5);  antike  Märchen 
ähnlicher  Art  sind  allerdings  vorhanden,  aber  gerade  das  charakteristische 
Moment,  daß  die  Mädchen  mit  den  Blumen  sterben,  fehlt  ihnen.  Die 
sentimentale  Beseelung  der  Blumen  in  Freiligraths  »Der  Blumen 
Rache«  ist  aber  ganz  im  Geiste  solcher  späteren  ritterlichen  Mythen- 
dichtung 6). 

2.  Windgeister  berühren  sich  vielfach  mit  den  Waldgeistern ;  daher 
auch  jener  novellistische  Mythus  von  der  Windsbraut.  Im  ganzen  sind 
sie  aber  natürlich  lebhafter,  wilder:  »»Im  Riesengebirge  stürzen  sich  die 
Rüttelweiber  im  Wirbelwind  auf  die  Wiesen  und  werfen  das  Heu  um- 
einander« 7).  Sie  sind  in  der  Mythologie  vieler  Völker  stark  vertreten ;  so 
spielen  die  Maruts,  die  Sturmgötter8)  im  Veda  eine  große  Rolle;  auch  die 
Gandharven  scheinen  Winddämonen  9).  In  der  altgermanischen  Mythologie 
sind  sie  weitverbreitet10);  größere  Bedeutung  erwuchs  dem  Wind  aber  erst 
mit  der  lebhafter  betriebenen  Seefahrt. 

Götter  der  einzelnen  Winde  sind  kaum  (oder  höchstens  als 
Augenblicksgötter)  denkbar.  Dafür  ist  z.  B.  bei  den  Hellenen,  doch  erst 
spät  als  »»Seemärchen«  n)  die  Verteilung  der  Windrichtungen  an  einzelne 
Götter  aufgekommen  (oder  hing  sie  mit  der  Einteilung  des  Himmels  zu 
Wahrsagezwecken  zusammen?);  sie  hat  keine  gemeingermanische  Ent- 
sprechung12). Die  herrschende  Vorstellung  ist  vielmehr  die,  daß  eine 
Anzahl  von  Windgeistern  ein-  für  allemal  vorhanden  sind,  die  sich  in  dem 
einzelnen  Sturm  nur  offenbaren ;  denn  da  er  sich  auflöst,  haben  sie  nicht, 
wie  die  Wald-  oder  Wassergeister,  ein  festes  Heim. 


1)  Mogk  S.  294. 

2)  Mogk  S.  296. 
8)  Siehe  o.  S.  70. 

4)  Lamprechts  Alexander  her.  K.  Kinzel,  Halle  1884,  v.  51571 

5)  Vgl.  ebd.  S.  497;  Rud.  Ottmann,  Das  Alexanderlied,  Halle  o.J.,  S.  263. 

6)  Vgl.  Golther  S.   157,    Mogk  S.  293,    Meyer  S.  91;    Koberstein, 
Weimarisches  Jahrbuch  1,  72. 

7)  Meyer  S.  193. 

8)  Macdonell,  Vedic  Mythology,  S.  77 f.,  vgl  S.  81. 

9)  Ebd.  S.  137. 

10)  Mogk  S.  307,  Golther  S.  180,  Meyer  S.  163f. 

")  Preller  1,  630. 

12)  Vgl.  Werle,  Ztschr.  f.  d.  Wortforschung  7,  61  f.;  221  f. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  7 


ng  Drittes  Kapitel. 

Die  Anschauung  wird  naturgemäß  von  dem  starken  Wind,  dem 
Sturm,  beherrscht.  Sein  psychologischer  Eindruck,  der  des  Schreckens, 
vermehrt  die  Berührungen  mit  dem  Seelenglauben1),  wie  besonders  im 
, Wütenden  Heer«  anschaulich  wird.  Es  sind  deshalb  vorzugsweise  Wind- 
riesen in  der  Mythologie  tätig.  Uhland  faßte  alle  riesischen  Gegner 
Thors  so  auf2),  aber  mit  Unrecht,  denn  die  Windriesen  gehören  zu  Thors 
eigenem  Geschlecht:  Vingnir  »der  Schüttler«,  Hlora  »die  Tosende«  3).  Denn 
neben  den  Riesen  begegnen  wieder  die  Riesinnen  4).  Die  Namen,  häufiger 
als  bei  anderen  Naturgeistern  individualisierend,  haben  durchweg  Bezug 
auf  die  Sturmesnatur:  der  »Brecher«,  der  »Schaden«,  der  »Brüller«  oder 
symbolische  Tiernamen  wie  Hund  und  Wolf5).  Ebenso  werden  sie  in 
Märchen  umschrieben6). 

Einen  Schritt  weiter  geht  die  Individualisierung  bei  dem  Winter- 
sturm Käri,  dem  Vater  des  Frostes  und  Schnees.  Solche  etwas  frostigen 
Allegorien  wiederholen  sich  noch  später:  so  im  Heldenlied  die  Riesen 
Velsenstöz,  Glockebös,  Kling  elbolt1)  —  Namen  von  der  Prägung  der 
>drei  Gewaltigen«  im  zweiten  Teil  des  »Faust«.  Ähnlich  wird  es  im 
Norden  mit  Vindsvalr  »Wind  kühl«,  mit  Lokis  Vater  Fdrbauti  »der  ge- 
fährliche Schlagende«  u.  a.  stehen:  die  früh  eingeschlagene  Bahn  zu 
poetisch-charakterisierender  Benennung  wird  mit  Bewußtsein  fortgesetzt. 

Als  den  Wirbelwind  faßt  Meyer8)  den  Bilvis  auf,  den  wir  zu 
den  Dämonen  rechnen 9).  —  Finnischen  Ursprungs  scheint  die  Göttin  des 
eiskalten  Nordwinds  Skadi.  Ein  wilder  Windgeist,  der  die  Äste  von  den 
Bäumen  schlägt,  scheint  Lokis  Adoptivvater  Färbautt10). 

Wie  die  indischen  Maruts  sich  in  dem  Sturmgott  Rudra  (»der 
Heuler?«)11),  die  hellenischen  Winde  in  Atolos  konzentrieren,  so  entsteht 
auch  altgermanisch  ein  kollektiver  Winddämon:  der  »wilde Jäger«, 
nach  Mogk12)  nicht  immer  als  Wodan  aufzufassen.  Ich  glaube  aber, 
daß  es  sich  um  eine  Zweiteilung  handelt:  der  Sturmgott  ist  einerseits  zu 
Wodan,  andrerseits  zum  Anführer   der  vom  Wind   gepeitschten  Wolken 


!)  Mogk  S.  307. 

2)  Vgl.  Mogk  S.  309. 

3)  Vgl.  Golther  S.  282. 

4)  Meyer  S.  236f. 

B)  Vgl.  Golther  S.  182. 

8)  Moltke  Moe,  Maal  og  Minne,  Kristiania  1909,  S.  6. 

7)  Virginal  v.  732,  vgl.  Golther  S.  184. 

8)  S.  164. 

9)  Vgl.  Golther  S.  184. 
10)  Siehe  unten. 

n)  Macdon  eil,  Vedic  Mythology,  S.  74 f.;  andere  Auffassungen  ebd.  S.  77. 
12)  S.  302. 


§  11.    Naturgeister  und  Naturkult.  99 

geworden J).  Denn  er  ist  immer  auf  der  Jagd :  hinter  dem  Wald- 
fräulein, hinter  dem  Wild  (der  Wolke).  So  ist  er  eine  Lieblingsgestalt 
der  ausmalenden  Volksphantasie  geworden,  wie  schon  seine  Namen- 
fülle zeigt:  als  Schimmelreiter,  Rodensteiner  (oberdeutsch),  Hackelbernd 
(norddeutsch),  heroisiert  als  Dietrich  von  Bern  usw.  nähert  er  sich  schon 
fast  der  Bestimmtheit  eines  Gottes.  Und  wie  oft  den  Göttern,  wird  auch 
ihm  ein  weibliches  Wesen  zur  Seite  gegeben :  die  Windin  (wie  Freyja  zu 
Frey),  die  Windesgenossin2)  —  wobei  an  Dantes  grandioses  Gemälde 
des  im  Liebessturm  dahinrasenden  Paares  Francesca  und  Paolo  erinnert 
werden  mag. 

Die  letzte  Stufe  ist  endlich  erreicht,  wenn  statt  dieses  Windgeistes 
wirklich  ein  Windgott  erscheint,  d.  h.  ein  Herr  über  den  Wind:  der 
Riese  Hraesvelg  (der  »Leichenverschlinger«,  so  mit  einer  Umschreibung 
für  seine  Adlergestalt  benannt?),  der  in  Adlergestalt  am  Rand  des  Himmels 
sitzt  und  mit  seinen  Schwingen  den  Wind  erregt,  wie  auch  der  Sturm- 
riese Thjäsi  die  Gestalt  des  mit  Windesschnelle  dahinfahrenden  Königs 
der  Vögel  annimmt3).  Ob  aber  dieser  nur  in  dem  Gedicht  Vafthrüdnis- 
mäl4)  bezeugte  Gott  wirklich  der  lebendigen  Mythologie  angehört,  bleibt 
fraglich:  vieles  in  diesem  Gedicht  ist  gewiß  späte  Spekulation5). 

Der  Sturm  empfängt  Opfer  zur  Abfindung,  wie  noch  in  spätem 
Volksglauben6).  Oder  »Windspenden  und  Windfütterungen«  mit  Getreide 
und  Mehl  »weisen  auf  einen  Kult  des  unpersonifizierten  Elements  hin«7). 

3.  Auch  die  Gewittergeister  stehen  mit  den  Windgeistern  natür- 
lich in  Verbindung8). 

Die  Einzelgeister  sind  auch  hier  Riesen  und  Riesinnen,  die  mit 
Thor,  soweit  er  Gott  des  für  die  Ernte  günstigen  Gewitters  ist,  als 
schädlich  tosende  Unholde  im  Kampf  stehen 9).  Solche  Riesenkämpfe  sind 
Bit  Dietrich  in  die  Heldensage  gedrungen  10).  —  Doch  wird  das  Gewitter 


*)  Für  die  Parallele  mit  Rudra  vgl.  v.  Negelein,  Germanische  Mytho- 
logie, S.  13. 

2)  Vgl.  Golther  S.  184. 

3)  Vgl.  Golther  S.  182.  —  Irrig  glaubte  man  früher  eine  Anspielung 
hierauf  noch  bei  Heinrich  v.  Veldeke  zu  finden:  Minnesangs  Frühling  66,  5. 

4)  Str.  37. 

5)  Schoning,  Dodsrig,  S.  13  erklärt  Hraesvelg  für  einen  an  der  Grenze 
des  Totenreiches  sitzenden  Leichendämon;  wie  kommt  der  dazu,  Wind  zu 
machen  ? 

6)  Golther  S.  182;  Schiller  im  »Teil«:  »da  rast  der  —  vom  Wind  ge- 
peitschte —  See  und  will  sein  Opfer  haben«. 

7)  Mogk,  Germanische  Mythologie.  Sammlung  Göschen  Nr.  15  S.  28. 

8)  Meyer  S.  15;  vgl.  Golther  S.  183f. 

9)  Thrymskvida;  vgl.  Golther  S.  183. 
10)  Sijmons  in  Pauls  Grundriß  2,  696. 

7* 


IOQ  Drittes  Kapitel. 

auch  von  Menschen  erzeugt:  von  Hexen,  die  den  Donnerstein  schießen  und 
Wetter  machen  x). 

Auch  hier  scheint  in  dem  Riesen  Hrungnir2)  ein  Kollektivdämon 
entwickelt,  dessen  Ausmalung  aber  sicher  späterer  Zeit  gehört.  Sein  Wett- 
ritt mit  Odin  ist  Nachbildung  heroischer  Wettkämpfe3).  Vielleicht  ist 
es  auch  ein  alter  Sturmgott  wie  Odin  selbst,  der  sich  mit  ihm  mißt.  — 
Die  Mythen  klingen  fast  parodistisch  wie  manches  im  Härbardslied. 

Ein  Kult  der  Wetterriesen4)  ist  schwach  bezeugt;  man  opferte  ihnen 
für  günstiges  Reisewetter. 

Der  Gewitter g ott  ist  dann  Thor,  was  Kämpfe  mit  übermütigen 
Vasallen  nicht  ausschließt5). 

4.  Wolkengeister6)  sind  den  Seelen  verwandt,  manchmal  auch  wie 
die  Baumgeister  gestaltet.  Ihre  Hauptfunktion  ist  natürlich  das  Spenden 
des  Regens,  das  freilich  den  alten  Germanen  nicht  so  wichtig  ist  wie  der 
altindischen  Mythologie.  Wie  in  vielen  Mythologien,  wird  auch  bei  uns 
der  Regen  in  einem  Gefäß  aufbewahrt  gedacht;  ist  es  in  dem  berühmten 
peruanischen  Volkslied,  das  schon  Montaigne  und  Herder  übersetzten, 
ein  Krug,  so  ist  es  bei  den  Germanen  ein  Kessel  (Hymiskvida). 

Auch  die  Wolkengeister  sind  oft  riesisch7):  das  sind  die  schweren 
dunklen  Wolken,  die  Sonne  oder  Mond  überziehen.  Zumeist  aber  sind 
die  Regengeister  (wie  überall)  weiblich.  Bezeichnend  ist  dann  für  sie  der 
Schleier8). 

Kollektivgeist  der  Wolken  ist  wohl  Hymir,  Gestalten  wie  dem 
Hrungnir  analog;  sein  Kampf  mit  Thor  scheint  wieder  eine  theologische 
Dichtung,  die  den  älteren  (dem  Animismus  entsprechenden)  Riesen  mit 
dem  jüngeren  (dem  Götterglauben  angehörigen)  Gott  kämpfen  läßt9). 


x)  Meyer  S.  155. 

■>  Vgl.  Meyer  S.  231;  Golther  S.  182. 
3)  Meyers  Erklärung  als  Kampf  zweier  Gewitter  scheint  mir  ein  Musterfall 
der  unrichtigen  detaillierenden  Mythendeutung. 
*)  Golther  S.  190,  Meyer  S.  247. 

5)  Ein  ursprünglicher  Gewittergott  ist  auch  Jahwe,  vgl.  z.  B.  Giesebrecht 
Grundzüge  der  israelitischen  Religionsgeschichte,  Leipzig  1904,  S.  30. 

6)  Meyer  S.  168. 

7)  Meyer  S.  229. 

8)  Meyers  Versuche  einer  im  einzelnen  ausdeutenden  Mythen-Interpretation 
kann  ich  wieder  nicht  folgen,  wenn  er  in  der  Elfin,  die  sich  mit  goldenem  Kamm 
die  Haare  strählt,  die  durch  die  »zinkenartig  erglänzenden  Regenstrahlen« 
scheinende  Sonne  erblickt.  Ich  kann  in  solchen  mythologischen  Genrebildern  nur 
heroisch-novellistische  Ausmalung  älterer  Situationen  erblicken. 

9)  Hymiskvida,  voll  märchenhafter  Motive,  vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen  inj 
der  Edda,  S.  46f.;  Meyer  S.  238. 


§  11.    Naturgeister  und  Naturkult.  101 

Endlich  haben  wir  auch  hier  den  Gott  oder  vielmehr  zwei:  den 
Gewittergott  (Thor)  und  vor  allem  den  Himmelsgott1). 

5.  Berggeister  sind  von  anderer  Art:  es  fehlt  die  für  die  bis- 
herigen Kategorien  bezeichnende  Beweglichkeit ;  nur  ausnahmsweise  machen 
sie  sich  bemerklich:  durch  Steinfall,  Bergrutsch,  Lawine2).  Sie  sind  auch 
mehr  den  »reinen  Riesen«  als  den  eigentlichen  Naturgeistern  zuzurechnen3). 
Doch  faßt  Meyer4)  sie  als  ursprüngliche  Sturmriesen,  die  in  (Wolken- 
bergen oder  wirklichen)  Bergen  hausen  wie  in  der  Edda  Suttung,  Thjäzi, 
Skadi,  und  Steine  schleudern  oder  brechen  wie  Hrungnir.  Wie  er  rechnet 
auch  Golther5)  die  Märchenriesinnen  Fenja  und  Menja  hierher,  wenn 
sie  sich  wie  Bergriesinnen  gebärden,  die  Felsblöcke  herabstürzen  und 
Bergrutsche  verursachen.  Ich  halte  anderen  Ursprung  dieser  Gestalten  für 
wahrscheinlicher. 

Über  Bergformen,  die  als  Versteinerungen  (von  Riesen)  aufgefaßt 
wurden 6)  haben  wir  schon  gesprochen ;  dahin  gehören  der  Watzmann  und 
die  Frau  Hitt  in  Tirol 7),  Hans  Heiling  in  Böhmen.  Das  können  aber  nie 
Geister  gewesen  sein  —  Geister  sterben  nicht  und  kristallisieren  nicht  in 
Steinform  — ,  sondern  höchstens  Zauberer  und  Hexen8). 

Auf  der  Grenze  zum  Schneedämon  steht  Bard,  der  in  den  Snaefell- 
gletscher  auf  Island  einging  und  zum  kräftigen,  mit  Gelübden  anzurufenden 
Schutzgeist  wurde9);  er  genoß  also  eines  starken  Kults.  — 

Eine  höhere  Stufe  nehmen  die  eigentlichen  »Elementargeister«  ein, 
von  denen  einer  —  Loki,  wenn  Feuerdämon  —  sogar  schon  Gott  ge- 
worden ist.  Die  Annäherung  an  die  Menschengestalt  und  Menschenart 
ist  bei  ihnen  noch  weiter  gediehen. 

6.  Wasser-  und  Meergeister10)  gehören  wieder  zu  den  be- 
sonderen Lieblingen  der  Volksphantasie.  An  die  merkwürdige  Erscheinung 
des  Fließens,  das  weder  Stillstand  noch  Veränderung  ist  und  deshalb  allen 
Sprachen  eine  fast  unentbehrliche  Metapher  für  den  (nach  Goethe)  dem 
Menschen  versagten  Begriff  des  Werdens  darbietet,  an  die  eigentümlichen 
leisen  harmonischen  Geräusche  des  bewegten  Wassers,  schließlich  auch 
an   die   Spiegelbilder  im   Wasser  (Narzissus)   knüpfen   volkstümliche  An- 


*)  Vgl.  allgemein  Laistner,  Nebelsagen,  Stuttgart  1879,  besonders  S.  117f. 

2)  Vgl.  z.  B.  Saxo  S.  220;  Herrmann  S.  232. 

3)  Vgl.  Mogk  S.  308,  Golther  S.  185. 

4)  S.  240. 

5)  S.  187. 

6)  J.  Grimm,  Deutsche  Mythologie  S.  518,  3,  158;  Ztschr.  f.  d.  Alt.  4,  533 f.; 
Golther  S.  185,  Meyer  S.  240. 

7)  Vgl.  Laistner  S.  15. 

8)  Vgl,  Hrimgerd  in  Helg.  Hjörv.  III,  Str.  12f. 

9)  Golther  S.  191. 

10)  Mogk  S.  295,  301,  Meyer  S.  241,  Golther  S.  146 f. 


102  Drittes  Kapitel. 

schauungen  schon  so  gern  an,  um  märchenhaft  fortzuspinnen,  wie  es  noch 
moderne  Dichter  und  Maler  (Undine,  Melusine,  Andersens  Seejungfrau)  tun. 

Die  Physiognomie  der  Wassergeister  ist  daher  eine  schon  ziemlich 
bestimmt  ausgeprägte.  Sie  sind  sanft,  leicht  elegisch  wie  ihr  Element, 
musikalisch  (sie  singen,  spielen  Saiteninstrumente,  hören  gern  Musik);  be- 
sonders wird  auch  das  Erotische  bei  ihnen  betont  und  zwar  nicht,  wie 
bei  den  wild  überwältigenden  Wald-  und  Sturmriesen,  als  rein  animalische 
Gier,  sondern  mit  einem  früh  sentimentalen  Beigeschmack1). 

Das  erotische  Element  wird  durch  die  Zweigeschlechtigkeit  der  Wasser- 
geister stark  zum  Ausdruck  gebracht. 

Geister  der  einzelnen  Gewässer2).  Männlich:  der  Nök, 
Nix8),  auch  Meermännlein  und  mit  zahlreichen  anderen,  oft  lieb- 
kosenden Namen  benannt.  —  Sie  besitzen  die  Gabe  der  Weissagung4), 
wohl  weil  das  fließende  Wasser  sich  besonders  zum  Befragen  und 
Losen  eignet  (noch  Goethe  hat  es  so  befragt,  ob  er  Maler  oder  Dichter 
werden  solle),  und  erteilen  Rat.  —  Ihre  Gestalt  ist  zwischen  Mensch  und 
Fisch:  Fischschwanz,  grüne  Zähne5)  —  Mischformen,  die  noch  Böcklin 
zum  Weitergestalten  anregten,  wie  denn  seine  »Meeresidylle«  über  die 
Eigenart  dieser  Elementargeister  mehr  lehrt  als  der  ausführlichste  Kommentar. 
Doch  kommt  auch  Roßgestalt  vor6). 

Weiblich:  die  Nixe,  die  Meerminne,  die  Wasser elbin 7).  Ihre 
zaubermäßige  Schönheit  wird  gern  ausgemalt;  sie  kämmen  die  goldenen 
Haare,  wie  Mädchen,  denen  der  Bach  als  Spiegel  dient.  Der  Fischschwanz 
scheint  gelehrte  Entlehnung;  »wenigstens  weiß  die  unverfälschte  Sage 
nichts  davon8).  Im  übrigen  teilen  sie  die  Eigenschaften,  die  das  feuchte, 
fließende  Element  symbolisieren,  mit  den  männlichen  Wassergeistern. 

*)  Höchst  charakteristisch  ist  das  bei  den  indischen  Apsarasen  ausgeprägt,  die 
freilich  schon  im  Rigveda  »fast  völlig  von  ihrer  physischen  Grundlage  getrennt 
sind«  (Macdon eil  S.  134).  Nicht  minder  deutlich  bei  den  griechischen  Nymphen, 
die  allerdings  ebenfalls  (Preller  S.  718)  nicht  mehr  ausschließlich  an  das  feuchte 
Element  gebannt  scheinen.  Midas  zugleich  Quelldämon  und  Flötenspieler:  Jessen 
in  Roschers  Lexikon  2,  2,  2439.  —  Keltische  Flußgeister  Anwyl,  Celtic  Reli- 
gion, S.  37. 

'-')  Sarasvati,  ursprünglich  Göttin  eines  bestimmten  Stroms:  Macdonell  S.  87. 

3)  Golther  S.  146f. 

4)  Golther  S.  149,  Mogk  S.  297. 
*)  Golther  S.  146. 

6)  Z.  B.  in  den  Alpen,  Mogk  S.  301.  —  Der  Zusammenhang  des  Wassers 
mit  dem  Roß  begegnet  in  vielen  Mythologien ;  so  hat  auch  Poseidon  seine  Rosse 
(Preller  S.  568),  Hufschlag  weckt  Quellen  (Losch,  Baldr  und  der  weiße  Hirsch, 
Stuttgart  1892,  S.  461),  so  der  des  Pegasos  (Prell er  2,  79)  Die  germanischen 
Küstenvölker  erblickten  die  Rosse  des  Wassergottes  (Tacitus  Germ.  cap.  45), 
wobei  doch  interpretatio  Romana  mitspielen  kann. 

7)  Golther  S.  146,  Mogk  S.  297. 

8)  Golther  S.  147. 


§  11.    Naturgeister  und  Naturkult.  103 

Geister  bestimmter  Gestaltungen  des  Wassers.  Allgemeiner 
ist  die  Verehrung  der  Quellen  von  der  der  Gewässer  oft  schwer  zu  unter- 
scheiden ;  denn  häufig  wird  einfach  der  Geist  des  Baches  oder  Flusses  an 
seiner  Geburtsstelle  verehrt.  Der  Quellengeist  geht  dann  auch  als  Brunnen- 
geist1) in  die  Geister  der  kultivierten  Natur  über2).  —  Der  Kult  der 
Quellen  mit  Kränzen,  Lichtern,  Brunnenhäusern  ist  von  den  Hellenen  am 
weitesten  getrieben3),  aber  auch  von  den  Germanen  lebhaft  und  bis  auf 
die  Gegenwart  gepflegt  worden4).  —  Von  einer  Hindeutung  auf  die 
himmlischen  Gewässer  wie  bei  den  Indern5)  findet  sich  keine  Andeutung6). 

Die  Quellengeister  sind  kollektiviert  in  dem  großen  Quellendämonen 
Mimir 7),  in  dem  deshalb  auch  die  Gabe  der  Wahrsagung  zentralisiert  ist. 
Über  ihn  ist  bei  der  Besprechung  Odins  weiter  zu  handeln. 

Die  Alemannen  verehren  nach  Agathias  die  Flußwirbel8). 

Ein  Geist  des  Wasserfalls  scheint  Andvari9),  der  in  Hechtgestalt 
in  dem  Wasserfall  Andvarafors  weilt  und  Schätze  hegt;  auch  er  spricht10) 
eine  Weissagung  aus. 

Die  kleineren  Seen  und  Teiche  haben,  weil  sie  sich  nicht  be- 
wegen, keine  eigenen  Dämonen;  doch  wohnen  in  ihnen  oft  die  Geister 
der  einfließenden  Gewässer.  Nur  Seen,  die  aufkochen  wie  der  Mummel- 
see, scheinen  eigene  Geister  zu  besitzen.  —  Ebensowenig  haben  die  großen 
Meere  eigene  Herren:  sie  werden  als  Teile  des  »Wassers«  überhaupt  auf- 
gefaßt, gerade  wie  die  Wassergeister  auch  »Meermänner«  und  »Meer- 
weiber« heißen. 

Als  Geist  des  Eismeers  wird  vielfach  Hymir  »der  Dämmerer« 
aufgefaßt11)  —  schwerlich  mit  Recht,  da  der  toten  unbewegten  Masse  kein 
Geist  zuzutrauen  ist. 

Kollektivgeist  des  feuchten  Elements  scheint  Agir  (vgl.  die 
Ägisdrekka  in  der  Edda),  mit  der  Göttin  Rdny  der  Herrin  des  Seetodes 12) 
vermählt13).     Er  ist  heiter  wie  ein  Kind  und  blinzt  mit  den  Augen,  wie 


!)  Mogk  S.  297. 

2)  Vgl.  S.  107  Anm.  5. 

3)  Preller  1,  553f. 

4)  Mogk  S.  296. 

5)  Macdon  eil  S.  85:  äpah. 

6)  Bei  den  Hebräern  ist  die  Verehrung  der  Quellen  durch  eine  Verehrung 
Gottes  an  den  Quellen  ersetzt  worden ;  vgl.  Giesebrecht,  Israel.  Rel.-Gesch.,  S.  30. 

7)  Vgl.  Mogk  S.  305f.,  Golther  S.  179f.  346f. 

8)  Golther  S.  149. 

9)  Reginsmäl  Einleitung. 
10)  Reg.  Str.  5. 

u)  Vgl.  Golther  S.  175,  Mogk  S.  303. 

12)  Meyer  S.  291. 

13)  Spätere   Ausführung:    die  Wogen,    ihre   Töchter  usw.;    vgl.   Golther 
S.  175,  177. 


104  Drittes  Kapitel. 

der  Zwerg  Otr  im  Wasserfall,  wobei  wohl  an  das  Spiegelbild  im  Wasser 
zu  denken  ist1);  oder  ist  er  nach  den  ihn  verehrenden  Fischern  stilisiert2)? 

Attribut  des  Wassergottes  ist  der  Kessel,  d.  h.  das  Gefäß  für  feuchten 
Inhalt;  ursprünglich  ist  das  Meer  selbst  als  dieser  Kessel  angeschaut.  — 
Weitere  Züge  (Lokasenna,  Einleitung)  sind  märchenhafte  Ausschmückung3). 

In  naher  Beziehung  zu  den  Wassergeistern  scheinen  auch  die 
Schwanen  Jungfrauen4)  zu  stehen. 

7.  Geister  für  Schnee  und  Schneewirbel  sind  weiblich:  die  Riesin 
Drifa  »Schneetreiben«5);  später  genrebildmäßig  ausgeführt:  wenn  es  schneit, 
macht  Frau  Holle  ihr  Bett6).  —  Eine  späte  Abstraktion  ist  der  Riese 
Jökull  »der  Eisberg«  samt  seiner  ganzen  Sippe7). 

8.  Sumpfgeist  ist  nach  der  herkömmlichen  Deutung  Grendel  im 
Epos  von  Beowulf8),  der  allnächtlich  kommt  und  sich  seine  Opfer  holt. 
Nach  Mogk 9)  wäre  eher  an  einen  Einbruch  des  Meeres  zu  denken,  der  aber 
doch  kein  periodischer  Vorgang  ist10).  Auch  spricht  die  Analogie  der  von 
Herakles  getöteten  lernäischen  Schlange11)  für  die  übliche  Interpretation.  — 

Wir  kommen  endlich  zu  denjenigen  Naturgeistern,  welche  die  Vor- 
stellungen der  früheren  Mythologen  beinahe  ausschließlich  beherrschten, 
während  sie  in  der  mythologischen  Epoche  selbst  keineswegs  Haupt- 
personen waren :  zu  den  Geistern  der  Gestirne  und  Tagzeiten.  Golther  sagt 
mit  Recht:  »Die  nordischen  Nacht-  und  Tag-,  Mond-  und  Sonnenriesen  sind 
jüngere  poetische  Gebilde  ohne  eigentlich  mythisches  Leben,  weshalb  auch 
in  der  Volksüberlieferung  kaum  Spuren  davon  zu  finden  sind«  12).  Nicht 
viel  besser  steht  es  mit  den  nicht  riesischen  Vertretern  dieser  Begriffe. 

9.  Gestirne13).  Sonne  und  Mond:  Sophus  Müller14)  leugnet  die 
Verehrung  der  Sonne  für  die  alten  Germanen,  soweit  sie  über  die  —  fetisch 


l)  Vgl.  Mogk  S.  303,  Golther  S.  172. 
-)  Golther  faßte  (S.  180)  Mimir  als  Herrn  der  Brunnengewässer,  was  mir 
eine  zu  künstliche  Abstraktion  scheint. 

3)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen  in  der  Edda. 

4)  Siehe  u.  S.  162. 

5)  Meyer  S.  139. 
y)  Mogk  S.  279. 

7)  Meyer  S.  227.  Ähnlich  griechisch  Chione  die  Schneejungfrau,  »das  wahre 
Kind  des  stürmischen  Nordwinds  und  der  kalten  Bergluft«  Preller  2,  149;  vgl. 
Laistner,  Nebelsagen  S.  113. 

8)  Meyer  S.  242. 

9)  a.  a.  O.  S.  302. 
10)  Vgl.  auch  Golther  S.  172. 
")  Preller  2,  192. 

12)  Golther  S.  242. 

13)  Vgl.  allgemein  Preller  1,  429 f. 
u)  Urgeschichte  Europas  S.  117,  151. 


§  11.    Naturgeister  und  Naturkult.  105 

artige?  —  Sonnenscheibe  hinausging.  Hiergegen  hat  Much1)  begründete  Ein- 
wände erhoben.  Zwar  die  Riesen  Söl  und  Mäni2)  sind  junge  Bildungen3)  und 
die  Sunna  des  Merseburger  Spruches  4)  hat  ganz  untergeordnete  Bedeutung, 
wie  die  Sonnengöttin  sie  nicht  haben  könnte.  Aber  Cäsar s  Zeugnis5) 
läßt  sich  so  einfach  nicht  abtun,  um  so  mehr  als  es  noch  später  durch 
volkstümliche  Zeugnisse  über  Herr  Sonne  oder  Frau  Sonne  gestützt  wird  6). 
Der  heilige  Eligius  predigt  im  7.  Jahrhundert  unter  den  Franken:  nullus 
dominos  solem  aut  lunam  vocet  neque  per  eos  iuret.  —  Danach  kann 
man  vielleicht  etwa  folgende  Evolution  annehmen:  für  die  älteste  Zeit 
fetischistische  Verehrung  von  »Sonnenscheiben«  (wie  von  Amulett-Lanzen 
oder  Hämmern),  wobei  die  aus  dem  Süden  eingeführten  Sonnenwagen 
benutzt  werden  konnten 7) ;  Herausbildung  der  Vorstellung  von  einem  die 
Sonne  beherrschenden  Geist  (und  ebenso  einem  Herrscher  des  Mondes)  in 
der  animistischen  Periode ;  Abblassen  in  der  Götterzeit ;  Versuch  einer  Neu- 
belebung in  der  romantischen  Restaurationsepoche,  der  Dichtungen  wie 
Vafthrüdnismäl  gehören. 

Daß  eine  indogermanische  Sonnenjungfrau  früh  völlig  in  der  Helden- 
sage versinken  konnte8),  ist  ein  kräftiges  Zeugnis  gegen  lebhaften  Sonnen- 
kultus. Man  wird  eben  wohl  von  Geistern  gesprochen  haben,  die  die 
Gestirne  beherrschten;  aber  zu  göttlicher  Verehrung  kamen  diese  fernen 
Kräfte  so  wenig  wie  der  Mann  im  Mond.  —  Wo  das  Gebiet  der  Germanen 
in  das  fremder  Völker  übergeht,  im  Land  der  Mitternachtssonne,  glaubte 
man  die  Sonnenrosse  und  das  strahlende  Goldhaar  des  Helios  zu  sehen 9)  — 
die  indogermanische  Vorstellung,  die  einen  Kultus  nicht  beweist,  an  dieser 
Stelle  sogar  ausschließt.  Das  Sonnenroß  selbst  ist  urindogermanisch 10). 
Aber  die  kühnen  Hypothesen  über  die  magische  Absicht  des  Sonnen- 
wagens von  Trundholm,  die  Edv.  Lehmann11)  unter  der  Zustimmung 
Mogks12)  ausspricht,  muß  ich  für  durchaus  unerwiesene  folkloristische 
Dogmen    halten  13).      Und    die    späten    Spuren    eines    höchst   primitiven 


')  Gott.  Gel.  Anz.  1909,  Nr.  2,  S.  95  f. 

2)  Vafthrüdnismäl  Str.  20,  37. 

3)  Mogk  S.  310. 

4)  Vgl.  Golther  S.  437. 

5)  Bell.  Gall.  6,  21 :  deorum  summos  eos  solos  ducitnt,  quos  cernunt  et  quorutn 
aperte  opibus  tuvantur,  Solem  et  Vulcanum  et  Lunam. 

6)  Vgl.  Golther  S.  487. 

7)  Abbildung  des  berühmten  Sonnenwagens  von  Trundholm  bei  S.  M  ü  1 1  e  r 
S.  117. 

s)  Vgl.  u.  S.  106. 

9)  Vgl.  Tac.  Germ.  c.  45. 

10)  Vgl.  z.  B.  für  den  Veda  Macdonell  S.  149. 
")  Danske  Studier  1,  75  f. 

12)  Menschenopfer  S.  605. 

13)  Vgl.  auch  Much,  Gott.  Gel.-Anz.  1909  S.  96. 


I06  Drittes  Kapitel. 

Sonnenkults  in  Norwegen1)  können  nicht  mit  irgendwelcher  Sicherheit 
auf  altgermanische  Zeit  zurückgeleitet  werden;  ob  hier  nicht  etwa  Ein- 
fluß der  finnisch-lappischen  Nachbarn  anzunehmen  ist? 

Sterne2).  Bis  auf  die  seltsame  Nachricht  eines  Arabers,  die  Be- 
wohner der  Stadt  Schleswig  beteten  den  Sirius  an3),  ist  von  einem 
Kultus  der  Gestirne  oder  auch  nur  von  Vorstufen  dafür  nichts  belegt. 
Was  man  dafür  angezogen  hat  (besonders  die  Namen  der  Wochen- 
tage), hat  nicht  die  geringste  beweisende  Kraft.  Nur  scheint  sich  jener 
vielleicht  indogermanische  Kult  von  Morgen-  und  Abendstern4) 
bei  den  Germanen  (speziell  bei  den  Vandiliern,  mit  dem  religiösen 
Zentrum  der  Nahanarvali)  lange  erhalten  zu  haben,  bis  er  später  in  die 
Heldensage  aufging5).  Doch  schon  in  der  Zeit  des  Tacitus6)  war 
dieser  Übergang  eingeleitet  und  (wie  in  der  Sage)  mehr  ihr  Verhältnis 
als  Brüder,  mehr  ihre  Erscheinung  als  Jünglinge  betont,  denn  das 
Göttliche.  Es  bleibt  die  Frage,  ob  diesem  uralten  Brüderpaar  wirklich 
Sterne  zugrunde  lagen?  Ob  zwei  nie  gleichzeitig  erscheinende  Gestirne 
der  naiven  Phantasie  Brüder  sein  konnten?  Die  Acvins  wurden  schon 
von  den  ältesten  Kommentatoren  auch  als  Himmel  und  Erde  oder  Tag 
und  Nacht  gedeutet7);  die  Dioskuren  erklärt  Preller8)  als  »streitende 
Mächte  des  Lichts«.  In  der  Tat  scheint  mir  dies  das  Wahrscheinlichste, 
daß  sie  Emanationen  des  Himmelsgottes  sind:  wie  solche  so  oft  als  »Söhne« 
bezeichnet  werden,  heißen  auch  sie  »Söhne  des  Zeus«.  Jedenfalls  aber 
sind  sie  schon  in  indogermanischer  Zeit  der  Götterbildung  sehr  nahe,  die 
sie  nach  der  Völkertrennung  bei  Indern,  Hellenen,  Germanen  innehaben 9). 

Vielleicht  eine  ursprüngliche  Göttin  der  Morgenröte,  ebenfalls 
auf  indogermanischer  Basis,  ist  die  früh  verschollene  Frühlingsgöttin 
Auströ 10). 

Der  »Panbabylonismus«  hat  alle  Religionen  der  Kulturvölker  von  der 
babylonischen  »Astralreligion«  ableiten  wollen  —  die  selbst  noch  auf 
Überschätzung  gewisser  Einzelheiten  gegründet  scheint11)  und  im  wesent- 


x)  Butteropfer:   Mortenssen   und  Olrik,  Danske  Studier  2,   115f.;   im 
höheren  Norden  feierliche  Begrüßung  der  wiederkehrenden  Sonne. 

2)  Vgl.  J.  Grimm,  D.  Mythol.  2,  582 f.,  bes.  S.  602 f. 

3)  G.  J  acob ,  Ein  arabischer  Berichterstatter  über  Fulda  usw.,  Berlin  1890,  S.  12. 

4)  Siehe  o.  S.  52;  Preller  S.  447. 

5)  Sijmons  in  Pauls  Grundriß  3,  677. 

6)  Germ.  c.  43. 

7)  Macdon  eil  S.  53. 
«0  2,  94. 

9)  Vgl.  u. 

10)  Mogk  S.374.   Ushas  noch  durchsichtig  als  Göttin  der  Morgenröte  Mac- 
donell  S.  46;  ebenso  Eos,  Preller  1,  446. 
-1)  Vgl.  Ed.  Meyer  S.  529f. 


ii 


§11.    Naturgeister  und  Naturkult.  107 

liehen  modern  -  wissenschaftliche  Mythologie  ist.  Was  aber  von  Gestirn- 
geistern und  Gestirnkult  übrig  bleibt,  ist  minimal;  die  Sterne  haben  ja 
auch  erst  für  die  ausgebildetere  Seefahrt  praktische  Bedeutung !  —  Denkbar 
wäre  ein  indogermanisch-astraler  Hintergrund  immerhin  bei  Aurvandil, 
dem  von  Thor  getragenen  Riesen  *). 

Tag  und  Nacht  als  elementare  Erscheinungen  haben  ebensowenig 
in  der  altgermanischen  Mythologie  kenntliche  Spuren;  denn  die  schöne 
Anrufung  der  erweckten  Sigrdrffa2): 

Dem  Tage  Heil  und  des  Tages  Söhnen, 
der  Nacht  und  der  Tochter  demnächst 

scheint  entweder  ein  poetischer  Ausdruck  der  Formel :  »alles,  was  da  lebt, 
sei  gegrüßt«,  oder  eine  Anrufung  dieser  Erscheinungen  als  »Augenblicks- 
götter« 3). 

Der  Tag  als  Raum  der  Tätigkeit  scheint  dagegen  in  Rig-Heimdall 
einen  »Kulturgott«  erweckt  zu  haben,  der  aber  jung  ist  wie  der  etwa  ver- 
gleichbare indische  Savitar. 

Im  ganzen  ist  hier  vor  der  Vermischung  von  poetischer  Schöpfung 
mit  mythologischer  Gestaltung  besonders  zu  warnen.  Gerade  was  unserer 
»mythenbildenden  Phantasie«  das  Nächstliegende  scheint,  ist  es  für  die  der 
Urzeit  schwerlich,  die  von  praktischen  Bedürfnissen  und  täglichen  Er- 
fahrungen befruchtet  wurde,  nicht  von  sentimentalen  Betrachtungen  über 
das  Weltgebäude4).  — 

Auf  der  Grenze  zwischen  beiden  Kategorien  der  Naturgeister  würden 
Brunnengeister  stehen,  wenn  sie  als  besondere  Klasse  anzusehen  sind 5). 

IL  Geister  der  kultivierten  Natur. 
Natürlich  sind  die  Beziehungen  zwischen  den  verschiedenen  Geister- 
kategorien enge;  man  sollte  aber  doch  nicht  (mit  Mogk)  Wald-  und 
Feldgeister  zusammenwerfen,  Bäume  und  Gartenpflanzen.  Es  ist  ein  Unter- 
schied wie  zwischen  Wolf  und  Haushund:  diese  Geister  sind  sozusagen 
die  Haustiere  unter  den  Dämonen.  Daher  tritt  auch  an  Stelle  des  gelegent- 
lichen Kultes  ein  regelmäßiger  Dienst:  neben  dem  Ahnenkult  haben  wir 
hier  die  zweite  Wurzel  des  periodischen  »Gottesdienstes«.  —  Besonders 
charakteristisch  ist  die  Verschiedenheit  zwischen  den  beiden  Erdgöttinnen6). 


*)  Vgl.  u. 

2)  Sgdm.  Str.  31. 

3)  Siehe  unten.  Auch  in  die  indische  Mythologie  dringen  sie  erst  später  durch 
theologische  Systembildung,  vgl.  Macdon  eil  S.  25. 

4)  Eine  rein  geographische  Auswahl  der  Naturgeister  ist  für  den  nüchternen 
Geist  der  Chinesen  bezeichnend;  vgl.  de  Groot,  Kultur  der  Gegenwart  a.a.O. 
S.  166. 

5)  Vgl.  Eddica  minora  S.  LXXXIII. 

6)  Vgl.  u. 


103  Drittes  Kapitel. 

1.  Feldgeister1)  sind  in  ihrer  Bedeutung  von  Mannhardt2)  für 
die  griechische,  lateinische,  slawische,  germanische  Mythologie  entdeckt 
worden  8). 

Sie  berühren  sich  besonders  mit  den  Windgeistern:  »Das  Innerfeld- 
mandl  sieht  der  Tiroler  Hirte  sich  im  Wirbelwind  um  die  Füße  der 
Rinder  drehen  und  ihnen  in  die  Ohren  blasen,  die  Saugen  Fräulen  (Wind- 
geister) helfen  beim  Heuen,  beim  Flachsjäten  oder  Kornschneiden«  4);  das 
ist  dann  der  wohltätige  kühlende  Wind. 

Die  Feldgeister  erscheinen  meist  in  Tiergestalt:  Roggenwolf,  Korn-, 
Roggenhund,  Heupudel,  Haferbock,  Roggensau;  auch  menschenähnlich: 
Kornfrau,  Kornmutter,  Korn-,  Roggenmuhme,  Hafermann,  der  Alte,  und 
wieder  Korn-,  Ährenkind5).  Erklärt  sich  dies  aus  Zusammenhang  mit  den 
Seelen6)?  Oder  einfach  aus  der  an  das  Tierreich  gefesselten  Phantasie 
der  Ackerbauer?  Sie  werden  auch  einfach  als  Hasen  oder  Hirsche  vor- 
gestellt: Erfahrung  an  Tieren,  die  unter  den  Ähren  auftauchen. 

Sie  machen  zunächst  den  Eindruck  böser  Geister.  Sie  fordern 
Tribut:  sie  überfallen  den  Arbeiter  (die  Mittagsgöttin)  und  lähmen  ihn; 
sie  machen  krank;  auch  tauschen  sie  Kinder  um7),  was  denn  wie  Mythi- 
sierung  kulturgeschichtlicher  Anekdoten  klingt.  —  Tatsächlich  sind  sie 
doch  gute  Geister:  der  Grundgedanke  ist,  daß  sie  die  Ähren  vor 
dem  Schnitter  schützen.  Deshalb  flüchtet  der  Feldgeist  immer  tiefer 
ins  Getreide  und  wird  mit  dem  letzten  Halm  gefangen  und  gebunden. 
Deshalb  auch  bekämpft  er  den  Erntearbeiter  oder  sucht  ihn  abzuschrecken 
(der  Bilvis).  Man  denke  daran,  wie  noch  Lenau  die  Art,  wie  der  deutsche 
Ackerbauer  die  Mutter  Erde  würgt  und  ihr  die  Ernte  abzwingt,  grausam 
fand.  —  Deshalb  also  muß  der  Feldgeist  als  Herr  des  Getreides  mit  einer 
Gabe  abgefunden  werden,  zumeist  mit  einer  symbolischen  Natural  1  eistung : 
der  letzten  Ähre.  —  Ein  Dämon  des  vom  Erntegott  bedrohten  Getreides 
scheint  auch  Gerds). 

Daneben  ist  aber  auch  der  Standpunkt  des  Erntenden  zu  seinem 
Recht  gekommen  in  guten  Geistern,  die  die  Äcker  und  Wiesen 
gedeihen   lassen.     Diese  sind   meist  weiblich  und  haben  gewöhnlich 


1)  Meyer  S.  209 f.,  Mogk  S.  295,  308,  Golther  S.  156 f. 

2)  Roggenwolf  und  Roggenhund  1865,  Die  Korndämonen  1867,  Antike  Wald- 
und  Feldkulte  1877. 

3)  Für  die  indische  Mythologie  vgl.  Macdonell  S.  138. 

4)  Meyer  S.  210. 

5)  Golther  S.  156;  unzureichende  Erklärung  der  Tiernamen  Mogk  S.  308. 

6)  Ebd.  S.  157. 

7)  Br.  Grimm,  Deutsche  Sagen  Nr.  90. 

8)  Skirnismäl;  vgl.  u. 


§  11.    Naturgeister  und  Naturkult.  109 

Menschengestalt1).  —  Gehört  hierher  Garmangabis2),  der  Sueben  um 
250  n.Chr.  als  der  »bereiten  Reichtum  Spendenden«  einen  Stein  setzten? 

Als  abstrakter  Dämon  des  Getreides  selbst  kann  SceäfB)  (»Garbe«) 
angesehen  werden,  wenn  dieser  »heroische  Gründer  des  Ackerbaus«  nicht 
zu  dem  Typus  der  »Heilbringer«4)  gehört.  »Als  neugeborener  Knabe,  in 
einem  steuerlosen  Schiff  auf  einer  Garbe  schlafend,  von  Waffen  umgeben, 
wurde  er  hilflos  ans  Land  getrieben« :  ein  Mythus  von  der  geheimnisvollen 
Ankunft  eines  segenbringenden  Königs,  der  wohl 5)  auf  uralte  Vorstellungen 
zurückgehen  kann6). 

Zweifelhaft  ist  es,  ob  der  Bilvis7)  hierher  gehört.  Er  reitet  an 
heiligen  Tagen  mit  Messern  oder  Sicheln  an  den  Füßen  durch  die  Felder 
und  zieht  so  einen  wellen-  oder  bockssprungförmigen  Schnitt,  einen  fuß- 
breiten Streifen  der  Verwüstung,  durch  das  Getreide.  Er  ist  doch  wohl 
eher  (mit  Meyer)  als  ein  Zauberer  aufzufassen,  der  die  Ernte  schädigt; 
doch  könnte  er  auch  ein  besonderer  Feind  der  Schnitter  sein8). 

2.  Hausgeister:  Geister,  die  sich  in  dem  Haus  eine  Heimat  zurecht 
gemacht  haben  wie  andere  in  Baum  oder  Feld 9).  Man  darf  natürlich  nicht 
an  unsere  Mietshäuser  denken :  es  sind  Erbhäuser,  die  wie  ein  Stück  Natur 
wirken  10). 

Die  überall  (auch  in  der  Sprache)  durchgeführte  Analogie  von  Haus 
und  Leib  bringt  auch  diesen  »Geist  des  Hauses«  den  Seelen  nahe.  Er 
wird  wohl  auch  geradezu  z.  B.  im  Vogtland  als  Geist  eines  ungetauften 
Kindes  gedeutet11).  Wie  die  Totengeister  erscheint  er  gern  als  Hausotter, 
Schlange12);  sonst  gern  in  Kindergestalt  und  Kinderart:  zappliges,  un- 
ruhiges Wesen   ist  für   ihn   bezeichnend,   wie   wir   uns   noch   heute  den 


x)  Meyer  S.  213. 

2)  Vgl.  Golther  S.  470,  Kauffmann,  PBB  20,  526. 

3)  Vgl.  Meyer  S.  212. 

4)  Breysig,  Die  Entstehung  des  Göttergedankens  und  der  Heilbringer, 
Berlin  1905;  wie  griechisch  Kadmos  und  Erichthonios. 

5)  Wie  der  Runenvers  von  Ing,  vgl.  J.  Grimm,  Deutsche  Mythologie  1,  286. 

6)  Vgl.  u. 

7)  Mogk  S.  272,  Golther  S.  157  Anm.  2,  besonders  Meyer  S.  164,  202. 

8)  Landwirtschaftsdämonen  in  Tiergestalten  wie  die  Kelten  (Anwyl,  Celtic 
Religion  S.  24 :  Tarvos  der  Stier,  Mocco  das  Schwein,  Danona  Göttin  des  Viehs ; 
vgl.  S.  27)  scheint  die  altgermanische  Religion  nicht  zu  kennen. 

9)  Meyer  S.  153 f.,  213 f.,  auch  S.  30,  65,  1781,  Golther  S.  141,  Mogk  S.  291. 
10)  Die    lateinischen   Penaten    wohnen   ursprünglich   in   der  Vorratskammer 

(Wissowa  S.  145).  —  Der  indische  Vastos  pati  ist  dagegen  fast  ganz  seinem  ur- 
sprünglichen engen  Besitz  entrückt  (Macdon eil  S.  138).  —  In  China  sind  die 
Hausgötter  differenziert  und  jede  Gottheit  kann  in  ihre  Zahl  aufgenommen  werden 
(de  Groot,  Kultur  der  Gegenwart  S.  178). 

n)  Meyer  S.  214. 

12)  Meyer  S.  78. 


j  j  q  Drittes  Kapitel. 

Kobold1)  vorstellen.  Er  führt  diminutive  menschliche  Eigennamen:  Hinze 
(zu  Heinrich),  Wolterken,  Robin.  Oder  er  ist  von  seinem  lauten  Wesen 
als  Poltergeist  onomatopoetisch  benannt:  Rumpelstilz,  Bullermann;  Butze- 
mann, weil  er  Schreck  erregt. 

Hier  zuerst  tritt  uns  ein  koloriertes  Bild  der  Erscheinung  entgegen. 
Er  trägt  Hütchen,  wie  die  Kinder  (danach  wird  er  ebenfalls,  wie  in 
C.  F.  Meyers  Gedicht,  benannt),  oft  von  roter  Farbe,  und  Stiefel.  Der  Hut 
ist  sein  Rangzeichen:  wer  sich  dessen  bemächtigt,  ist  Herr  über  ihn.  — 
Doch  hat  er  oft  auch  dauernd  jene  Tiergestalt  von  Schlange,  Marder,  Katze 
und  anderen  das  Haus  umschleichenden  Tieren ;  oder  er  bleibt  unsichtbar. 

Er  ist  ein  guter  Schutzgeist,  verlangt  aber  Pflege,  und  seine  Gunst 
muß  dadurch  erkauft  werden,  daß  man  allerlei  kleineji  Schabernack  duldet. 
Er  verlangt  gute  Behandlung  und  wandert  sonst  aus.  Im  ganzen  sind 
Züge  des  Zwergs  mit  denen  des  treuen  alten  Dieners  vermischt. 

Er  genießt  einen  regelmäßigen  Kult:  man  setzt  ihm  trank-  und 
speisebesetzte  Tische,  Spielzeug,  Stiefel  (wie  für  Kinder)  hin2);  im  Norden 
einen  Topf  mit  Grütze.  Zu  Weihnachten  macht  man  ihm  den  Herd  frei, 
damit  er  selbst  kochen  kann.  Jeden  Donnerstag  erhält  er  Kuchen  und 
Bier;  ein  sauber  gemachtes  Bett  steht  für  ihn  auf  dem  Boden  bereit  usw.3). 

3.  Schiffsgeister:  Hausgeist  des  Schiffes  ist  der  Klabauter- 
mann4). Er  besteigt  das  Schiff,  sobald  das  letzte  Stück  Holz  angebracht  ist;  er 
reinigt,  klopft,  poltert  —  Vorstellungen,  die  wohl  auf  unerklärliche  Geräusche 
zurückgehen.  —  Auch  bei  ihm  wird  die  Verwandtschaft  mit  den  Seelen 
betont;  aber  daß  er  aus  der  Seele  eines  zum  Schiffsbau  benutzten  Baumes 
stamme5)  klingt  nicht  ursprünglich. 

Er  empfängt  als  Kult  ein  Schälchen  mit  Milch.  Kleider  und  Schuhe 
faßt  er  sonderbarerweise  als  consilium  abeundi  auf  —  vielleicht  weil  er 
auf  dem  Schiff  unbekleidet  und  barfuß  hantiert? 

4.  Schatzgeister,  Hüter  vergrabener  Schätze  sind  die  Alraunen 
(Wurzelmännchen  »in  Westdeutschland  von  der  Schweiz  bis  nach  Fries- 
land herab,  östlich  dazu  von  Tirol  bis  nach  Ostpreußen  die  feurigen 
Drachen«6).  Ob  diese  mythischen  Gebilde  wirklich  erst  im  Christentum 
entstanden,  scheint  doch  fraglich. 

5.  Als  Bergbaugeister  amtieren  die  Zwerge7). 


*)  »Hüttenwalt«:  Golther  S.  141,  oder  Hausbold:  Kluge,  Etymologisches 
Wörterbuch,  S.  206. 
2)  Meyer  S.  30. 
8)  Meyer  S.  214. 

4)  Mogk  S.  292,  Golther  S.  149,  Meyer  S.  214. 

5)  Meyer  a.  a.  O. 

6)  Mogk  S.  293. 

7j  Vgl.  Meyer  S.  173. 


§  12.    Die  Dämonen.  111 

Blicken  wir  zurück,  so  sehen  wir  die  » Naturgeister «  freilich  nicht  in 
dem  vornehmen  Glanz,  in  den  die  neuere  Mythologie  sie  vielfach  recht 
eigentlich  »gehüllt«  hat.  Es  sind  im  Gegenteil  die  Proletarier  des  Götter- 
reichs; freilich  eben  darum  in  ihren  schönsten  Vertretern  der  Volks- 
phantasie lieb  und  vertraut,  sonst  aber  auch  scheu  gemieden: 

Berufe  nicht  die  wohlbekannte  Schar, 
Die  strömend  sich  im  Dunstkreis  überbreitet, 
Dem  Menschen  tausendfältige  Gefahr 
Von  allen  Enden  her  bereitet! 

Anhangsweise  versuchen  wir  noch  die  Frage  der  altgermanischen 
Tiergeister  zu  erledigen. 

6.  Ein  »Tiergeist«  wäre  ein  Geist,  der  in  einem  bestimmten  Exemplar 
einer  bestimmten  Tiergattung  seinen  Sitz  hatte;  wie  der  Apisstier  der 
Ägypter1)  oder  der  weiße  Elefant  in  Siam.  Solche  Tiergeister  sind  nicht 
zu  verwechseln  mit  Seelen  oder  Naturgeistern,  die  nur  vorübergehend 
Tiergestalt  angenommen  haben. 

Wir  haben  keinen  Anhalt  für  die  Existenz  solcher  Tiergeister  bei  den 
alten  Germanen.  Die  dichteriche  »Beseelung«  von  Roß  oder  Hund  in 
der  Heldensage  ist  von  der  etwa  des  Schiffes  nicht  zu  trennen,  oder  sie 
geht  (s.  o.)  auf  Fetischismus  zurück.  Die  mittelalterlichen  Tierprozesse2) 
hat  man  ebenfalls  zu  unrecht  herangezogen ;  es  kann  ja  in  jedes  Tier,  das 
Schaden  angerichtet  hat,  ein  Dämon  gefahren  sein.  Übrigens  gehen  sie 
nicht  auf  älteste  Grundlage  zurück.  —  Die  Wundergeschöpfe  der  eddischen 
Märchendichtung:  sprechende  Vögel,  Wunderziege  und  Wunderhirsch 
u.  dgl. 3)  werden  eben  als  solche  aufgefaßt ;  ihr  Vorhandensein  kann  deshalb 
geradezu  als  ein  weiteres  Zeugnis  gegen  die  Annahme  altgermanischer 
Tiergötter  dienen. 

§  12.    Die  Dämonen. 

Unter  »Dämonen«  im  spezifischen  Sinne  verstehen  wir  Geister,  die 
den  Naturgeistern  sonst  vergleichbar,  aber  an  keinerlei  greifbares  Substrat 
gebunden  sind. 

Bezeichnend  für  sie  ist  die  Un Sichtbarkeit  oder  Verwandlungsfähig- 
keit:  sie  scheinen  gar  kein  festes  Kleid  zu  haben.  —  Bezeichnend  ist 
ferner  die  unbegrenzte  Zahl  und  die  Neigung,  bestimmte  Klassen,  oft 
unter  einem  Oberhaupt,  zu  bilden. 

Wenn  auch  nicht  an  einen  bestimmten  Raum,  sind  doch  einige  an 
eine  bestimmte  Zeit  oder  eine  gewisse  Situation,  eine  Bedingung  gebunden : 


*)  Er  man,  Ägyptische  Religion,  Register  s.  v.;  besonders  S.  176. 

2)  v.  Amira,  Tierstrafen  und  Tierprozesse  München  1891. 

3)  Vgl.  Ztschr.  f.  d.  Phil.  31,  323. 


j  1 2  Drittes  Kapitel. 

so  erscheinen  die  Traumgeister  eben  nur,  wenn  der  Mensch  schläft.  — 
Übrigens  ist  der  Grad  der  Ähnlichkeit  mit  anderen  Geisterkategorien  ver- 
schieden; die  »Holden«  sind  von  Naturgeistern  oft  kaum  zu  unterscheiden • 
Am  freiesten  sind  die  Elfen  l). 

1.   Traumgeister. 

Wir  erinnern  uns:  im  Traum  verläßt  die  Seele  den  Körper.  Dadurch 
wird  er  »frei«  und  andere  Geister  können  in  ihn,  wie  in  ein  leeres  Ge- 
häuse, hineinschlüpfen.  Solche  Schmarotzer,  wie  der  Einsiedlerkrebs,  sind 
die  Traumgeister.  Daß  eigentlich  doch  wieder  eine  Seele  nötig  wäre,  um 
den  fremden  Gast  wahrzunehmen,  kommt  der  naiven  Psychologie  nicht 
zum  Bewußtsein. 

Es  gibt  zwei  Gruppen:  die  mehr  körperlich  beschwerenden  (Alp- 
geister) und  die  mehr  geistig  beunruhigenden 2). 

Dem  Alp3)  zugrunde  liegt  eine  Druck-  und  Angstempfindung,  wie 
von  einer  körperlichen  Last4)  und  schon  den  Indogermanen  bekannt5), 
da  »die  überreichliche  Mahlzeit  in  einem  dumpfen  Schlafraum«6)  unseren 
wenig  hygienischen  Vorfahren  solche  üblen  Schlafzustände  erleichtern 
mußte.  —  Man  erklärt  sich  den  Druck  einfach  durch  ein  auf  uns 
lastendes  Wesen.  Wir  haben  hier  also  die  mythologische  Antinomie 
eines  »Geistes«,  der  doch  körperliche  Schwere  besitzt;  jedoch  wird 
der  Druck  vielfach  auch  auf  besondere  Bewegungen  des  Dämons  zurück- 
geführt. 

In  Mittel-  und  auch  großenteils  in  Oberdeutschland  heißt  der  Dämon 
»Alp« ,  «Quälgeist«  (eigentlich  wohl  »Truggeist«).  Mit  den  indischen 
Ribhus,  ursprünglichen  Elfen,  die  dann  kunstgewandte  Gnomen  werden  7), 
haben  die  Alpe  höchstens  den  entfernteren  Ursprung  und  den  Namen 
gemein,  nicht  das  Wesen.  Anderseits  ist  ihr  Name  nicht  mit  »alf«,  dem1 
der  »Elfen«   zu   verwechseln8).    Alemannisch  trut,  ebenso  österreichisch, 


*)  Wie  Meyer  S.  1441  irreführend  alle  Geister  nennt;  vgl.  allgemein 
ebd.  S.  28 f.  Zu  vergleichen  sind  besonders  die  —  bösen  —  indischen  Rakshäsas, 
Macdonell  S.  162f. 

2)  Literatur  zum  Traum  vgl.  o.  S.  77,  3.  Verkörperungen  der  Träume  selbst 
und  ihres  Herrn  Morpheus  wie  bei  den  Hellenen  (Preller  1,  846)  sind  wohl  erst 
dichterische  Erfindung. 

3)  Meyer  S.  128f.,  Mogk  S.  2661,  Golther  S.  731;  Überschätzung  ihrer 
mythologischen  Bedeutung  bei  Laistner,  Rätsel  der  Sphinx,  Berlin  1889;  vgl. 
z.  B.  Golther  S.  74  Anm.,  Mogk  S.  268. 

4)  Gut  beschrieben  von  Meyer  S.  129. 

5)  Ebd.  S.  130. 

6)  Ebd.  S.  128. 

7)  Macdonell  S.  131,  134. 

8)  Den  Mogk  S.  268  zu  allgemein  als  »seelisches  Wesen  schlechthin» 
definiert. 


§  12.    Die  Dämonen.  113 

gehört  zu  trudan  treten1),  weil  sie  den  Fuß  lastend  aufsetzen.  Sonst 
herrscht  oberdeutsch  der  Ausdruck  schrat ,  Deminutiv  schreitet  zu  alt- 
nordisch skratti Gespenst,  ahd.  scrati  ,pilvisus\  behaartes  Waldgespenst2)? 
Der  altgermanische  Name  ist  aber  ahd.  und  altnordisch  mara ,  zu  mar 
hindern,  hemmen3);  dazu  englisch  nigthmare,  französisch  cetuchemar 
(erste  Hälfte  wieder  zu  calcare,  treten).  —  Ferner  begegnen  abwehrende 
Kosenamen :  Druckerle,  Nachtmännle;  Tiernamen  wie  alemannisch  Lork, 
Kröte.  Zunehmende  Vermenschlichung  zeigen  Namen  wie  Nachtfräule  in 
Zürich,  Waldriderske  in  Oldenburg4). 

Der  Alp  wird  in  seiner  äußeren  Erscheinung  anschaulich  gemacht. 
Bezeichnend  ist  der  breite  Gaißfuß 5),  sonst  noch  der  große  schwere  Kopf, 
die  glühenden  Augen 6).  So  wird  er  ein  rechtes  Musterbild  jener  phantasti- 
schen Ungeheuer,  die  der  geistig  bildenden  Kunst  primitiver  Menschen  aus 
dem  Dunkel,  aus  unklaren  Umrissen,  aus  optischen  Nachbildern  erwachsen 7). 
Sie  erinnert  an  die  wilden  Nachtmahrphantasien  unserer  Romantiker,  be- 
sonders E.  Th.  A.  Hoffmanns,  oder  an  die  höllischen  Figuren  des 
»Höllenbreughel<. 

Die  Erscheinung  gilt  für  sehr  gefährlich:  sie  tritt  dem  König  Vanlandi 
erst  die  Beine  fast  entzwei  und  drückt  ihm  dann  den  Schädel  ein 8),  wohl 
indem  sie  ihn  aus  der  Bettstatt  stürzt9).  Sie  »reitet«  oder  »tritt«  auch  die 
Haustiere,  so  daß  sie  des  Morgens  schweißtriefend  und  zitternd  dastehen ; 
nur  das  Schwein  bleibt  (am  Lechrain)  unversehrt. 

Als  Schutz  gilt  prohibitiv:  brennende  Kerze,  Waffe  auf  der  Brust; 
so  würde  sie  sich  verbrennen  oder  schneiden;  defensiv:  Zaubersprüche, 
die  zum  Teil  noch  jetzt 10)  in  Gebrauch  sind  n).  Im  ganzen  hilft  schon  das 
Erwachen,  namentlich  wenn  es  sich  durch  lauten  Schrei  verrät 12).  Um  den 
Alp  dann  dauernd  unschädlich  zu  machen,  packt  und  drückt  man,  was 
man  irgend  beim  Erwachen  in  der  Hand  hält,  Strohhalm,  Faden,  Bett- 
feder, und  nagelt  ihn  fest,  um  damit  sympathetisch  die  Trud  zu  bannen  13). 


*)  Meyer  S.  131. 

2)  Vgl.  Golther  S.  125  und  besonders  Mogk  S.  268. 

3)  Mogk  S.  267. 

4)  Meyer  S.  131. 

5)  »Drudenfuß«,  Meyer  S.  139. 

6)  Ebd.  S.  133. 

7)  Vgl.  Wundt,  Völkerpsychologie,  2,  2. 

8)  Ynglingatal  c.  16,  Meyer  S.  131. 

9)  Ähnliches  droht  die  Hexe  Hrimgerd  dem  Atli  an,  Helg.  Hjörv.  Str.  22. 
10)  Wie  die  im  »Romanusbüchlein«,  Meyer  S.  132. 

u)  Vgl.  ebd.  S.  134,  136.  Ein  ausführlicher  Nachtsegen  dieser  Art  bei 
Franck,  Geschichte  des  Wortes  Hexe,  S.  28;  Kern  S.  29:  »Noch  mich  die  mare 
drücke «. 

12)  Golther  S.  79,  Meyer  S.  135. 

13)  Meyer  ebd. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  8 


]  1 4  Drittes  Kapitel. 

Zum  gleichen  Zwecke  sucht  man  ihrer  nach  dem  Erwachen  habhaft 
zu  werden;  man  sucht  auf  dem  Heuboden,  in  Gräbern.  Da  stellt  sich 
denn  manchmal  heraus,  daß  die  Mar  kein  eigentlicher  Geist  war,  sondern 
ein  »Wiedergänger«  (s.  o.)  in  mancherlei  Verkleidung,  besonders  auch  als 
Katze,  Hund,  Maus1)  —  oder  auch  die  Seele  einer  lebendigen  Person2). 
Solche  Personen  müssen  im  Besitz  einer  bestimmten  Disposition  sein3); 
erkannt  werden  sie  wohl,  wenn  Nachbarn  uns  im  Traum  in  einer  alp- 
bedrückten Nacht  erscheinen4).  Solch  eine  »Mahrt«  ist  an  den  zusammen- 
gewachsenen Augenbrauen  zu  erkennen:  sie  ist  ein  »Rätsel«  wie  Goethes 
Freund  Lenz.  Mythologisch  ist  solche  Persönlichkeit  wohl  zu  erklären 
als  ein  Mensch,  in  dem  ein  Alpgeist  Unterkunft  gefunden  hat5).  Er  gilt 
aber  als  mitschuldig6). 

Der  Kult  beschränkt  sich  überwiegend  auf  die  Abwehrmaßregeln; 
doch  erhalten  die  Schretlein  in  der  Dreikönigsnacht  Speise7). 

Die  zunächst  recht  primitive  Vorstellung  hat  eine  reiche  Entwicklung 
durchgemacht 8).  —  Erotischen  Charakter  scheint  sie  erst  in  der  Erhitzung 
der  Hexenjagd  angenommen  zu  haben  (incubus);  sie  hat  sich  dann  auch 
mit  dem  Vampyrglauben  vermischt9). 

Andere  Traumgeister10)  gibt  es  eigentlich  nicht;  denn  was  uns  im 
Traum  erscheint,  sind  die  wandernden  Seelen  anderer,  ihre  hugir11). 
Sie  sind  da  von  Raum  und  Zeit  frei;  deshalb  vermögen  wir  im  Traum 
künftige  Ereignisse  zu  erblicken.  Das  Auslegen  der  Träume  ist  Sache 
der  geübten  Wahrsager,  wie  im  Altertum  (Josef  in  Ägypten,  Daniel),  so 
bei  den  Germanen  12). 

2.  Holden13)  scheinen  ihrem  Ursprung  nach  freigewordene  Seelen 
Verstorbener  zu  sein.  »Aus  dieser  Schar  der  Holden  ist  in  später,  vielleicht 
erst  in  christlicher  Zeit  und  zum  Teil  unter  dem  Einfluß  fremden  Volks- 
glaubens eine  Führerin  entstanden  ...,  die  Frau  H  ol  le  unserer  Märchen«  u> 
Also  wieder  eine  Kollektivierung. 

x)  Mogk  S.  267. 

2)  Ebd.;  Meyer  S.  138f.,  141  f. 

3)  Meyer  S.  139. 

4)  Vgl.  Golther  S.  78. 

5)  Vgl.  u.   »Zaubermenschen«. 

6)  Prozeß  gegen  einen  Alpmenschen,  Mogk  S.  267. 

7)  Meyer  S.  222. 

8)  Vgl.  Golther  S.  76,  nach  Laistn er;  im  jetzigen  Aberglauben:  Wuttke, 
Volksaberglaube,  §  40  2  f. 

9)  Vgl.  Golther  S.  78. 

10)  Mogk  S.  268,  Meyer  S.  128 f.,  Golther  S.  74. 

11)  Vgl.  o.  S.  83. 

12)  Golther  S.  659. 

la)  Meyer  S.  278,  Meyer  S.  147,  195. 
14)  Mogk  S.  279. 


§  12.    Die  Dämonen.  115 

Sie  wohnt  im  Berg  wie  alle  ethnischen  Wesen  und  hat  ein  Gefolge 
von  Seelen,  ist  aber  selbst  ganz  elfenartig  gestaltet:  sie  macht  ihr  Bett 
(wenn  es  schneit),  spinnt  und  prüft  das  Spinnen  der  Mädchen.  Ihre 
Epiphanie  fällt  in  die  Zeit  der  Zwölfnächte.  —  Ähnlich  herrscht  in  ganz 
Oberdeutschland  Frau  Perchta,  Bertha;  ihr  Gebiet  reicht  im  Vogtland 
und  in  Nordbayern  in  das  der  Holle  hinein1);  nach  ihr  ist  Berchtesgaden 
benannt.  Sie  hat  vorzugsweise  Kinderseelen  im  Gefolge.  —  Andere  ähnliche 
Gestalten  heißen  Fru  Harke,  Fru  Gode  usw.2).  Sie  werden  gelehrt 
umgedeutet  als  Herodias  u.  a.3).  Überall  haben  sie  einen  gutartigen,  haus- 
frauenmäßigen Charakter. 

Kult:  es  wird  ihr  das  festliche  Perchtenlaufen  in  Tirol  und  der  Schweiz 
geweiht4):  man  läuft  verkleidet  durch  die  Straßen  und  ahmt  so  den  Umzug 
der  Frau  Holle  nach.  Auch  wird  ihr  Fastenspeise  dargebracht.  —  Auch 
diese  Feste  gleichen  den  Totenfesten  und  beweisen,  daß  die  Holden  Toten- 
geister sind,  die  zu  frei  treibenden  Dämonen  werden.  Die  Analogie  mit 
dem  (vorzugsweise  männlichen)  Wütenden  Heer  liegt  auf  der  Hand. 

3.    Elfen5).  —  Altn.  älfr.  ags  aelf,  »Atem«,  »Seele«?6). 

Die  Elfen  besitzen  ein  besonderes  »Reich«  wie  die  Zwerge,  Riesen, 
Götter  (vgl.  Alvfssmäl).  Dies  ist  aber  nicht  in  irdischer  Räumlichkeit 
vorzustellen,  sondern  rein  begrifflich  als  das  Reich  der  völlig  un- 
gebundenen  Geister7). 

Sie  sind  nicht  Naturgeister,  wie  Meyer8)  will,  sondern  Geister 
schlechtweg,  die  allerdings9)  »die  ganze  Natur  erfüllen«.  Mit  den  Seelen 
sind  auch  sie  verwandt10),  aber  wir  besitzen  kein  Recht,  sie  (wie  die 
Molden)  schlechtweg  animistisch  abzuleiten.  —  Eine  gewisse  Zartheit  ist 
hnen  überwiegend  eigen,  doch  nicht  so  ausgesprochen  wie  den  Wasser- 
bauern Man  hat  diese  Feinheit  sogar  in  den  Benennungen  gesucht,  die 
m  den  Alvfssmäl  den  Elfen  zuerteilt  werden :  der  Himmel  heißt  bei  ihnen 
»das  schöne  Dach«,  die  Sonne  »das  schöne  Rad«  u.  a. 

Sie  werden  formelhaft  den  Göttern  zugesellt  (aesir  ok  alfar 
altnordisch   —   ese    and  ylfe    angelsächsisch)11),    als    zweite    Haupt- 


*)  Mogk  a.  a.  O. 

2)  Mogk  S.  281. 

3)  Vgl.  Heine  im  Atta  Troll. 

4)  Mogk  S.  280. 

5)  Meyer  S.  144,  Golther  S.  113,  Mogk  S.  285f.,  Chantepie  S.  18. 
«)  Mikkola  vgl.  Uhlenbeck,  PBB  35,  163. 

7)  Vgl.  Mogk  S.  287. 

8)  a.  a.  O.  S.  144. 

9)  Golther  S.  122. 
10)  Ebd.  S.  123. 

u)  Golther  S.  124. 

8* 


1 1  ß  Drittes  Kapitel. 

kategorie    der   wirkenden    Mächte    —    allerdings    unter   Mitwirkung    de I 
Stabreimes  x). 

Die  Elfen  sind  klein,  beweglich,  meist  schön,  doch  zuweilen  aucl| 
häßlich.  —  Ihr  Name  althochdeutsch  alp ,  mittelhochdeutsch  alp ,  PluiT 
elbe,  neuhochdeutsch  Elb  ist  seit  Wielands  Shakespeare  (Sommernachtsl; 
träum!)  durch  unser  »Elf«  ersetzt2).  Als  Seelen  wohnen  sie  in  Bergeii 
und  unter  der  Erde,  aber  auch  in  der  Luft.  Mit  dieser  Scheidung  del 
Wohnorts  —  der  aber  nirgends  fest  lokalisiert  scheint  —  hängt  wohB 
auch  die  Zweiteilung  in  Licht-  und  Dunkelelfen  zusammen3),  die  vielli 
leicht  erst  nachträglich  ins  Moralische  umgedeutet  wurde. 

Die  Lichtelfen  sind  zart,  schlank  wie  eine  Lilie,  weiß  wie  Schnee4 
so  daß  es  höchstes  Lob  wird :  schön  wie  eine  Elfin  (wie  wir  sagen :  schö 
wie  ein  Engel);  vgl.  in  dem  mittel  lateinischen  Gedicht  Ruodlieb5)  di 
Charakteristik  der  Zwergin :  parva,  nimis  pulchra  sed  et  auro  vestequ 
compta6).  Die  Stimme  ist  lieblich,  verlockend  7);  die  skandinavische  Volks 
dichtung  hat  gern  davon  gefabelt.  An  göttliche  Erscheinung  mit  vei 
nichtender  Wirkung  (Semele:  wer  Gott  sieht,  stirbt)  erinnert  es,  daß,  we 
sie  sieht,  sterben  muß  8).  Man  muß  sich  deshalb  hüten,  in  den  Elfenrinj 
zu  treten,  d.  h.  in  die  symbolische  Bezeichnung  ihres  Reiches,  die  späte 
realistisch   als  ein  Kranz  (weißlicher)  Pilze  aufgefaßt  wurde. 

Die  Dunkelelfen  heißen  auch  Wichte  (gotisch  vaihts ,  althoch 
deutsch  wikt,  »kleines  Wesen«  —  zu  einer  Wurzel  »bewegen«?9)  ode 
einfach  »Ding« 10)  (wie  in  unserem  »nicht«  =  »kein«  Ding).  Diese  Wichtel 
männchen  sind  zwergartige  »Teufelchen«,  können  aber  auch  gutartig  sein 
skandinavisch  hollar  vaettir,  »gute  Dinger«  (dagegen  »Bösewicht«). 

Die  Elfen  haben  keine  feste  Heimat;  daher  nehmen  sieden  Charakte 
ihres  jeweiligen  »Klimas«  an  und  erscheinen  als  Licht-,  Luft-,  Erd- 
Haus-,   Wasserelfen11).     Von    den    eigentlichen    Geistern    dieser    Bezirk 


*)  Hübsche  Gesamtcharakteristik  bei  Mogk,  S.  285;  auch  Meyer  S.  148 

2)  Vgl.  Br.  Grimm,  Deutsches  Wörterbuch  3,  400;  Mogk  S.  286. 

3)  Snorra  Edda,  cap.  17;  vgl.  Mogk  S.  281. 

4)  Golther  S.  126. 

6)  her.  v.  Seiler,  Halle  1882;  18,  27. 

6)  Auch  bei  vielen  fremden  elfenartigen  Wesen  wird  die  Schönheit  gerühm 
so  bei  den  Nereiden,  vor  allem  den  indischen  Apsarasen  (Meyer  S.  149);  gei 
manisch  ist  sie  aber  spezifisch  den  eigentlichen  Elfen  eigen. 

"')  Wie  bei  den  Sirenen,  die  aber  Meerfrauen  sind:  Prell  er  1,  614. 

8)  Man  vergleiche  die  Legende  von  Aktaeon,  die  allerdings  Prell  er  1,  456 
ganz  anders  erklärt;  ist  die  Strafe  für  das  Erblicken  der  Nacktheit  nicht  ers 
rationalistische  Umdeutung? 

9)  Mogk  S.  289. 
9)   Kluge,  Etymol.  Wb.,  S.  405. 
*)  Meyer  S.  146,  Mogk  S.  287. 


10) 
in 


>in 


§  12.    Die  Dämonen.  117 


d  sie  kaum  zu  unterscheiden,  sobald  sie  in  der  Luft,  in  Höhlen, 
Wäldern ,  Gewässern  wohnen.  Sie  sind  ja  auch  schließlich  nichts 
mderes  als  solche  Geister  mit  Loslösung  von  deren  charakteristischer 
Ortsgebundenheit.  Aber  eben  aus  dieser  Freiheit  erwachsen  ihnen  be- 
sondere Kennzeichen. 

Äußeres  Rangzeichen  ist  oft  (wie  bei  den  Hausgeistern)  der  Hut, 
mit  dessen  Ergreifen  man  sie  in  seine  Gewalt  bringt.  Noch  mehr  aber 
kennzeichnet  sie  die  Organisation:  sie  haben  Könige  (Alberich: 
Ortnit  in  der  Nibelunge  Not;  Laurin  Walberan  Goldemar)1);  sie  arbeiten  in 
£uter  geordneter  Schar2).  —  Inneres  Rangzeichen  ist  die  häufige  Übung 
des  Zaubers3).  Wahrscheinlich  deshalb  sind  die  Eigennamen  mit  Alf- 
>o  beliebt:  Albhart,  Albwin,  altenglisch  Alfred,  Älfric  u.  a. 4)  —  weib- 
lichen Eigennamen  mit  -rün  (Gudrun,  Ortrun)  entsprechend.  Diese 
Namen  sind  protreptisch  gemeint:  sie  sollen  vor  Bezauberung  schützen. 
Denn  die  Elfen  zaubern  aus  lauter  Lust  an  der  Sache;  sie  verwandeln 
sich  auch  gern  (mythische  mirnicry:  sie  sind  im  Wald  moosfarbig  usw.)5). 
Auch  der  Hut  wird  hierher  gezogen :  er  wird  als  Tarnkappe  gedacht, 
als  Mittel,  sich  unsichtbar  zu  machen. 

Diese  schwebende  Mittelgattung  hält  sich  aber  nirgends  ganz  selb- 
ständig. Im  Norden  werden  sie  an  die  Wanen,  überall  an  die  Zwerge 
herangebracht.  Beim  Spiel  der  Volksphantasie  werden  sie  z.  B.  auf  Island 
immer  menschenähnlicher6).  Von  den  Zwergen  erben  sie  auch  die  Kunst- 
fertigkeit, die  später  als  besonders  charakteristisch  gilt,  und  die  sie  als 
Zauberer  nicht  brauchen.  Doch  könnte  sie  dennoch  ihr  Urbesitz  sein, 
Jenn  auch  den  Ribhus  eignet  die  Kunstfertigkeit  und  auch  ihnen  wird, 
vie  den  kunstfertigen  Zwergen,  sogar  Wettkampf  in  der  Kunstgewandtheit 
nacherzählt 7). 

Keine  Gruppe  der  Geister  ist  so  schwer  zu  fassen  wie  diese;  und 
vielleicht  liegt  eben  in  diesem  Zerfließen  ihr  Wesen.  Die  Mythologen 
haben    öfters8)    ihren   Namen    schlechtweg   als    einen    Gesamtbegriff    ge- 


*)  Vgl.  Golther  S.   133;   auch  die  indischen   Ribhus  haben  einen  guten 
König. 

2)   Kollektivierung  indischer  Elfen  ist  vielleicht  der  Gott  Tvastri,  erst  ihr  König? 
vgl.  Macdonell  S.  116. 

3)  Golther  S.  123,  128;  Heinrich  von  Morungen:  von  der  elbe  wird  entsin 
vil  manic  man;  das  Lied  vom  Erlkönig,  eigentlich  Elfenkönig,  Meyer  S.  166. 

4)  Golther  S.  124,  Meyer  S.  150. 

5)  Golther  S.  127. 

6)  Golther  S.  133. 

7)  Meyer  S.  157  f.    Ist  Wieland  —  den  man  mit  Daidalos  vergleicht,  z.  B. 
ebd.  S.  163  —  wirklich  ein  heroisierter  Elf? 

s)  So  Meyer  S.  152f. 


Hg  Drittes  Kapitel. 

nommen,  unter  den  besonders  auch  die  Zwerge  fallen;  aber  es  gibl 
Zwerge,  die  gar  nichts  Elfisches  haben.  Am  besten  charakterisieren  wii 
sie  vielleicht  als  ein  vergeistigtes  Menschenvolk  (der  Auffassung 
nicht  dem  Ursprung  nach),  zwischen  den  materielleren  Zwergen  und  der 
immaterielleren  Geistern  in  der  Mitte;  sehr  geeignet,  allerlei  Märchen  und 
Spukgeschichten1)  auf  sich  zu  nehmen;  arbeitsam  und  regelmäßige 
Beschäftigung  zugetan ;  den  Menschen,  denen  sie  nahe  verwandt  sind,  über 
wiegend  gewogen2).  Allerdings  ist  dies  Element  und  die  erotische  Seitt 
der  Elfennatur  später  von  den  Forschern  und  Dichtern3)  öfters  erst  hinein 
getragen  worden. 

Elfenkult  ist  schon  durch  die  Namengebung  (s.o.)  erwiesen.  Mar 
bringt  ihnen  Opfer:  streut  Speise,  auch  Salz  und  Brot,  in  die  Luft,  trag 
Blumen  in  den  Bach,  legt  Beeren  auf  den  Stein,  schenkt  auch  Puppe  unc 
Spielzeug4).  Zuweilen  haben  sie  feste  Zeiten:  in  Schonen  wird  den  gutei 
Wichtern  am  Abend  der  drei  hohen  Feste  am  Herdfeuer  geopfert;  Haupt 
feier  aber  während  der  Zwölfnächte  zwischen  Weihnachten  und  Drei 
königen:  das  Alfablöt5).    Man  bewirtet  sie,  fast  wie  Gäste6). 

In  den  Elfen  ist  die  höchste  Unbestimmtheit  mythischer  Gestalten  er 
reicht,  was  durch  ihre  Zauberlust  symbolisch  ausgedrückt  wird.  Um  s< 
deutlicher  ist  die  nächste  Gruppe  dämonischer  Wesen :  Riesen  und  Zwerge 
freilich  auch  sie,  wie  wir  schon  sahen,  vor  Berührungen  mit  Naturgeistern 
Dämonen  usw.  nicht  zu  schützen  7). 


*)  Meyer  S.  183 f. 

2)  Ebd.  S.  1851 

3)  Z.  B.  Herder;  vgl.  Heinzel-Detter,  Edda  2,  427. 

4)  Meyer  S.  220. 
B)  Mogk  S.  385. 

6)  Meyer  S.  222,  vgl.  S.  30. 

7)  Gelegentlich  streift  die  Art  der  Elfen  (wie  der  Nymphen)  schon  an  die  jene 
hellenischen  Dämonen,  die  ich  Stimmungsgötter  nennen  möchte,  weil  si 
weniger  ein  bestimmtes  Substrat  zu  beseelen,  als  vielmehr  die  durch  eine  Natui 
gewalt  erregte  Stimmung  auszudrücken  scheinen.  (Schön  sagt  Graf  Keßlei 
Neue  Rundschau,  Mai  1909,  S.  730:  »So  entstand  eine  Welt  von  Halbgöttern,  vo 
halbgeformten,  halb  noch  nebelhaften  Wesen,  deren  Gestalten  unbestimmt  warei 

während  die  Stimmungen,  die  sie  verkörperten,  feststanden« »das  ist  ihr 

Substanz,  diese  Stimmung,  diese  Gefühlsmasse  .  . .«).  Dahin  gehören  die  Graee 
und  Gorgonen,  Keto  »die  personifizierte  Ungeheuerlichkeit  des  Meeres  und  der  Flut 
(Prell er  2,  62;  Ran,  die  germ.  Göttin  des  Meerestodes,  hat  eine  viel  konkreter 
Grundlage),  auch  die  Chariten  —  erst  viele,  dann  drei  (ebd.  1,482)  —  Gottheite 
aller  guten  Dinge,  und  schließlich  Pan;  ja  auch  die  Musen  gehören  in  diesen  Bezirl 
Freilich  können  sie  alle  reine  Elementargeister  oder  Dämonen  gewesen  sein,  di 
erst  später  in  diesen  abstrakteren  Charakter  hineinwuchsen;  fanden  wir  doch  etwa 
davon  auch  bei  uns,  so  daß  die  Nymphen  elegische  Temperamentsgottheiten  wurder 


§  13.    Riesen  und  Zwerge.  119 

§  13.    Riesen  und  Zwerge. 

Die  alte  Theologie  (Alvfssmäl)  unterscheidet  die  Zwerge  von  den 
Elfen  und  macht  aus  den  Riesen  trotz  allen  Gewitter-,  Wind-  und  Berg- 
riesen eine  eigene  Kategorie.  Man  kann  diesen  späten  Systembildungen 
alle  Autorität  absprechen ;  aber  Riesen  und  Zwerge  sind  in  der  Tat  eine 
Gruppe  für  sich,  und  von  eigenem  Ursprung.  Geister  können  riesisch 
oder  zwerghaft  sein  —  ihr  eigentliches  Wesen  steckt  anderswo.  Diese 
hier  aber  sind  eben  durch  ihre  Größe  oder  Kleinheit  charakterisiert,  und 
alles  weitere  erfließt  von  da. 

Nicht  das  Größenmaß  an  sich  ist  entscheidend,  sondern  die  Ab- 
weichung von  der  Menschengestalt  als  der  natürlichen  Norm.  Wie  Asyndeton 
und  Polysyndeton  durch  ihren  gemeinschaftlichen  Gegensatz  gegen  die 
normale  Fügung  viel  mehr  als  durch  ihre  augenfällige  Verschiedenheit 
Untereinander  bestimmt  sind,  so  auch  hier.  Riesenwuchs  und  Zwerggestalt 
sind  zwei  Fälle  der  Formlosigkeit,  in  der  sich  noch  immer  bis  in 
die  größte  Menschenähnlichkeit  hinein  das  Geisterwesen  verrät.  Sind  die 
formlosen  Menschen  besonders  stark,  so  sind  sie  Riesen  (doch  gibt  es 
auch  riesenstarke  Zwerge  wie  Alberich  im  »Laurin«);  sind  sie  besonders 
gewandt,  so  sind  sie  Zwerge.  Es  sind  gleichsam  Geister  auf  dem  Weg 
zur  völligen  Menschwerdung. 

Natürlich  werden  sie  als  Pendants  empfunden,  aber  selten  zusammen- 
gestellt. Auf  der  Stufenleiter  der  Wesen  stehen  die  Riesen  den  Göttern 
näher,  die  Zwerge  den  Menschen.  Zwischen  Göttern  und  Riesen  gibt  es 
connubium  (wogegen  sich  freilich  das  Gedicht  Thrymskvida  wehrt!), 
zwischen  Göttern  und  Zwergen  keineswegs  (Alvfssmäl).  —  Die  Riesen  sind 
natürlich  vereinzelter,  die  Zwerge  treten  massenhafter  auf. 

1 .    Riesen1). 

Die  Riesen  sind  Lieblingsgestalten  der  kämpfenden  Volksphantasie, 
die  hier  ebensosehr  auf  ihre  Rechnung  kommt  wie  ihre  zartträumerische 
Seite  bei  Nixen  und  Wassermännern. 

Wir  sprechen  an  dieser  Stelle  nur  von  denjenigen  Riesen,  die  keine 
Naturgewalt  haben,  nicht  von  den  riesisch  gedachten  Geistern  gewaltiger 
Naturerscheinungen.    Früher  erklärte  man  allerdings  alle  Riesen  für  solche 


—  Den  vollkommensten  Ausdruck  solcher  Verkörperung  der  Naturstimmung  gibt 
Goethes  »Fischer«;  doch  auch  an  den  »Erlkönig«  ist  zu  erinnern  —  der  ja 
eigentlich  ein  Elfenkönig  ist !  —  Der  Zauber  der  unberührten  Natur,  wie  ihn  die 
Sagen  vom  Elfenring  und  Elfentanz  andeuten,  ist  ein  Lieblingsgegenstand  auch 
in  T  i  e  c  k  s  Märchen. 

x)  Wein  hold,  Die  Riesen  des  germanischen  Mythos,  Sitzungsber.  Wiener 
Akad.  XXVI  S.  2251,  1858;  Meyer  S.  226 f.,  Mogk  S.  309f.,  Golther  S.  159 f., 
Chantepie  S.  328. 


J20  Drittes  Kapitel. 

Geister1).  Diese  einheitliche  Erklärung  ist  ebenso  abzuweisen  wie  die 
entgegengesetzte  ethnologische,  die  in  Riesen  (und  Zwergen)  nur  Über- 
bleibsel vorindogermanischer  Rassen  sieht.  Wir  haben  nach  allen  archäo- 
logischen Funden  kein  Recht,  die  Vorbewohner  Europas  (oder  überhaupt 
der  von  den  Indogermanen  okkupierten  Gebiete)  den  Germanen  gegenüber 
für  Riesen  zu  halten. 

Rangzeichen  der  Riesen  ist  natürlich  die  Größe  und  die  damit  ver- 
bundene Kraft.  (Diese  letztere  aber  fehlt  selbstverständlich  dem  nachgemachten 
Lehmriesen  Mökkurkalfi,  dem  Koloß  auf  tönernen  Füßen  2).  Freilich  ist  er 
wohl  überhaupt  ein  nachgemachtes  Gebilde;  übrigens  eine  lustige  Vor- 
deutung der  »künstlichen  Menschen«,  der  Romantik,  z.  B.  in  Immermanns 
»Tulifäntchen«.)  Ihr  allgemeiner  Charakter3)  ist  davon  beherrscht.  Später  hat 
die  altnordische  Systembildung  sich  gerade  auch  dieser  Lieblingswelt  be- 
mächtigt und  sie  genealogisch  geordnet4);  für  die  ältere  Mythologie  be- 
deutet das  kaum  mehr  als  moderne  Klassifikationen  auch5). 

Die  Benennungen  gehen  durchweg  von  ihrem  charakteristischen  Merk- 
mal oder  unmittelbar  abgeleiteten  Eigenschaften  aus:  altnordisch  jötun 
(ins  Lappische  als  jetanas  übernommen,  also  sehr  alte  Bezeichnung),  alt- 
englisch eoten ,  altsächsisch  etan  (in  Ortsnamen)  »Fresser«;  davon  die 
altnordische  Riesenwelt  jötunheimr ;  altnordisch  thurs  (finnisch  tursas), 
ein  durch  die  Aufnahme  unter  die  Runennamen  in  seiner  Wichtigkeit  an- 
erkannter Ausdruck,  angelsächsisch  thyrs ,  mittelhochdeutsch  tiirse  (in 
Ortsnamen  wie  Tursinriut,  Tirschenreut,  des  trefflichen  Germanisten 
Seh  melier  Geburtsort)  aus  thurisas  zu  sanskrit  turas ,  >  stark«6).  — 
Mittelhochdeutsch  ein  neuer  Name:  hiune ,  neuhochdeutsch  »Hüne« 
(»Hünengräber«)  zu  huna,  altnordisch  hüna,  kräftig?7).  Deutsch  Riese, 
althochdeutsch  risi ,  altsächsisch  wrtsil ,  zu  sanskrit  vrsan ,  stark. 
Bairisch  eng,  angelsächsisch  ent:  Präfix  in  der  Bedeutung  »ungeheuer«. 
Dazu  früh  das  Fremdwort  gigant.  —  Die  große  Häufigkeit  der  älteren 
Worte  in  Ortsnamen  und  Eigennamen  (Turisind,  Hunimund,  Hunolt  u.  a.) 
erklärt  sich  aus  der  Beliebtheit  der  Riesensagen. 

Die  Gestalt  ist  die  eines  zur  Formlosigkeit  ausgewachsenen  Menschen, 
wie  in  gewissen  (nicht  antiken)  Herkulesfiguren;  besonders  werden  die 
starke  Nase8)    und   der   Bart   als   Kennzeichen    der   Männlichkeit    betont. 


1)  So  Unland  im  »Mythus  von  Thor«,  Wein  hold  a.a.O.;  vgl.  MogkS.  309. 

2)  Snorra  Edda,  Gering  S.  359—360. 

3)  Vgl.  Golther  S.  159,  der  aber  auch  die  Naturriesen  mitnimmt. 
A)  Golther  S.  169. 

6)  Vgl.  Meyer  S.  226. 

6)  Kögel,    Anz.    f.    d.    Alt.    18,   49    (in    Völkernamen    wie    Hermunduri, 
Thur-ingi). 

7)  Anders  Kluge,  Etym.  Wb.  S.  75;  Golther  S.  161  Anm.  3;  Berneker. 

8)  Golther  S.  163. 


§  13.    Riesen  und  Zwerge.  121 

Zuweilen  sind  sie  schön,  was  von  ihren  Töchtern  Gerd  (Skfrn.)  und  Skadi, 
junnlöd  (Hävamäl)  allgemein  gilt;  es  erklärt  sich  hier  einfach  daraus,  daß 
Mythen  über  Liebesgeschichten  zwischen  Göttern  und  Riesen  entstanden  *), 
md  daß  für  den  poetischen  Stil  des  Altertums  Liebe  Schönheit  voraussetzt ; 
nythische  Hintergründe  braucht  man  dabei  nicht  zu  suchen.  Viel  häufiger, 
and  in  der  Tat  ihrem  Wesen  angemessener,  ist  aber  Mißgestaltung,  besonders 
Hypertrophie  einzelner  Körperteile 2) :  drei,  sechs,  neunhundert  Köpfe,  acht 
Hände3). 

Eine  ganz  neue  Riesenhypothese  hat  neuerdings  Sc  ho n in g4)  aufgestellt, 
r  erklärt  sie  für  —  Leichendämonen;  worin  ihm  verwunderlicherweise  Mogk 
/öllig  zustimmt.  Schoning  geht  von  dem  Namen  jötun,  Esser  aus  und  vergleicht 
Nidhögg5),  der  doch  kein  Riese  ist,  und  den  Windriesen  mit  dem  problematischen 
Namen  Hraesvelg%  der  allerdings  Leichenfresser«  bedeutet.  Überhaupt  fällt  bei 
ihm,  wie  bei  vielen  Folkloristen,  neben  der  Energie  der  mythologischen  die 
Schwäche  der  literarischen  Kritik  auf,  mit  der  er  jeden  Namen  in  Grim.  und  jede 
Aussage  in  Gylf.  gläubig  annimmt,  die  Fjölsvinnsmäl 7),  ein  Gewächs  der  isländischen 
Schreibzeit8),  wie  eine  echte  Urkunde  verwertet  und  nur  gegen  die  —  Thrymskvida9) 
vom  Standpunkt  seiner  Hypothese  aus  Bedenken  hegt.  Und  wenn  er  auf  die 
(längst  bekannte)  Schilderung  des  Polarreiches10)  hinweist,  die  unzweifelhaft  von 
dem  Bilde  des  Totenreiches  angefärbt  ist  (nicht  einmal  die  Goldbrücke  fehlt, 
über  die  Hermod  reitet!),  so  scheint  es  ihm  natürlicher,  diesen  chthonischen 
Charakter  von  der  Nähe  des  Riesenreiches  abzuleiten,  als  von  der  dort  herrschenden 
Kälte  und  Dunkelheit  (die  er  doch  selbst11)  als  Hauptkennzeichen  der  Unterwelt 
anführt!).  Und  die  leichenfressenden  indischen  jPisäcas12)  sind  wiederum  keine 
Riesen  usw. 

Ließe  sich  für  jene  Auffassung  der  Riesen  noch  einiges  aufführen  —  zwar 
gewiß  nicht,  daß  alle  Riesen  von  vornherein  Leichendämonen  sind,  wogegen  der 
Typus  der  ungeheuren  Mehrzahl  in  allen  Mythologien  spricht,  wie  auch  das  un- 
entbehrliche und  sie  wieder  fordernde  Gegenbild  der  Zwerge;  aber  doch,  daß 
iie  ursprünglichen  Leichendämonen  riesischer  Natur  sind,  d.  h.  formlos,  ungeheuer» 
bedrohlich  — ,  so  scheint  mir  der  Gipfel  der  Konsequenzenmacherei  erreicht,  wenn 13) 
mch  Loki  ein  alter  Leichendämon  sein  soll14)!  Hierfür  bringt  Schoning  eigent- 
lich nur  zwei  Argumente,  denen  beiden  ich  gern  zugestehe,  daß  sie  geistreich 


J)  Vgl.  Gen.  6,   2:    »Da   sahen   die  Kinder  Gottes   zu   den    Töchtern  der 
Menschen,  wie  schön  sie  waren,  und  nahmen  zu  Weibern,  welche  sie  wollten«. 

2)  Golther  S.  169. 

3)  Ebenso  die  griechischen  Hekatoncheiren  mit  50  Köpfen  und  100  Armen: 
Preller  1,  48. 

4)  Dödsriger  i   Nordisk    Hedentro:    Totenreiche   im    nordischen    Heidentum, 
Kopenhagen  1903. 

5)  S.  14.  6)  S.  13.  7)  S.  29. 

8)  Heusler,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  266. 

9)  S.  22. 

10)  Saxo  S.  286,  Hermann  S.  384 f. 

n)  S.  4. 

12)  Macdonell  S.  164. 

18)  S.  27  f.  14)  S.  29. 


j22  Drittes  Kapitel. 

sind    auf  den  ersten  Augenblick  sogar  blendend  —  aber  auch  nicht  auf  länger 
Daserste  ist1)  die  Anrede  des  Wächters  an  Skirnir2):  «Bist  du  zum  Sterben  be 
stimmt,  oder   ein   zurückkehrendes   Gespenst?«    Schoning  meint,   dies  beweise 
daß  Skirnir  in  das  Totenreich  eindringen  will,  in  das  nur  Tote  gehören.    (Dem 
die  Waberlohe  S.  23  beweist  nichts,  da  nirgends  geschrieben  steht,  daß  eim 
solche  gerade  nur  die  Unterwelt  umgebe ;  es  ist  ja  auch  davon  weder  Vaf.  Str.  | 
noch  Helr.  die   Rede,  vgl.  u.)    Aber  nun  versetze    man   sich   in  die  Situation 
der  Wächter  sieht  einen  Reiter  kommen  —  und  soll  in  ihm  einen  Gast  der  He 
vermuten?    Ja,  wenn  es  noch  zu  Valhöll  ginge!    Ferner:  wie  soll  man  sich  das 
vorstellen,  daß  der  Dichter  der  Skirn,  der  sonst  Gymirs  Reich  gewiß  nicht  meh 
als  Totenreich  ansieht  —  wie  wäre  sonst  der  Fluch  Str.  26 f.  möglich!  —  um 
der  »die  alte  Riesin«  und  Teufelsgroßmutter3)  zu  Gerd  verjüngt  hat,  gleichzeiti 
durch  diese  Worte  sich  noch  der  alten  Bedeutung  des  Riesenreiches  bewußt  zeigt 
Wir   werden  also   wohl   dabei   bleiben  müssen,    mit  Heinzel   und    Detter4)  zi 
übersetzen:    »Du  hast  wohl  kein  Leben  mehr  zu  verlieren?«,  wozu  allein  dam 
auch  Skirnirs  Antwort  paßt.  —  Nicht  minder  ist5)  das  Wettessen  bei  Utgardaloki6 
aus  dem  Zusammenhang  gerissen.   Loki  verzehrt  alles  Fleisch  bis  auf  die  Knochen 
Logi  aber  hat  auch -noch  die  Knochen  verschlungen.    Ich  kann  es  Schoning  nach 
fühlen,  daß  er  das  gesperrt  druckt  und7)  noch  zweimal  als  Haupttrumpf  aus- 
spielt.    Aber  man  darf  doch   diese   Kraftprobe   nicht  von  den  beiden  anderer 
isolieren !    Es  sind  drei  Wetten  auf  Schnelligkeit  im  Essen,  Laufen,  Trinken.    Also 
nicht  daß  Loki  die  Knochen  übrig  läßt,  sondern  daß  er  sie  noch  nicht  gegesser 
hat,  macht  den  Unterschied.     Drei  mythologische  Persönlichkeiten  werden  dre 
Abstraktionen  gegenübergestellt:  dem  Feuer,    dem  Gedanken   (schneller  als  dei 
Blitz;  vgl.  Lessings  Vorspiel   zum    »Faust«),   dem  Alter.    Thor   ist  durch  Appetil 
und  Stärke  berühmt,  und  ursprünglich  wird  wohl  auch  er  gegessen  haben;  da 
bleiben  seinen  Begleitern  die  typischen  Tätigkeiten  des  Dieners:  dem  guten  die 
Geschwindigkeit,  dem  bösen  die  Freßlust.    In  Ribbecks  Lehre  von  den  komischen 
Typen  gehört  das  eher  als  in  die  eigentliche  Mythologie. 

Wenn  also  Schoning8)  noch  einmal  versichert,  die  Riesen  seien  Leichen' 
dämonen,  und  alle  »»Doppelnatur«  Lokis  erkläre  sich9)  ebenfalls  aus  diesem  Ur 
sprung,  so  vermögen  wir  dieser  so  wenig  wie  in  seinen  Datierungen  zu  folgen 
wenn  Angrboda10)  alt  sein  soll,  die  neun  Töchter  der  Ran  aber  (die  durch  den 

«Heimdallszauber«  gestützt  scheinen)  jung11)  und  wenn  Idun12)  als  echte  alte 
Gestalt  behandelt  wird;  oder  wie  in  seinen  psychologischen  Motivierungen,  die 
den  Ursprung  von  Valhöll13)  in  eine  Auflehnung  des  Wikingerstolzes  gegen  di 
Herrschaft  eines  Weibes,  der  Hei,  setzt  —  um  sie  dafür  dann  die  submarine 
Unterwelt  mit  Ran  als  Herrscherin14)  wählen  zu  lassen. 

Wir  werden  also  weder  die  Riesen  unter  die  Dämonen  noch  Loki  (der  als 

»Schließer«  einfach  »»der  Tod«  sein  soll,  wieder  eine  geistreich  -  anachronistische 
Deutung)15)  unter  die  Riesen  aufnehmen  dürfen. 


J)  S.  22  f.  2)  Skern.  Str.  12.  3)  S.  39. 

4)  Zur  Stelle,  nach  Lüning. 

5)  S.  39. 

6)  Gylf.  c.  46,  Gering  S.  338. 

7)  S.  33,  S.  40 f.  gegen  Bugge,  Olrik,  Kock. 

8)  S.  48.  9)  S.  32.  io)  S.  39. 
»)  S.  45.  12)  S.  52.  13)  S.  43. 
14)  S.  44.          i5j  S.  31. 


§  13.    Zwerge  und  Riesen.  123 

Wie  bei  den  Elfen  lassen  sich  zwei  Typen  unterscheiden,  die  aber 
nicht,  wie  bei  diesen,  zu  mythologischen  Sondergruppen  geworden  sind: 

Da  ist  einerseits  der  weise  (oder  schlaue)  Riese,  mit  eddischen 
Epithetis  hundviss,  fjölkunnigr,  Vafthrudnir  heißt  alviss  »allkundig« ; 
hierher  gehören  auch  die  kunstfertigen  Riesinnen  Fenja  und  Menja.  Da 
man  ihnen  hohes  Alter  zuschreibt  (denn  sie  stammen  aus  den  fernsten 
Perioden,  wie  hohe  Bäume) *),  wissen  sie  viel.  —  Auf  der  andern  Seite  steht 
der  törichte  Riese,  in  dem  allein  die  plumpe  Masse  zum  Ausdruck  kommt: 
Hymir  (vgl.  den  altdeutschen  Tu mbo);  sein  Erbe  ist  der  »dumme  Teufel«. 
Man  darf  dies  nicht  schlechtweg2)  für  eine  jüngere  Auffassung  halten. 

Durchweg  haben  sie  in  ihrem  Wesen  etwas  Altmodisches,  das  auch 
in  Kleidung  und  Waffen3)  hervortritt;  dieser  Typus  wird  konzentriert  in 
dem  (ursprünglich  achthändigen  Riesen)  Starkad  (s.  u.).  Ihre  Formlosig- 
keit zeigt  sich  auch  psychologisch:  Neigung  zu  überschäumender  Wut, 
zu  toller  Heiterkeit4).  Sie  tragen  bezeichnende  Eigennamen  (etwa  wie 
die  Teufel  der  Fastnachtsspiele5);  so  Schwarzkopf,  der  Zottige,  Eisen- 
schädel u.  dgl.  m. 6).  Sie  leben7)  auf  einzelnen  Höfen;  aber  das  Riesen- 
land (König  Rother  v.  767)  ist  doch  wohl  das  älteste  »Heim«,  die  älteste 
Vorstellung  eines  geschlossenen,  von  einer  bestimmten  Kategorie  von 
Wesen  bewohnten  Gebietes  außerhalb  der  Welt.  Denn  unter  anderen 
Wesen  könnten  die  Riesen  nicht  lange  existieren. 

Bei  Frauen  erscheinen  die  unsympathischen  Eigenschaften  der  Riesen 
besonders  mißfällig;  daher  sind  (zwar  nicht  die  Töchter  der  Riesen 8),  aber 
sonst)  die  Riesinnen  schlimme  hexenartige  Ungeheuer  (flagd,  skessa 
altnordisch 9). 


*)  Golther  S.  170. 

2)  Mit  Golther  S.  164. 

3)  Golther  S.  163;  vgl.  S.  171. 

4)  Vgl.  Golther  S.  163*. 

5)  Vgl.  Weinhold  in  Gosches  Arch.  f.  Lit.-Gesch.  1,  1;  W.  Arndt,  Die 
Personennamen  in  den  deutschen  Schauspielen  des  Mittelalters,  Marburg  1904. 

6)  Golther  S.  163. 

7)  Wie  die  Zyklopen:  Prell  er  1,  622. 

8)  Siehe  o.  S.  121. 

9)  Golther  S.  168,  Meyer  S.  228.  Aufs  Genaueste  entsprechen  in  den 
Grundzügen  die  griechischen  Riesen.  Auch  sie  sind  formlose  Überreste  der 
frühesten  Menschenbildung,  gleichsam  Entwürfe  zum  Menschen,  bei  Homer  »ein 
wildes  und  riesiges,  gewaltige  Felsblöcke  schleuderndes  Urvolk«  (Prell erl,  66; 
vgl.  621).  Die  mißgestalteten  Zyklopen  sind  »übermütig,  gewaltsam,  riesig, 
fürchten  nichts,  selbst  Zeus  und  die  Götter  nicht«  (S.  622);  Söhne  der  Erde 
(S.  635).  Man  sollte  deshalb  auch  sie  nicht  (mit  P  r  e  1 1  e  r  1 ,  49)  durchweg  als 
Naturgeister  erklären.  Solche  riesischen  Geister,  z.  B.  von  Strömen  (e  b  d.  S.  475) 
fehlen  auch  hier  nicht;  übrigens  auch  hier  nicht  (S.  77)  die  euhemeristische 
Deutung  auf  ein  Riesenvolk  (die  Kelten). 


124  Drittes  Kapitel. 

An  diese  Gestalten  schließt  sich  eine  reiche  Sagenbildung,  die 
durchweg  an  ihre  Stärke  anknüpft.  Sie  treten  in  den  Dienst  der  Menschen, 
was  nicht  sowohl  in  tiefsinniger  Symbolik  den  Sieg  des  Menschen  über 
die  ungebändigten  Naturgewalten  ausdrückt,  als  vielmehr  ein  märchen- 
haftes Spiel  mit  der  Vorstellung  grenzenlos  gesteigerter  Kraft.  Sie  sind 
die  primitiven  Maschinen,  die  freilich  noch  nicht  nach  Pferdekraft,  sondern 
nach  Menschenkraft  berechnet  wurden.  Besonders  wünscht  man  sie  sich 
als  Hilfe  beim  Heben  schwerer  Lasten  und  realisiert  diese  Vorstellung  in 
den  beliebten  Legenden  von  Riesenbaumeistern,  den  Schöpfern  der  alten 
Riesenmauern  l).  Phantastische  Bergformen  wie  in  der  Sächsischen  Schweiz, 
besonders  aber  große  Brücken  gelten  als  ihr  Werk.  Um  den  Lohn  werden 
sie  meist  betrogen,  wie  schon  Odin  die  Riesentochter  betrügt;  auch  hierin 
beerbt  sie  der  Teufel. 

Diese  Mythen  vom  Riesenbaumeister2)  haben  noch  vielfach  alter- 
tümliches Gepräge;  auch  paßt  das  Zusammenfügen  ungeheurer  Stein- 
massen so  gut  zu  dem  Wesen  der  Riesen  wie  zierliche  Handarbeit  zu 
dem  der  Zwerge.  Auch  daß  sie  in  den  Dienst  der  Menschen  treten  (be- 
sonders in  Tiroler  Sagen)3),  erscheint  echt  und  wird  durch  die  Analogie 
von  Herakles'  Diensten  bei  Eurystheus  gestützt.  Sicher  mythisch  sind 
vollends  (wie  die  hellenische  Gigantomachie)  die  Erzählungen  von  ihren 
Kämpfen  mit  den  Göttern,  besonders  dem  Vertreter  des  riesischen  Wesens 
unten  den  Äsen:  Thor;  so  kämpft  Thjäzi  mit  Loki  gegen  die  Äsen;  so 
hat  Thor  den  Hymir  zu  bezwingen.  (Doch  steht  Thjäzi  schon  selbst  der 
Götternatur  nahe4).  —  Die  Verwandlungsfähigkeit 5)  endlich  teilen  sie 
mit  allen  dämonischen  Wesen,  üben  sie  aber  seltener,  da  ihnen  für 
gewöhnlich  die  Kraft  genügt. 

Später  aber  sind  mit  der  märchenhaften  Logik  der  primitiven  Fabulier- 
kunst allerlei  Hyperbeln  aus  ihren  Grundeigenschaften  herausgezogen 
worden.  So  in  Bezug  auf  ihre  Größe:  die  anmutige  Sage  vom  Riesen- 
spielzeug (Chamissos  Burg  Niedeck);  auf  die  Härte  ihres  Körpers:  er 
empfindet  Mühlsteine  als  Sandkörner6);  auf  ihre  Wut:  »wenn  die  Riesen 
im  Zorne  entbrennen,  so  schleudern  sie  Felsen,  reiben  Flammen  aus  Steinen, 
drücken  Wasser  aus  Steinen,  entwurzeln  Bäume«7);  ihren  Appetit8),  wie 
ihn  Herakles   und  der  indische  Pushan  ebenfalls   entwickeln;    ihre  innere 


1)  Golther  S.  165;  enta  geweorc  Beow.  v.  2718:   »zyklopische  Mauern«. 

2)  Golther  S.  166  Anm.,  Meyer  S.  234. 

3)  Meyer  S.  228,  Golther  S.  168. 

4)  Mogk  S.  312. 

»)  Mogk  S.  310,  Meyer  S.  229,  Golther  S.  169;  Thjäzi  als  Adler. 

6)  Golther  S.  167. 

7)  Golther  S.  163. 

8)  Daher  der  Name  jötun ;  vgl.  Meyer  S.  230. 


§  13.    Zwerge  und  Riesen.  125 

Härte:  das  steinerne  Herz.  (Daneben  dauert  freilich  die  Vorstellung  von 
ihrer  Gutmütigkeit x)  und  Treue 2)  fort.)  Die  Verkörperung  aller  dieser 
Hyperbeln  ist  der  groteske  Riese  Hymir,  ein  Holofernes,  halb  von  Hebbel 
und  halb  von  Nestroy  gezeichnet.  —  Solche  Folgerungen  ergeben  sich 
für  die  anschauende  Phantasie  des  Volkes  so  notwendig  wie  für  Swifts 
Gulliver  oder  Voltaires  Micromegas;  mit  der  eigentlichen  Mythologie 
aber  haben  solche  Fortbildungen  kaum  mehr  zu  tun  als  Goethes  »Faust« 
oder  »Pandora« :  sie  sind  nur  Zeugnisse  für  die  Auffassung  der  Charaktere. 
Ein  Riesenkult8)  ist  nur  für  die  riesischen  Naturgeister 4)  bezeugt; 
wo  Riesen  angerufen  werden,  geschieht  es  wegen  ihrer  sonstigen 
Qualitäten5).  Tumbo,  der  in  einem  altdeutschen  Segen6)  angerufen  wird, 
ist  wohl  nur  eine  Verkörperung  des  in  das  Innere  der  Hand  (wie  sich 
ein  Kind  in  die  Vaterarme  verkriecht)  hineingesteckten  Daumens,  den  man 
so  lange  hält,  bis  er  abstirbt  (»einschläft«)7).   — 

Zu  den  Riesen  gehören  außerdem  auch  die  Riesentiere,  soweit 
sie  nicht  Verwandlungsprodukte  sind:  der  Fenriswolf,  die  Midgard- 
schlange  und  andere  apokalyptische  Ungetüme,  die  denn  (Hymiskvida) 
mit  den  Riesen  auch  sonst  in  Verbindung  stehen. 

2.    Zwerge8). 

Hier  geht  die  Formlosigkeit  nach  der  anderen  Richtung:  als  hätte  der 
Stoff  nicht  gereicht,  um  ganze  Menschen  zu  bilden.  —  Wie  nahe  sie  den 
Elfen  stehen9),  wurde  schon  betont.  Aber  sie  sind  der  Menschennatur 
am  stärksten  genähert  und  haben  von  allen  Dämonen  am  wenigsten 
animistischen  Charakter. 

Wir  sprechen  also  hier  wieder  nur  von  den  »reinen  Zwergen«,  nicht 
von  Hausgeistern  oder  Elfen  in  Zwergenformat.  —  Ihre  Gestalt  ist  natür- 
lich klein,  oft  von  Daumengröße  (»Däumling«);  meist  werden  sie  als 
weißbärtige  Greise  (mit  flechtenartig  hängendem  Bart),  grau,  dickköpfig 
(nach  Art  der  Embryonen?)  gedacht10).  Jünger  ist  die  Anschauung  von 
schönen  Zwergen,  so  in  dem  mittelhochdeutschen  Laurin. 


x)  Golther  S.  167. 

2)  Ebd.  S.  169. 

3)  Golther  S.  190. 

4)  Siehe  oben  S.  119. 

5)  Vgl.  Meyer  S.  247. 

6)  MSD.  IV  6;  vgl.  Golther  S.  191. 

7)  Anders  Helm,  Hessische  Blätter  f.  Volkskunde,  8,  133.  —  Über  die  Be- 
deutung der  Riesenmythologie  allgemein  Meyer  S.  247. 

8)  Mogk  S.  289,  Meyer  S.  62f.,  173f.,  Golther  S.  134 f.,  Chantepie 
S.  318  f. 

9)  Zu  denen  Meyer  sie  rechnet;  vgl.  Golther  S.  135. 
10)  Meyer  S.  173. 


125  Drittes  Kapitel. 

Gemeingermanischer  Name  althochdeutsch  twerg ,  mittelhochdeutsch 
getwerg,  angelsächsisch  dweorh,  altnordisch  dvergre  zu  drug,  trügen? 
Vielleicht  auch  »der  Verschobene,  Zusammengedrückte«, 

Sie  wohnen,  ihrer  Figur  entsprechend,  der  Erde  nahe,  in  kleineren 
Bergen,  auch  gern  unter  der  Erde  (daher  auch  Bergbaugeister,  s.  o.); 
hiervon  heißen  sie  Bergmännlein,  Erdleute  usw.  Altnordisch  heißt  das 
Echo   »Sprache  der  Zwerge«,  weil  es  aus  der  Bergwand  wiedertönt. 

Rangzeichen  ist  neben  der  Kleinheit  die  Kunstfertigkeit  und  Ge- 
wandheit  (schon  in  der  Sprache  verwandte  Begriffe:  neuhochdeutsch  Mein, 
englisch  clean).  Dazu  gehört  auch  die  besonders  entwickelte  Kunst,  sich 
unsichtbar  zu  machen,  der  die  Tarnkappe  dient  —  wohl  kein  Zauber- 
nebel l) ,  sondern  eben  ein  zauberkräftiges  Attribut  wie  die  Schwanen- 
hemden  der  Schwanen  Jungfrauen 2).  Wer  diese  Mütze  faßt,  macht  sie  sichtbar 
und  kann  sich  ihrer  bemächtigen3).  Zuweilen  tragen  sie  als  zweites 
äußeres  Rangzeichen  einen  Kraftgürtel4),  in  dem  die  Stärke  deponiert  ist, 
für  welche  ihr  schmächtiger  Körper  keinen  Raum  bietet. 

Sie  treten  im  Gegensatz  zu  den  Riesen  gern  in  Massen  auf  und  haben 
wie  die  Elfen  organisierte  Staaten  mit  Königen  (Nibelunc  und  Schilbunc 
im  Nibelungenlied).  Ihr  unsichtbares  Reich  ist  eine  große  Schatzkammer 
voll  von  Prunkstücken,  besonders  aus  Gold  —  alles  was  unter  der  Erde 
wächst,  gehört  ihnen.  An  das  Dunkel  gewöhnt,  sind  sie  oft  (wie 
Matthissons  Elfen)  lichtscheu;  ja  man  kann  sie  durch  den  Schein  der 
Sonne  erstarren  lassen  (Alvfssmäl).  Die  Klassifikation  der  Alvissmäl  kenn- 
zeichnet sie  dadurch:  der  Mond  ist  (wie  es  im  Räuberlied  Schillers 
heißt)  ihre  Sonne5),  die  Sonne  ihr  »Verdruß«6). 

Auch  sie  lieben,  wenigstens  vielfach,  die  Gemeinschaft  der  Menschen 
und  verkehren  mit  diesen  in  der  Art  der  Hausgeister.  Doch  gehen  aus 
diesem  Verkehr  auch  Wechselbälge  hervor:  alt  aussehende  Kinder,  Miß- 
geburten; oder  sie  entführen  Menschenkinder.  Sollte  hier  an  die  klein- 
gewachsenen Finnen  als  »Zigeuner«  der  altgermanischen  Zeit  zu  denken 
sein7)?    Umgekehrt  helfen  die  Menschen  der  zwergischen  Kindbetterin 8). 

Wieder  heftet  sich  ein  Kranz  von  Sagen  an  diese  Gestalten.  Jung 
ist  schon  der  eddische  Mythus  vom  Ursprung  der  Zwerge:  sie  seien 
Maden  in  Ymis  Fleisch  gewesen 9).    Auch  der  lange  Zwergkatalog 10)  zeugt 

*)  Golther  S.  135. 

2)  Vgl.  den  Helm  des  Aidoneus,  der  den  Perseus  unsichtbar  macht. 

3)  Meyer  S.  173. 

4)  Ebd.;  Oolther  S.  153. 

5)  Alv.  Str.  15.  6)  Alv.  Str.  17. 

7)  Vgl.  Meyer  S.  181. 

8)  Ebd. 

9)  Golther  S.  140,  Mogk  S.  292. 
10)  dvergatal:  Vol.  Str.  10  f. 


§  14.    Zaubermenschen.  127 

von  der  Beliebtheit  dieser  Geisterchen;  wie  bei  den  Riesen  fehlen  auch 
hier  nicht  scherzhaft  charakterisierende  Namen  wie  »Erzdieb«  und  »Hügel- 
dieb«. —  Dann  blühen  die  Zwergsagen  besonders  in  den  Alpenländern 
und  dem  mitteldeutschen  Bergbaubezirk1).  Den  riesischen  Baumeister- 
sagen entsprechen  zwergische  »Schmiedesagen«2),  die  schon  bei  den 
indischen  Ribhus  Analogien  haben.  —  Ein  anderes  Hauptmotiv  ist  der 
Kampf  zwischen  Menschen  (oder  Göttern)  und  Zwergen  um  Schätze  (Regins- 
mäl)  und  weiterhin  ihre  Verdrängung  durch  die  Menschen  3).  Gern  wird 
der  geschmückte  Saal  ihres  unterirdischen  Hauses  geschildert4),  ihre  Feste, 
ihre  Schätze.  Sie  erhalten  gern  einen  leicht  komischen  Zug5);  man  könnte 
noch  eher  tragikomisch  sagen,  besonders  wenn  man  ihre  Welt  mit  der 
elegischen  der  Wassergeister,  der  grotesk-komischen  der  Hausgeister  und 
Riesen,  der  erotisch-sentimentalen  der  Elfen  vergleicht. 

§  14.    Zaubenuen sehen. 

All  diese  Klassen  von  »Dämonen«  sind  menschenähnlich,  aber  doch 
von  den  Menschen  unterschieden.  Von  Geburt  (und  Tod)  ist  höchstens 
bei  der  menschennächsten  Kategorie,  den  Zwergen,  die  Rede ;  die  anderen 
sind  immer  dagewesen  und  bleiben  unsterblich.  Vor  allem  aber  sind  sie 
alle  von  vornherein  kraft  ihres  Wesens  selbst  im  Besitz  übermenschlicher 
Kräfte  und  Eigenschaften. 

Diese  übermenschlichen  Kräfte  und  Eigenschaften  kann  nun  aber 
unter  Umständen  auch  der  Mensch  erlangen.  Ich  schlage  für  die  sehr 
verschiedenen  Kategorien  solcher  Menschen  die  Gesamtbenennung  »Zauber- 
mensch en«  vor  (die  »Zauberer«  sind  nur  eine  einzelne  Gruppe,  wenn 
auch  bei  weitem  die  wichtigste).  Sie  setzen  sich  —  für  immer  oder  auf 
teit  —  in  den  Besitz  dämonischer  Eigenschaften;  ein  solcher  Mensch 
tonn  weise  wie  ein  Gott  werden  oder  stark  wie  ein  Riese  oder  ver- 
wandlungsfähig wie  ein  Elf;  kann  dem  Wetter,  dem  Wasser  oder  Feuer 
wie  ein  Elementargeist  gebieten6). 

Durch  irgend  eine  Handlung  wird  der  Mensch  in  eine  höhere 
Kategorie  übergeleitet,  so  daß  er  gleichsam  ein  »relativer  Dämon«  wird; 
gerade  so,  wie  durch  Wunder  Tiere  der  menschlichen  Sprache  teilhaftig 
werden.  Es  gibt  dabei  mancherlei  Formen;  wir  ordnen  nach  der  Aus- 
dehnung des  dämonischen  Vermögens. 


1)  Meyer  S.  173. 

2)  Meyer  S.  175 f. 

3)  Ebd. 

4)  Golther  S.  136. 

R)  Wie  die  Pygmäen:  Prell  er  2,  219. 
6)  Vgl.  Ztschr.  f.  d.  Phil.  31,  317f. 


123  Drittes  Kapitel. 


Es 


1.  Zu  den  Traumgeistern  stehen  in  naher  Beziehung  die  Menschen,  di 
andere  mit  Alpdruck  plagen  können  *);  man  könnte  sie  Alpreiter  nenner 
Es  ist  eine  angeborene  Fähigkeit,  für  deren  Ausübung  aber  der  Mensel 
verantwortlich  bleibt. 

2.  Prädestiniert  ist  man  ganz  entsprechend  zum  Werwolf:  de 
siebente  Sohn  wird  Werwolf,  wie  die  siebente  Tochter  Mahrt2).  Dies  abe 
ist  eine  viel  wichtigere  Form3).  Es  ist  eine  schon  indogermanische  Vor 
Stellung,  wie  die  Übereinstimmung  von  Xvxdv&QtüTiog  mit  werwol 
(=  Mannwolf)  beweist;  dem  entspricht  genau  der  indische  Tigermensch 4 
Das  Wort  ist  ein  sogenanntes  Dvandva-Kompositum  und  bezeichnet  eil 
Wesen,  das  zugleich  Mensch  und  Wolf  ist.  Die  Vorstellung  gehört  auc 
den  Kelten  an5),  fehlt  aber  bei  den  asiatischen  Indogermanen 6) ;  dagegei 
trifft  man  sie  nicht  selten  auch  auf  nichtindogermanischem  Boden7). 

Die  Grundvorstellung  ist  die  der  Ekstase8):  die  Seele  fährt  au 
dem  Körper  und  macht  der  eines  wilden  Tieres  Platz.  Die  psychologisch 
Erfahrung  von  unerklärlichen  Wutanfällen  und  anderen  animalischei 
Momenten  bei  sonst  friedlichen  Menschen9),  die  wir  heute  mit  den 
»Doppel-Ich«  erklären  (und  die  z.  B.  der  englische  Romanschriftstelle 
Stevenson  in  der  fesselnden  Erzählung  Mr.  Hyde  and  Mr.  Jekyll  schildert) 
wird  von  der  primitiven  Psychologie  unter  dem  Gesichtspunkt  der  Ver 
Wandlungsfähigkeit  angesehen.  Eine  ganz  ähnliche  Form  ist  die  de 
Berserker10),  die  aber  die  Menschengestalt  bewahren. 

Mitwirkend   mag   die   Erfahrung  wirklicher    Verwilderung u)    hinzulj 
zuziehen  sein;   besonders  bei  Verbannten,  die  sprichwörtlich  als  »Wölfe 
(vargr  i  vdum)  bezeichnet  werden,  wenn  sie  »in  den  Busch  gehen«  wie  di 
sizilianischen  Banditen  oder  die  korsischen  Männer  der  Vendetta  (Sinfjötlalok) 
Schließlich  kommen  noch  Wahnsinnsanfälle  hinzu 12)    Rationalistisch  schein 


*)  Meyer  S.  139,  vgl.  o.  S.  112f. 

2)  Meyer  S.  139. 

3)  W.  Hertz,  Der  Werwolf,  1862;  Meyer  S.  83f.;  Mogk  S.  272f.;  Golthe 
S.  101  f.;  Carl  Meyer,  Aberglaube  des  Mittelalters,  S.  286 f.;  Andree,  Ethno 
graph.  Parallelen  1,  62  f. 

4)  Macdonell  S.  153. 
B)  Vgl.  Meyer  S.  86. 

6)  Ebd. 

7)  Andree,  Ethnograph.  Parallelen;  1,  92 f. 

8)  Siehe  o.  S.  78. 

9)  Bekannt  vor  allem  das  Amoklaufen  der  Malaien;  vgl.  K.  Fr.  v.  Kl  öden! 
Jugenderinnerungen,  Leipzig  1874,  S.  27. 

10)  Siehe  u. 

n)  Raub  er,  Homo  sapiens  ferus. 

lt)  Der  Troubadour  Peire  Vidal  lief  in  die  Wälder  und  heulte  dort  wie  ein 
Wolf;  der  rasende  Roland;  man  denke  auch  an  die  Nebukadnezarfabel. 


§  14.    Zaubermenschen.  129 

die  Deutung  aus  Maske  und  Wolfspelz1).     Dagegen   könnten  Atavismen 
aus  kannibalischen  Perioden  im  Blut  nachwirken2). 

Die  Gestalt  hat  ein  grausiges  Interesse  bis  auf  unsere  Tage  hin3). 
Es  ist  der  Zwang  zum  Übeltun,  die  »Wut  zur  Wut«,  was  hier  als 
beunruhigendes  Rätsel  in  die  Erscheinung  tritt.  Wir  haben  hier  durchaus 
das,  was  wir  noch  heute  »das  Dämonische«  nennen4). 

Der  Werwolf  ist  also  ein  Mensch,  den  in  bestimmten  Zeiten  die  Wut 
packt.  Es  geschieht  immer  nur  bei  eintretender  Dunkelheit,  zuweilen  auch 
nur  in  den  Zwölfnächten,  zumal  wenn  auch  sein  Geburtstag  in  diese  Zeit 
fällt.  Wenn  es  ihn  packt,  muß  er  Blut  haben.  Manchmal  lebt  er  auch 
sieben  oder  neun  Jahre  als  Wolf  (vgl.  das  Märchen  vom  Bärenhäuter), 
wird  aber  geheilt,  wenn  er  neun  Jahre  lang  kein  Menschenfleisch  nahm 5). 

Der  Werwolf  wird  wie  die  Hexe  für  seine  Untaten  verantwortlich  ge- 
macht. Noch  im  16. — 17.  Jah rhu ndert  begegnen  uns  Werwolf sprozesse;  1589 
wurde  Peter  Stube,  der  Werwolf  von  Epprath,  in  Köln  hingerichtet,  weil  er 
bekannte,  in  Wolfsgestalt  13  Kinder  zerrissen  und  ihr  Gehirn  aus  dem  Kopf 
gefressen  zu  haben;  1610  ebenso  in  Lüttich  zwei  Werwolf e6).  —  Der 
Aberglaube  besteht  noch  heute  besonders  in  Nord-  und  Ostdeutschland 7), 
ebenso  in  England8).  Eine  Abart  ist  der  vampyrartig  auftretende  west- 
fälische » Boxen wolf»,  der  Begegnenden  aufhockt  und  ihr  Gesicht  zer- 
fleischt9). 

Der  Obergang  in  den  Tierzustand  wird  durch  Zaubermittel  bewirkt, 
besonders  durch  den  »Wolfsgürtel«;  dieser  Zauber  macht  sie  dann  auch 
»gefroren«,  d.  h.  für  gewöhnliche  Waffen  unverletzlich10). 

Schutz  vor  Werwölfen  gewährt  die  Anrufung  mit  dem  Taufnamen 
?vgl.  die  Vertreibung  des  Alps  durch  den  Schrei);  ein  Wurf  mit  Stahl 
?der  Eisen ;  eine  Verwundung,  an  der  der  nicht  verwandelte  Mensch  dann 
später  wieder  zu  erkennen  ist n). 

An  diese  periodisch  zu  niederer  Stufe  herabsinkenden  Werwölfe  kann 
man  diejenigen  Menschen  anschließen,  die  periodisch  zum  ragr,  zum 
Weibmenschen,  zu  werden  verdammt  sind,  wie  jener  Refr,  der  jede  neunte 


*)  Vgl.  Wundt  1,  379. 

2)  Vgl.  Andree,  Die  Anthropophagie,  S.  1885. 

3)  Prosper  Merimee,  Lokis;  vgl.  Filon,  Merimee,   Paris  1898;  S.  148. 

4)  Zola,  la  bete  humaine. 
6)  Meyer  S.  85. 

6)  Vgl.  Andree  a.  a.  O.  über  moderne  Fälle  von  Anthropophagie. 
T)  Wuttke  S.  259f. 

8)  Mogk  S.  272. 

9)  Meyer  S.  86,  Mogk  S.  272. 
10)  Mogk  S.  272. 

")  Meyer  S.  85. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  9 


130  Drittes  Kapitel. 

Nacht  zum  Weibe  wurde1).  Doch  ist  dies  wohl  nur  eine  Formel  für  ein 
Laster,  dem  der  Unglückliche  immer  wieder  unterliegt;  man  denke  an 
»Quartalssäufer«  wie  den  armen  Fritz  Reuter! 

Verzauberung  von  Menschen  in  Tiergestalt  durch  Götter  oder  Zauberer, 
in  anderen  Mythologien  häufig,  kommt  in  der  germanischen  Mythologie 
nie  vor.  — 

Die  Berserker2)  stehen  den  Werwölfen,  wie  schon  erwähnt,  sehr 
nahe;  die  Weiber  der  Berserker3)  werden  »Wölfinnen«  genannt4).  Sie 
sind  aber  eine  spezifisch  germanische  Erscheinung,  gleichsam  eine  Ver 
körperung  des  furor  teutonicus.  Allerdings  begegnet  der  plötzliche  Zu 
stand  wilder  Wut,  den  wir  nach  seiner  klassischen  Vertretung  bei  den! 
Malayen  »Amoklaufen«  nennen,  auch  sonst  bei  primitiven  Völkern  und 
Menschen 5).  Das  Eigenartige  bei  den  Berserkern  aber  ist,  daß  diese  Wut- 
anfälle in  den  Dienst  des  Krieges  gestellt  werden6). 

Die  Berserker  »sind  Menschen,  stärker  und  wilder  als  andere,  did 
in  Berserkerwut  geraten  und  über  die  Menschen  wie  wilde  Tiere  her-| 
fallen.  Dann  sind  sie  unwiderstehlich,  sie  scheuen  weder  Eisen  noch 
Feuer» 7).  Sie  beißen  in  der  Wut  in  die  Schilde  und  gebärden  sicrJ 
wie  Wahnsinnige.  Nachher  sind  sie  machtlos  und  erschöpft,  wie  did 
Hexen  nach  dem  Ritt.  —  Die  »Berserker«,  d.  h.  »Bärengewandskerle«] 
werden  ursprünglich  wohl  wirklich  als  Bärenmenschen,  den  WerJ 
wölfen  entsprechend,  gedacht  worden  sein;  sie  heißen  auch  gelegentlich! 
ülfhednar,  »Wolfsgewandige« 8).  Später  wird  ein  ekstatischer  Krampf - 
zustand  nach  dem  Muster  solcher  fabelhafter  Zaubermenschen  systej 
matisch  erzielt  worden  sein.  Könige  halten  sich  eine  Garde  von 
solchen  Bärenmützen;  berühmt  sind  die  zwölf  Berserker  Hrolf  Krakis 
die  des  Harald  Schönhaar  (um  900).  Wiederum  ist  an  Starkad9)  zu  er-l 
innnern. 

Die  Sage  lebt  in  Norwegen  fort,  sogar  häufiger  als  die  von  deii 
Wolfsverwandlung.  Beides  ist,  wie  man  sieht,  nicht  ganz  gleichartig:  das 
Werwolfstum  ist  eine  Krankheit,  ein  Fluch,  das  Berserkertum  eine  zweck- 
dienliche Begabung.     Auch  unterscheidet  sie,  daß  die  Werwölfe  nur  ver 


*)  Vgl.  u.,  auch  Lok.  Str.  23.  33. 

2)  Mogk  S.  273,  Golther  S.  102,  Meyer  S.  86f.,  227. 

8)  Härb.  Str.  37. 

*)  Ebd.  39. 

ß)  Vgl.  o.  S.  128;  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1897  S.  342  f. 

6)  Schilderung  bei  Saxo  S.  222,  223,   H  ermann  S.  295,  297,  vgl.  Olrik 
Danmarks  Heltedigtning  S.  201  f. 

7)  Mogk  a.  a.  O. 

8)  Golther  S.  103. 

9)  Siehe  o.  S.  123,  auch  Lok.  Str.  23.  33. 


§  14.    Zaubermenschen.  131 

einzelt  (oder  höchstens  paarweise  wie  Sigmund  und  Sinfjötli),  die  Berserker 
in  geschlossenen  Gruppen  auftreten  x).  Werwolf  und  Berserker  scheinen 
immer  männlich  zu  sein2).  — 

Gestaltentauscher  kann  man  die  Menschen  nennen,  die  frei- 
willig Tiergestalten  annehmen  können  wie  die  Werwölfe  unter  dem  Fluch ; 
sie  sind  nach  nordischem  Ausdruck  eigi  einhamir,  nicht  eingestaltig,  und 
fähig  at  skipta  hömum,  die  Gestalten  zu  tauschen,  at  hamask,  die  Hülle 
zu  wechseln  usw.3).  So  sitzt  der  Jarl  Fränmar4)  in  Adlergestalt  verwandelt 
auf  einem  Haus,  um  die  Frauen  durch  Zaubermacht  zu  schützen. 

Der  viel  umstrittene  B  i  1  w  i  s 5)  kann  ebenfalls  ein  Zaubermensch  sein, 
ein  »männliches  Gegenstück  der  Hexe«.  Er  reitet  zu  gegebenen  Zeiten, 
namentlich  in  der  Nacht  vor  Walpurgis  oder  (wie  die  Hexen)  vor  Johannis- 
abend  auf  einem  Bock  durch  die  Saat,  die  er  mit  einer  Sichel  am  Fuß 
zerschneidet.  Das  Dämonische  besteht  in  der  Unfaßbarkeit  und  dem  selt- 
samen Reittier.  —  Schutzmittel:  Knabenkleider  am  »Pilbisbaum«  aufhängen6), 
was  wohl  eine  Art  Vogelscheuche  vorstellt7).  — 

Hexen8).  Althochdeutsch  hagasussa,  mittelniederländisch  haghe- 
tisse  (zu  hag  Wald)9)  bedeutet  ursprünglich  »Gauklerin«10).  Daneben 
kommt  von  anderen  Terminis  besonders  unholda,  »Feindin«,  in  Betracht11); 
altnordisch  tünridur,  althochdeutsch  sunriten,  Zaunreiterinnen,  weil  sie 
auf  dem  Pfahl  reiten ;   lateinisch  zumeist  striga. 


x)  Aus  anderen  Mythologien  sind  am  ersten ^die  Mänaden  (Preller  1,  694)  in 
ihren  orgiastischen  Exzessen  vergleichbar:  sie  zerreißen  lebende  Tiere,  überfallen 
auch  Menschen.  Doch  sind  diese  Erregungen  an  bestimmte  Feste  gebunden 
(Schwally,  Semitische  Kriegsaltertümer,  Leipzig  1901,  1,  101  vergleicht  Simson, 
auch  Tydeus  und  Polyneikes.  —  Die  pathologischen  Wutanfälle  irischer  Helden 
und  ihrer  nordischen  Schüler  wie  Egill  (vgl.  Olrik,  Nordisches  Geistesleben, 
S.  81,  139)  stellen  einen  Berserkerzustand  dar,  der  aber  keine  allgemeine  Eigenart 
der  betreffenden  Persönlichkeiten  ausmacht. 

2)  Doch  vgl.  die  zitierte  Stelle  aus  dem  Härbardslied  und  Lex  salica,  Tit.  64 
(bei  Franck,  Geschichte  des  Wortes  Hexe  S.  16):  »si  stria  hominem  come- 
derit«,  dagegen  aber  Kap.  376  (ebd.  S.  17):  »quod  christianis  mentibus  nullatenus 
credendum  est,  nee  possibile  ut  mulier  hominem  vivum  intrinsecus  possit 
comedere.«    (Andere  Parallelstellene  ebd.) 

3)  Golther  S.  100. 

4)  zu  Helg.  Hjorv.  Str.  5. 

ö)  Siehe  o.  S.  111,  Meyer  S.  164,  Golther  S.  158,  Mogk  S.  273. 

6)  Meyer  a.  a.  O. 

7)  Eine  römische  Gottheit,  die  der  Saat  feindlich  ist:  Lua  Mater  (Wissowa 
S.  171). 

8)  Mogk  S.  274,  278,  Golther  S.  116,  Meyer  S.  133. 

9)  Nach  Kluge,  Etym.  Wb.,  S.  167. 

10)  Nach  Francks  (auch  inhaltlich  wichtiger)  Geschichte  des  Wortes  Hexe, 
Bonn  1900. 

X1)  Kauffmann,  PBB.  18,  151;  Franck  S.  14. 

9* 


132  Drittes  Kapitel. 

Die  christliche  Vorstellung  ist  von  der  heidnischen  zu  scheiden.  Aber 
Hexen  im  spezifischen  Sinne,  d.  h.  Menschen  mit  dem  Vermögen  zu 
hexen,  sind  schon  im  6.  Jahrhundert  bezeugt1).  —  Die  Hexe  der  alten 
Anschauung  ist  ein  Weib,  das  nach  eigenem  Willen  sich  den  weib- 
lichen Dämonen  (Unholden)  anschließt2),  mit  ihnen  den  Scharen  des 
wilden  Heeres  sich  zugesellt.  Aus  dieser  Gemeinschaft  kommen 
zunächst  ihre  bösen  Kräfte:  die  Hexen  machen  Wetter,  weil  sie  nun 
—  zeitweilig  —  zu  den  Wettergeistern  gehören ;  sie  verderben  die  Milch, 
weil  die  Gewittergeister  sie  gerinnen  machen;  sie  bringen  Krankheit,  wie 
die  Dämonen  den  » Hexenschuß «  verursachen.  Auch  die  Fähigkeit, 
sich  in  Nachttiere  (Katzen,  Kröten,  Eidechsen,  Eulen,  doch  auch 
Hunde  und  andere  Seelentiere)  zu  verwandeln3),  haben  sie  von  den 
Elementargeistern  (daher  isländisch  hamhleypa ,  die  in  anderer  Gestalt 
Laufende) 4). 

Erst  später  kommt  statt  der  Aufnahme  in  das  wilde  Heer  der  Pakt 
mit  dem  Teufel  und  das  widerlich  pervers-erotische  (»satanische«)  Element 
in  die  Hexen  Vorstellung. 

Die  Hexe  ist  wie  der  Alpreiter  vorbestimmt:  zusammengewachsene 
Brauen,  rote  Triefaugen,  watschelnder  Gang  sind  Indizien5).  Aber  dazu 
muß  sie  doch  eigenen  Willen  fügen,  muß  von  alten  Hexen  lernen  und 
sich  salben  lassen.  Die  Salbung  ist  eine  Parodie  der  feierlichen  Salbung 
von  Priestern,  Königen,  Sterbenden:  eine  »schwarze  Messe«.  —  Dann 
fährt  sie  in  die  Hexenkraft  und  kann  nun  (wie  die  Walküre)  durch  die 
Luft  reiten.  Dies  ist  an  die  Nacht  und  zumeist  noch  an  bestimmte  Nächte 
(Walpurgis)  gebunden.  Diese  Feste  sind  für  den  Massencharakter  der  Hexe 
besonders  charakteristisch;  sie  wählen  dazu  Berge,  die  ursprünglich  wohl 
vom  Wütenden  Heer  umtobte  Totenberge  sind  (Brocken  als  Blocksberg)6).  - 
Sonst  ist  die  Hexe  der  Mahrt  ganz  ähnlich 7). 

Wie  furchtbar  sich  der  Hexenglaube  entwickelt  hat8),  ist  weltbekannt. 
Für  die  mittelalterliche  Hexe  ist  dann  —  außer  den  teuflischen  Zere- 
monien —  bezeichnend,  daß  sie  durch  Zauber  sich  Dinge  dienstbar 
machen  kann:  sie  melken  Mich  aus  Brettern,  reiten  auf  Besen,  doch 
auch  (wie  die  Zwerge  und  der  Bilwis)  auf  Böcken.  Aber  nur  das  Reiten 
auf   Holzpfählen   ist    ursprünglich.     Doch    schon    das   isolierte   Auftreten 


J)  Franck  S.  18. 

2)  Vgl.  Golther  S.  656. 

3)  Mogk  S.  276,  Wuttke  S.  155,  173,  217. 

4)  Golther,  Mythus  u.  Rel.  d.  Germ.  S.  16. 

5)  Mogk  S.  277;  nach  späten  Zeugnissen. 

6)  Vgl.  Mogk  S.  277 f. 

7)  Meyer  S.  133,  Golther  S.  117.. 

8)  Vgl.  z.  B.  Meyer  S.  30 f.,  63 f.;  J.  Hansen,  Zauberwahn,  Inquisition 
und  Hexenprozesse,  Bonn  1901. 


§  14.    Zaubermenschen.  133 

der  christlichen  Hexe  widerspricht  ihrem  ursprünglichen  Charakter.  — 
Schutz  vor  dem  Behexen  gewähren  Zauberrunen  *). 

Zauberer2).  Das  Wort  und  der  Begriff  sind  in  neuerer  Zeit  etwas 
mißbraucht  worden;  namentlich  der  um  die  Aufklärung  mexikanischer  Riten 
verdiente  G.  Th.  Preuß  neigt  dazu,  alle  ursprüngliche  Religion,  ja  fast  alle  ur- 
sprüngliche Tätigkeit  unter  die  Rubrik  »Zauberei«  zu  fassen,  und  W.  Wundt 
ist  ihm  darin  in  bedenklichem  Maße  gefolgt.  Ich  habe  meinen  Wider- 
spruch gegen  diese  mythologische  Mode3)  ausführlich  begründet  und  darf 
mich  hier  auf  die  Erklärung  beschränken,  daß  ich  Wort  und  Bedeutung  in 
dem  früher  üblichen  Umfang  gebrauche4).  Ich  verstehe  also  unter  Zauber 
die  Mittel,  Dinge  zu  vollbringen,  die  eigentlich  »über  unsere  Kraft« 
hinausgehen,  indem  man  sich  einen  Anteil  an  der  Kraft  höherer  Mächte 
verschafft. 

Hierbei  sind  zu  scheiden :  allgemein  zugängliche  und  nur  einzelnen 
zugängliche  Zaubermittel.  Wer  die  ersteren  besitzt,  steht  zeitweilig,  wer 
die  letzteren  besitzt,  dauernd  den  »Dämonen«  nahe;  die  Besitzer  der 
reservierten  Zaubermittel,  die  Zauberer,  sind  (wie  die  Hexen)  menschliche 
Dämonen. 

1 .  Unter  den  allgemein  zugänglichen  Zaubermitteln  sind  zunächst  die 
Runen  zu  nennen.  Sie  sind  jederzeit  verwendbar.  »Der  Besitz  der  Rune 
gibt  eine  ganz  begrenzte,  auf  einen  bestimmten  Zweck  eingeschränkte 
Wunderkraft« 5).  Die  Rune  als  das  Geheimnis  der  Dinge,  die  Seele  auch 
der  Gegenstände  gibt  dem,  der  sie  kennt,  Macht  über  das  Ding  oder 
die  Person.  Die  wichtigsten  Runen  dieser  Art  werden  aufgezählt  in  den 
rünatal 6). 

Die  Runen  stehen  unter  Odins  Schutz7),  sind  aber  jetzt,  nachdem  er 
sie  fand,  allgemein  zugänglich,  etwa  wie  das  Feuer  seit  Prometheus.     Sie 


x)  Vgl.  Golther  S.  119,  Häv.  Str.  154:  Einen  zehnten  (Spruch)  kenn'  ich, 
wenn  Zauberweiber  im  Fluge  durchfahren  die  Luft. 

2)  Vgl.  Gering,  Über  Weissagung  u.  Zauber,  Kiel  1902. 

3)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  9,  418;  10,  88  f. 

4)  Vgl.  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  31,  319. 

5)  a.  a.  O.  S.  317. 

6)  Häv.  Str.  145  f.  (Sprüche  gegen  Kummer,  Krankheit,  Gefahr  in  der  Schlacht, 
Brand,  Streit  an  der  Tafel  —  crebrae  .  .  .  rixae  raro  conviciis  saepius  caede  et  vulne- 
ribus  transiguntur,  Tac.  Germ.  c.  22  — ,  Seesturm,  Hexerei;  am  Ende  ein  paar 
positive  Sprüche  für  Zauber,  Patenschaft,  Erwerbung  von  Gunst),  Sgdm.  Str.  6  f. 
(ebenfalls  hauptsächlich  defensiv  gegen  Gift,  Seesturm,  Krankheit;  positiv  für 
Sieg,  Entbindung  schwangerer  Frauen,  Beredsamkeit)  und  Rig.  Str.  44  f.  (defensiv 
gegen  Waffen  und  Seesturm,  Feuer  und  Krankheit;  positiv  zum  Verständnis  der 
Vögel,  d.  h.  zur  Mantik);  vgl.  auch  Gripisspä  Str.  17.  (Allgemein  vgl.  meine 
Altgermanische  Poesie  S.  23  f.). 

7)  Golther  S.  340. 


134  Drittes  Kapitel. 

müssen,  wie  die  Hexenkunst,  erlernt  werden;  die  Hauptsache  ist  dabei 
ein  bestimmtes  Runenwort,  ohne  Zweifel  oft  identisch  mit  den  als 
Runennamen  verwandten  Worten  wie  altnordisch  fe,  Besitz,  Tyr  Name 
des  Kriegsgottes.  Der  Spruch  wird  dann  feierlich  »geraunt«1):  das  ist  ein 
Carmen,  ein  feierlich  vorgetragener  Zauberspruch.  (»Beschwören«  heißt 
ursprünglich  »besummen«.)2)  Vielleicht  unterschied  man  Runen  von  ver- 
gänglicher und  solche  von  dauernder  Kraft8). 

Die  Rune  als  Zauberspruch  besteht  aus  zwei  Teilen :  einem  allgemeinen 
und  einem  speziellen,  durch  dessen  Hinzufügung  der  Zauber  erst  »perfekt« 
wird.  Ausführlich  ist  das  in  dem  Eddagedicht  Skirnismäl4)  beschrieben: 
der  Götterbote  Skirnir  hat  einen  Zauberzweig,  den  er  mit  feierlicher  Redej 
weiht;  dabei  schnitzt  er  in  ihn  ein  Zeichen  ein,  das  sich  auf  die  zu  be 
zaubernde  Gerd  bezieht,  und  wendet  damit  den  Spruch  gegen  sie.  Er! 
kann  aber  den  Zauber  aufheben,  indem  er  die  auf  sie  bezügliche  notä 
wieder  wegschneidet5).  Das  eigentlich  Zauberkräftige  ist  dabei  die  Runej 
aber  eine  Verbindung  von  Wort  und  Tat  —  Spruch  und  symbolischer 
Gebärde  —  ist  allem  Zauber  unentbehrlich.  —  Oder  der  Skalde  Egilj 
Skallagrimsson  errichtet  gegen  den  König  Eirik  eine  »Neidstange«  undj 
spricht  dazu  Zauberworte,  die  den  König  aus  seinem  Reich  treiben6):! 
auch  hier  sind  die  Worte,  und  unter  ihnen  wieder  die  Rune  mit  der  An-| 
wendung  auf  Eirik,  die  Hauptsache,  die  Neidstange  ist  nur  das  Werk-I 
zeug  der  Obermittelung.  Oder  Thorleif  will  sich  an  dem  Jarl  Häkon 
rächen:  »er  kommt  verkleidet  in  seine  Halle  und  trägt  ein  Gedicht  vor,  das 
,das  Nebellied'  genannt  wird.  Infolgedessen  wird  es  in  der  Halle  dunkel, 
die  Waffen  rühren  sich  und  töten  viele  Leute,  der  Jarl  wird  krank;  Bari* 
und  Haupthaar  fallen  aus.«  Man  braucht  das  gewiß  nicht  mit  Alexander 
Bugge7)  auf  irischen  Einfluß  zu  schieben:  es  ist  runischer  Wetterzauberj 
So  macht  Thorgerd  Hölgabrud8)  Hagel  —  und  eine  Rune  heißt  »Hagel« 
so  ist  der  Gebetzauber  für  Regen  besonders  altertümlich9).  Und  die 
ägyptischen  und  hebräischen  Zauberer  vor  Pharao  10)  werden  es  nicht  anden 
gemacht  haben,  wenn  auch  nur  der  Stab  erwähnt  wird  und  weder  dei 
Spruch  noch  die  symbolische  Handlung.  Dergleichen  ist  universaler  Aber 
glaube,  weder  bei  den  Germanen  spezifisch  noch  bei  den  Iren. 


*)  Vgl.  Golther  S.  629;  zu  griechisch  igefw. 

2)  Kögel,  Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  81. 

8)  Vgl.  Rig.  Str.  44  (anders  Heinzel-Detterz.  d.  St.). 

*)  Gering  Edda  S.  52f. 

5)  Str.  37. 

6)  Vgl.  Olrik,  Altnordisches  Leben,  S.  136;  Golther  S.  642. 

7)  Zs.  f.  d.  Alt.  51,  33. 

8)  Golther  S.  485. 

9)  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  439f. 
10)  2.  Mos.  Kap.  7. 


§  14.    Zaubermenschen.  135 

Nur  eine  Abart  des  Runenzaubers J)  ist  der  Namenzauber2). 
Der  Namen  ist  die  individuelle  Rune  einer  Person,  er  drückt  ihr  Wesen 
aus,  was  durch  die  ausnahmslos  bedeutungsvollen  Eigennamen  erleichtert 
wird.  Jeder  Eigenname  ist  ein  Wunsch:  der  Sohn  soll  ein  Held  im 
Kampf  sein ,  die  Tochter  Friedens-  und  Zauberkraft  besitzen ;  erst  recht 
gilt  das  von  denen  der  Götter:  einer  soll  der  »gnädige  Herr«,  eine  andere 
»die  Spenderin  der  Fülle«  sein.  Hier  kann  also  z.  B.  der  Segen  oder 
die  Verwünschung  leicht  anknüpfen.  —  Vielleicht  hängt  auch  die  Rune 
der  Namengebung 3)  hiermit  zusammen4). 

Die  Rune  läßt  sich  verschenken  und  rauben5).  Ohne  ihren  Besitz 
sind  in  bestimmten  Fällen  selbst  die  Götter  ohnmächtig;  so  versteht  nach 
dem  Merseburger  Zauberspruch  nur  Wodan  das  Roß  zu  heilen,  weil  nur 
er  die  richtigen  Worte  besitzt. 

Schutz  vor  Runenzauber  verleiht  allgemein  die  Benennung  mit  -run 
(oder  soll  sie  Runenkraft  verleihen?).  Sie  wird  nur  bei  Mädchen  an- 
gewandt, da  nur  die  Frau  sanctutn  quoddam  et  providum  aliquid 
besitzt6):  die  Tochter  Sigrun,  Hildrun,  Ortrun,  Friderun,  Runhild  schützt 
dann  wohl  das  ganze  Heim7).  Spezieller  wirken  Gegenrunen,  wie  wir 
solche  gegen  Hexerei8)  treffen9);  daher  können  je  nach  der  Art  der  An- 
wendung Runen  schaden  oder  helfen 10). 

Der  Runenzauber  bedarf  aber  der  Verbindung  einer  Handlung  mit 
einem  Spruch l *).  Dieser  kann  gesteigert  werden  zu  dem  Zauberlied12). 
Das  Wort,  feierlich  gesprochen,  macht  erst  das  Zeichen  lebendig,  fügt  das 
»Wort«  zum  »Werke«  18).  Aber  das  Zauberlied  unterscheidet  sich  von  dem 
Runenspruch  dadurch,   daß  der  Art  des  Vortrags,   der  Melodie  mit  ihrer 


')  Vgl.  Brand  1,  Altengl.  Lit.  S.  1129  allgemein. 

2)  Nyrop  Navnets  magt,  Mindre  afhandl.  udg.  af  det  phil.-hist.  samf.,  Kopen- 
hagen 1887,  S.  118 f.;  vgl.  Kahle,  Anz.  f.  d.  Alt.  29,  300. 

3)  Häv.  Str.  157. 

4)  Der  Namenzauber  ist  überall  verbreitet,  sehr  stark  z.  B.  bei  den  Hebräern : 
Zauber  mit  dem  wundertätigen  Namen  Gottes  (auf  einen  Zettel  geschrieben  und 
in  die  Gehirnschale  gelegt,  stattet  er  einen  Menschen  aus  Lehm  mit  dem  Schein 
des  Lebens  aus:  »Golem«);  Namenstausch,  um  den  Todesengel  zu  täuschen  usw. 

5)  Meine  Altgermanische  Poesie  S.  48. 

6)  Tac.  Germ.  Kap.  8. 

7)  Vgl.  Golther  S.  643. 

8)  Häv.  Str.  154. 

9)  Vgl.  Golther  S.  642. 
10)  Ebenda. 

n)  Vgl.  Brandl,  Altengl.  Lit.,  S.  955 f. 
12)  Vgl.  Golther  S.  644,  Mogk  S.  404. 

18)  Häv.  Str.  141,  also  nicht  mit  Meyer  S.  379  aus  Ev.  Joh.  1,  1—3  abzu- 
leiten.   Vgl.  Müllenhoff  und  Liliencron,  Zur  Runenlehre. 


136  Drittes  Kapitel. 

symbolischen  Auf-  und  Abbewegung  eine  selbständige  zaubermäßige  Be- 
deutung zugeschrieben  wird.  Es  ist  also  hier  die  »Handlung«,  das  »Werk« 
in  den  Vortrag  des  Wortes  selbst  hineingetragen.  —  Hierfür  haben  wir 
feste  Termini:  galdr,  angelsächsisch  gealder,  althochdeutsch  galster, 
scheint  mehr  das  gesungene,  althochdeutsch  spell,  altnordisch  spjall1) 
das  rezitierte  Zauberlied  zu  bedeuten2).  —  Wenn  finnisch  runo  »Zauber- 
lied« heißt3),  so  setzt  dies  wohl  eine  mittlere  Form  voraus. 

Statt  mit  der  Rune  (die  die  Seele  des  Dinges  selbst  gibt),   kann  der 
Spruch  oder  Gesang  mit  einer  symbolischen  Handlung  verbunden  werden, 
die  die  gewünschte  Besitzergreifung  u.  dgl.  darstellt.     Dies  ist  dann  der 
eigentliche  Zauberspruch,   bei   dem  nicht  mehr  das  eine  Zauberwort,! 
auch  nicht  mehr  der  zauberkräftige  Vortrag,  sondern  die  symbolische,  von 
den  Worten   nur  verdeutlichte  Handlung  den  Hauptteil  des  Zaubers  aus- 
macht4).   Der  Zauberspruch,   die  häufigste  Form   des  Redezaubers,   kann 
die  Rune  entbehren,  weil  er  sie  durch  eine  symbolische  Handlung  ersetzt. 
In  Skirn.5)  werden  die  Runenzeichen  »Wollust,  Wahnsinn,  Wut«  eingekerbt] 
und  gesprochen :    das  ist  Runenzauber.     Statt  dessen  wäre  nun  eine  sym- 
bolische Handlung  denkbar,  die  durch  Gebärden  die  Wollust,  den  Wahn- 
sinn, die  Wut  darstellte  und  dies  durch  die  begleitenden  Worte  wiederum 
verdeutlichte:   das   wäre  dann  Spruchzauber.     Einer   der  ältesten  Zauber- 1 
Sprüche  lautet  z.  B.:  »Bein  fügt  sich  zu  Beine,  als  wenn  sie  geleimt  wären.« 
Dabei   fügt  der  Arzt   die  auseinander  gerissenen  Glieder   in   die  richtige 
Ordnung.     Für   unsere  Anschauung    ist  das   die   Hauptsache;   aber   der 
Primitive  denkt  nicht,  daß  eine  Störung  der  Ordnung  ohne  göttliche  Hilfe 
geheilt  werden  kann.     Er  tut  also  das  nur  scheinbar,   was  die  Heilgötter j 
in  Wirklichkeit  tun  sollen,   und  verdeutlicht  dies  durch  die  Worte,  deren  \ 
genau    berechnete   Anordnung  wieder  seine    Handlung   nachbildet.     Ich  | 
wenigstens  vermag  den  »sympathischen  Zauber«,   der  eine  so  ungeheure; 
Ausdehnung  —  auch  noch  im  heutigen  Aberglauben 6)  —  in  allem  Zauber- 
wesen  hat,   nur  so  zu  verstehen:   es   wird   den  Mächten,   die  allein  das 
Gewünschte  leisten  können,   vorgemacht,   was  sie   tun  sollen.     Ein  Bild 
des  Verhaßten   wird  durchbohrt   —    damit   sie    ihn    selbst   durchbohren. 
Später  freilich  geht  dies  Zwischenglied  verloren  und  man  meint  mit  dem 
Abbild  den  Gegenstand  selbst  zu  treffen7). 


1)  Edw.  Schröder,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  37,  241  f. 

2)  Ein  solches  in  der  Herraudsaga,  vgl.  M'pgk  S.  405. 

3)  Comparetti,  Kalewala,  Halle  1892,  S.  240 f. 

4)  Allgemeines  über  »Sympathetic  Magic«  z.  B.  Fräser  1,  8f. 
B)  Str.  37. 

6)  Wuttke  S.  185 f. 

7)  Solche  Zaubersprüche  besitzen  wir  schon  aus  indogermanischer  Zeit,  viel- 
leicht gar  aus  noch  früherer,  denn  sie  begegnen  zum  Teil  auch  schon  bei  den 


§  14.    Zaubermenschen.  137 

Hauptzweck  ist  das  Heilen  (d.  h.  das  Rückgängigmachen  dämonischer 
Verletzungen)  und  das  Schützen  (d.  h.  ihre  Verhinderung).  Die  typische 
Form  ist  die,  daß  ein  epischer  Bericht  vorangeht,  der  von  früherer  glück- 
licher Anwendung  der  Formel  erzählt  und  dadurch  den  vergangenen 
Moment  erneuert:  hierdurch  wird  der  damals  tätige  Gott  gleichsam  herbei- 
gezaubert, und  nun  folgt  in  seiner  Gegenwart  die  Vornahme  der  sym- 
bolischen Handlung  unter  Begleitung  der  symbolischen  Worte l).  Der  epische 
Bericht  dient  also  ursprünglich  nicht  bloß  zur  Beglaubigung,  sondern  un- 
mittelbar zur  Übertragung  der  göttlichen  Wunderkraft  auf  den  Sprecher, 
der  sich  als  Stellvertreter  des  Gottes  gibt. 

Der  Zauberspruch  setzt  unmittelbare  Anwendung  voraus;  daher  die 
Praepositionen  bei  den  betreffenden  Worten :  In&huv  incantare  bigalan 2). 
Er  wird  durch  seine  Nominalform  als  Werkzeug  bezeichnet:  Carmen  hat 
das  Suffix  für  selbsttätige  Werkzeuge  (wie  z.  B.  die  den  Teig  in  die  Höhe 
treibende  »Bärme«).  —  Man  muß  sehr  genau  sein:  nur  wer  den  Spruch 
uola  conda ,  genau  gelernt  hatte,  konnte  ihn  heilkräftig  anwenden. 
Während  Rune  und  Zauberlied  gern  auch  schlimmen  Zwecken  dienen, 
wird  der  Zauberspruch  wenigstens  vorzugsweise  zur  »weißen  Magie«  ge- 
braucht. 

Wird  endlich  die  symbolische  Handlung  zur  Hauptsache,  der  be- 
gleitende Text  zur  Nebensache,  so  entsteht  die  Zauberhandlung  oder 
das,  was  man  im  engeren  Sinne  »Zauber«  nennt. 

Vorzugsweise  ist  das  allerdings  den  eigentlichen  Zauberern  reserviert; 
doch  kann  viel  davon  auch  der  Laie  erlernen  und  nachahmen.  Übrigens 
sind  auch  hier  die  Grenzen  flüssig.  Bei  Egil  ist  offensichtlich  der  Spruch 
noch  die  Hauptsache;  später  kann  das  Setzen  der  Schimpfstange  (nidstöng) 
dafür  gehalten  werden.  —  Nun  gibt  es  auch  Fälle,  wo  die  Wirkung 
durch  einen  weiten  Zeitraum  von  der  Handlung  getrennt  ist.  Es  wird 
z.  B.  in  der  »Judenbuche«  von  Annette  v.  Droste  erzählt,  wie  in  einen 
Baum  eine  Verfluchung  gegen  einen  Mörder  eingeschnitten  wird:  »Wenn 
du  dich  diesem  Orte  nahest,   so  wird  es  dir  ergehen,   wie  du  mir  getan 


Assyrern  (vgl.  Goedeke,  Grundriß  z.  Gesch.  d.  d.  Lit.  §  10,  2;  Kuhn,  Ztschr. 
f.  vergl.  Sprachforschung  13,  49 f.,  113 f.;  Scherer,  Gesch.  d.  d.  Lit.  S.  15;  auch 
Kaegi,  Der  Rigveda,  Leipzig  1881,  Anm.  12,  Anm.  105  und  allgemein  Anm.  82, 
Anm.  95).  —  Ein  solcher  Spruch  auch  Adams  Gruß  an  Eva  1.  Mos.  2,  23:  »Bein 
von  meinem  Bein,  Fleisch  von  meinem  Fleisch.« 

J)  Treffliches  Beispiel  der  erste  Merseburger  Spruch,  Müllenhoff  und 
Scherer,  Denkmäler  IV,  1.  Beispiele  der  symbolischen  Handlung:  Fortwerfen  des 
Pfeils,  damit  der  Dämon  den  unsichtbaren  Pfeil  beseitigt,  den  die  Hexe  in  den 
Körper  geschossen  hat ;  oder  Loslösung  eines  Bandes,  damit  die  Walküren  einen 
gefesselten  Freund  befreien  u.  dgl.  m. 

2)  Golther  S.  628. 


138  Drittes  Kapitel. 

hast«1).  Dies  ist  kein  Runenzauber:  es  enthält  kein  Zauberwort;  kein 
Lied  oder  Spruch  trägt  den  Zauber,  sondern  die  Handlung  der  Einkerbens 
selbst.  Sobald  der  Mörder  dem  Baum  naht,  wird  dieser  sprechen  und 
rächen.  Das  ist  also  reiner  Zauber:  der  Baum  wird  mit  der  Kraft  des 
Rachegottes  ausgestattet.  — 

Jedem  zugänglich,  aber  nur  in  erhöhten  Momenten2)  sind  ferner, 
solche  Zauberkünste,  die  schon  für  die  Vorbereitung  (nicht  bloß  für  die 
Vollendung)  göttlicher  oder  dämonischer  Unterstützung  bedürfen.  Sie 
haben  statt  an  absolut  bestimmten  Zeiten:  viele  Zaubergebräuche  haften 
an  gewissen  Nächten  (seltener  Tagen),  Konstellationen  usw.,  weil  die 
Dämonen  besonders  in  den  Zwölfnächten  zugegen  sind  oder  zu  be- 
stimmten Fristen  vorzugsweise  gnädig  scheinen3);  oder  an  relativ  be- 
stimmten Zeiten,  die  wir  schon  aufgeführt  haben  und  die  die  Ekstase 
begünstigen;  sie  haben  die  Kraft  von  Segen  und  Fluch,  ja  machen  diese 
erst  zauberkräftig4). 

Hauptfälle  der  unter  solchen  Umständen  allgemein  zugänglichen 
Zauberformen  sind  erstens  Segen  und  Fluch,  zweitens  Weissagung.  Doch 
geht  die  letztere  allmählich  fast  vollständig,  die  erstere  in  bestimmten 
Fällen  an  die  Priester  über. 

Segen  und  Fluch  sind  von  den  übrigen  »Zaubersprüchen«  da- 
durch unterschieden,  daß  sie  nicht  etwas  Einzelnes  bezwecken,  sondern 
ganz  allgemein  jemanden  der  Gunst  oder  dem  Zorn  der  Götter  an- 
empfehlen. Oder  vielmehr:  für  unsere  heutige  Empfindung  handelt  es 
sich  nur  um  eine  Empfehlung  —  für  die  primitive  Anschauung  um  einen 

I 

Zwang:  der  Gott  muß  erfüllen,  was  man  in  der  richtigen  Form  er- 
beten hat5). 


*)  Vgl.  das  Motiv  der  Kraniche  des  Ibykus:  der  Täter  wird  —  geistig  oder 
wirklich  —  an  den  Tatort  gezwungen  und  dort  gleichsam  in  flagranti  bestraft. 

2)  Vgl.  o.  S.  78. 

3)  Vgl.  Wuttke  S.  56 f.:  »Die  zauberischen  Zeiten«.  —  Das  Gleiche  gilt  von 
den  »zauberischen  Orten«,  vgl.  ebd.  S.  89:  Kreuzwege  §  108;  Schwelle,  Herd  usw. 

4)  Vgl.  Golther  S.  628f. 

B)  Den  stärksten  Ausdruck  findet  diese  Vorstellung  von  der  zwingenden 
Macht  des  Gebets  bei  den  Indern:  die  Götter  zittern  vor  der  Gebetskraft  eines 
Frommen;  ja  die  Kraft  der  Andacht  wird  sogar  in  einem  eigenen  Gott,  Brhaspati 
(vgl.  Macdonell,  S.  104)  verkörpert.  Ebenso  bei  den  buddhistischen  Chinesen: 
»Wünsche,  vorausgesetzt,  daß  sie  ehrlich  gemeint  sind,  haben  wirkende  Kraft« 
(de  Groot,  Kultur  der  Gegenwart,  a.  a.  O.  S.  189).  —  Aber  es  ist  bekannt,  daß 
noch  z.  B.  Martin  Luther  die  gleiche  Anschauung  hegte.  Als  er  1540  für  den 
kranken  Melanchthon  betete:  »mußte  unser  Herrgott  herhalten,  denn  ich  warf 
ihm  den  Sack  vor  die  Tür  und  rieb  ihm  die  Ohren  mit  allen  Verheißungen  des 
Gebets,  die  ich  aus  der  heiligen  Schrift  zu  erzählen  wußte,  so  daß  er  mich  an- 
hören mußte,  wenn  ich  anders  seinen  Verheißungen  trauen  sollte«.    (Vgl.  z.  B. 


§  14.    Zaubermenschen.  139 

Segen  und  Fluch  sind  Zauberhandlungen,  insofern  ihre  Wirkung  auf 
höhere  Wesen  als  sicher  angenommen  wird ;  im  übrigen  tritt  das  Zauber- 
mäßige in  ihnen  so  stark  zurück,  daß  sie  in  abgeschwächter  Form  in  der 
Religion  der  Gegenwart  fortdauern.  Freilich  eben  heute  nur  noch  als 
Anrufungen  der  Himmlischen,  während  in  der  ältesten  Zeit  auch  hier 
erstens  eine  das  Wort  stützende  symbolische  Handlung,  zweitens  eine  be- 
stimmte symbolische  Wortfolge  oder  die  Anwendung  eines  bestimmten 
»starken«  Wortes  erforderlich  sind1). 

In  dieser  Gefahr,  durch  einen  unvorsichtigen  Ausdruck  Gutes  in 
Böses  zu  verwandeln,  liegt  wohl  auch  eine  der  verbreitetsten  und  hart- 
näckigsten Formen  des  Aberglaubens  begründet:  die  Vorstellung  vom 
»Berufen«2).  Indem  man  den  einen  Gott  zu  unbedingt  lobt,  verletzt 
man  andere  (Motiv  der  Hippolytos  -  Legende) ;  man  muß  deshalb  jedem 
lobenden  Wort  eine  Verwahrung  beifügen3).  Die  rationalistische  Vor- 
stellung vom  Neid  der  Götter  (Herodot)  bringt  gewiß  erst  eine  jüngere 
Spekulation ;  ursprünglich  zürnten  Apollon  und  Artemis  den  Niobiden 
schwerlich,  weil  Niobe  sich  der  Leto  gegenüber  überhoben  hatte,  sondern 
weil  sie  sich  ohne  Verwahrung  gerühmt  hatte4). 


G.  Freytag,  Bilder  aus  der  Vergangenheit,  Werke  19,  131).  Im  Grunde  hegt 
wohl  jeder,  dessen  Gebet  unerfüllt  bleibt,  die  heimliche  Vorstellung,  er  habe 
nicht  richtig  gebetet  (vgl.  auch  James,  Religious  experience,  S.  466 f.;  über  die 
Wichtigkeit  des  richtigen  Betens  de  Maistre,  Soirees  de  St.  Pe'tersbourg,  N.  VI). 

x)  Symbolische  Handlung:  Fast  überall  wird  eine  bestimmte  Haltung  beim 
Gebet  vorgeschrieben;  dazu  kommen  bestimmte  Riten  für  jede  Anrufung,  z.  B. 
bei  den  Ägyptern  (Erman,  Ägyptische  Religion,  S.  156),  bei  den  Indern  (H  ille- 
brandt  S.  171  f.),  den  Römern  (Wissowa,  S.  332,  6).  Die  unmittelbare  Zauber- 
gewalt der  symbolischen  Handlung  beim  Segen  ausdrücklich  bezeugt  2.  Mose  17,  11 : 
»Und  dieweil  Mose  seine  Hand  empor  hielt,  siegte  Israel;  wenn  er  aber  seine 
Hand  niederließ,  siegte  Amalek.«  —  Das  starke  Wort:  beim  germanischen  Segen 
scheint  das  Wort  »heih  Kernwort  zu  sein  (meine  Altgermanische  Poesie  S.  384). 
Sonst  ist  die  Reihenfolge  die  Hauptsache;  so  bei  den  lateinischen  indigitamenta 
(Wissowa  S.  333).  »Das  Wort  kann  in  feierlicher  Fassung  zu  Fluch  oder  Segen 
werden«  (Hillebrandt  S.  169):  ein  berühmtes  Beispiel  für  die  Wandlung  der 
Fluch  —  Segen  Bileams  (4.  Mose,  Kap.  23),  den  freilich  der  biblische  Geschichts- 
bericht rationalisierend  in  eine  Änderung  des  gewünschten  Textes  verwandelt, 
während  ursprünglich  die  Verfluchung  wohl  gegen  den  Willen  Sprechenden  durch 
die  Art  des  Vortrags  zum  Segen  wurde. 

2)  Vgl.  Wuttke,  Register  s.  v. 

3)  Wuttke,  S.  282. 

4)  Die  alte  Vorstellung  Häv.  Str.  144:  »Im  Unmaß  opfern  ist  ärger  als  gar 
nicht  beten,  Gabe  schielt  stets  nach  Entgelt«.  Übrigens  ist  diese  Vorstellung  so 
fest  in  der  menschlichen  Ängstlichkeit  begründet,  daß  noch  eben  Otto  Ludwigs 
Tochter  ihr  auf  Grund  ihrer  Verbreitung  einen  transzendenten  Wert  zuerkannt 
wissen  wollte  (>quod  semper,  qnod  ubique,  quod  ab  omnibus  .  .  .«):  Ludwig 
Eccard,  Erlebte  Gedanken,  Dresden  1909  Pierson,  S.  15. 


I4Q  Drittes  Kapitel. 

Beispiele  von  Segen  und  Fluch  sind  in  der  altgermanischen  Literatur 
mehrfach  und  zum  Teil  sehr  ausführlich  erhalten  x).  Hauptfälle  der  wirk- 
samen Anwendung  sind:  zunächst  privater  Anwendung  in  Verfluchung 
oder  Segenserteilung  durch  den  Geschädigten  oder  seine  Gönner;  entweder 
bei  besonderer  Gelegenheit  (Segen  beim  Abschied)  oder,  in  der  Regel,  bei 
bestimmendem  Anlaß  und  unter  dessen  unmittelbarer  Wirkung  (so  die 
feierliche  Verfluchung  Hedins)2)  —  im  Typus  mit  dem  großen  Kirchen- 
bann noch  heute  übereinstimmend3). 

Ist  zu  Fluch  und  Segen  so  jeder  berechtigt  (und  daher  auch  fähig), 
so  bildet  sich  allmählich  doch  die  Anschauung  heraus,  daß  bestimmte 
Persönlichkeiten  hierzu  besondere  Kraft  besitzen4).  Sobald  ein  Priester- 
stand entsteht,  kann  der  Priester  auch  für  den  einzelnen  diese  Akte  über- 
nehmen 5).  Endlich  wird  der  Priester,  als  zeitweiliger  Vertreter  der  Götter, 
offiziell  damit  betraut,  Segen  über  die  eigene,  Fluch  über  die  feind- 
liche Volksgemeinde  zu  sprechen6). 

Ich  behandle  Segen  und  Fluch  an  dieser  Stelle,  weil  sie  mir  dem 
Zauber  näher  zu  stehen  scheinen  als  dem  Kultus;  eine  Zwischenstellung 
ist  nicht  abzuleugnen.  Aber  während  Kulthandlungen  wirklich  nur  eine  An- 
rufung des  Gottes  bedeuten,  wird  hier,  wie  bei  anderen  Zauberhandlungen, 
das  unmittelbare  Erzwingen  der  Wirkung  vorausgesetzt.  Wie  beim  Zauber, 
gibt  es  auch  hier  besonders  geeignete  Persönlichkeiten,  symbolische  Hand- 
lungen ,  endlich  die  charakteristische  Dämonisierung  der  Dinge. 
Wie  wir  sahen,  daß  es  für  die  Hexen  charakteristisch  ist,  daß  sie  unbelebte 
Gegenstände  in  Dienst  nehmen,  so  fordert  Sigrun7),  daß  den  Hedin  die 
Eide,  die  er  brach,  beißen  sollen,  und  daß  das  nicht  Metapher  ist,  zeigen 
Analogien  wie  5.  Mose  28,  45:  »Und  werden  alle  Flüche  über  dich 
kommen  und  dich  verfolgen  und  treffen,  bis  du  vertilget  werdest.«  Ebenso 
gehen  im  Weingartner  Reisesegen8)  von  jedem  segnenden  Finger  elf 
Engel  aus  9). 


1)  Meine  Altgermanische  Poesie,  S.  48  f. 

2)  Helg.  Hund.  Str.  29;  Gering,  Edda,  S.  178. 

3)  Analoge  Fälle  sind  in  der  Bibel  die  Verfluchung  Kains,  der  Segen  an 
Jakob,  die  Verfluchung  des  Feigenbaums.  —  Noch  Walther  v.  d.  Vogelweide  in 
seinem  Dank  an  Ludwig  (18,  15)  bewahrt  formelhafte  Wendungen  feierlicher 
Segenssprüche. 

4)  Klassisches  Beispiel  wieder  Bileam,  der  4.  Mose,  Kap.  22  zur  Verfluchung 
der  Israeliten  eingeladen  wird.  —  Vgl.  B.  Du  hm,  Die  Gottgeweihten,  Tübingen 
1905,  S.  8. 

5)  Vgl.  Meyer  S.  303.  6)  Meyer  S.  31—33;  58. 

7)  Helg.  Hund.  2,  29. 

8)  Müllenhoff  und  Scherer,  Denkmäler  IV,  8. 

9)  Die  Erinnyen,  vgl.  Preller  1,  835,  erscheinen  als  Verkörperungen  dieser 
verfolgenden  Flüche,  gerade  wie  die  Litai  (ebd.  534)  die  Gebete  verkörpern; 
ebenso   der  'Oqxos   selbst   (vgl.  R.  Hirzel,   Der  Eid,   Leipzig   1901);   und   das 


§  14.   Zaubermenschen.  141 

Dem  Fluch  und  Segen  sind  durch  ihren  Charakter  von  Anrufung 
und  Beschwörung  nach  verwandt  Eid  und  Gelübde1),  die  wir  aber  ihres 
feierlicheren  Charakters  wegen  bei  den  Kulthandlungen  besprechen.  — 

Auch  die  Weissagung  ist  ursprünglich  eine  an  relativ  bestimmte 
Zeiten  geknüpfte  Form  des  Zaubers  —  wenn  sie  auch  später  gleichfalls, 
nachdem  die  Priester  sich  ihrer  bemächtigt  hatten,  in  den  regelmäßigen 
Kultus  aufgenommen  wurde2).  Schon  Nietzsche  hat  mit  Recht  betont, 
daß  Prophezeien  nichts  anderes  ist  als  ein  Binden  und  Festlegen  der  Zu- 
kunft, und  daß  es  in  alten  Zeiten  auch  nicht  anders  aufgefaßt  wurde3). 
Die  Weissagung  ist  also  gewissermaßen  eine  in  die  Zukunft  verschobene 
Form   von  Segen  oder  Fluch. 

Die  ursprüngliche  Vorstellung  des  Weissagens  werden  wir  uns  ganz 
körperlich  vorstellen  müssen.  Der  Mensch  macht  die  Erfahrung,  daß  er 
etwas  Herannahendes  vorher  wahrnimmt,  z.  B.  aus  dem  Staub  auf  der 
Straße  heransprengende  Reiter;  oder  daß  von  einem  Wartturm  her  schon 
Dinge  gesehen  werden  können,  die  man  sonst  erst  später  entdecken  würde. 
Diese  Erfahrung  wird  gesteigert:  es  hat  jemand  so  scharfe  Augen,  daß 
er  die  Feinde  schon  sieht,  während  sie  eben  erst  aufbrechen  und  erst  in 
Tagen  oder  Wochen  mit  gewöhnlichen  Augen  wahrgenommen  werden 
können;  dann  besitzt  er  eben  das  »zweite  Gesicht«,  die  Gabe  des  Voraus- 
sehens. Sie  gilt  unter  den  schottischen  und  westfälischen  Bauern  —  wo 
diese  Leute  Kieker  heißen  —  als  weit  verbreitet4).  Mit  Recht  wird  diese 
Gabe,  mit  der  Verborgenes  zu  erkennen  (z.  B.  versteckte  Schätze),  zu- 
sammengestellt 5). 

Zunächst  also  erscheint  das  Voraussehen  nur  als  eine  gesteigerte 
körperliche  Funktion  (und  das  Voraussagen  als  der  Bericht  darüber).  Nun 
soll  erstens  dies  Voraussehen  erzwungen  werden  und  zwar  auf  unerhörte 
Entfernungen  in  Raum  und  Zeit ;  dazu  ist  ein  Anteil  an  der  prophetischen 
Gabe  der  Dämonen  (besonders  der  Geister  des  fließenden  Wassers;  denn 
dies  versinnbildlicht  den  ununterbrochenen  Fluß  der  Dinge6)  erforderlich. 

häufige  Sagenmotiv,  daß  ein  böser  Fürst,  wie  Kambyses  oder  Geiröd  in  den 
Grimnismäl  in  sein  eigenes  Schwert  stürzt,  ist  vielleicht  nur  Umsetzung  einer 
Verfluchung  wie  Helg.  Hund.  2,  31  —  »nicht  schneide  das  Schwert,  das  du 
schwingst  im  Streite,  es  singe  denn,  Mörder!  dir  selber  ums  Haupt!«  —  in  epische 
Wirklichkeit  (vgl.  Saxo  über  Hading,  S.  30,  Hermann,  S.  37). 
x)  Vgl.  z.  B.  Vkv.  Str.  33. 

2)  H.  Gering,  Über  Weissagung  und  Zauber,  Kiel  1902. 

3)  »Die  fröhliche  Wissenschaft«,  S.  106 ;  vgl.  meine  Altgermanische  Poesie,  S.  50. 

4)  Vgl.  Wuttke,  S.  321  f.;  über  das  Wahrsagen  überhaupt  ebd.  S.  193 f. 

5)  Wuttke,  a.  a.  O. ;  »Fernsehen  im  Raum  und  Vorschauen  in  die  Zeit«, 
G  ö  r  r  e  s,  Christliche  Mystik  2, 129  f . ;  J  o  1  y,  Psychologie  des  Saints,  Paris  1902,  S.  77.  — 
Eine  prachtvolle  Veranschaulichung  des  sinnlichen  Voraussehens  in  C.  F.  Meyers 
Gedicht  »Der  Mönch  von  San  Bonifacio«;  im  Märchen:  Brüder  Grimm  1,  375. 

6)  Vgl.  Mogk,  S.  4001;  Meyer,  S.  306 f.,  327;  Golther,  S.  646 f. 


142  Drittes  Kapitel. 

Und  zweitens  soll  das  Erschaute  festgelegt  werden,  so  daß  auch  kein 
Gott  es  mehr  ändern  kann  —  und  deshalb  muß  auch  die  Verkündigung 
in  feierlicher  Weise  erfolgen. 

Man  ersieht  aus  dem  allen,  daß  die  Prophetie  ein  schwierigerer  und 
zaubermäßigerer  Akt  ist  als  Segen  und  Fluch.  Besonders  gern  überläßt 
man  sie  denn  auch  wirklich  den  Zauberern  J).  Auch  überwiegt  hier  die 
öffentliche,  sozusagen  staatliche  Anwendnng  von  allem  Anfang  an  be- 
deutend. —  Nötig  aber  ist  beides  nicht.  Es  gibt  auch  private  Befragung 
der  Zukunft,  und  sie  steht  jedem  offen,  freilich  nur  unter  bestimmten  Be- 
dingungen. Eine  völlige  Loslösung  von  aller  zeitlichen  Gebundenheit,  wie 
bei  der  Astrologie  des  16.  und  17.  Jahrhunderts,  ist  noch  nicht  denkbar. 

Die  private  Anwendung  ist  für  die  ältere  Zeit  nur  aus  dem  Volksglauben 
belegt2).  Aber  schon  früh  wird  man  aus  dem  Rauhreif  oder  der  Stern- 
zahl die  Ernte  prophezeit  haben,  und  gewiß  sehr  alt  ist  der  Nacktheits- 
zauber: vom  Kreuzweg3)  oder  in  der  Stube4)  sieht  man  in  bestimmten 
Nächten  die  Zukunft,  wenn  man  sich  völlig  entkleidet  und  bestimmte 
symbolische  Handlungen  vornimmt5).  Die  Bedeutung  der  Nacktheit  ist 
trotz  mancher  Versuche  nicht  völlig  aufgeklärt. 

Eine  Mittelstufe  zwischen  staatlicher  und  privater 
Prophetie  ist  das  Befragen  eines  offiziellen  Wahrsagers,  eines  Zauberers, 
bei  den  Skandinaviern  gern  eines  zauberkundigen  Finnen6). 

Bei  öffentlicher  Anwendung7)  befragt  der  Priester  für  das  Volk 
die  Götter  und  zwar  durch 

a)  die  Runen,  d.  h.  durch  ein  allgemein  zugängliches  Zaubermittel, 
zu  dessen  richtiger  Anwendung  und  Auslegung  man  aber  der  doppelten 
Weihe  der  Person  (Priester)  und  des  Moments  bedarf8). 

b)  Loosen  auf  Ja  oder  Nein  ?  auf  bestimmte  Personen 9). 

c)  Auspicia10),  d.  h.  Befragung  von  Dingen,  auf  deren  Gestaltung 
der  Mensch  gar  keinen  Einfluß  hat.  Diese  Form  der  Weissagung  beruht 
ursprünglich  wohl  auf  der  Geisterbeschwörung  "):  die  (selbst  wahrsagenden) 


*)  Vgl.  z.  B.  Meyer  S.  42  306  f. 
*)  Vgl.  Wuttke  S.  329f. 
3)  Meyer  S.  327,  vgl.  308. 
*)  Wuttke  S.  350. 

5)  Vgl.  Weinhold,  Znm  altgerm.  Ritus. 

6)  Golther  S.  306. 

7)  Mogk  S.  400. 

8)  Über  die  Form  der  Befragung  vgl.  Müllenhoff  und  Liliencron,  Zur 
Runenlehre;  meine  Altgermanische  Poesie,  S.  494 f.;  Mogk,  S.  401. 

9)  Mogk   S.   176;   vgl.  z.   B.   bei   den  Chinesen:   de   Groot,    Kultur   der 
Gegenwart  III  1,  176. 

°)  Tac.  Germ.,  Kap.  10:  auspicia  sortesque  ut  qui  maxime  observant. 
")  Vgl.  Golther  S.  65  Anm. 


§  14.   Zaubermenschen.  143 

Geister  werden  veranlaßt,  sich  zu  äußern.  Dies  tun  sie  aber  nur  in  feier- 
lichen Momenten,  nach  Anrufung,  die  z.  B.  in  der  Handlung  des  Opfers 
an  sich  liegt,  so  daß  die  Befragung  von  Opfertieren  (durch  Deutung  der 
Eingeweide:  haruspicm1)  möglich  ist.  Sie  geschieht  »nach  einem 
komplizierten  System  vielfach  sich  auch  kreuzender  Lehrsätze  und  Regeln« 
und  kann  als  die  frühest  ausgebildete  wissenschaftliche  Technik  bezeichnet 
werden. 

Bei  den  Germanen  scheinen  unter  den  vielerlei  möglichen  Arten  der 
auspicia  die  akustischen  über  die  optischen  überwogen  zu  haben.  Arten 
der  Auspicien  sind  gerichtet  auf: 

a)  das  Wiehern  heiliger  Rosse  (wie  bei  den  Persern):  wenn  sie 
schnauben  und  wiehern,  spricht  der  Gott  aus  ihnen 2), 

b)  den  Flug  der  Vögel,  wohl  besonders  der  heiligen  Raben  (sie  fliegen 
etwa  auf  die  Beute  zu3), 

c)  Richtung  und  Geräusch  des  Windes, 

d)  den  Klang  des  barditus*):  sunt  Ulis  haec  quoque  carmina 
quorum  relatu,  quem  barditum  vocant,  accendunt  animos  futuraeque 
pugnae  fortunam  ipso  cantu  angurantur  terrent  enim  trepidantve 
prout  sonuit  acies5).  Der  angerufene  Kriegsgott  spricht  aus  dem 
Widerhall 6), 

e)  die  Träume:   die  Seele   im   freien  Zustand  gewinnt  Geisteskraft7). 
Durchaus    aber  sind  all   diese  Weissagungen   an   den    »pathetischen 

Moment«  gebunden.  Er  kann  sich  von  selbst  einstellen,  durch  die  Er- 
regung vor  der  Schlacht,  die  Feststimmung,  den  nahenden  Tod;  oder  er 
wird  vorbereitet  durch  allerlei  Mittel  des  Rausches  usw.8). 


*)  Vgl.  Wissowa,  S.  470f. 

2)  Tac.  Germ.,  Kap.  10:  proprium  gentis  equorum  quoque  praesagid  ac 
monitus  experiri.  Solche  heiligen  Rosse  werden  in  Drontheim  für  Frey  gezüchtet. 
Mogk,  S.  402. 

3)  Vgl.  Tac:  avium  voces  volatusque  interrogare ;  Indic.  superstit.  13;  Zeitschr. 
f.  d.  Phil.  16,  186.  191.  —  Vögelsprache  Fäfnismäl  Str.  32  f.  und  im  Märchen.  — 
Meyer,  S.  306. 

4)  Tac.  Germ.,  Kap.  3. 

5)  Trotz  der  letzten  Auslegung  von  Brückner,  Festschrift  zur  Baseler 
Philologen- Versammlung  1907,  S.  65  f.,  bleibe  ich  bei  der  alten  Deutung  «Schild- 
gesang*; vgl.  Häv.  Str.  155:  »ich  raun'  in  die  Schilde«;  Rambaud,  Geschichte 
Rußlands,  Berlin  1887,  S.  44. 

6)  Psychologische  Grundlage  in  der  Stimmung  des  Heeres.  Der  blinde 
Harald  erkennt  die  Niederlage  aus  dem  traurigen  Gemurmel  der  Seinigen  (G ol  t  h  e  r, 
S.  331).  —  Zu  Thor  bringt  den  barditus  in  Beziehungen  Mogk,  Sammlung 
Göschen,  S.  61. 

7)  Golther,  S.  659. 

8)  Vgl.  o.  S.  78.  Über  Wahrsagerei  wie  über  Zauber  enthalten  alle  folklo- 
ristischen und  mythologischen  Werke  ein  unerschöpfliches  Material,  das  aber  doch 


144  Drittes  Kapitel. 

2.  Aber  neben  den  allgemein  zugänglichen  Zaubermitteln  gibt  es 
Zaubermittel,  die  nur  Einzelnen  zugänglich  sind.  Diese  Einzelnen  sind' 
Priester  oder  Zauberer. 

Die  Priester  sind  durch  ihr  Amt,  die  Zauberer  durch  persönliche 
Begabung  oder  Erwerbung  im  Besitz  übernatürlicher  Kräfte,  weil  sie  Anteil 
an  der  Macht  der  Götter  oder  Dämonen  empfangen  haben. 

Bei  dem  Priester  ruht  die  Kraft  in  der  ein  für  alle  Mal  vollzogenen 
Weihe;  sie  bezieht  sich  zunächst  nur  auf  einzelne  Funktionen,  greift  dann 
immer  weiter,  bis  schließlich  die  Lamas  leibhafte  Fetische  werden1).  — 
Der  Zauberer  empfängt  entweder  ebenfalls  die  Weihe,  nämlich  indem  er 
von  einem  anderen  eingeführt  wird  (»apostolische  Sukzession« :  dieser  kirch- 
lichen Lehre  liegt  noch  die  Vorstellung  von  der  Unersetzbarkeit  der  un- 
mittelbaren Übertragung  zugrunde),  oder  er  erwirbt  sie  selbst  (wie  sein 
Schutzgott  Odin 2).  Er  steht  in  der  Mitte  zwischen  bösen  Zaubermenschen 
(Werwolf,  Hexe)  und  Priestern  als  Vertretern  der  weißen  Magie:  er  kann 
seinen  Zauber  zum  Guten  und  zum  Bösen  verwenden. 

Die  Priester  also  beziehen  ihre  Zauberkraft  aus  dem  Kultus  und  sind 
deshalb  an  anderer  Stelle  zu  besprechen.  Der  Zauberer  aber  ist  eine 
Hauptfigur  der  niederen  Mythologie3). 

Über  die  ganze  Welt  ist  die  Vorstellung  verbreitet,  daß  gewisse  (meist 
männliche,  doch  gerade  im  germanischen  Norden  oft  auch  weibliche) 
Persönlichkeiten  durch  ihre  besonderen  Beziehungen  zu  den  Dämonen  auf 
diese  einen  (gewöhnlichen  Sterblichen  versagten)  Zwang  auszuüben  ver- 
mögen. Man  nennt  sie  »Medizinmänner«  (weil  sie  besonders  auch  zur 
Heilung  von  Krankheiten  berufen  werden),  Zauberer,  vor  allem  mit  einem 
von  sibirischen  Urvölkern  stammenden  Terminus  »Schamanen«4). 

Die  Vorstellung  hat  mancherlei  Wurzeln  in  Erfahrung  und  Psychologie: 
ekstatische,  auch  kranke  Personen  üben  auf  bestimmte  Kranke  einen 
»dämonischen«  Einfluß  aus5);  deshalb  stellt  der  altnordische  Ausdruck 
trolldom  für  Zauberei  den  (gefährlichen)  Zauberer  mit  den  Unholden 
auf  eine  Stufe6).     Dazu   kommen   zufällige  Erfolge,   vom  Eigennutz  aus- 


rast immer  nur  die  überall  gleichen  Hauptlinien  bestätigt.    Ich  verweise  hier  nur 
des  Beispiels  wegen  für  Vorzeichen  auf  Hillebrandt,  S.  183,  und  allgemein 
auf  H.  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur,  S.  590 f.  —  Zeus  wie  Odin  Schutzherr 
der  Mantik:  Prell  er  1,  142. 
*)  Vgl.  Frazer  1,  42f. 

2)  Häv.  Str.  138  f. 

3)  Allgemein  vgl.  Edv.  Lehmann,  Kultur  der  Gegenwart,  S.  10 f.  und  von 
der  dort  zitierten  Literatur  besonders  H.  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur» 
S.  595  f. 

4)  Vgl.  Edv.  Lehmann  a.  a.  O.  S.  15. 

5)  Björnson,  Über  unsere  Kraft. 

6)  Golther  S.  648. 


§  14.   Zaubermenschen.  145 

gebeutet1);  überraschende  Leistungen  fremder  Volksangehöriger  (wie  die 
Finnen) ;  und  das  überall  verbreitete  Bedürfnis  nach  Mittelspersonen  zwischen 
Himmel  und  Erde  tut  das  Letzte.  —  Wir  müssen  uns  das  Zauberwesen 
überall  sehr  ausgedehnt  vorstellen,  etwa  wie  das  Kirchenwesen  im  späteren 
Mittelalter  und  den  Ländern  der  Gegenreformation ;  freilich  auch  nicht  so 
alltäglich,  wie  Preuß  annimmt,  denn  der  Begriff  des  Zaubers  setzt  Un- 
gewöhnliches voraus. 

Germanische  Benennungen2)  beziehen  sich  besonders  auf  die  Weis- 
sagekunst: althochdeutsch  wisago ,  altnordisch  spämadr  und  späkona, 
forspär;  auch  das  Loswerfen  gehört  dazu:  althochdeutsch  hhozari  = 
lateinisch  sortilegus.  Vom  Zauberlied  ist  der  althochdeutsche  kalstarart 
benannt.  Unerklärt  ist  noch  altnordisch  völva,  Prophetin.  —  »Zauber«  3) 
scheint  ursprünglich  »Geheimschrift«  zu  bedeuten.  Dazu  altnordisch 
taufr,  Amulet4). 

Wie  erlangt  man  die  Zauberkraft?  Manches  ist  angeboren, 
»dem  Kind  in  die  Wiege  gelegt«5).  Meist  aber  wird  die  Kunst  erlernt: 
von  den  Schamanen  der  Lappen  und  Finnen 6),  von  älteren  Meistern ;  ent- 
weder durch  wirklichen  Unterricht  oder  durch  Belauschen  und  Nach- 
ahmen, was  aber  mit  Gefahren  verbunden  ist.  Die  Legende  weiß  auch 
von  gewaltsamem  Raub  der  Zauberkunst,  wofür  jedoch  altgermanisch  kein 
Beispiel  bekannt  ist.  Man  erlangt  sie  auch  durch  glücklichen  Zufall:  wer 
z.  B.   eine  Schlangenkrone  findet,  kann  zaubern7). 

Wirkung  der  Zauberkraft  ist  allgemein  die  Ausstattung  mit  über- 
menschlicher Kraft,  spezieller  die  Begabung  mit  der  Kraft  bestimmter 
Dämonen 8).  Sie  besteht  in  dauernder  Befähigung  zu  solchen  Dingen,  die 
sonst  nur  durch  Runen  oder  andere  Zaubermittel  ermöglicht  werden,  wie 
Heilung  von  Kranken  und  Behexen  von  "Gesunden,  Erregung  von  Sturm, 
Bannung  von  Waffen9),  Finden  verlorener  Dinge10).  Sie  besteht  ferner 
in  der  Kunst  Kunst  des  Wahrsagens  und  des  Gestalten  wechseis. 

Aber  auch  der  Zauberer  kann  nicht  aus  dem  Stegreif  zaubern.  Vor- 
bereitung  ist  nötig  und  zumeist  eine  recht  umständliche,   in  der  das  Be- 


x)  Humoristische    Schilderung     im    Märchen    von    »Doktor    Allwissend«, 
Br.  Grimm,  Kinder-  und  Hausmärchen  Nr.  98. 

2)  Golther  a.  a.  O. 

3)  Kluge  S.  414. 

4)  Vgl.  allgemein  Golther  S.  646f.;  Meyer  S.  309f.;  Mogk  S.  403f. 

5)  Vgl.  Golther  S.  642. 

6)  Meyer  S.  309. 

7)  Wuttke  S.  521. 

8)  Vgl.  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  31,  318. 

9)  Vgl.  meine  Altgermanische  Poesie,  S.  49 f. 

10)  Saxo  S.  218.  Herrmann  S.  289;  ebenso  besitzt  diese  Kunst  der  hl.  An- 
tonius von  Padua,  vgl.  Immermanns  Gedicht  (Werke,  her.  Boxberger,  11,94). 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  10 


I4ß  Drittes  Kapitel. 

dürfnis,  sich  selbst  zu  »montieren«,  und  die  Notwendigkeit,  dem  Publikum 
zu  imponieren,  zusammentreffen.  Man  nähert  sich  in  der  Erscheinung  den; 
dämonischen  Wesen  oder  sucht  wenigstens  die  menschliche  Erscheinung  j 
zu  verbergen;  man  wählt  feierliche  Orte  —  man  macht  den  Erfolg  von| 
bestimmten  Hilfsmitteln  ')  und  wieder  von  Wort  und  Handlung  ab- 
hängig. 

Was  die  Methode  des  Zaubers  betrifft,  so  wird  der  Zauberer 
in  der  Regel  erst  herbeigeholt,  gern  aus  einiger  Ferne;  der  Prophet  gilt 
nichts  im  Vaterlande.  Er  erscheint  in  einem  abenteuerlichen  Aufzug, 
in  dem  zu  der  Anähnlichung  an  die  Dämonen  gern  noch  eine  An- 
passung an  fremdes  Kostüm  tritt,  namentlich  an  das  zauberkundiger  Völker 
wie  der  Finnen 2).  Solches  Kostüm  wird  uns  genau  in  der  Eirikssage  be-j 
schrieben3): 

»Gegen  Ende  des  10.  Jahrhunderts  herrschte  in  Grönland  großer  Notstand, 
Hunger  und  Siechtum.     Infolge  starken  Unwetters  waren  Jagd   und   Fischerei 
wenig    ergiebig    gewesen.     Da   lebte    eine    weise   Frau   (spdkona)   mit   Namen 
Thorbjorg,  die  kleine  Völva  genannt.    Von  neun  Schwestern  war  sie  allein  amj 
Leben  geblieben.    Thorbjorg  pflegte  im  Winter  auf  Gastgebot  umherzufahren. 
Diejenigen,  welche  Unterweisung  über  ihr  Schicksal  und  über  das  bevorstehende 
Jahr  wünschten,  entboten   sie  zumeist  zu  sich.    Thorkel,  der  größte  Bauer  der 
grönländischen  Siedelung,  wollte  wissen,  wann  das  herrschende  Mißjahr  zu  Ende 
gehen   werde.    Da   lud   er  die  weise  Frau   zu  sich  ein  und  rüstete  ihr  guten 
Empfang,  wie  er  beim  Besuch  solcher  Frauen  üblich  war.    Ein  Kissen  mit  Hühner 
federn  gefüllt  wurde  auf  den  Hochsitz  gelegt,  als  sie  abends  mit  dem  ihr  entgegen- 
gesandten Mann  eintraf.    Sie  war  also   gekleidet:  sie  trug  einen  dunkelblauen 
Mantel,   der  am  Rand  von  oben  bis  unten  mit  Steinen  besetzt  war.    Um  den 
Hals  hatte  sie  Glasperlen.   Auf  dem  Kopfe  hatte  sie  eine  Mütze  von  schwarzem 
Lammsfell,  mit  weißem  Katzenpelz  gefüttert.    In  der  Hand  trug  sie  einen  Star, 
mit  einem  messingbeschlagenen,  steinverzierten  Knopfe.    Sie  hatte  einen  Gürtel 
um,  an  dem  ein  großer  Beutel  hing,  der  das  nötige  Zauberzeug  (taufr)  enthielt; 
An  den  Füßen  hatte  sie  Schuhe  aus  rauhem  Kalbsfell  mit  langen  und  starker 
Riemen,  an  deren  Enden  große  Messingknöpfe  saßen.   An  den  Händen  hatte  sie' 
Handschuhe  aus  Katzenpelz,  innen  weiß  und  zottig.    Sie  wurde  ehrerbietig  be 
grüßt  und  von  Thorkel  zum  Hochsitz  geleitet.   Er  bat  sie,  Herde,  Vieh  und  Haus 
in  Augenschein  zu  nehmen.    Sie  sprach  bei  allem  nur  wenig.    Abends  wurder 
Tische  aufgetragen.   Thorbjorg  bekam  Grütze  mit  Gaismilch  gekocht;  ihre  Speis( 
war  aus  den  Herzen  aller  Tiere,  die  es  an  Ort  und  Stelle  gab,  zubereitet.    Si( 
gebrauchte  einen  messingnen  Löffel  und  ein  ehernes  Messer  mit  einem  Heft  aus 
Wallroßzahn;  die  Spitze  war  abgebrochen.    Als  die  Tische  abgetragen  waren 
fragte  Thorkel,  wie  es  ihr  mit  dem  Haus  und  den  Leuten  schiene,  und  wann  si< 
Offenbarung  erhielte  über  das,  worüber  er  sie  getragt  hatte  und  was  das  Volk  zi 
wissen  wünschte.    Sie  erwiderte,  sie  könne  das  nicht  vor  dem  nächsten  Morgei 
sagen,  nachdem  sie  die  Nacht  darüber  geschlafen.    Andern  Tags  gegen  Abem 


J)  Zauberstab:  Hillebrandt  S.  175. 
2)  Vgl.  Mogk  S.  404. 
8)  Golther  S.  649. 


§  14.   Zaubermenschen.  147 


ward  alles  in  Stand  gesetzt,  daß  sie  Zauber  (seid)  üben  könnte.  Sie  verlangte, 
man  solle  ihr  Frauen,  die  sich  auf  die  zum  seid  nötigen  Lieder  (froedi),  die  so- 
genannten vardlokkur  (d.  i.  Geisterlockungen?)  verstünden,  herbeischaffen;  da  fand 
sich  niemand,  der  sie  wußte,  obschon  in  den  nächstliegenden  Höfen  nachgefragt 
ward.  Da  sagte  Gudrid:  Zwar  bin  ich  weder  zauberkundig  noch  eine  weise 
Frau;  aber  meine  Pflegemutter  auf  Island  lehrte  mich  Lieder,  die  sie  vardlokkur 
nannte.  Die  Lieder  und  was  dazu  gehört,  sind  aber  derart,  daß  ich  sie  als 
Christin  nicht  ausüben  kann.  Da  bat  Thorkel  so  lange  und  inständig,  bis  sis 
endlich  doch  einwilligte.  Thorbjorg  setzte  sich  auf  den  Zaubersessel  (seidhjallr) 
und  die  Frauen  bildeten  einen  Kreis  darum.  Gudrid  sang  das  Lied  so  schön 
und  gut,  daß  niemand  von  den  Anwesenden  jemals  einen  schöneren  Gesang 
gehört  zu  haben  glaubte.  Auch  die  Wahrsagerin  meinte,  der  Sang  sei  schön  an- 
zuhören, und  dankte  ihr,  als  sie  zu  Ende  war;  sie  sagte,  nun  seien  viele  Geister 
(natürur)  erschienen,  denen  das  Lied  wohlgefiel,  und  die  zuvor  keinen  Beistand 
noch  Gehorsam  hätten  leisten  wollen.  Nun  sind  mir  auch  viele  Dinge  ersichtlich, 
die  mir  und  anderen  zuvor  verborgen  waren.  Ich  kann  dir  sagen,  Thorkel,  daß 
das  Hungerjahr  nur  noch  den  Winter  über  dauern  und  im  Frühling  Besserung 
eintreten  wird.  Auch  die  Seuche,  die  hier  geherrscht  hat,  wird  sich  über  Er- 
warten schnell  bessern.  Der  Gudrid  weissagte  sie  eine  ansehnliche  Heirat.  Dann 
gingen  die  Leute  zu  der  Weissagerin  und  jeder  fragte  das,  was  er  am  meisten 
zu  wissen  verlangte.  Sie  war  gut  mit  ihren  Aussagen  und  es  schlug  wenig  fehl, 
was  sie  sagte.  Hierauf  begab  sie  sich  wieder  auf  einen  anderen  Hof,  wo  man 
ihrer  Dienste  bedurfte.« 

Typisch  ist  hier  der  unentbehrliche  Zauberstab;  auch  der  Gürtel  mit 
dem  Zaubergerät  fehlt  selten.  Drittens  ist  auch  der  Zaubersessel  ein 
häufiges  Requisit  (der  Dreifuß  der  Pythia  in  Delphi);  er  soll  offenbar  die 
Zauberin  isolieren.  —  Andere  Einzelheiten  sind  spezifischer  Natur,  wie 
denn  z.  B.  manches  Stück  der  Kleidung  zufälliger  Aufputz  sein  wird; 
dagegen  ist  es  wieder  ein  ständiger  Zug,  daß  Werkzeuge  aus  veraltetem 
Material  —  wie  hier  das  Bronzemesser  —  benutzt  werden  x). 

Eine  Hauptform  des  Zaubers  ist  der  sympathetische  in  zwei  Formen: 
erstens  ein  passiver,  indem  einem  Symbol  etwas  angetan  wird,  die  häufigere 
Form;  zweitens  ein  aktiver,  indem  das  Symbol  etwas  tut.  Im  ersten  Fall 
wird  eine  Art  negativer  Fetisch  angefertigt:  eine  rohe  Andeutung 
der  gemeinten  Persönlichkeit  (Ähnlichkeit  wird  gar  nicht  erstrebt) 2).  Diesem 
tut  man  dann  an,  was  dem  Menschen  geschehen  soll :  man  macht  es  den 
Göttern  vor.  »So  ritzte  (drö)  ein  gewisser  Tiörvi  auf  Island  die  Umrisse 
seiner  Geliebten  Astrid  und  des  ihr  aufgezwungenen  Mannes  auf  seine 
Kammerwand,  und  jeden  Abend  spuckte  er  beim  Schlafengehen  dem 
Manne  ins  gemalte  Gesicht  und  küßte  das  Bild  der  Astrid,  bis  sein  Oheim 
Hroar  diese  Zeichnungen  abkratzte,  um  Lärm  und  Streit  zu  verhüten«3). 


*)  Vgl.  z.  B.  die  Schilderung  des  sibirischen  Schamanen  bei  Edv.  Lehmann, 
Mystik,  S.  11. 

2)  Yryö  Hirn,  Ursprung  der  Kunst,  Leipzig  1904,  S.  288. 

3)  Wein  hold,  Altnordisches  Leben,  S.  427. 

10* 


143  Drittes  Kapitel. 

—  Im  andern  Falle  wird  das  Symbol  fetischartig  mit  einer  Kraft  begabt, 
die  etwa  ein  an  eine  Stange  befestigter  Zettel  mit  Zeichen  enthält1). 

Um  jenes  Prachtstück  einer  Schilderung  nicht  zu  zerreißen,  haben 
wir  gleich  auch  die  Beschreibung  der  Zauberhandlung  selbst  mitgeteilt» 
Zunächst  aber  kommt  es  noch  an  auf 

Ort  und  Zeit2),  die  natürlich  bei  allem  Zauber  eine  große  Rolle 
spielen.  Besonders  beliebt  ist  das  ütiseta:  unter  freiem  Himmel,  also  den 
Dämonen  zugänglich  sitzen3).  Sehr  wichtig  ist  deshalb  die  »Tagwählerei«  4). 
Alle  diese  Vorbereitungen  sind  geeignet,  die  Stimmung  zu  steigern,  so- 
wohl bei  dem  Schamanen  wie  bei  der  Zuhörerschaft.  Nebenbei  sichern 
sie  dem  Zauberer  noch  bei  Mißerfolg  einen  Rückzug:  es  hat  irgend- 
etwas bei  der  Zurüstung  nicht  gestimmt.  —  Endlich  kommt  er  zur  Sachej 
selbst. 

Die  Beschwörung  bildet  den  Hauptteil  der  Zeremonie.  Entweder! 
wird  wirklich  ein  Dämon  angerufen,  oder  es  wird  der  Ritus  der  Anrufung! 
doch  nachgeahmt.  Der  Vortrag  und  die  Anordnung  der  Worte  sowie  die 
symbolische  Handlung  (Ausräuchern  böser  Geister,  Herbeiwinken  guter! 
u.  dgl.)  sind  natürlich  von  der  gleichen  Wichtigkeit  wie  beim  allgemeinen 
Zauber  (s.  o.).  —  Besonders  häufig  wendet  man  sich  an  die  Totengeisten 
daher  valgaldr  Totenlied,  haljaruna  gotisch,  althochdeutsch  hellirüna] 
Unterweltszauber5).  —  Die  Beschwörung  wird  verstärkt  durch  die  Anwendung 
von  zauberkräftigen  Dingen  (altnordisch  taufr,  angelsächsisch  Uafon 
Amulet).  Vor  allem  sind  es  Bestandteile  des  menschlichen  Körpers6)] 
Blut  (was  mit  Blut  bestrichen  wird,  erhält  den  Anschein  des  Lebens;  dafüi 
stellvertretend  die  rote  Farbe,  Mennige) 7),  Speichel,  aber  auch  abgeschnittene 
Haare  oder  Nägel8). 

Übrigens  wenden  die  Zauberer  auch  einfach  die  allgemein  üblicher1! 
Zaubermittel  an:  Raunen  und  Singen  von  Zaubersprüchen,  Losen  usw.9) 


1)  Vgl.  z.  B.  ebd.  S.  298  und  zu  der  dazu  gehörigen  nidvisa,  dem  Lied  dei 
Hasses,  S.  342. 

2)  Golther  S.  656. 
8)  Vgl.  Völ.  Str.  28   »einsam  saß  ich  außen«.    Vielleicht  liegt  dem  Nackt 

heitszauber  ein  ähnliches  Motiv  zugrunde. 

4)  Vgl.  Meyer  S.  20,  allgemein  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  1,  1  f. 

5)  Golther  S.  645;  vgl.  Diels  Sibyllinische  Blätter  S.  69. 

6)  Wuttke  S.  6321 

7)  Golther  S.  648,  Wuttke  Register  s.  v.,  vgl.  z.  B.  Hillebrandt  S.  17 

8)  Vgl.  das  Schiff  Naglfari,  Gylf.  c.  51,  Gering  S.  348;  die  Hexen  am  Kesse 
in  Shakespeares  Macbeth. 

9)  Klassisches  Beispiel  die  Buslubaen,  Bitte  der  Busla,  vgl.  Golthe 
S.  653:  eine  feierliche  Verfluchung  unter  Anwendung  von  Runen  und  mit  An 
gäbe  der  wirksamen  Zeit  (»nicht  ists  erlaubt,  sie  nach  Sonnenuntergang  hei 
zusagen«). 


< 


§  14.   Zaubermenschen.  149 

Die  Gesamtheit  der  Zauberkunst  heißt  im  Norden  setdr1);  wer  sie  ver- 
geht, rühmt  sich  dessen  und  empfiehlt  sein  Können  2). 

Abwehr  des  Zaubers3)  wird  im  allgemeinen  durch  Mittel  gleicher 
\rt  geübt:  Gegenbeschwörung4);  Amulette,  d.h.  zauberkräftige  Dinge,  in 
der  Regel  durch  Inschriften  beseelt 5),  so  daß  der  Zettel  gewissermaßen  den 
Schutzsegen  hersagt.  Prohibitive  Hauptform  des  Gegenzaubers  ist  die  Be- 
lennung  mit  -rün6).  Vielleicht  gibt  es  auch  besondere  Schutzgöttinnen:  die 
Saitchammae7).  Defensiv  setzt  man  einen  Gegenzauberer  in  Bewegung 8) ; 
man  gebraucht  Schutzrunen9).  Oder  man  wendet  Gewalt  gegen  die  Zauberer 
in,  was  freilich  gewagt  ist.  Schon  sie  nicht  aufzunehmen  bringt  Gefahr 10). 
Schließlich  wagt  man  es  doch,  sie  zu  vertreiben  n)  oder  gar  zu  töten.  Harald 
tiärfagri  soll  den  eigenen  Sohn  Röguvald  und  80  Zauberer  getötet  haben12). 
Mit  dem  Träger  der  dämonischen  Kraft  erlischt  dann  auch  diese.  Man 
muß  aber  natürliche  Helfer  des  Todes  wählen,  indem  man  steinigt13)  oder 
den  ertränkt:  Waffen  können  sie  durch  ihren  Fluch  schaden14).  Auch  sind 
sie  oft  »fest«,  d.  h.  durch  menschliche  Waffen  nicht  zu  töten.  Die  aggressive 
\bwehr  endlich  besteht  darin,  daß  man  die  schwache  Stelle  des  Zauberers 
herausfindet.  Seine  Unverwundbarkeit  ist  nur  relativ:  macht  er  die  (ge- 
wöhnlichen) Waffen  untauglich,  so  hilft  die  Keule15);  oder  man  muß  ihn 
mit  Staub  besiegen,  den  er  getreten  hat 16),  oder  mit  Gold  17)  usw. 

Dies  alles  setzt  bereits  den  allgemein  üblichen  Gegensatz  von  weißer  und 
schwarzer  Magie  voraus  18).    Zunächst  ist  natürlich  für  den  naiven  Menschen 


!)  Golther  S.  654. 

2)  Häv.  146  f.,  vgl.  Mogk  S.  404. 

3)  Vgl.  allgemein  Wuttke  S.  279 f. 

4)  Hillebrandt  S.  177. 

5)  Wuttke  S.  178 f. 

6)  Vgl.  o.  S.  117. 

7)  Much,  Zeitschrift  f.  d.  Alt.  35,  322;  s.  u. 

8)  Der  Kampf  zweier  Zauberer  ist  ein  Lieblingsmotiv  im  Märchen;  solutus 
ambulat  veneficae  scientioris  carmine  Horaz  ep.  5,  71,  vgl.  Sudhaus  Arch.  f. 
Rel.-Wissensch.  9,  194. 

9)  Z.  B.  gegen  Gift  als  Zauber:  Sinfjötlalök. 

10)  Golther  S.  651. 
")  Ebd.  S.  657. 

12)  Mogk  S.  405. 

13)  Vgl.  allgemein  R.  Hirzel,  Die  Strafe  der  Steinigung,  Leipzig  1909,  wo 
das  Steinigen  überhaupt  als  schützende  Abwehrmaßregel  gefaßt  wird. 

u)  Vgl.  Meyer  S.  310. 

16)  Saxo  S.  219,  Herrmann  S.  291. 

16)  Den  Boden  unter  ihm  wegziehen?  Vgl.  die  Antäus -  Fabel ;  ebd.  S.  118, 
Herrmann  S.  157. 

17)  Ebd.  S.  17,  Herrmann  S.  22. 

18)  Vgl.  Golther  S.  655 f.,  der  aber  S.  657  das  ethische  und  ethnologische 
Moment  {seidr,  »Hexerei«,  als  finnische  Magie)  zu  stark  betont. 


150  Drittes  Kapitel. 

der  Zauber  gut,  der  ihm  dient,  schlecht  der,  der  ihm  schadet.  Allmählich 
entwickelt  sich  aber  eine  Empfindung  für  das  Bedenkliche  des  Zaubers 
überhaupt:  als  eines  Mißbrauches  des  Kults  zu  eigennützigen  Zwecken 
und  gegen  Bezahlung  —  was  man  im  Mittelalter  »Simonie«  nennt.  Dann 
gilt  fast  aller  Zauber  —  schon  vor  dem  Christentum  —  als  bedenklich; 
angerufen  wird  er  deshalb  doch.  — 

Neben  den  Zauberern  von  Beruf  gibt  es  noch  Menschen,  die  man 
gewissermaßen  als  »unfreiwillige  Zauberer«  bezeichnen  könnte: 
sie  sind  zwar  im  Besitz  von  gewissen  Zauberkräften,  aber  nicht  Herr  über 
deren  Verwendung.  In  gewissem  Sinne  kann  man  schon  Alpreiter,  Wer- 
wölfe,  auch  Berserker  hierher  rechnen;  doch  sahen  wir,  daß  diese  von 
der  Volksanschauung  für  ihre  Taten  verantwortlich  gemacht  werden.  Dies 
ist  dagegen  wenigstens  überwiegend  nicht  der  Fall  bei  den  Inhabern  des 
»bösen   Blicks«1). 

Die  Gabe,  durch  das  bloße  Hinsehen  Schaden  zu  stiften,  wird  be- 
sonders in  den  romanischen  Ländern  sehr  vielen  Menschen  (»jeltatori«) 
zugetraut.  Sie  gilt  allerdings  ursprünglich  als  böse  Zauberkraft,  als  zu^ 
erst  bewußt  z.  B.  zum  Stumpfmachen  der  Waffen2)  (was  sonst  Zauber 
tut)3),  dann  aber  unbewußt  ausgeübte  Eigenheit.  Nach  deutschem  Aber-! 
glauben  gehört  sie  allerdings  vorzugsweise  bösen  Menschen  4) ;  aber  gerade! 
in  den  Ländern,  wo  dieser  Aberglaube  den  größten  Umfang  gewonnen 
hat,  wird  diese  Kraft  lediglich  als  eine  unheimliche  Funktion  auch  im 
Besitz  von  verehrten  Persönlichkeiten  (wie  den  beiden  letzten  Päpsten] 
angesehen.  Sie  dringt  bis  in  die  Mythologie:  wenn  Hymir5)  einen  Balkerj 
in  Stücke  blickt,  bedeutet  das  schwerlich,  wie  Gering6)  mit  Uhlanc1 
annimmt,  die  »zersprengende  Gewalt  des  Frostes«,  vielmehr  nur  eint 
hyperbolische  Anwendung  des  bösen  Blickes7);  in  Italien  könner 
Leute  mit  ihrem  Blick  Marmor  spalten8).  Die  Vorstellung  entspring 
wohl  Erfahrungen  von  der  wirklichen  psychologischen  Kraft  dejj 
Auges,  z.  B.  über  wilde  Tiere.  Kaum  ein  Aberglaube  hat  so  viel  Ab 
wehrmaßregeln   aufgebracht  wie   dieser9).     Übrigens  gibt  es  auch  einer 


J)  Vgl.   jetzt   S.  Seligmann,   Der  böse   Blick   und  Verwandtes,   2  Bde 
Berlin  1910. 

2)  Saxo  S.  187,  Herrmann  S.  250,  297 f. 
8)  Ebd.  S.  242,  Herrmann  S.  323. 
•)  Vgl.  Wuttke  S.  265. 
B)  Hym.  Str.  12. 

6)  Edda  S.  25. 

7)  v.  d.  Leyen,  Märchen  in  der  Edda  S.  49. 

8)  Rud.  Müller,  Gartenlaube  1909,  Heft  13,  S.  267;  vgl.  z.  B.  M.  Orun 
wald,  Jettatura,  Vosstsche  Zeitung  27.  März  1907. 

9)  Vgl.  z.  B.  R.  Müller  a.  a.  O.  S.  269. 


§  14.   Zaubermenschen.  151 

»guten  Blick«,  der  z.  B.  den  Kiebitz  beim  Kartenspiel  erwünscht  machen 
kann *). 

Unfreiwillige  Wahrsager  ohne  jede  Verantwortung  sind  die  Wahn- 
sinnigen, die  als  solche  besonders  im  Orient  und  bei  den  Slawen2)  Ver- 
ehrung genießen,  zum  Teil  fast  in  den  Formen  des  Dämonenkults.  Offen- 
bar beruht  diese  Anschauung  auf  der  Verwandtschaft  der  prophetischen 
Ekstase  mit  der  Gestörtheit,  d.  h.  auf  einer  unwissenschaftlichen  Ver- 
allgemeinerung von  derselben  Art  wie  heut  die  Lombrososche  Gleich- 
stellung von  Genie  und  Wahnsinn.  —  In  der  altgermanischen  Mythologie 
(oder  Heldensage)  spielt  der  Rasende  keine  Rolle;  doch  ist  auch  hier  an 
die  schillernde  Gestalt  Starkads  zu  erinnern.  — 

Werfen  wir  zum  Schluß  auf  die  »Dämonischen «  einen  Blick  zurück, 
so  treten  als  gemeinschaftliche  Züge  hervor: 

1.  als  unterscheidend  von  den  Menschen:  unheimliche  Macht,  be- 
sonders des  Gestaltwechsels  und  des  Blickes  in  die  Zukunft; 

2.  als  unterscheidend  von  den  Göttern:  Formlosigkeit  (Mißgestalten; 
auch  das  entstellende  Kostüm  des  Zauberers  gehört  hierher)  —  kein  eigenes 
»Reich«  —  kein  allgemeiner  Kult.  Aber  die  Grenzen  fließen;  auch  unter 
den  Göttern  begegnen  dämonische  Gestalten. 

*)  Wuttke  S.  410.  Allgemein  vgl.  W.  Hertz,  Die  Sage  vom  Giftmädchen, 
Ges.  Abhandlungen,  her.  Fr.  v.  d.  Leyen,  Stuttgart  1905,  S.  180f. ;  v.  d.  Leyen, 
Märchen  in  der  Edda  a.  a.  O.;  R.  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  1,  45 f. 

2)  Vgl.  z.  B.  Andree,  Ethnograph.  Parallelen,  Leipzig  1889;  2,  41  f. 


Viertes  Kapitel. 

Höhere  Mythologie. 

Wohl  fehlt  es  auch  bei  den  Göttern  an  völlig  durchgreifenden  Unter- 
schieden ;  wie  wäre  das  auch  wohl  bei  dem  langsamen  Übergang x)  anders 
möglich!  Aber  tatsächlich  wird  eine  bestimmte  Anzahl  übermensch- 
licher Wesen  als  zusammengehörige  Aristokratie  empfunden;  diese  gött- 
liche Adelskaste  bildet  den  Inhalt  der  höheren  Mythologie.  Wie  der 
menschliche  Adel  ist  auch  dieser  ungleichen  Ursprungs,  und  neben  Persön- 
lichkeiten von  uraltem  Stammbaum  (wie  Tyr)  stehen  Parvenüs  und  ein 
künstlicher  »Briefadel«  (Bragi,  Idun);  erst  recht  sind  sie  ungleich  an  Macht 
und  Beliebtheit  —  aber  nach  außen  bilden  sie  eine  geschlossene  Gemein- 
schaft mit  nur  selten  Fremden  gewährtem  commercium  und  connubium. 

Rangzeichen  der  Götter2)  sind  besonders  die  idealisierte 
Menschenähnlichkeit;  die  feste  Umgrenzung  der  Kompetenz;  die  Viel- 
namigkeit;  später  auch  ein  fester,  von  Priestern  geleiteter  Kult  mit 
lokalem  Mittelpunkt  und  einigermaßen  fester  lokaler  (oder  sozialer)  Um- 
grenzung. 

Ein  Numen  steht  um  so  höher,  je  näher  es  dem  Menschen  steht  — 
in  der  Form.  Sonst  aber  sind  sie  exklusiver;  der  gemütliche  Verkehr  der 
niederen  Geister  mit  den  Menschen  ist  bei  ihnen  eingeschränkt.  Ge- 
wöhnlich kommen  sie  nur,  wenn  gerufen:  durch  Beschwörung  vermag 
man  sie  absichtlich,  durch  böse  oder  (seltener)  gute  Taten  unabsichtlich 
herbeizurufen.  Allerdings  wandern  Odin,  Rig,  vor  allem  Thor,  aber  sie 
besuchen  fast  nur  Sterbliche,  zu  denen  bestimmte  Beziehungen  bereits 
existieren.  Deshalb  werden  Tempel  und  Priester  nötig,  wo  man  sie  trifft 
und  durch  die  man  zu  ihnen  spricht.  —  Und  diese  Organisation  eines 
festen  »Reiches  der  Götter«  wird  dann  das  letzte  und  wichtigste  Gesamt- 
kennzeichen. 


»)  Vgl.  S.  Müller,  Urgeschichte  Europas,  S.  149 f.,  dessen  Anschauungen 
ich  mir  freilich  im  einzelnen  nicht  anzueignen  vermag. 

2)  Siehe  o.  S.  38 f.;  vgl.  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  31,  320;  J.  v.  Negelein,  Germ. 
Mythologie,  Leipzig  1906,  S.  16 f.,  R.  M.  Meyer,  Intern.  Wochenschr.  3,  1581. 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  153 

Wenn  dagegen  Negelein 1)  geneigt  scheint,  die  sonderbare  Ver- 
stümmelung mehrerer  Äsen  (Wodan  hat  nur  ein  Auge,  Ziu  eine  Hand, 
Donar  »zeichnet  sich  durch  eine  Schädel  Verletzung  aus«  — )  als  ein  be- 
sonderes Kennzeichen  aufzufassen,  so  ist  nicht  nur  einzuwenden,  daß  das 
zum  Teil  jüngere  Züge  zu  sein  scheinen,  sondern  auch  vor  allem,  daß  sie 
verschiedenen  Ursprungs  und  deshalb  nicht  als  gemeinsames  Merkmal 
verwendbar  sind.  Es  sind  ja  nicht  alles  »im  Kampf  erworbene  Ab- 
zeichen«, wenn  sie  auch  zum  Teil  nach  heroischem  Muster  (man  denke 
an  den  Waltharius)  so  erklärt  werden  mögen. 

Die  Götter  sind  aber  noch  von  Wesen  umgeben,  die  selbst  zu 
den  »Dämonen«  gehören,  aber  in  die  Götterwelt  geraten  sind,  wie 
Ministerialen  in  den  hohen  Adel,  und  die  wir  deshalb  an  dieser  Stelle 
behandeln. 

I  §  15.    Halbgöttliche  Wesen. 

»Heroen«  oder  »Halbgötter«  im  antiken  Sinne  des  Wortes2)  bilden 
eine  vermittelnde  Kategorie  zwischen  Menschen  und  Göttern,  und  zwar 
in  zeitlicher  Sonderung:  bis  zum  Tode  Menschen,  nach  dem  Tode  Götter3). 
Bei  den  Germanen  ist  diese  Kategorie  nicht  vorhanden;  denn  die  ver- 
göttlichten  Menschen  bilden  hier  in  keiner  Weise  eine  innerlich  geschlossene 
Gruppe. 

Dagegen  ist  die  Kategorie  der  »Umgebungsgötter«,  wie  man  diese 
halbgöttliche  Umgebung  der  eigentlichen  Götter  nennen  könnte,  überall 
vorhanden.  Gestalten  wie  die  Moiren,  die  Musen,  wie  Hebe  und  Ganymed 
werden  zwar  zu  den  Göttern  gerechnet,  weil  sie  sich  auf  dem  Olymp 
(wenigstens  teilweise)  aufhalten,  auch  die  göttlichen  Rangzeichen  der  fest- 
umschriebenen  Kompetenz  und  der  menschlichen  Form  teilen,  unter- 
scheiden sich  aber  dennoch  von  Gestalten  wir  Zeus,  Hera,  Aphrodite, 
Hermes  deutlich  durch  geringere  Wichtigkeit  und  untergeordnete  Stellung, 
Zum  Teil  sind  sie  (wie  Ganymed)  nicht  der  Menschen,  sondern  lediglich 
der  Götter  wegen  da;  zum  Teil  besitzen  sie  wie  die  Dämonen,  wenn 
auch  in  verminderter  Zahl,  den  charakteristisch  die  Individualität  ab- 
stumpfenden Massencharakter  (drei  Charitinnen,  neun  Musen);  zum  Teil 
sind  sie  ganz  blasse  Abstraktionen  geblieben. 

Die  Sonderstellung  der  hierher  gehörigen  germanischen  Gottheiten 
erkannte  schon  W.  Müller4). 


*)  a.  a.  O.  S.  16;  vgl.  o.  S.  41. 

2)  Vgl.  allgemein  Edv.  Lehmann,  Guder  og  helte,  Kjobenhoven  1808. 

3)  Klassischer  Typus  Herakles. 

4)  Geschichte  vom  System  der  altdeutschen  Religion  S.  344 ;  vgl.  Meyer 
S.  249. 


154  Viertes  Kapitel. 

Wir  können  drei  Gruppen  unterscheiden: 

göttliche  Wesen,  die  beinahe  die  göttliche  Reife  erreicht  haben:  Nornen; 

göttliche  Wesen,   die  in  das  Gefolge  der  Götter  gehören:   Walküren, 
Schwanenjungfrauen ; 

Mittelstufe  zwischen  beiden:  Mimir. 

1.  Die  Nornen  oder  Schicksalsschwestern1)  sind  gleichsam  die 
Elementargeister  des  »Geschehens«;  sie  wohnen  im  Fluß  der  Dinge  wie 
die  Stromgeister  im  Strom.  Bereits  indogermanisch  ist2)  die  Vorstellung 
des  Schicksals,  d.  h.  einer  fest  bestimmten  Ordnung  der  Dinge.  Aber 
wenigstens  in  der  europäischen  Kulturgemeinschaft3)  scheint  sich  diese 
Vorstellung  mit  der  Idee  einer  lebendigen,  sie  beherrschenden  Kraft, 
eines  »Geistes«  zu  erfüllen.  Daneben  tritt  vielfach  eine  Mehrheit  solcher 
Geister  auf,  so  die  hellenischen  Moiren4);  schließlich  gelangt  man  zu  der 
Dreizahl.  Die  herrschende  Anschauung  ist,  daß  ursprünglich  nur  Eine 
Schicksalsgöttin  vorhanden  gewesen  sei.  Sie  scheint  mir  allen  Analogien 
zu   widersprechen. 

Wir  müssen  von  dem  überall  vorhandenen  abstrakten  Begriff  des 
Schicksals  ausgehen:  altnordisch  urdr,  Geschick;  althochdeutsch  wurt 
fatum,  besonders  Tod;  altsächsisch  werd,  Tod,  todbringende  Schicksals- 
macht; angelsächsisch  wyrd,  Verhängnis;  ferner  angelsächsisch  meotod, 
altnordisch  mjötudr,  messende,  verhängende  Macht5).  —  Diese  Begriffe 
sind  inhaltlich  wie  formell  singularia  tantum.  Aber  sie  lassen,  wie  etwa 
der  abstrakte  Begriff  des  Wassers,  unzählige  Emanationen  zu.  So  werden 
denn  Ableitungen  als  pluralia  tantum  gebildet:  würdigt-,  metodo-giscapu, 
regano  giscapu:  Bestimmungen  der  bestimmenden  Macht6).  Jeder  hat 
sein  eigenes  Schicksal7).  Daraus  bildet  sich  die  Vorstellung  ungezählter 
Schicksalsgottheiten 8),  die  in  mythologischer  Symbolik  erst  zu  drei 
Scharen 9) ,  dann  zu  drei  Gottheiten  vereinfacht  werden.  Aber  etwas 
von  der  alten  Vorstellung  lebt  noch  spät  in  dem  Versuch  fort,  jedem 
Dämonengeschlecht,  den  Äsen,  Alfen,  Zwergen  eigene  Nornen  (nach  Art 
der  aettarfylgjur)  zu  geben10).  Endlich  entsteht  wieder  eine  Kollektiv- 
göttin,   die    den    alten    Namen    Urd   fortführt,    als    Geist    des    Werdens 

")  Mogk  S.  281.  Golther  S.  104,  Meyer  S.  251. 

2)  Siehe  o.  S.  54. 

3)  Meyer  S.  259;  vgl.  S.  261. 

4)  Preller  1,  530f. 

5)  Mogk  S.  281,  283;  vgl.  Vilmar,  Deutsche  Altertümer  im  Heliand,  Mar- 
burg 1845,  S.  8  f. 

6)  Vgl.  die  fylgjur;  s.  o.  S.  79  f. 

7)  Meyer  S.  252. 

8)  Vgl.  Mogk  S.  284;  man  denke  an  Goethes  »Mütter    im  »Faust«. 

9)  Väf.  Str.  49. 

10)  Fäfnismäl  Str.  13;  vgl.  Mogk  S.  284,  Meyer  S.  253. 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  155 

über  allen  Wesen  gebietend.  Daneben  dauert  die  Dreizahl  fort,  wie  hellenisch 
die  eine  Moira  neben  drei  oder  vier  Moiren x) ;  und  spät  werden  sie 
nun  mit  grammatischer  Mißdeutung  des  Namens  Urd  als  Verdandi 
und  Skuld  neben  dieser  benannt:  Gegenwart  und  Zukunft  neben  der 
Vergangenheit2)  —  eine  kahle  Allegorie,  die  von  der  gleichfalls  wohl 
jungen,  aber  lebensvollen  der  drei  Spinnerinnen  Klotho,  Lachesis,  Atropos 
formlos  absticht.  Gelehrter  Einfluß  der  Antike3)  ist  mir  aber  nicht  wahr- 
scheinlich; denn  da  auch  unsere  Schicksalsgöttinnen  »spinnen«,  wären 
dann  wohl  die  antiken  Namen  nachgebildet  worden.  Auch  sind  die  drei 
weird  sisters  im  englischen  Volksglauben  nachgewiesen  4),  ebenso  deutsch 
drei  »Heßrätinnen«  5)  —  ohne  jede  Verteilung,  als  unteilbare  Trias,  wie 
das  einer  solchen  mythologischen  Obergangsformation  entspricht. 

Rangzeichen  ist  einfach  die  unbedingte,  schon  durch  indo- 
germanische Spruchweisheit  anerkannte  Macht.  Daher  sind  sie  auch  schwer 
zugänglich,  keinem  Zauber  unterworfen,  außer  dem  der  Wahrsagung,  in 
keinen  Tempel  gebannt. 

Sie  »schaffen«  zunächst  der  in  den  Körper  geschlüpften  Seele  das 
Verhängnis,  daher  althochdeutsch  Skeffarun,  Skephentu,  Schepfen,  noch 
bei  Michael  Behaim  »Geschöpfen«*):  »es  ist  die  alte  Prädestinationslehre 
unserer  Vorfahren«7);  daher  auch  die  Ergebenheit  in  das  »Kismet«8).  — 
Die  von  ihnen  verhängte  Vorherbestimmung  wird  angedeutet  durch  ge- 
wisse Zeichen,  wie  weiße  Flecke  auf  den  Nägeln:  nornaspur,  Nornen- 
marke  9). 

In  dem  Moment,  in  dem  sie  schaffen,  dem  der  Geburt,  sind  sie  allen- 
falls noch  zu  beeinflussen,  da  erhalten  sie  deshalb  Speiseopfer 10) ;  sonst  sind 
sie  beleidigt,  wie  das  das  Märchen  oft  in  der  Erzählung  von  den  ge- 
kränkten Feen  widerspiegelt.  (Doch  ist  die  Nornagestsaga  mit  ihrer  ent- 
sprechenden Motivierung  vielleicht  von  der  Meleagersage  beeinflußt11). 
Die  Kindbetterin  ißt  auf  den  Faröern  ihre  »Nornengrütze«  (Grütze  mit 
Honig)  als  erste  Speise,  um  sich  die  Nornen  beim  gemeinschaftlichen 
Mahl  zu  verpflichten  12). 


*)  Prell  er  1,  533. 

2)  Vgl.  Golther  S.  108,  Meyer  S.  254,  Mogk  S.  281. 

3)  Vgl.  Golther  S.  108. 
*)  Golther  S.  104. 

5)  Meyer  S.  252 f. 

6)  Meyer  S.  252. 

7)  Mogk  S.  283. 

8)  Vgl.  z.  B.  Helg.  Hjörv.  Str.  33. 

9)  Mogk  S.  283. 

10)  Meyer  S.  257,  Mogk  S.  283. 
J1)  Meyer  S.  256,  Mogk  S.  283. 

!)  Vgl.  Meyer  S.  257,  Golther  S.  107. 


12 


j56  Viertes  Kapitel. 

Nachher  spinnen  die  Nornen  nur  noch  das  Schicksal  ab.  Natürlich 
ist  es  unlogisch,  daß  man  das  feststehende  Schicksal  doch  noch  durch 
Gebet  und  Opfer,  Entschluß  und  Gelübde  zu  ändern  sucht;  aber  so  un- 
logisch ist  man  überall  bei  Prädestinationsglaube  und  islamitischem 
Fatalismus.  —  Das  Schicksal  ist  das  Abgesponnene1).  Sie  begleiten  so 
den  Menschen  mit  ihren  Bestimmungen,  ihrem  urlagu,  dem  jeden  ein- 
zelnen »Auferlegten«;  über  jedem  hängt  ihr  gewiofu,  Gewebe2).  Da 
sie  das  Geschick  ungleich  verteilen,  sind  sie  dem  Unterliegenden  »böse 
Schicksalsgöttinnen«3):  sie  lassen  den  Krieger  straucheln  und  fallen,  sie 
entscheiden  über  seinen  Ausgang.  All  das  tun  sie  kollektiv;  sie  nach 
Art  der  Elfen4)  in  gute  und  böse  Nornen  zu  teilen,  sind  wir  nicht  be- 
rechtigt. 

Ihre  Erscheinung  ist  die  heiliger  großer  Frauen;  »mächtige 
Mädchen«  werden  sie  in  der  eddischen  Weltgeschichte  genannt,  für  die 
mit  ihrem  Erscheinen  die  prähistorische,  schicksalslose  Zeit  aufhört5). 
Später  wird  ihr  Sitz  am  Urdarbrunnen  unter  Yggdrasill,  der  Welteschd 
ausgemalt6),  eine  charakteristisch  junge  Anschauung:  während  ursprünglich 
die  Nornen  (wie  noch  im  Märchen  die  Feen)  an  die  Wiege  des  Neu- 
geborenen treten,  so  daß  ihre  Wohnung  gleichgiltig  ist  wie  die  der 
Dämonen,  richtet  die  ordnungsliebende  Theologie  der  christlichen  Periode 
ein  Schicksalsbureau  ein  und  zentralisiert  die  Verteilung  der  Geschicke! 
Eine  solche  zentrale  »Weltpost«  hat  freilich  Carl  Spitteler,  der 
Schweizer  Dichter,  geistvoll  erfunden7)  —  aber  das  ist  eben  »kosmische 
Dichtung«  modernen  Stils ;  wie  viel  tiefer  erfaßte  der  mythologische  Sinn 
Goethes8)  die  Bedingungen  der  Schicksalsmächte,  als  er9)  die  »Mütter« 
»in  ewig  leerer  Ferne«  thronen  ließ,  dort,  wohin  man  weder  sinkt  noch 
steigt  —  im  raumlosen  Raum.  Weder  die  Moiren  10)  noch  die  leise  um- 
gehende Ate n)  oder  Aisa  oder  ihre  römischen  Nachbildungen 12)  haben 
einen  festen  Sitz;  sie  schweben  in  der  Luft,  wie  noch  für  unsere  Vor- 
stellung ein  Verhängnis  »über  uns  hängt«,  sie  existieren  sozusagen  nur,  wenn 
sie  erscheinen   und  wirken.     Und   so   werden  sie  natürlich  nur  in  jenen 


x)  Vgl.  Helg.  Hund.  1,  2;  Mogk  S.  282,  Meyer  S.  256. 

2)  Golther  S.  105. 

3)  tälar  disir,  Reg.  Str.  24. 

4)  Mit  Golther  S.  105. 
B)  Vol.  Str.  8. 

6)  Vol.  Str.  20;  vgl.  Golther  S.  106,  Meyer  S.  253. 

7)  »Balladen«,  Zürich  1896,  S.  9. 

8)  Vgl.  Brunnhofer,  Goethes  Bildkraft. 

9)  Faust  II  v.  1627  f. 

10)  Preller  1,  530f. 

11)  Ebd.  S.  539. 

12)  Wissowa  S.  213. 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  157 

pathetischen  Momenten  sichtbar,  in  denen  auch  wir  das  Schicksal  am 
Werk  sehen:  Geburt,  Hochzeit,  Schlacht,  Tod1);  und  dann  in  feierlicher 
Weise2). 

Sie  haben  Verwandtschaft  im  Wesen  mit  den  Fylgjur  und  mit  den 
Walküren  als  Bestimmerinnen  des  Todes3),  aber  sie  sind  allgemeiner, 
gewissermaßen  nur  »Geister  des  persönlichen  Schicksals«.  An  die 
Elementargeister,  zu  denen  sie  in  gewissem  Sinne  gehören,  erinnern  sie 
durch  ihre  Formlosigkeit,  an  die  Götter  schon  durch  die  moralische  An- 
färbung,  mehr  noch  durch  ihre  Macht  und  deren  Alleinbesitz. 

Im  Norden  entwickelt  sich  Urd  in  weiterer  Spezialisierung  geradezu 
zur  Todesgöttin;  ebenso  wird  auch  im  Heliand  ihr  Name  verwandt4). 
Andere  Spezialisierungen  begegnen  im  Volksglauben:  in  Bayern  soll  von 
ihnen  eine  weiß,  eine  halb  weiß  halb  schwarz,  eine  ganz  schwarz  sein5). 
Besonders  merkwürdig,  aber  gewiß  jung  ist  jener  Versuch,  das  erste 
Auftreten  der  Nornen  zu  datieren;  mit  dem  Erscheinen  der  drei  über- 
mächtigen Mädchen  aus  dem  Riesen  lande  beginnt  eine  neue  Epoche  der 
Weltgeschichte 6) :  das  Chaos  wird  durch  eine  strenge  Folge  der  Ereignisse 
ersetzt.  —  Jung  ist  auch  die  Übertragung  anderer  Funktionen  an  die  hohen 
Gottheiten:  sie  sollen  für  Fruchtbarkeit,  Ehe7)  u.  a.  sorgen. 

Natürlich  bemüht  man  sich,  den  Entschluß  der  Nornen  zu  erraten. 
Im  Grund  versucht  das  jede  Wahrsagerei ;  speziell  ist  aber  ein  halbmond- 
förmiger Schein  an  der  Hauswand  als  Vorzeichen  großen  Sterbens8)  als 
Urdarmdni,  Urds  Mond,  benannt9). 

2.  Göttliche  Wesen,  die  in  das  Gefolge  der  Götter  gehören  10)  sind 
die  Walküren. 

Sie  sind  vielleicht  erst  eine  jüngere  Entwicklung  aus  den  —  noch 
ganz  unbestimmt  gefaßten,  ungezählten  —  Nornen.  Sie  bilden  ein  be- 
sonders schwieriges  Problem  der  altgermanischen  Religionsgeschichte11). 
Wie   die  Nornen   verhängen   auch   sie  Schicksal    —  aber   nur    in   Einer 


x)  Vgl.  Preller  S.  530. 

2)  Golther  S.  106,  Meyer  S.  254. 

3)  Mogk  S.  283. 

4)  Golther  S.  107. 

5)  Meyer  S.  252. 

6)  Vol.  Str.  8. 

7)  Meyer  S.  258 f. 

8)  Vgl.  die  feurige  Schrift  an  der  Wand  bei  Belsazars  Festmahl. 

9)  Meyer  S.  258. 

10)  Vgl.  allgemein  Prell  er  1,475  f.:  die  Hören,  Chariten,  Musen,  Nike,  Iris, 
Hebe,  Ganymedes  u.  a. :  Wissowa  S.  120  f. 

n)Golther  S.  109,  315,  Meyer  S.  267,  Chantepie  S.  304,  Mogk  S.  269; 
ferner  Golther,  Der  Valkyrjenmythus ,  Abh.  Münch.  Akad.  d.  Wiss.,  Bd.  18; 
2,  4011,  Schullerus,  PBB.  12,  221  f.;  vgl.  Hoffory,  Eddastudien,  S.  126f. 


I^g  Viertes  Kapitel. 

Form:  als  Tod,  und  zwar  noch  weiter  spezialisiert:  als  Schlachtentod. 
Wie  sie  durch  die  Luft  reiten  und  töten,  erinnern  sie  an  die  Hexen1) 
und  die  Maren,  die  »  Walriderske «,  Totenreiterinnen,  von  denen  Mogk 2) 
sie  ganz  und  gar  —  unter  Bezugnahme  auf  die  kriegerischen  Frauen 
des  germanischen  Altertums  —  ableitet,  wie  Golther3)  von  den  Nornen. 
Ich  glaube,  daß  wir  sie  auf  eine  andere  Entwicklungsbasis  stellen  müssen. 
Es  scheint  möglich,  folgende  Entwicklung  zu  verfolgen: 

a)  Gemeingermanisch  ist  die  Vorstellung  von  »weisen  Frauen« 
vorhanden:  altnordisch  disir,  althochdeutsch  idisi4).  Sie  sind  Göttinnen 
des  Heeres-  oder  Schlachtenschicksals,  also  Nornen  für  das  Gesamt- 
schicksal einer  Heeresgemeinde.  Wir  verstehen  sie  als  solche 
aus  einer  Zeit,  die  für  jedes  Einz^lschicksal  noch  an  besondere  Nornen 
glaubte,  wie  für  jeden  Strom,  jede  Wolke  an  eine  eigene  Gottheit. 

So  schildert  sie  der  berühmte  erste  Merseburger  Spruch  5)  —  eins  der 
so  ungemein  spärlichen,  ganz  sicheren  Denkmäler  altgermanischen  Heiden- 
tums auf  deutschem  Boden6).  Sie  werden  hier  vorgeführt,  wie  sie 
kollektiv  jenes  Gesamtschicksal  entscheiden;  sie  weben  dem  Heer  das 
Schicksal,  genau  wie  anderwärts7)  die  Nornen  dem  Einzelnen8).  Sie 
sitzen,  jedenfalls  über  dem  Heere,  zu  Haupt  der  Kämpfenden ;  wer  sie  er- 
blickt, den  schlagen  sie  mit  panischem  Schrecken 9).  Hier  und  dahin  ver- 
teilt, bereiten  sie  den  Sieg  des  einen  Heeres  vor  (und  zwar10)  wohl  des 
befreundeten),  indem  die  eine  Gruppe  Fesseln  bereitet,  um  die  (am 
weitesten  vorgedrungenen)  Feinde  zu  fesseln,  die  zweite  Gruppe  die  Masse 
des  andringenden  Heeres  zum  Stehen  bringt,  die  dritte  sich  mit  den 
Fesseln  der  (hinter  der  Front  des  feindlichen  Heeres  befindlichen)  Ge- 
fangenen zu  tun  macht  —  woran  dann  der  Segen  anknüpft,  der  irgend- 
einem befreundeten,  von  den  Feinden  gefangenen  Krieger  zur  Freiheit 
verhelfen    soll11).     Sie   beschäftigen    sich    also    mit  drei    entsprechenden 

s)  Mogk  S.  271. 

2)  S.  269;  vgl.  Golther  S.  119.  3)  S.  109. 

4)  Golther  S.  104 f.,  Mogk  S.  270. 

B)  Müllenhoff  und  Scherer,  Denkmäler  IV  1. 

6)  Vgl.  Meyer  S.  270,  Golther  S.  110,  Koegel,  Gesch.  d.  d.  Lit.,  Straße 
bürg  1894;  1,  85;  v.  Grienberger,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  27,  433f.;  Helm, 
PBB.  35,  312. 

7)  Helg.  Hund.  1,  2  f. 

8)  Helgi,  vgl.  Eddica  Minora  S.  Lf. 

9)  Häv.  Str.  128. 

10)  Gegen  MSD.  3  Anm.  S.  44  und  Wallner,  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  50,  214, 
wo  übrigens  eine  interessante  tschechische  Parallele.  Die  schönste  Schilderung 
in  dem  Walkürenlied  der  Njälssaga. 

n)  Häv.  Str.  149.  Dieser  Zauber  zur  Befreiung  Gefangener  ist  im  Altertum 
so  besonders  beiiebt,  »daß  sich  ein  eigener  terminus  technicus  (feapolvra)  für 
sie  bildete.    Reitzenstein,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  8.  181. 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  159 

3ruppen:  der  Vorhut,  dem  Heer,  der  Nachhut  mit  den  Gefangenen. 
Überall  ist  aber  ihre  Tätigkeit  wesentlich  von  der  gleichen  Art:  wie  die 
dornen  »spinnen«,  so  »binden«  sie,  binden  den  Feind  oder  das  Heer, 
binden  die  Fesseln  des  gefangenen  Freundes  los1);  und  so  entscheiden  sie 
die  Schlacht.  —  Nach  solchen  Schlachtjungfrauen2)  heißt  die  älteste 
benannte  Schlachtstätte  der  einheimischen  deutschen  Kriegsgeschichte: 
Idisiaviso,  die  Wiese,  über  der  die  Schlachtgöttinnen  gewaltet  haben  — 
campus  Martins. 

b)  Von  diesen  un charakterisiert  auftretenden  —  vielleicht  dreimal 
drei3)  —  weiblichen  Dämonen,  den  Idisen,  hat  sich  nun  nach  allge- 
meiner, unzweifelhaft  zutreffender  Meinung  eine  Gruppe  später  zu  vollerer 
Individualität  ausgebildet.  Der  Schaar  nämlich,  die  das  feindliche  Heer 
hemmt,  entspricht  die  altnordische  Herfjötur,  die  Göttin  des  panischen 
Schreckens,  der  das  Heer  lähmt,  wenn  er  plötzlich  über  einen  "kommt4). 
Sie  ist  also  aus  einer  Idisengruppe  oder  aus  diesen  überhaupt  kollekti- 
viert; erst  in  späterer  Zeit  scheint  aus  den  »Heerfesslerinnen«  die  eine 
»Heerfessel«  geworden  zu  sein5).  Solche  Einzelgestalten  scheinen  aber 
schon  früh  mehrfach  aus  den  Idisen  entwickelt.  Derartige  individualisierte 
Schlachtengottheiten  sind  vielleicht  dieVihansa  (in  Tongern),  der  Schild 
und  Speer  geweiht  werden;  die  Hariasa  (in  Köln),  die  Harimella 
(am  Hadrianswall) ;  die  Baduhenna,  der  die  Friesen  28  n.  Chr.  im 
Hain  900  Römer  schlachteten  —  Feinde,  um  deren  Fesselung  sich  also 
die  Idise  erfolgreich  bemüht  hatten6).  Von  der  gleichen  Art  ist  aber 
auch  im  Norden  Thorgerd,  eine  Göttin,  die  das  feindliche  Heer  durch 
Gewittersturm   hemmt 7). 

Am  wahrscheinlichsten  ist  es,  daß  dies  die  individualisierten  Gott- 
heiten einzelner  Schlachten  waren;  etwa  wie  Epaminondas  Leuktra  und 
Mantinea  als  seine  überlebenden  Töchter  bezeichnete.  So  werden  bei  den 
Römern  die  Victorien  der  einzelnen  Feldherren  »als  Verkörperung  ihrer 
persönlichen  Siegesskraft  gefaßt«  8),  und  so  möchte  jene  Thorgerd  Hölga- 
brud9)  ursprünglich  »die  Geliebte  des  Feldherrn  Helgi«  sein,  einer  Victoria 
Sullana  genau  entsprechend10). 


*)  Man  denke  noch  an  Schillers  Jungfrau  von  Orleans  im  Gefängnis. 

2)  Zur  Ethymologie  von  idis  vgl.  v.  Grien  berger  a.  a.  O.  S.  440. 

3)  MSD  3  S.  44  vgl.  Mythologie  S.  392. 

4)  Golther  S.  113f.,  Meyer  S.  270. 

B)  Problematisch   sind   die   »Götter   der  zitternden  Angst  und  des  blassen 
Schreckens«  bei  den  Römern,  Pavor  und  Pallor  (Wissowa  S.  135). 

6)  Vgl.  für  diese  Gottheiten  Meyer  S.  267 f.;  s.  u. 

7)  Vgl.  Meyer  S.  273;  s.  u. 

8)  Wissowa  S.  128. 

9)  Golther  S.  482. 

10)  Napoleon   nannte  den  Marschall  Massena   »Venfant  cheri  de  la  victoire«. 


150  Viertes  Kapitel. 

Diese  Schlachtengöttinnen  sind  also  Nornen,  und  man  darf  nicht  mit 
Koegel J)  sagen,  sie  seien  Walküren.  Denn  die  Idise  sind  ja  noch  nicht 
Todesbotinnen,  vielmehr  zum  Teil  sogar  in  rettender  Tätigkeit  dargestellt. 
Aber  sie  werden  Walküren.  Später  allerdings  treten  die  Walküren  in  diese 
individualisierte  Funktion  ein  nnd  werden  in  dem  Liede  von  der  Brävalla- 
schlacht  direkt  nach  Orten  benannt2).  Diese  gemeingermanischen  Gott- 
heiten werden  wie  die  Nornen 3)  nach  der  Analogie  der  weiblichen  Hand- 
arbeit geschildert:  daher  heißt  ihre  Arbeit  »Siegesgewebe«,  »Speergewebe«. 
Mit  irischem,  phantastischem  Realismus  wird  das  in  dem  Liede  auf  die 
Schlacht  von  Clontarf  zwischen  Brian  von  Irland  und  seinem  Sohn 
Sigtrygg4)  geschildert: 

»Ein  Mann  zu  Caithnes  in  Schottland  sah  zwölf  Frauen  in  eine  Kammer 
reiten  und  darin  verschwinden.  Durch  ein  Fenster  beobachtete  er,  wie  die  Frauen 
ein  Gewebe  aufgespannt  hatten,  wobei  Menschenhäupter  als  Gewichte,  Menschen- 
därme als  Aufzug  und  Einschlag,  Schwerter  als  Spule  und  Pfeile  als  Kamm 
dienten.  Bei  ihrem  Geschäfte  sangen  sie  unter  anderem:  »Mit  Schwertern 
schlagen  wir  dieses  Siegesgewebe.  Hildr,  Hjorthrimul,  Sangridr,  Svipul  kamen 
zu  weben  mit  gezogenen  Schwertern.  Schaft  wird  zerkrachen,  Schild  zerbersten, 
die  Axt  in  die  Rüstung  dringen.  Winden  wir,  winden  wir  das  Gewebe  des 
Speeres!  Folgen  wir  dem  König  (dem  siegreichen  Sigtrygg)!  Blutige  Schilde 
wird  man  sehen,  da  Gunnr  und  Gonduli  dem  Könige  halfen.  Winden  wir,  winden 
wir  das  Gewebe  des  Speeres,  das  der  junge  König  vor  sich  hatte !  Voran  wollen 
wir  gehen  und  in  die  Schlachtreihe  schreiten,  wo  unsere  Freunde  die  Waffen 
kreuzen.  Winden  wir,  winden  wir  das  Gewebe  des  Speeres,  wo  die  Fahnen 
kämpfender  Männer  wehen!  Nicht  lassen  wir  zu,  daß  sein  (Sigtryggs)  Leben 
vergehe.  Die  Walküren  haben  des  Kampfes  Kür  (eigu  valkyrjur  vals  um  kosti). 
Die  Nordleute  sollen  siegen  und  die  Iren  unterliegen.  Das  Gewebe  ist  gewoben, 
das  Feld  gerötet.  Schrecklich  anzusehen  ziehen  blutige  Wolken  am  Himmel. 
Wohl  sangen  wir  dem  jungen  König  viele  Siegeslieder.  Nun  reiten  wir  auf  den 
Hengsten  mit  gezogenen  Schwertern  fort  von  hier.«  Da  rissen  sie  das  Gewebe  von 
oben  herunter  und  jede  behielt,  was  sie  festhielt.  Hierauf  bestiegen  sie  ihre 
Hengste,  sechs  ritten  südwärts,  sechs  nordwärts.« 

Allerdings  ist  hier,  wie  schon  die  Benennung  der  Walküren  zeigt, 
der  Obergang  zu    dieser  spezifisch  nordischen  Bildung  bereits  vollzogen. 

Schon  für  die  Idise  wird  man  als  Rangzeichen  annehmen  dürfen, 
daß  sie  durch  Luft  und  Meer  reiten5),  d.  h.  daß  sie  überall  reiten  können; 
wo  sollten  sich  sonst  die  Gottheiten  des  Merseburger  Spruches  aufhalten?  — 
Sie   genießen    als    Kult    die    in    den    Sagas    oft    erwähnten    dfsablöt, 


l)  a.  a.  O.  S.  89.    PBB.  16,  502. 

*)  Haidr  von  Hedeby,  Vebjörg  von  Viborg:  Olrik,  Ark.  f.  nord.  Fil.  10, 
N.  F.  6,  S.  277.  —  Über  antike  Personifikation  von  Örtlichkeiten  Steudig  in 
Roschers  Lexikon  2,  2,  2078. 

3)  Golther  S.  111. 

4)  Ebd. 

5)  Mogk  S.  270. 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  161 

Opfer  an  heilige  Frauen *),  nicht  selten,  wie  Thorgerd,  grausige  Menschen- 
opfer. 

c)  Aus  diesen  Heer-Nornen,  die  auch  nach  der  individualisierenden 
Hypostase  einzelner  (wie  etwa  der  Harimella)  fortdauern,  entwickelt  sich 
die  altnordische  valkyrja,  angelsächsisch  waelkyrje2);  daneben  auch 
angelsächsisch  sigewif,  altnordisch  sigrmeyjar ,  siegspendende  Frauen, 
geirvif,  hjdlmvitr,  Speerschwingerinnen,  Helmträgerinnen  3).  —  Es  scheint 
mir  nicht  nötig,  sie  an  Amazonen  und  weibliche  Kämpferinnen4)  anzu- 
lehnen. Vielmehr  scheint  einfach  eine  Entwicklung  vorzuliegen,  die  der- 
jenigen der  reinen  Nornen  parallel  läuft:  wie  diese  aus  Schicksalsgott- 
heiten Todesgottheiten  werden,  so  werden  die  Schlachtenjungfrauen  Gott- 
heiten des  Schlachtentodes.  Daß  sie  etwas  nach  den  wirklich  kämpfenden 
»Schildmädchen«  der  Norweger  und  Dänen5)  stilisiert  werden,  ist  damit 
gewiß  nicht  ausgeschlossen;  ebenso  erstreckt  sich  die  Namengebung  mit 
Kriegsworten  (-wig,  -hild,  -gund,  hadu-)  und  Waffenbezeichnungen  (ger, 
Speer,  briinne,  Panzer,  heim)  sowohl  auf  menschliche  Jungfrauen  wie 
auf  Walküren. 

Die  Walküren  verkünden  (im  Traum)6)  und  geben  den  Schlachtentod. 
In  dieser  Funktion  sind  sie  erst  der  späteren  Entwicklung  der  heroischen 
Zeit  bei  Angelsachsen  und  Skandinaviern  eigen. 

Erst  nachdem  der  Wodankult  herrschend  geworden  war,  werden  sie  zu 
ihm  als  Dienerinnen  des  Schlachtgottes7)  in  nähere  Beziehungen 
getreten  sein.  Freilich  gehört  Nike  von  Anfang  an  zu  Zeus8)  und  soll 
Victoria  nur  eine  Emanation  des  Juppiter  sein9);  aber  diese  allegorischen 
Abstraktionen  sind  eben  mit  den  pluralischen  »Siegesgöttinnen«  nicht  ein- 
fach gleichzusetzen.  —  Nachdem  sich  vollends  das  Dogma  festgesetzt  hat, 
nur  der  Schlachtentod  führe  zu  den  Göttern,  werden  sie  Lieblinge  der 
Sagenbildung;  man  könnte  sie  in  diesem  Sinne  die  Nymphen  der  Wikinger 
nennen.  Das  heroische  Lieblingsmotiv  von  dem  wegen  Ungehorsam  ver- 
bannten Helden  (Cid,  Herzog  Ernst)  wird  nun  (wie  ich  glaube)  im  Norden 
auf  die  Heldenmädchen  übertragen,  um  den  alten  Mythus  von  der  durch  den 
Drachentöter  befreiten  Sonnenjungfrau  10)  psychologisch  zu  verdeutlichen. 


!)  Mogk  S.  385. 

2)  Mogk  S.  269;  der  altenglische  Ausdruck  vielleicht  aus  dem  altnordischen 
entnommen,  Golther  S.  109. 

3)  Ebd. 

4)  Vgl.  Mogk  S.  269,  Golther  S.  323. 

5)  Meyer  S.  268. 

6)  Golther  S.  113. 

7)  Weinhold  bei  Golther  S.  328  Anm. 

8)  Preller  1,  494. 

9)  Wissowa  S.  127. 

10)  Hartland,  The  legend  of  Perseus. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  11 


]62  Viertes  Kapitel. 

Freilich  war  dieser  für  heroische  Umformung  besonders  geeignete  Mythus 
vielleicht  schon  vorher  durch  die  Anpassung  an  die  Sagen  vom  berg- 
entrückten Helden  (lectulus  Brunihildae,  der  Feldberg)  hindurchgegangen 
aber  das  Ungehorsamsmotiv  scheint  spezifisch  nordisch.  (Eine  religions- 
geschichtliche Reminiszenz:  Widerstand  der  ursprünglichen  freien  Göttinnen 
gegen  den  neuen  Obergott,  möchte  ich  in  diesem  Motiv  nicht  erblicken.) 
Ferner  (oder  gleichzeitig)  hängt  sich  auch  an  sie  (wie  an  die  Nymphen) 
erotische  Novellistik :  sie  kommen  in  Liebesabenteuer  zu  Helden  *)  oder 
Einheriern 2).  Wie  die  Riesen  und  andere  Lieblingsgestalten  der  Volks- 
phantasie erhalten  sie  bezeichnende  Einzelnamen3).  Im  übrigen  sind  sie 
noch  immer  die  alten  Nornen  und  weben  das  Gewebe  der  Schlacht4); 
daher  haben  sie  auch  noch  immer  Verwandtschaft  mit  den  Elementar- 
geistern und  träufeln  Blutregen  herab. 

d)  Jung  scheint  das  Maß  der  Verehrung,  durch  das  Einzelwalküren 
wie  Thorgerd  und  Irpa  (wenn  sie  so  aufzufassen  sind)  fast  zu  göttlicher 
Höhe  aufwachsen.  Doch  ist  vielleicht  schon  die  alte  Gottheit  Badu- 
henna 5)  so  zu  erklären.  Zweifelhaft  bleibt  auch  das  Nachleben  der 
Walküre  in  der  heiligen  Gertrud6),  die  freilich  einen  Walkürennamen 
trägt7).  — 

Schwanenjungfrauen8)  sind  halbgöttliche  Wesen  mit  dem  Rang- 
zeichen des  Schwanenkleids  (das  die  Wanengöttin  Freyja  ebenfalls  besitzt9), 
der  Gabe  des  Gestaltentausches  und  der  Wahrsagung,  und  mit  großer  An- 
näherung an  Menschenart.  Golther10)  erklärt  sie  für  Walküren,  und  un- 
zweifelhaft stehen  sie  diesen  nahe;  aber  während  der  Walküre  die  Gabe, 
durch  Luft  und  Meer  zu  reiten,  immanent  ist H),  bleibt  sie  bei  den  Schwanen- 
jungfrauen an  ihr  zaubermäßiges  Attribut  gebunden.  Da  Gestalten  dieser 
Art  sich    über   die  ganze   Welt  verbreitet  finden12),    wird    man   sie  für 

*)  Sigdrm;  vgl.  Golther  S.  320. 

2)  Helg.  Hund.  1,  39;  vgl.  ebd.  S.  323. 

8)  Mogk  S.  271. 

4)  Valkyrjenlied  der  Njälssaga  ebd. 

5)  Siehe  u.    , 

6)  Meyer  S.  271. 

7)  Eine  streng  systematische  Anordnung  müßte  die  Walküren  den  Schwanen- 
jungfrauen nachstellen,  weil  sie  näher  in  die  Umgebung  der  Götter  gehören; 
doch  ist  das  Wesen  der  Schwanenjungfrauen  nur  zu  verstehen,  wenn  man  sich 
zuvor  über  dasjenige  der  Walküren  klar  geworden  ist. 

8)  Mogk* S.  284,  Meyer  S.  272,  Golther  S.  114 f.,  321,  Chantepie  S.  304, 
Gering,  Weissagung  und  Zauberei,  S.  15. 

9)  Thrymskvida  Str.  3  f. 
10)  S.  321. 

»1  Helg.  Hund.  2  zu  Str.  5. 

12)  Zeitschr.  f.  d.  Phil.  32,  137;  vgl.  für  den  Raub  des  Rangzeichens  Wundt, 
2,  3,  149. 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  163 

älter  als  die  spezifisch  nordischen  Walküren  halten  müssen.  Dafür 
spricht  noch  manches:  eben  das  Zaubermäßige;  der  Massencharakter1); 
endlich  das  Schwanken  zwischen  Tier-  und  Menschengestalt.  Auch 
fehlt  ihnen  recht  im  Gegensatz  zu  den  auf  den  Kampf  eingeschränkten 
Walküren  jede  spezielle  Kompetenz;  es  sei  denn,  daß  es  die  der  Wahr- 
sagung wäre. 

Man  könnte  sie  vielleicht  als  ursprüngliche  Wasserfrauen  auffassen; 
wie  denn  auch  die  mit  ihnen  gewiß  verwandten  Hadburg  und  Siglint  im 
Nibelungenlied,  die  Hagen  durch  Wegnahme  des  Vogelgewandes  zum 
Prophezeien  zwingt2),  »Meerweiber«  genannt  werden3).  Sie  wären  dann 
wohl  Nymphen  stiller,  von  den  Schwänen  belebter  Gewässer;  und  auch 
der  Schwan  selbst  gilt  als  Sänger  und  Verkünder4).  Vielleicht  sah  man 
in  den  Schwänen  Hypostasen  der  sonst  unsichtbaren  Wasserjungfrauen,  die 
nur  in  diesem  Kleid  ihre  volle  Bewegungsfreiheit  besaßen. 

Jedenfalls  aber  sind  sie  früh  in  die  stärkere  Kategorie  der  Walküren 
aufgegangen;  in  der  Prosa  vor  der  Völundarkvida  heißt  es  geradezu:  »in 
der  Nähe  lagen  ihre  Schwanenhemden ,  denn  sie  waren  Walküren«  — 
und  doch  spinnen  sie  Flachs,  was  gewiß  kein  Geschäft  für  Walküren  ist. 
Ebenso  denkt  sich  der  Dichter  der  Helreid  Brynhild  als  Walküre,  wenn 
er5)  erzählt,  wie  ein  König  sie  und  ihre  Schwestern  zwang,  indem  er 
ihre  Schwanenhemden  verbarg.  —  Nur  aus  dieser  Identifizierung  ist  es 
auch  zu  erklären,  daß  die  drei  Schwanenjnngfrauen  der  Vkv.  (alle  mit 
»Walkürennamen«)  schließlich  doch  fortfliegen,  obwohl  ihnen  das  Schwanen- 
kleid  fehlt;  oder  soll  man  denken,  es  sei  in  sieben  Wintern  nach- 
gewachsen 6)  ? 

Auch  das  teilen  sie  mit  den  Walküren,  daß  sie  in  Liebesabenteuer 
Üit  sterblichen  Männern  verwickelt  werden ;  doch  auch  hier  wieder  bleibt 
iarieben  ein  Gegensatz:  die  Walküren  werben,  die  Schwanenjungfrauen 
werden  umworben  und  ergeben  sich  ungern.  Zu  den  Göttern  stehen 
sie  nicht  (wie  Thorgerd  zu  Thor,  die  anderen  Walküren  zu  Odin)  in  Be- 
ziehung. —  Zusammenfassend  definieren  wir  sie  vielleicht  am  besten  als 
ursprüngliche  Flußnymphen,  die  wegen  der  Ähnlichkeit  ihrer  novellistischen 
Schicksale  (Liebe^,  Verbannung,  Befreiung)  den  Walküren  angeglichen 
wurden. 


*)  Bei  den  Banks-Insulanern  sind  es  »einige  Frauen«,  in  unserer  Völundar- 
<vida  in  mythologischer  Arithmetik  drei,  Helr.  Str.  7  acht. 

2)  Wie  Menelaos  ähnlich  den  Meergeist  Proteus,  vgl.  Prell  er  1,  609. 

3)  Vgl.  Meyer  S.  272;  die  Namen  sind  wohl  »echte  Walkürennamen«,  aber 
doch  vor  allem  den  heroischen  Namen  der  Krimhild  und  Brünhild  angepaßt. 

4)  Müllenhoff,  Deutsche  Altertumskunde  1,  2. 
B)  Helr.  Str.  7. 

6)  Vgl.  Niedner,  Ztsch.  f.  d.  Alt.  33,  27. 


164  Viertes  Kapitel. 

Es  wäre  aber  nicht  unmöglich,  daß  in  die  gleiche  Kategorie  mit  den 
drei  Schwan enmädchen  der  Völundarkvida  auch  Völund  selbst  gehörte. 
Sind  sie  nämlich  ursprünglich  Elementargeister  des  fließenden  Wassers,  so 
ist  für  diese  ja  das  Vorhandensein  männlicher  neben  weiblichen  Dämonen 
überall  bezeugt.  Für  »Schwanenjünglinge«  fehlt  allerdings  ein  direkter 
Beleg.  Denn  die  Sage  vom  Schwanenritter  ist  »für  mythologische  Zwecke 
unverwendbar« *),  mag  sie  auch  auf  ältere  Züge  zurückgehen.  Unter  diesen 
sind  nun  freilich  einige  mythischen  Ursprungs  dringend  verdächtig:  dei 
Ritter  mit  dem  Schwan  war  vorher  Ritter  und  Schwan  zugleich2),  wie 
bei  solchen  Attributgeschöpfen  ja  fast  a  priori  zu  behaupten  wäre;  unc 
Märchen  wie  das  schöne  von  den  sieben  Raben3)  und  besonders  vor 
den  sechs  Schwänen4)  hängen  wohl  unzweifelhaft  mit  den  Schwanen 
Jungfrauen  zusammen 5).  Und  so  könnte  auch  Wieland  selbst  eir 
Schwanenjüngiing  gewesen  sein.  Der  »elfische«  Ursprung6)  ist  ja  un- 
bestritten ;  die  Kunstfertigkeit  des  Meisterschmieds  hat  man  immer  darau 
zurückgeführt.  Man  kann,  glaube  ich,  in  der  mythischen  Rekonstruktion 
weitergehen. 

Uraltes  indogermanisches  Motiv  ist  die  Legende  von  dem  dienender 
Gott  oder  Halbgott,  der  sich  rächt.  Ich  führe  nur  einige  Bei- 
spiele an :  Simson  bei  den  Philistern,  Jahve  selbst  bei  ihnen 7),  Poseidon 
und  Apollon  bei  Laomedon8)  und  Sigurd  bei  Regin.  In  der  Regel  wirc 
die  Knechtschaft  durch  eine  Schuld  motiviert,  so  bei  Apollon9),  oder  die 
Knechtschaft  ist  vom  Schicksal  verhängt  wie  bei  Herakles.  Als  Variante 
des  Dienstes  tritt  die  Gefangenschaft  auf,  wieder  mit  (späterer)  Schuldsage 
kombiniert  oder  vielmehr  motiviert  bei  Ares10),  ohne  sie  bei  der  Ver- 
bannung des  Hephaistos  und  seinem  Höhlenleben n).  Das  letztere  hai 
man  ja  mit  Völunds  Leben  längst  kombiniert 12),  und  in  der  Tat  sind  die| 
Übereinstimmungen  schlagend  und  zahlreich:  die  gewaltsame  Lähmung, 
der  einsame  Verbannungsort,  die  kunstreiche  Arbeit  des  Verbannten,  viel  i 
leicht  (ich  glaube  es  nicht)  auch  die  Nachstellung,  durch  die  er  Athen( 
überwältigt  wie  Völund  die  Baduhild.  So  wird  eine  uralte  mythische 
Grundlage  kaum  zu  bezweifeln  sein.    Aber  welche  Form  besaß  sie?  unc 

')  Blöte,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  42,  44. 

2)  Ebd.  S.  20  Anm.  4. 

3)  Kinder-  und  Hausmärchen  N.  25.  4)  Ebd.  N.  49. 

5)  W.  Grimm  ebd.  B.  3  zu  N.  49. 

6)  Vkv.  Str.  11:  »der  Eibenfürst«. 

7)  Dibelius,  Die  Lade  Jahves,  Göttingen  1906,  S.  18. 

8)  Preller  2,  234. 

9)  Wogegen  sein  Hirtenleben  bei  Admet  nach  starker  Betonung  der  Frei 
Willigkeit  als  Freundschaft  aufzufassen  ist;  ebd.  1,  270;  2,  316. 

,0)  Ebd.  1,  105.  »)  Ebd.  1,  175. 

ia)  Vgl.  z.  B.  Niedner,  Zschr.  f.  d.  Alt.  33,  46;  Much,  Himmelsgott,  S.  235 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  165 

gehörten  Hephaistos,  der  Feuerdämon,   und  Wieland,  der  Eibenfürst  und 
Schütze1),  wirklich  gleichem  Ursprung  an? 

Einige  wichtige  Züge   unterscheiden    doch  beide  Mythen.     Eins  vor 
allem:   bei  Hephaistos  (wie  bei  Ares)  fehlt  die  Rache,   die  bei  Poseidon, 
Ares,  Sigurd,  Völund  die  eigentliche  Pointe  bildet  und  in  dem  Erschrecken 
des  Eurystheus  vor  dem  von  Herakles  gebrachten  Höllenhund  wenigstens 
angedeutet  scheint.    Sie  ist  auch  vorhanden  in  jenem  anderen  griechischen 
Mythos,   den   man   oft   mit   dem   von  Wieland  verglichen  hat,   dem  von 
:  Daidalos 2).    Auch  dieser  kunstfertige  Wundermann  ist  in  der  Verbannung 
bei  König  Minos,   flieht  von    ihm   und   verursacht   den  Tod  seines  Ver- 
folgers8).   Und  zwar  entflieht  er  wie  Wieland  durch  die  Luft.    Kann  man 
zweifeln,  daß  die  Wachsflügel  späte  rationalistische  Antwort  auf  die  Frage 
sind,  wie  er  fliegen  konnte?  und  weshalb  er  sich  nicht  eher  rettete,  wenn 
er  es  konnte?  —  dieselben  Fragen,  die  die  Völundarkvida  aufwerfen  läßt. 
Ich  glaube,  die  Urgeschichte  Völunds4)  läßt  sich  nunmehr  rekonstruieren. 
Sie  scheint  mir  durch  folgende  Phasen  zu  laufen: 

1.  Ein  elfischer  Goldschmied  wird  von  einem  König  in  seine  Dienste 
gezwungen,  indem  dieser  ihn  seines  Schwanenhemdes  beraubt.  Nun  sitzt 
er  auf  der  einsamen  Insel  und  arbeitet  für  den  König.  Aber  er  kommt 
wieder  in  den  Besitz  der  Flügel.  Nun  kann  er  sich  an  dem  König  rächen 
und  dann  entfliehen  —  indogermanischer  Mythos. 

2.  Die  Gefangennahme,  die  Rache,  der  Wiedergewinn  der  Flugkraft 
werden  ausgemalt.  So  bei  den  Hellenen:  Vorgeschichte  des  Daidalos. 
So  bei  den  Germanen :  Fesselung  an  den  Sehnen  —  märchenhafte  Rache 
(das  Motiv  des  Machandelbooms;  die  Überwältigung  der  Königstochter  in 
typischer  Weise5),  Schilderung  des  aufsteigenden  Völund)  urgermanischer 
Mythos6),  (Daß  Daidalos  sowohl  wie  Wieland7)  vorher  einen  Mord  be- 
gehen, wird  zufällige  Übereinstimmung  sein.) 

3.  Hinzutreten  weiterer  Märchenmotive.  So  bei  den  Hellenen 8) ;  so  bei 
den   Germanen:    die   Episode   von   den    700    Ringen9).   —    Insbesondere 

J)  Vgl.  Niedner  S.  34. 

2)  Preller  2,  498.  3)  Ebd.  2,  122. 

4)  Zum  Namen  vgl.  Much  S.  238. 

5)  Vgl.  Niedner  S.  40;  Häv.  Str.  105. 

6)  Vgl.  den  angelsächsischen  Bericht  und  dazu  Niedner  S.  36. 

7)  Vgl.  ebd.  S.  36.  38. 

8)  Kallimachos :  Prell  er  2,  123  Anm.  2. 

9)  Vgl.  Niedner  S.  26.  Ursprünglich  war  der  eine  geraubte  Ring  wohl 
ein  vervielfältigender  Zauberring  wie  der  Andvaris  (Reg.  zu  Str.  4)  und  die  anderen 
werden  abgestreift,  um  ihn  ausfindig  zu  machen.  Es  läge  dann  das  Märchen- 
motiv der  Vervielfältigung  eines  gesuchten  Gegenstandes  vor,  wie  in  der  Ring- 
parabel oder  dem  Märchen  von  der  Bienenkönigin  (KHM.  N.  62;  Parallelen  bei 
Reinhold  Köhler,  Schriften  1,  403),  wie  mir  J.  Bolte  nachweist. 


Ißß  Viertes  Kapitel. 

werden   verwandte  Motive  adoptiert:   von  dem  Ikaros,    der  zum  Himmel 
fliegen   wollte;   von   dem  Wunderschützen  Egil  —  altnordische  Legende. 

4.  Schließlich  wird  noch  die  alte  Sage  von  dem  Schwanenjüngling| 
mit  der  von  dem  Schwanenmädchen  kombiniert.  Deörs  Klage  weiß  noch! 
nichts  davon1),  und  so  erklärt  sich  auch  die  Verwirrung  in  den  Doppel-! 
namen  der  Schwanenjungfrauen 2)  am  einfachsten.  Daß  er  »um  einesl 
Weibes  willen«  verbannt  worden  sei,  ist  im  altgermanischen  Lied  nur 
eine  Konjektur  Greins,  die  allerdings  auch  Niedner3)  billigt.  Müssen 
wir  nicht  auch  gestehen,  daß  das  Motiv  des  in  einsamer  Sehnsucht  nach 
dem  Weibe  sich  verzehrenden  Mannes,  so  stark  es  auch  gerade  auf  uns 
wirkt  und  der  Völundarkvida  besondere  Gunst  sichert,  schwerlich  viel 
älter  sein  kann  als  die  wunderschöne,  aber  doch  entschieden  (die  Stoß- 
seufzer!) romantisch  sentimentale  Völundarkvida  selbst?  Die  Klage  der 
Frau  kennt  das  indische  Gedicht  Meghadhuta  so  gut  wie  das  so  benannte 
angelsächsische  Gedicht ;  aber  ein  Held,  der  sich  nach  der  Geliebten  sehnt 
wie  Epimetheus  nach  Pandora  —  kann  das  ein  alter  Sagenzug  sein  ?  Wie 
»Witwe«  ein  indogermanisches  Wort  ist,  »Witwer«  eine  junge  Nach- 
bildung, so  scheint  die  Sehnsucht  des  Mannes  der  der  Frau  nach- 
gebildet —  nachgebildet  erst,  als  die  Völundarkvida  alte  Lieder  von  den 
Schwanenjungfrauen  und  von  Völunds  Rache  an  Nidhod4)  verschmolz; 
wobei  noch  besonders  an  den  erotischen  Ton  der  Legenden  von  Wasser- 
dämonen zu  erinnern  ist,  und  für  die  Verführung  der  Baduhild  noch  besonders 
an  die  von  den  »Elfen«  eingeschmuggelten  Wechselbälge5).  Und  so  also 
wäre  als  jüngstes  Produkt  der  Bildung,  in  dem  die  Erzählungen  von 
Schwanenjungfrauen  sich  merkwürdig  genug  wieder  mit  denen  von  einem 
ursprünglichen  Schwanenjüngling  zusammenfinden,  unsere  Völundarkvida 
entstanden. 

Uns  kommt  es  ja  an  dieser  Stelle  nur  darauf  an,  in  Wieland  einen 
ursprünglichen  Halbgott  von  der  Art  der  Schwanenjungfrauen  nach- 
zuweisen: wie  diese  durch  sein  Rangzeichen  (Schwanenhemd,  Schwanen- 
ring, Schwanenflügel)  des  Fliegens  fähig  und  wie  sie  nach  der  erzwungenen 
Verbannung  unter  den  Menschen  in  die  himmlische  Heimat  zurück- 
kehrend ;  anderen  Dämonen  nahe  verwandt  wie  Daidalos  dem  Hephaistos, 
aber  von  ihnen  durch  die  starke  Menschenähnlichkeit,  durch  die  Individuali- 
sierung und  psychologische  Ausmalung  und  Ausdeutung  der  Schicksale  (die 
doch  typisch  bleiben)6)  unterschieden.  —  Zu  den  »Elfen«  gehört  Völund 
nicht:    die  sind  nicht  so  stark  und  grausam;  die  Beziehung  zum  Element 

*)  Niedner  S.  35. 

2)  Vgl.  ebd.  S.  26.  3)  S.  38. 

4)  Niedner  S.  44. 

fi)  Vgl.  z.  B.  Meyer  S.  154.  181. 

6)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  40,  auch  S.  477. 


§  15.    Halbgöttliche  Wesen.  167 

ist  ganz  gelockert;  heroische  Motive  (Liebe  zur  Königstochter;  die  neidische 
Königin)  sind  hineingetragen  —  aber  das  Entscheidende  blieb :  Verbannnug 
(d.  h.  Aufenthalt  unter  den  Menschen  wie  bei  Hephaistos  und  Othinus), 
Kunstfertigkeit,  die  Rache  —  und  vor  allem  die  Flugkraft.  — 

Die  letzte  hierher  gehörige  Figur  ist  vielleicht  Mimir1).  Der  Name 
ist  wohl  mit  memor  verwandt:  der  »Denker«  oder  der  »Sinnende«2), 
Er  ist3)  ursprünglich  wohl  ein  Quellgeist,  und  zwar,  da  er  bei  Saxo 
als  Quellgeist  auftritt,  der  Geist  der  still  rauschenden  Waldquelle.  Später, 
nur  im  Norden,  wird  seine  Waldquelle  an  die  Esche  Yggdrasill  (Mima- 
meidr ,  Mimirs  Baum)  verlegt  und  er  selbst  wird  der  Aufbewahrungs- 
ort der  Weisheit  Odins  —  der  Fetisch  des  Gottes.  Auf  die  mytho- 
logische Dittographie  wiesen  wir  schon  hin,  daß  das  »Haupt«  des  Flusses, 
die  Quelle,  also  Mimir  selbst,  in  das  »Haupt  Mimirs«  verwandelt  wird4).  — 
Bereits  gemeingermanisch  aber  ist  seine  Verehrung  durch  Ortsnamen  wie 
Mimigerdaford  (Münster),  Mimileba  (Memleben  an  der  Unstrut)  bezeugt 5). 

Neben  diesem  Mimir  geht  wieder  ein  Schmied  Mime  einher6);  sind 
sie  verwandt?  wäre  auch  dieser  Wassergeist  ursprünglich  kunstfertig  ge- 
wesen ? 

Ein  nordischer  Mythus  erzählt  nun  auch,  wie  Odin  sich  Mimirs 
Weisheit  gesichert  habe:  indem  er  sein  eines  Auge  hergab7).  Aber  ur- 
sprünglich hat  er  Mimirs  Haupt  ganz  anders  zum  Sprechen  gebracht8): 
durch  Bedrohung  mit  Helm  und  Schwert.  Man  wird  deshalb  v/ohl  die 
naturmythische  Deutung  auf  die  versinkende  Sonne9)  ebenso  entschieden 
abweisen  müssen  wie  die  euhemeristische  Erzählung  der  Heimskringla10), 
die  den  fetischistischen  Charakter  des  Hauptes  ausarbeitet:  die  Äsen  hätten 
dem  ihnen  feindlichen  weisen  Ratgeber  der  Wanen  das  Haupt  abgeschlagen, 
Odin  aber  habe  es  einbalsamiert.  Vielmehr  wird  in  jener  »Pfandsetzung« 
des  Auges  lediglich  ein  mythologisch-symbolischer  Ausdruck  für  Odins 
Selbstaufopferung  um  der  Runenfindung  willen n)  zu  sehen  sein. 

Rekapitulieren  wir,  so  erscheint  als  sicher,  daß  Mimir  ein  gemein- 
germanischer kollektiver  Geist  der  wahrsagenden  Waldquellen  war,  und 
daß  er  erst  im  Norden  zum  geistigen  Schwerthalter  oder  Büchsenspanner 
Odins  wurde.     Wahrscheinlich    mußte  der   höchste  Gott   ihn    zum  ersten 


»)  Meyer   S.  275,   Golther  S.   179  f.   346,    Mogk  S.  305,   U  hl  and, 
Schriften  6,  199. 

2)  Golther  S.  179.  3)  Siehe  o.  S.  103. 

4)  »Mimling«,  Sohn  des  Mimo  oder  Mimilo,  ein   Flüßchen  im  Odenwald. 
Golther  S.  179. 

5)  Ebd. 

•)  Golther  S.  180,  Meyer  S.  280,  Mogk  S.  305. 
7)  Vgl.  Mogk  S.  342.  8)  Sgdr.  Str.  14. 

9)  z.  B.  Mogk  S.  342.  10)  Ebd.  S.  306. 

")  Vgl.  Häv.  Str.  138f. 


158  Viertes  Kapitel. 

Öffnen  des  Mundes  zwingen,  wie  Proteus  und  andere  prophezeiende 
Wassergeister  durch  Gewalt  zum  Reden  gebracht  werden  müssen:  Odin 
stand  auf  dem  Berg  (wo  die  Waldquelle  entspringt?)  in  voller  Rüstung  und 
bedrohte  den  Geist  wie  Skfrnir  die  Gerd x)  mit  dem  Schwert  bedroht 2).  — 
Meyer  zieht3)  auch  Loki  hierher;  wir  rechnen  dies  »absonderliche 
Mittel wesen«  doch  lieber  zu  den  Göttern.  Freilich  hat  er  kein  eigenes 
»Heim«  in  der  Edda4);  aber  dies  Rangzeichen  der  Götter  ist  jung  und 
fehlt  auch  Nebengöttern  wie  Sif.  —  Dagegen  wären  Nebengötter  wie 
Skfrnir  oder  Fulla  eigentlich  hier  zu  behandeln,  die  wir  aber  über- 
sichtlicher ihren  Gottheiten  zuordnen5). 

§  16.    Die  Götter. 

Die  Götter6)  heißen  gelegentlich  »allmächtig«,  sind  aber  tatsächlich  in 
bestimmte  Grenzen  gebannt,  selbst  abgesehen  von  der  auch  für  sie  un- 
verbrüchlichen Herrschaft  des  Schicksals.  (Wie  diese  mit  dem  »freien 
Willen«  der  Götter  sich  verträgt,  darüber  haben  natürlich  die  altgermanischen 
Theologen   noch   nicht  spekuliert!)     Potentiell  sind  sie  stärker  als  andere 


')  Skirn.  Str.  23  f. 

2)  Heinzel-Detter,  Edda  2,  432,  werfen  sogar  die  Frage  auf,  ob  Odin 
Mimirs  Haupt  abgeschlagen  habe;  aber  sollte  das  Haupt  eines  sprachkundigen 
Dämonen  im  Augenblicke  des  Todes  zum  erstenmal  reden?  Anders  wäre  es  bei 
nicht  sprechenden  Geschöpfen,  wie  Falada  im  Märchen.  —  An  das  Haupt  der 
Medusa  wurde  schon  insofern  erinnert,  als  sein  Gebrauch  zu  Zauberzwecken  — . 
es  versteinert  den  Gegner  —  zu  der  fetischistischen  Auffassnng  von  Mimirs  Haupt 
in  der  Heimskringla  stimmt.  Wenn  das  Medusenhaupt  dann  als  »Kern  der 
Aegis«  (Preller  1,  193)  der  schreckende  Brustschmuck  der  Athena  wird,  so  liegt 
hier  allerdings  eine  Verbindung  zwischen  dem  Dämonenkopf  und  einer  Haupt- 
gottheit vor,  die  an  die  zwischen  Mimirs  Haupt  und  Odin  merkwürdig  erinnert, 
aber  doch  ohne  daß  eine  innere  Übereinstimmung  vorhanden  wäre. 

3)  S.  275.  4)  Grim.  Str.  4f. 

B)  Eine  besondere  merkwürdige  Gruppe  von  halbgöttlichen  Wesen  fehlt  der 
germanischen  wie  den  meisten  indogermanischen  Mythologien.  Der  hellenischen 
Mythologie  ist  nämlich  eine  Kategorie  eigentümlich,  die  man  als  die  der  Sehe  in - 
götter  bezeichnen  könnte:  Menschen,  die  sich  Attribute  der  Gottheiten  anmaßen 
und  dafür  zugrunde  gehen:  Ikaros  (die  Flugkraft),  Semele  (das  Schauen  der  un- 
verhüllten Gottheit),  Kapaneus,  diese  seltsame  komödiantische  Figur  mit  ihrem 
Theaterdonner  (Zeus'  Donner  und  Blitz),  Tithonos  (Unsterblichkeit),  Sisyphos 
und  Ixion  (die  sich  an  Gottheiten  vergreifen)  —  endlich  als  höchster  Typus  der 
Gattung  Prometheus,  für  den  auch  Ad.  Kuhn  bei  seiner  Gleichsetzung  mit  dem 
indischen  Mätaricvan  —  an  die  wir  schwerlich  noch  glauben  dürfen  —  wenigstens 
eine  geistigere  Bedeutung  nicht  leugnet  (Mytholog.  Studien  1,  19).  —  Wenn  uns 
früh  von  Religionsspöttern  im  Norden  erzählt  wird,  so  ist  das  natürlich  etwas 
anderes. 

6)  Allgemeine  Charakteristik  bei  W.  Müller,  Gesch.  u.  System  der  altd. 
Religion,  S.  147f.,  J.  v.  Negelein,  Germ.  Mythologie,  S.  12f.;  vgl.  J.  Grimm, 
Mythologie  1,  81  f. 


§  16.    Die  Götter.  169 

Wesen,  aber  nur  wenn  sie  im  Vollbesitz  ihrer  Kraft  sind ;  dazu  muß  ins- 
besondere Thor  in  seine  Asenkraft  fahren x)  —  was  die  Berserker  nur 
im  Rausch  der  Wut  erlangen,  ist  für  die  starken  Götter  eigentlich  das 
Normale.  Ebenso  sind  sie  potentiell  allwissend,  aber  auch  hier  muß  zu 
der  allgemeinen  Anlage  die  Erfüllung  einer  speziellen  Bedingung  hinzu- 
treten: sie  müssen  ihren  Wartturm  Hlidskjälf2)  besteigen,  dann  übersehen 
sie  die  Welt  wie  der  Schustermeister  Pfriem  im  Märchen,  wenn  er  am 
Himmelsfenster  sitzt.  —  Aber  auch  diese  allgemeinen  Eigenschaften  sind 
vorzugsweise  in  einzelnen  Göttern  domiziliert:  die  Kraft  in  Thor  (und 
Widar),  die  (relative)  Allwissenheit  in  Odin  (und  Heimdall). 

Es  gibt  also  kein  ausschließlich  den  Göttern  eigenes  Rangzeichen 
(wie  daß  die  indischen  Götter  nicht  schwitzen,  die  hellenischen  in  Nebel 
erscheinen  und  verschwinden);  denn  Stärke,  Wissen,  Weisheit  eignet  auch 
Riesen  und  Dämonen,  so  daß  sogar  die  Götter  selbst  zu  ihnen  Zuflucht 
nehmen  (Mimir;  Vafthrüdnir  ist  stark  und  weise  zugleich).  Aber  ihre 
höchsten  Leistungen  übersteigen  alles,  was  andere  Wesen  vermögen;  so 
die  Weltschöpfung,  die  Runenfindung,  das  Herstellen  von  wunderbaren 
Tieren  (wogegen  wunderbare  Dinge  auch  von  Elfen  und  Zwergen  ge- 
schaffen werden).  Vielleicht  darf  man  sagen,  daß  ihnen  das  bewußte  Neu- 
schaffen vorbehalten  ist;  wie  nach  mittelalterlicher  Anschauung  der  Teufel 
»auch  keine  Laus  schaffen  kann«3).  Doch  ist  nicht  jeder  Gott  schaffend; 
man  könnte  fast  die  indische  Dreiteilung  nachahmen  und  die  Götter  in 
schaffende  (Odin,  Frey);  erhaltende  (Thor)  und  zerstörende  (Loki)  ein- 
teilen. —  Doch  treffen  unsere  allgemeinen  Regeln  über  Götterkennzeichen  4) 
wenigstens  für  die  meisten  Götter  zu.  Insbesondere  besitzen  sie  fast  aus- 
nahmslos Attribute,  deren  Bestimmtheit  und  Singularität  sie  charakterisiert. 
Doch  macht  auch  hierin  wieder  Loki  eine  Ausnahme. 

Die  Götter  werden  nur  in  lebendiger  Tätigkeit  (oder  deren  Vorbereitung: 
in  der  Ratsversammlung,  beim  Festmahl)  gesehen  5).  Diese  Tätigkeit  ist  wie 
bei  den  Menschen  vorzugsweise  eine  kriegerische  sei  es  im  Interesse  des 


J)  Vgl.  z.  B.  Gering,  Edda,  S.  362. 

2)  Vgl.  z.  B.  die  Einleitung  zu  Grim.,  Gering  S.  69. 

3)  Vielleicht  ist  ein  Nachhall  dieser  Anschauung  darin  zu  sehen,  daß  die 
ägyptischen  Zauberer  nicht  wie  Moses  als  Gottes  Vertreter  Mücken  schaffen 
können  (2.  Mos.  8,  14) ;  freilich  machen  sie  Schlangen  und  Frösche,  aber  das  sind 
Thiere,  die  am  Boden  haften,  gleichsam  nur  halb  lebendige  Geschöpfe.  —  Heine, 
Schöpfungslieder  (Werke  her.  v.  E 1  s  t  e  r  2,  252) : 

Und  der  Gott  sprach  zu  dem  Teufel: 
Ich  der  Herr  kopier'  mich  selber  .  .  .  . 
Nach  den  Menschen  mach  ich  Affen; 
Aber  du  kannst  gar  nichts  schaffen. 

4)  Siehe  o.  S.  38  f. 
)  Deshalb  sind  ihre  Namen  gern  partizipial.    Siehe  u. 


j7Q  Viertes  Kapitel. 

Götterstaates,  sei  es  einzelner  zu  ihnen  in  Beziehung  stehender  Menschen. 
Doch  sehen  wir  sie  auch  im  geistigen  Kampf,  in  heilbringender  Tätigkeit,  in 
Liebesabenteuern.  Ihr  Leben  gleicht  dem  der  Edelinge,  und  die  Schilderung 
des  Konr  ungr1)  umschreibt  im  wesentlichen  auch  ihre  Arbeit:  sie  zaubern 
mit  Runen  und  streiten  um  deren  Kunde2),  verstehen  die  Sprache  der 
Vögel,  stillen  Meer  und  Feuer,  heilen  Schmerzen,  ziehen  umher  (besonders 
Thor).  Wenn  Herman  Grimm  die  Olympier  mit  den  Aristokraten  des 
Anden  regime  verglichen  hat,  sind  die  Äsen  eher  mit  einem  patriarchalischen 
Landadel  zu  vergleichen.  Wie  die  Landedelleute  (und  überhaupt  die  freien 
alten  Germanen  des  Tacitus)  sind  sie  viel  in  beschaulicher  Ruhe;  nur 
Thor  ist  immer  geschäftig,  ist  wie  Uhlands  Schenk  von  Limburg  nie  zu 
Hause,  und  Loki  macht  sich  immer  zu  schaffen.  Der  moralische  Grundzug 
ist  viel  stärker  als  bei  den  Göttern  Homers  ausgeprägt;  wie  auf  Erden 
wurzelt  er  in  dem  Gedanken  der  Sippentreue,  der  freilich  so  wenig 
zwischen  Odin  und  Thor  wie  zwischen  Arminius  und  seiner  Sippe  Haß 
und  Anfeindung  ausschließt.  —  Die  Vorstellung  ihrer  »Heime«,  freilich 
gewiß  jünger,  ist  ganz  die  eines  adligen  Geschlechts,  das  über  ein  weites 
Gebiet  verstreut,  jeder  auf  seinem  eigenen  Hof  und  doch  alle  in  festem 
Zusammenhang,  auf  ererbtem  Boden  sitzt  und  seine  Untergebenen  regiert8). 

Diese  Geschlossenheit  des  Götterstaates  ist  ein  letztes  wichtiges 
Kriterium.  Man  gehört  eben  entweder  dazu  oder  nicht  —  den  einzigen 
unfaßbar  hin  und  her  schlüpfenden  Loki  ausgenommen.  Die  Götter  eint 
bei  schroffen  inneren  Gegensätzen  doch  ein  starkes  Stammgefühl  —  auch 
dies  wie  bei  einem  Adel  mit  lebhaften  Intrigen  innen  und  lebhafterem 
esprit  de  corps  nach  außen. 

Immerhin  werden  jene  Gegensätze  stark  gefühlt  und  »durch  die 
ganze  Eddamythologie  geht  das  Bestreben,  die  wichtigsten  Göttertypen 
zu  charakterisieren:  Thor  ist  durch  seine  Stärke  ausgezeichnet,  aber  ihm 
fehlt  Überlegung  und  Geistesgegenwart;  Odin  tritt  dem  gegenüber  als 
Gott  der  Klugheit  auf«  4).  Überall  hat  sich  aus  einer  Reihe  von  Göttern 
allmählich  ein  einigermaßen  geschlossenes  System  psychologischer  Typen 
gebildet:  der  Starke,  der  Schlaue,  der  Schnelle;  die  Liebende,  die  Kühle; 
der  Heitere,  der  Düstere  —  eine  Gruppe,  wie  Goethe  sie  in  den  Römischen 
Elegien  geschildert  —  eine  Truppe,  wie  er  in  »Wilhelm  Meister«  sie  als 
Abbild  der  menschlichen  Gesellschaft  angestellt  hat5). 


*)  Rig.  Str.  44  f.  '-')  Vaf.,  Alv. 

8)  Vgl.  u.  Kap.  VI:    Weltregierung«. 

4)  Olrik,  Danske  Studier  1908,  S.  135. 

B)  Im  finnischen  Epos  heißt  Lemminkäien  immer  »der  frohe,  der  muntere« 
(J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  90).  In  der  Edda  heißen  Ägir  (Hym  Str.  2)  und, 
sonderbar  genug,  Eggther  (Völ.  Str.  42)  »heiter«.  Vgl.  auch  u.  §.  32  »Charakte- 
ristik der  Götter«. 


§  16.    Die  Götter.  171 

In  ihrem  Verkehr  mit  den  Menschen  gebrauchen  sie  vor  allem  ihre 
physische  und  geistige  Überlegenheit;  daneben  aber  auch  wie  die  Menschen 
selbst  menschliche  Mittel:  Kampf,  Überredung,  List1),  Allianzen;  zauber- 
hafte Mittel2):  Runen,  Sprüche8).  Vorzugsweise  ist  der  Zauber  bei  ihnen 
auf  die  Belebung  gerichtet:  der  Wundereber  erneut  sich  selbst4), 
Andvaris  Ring  tropft  seinesgleichen 5),  das  Bier  trägt  sich  selbst  auf 6),  die 
Äcker  werden  einst  unbesät  tragen  7). 

Wie  unter  dem  Adel  sind  auch  hier  noch  Stufen  zu  unterscheiden 
und  der  engere  Kreis  des  Odin,  des  Thor,  des  Frey  dominiert  so  stark 
wie  die  Richelieu  und  Rohan  im  alten  Frankreich  oder  die  Mocenigo  und 
Morosini  im  alten  Venedig.  Wir  müssen  deshalb  hier  nochmals  Haupt- 
und  Nebengötter  scheiden,  obwohl  sich  die  Trennung  nicht  überall  sicher 
durchführen  läßt.  Die  Untergötter  stellen  wir,  wie  die  Vasallen  zu  ihren 
Feudalherren,  zu  ihren  Obergöttern. 

Es  bleibt  noch  einiges  zur  allgemeinen  Charakteristik  zu  be- 
merken 8). 

Der  vermenschlichte  Gottesbegriff  ist  gegenüber  dem  form- 
losen Geisterbegriff  ein  Fortschritt  wie  später  der  »reine«  Monotheismus 
gegenüber  dem  anthropomorphisierenden  Polytheismus.  Dieser  Gegen- 
satz zwischen  Göttern  und  bloßen  Dämonen  wird  von  den  Germanen 
stärker  empfunden  als  irgend  sonst9);  sei  es,  weil  bei  uns  die  Gestalt- 
losigkeit der  Geister  noch  weiter  hinter  menschenähnlicher  Form  zurück- 
bleibt als  bei  den  Hellenen  (aber  freilich  weniger  als  bei  Indern  und 
Römern),  sei  es,  weil  die  Germanen  immer  scharfe  Scheidung  der  Rang- 
stufen lieben,  im  staatlichen  und  gesellschaftlichen  Leben  wie  in  der 
Sprache  (Akzentgesetz!)  Diese  scharfe  Scheidung  zeigt  sich  vor  allem  in 
dem  letzten  Kampfe,  wo  die  beiden  »Ordnungsparteien«,  Götter  und 
Menschen,  in  bewußter  Solidarität  allein  zusammenstehen,  während  die 
Dämonen  teils  feindlich,  teils  neutral  sind  10).  Übrigens  gilt  es  den  Ger- 
manen  nicht,   wie  später   den  Hellenen,   als   »Sünde«,   dem  kämpfenden 


x)  Odinschwank;  Thrymskvida. 

2)  Vgl.  Ztsch.  f.  d.  Phil.  37,  323. 

3)  Merseburger  Spruch;  Häv. 

4)  Grim.  Str.  18. 

5)  Reg.  Str.  6. 

6)  Einleitung  zu  Lok. 

7)  Vol.  Str.  62;  anderes  von  märchenhaftem  Charakter  v.  d.  Leyen  S.  56 f. 

8)  Vgl.  Golther  S.  192f.,  Meyer  S.  283f.,  Mogk  S.  312f.,  Chanteprie 
S.  282f.,  W.  Müller  s.  o.    Vgl.  z.  B.  für  die  vedischen  Götter  Macdonell  S.  15. 

9)  Verhältnis  zu  den  Naturgeistern  Meyer  S.  283. 

10)  Dagegen  können  die  Olympier  den  Sieg  über  die  Giganten  nur  mit  Hilfe 
zweier  von  sterblichen  Müttern  geborenen  Helden,  Dionysos  und  Herakles,  ge- 
winnen; Preller  1,  73. 


172  Viertes  Kapitel. 

Gott  kämpfend  entgegenzutreten:  fas  est  belligerum  hello  prostemere 

divum  l). 

Es  gibt  kein  indogermanisches  Wort2)  für  »Gott«3);  doch  bringt 
Brugmann  gotisch  guth,  althochdeutsch  god ,  altnordisch  gud  mit  freög 
deus  zusammen4).  Andere  stellen  die  germanische  Benennung  wohl 
besser  zu  sanskritisch  ghü  anrufen  oder  der  Wurzel  hu  opfern.  Die 
Götter  als  die,  die  man  anruft  —  das  wäre  wohl  die  beste  Bezeichnung, 
weil  nur  sie  von  Staatswegen  angerufen  werden :  opfern  kann  jeder  einzelne 
jedem  Geist.  —  Das  Wort  hat  ein  sekundäres  »motiviertes«  Femininum, 
»Göttin«,  von  alter  Zeit  her  neben  sich. 

Spezifisch  germanisch  ist  sicher  das  vielumstrittene  Wort  Sing,  dss, 
Plur.  aesir,  angelsächsisch  Plur.  4se ,  als  gemeingermanisch  aber  auch 
durch  Eigennamen  mit  Ans-  hochdeutsch  (Ansgar),  Os-  niederdeutsch 
(Oskar),  As-  altnordisch  bezeugt.  Es  bezeichnet  jedenfalls  eine  spezielle 
Kategorie  von  Göttern,  die  von  den  gleichfalls  göttlichen  Wanen  (alt- 
nordisch vanir  zu  altsächsisch  wanami,  Tageshelle? ;  jedenfalls  bedeutet 
der  Name  »die  Hellen«,  »die  Glänzenden«)5)  scharf  geschieden  werden. 
Wir  haben  zwar  die  Nachricht,  daß  die  Goten  ihren  Adel  auf  die  »Halb- 
götter, die  sie  Äsen  nennen«  (semideos  id  est  ansis,  Jordanis)6)  zurück- 
führen, aber  diese  Benennung  ist  wohl  euhemeristisch  zu  verstehen:  alle 
alten  Hauptgötter  gehören  zu  den  Äsen.  Man  stellt  das  Wort  zu  sanskritisch 
dsu,  altpersisch  anhu,  » Lebensgeist '«  bez.  »Herr«1),  zu  gotisch  ansts, 
»Gnade«:  »die  Gnädigen«,  oder  auch  zu  gotisch  ans,  Balken,  Trag- 
balken —  sei  es,  daß  dabei  an  ein  wirkliches  Tragen  des  Himmels- 
gewölbes8) zu  denken  wäre  oder  an  den  Tragbalken  des  Tempels.  Aber 
die  Äsen  tragen  den  Himmel  nicht,  und  das  Wort  ist  wohl  älter  als  die 
festen  Tempelbauten  (und  überdies  waren  die  Götterbilder  nicht  an  den 
Tragbalken  angebracht). 

Andere  Bezeichnungen  sind  tivar,  die  Glänzenden /  regin,  rögn, 
die  Berater  (der  Senat  der  Welt),  band,  hapt,  Fesseln  —  was  etwa 
das  bedeuten  soll,  »was  die  Welt  im  Innersten  zusammenhält«,  und  somit 
der  metaphorischen  Bedeutung  von  ans  bedenklich  nahe  käme9).  Viel- 
leicht beziehen    sich    diese   Skaldenausdrücke   auch    auf    das   Fesseln    im 


1)  Saxo  her.  Holder  66,  23;  vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  457. 

2)  Golther  S.  195,  Meyer  S.  285;  vgl.  Mogk  S.  312f. 

3)  Vgl.  o.  S.  51  f.;  Mogk  a.  a.  O. 

4)  Vgl.  auch  Hench,  PBB.  21,  562. 
B)  Vgl.  Golther  S.  220  Anm. 

6)  Vgl.  ebd.  S.  194;  auch  S.  93  Anm. 

7)  Mogk  S.  313. 

8)  Wie  bei  Atlas,  Preller  1,  561. 

9)  Vgl.  Mogk  S.  312-13,  Meyer  S.  285,  Golther  S.  194 f. 


§  16.    Die  Götter.  173 

heiligen    Hain1).     Daneben   herrschen   allerlei   Ausdrücke,   die  von    ihrer 
Schicksalsmacht  entlehnt  sind  wie  metod  u.  dgl. 2). 

Die  Gestalt8)  ist  ausgesprochen  menschlich;  kraftvoll,  doch  ohne 
riesische  Formlosigkeit4).  Dennoch  stehen  sie  den  Riesen  und  Dämonen 
nicht  in  göttlicher  Schönheit  gegenüber  wie  auf  dem  Fries  von  Pergamon ; 
vielmehr  ist  ihre  Gestalt  öfters  entstellt:  »Wodan  hat  nur  ein  Auge,  Ziu 
eine  Hand,  Donar  zeichnet  sich  durch  eine  Schädelverletzung  aus5),  die 
Bewährung  von  Tapferkeit  und  Hingabe  wird  stärker  gewertet  als  die  Voll- 
kommenheit der  Erscheinung6),  das  Ethische  höher  als  das  Ästhetische7). 
Übrigens  sind  sie  in  Typen  abgestuft,  freilich  nicht  zu  einer  so  voll- 
kommen abgerundeten  Tonfolge  wie  die  Olympier8).  Aber  von  dem 
trotzigen  Bauernhelden  Thor  führt  doch  über  den  strengen  Heerkönig  Odin 
zu  dem  schönen  Jüngling  Frey  und  dem  strahlenden  Liebling  Balder 
eine  Stufenreihe  auch  des  ästhetischen  Empfindens;  und  zwar  ist  sie  wie  in 
aller  Mythologie  bei  den  Göttern  stärker  nuanciert  als  bei  den  Göttinnen  — 
bei  denen  selbst  in  Hellas  das  Urteil  des  Paris  die  Schwierigkeit  der 
ästhetischen  Wertbemessung  zeigt9). 

Die  Götter  besitzen  die  Fähigkeit  der  Verwandlung;  besonders  treten  sie 
in  menschlichen  Rollen  auf:  Odin  als  Kämpfer,  Bettler,  Ferge.  Der  eigent- 
liche Verwandlungskünstler  ist  aber  Loki.  Diese  Kunst  wird  humoristisch 
ausgebeutet  in  dem  alten  Mythus  der  Hamarsheimt.  —  Besonders  Loki 
nimmt  gern  auch  Tiergestalt  an,  mehr  in  märchenhaft  freier  Erfindung 
als  in  dämon  istisch  er  oder  animistischer  Symbolik.  Häufiger  aber  tritt  die 
Tiergestalt  komitativ  auf:  begleitende  Tiere  werden  zu  Attributen  (Odins 
Raben,  Thors  Ziegenbock,  Freys  Eber  usw.),  doch  sind  sie  zuweilen  auch 
von  anderen  Göttern  begleitet 10).  Noch  wichtiger  aber  als  Attribute  sind 
die  belebten  Gegenstände,   die  oft  an    ihre  (fetischistische)  Urgestalt   er- 


x)  Tac.  Germ.  cap.  39;  vgl.  u. 

2)  Siehe  o.  S.  54. 

3)  Meyer  S.  285,  Golther  S.  196. 

4)  Keine  Mehrhäuptigkeit  und  Mehrarmigkeit  (Meyer  S.  283),  wie  sie  doch 
bei  indischen  Gottheiten  die  Regel  ist;  hat  sich  doch  selbst  bei  den  Hellenen 
»das  Wesen,  an  dem  wir  die  Breite  der  Gottheit  lesen«  in  seiner  Vielbrüstigkeit 
erhalten. 

B)  Negelein  S.  16. 

6)  Übrigens  soll  es  auch  einen  Zeus  ohne  Ohren  gegeben  haben:  Preller 

1,  155. 

7)  Es  sind  typische  Verluste  in  der  heroischen  Sage;  vgl.  Heinzel,  Über 

die  Walthersage,  Wiener  Sitzgs.-Ber.  1888,  S.  86.    Asmond  lähmt  Haddings  Bein, 
Saxo  S.  27  Herr  mann  S.  331. 

8)  Goethes  elfte  Römische  Elegie. 

9)  Vgl.  allgemein  Golther  S.  197. 
10)  Meyer  S.  286. 


174  Viertes  Kapitel. 

jnnern:  der  Hammer  Thors,  Odins  Speer,  die  Äpfel  der  (jüngeren)  Idun. 
Die  Götter  als  die  höchsten  Erscheinungen  der  mytho- 
logischen Welt  haben  in  der  Regel  auch  die  längste  Vor- 
geschichte; daher  darf  man  sich  nicht  wundern,  bei  ihnen  zuweilen 
Atavismen  zu  treffen,  die  in  fernere  Epochen  zurückführen,  als  bei 
niedriger  stehenden  Geistern  vorkommt.  —  Zuweilen  dienen  die  Attribute 
auch  einem  theologischen  Zweck:  ein  Teil  der  göttlichen  Kraft  ist  in 
ihnen  deponiert,  Odins  Schnelligkeit  in  seinem  (ungestalten,  achtbeinigen) 
Roß  Sleipnir,  Thors  Stärke  in  seinem  Gürtel  und  Handschuh,  auch  Odins 
Weisheit  zum  Teil  in  Mimirs  Haupt1). 

Was  die  Erscheinungsform2)  der  Götter  betrifft,  so  gehen  sie 
unter  den  Menschen  zuweilen  »inkognito«  um,  besonders  Odin,  auch 
Heimdall-Rig.  Zumeist  aber  erscheinen  sie  »offiziell«;  ein  solches  Offenbar- 
werden bezeichnen  wir  als  »Epiphanie«  des  Gottes.  Sie  reiten  oder  gehen, 
nur  Thor  fährt.  Ein  besonderer  Glanz  geht  von  ihnen  nicht  (wie  oft  von 
griechischen  oder  indischen  Gottheiten)  aus;  dagegen  machen  sie  sich 
akustisch  bemerkbar,  und  die  Erde  erdröhnt  von  ihrem  Ritt  oder  ihrer 
Fahrt.  Niemals,  außer  im  letzten  Kampf,  treten  sie  in  größeren  Gruppen 
auf,  selten  (wie  in  der  Thrymskvida)  zu  zweit;  nur  über  die  Brücke  Bifröst 
reitet  Odin  mit  großem  —  aber  nicht  göttlichem  —  Gefolge  in  die  Toten- 
halle. Sie  können  wie  alle  Geister  auf  Anruf  erscheinen  oder  aus  eigenem 
Willen.  Wenn  sie  verkleidet  erscheinen,  verschwinden  sie  plötzlich,  ohne 
die  von  Lessing  im  Laokoon  erörterten  Hilfsmittel  des  Nebels  usw.  Wie 
Golther  bemerkt,  scheint  es  dafür  einen  gemeingermanischen  Terminus 
gegeben  zu  haben:  hverfa  altnordisch,  eine  kreisförmige  Bewegung 
machen,  sich  wenden. 

Ihr  Leben  ist  verschieden:  nur  zum  Teil  sind  sie  von  vornherein  da, 
zum  Teil  werden  sie  geboren  (wie  Zeus  und  viele  Gottheiten).  Aber  sie 
wachsen  nach  der  Geburt  schnell  und  überspringen  das  Knaben-  und 
Mädchenalter;  sobald  sie  die  dx/nrj  erreicht  haben,  bleiben  sie  in  ihr  stehen. 
Sie  schlafen  —  so  Thor  auf  seinen  Fahrten  — :  daß  Heimdali  fast  keinen 
Schlaf  braucht,  wird  besonders  hervorgehoben.  Sie  leiden  unter  wechselnden 
Stimmungen,  Zorn  (Thor),  Liebe  (Frey),  auch  Furcht  (Thor  in  Utgard) 
und  Besorgnis  (die  Äsen  bei  den  Anzeichen  des  Weltgerichts);  eigentliche 
Krankheiten  aber  schreibt  ihnen  wohl  erst  die  Zeit  des  Snorri  zu3).  Sie 
brauchen  Nahrung,  und  zwar  dieselbe  wie  die  Menschen:  Thor  verzehrt4) 
nicht  Ambrosia,   sondern  einen  Ochsen  und  acht  Lachse  nnd  trinkt  nicht 


*)  Vgl.  Meyer  a.  a.  O. 
2j  Golther  S.  198. 

3)  Vgl.  allgemein  J.  Grimm,  Mythologie  1,  275. 

4)  Thrymskv.  Str.  24. 


§  16.    Die  Götter.  175 

Nektar,  sondern  drei  Tonnen  Met;  und  bei  Ägirs  Gastmahl  trägt  das  Bier 
sich  selbst  auf.  Heimdali  trinkt  in  Behagen  vergnüglich  den  guten  Met l). 
Auch  die  Einherier  freuen  sich  an  dem  würzigen  Speck  des  unsterblichen 
Ebers2).  Hier  aber  wird  für  Odin  eine  Ausnahme  gemacht:  »doch  von 
Wein  allein  lebt  der  waffengeschmückte  Odin  alle  Zeit«  3)  —  was  schon 
unseren  Strachwitz  belustigte: 

Ihm  dient  zu  Speis'  und  Tranke 
Der  flüssige  Rubin  — 
Das  war  kein  schlechter  Gedanke, 
Du  alter  Herr  Odin! 

In  der  Tat  ist  das  wohl  ein  jüngerer  Zug,  ersonnen,  als  eine  theologisch 
angefärbte  Epoche  die  Majestät  des  Obergottes  glaubte  erhöhen  zu  müssen ; 
denn  in  dem  wunderbaren  Liede  von  der  Runenfindung4)  klagt  der 
Gott,  man  habe  ihm  weder  ein  Hörn  zum  Trinken  noch  Brot  zum  Essen 
gereicht5).  Und  es  wird  ihm  ja  sogar6)  nacherzählt,  er  habe  sich  be- 
trunken —  wie  Indra7)  —  und  doch  wohl  in  Bier8).  Wohl  scheinen 
diese  Schwanke  jünger,  aber  wenn  Odin  nur  Wein  tränke,  hätten  sie  auf 
ihn  so  wenig  erfunden  werden  können  wie  auf  Johannes  Baptista  —  es 
sei  denn  von  einem  ungeschickten  Aufschneider  wie  in  dem  Heriger- 
Schwank9).  —  Wenn  das  Härbardslied  10)  in  burlesker  Spottlust  Thor  Hafer- 
grütze und  Hering  essen  läßt,  ist  das  natürlich  kein  ernstes  Zeugnis. 

Indra  ist  vom  Opfertrank  berauscht,  und  auch  die  hellenischen  Götter 
sprechen  gern  von  der  Opfernahrung;  bei  den  altgermanischen  Göttern 
ist  davon  nicht  die  Rede. 

Ihr  Leben  dauert  viel  länger  als  das  der  Menschen,  ist  aber  nicht 
unbegrenzt ;  die  Verjüngungsäpfel  der  Idun  und  den  —  problematischen  — 
Verjüngungstrank  Odrerir11)  halten  wir  für  ganz  junge  Erfindungen.  Denn 
auch  die  Götter  stehen  unter  dem  Spruch  der  Nornen  und  müssen  ein- 
mal vergehen. 


*)  Grim.  Str.  13. 

2)  Grim.  Str.  18;  vgl.  Gering  S.  329. 

3)  Grim.  Str.  19. 

4)  Häv.  Str.  138  f. 

5)  Dies  bleibt  doch  wohl  die  natürlichste  Auffassung,  trotz  Heinzel-Detter 
Edda  2,  141;  der  Einwand:  »was  bedarf  ein  Gehängter  Speise  und  Trank?«  wird 
ja  schon  durch  die  Passionsgeschichte  beantwortet.  —  Nur  bildlich  heißt  es  Völ. 
Str.  38,  Odin  trinke  Met  aus  Mimirs  Quelle. 

6)  Häv.  Str.  14. 

7)  Rigveda  20,  119:  Geldner-Kaegi,  70  Lieder  des  Rigveda,  S.  81. 

8)  Häv.  Str.  11. 

9)  Müllenhoff  und  Scherer  Denkmäler  N.  XXV. 
10)  Str.  13. 

n)  Vgl.  Golther  S.  197. 


176  Viertes  Kapitel. 

Wohnung  haben  sie  im  Himmel  oder  auf  Bergen.  Zunächst  besitzen 
sie  auch  ein  gemeinschaftliches  Heim,  Asgard,  das  inmitten  der  Erde  steht 
wie  der  Olympos1);  vielleicht  dachte  man  es  sich  im  Norden,  wohin  die 
Nordleute  bei  Gebet  und  Opfer  schauten 2)  wie  die  Mohamedaner  gen 
Mekka.  —  Jünger  scheint  die  Verteilung  auf  »Heime«  —  das  »heilige 
Land«  der  Götter  wird8)  »eine  weite  mit  Burgen  besetzte  Landschaft  von 
durchaus  nicht  isländischem  oder  norwegischen,  sondern  altirischen  Stil«. 
Diese  Götterstadt  setzt  bereits  die  Zwölfzahl  der  Hauptgötter  voraus  und 
kann  schon  deshalb  erst  in  die  Periode  der  Systematisierung  fallen,  was 
das  höhere  Alter  eines  oder  des  anderen  »Heims«  nicht  ausschließt.  So 
hat  Heimdall,  der  Wächter  der  Götter,  wohl  früh  sein  eigenes  Heim  ge- 
habt; für  Thor  wird  es  wenigstens  durch  die  Alvfssmäl  vorausgesetzt. 
Die  Heime  sind  nach  dem  Muster  von  Tempeln  der  betreffenden  Götter 
stilisiert4).  —  Das  Luginsland  der  Götter,  Hlidskjälf,  wird  als  allgemein 
zugänglich  gedacht5),  es  ist  wohl  als  ein  Berg  in  Asgard  vorzustellen6). 
Eine  Obersicht  der  Heime  gehört  an  andere  Stelle7). 

Die  Zahl  ist  zunächst  unbestimmt8),  bis  sich  allmählich  (wohl  sicher 
nach  antikem  Vorbild)  die  Zwölfzahl  durchsetzt9).  Nach  den  Grimnismäl 
sind  es  neun  Götter  und  drei  Göttinnen:  Thor,  Ullr,  Frey,  Odin,  Balder, 
Heimdall,  Forseti,  Njörd,  Widar  —  Saga,  Freyja,  Skadi,  »wobei  nament- 
lich die  Abwesenheit  Tyrs  und  Friggs  auffällt,  wenn  diese  nicht  in 
der  Saga  verborgen  ist«  10).  Alt  dagegen  scheint  (wie  bei  den  Hellenen : 
Zeus,  Athena,  Apollon  bei  Homer11)  die  Dreizahl  der  »Schwurgötter«. 
Thor,  Odin,  Frey12),  wie  denn  auch  sonst  (wie  überall)  Triaden  be- 
gegnen. 

Ebenso  schwankt  die  Rangordnung13):  Tyr  ist  vom  Hochsitz  ver- 
drängt, Odin  und  Thor  kämpfen  um  den  Vorrang.  —  Rangzeichen 
der  Hauptgötter  ist  Macht  über  die  anderen;   doch  hat  in  der  parti- 


*)  Golther  S.  200. 

2)  Meyer  S.  292. 

3)  Ebd. 

4)  Ztsch.  f.  d.  Phil.  38,  174. 

5)  Einl.  zu  Grim,  zu  Skirn. 

6)  Vgl.  Gylf.  cap.  19;  bei  Gering  S.  304. 
')  Siehe  u.  §  27. 

8)  Meyer  S.  289,  Golther  S.  199. 

9)  Siehe  u.  §  33. 

10)  Meyer  S.  291.  Das  olympische  System  umfaßt  sechs  Götterpaare 
(Prell er  1,  119);  auch  bei  den  Indern  kommt  die  Zwölfzahl  als  Durchgang  von 
sechs  zur  Vielheit  vor  (Meyer  S.  291). 

»)  Preller  a.  a.  O. 

12)  Meyer  S.  290. 

n)  Golther  S.  199.      h 


§  16.    Die  Götter.  177 

kularistischen  Anschauung  der  Germanen  Odin  entfernt  nicht  die  Ober- 
macht des  Zeus  und  würde  keinen  Hephaistos  aus  dem  Olymp  entfernen 
können  —  von  der  goldenen  Kette  gar  nicht  erst  zu  reden.  Entsprechend 
ist  das  Rangzeichen  der  niederen  Götter  ihr  dienendes  Ver- 
hältnis zu  anderen:  »Skirnir  ist  Freyrs  Schutzknecht,  Fulla  der  Frigg 
Kammermagd«  *).  Oft  sind  das  aber  .nur  frühere  Gestalten  der  Haupt- 
götter. 

Die  Gemütsart  der  Götter  wird  von  Meyer2)  und  Golther3)  gut 
charakterisiert.  Es  sind  freundliche  Aristokraten,  weise,  aber  nicht  über- 
weise; in  ihren  Gemütsäußerungen  durchaus  menschlich:  Thor  lacht  und 
zürnt  und  hat  Gesten  des  Unwillens  wie  die  irischen  Helden4);  Frey 
sehnt  sich5)  wie  ein  verliebter  Jüngling;  Odin  und  Frigg  zanken  und 
intrigieren  gegeneinander6).  Überhaupt  sind  die  im  Himmel  geschlossenen 
Ehen  bei  den  Germanen  so  oft  unglücklich  wie  bei  den  Hellenen  (Zeus 
und  Hera,  Aphrodite  und  Hephaistos),  was  freilich  bei  der  aus  Staats- 
räson (wie  am  Ende  der  Kudrun-  und  sonst  in  der  Heldendichtung) 
bewirkten  Verbindung  des  Wanen  Njörd  mit  der  (finnischen?)  Riesen- 
tochter Skadi 7)  nicht  befremden  kann.  —  Freundschaftsverhältnisse  mit 
Menschen  bringen  es  nicht  (wie  bei  Apollon  und  Admet)  zu  hohen 
Jahren 8). 

Das  Verhältnis  der  Menschen  zu  den  Göttern  darf  man  sich  nicht 
zu  romantisch  vorstellen.  Praktische  Rücksichten  und  offizielles  Pflicht- 
gefühl haben  gewiß  hier  schon  ihren  Anteil  an  Kult  und  Gebet.  Enthusiasmus 
scheinen  nur  Odin  und  Thor,  vereinzelt  auch  persönliche  Patrone  wie  die 
Thorgerd  erweckt  zu  haben.  Dagegen  ist  ein  gemütlich-despektierliches 
Verhältnis  wie  in  den  Scherzlegenden  des  Mittelalters,  wo  St.  Petrus  den 
Thor  beerbt,  nicht  selten;  mögen  auch  Hymiskvida,  Härbardsljöd, 
Lokasenna  verhältnismäßig  jung  sein  —  sie  waren  doch  wohl  schon 
in  heidnischer  Zeit  möglich  (was  von  der  Geschichte  von  Utgard  schwer- 
lich gilt).  In  der  Thrymskvida  (und  auch  den  Alvfssmäl)  mischt  sich 
diese  heitere  Vertraulichkeit  echtgermanisch  mit  schöner  Freude  an  der 
hohen  Göttergestalt,  etwa  wie  bei  den  Anekdoten  von  Friedrich  dem 
Großen 9). 


')  Golther  S.  199. 

2)  S.  287. 

3)  S.  197. 

4)  Olrik,  Nordisches  Leben,  S.  81.  139. 

5)  Skirn. 

6)  Sage  vom  Ursprung  des  Langobardennamens ;  Grim. 

7)  Gylfag.  cap.  23;  bes.  Gering  S.  317. 

8)  Vgl.  Grimnismäl ;  Völsungensage. 

9)  Vgl.  meine  »Deutsche  Charaktere«  S.  25 f.. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  12 


♦ 


17$  Viertes  Kapitel. 

§  17.    Hauptgötter. 

Wir  versuchen  die  Hauptgötter  in  historischer  Folge  vorzuführen  J). 
Von  den  Indogermanen  stammt  der  Himmelsgott  *Tiwaz;  anderen 
germanischen  Göttern  kann  indogermanischer  Ursprung  nur  insofern  zu- 
geschrieben werden,  als  sie  aus  Fetischen  oder  Geistern  der  ältesten 
Periode  hervorgegangen  sein  können. 

Sicher  gemeingermanisch  sind  außer  Tiwaz-Tyr  noch  Wodan, 
Thonar,  Frigg;  wahrscheinlich  ist  es  auch  Balder,  für  den  jedoch  auch 
rein  nordischer  Ursprung  behauptet  wird. 

Nur  einem  Teil  der  Germanen  außerhalb  des  Nordens  scheinen  die 
Wanen  gehört  zu  haben,  die  dann  nach  Skandinavien  kommen. 

Endlich  spezifisch  westgermanisch  sind  die  (vermutlich  vom  römischen 
Kult  beeinflußten)  Gottheiten  der  Grenzgebiete  (besonders  die  »Matronen«); 
spezifisch  nordisch  eine  ganze  Reihe  von  Gottheiten  der  Edda,  die  zum 
Teil  sogar  auf  noch  engere  Gebiete  beschränkt  scheinen. 

Es  versteht  sich,  daß  diese  Angaben  »nur  bis  auf  Widerruf«  giltig 
sind:  so  könnte  eines  Tags  etwa  Frey  oder  Heimdali  auf  westgermanischem 
Boden  nachgewiesen  werden.  Doch  scheint  dies  bei  einigen  Gottheiten 
fast  undenkbar;  besonders  bei  den  von  finnischem  Einfluß  nicht  freien 
wie  Skädi. 

Tyr2). 

Urgermanisch  *Tiuz.     Fest  steht   zweierlei:    der  germanische  *Tiuz 
ist   identisch    mit  dem   indischen   Djaus,   griechischen   Ztvg,   lateinischen 
Ju-piter.    Allerdings  ist  auch  dies  angefochten  worden:  Bremer3)  setzt  als 
germanische  Urform  *Tiwaz  =  lateinisch  divus,  indisch  diva  »Gott«,  was  I 
Koegel4)  mit  gutem  Grunde  zurückweist5).    Dies  ist  der  indogermanische,] 
Gott  des  Himmels,  vor  allem  des  hellen  Tageshimmels.    Ferner  steht  fest,  j| 
daß    bei    den    Germanen    der   entsprechende   Gott   zum    Kriegsgott   (alt-  \ 
nordisch  Tyr)  geworden  ist.    Schon  Tacitus  hat 6)  die  Dreiheit  Mercurius,  I 
Mars,  Herkules,  die  kaum  anders  als  auf  Wodan,  Tyr,  Thor  gedeutet  werden 
kann.    Hierzu  stimmen  auch  alle  Zeugnisse  aufs  beste;  so  auch  besonders, 
daß   der  dies  Martis  (französisch  Mardi)  von  den  Germanen  dem  Tiu, 
althochdeutsch  Zio,  geweiht  wurde:  Ziestag,  später  Dienstag7). 

*)  Vgl.  Mogk  S.  312  u.  s.  u.  Kap.  VII. 

2)  Hoffory,  Eddastudien,  S.  144 f.;  Golther  S.  200f.;  Meyer  S.  338 f.; 
Mogk  S.  313 f.;  R.  Much,  Der  germ.  Himmelsgott:  Abhandlungen  zur  Germ. 
Phil.,  Halle  1898,  S.  189f. 

2)  Idg.  Forsch.  3,  301  f. 

8)  Gesch.  d.  d.  Lit.  I,  14. 

*)  Ebs.  Meyer  a.  a.  O.;  Much  S.  190;  vgl.  Golther  S.  200  Anm. 

5)  Germ.  cap.  9. 

«)  Vgl.  Deutsches  Wörterbuch  2,  1119,  Andresen,  Ztsch.  f.  d.  Alt.  30,  415, 
Golther  a.  a.  O. 


§  17.    Hauptgötter.  179 

Wie  vollzog  sich  diese  keineswegs  ohne  weiteres  verständliche  Ver- 
änderung? Es  ist  damit  nicht  getan,  daß  man  auf  den  besonders  kriegerischen 
Sinn  der  Germanen  hinweist.  Denn  davon  abgesehen,  daß  die  Römer 
und  die  Perser  eben  auch  keine  Friedensvölker  waren,  erscheint  doch  als 
die  einfachste  Art,  solchen  Sinn  mythologisch  zu  betätigen,  die,  daß  man 
den  Kriegsgott  zum  Hauptgott  macht  (wie  es  Mars  in  gewissem  Sinne  in 
Rom  war1).  Weshalb  aber  dem  Himmelsgott  diese  Funktion  geben? 
Und  entspricht  es  wirklich  dem  »besonders  kriegerischen  Sinn"  der  alten 
Germanen,  daß  dieser  Gott  dann  vielfach  (nicht  überall,  z.  B.  nicht  bei 
den  Sueben)  hinter  einem  anderen  zurücktritt? 

Konstruktionen  sind  natürlich  überall  möglich,  wenn  man  Götter- 
gestalten so  gewaltsam  etymologisieren  darf,  wie  ihre  Namen  es  gewohnt 
sind2).  Versuchen  wir  statt  dessen  die  historische  Entwicklung  zu  lesen 
und  zu  deuten. 

Der  indogermanische  Himmelsgott  ist  überall  zugleich  Gewitter- 
gott,  gekennzeichnet  mit  dem  Attribut  des  Blitzes  oder  Donnerkeils,  der 
als  Versteinerung  des  Blitzes  gilt3).  Was  ist  also  genau  genommen  seine 
Funktion  ?  Wie  kommt  es,  daß  er  sich  überall  zum  »Vater«  und  weisen 
Hauptgott  ausgebildet  hat?  Ich  muß  gestehen,  daß  ich  an  einen  primären 
Himmelsgott  (wie  man  ihn  allgemein  vorauszusetzen  scheint)  nicht  zu 
glauben  vermag.  Der  »Himmel«  bewegt  sich  nicht,  oder  doch  nicht  für 
einfache  Wahrnehmung;  er  kommt  mit  den  Menschen  nicht  in  Berührung; 
er  ist  dem  naiven  Menschen  durchaus  uninteressant.  Aber  aus  ihm! heraus 
wirken  göttliche  Wesen,  die  den  Menschen  sehr  nahe  angehen:  Wolken- 
geister, Gewitterdämonen,  vielleicht  auch  Herren  der  wichtigeren  Gestirne 
Wie  aus  den  Wald-  oder  Wassergeistern,  so  bildet  sich  (glaube  ich)  auch 
lier  ein  »König«,  ein  »Vater«  (was,  wie  schon  bemerkt,  weniger  ein 
moralisch-sentimentaler  Ausdruck  ist  als  ein  rein  genealogischer:  er  trägt 
die  anderen  in  seinem  Schoß)  —  und  dieser  Herrscher  über  den 
Himmel  ist  Zeus,  der  Strahlende. 

Man  wird  einwenden,  erstens  sei  das  ja  selbst  »Konstruktion«,  und 
zweitens  käme  es  etwa  auf  die  übliche  Meinung  heraus.  Das  letztere  ist 
schließlich  richtig:  schon  für  die  proethnische  Periode  der  Indogermanen 
war  dieser  Gott  der  »Himmelsgott«;  nur  glaube  ich,  daß  er  das  nicht 
von  vornherein  war,  sondern  erst  wurde:  daß  auch  er  animistischen 
Ursprungs  ist.  —  Und  soweit  das  Konstruktion  ist,  stellt  es  sich  wenigstens 
in    eine   Reihe    gut   bezeugter   Analogien.     Im    übrigen    leugne    ich   das 


x)  Vgl.  Wissowa  S.  129f. 

2)  Vgl.    meinen    Aufsatz   »Die   Deutung   von    Göttergestalten«,    Internat 
Wochenschrift  3,  1581  f. 

3)  Vgl.  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  2,  30 f. 

12* 


130  Viertes  Kapitel. 

Hypothetische  meiner  Annahme  nicht,  die  auch  für  das  Folgende  nicht 
absolut  nötig  ist. 

Der  »Himmelsgott«  steigt  zur  Erde  herab  im  Blitz  (Zeus  Keraunos)1). 
Seine  Spur  ist  der  Donnerkeil,  der  deshalb  heilig  ist:  in  der  uralten 
römischen  Kapelle  des  Juppiter  feretrius  steht  der  heilige  Feuerstein  (silex) 
als  Abbild  des  Donnerkeils  (weil  er  Feuer  in  sich  hegt  wie  der  Blitz)  in 
göttlicher  Verehrung:  daher  Juppiter  Lapis2).  Auch  bei  den  Griechen 
wird  der  Blitz  selbständig  verehrt  als  »das  stärkste  göttliche  Wesen  neben 
Zeus«3).  Zeus,  der  Gewittergott,  ist  also  selbst  nichts  anderes  als  die 
Kollektivierung  der  einzelnen  Blitz-Gelegenheitsgötter.  Wir  fassen  demnach 
den  indogermanischen  Zeus-Jupiter-Tiu  als  den  himmlischen  (strahlenden) 
Herrn  über  die  Himmelsgeister  auf  —  womit  seine  Weiterentwicklung 
ganz  anders  verständlich  wird,  als  wenn  er  ein  Naturgeist  wäre. 

Urgermanisch  steht  er  in  höchster  Verehrung  nach  Tacitus.  Undenkbar 
wäre  es  nicht,  daß  er  auch  mit  Sol  bei  Caesar4)  gemeint  wäre:  Sol  als 
Herr  des  hellen  Tageshimmels,  Luna  als  Herrin  des  dunklen  Nacht- 
himmels5) und  zu  ihnen  vermittelnd  der  Feuergott.  (Man  könnte  aber  auch 
in  Vulcanus  den  Thor  —  um  des  Hammers  willen  —  sehen.).  Aber  Tyr  ge- 
nießt diese  Verehrung  bei  uns  von  Anfang  an  —  als  Kriegsgott.  Wie  die 
Römer  umschreiben  ihn  die  Germanen  auf  ihren  Opfersteinen0):  Mars 
Halamardus,  dem  ein  germanischer  Centurio  der  29.  Legion  unter  Claudius 
einen  Stein  widmet,  ist7)  »der  männerfällende  Tiwaz« ;  auf  römischen 
Votivsteinen  im  germanischen  Gebiet  steht  er  fast  durchaus  an  erster 
Stelle8),  aber  nur  als  Mars.  Als  Mars  beweist  ihn  jene  Benennung  des 
Dienstag 9)  oder  Ziestag,  bayrisch  Ertag  (zu  Er,  Ear  sächsisch-bayrisch 
==  arya,  »zugetan«?)10).  Noch  im  späten  Mittelalter  übersetzt  ein 
Isländer  in  templo  Martis  mit  i  Tys  hofi,  im  Tempel  des  Tyr11).  Es 
ist  also  nicht  daran  zu  zweifeln,  daß  Tyr  Kriegsgott  war,  ausschließlich 
Kriegsgott:  nichts  deutet  mehr  auf  seine  Funktion  als  Himmelsgott  (es  sei 
denn  etwa  jene  interpretatio  Romana  Caesars  als  Sol,  die  ich  nicht  für 
wahrscheinlich  halte). 

Aber  auch  das  steht  fest,  daß  bei  den  Germanen  der  ältesten  Zeit 
Tyr   noch   der  Hauptgott   war:  praecipuus   deorum  Mars12);   bei    den 

*)  Vgt.  Usener,  Keraunos,  Rheinisches  Museum  LX,  S.  9. 

2)  Wissowa  S.  103. 

3)  Vgl.  Usener  S.  2.  *)  B.  Gall.  6,  2. 

5)  Vgl.  die  Anrufung  Sgdr.  Str.  3. 

6)  Mogk  S.  317. 

7)  v.  Grienberger,  Ztsch.  f.  d.  Alt.  37,  389. 

8)  Zangemeister,  Neue  Heideb.  Jbb.  5,  46f.;  Meyer  S.  343. 

9)  Meyer  S.  339,  Golther  S.  206,  bes.  S.  201  Anm. 
10)  Mogk  S.  316.  ")  Mogk  S.  314. 

12)  Tac.  Ann.  4,  64. 


§   17.    Hauptgötter.  181 

Skandinaviern  war  ebenso1)  'AQrjg  S-eog  ^uyiozog2).  Noch  in  einem  Liede 
zur  Erinnerung  an  die  Schlacht  bei  Flodden  (1513)  soll  ein  Lied  mit  dem 
Kehrreim  »Tyr  habe  uns,  Tyr  und  Odin!«  gesungen  worden  sein,  so  daß 
er  noch  hier  durch  Stellung  und  Doppelnennung  vor  Odin  rangieren 
würde3);  dies  Zeugnis  ist  freilich  schon  deshalb  bedenklich,  weil  es  von 
dem  Phantasten  Stephens  stammt. 

Wir  haben  also  nun  drei  Stufen  festgestellt:  1.  Tyr  Haupt-  und 
Himmelsgott;  2.  Tyr  Haupt-  und  Kriegsgott;  3.  Tyr  Neben-  und 
Kriegsgott4). 

Ich  gehe  von  der  letzten  Tatsache  aus:  von  der  Entthronung  Tyrs 
durch  Odin.  Wir  haben  für  sie  eine  Parallele  an  der  Verdrängung  Thors 
aus  dem  Hochsitz  durch  Odin,  die  zu  eigentlichen  (vielleicht  unblutigen?) 
Religionskämpfen  geführt  hat5).  An  einen  solchen  Kampf  zwischen  Tyr- 
und  Odinverehrern  muß  man  denken ;  und  tut  man  das,  so  erhalten  zwei 
Volksnamen  neue  Bedeutung.  Zwar  daß  die  Benennung  der  Suäpa  als 
Ziuleute  alt  ist,  wird6)  mit  beachtenswerten  Gründen  angezweifelt;  aber 
es  wird  durch  ein  Gegenstück  gestützt:  durch  die  Benennung  der  Sachsen. 
Daß  diese  von  ihren  Dolchschwertern  benannt  sind,  steht  fest  und  ward 
noch  lange  gefühlt,  so  daß  sich  Sagen  daraus  bildeten7).  Fest  steht  aber 
auch  der  Zusammenhang  dieses  Volksnamens  mit  dem  des  Gottes  Saxnöt 
und  weiter  dessen  Identität  mit  Tyr8).  Nur  ist  die  Art  des  Zusammen- 
hangs fraglich :  nennt  sich  das  Volk  nach  dem  Schwert  des  Gottes 9)  oder 
heißt  er  nach  seinem  Volk10)?  Ich  glaube:  beides  fällt  zusammen.  Nach 
einem  heiligen  Schwert,  wie  es  uns  mehrfach  bezeugt  ist11),  hieß  der 
Gott  »Schwertgenoß«;  nach  diesem  Fetisch,  der  gleichsam  der  Abgott 
ihrer  Stammwaffe  war,  nannte  sich  das  Volk:  die  Genossen  des  heiligen 
Schwertes.  Man  wählt  in  dieser  Zeit  keine  Namen  nach  interessanten 
folkloristischen  Eigenarten,  und  um  zum  Spitznamen  zu  dienen  (wie  die 
Hosen  der  Gallia  braccata)  war  die  Waffe  zu  ernst.  Es  ist  ein  Heilig- 
tum wie  das  kreuztragende  Schwert  der  mittelalterlichen  Schwertbrüder. 
Ziuwäri  und  Saxones  sind  Völker,  die  zu  Tyr  gegen  Odin  stehen. 


*)  Nach  Procop.  2)  Mogk  S.  314. 

3)  Golther  S.  214. 

4)  Solche  Verschiebungen  sind  nichts  Außergewöhnliches.  Dyaus  scheint 
auch  bei  den  Indern  durch  Indra  verdrängt  (Macdon eil  S.  66)  oder  dieser  hat 
Varuna  beiseite  geschoben  (S.  65). 

5)  Härb.;  vgl.  u. 

«)  Golther  S.  205;  vgl.  Mogk  S.  314. 
7)  Much,  Ztsch.  f.  d.  Wortforschung  1,  326. 
«)  Vgl.  z.  B.  Golther  S.  213. 
9)  Mogk  S.  317;  vgl.  Meyer  S.  344. 
10)  Golther  S.  214. 
n)  Mogk  S.  317;  vgl.  o.  S.  72. 


132  Viertes  Kapitel. 

Gegen  Odin?  Allerdings;  denn  auch  nach  seiner  heiligen  Waffe 
nennt  sich  ein  Volk:  die  Langobarden,  das  Volk  der  Streitaxt.  Barden, 
nicht  Langobarden  ist  der  echte  alte  Name x),  und  von  der  althochdeutschen 
barta,  der  Hellebarde,  ist  er  abzuleiten2).  Die  Sage  von  den  »Langen 
Barten«  also  ist  erst  aus  dem  späteren  Namen  herausgesponnen  — gerade 
wie  jene  Legende  von  den  verräterischen  Dolchen  der  Sachsen3);  und 
konnte  man  diese  alte  Anekdote4)  je  für  etwas  anderes  halten  als  für 
eine  etymologische  Legende5)? 

Damals,  als  Sachsen  und  Langobarden  Nachbarn  waren,  vor  dem 
5.  Jahrhundert,  da  muß  zwischen  ihnen  der  religiöse  Gegensatz  bestanden 
haben,  der  sie  veranlaßte,  sich  nach  ihren  Göttern  zu  nennen :  hie  Schwert- 
diener —  hie  Lanzknechte!  ein  Bekenntnis,  das  in  dem  Namen  der 
Ziuwäri  ein  Echo  fand.  Odin  erhob  sich  gegen  Tyrs  Vorherrschaft,  das 
tatkräftige  junge  Langobarden volk  leistete  ihm  Gefolgschaft.  Denn  —  er 
hatte  ihm  eine  neue,  furchtbare  Waffe  geschenkt6).  Schon  die  alten 
Germanen  besaßen  einen  Spieß,  die  »framea« :  zu  fr  am,  vorwärts; 
der  Name  soll  einen  Spieß  mit  kurzem  und  schmalem,  aber  sehr  scharfem 
Eisen  bezeichnet  haben,  der  zum  Nah-  und  Fernkampf  tauglich  war.  Wie 
sich  davon  der  »ger«  unterscheidet,  ist  unbekannt;  das  Wort  ist  auch 
gallisch,  gaesum,  also  vielleicht  von  dort  entlehnt«  7).  Dies  ist  die  Auf- 
fassung auch  von  Schrader8),  der  aber  gleichzeitig  das  Wesen  des  Gers 
erklärt:  es  ist  der  eiserne  Speer,  der  von  den  Kelten  kommt. 


*)  Bremer  in  Pauls  Grundriß  1,  949. 

2)  Vgl.  z.  B.  C.  Meyer,  Sprache  der  Langobarden,  S.  294;  anders  Brückner, 
Sprache  der  Langobarden,  S.  276. 

3)  Much  a.  a.  O.  4)  z.  B.  bei  Golther  S.  299. 

5)  So  Müllenhoff,  D.  A.  4,  462,  gegen  J.  Grimm,  Myth.  S.  112. 

6)  An  sich,  als  Jagdspeer,  leichte  Lanze,  ist  die  Waffe  ja  schon  uralt,  wie 
die  ältesten  Felszeichnungen  zeigen.  —  Ob  nicht  auch  bei  Apollon  seine  Fern- 
waffe, der  Pfeil,  eine  ähnliche  Bedeutung  hat?  Pfeil  und  Bogen  sind  (neben  der 
Phorminx)  seine  gewöhnlichen  Symbole  (Prell er  1,  289),  und  schon  an  dem 
ungeformten  Fetischpfeiler  sind  Bogen  und  Lanze  angebracht  (S.  244).  Er  ver- 
jagt, als  Lykios,  den  Wolf  von  der  Herde  (S.  253),  der  dann  auch  sein  heiliges 
Tier  wird  (S.  292);  oder  ward  er  es,  wie  bei  Odin,  als  der  Waffengott  Todes- 
gott geworden  war?  (S.  274).  Mit  den  Pfeilen,  den  ersten,  die  der  Neugeborene 
erhält  (S.  237),  erlegt  er  den  Drachen  (S.  239)  —  gewiß  eine  bedeutungsvolle 
Sage!    Die  Deutung  auf  den  Lichtgott  (S.  230)  könnte  sekundär  sein  (»Strahlen«  — 

Pfeile«  noch  mittelhochdeutsch),  und  denkt  man  an  die  berühmten  Verse,  wie 
die  Pfeile  von  des  Zürnenden  Schulter  abschwirrten,  so  möchte  man  fast  die 
Vermutung  wagen,  auch  die  Leier  des  Gottes  sei  ursprünglich  nur  der  Bogen 
mit  aufgesetztem  Pfeil  gewesen;  ist  doch  so  nach  der  Annahme  der  Ethnologen 
das  Saiteninstrument  überhaupt  entstanden  (vgl.  z.  B.  Stumpf ,  Internat.  Wochen- 
schrift 3,  1607). 

7)  H.  Fischer,  Deutsche  Altertumskunde,  S.  124. 

8)  Reallexikon  2,  787. 


§  17.    Hauptgötter.  183 

Dies  ist  eine  typische  Erscheinung.  Die  Verbesserung  der  Wurf- 
waffen hat  für  die  alte  Kriegskunst  die  Bedeutung  wie  die  der  Kanonen 
für  die  moderne.  Kaum  ist  das  Eisen  eingeführt,  so  werden  schleunigst 
die  alten  Bronzeformen  in  Eisen  nachgeahmt1).  Neben  die  spezifisch 
germanische  framea 2)  stellt  sich  das  keltische  gaesum.  In  der  Zeit  der 
Merowinger  und  Karolinger  verdrängt  der  Spieß  die  alte  Framea  völlig3), 
»ohne  Zweifel,  weil  die  alte  dürftige  Waffe  .  .  .  allmählich  durch  eine 
bessere  von  vollkommenerer  Technik  verdrängt  wurde« 4).  Denn  die 
Wurfwaffe  entscheidet  den  Krieg5).  Die  älteste  Waffe  aber,  mit  der  man 
hauen  und  werfen  konnte,  war  die  Streitaxt,  die  Barte 6) ;  später  erst  (als 
»Hellebarte«)  ward  sie  durch  einen  langen  Stil  zur  reinen  Stoßwaffe  um- 
gestaltet. 

Nun  ist  Odin  so  unzweifelhaft  der  Gott  des  Speers  wie  Tyr  der  des 
Schwertes.  Tyrs  Rune  ^  tir  ist  gewiß  anfänglich  das  Zeichen  des 
Schwertes,  später  erst  als  Pfeil  gedeutet;  denn  das  Schwert  ist  sein 
Symbol 7),  nicht  der  Pfeil.  Odins  Opfer  wird  mit  der  Lanze  durchbohrt ; 
den  Schaft  schleudert  er,  um  den  Krieg  zu  eröffnen8).  Ist  es  zuviel  ver- 
mutet, wenn  man  sagt:  der  Sieg  Odins  über  Tyr  ward  durch  den  Sieg 
der  Lanze  über  das  Schwert  entschieden?  Die  ritterlichen  Sachsen  mochten 
sich  als  Schwertgenossen  trotzig  zusammentun  wie  die  Polen  vom  vierten 
Regiment  — 

In  Warschau  schwuren  Tausend  auf  den  Knien; 
Kein  Schuß  im  heil'gen  Kampfe  sei  getan, 
Tambour  schlag  an!  zum  Blachfeld  laß  uns  ziehn, 
Wir  greifen  nur  mit  Bajonetten  an!  — 

die  Lanzentaktik  der  Langobarden  war  mächtiger.  Ihnen  hatte  der  Sturm- 
gott die  Waffe  des  Fernkampfes  beschert,  die  sie  (vermuten  wir)  erst  ein- 
fach weiter  als  »Streitaxt«  bezeichneten,  wie  sie  ältere  Form  nachbildete; 
dann  als  »lange  Streitaxt«  —  »Eisen  am  Spaten«  möchte  Schrader9)  die 
framea  übersetzen.     Und  nun  hießen  die  Barden  Langobarden  .  .  . 

Odin  als  Herr  der  framea,  der  Sturmgott,  hatte  über  Tyr  als  Herr 
des  sähs,  den  Gott  des  hellen  Himmels,  gesiegt,  weil  Tyr  sich  nicht  des 


x)  K.  Forr er,  Urgeschichte  des  Europäers,  Stuttgart,  o.  J.,  S.  505. 

2)  Müllenhoff,  S.  Alt.  4,  623.      . 

3)  Alwin  Schultz  in  Pauls  Grundriß.  1,  124. 

4)  Müllenhoff,  D.  Alt.  4,  629. 

5)  »»Es  scheint,  daß  jede  Waffe,  deren  Gewicht  und  Form  nur  einigermaßen 
dazu  einlud,  auch  bald  als  Wurfwaffe  gebraucht  und  dann  entsprechend  um- 
gestaltet worden  ist«:  Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur,  S.  337. 

6)  D.  Wb.  1,  1144. 

7)  Mogk  S.  317. 

8)  Vol.  Str.  24;  vgl.  u. 

9)  a.  a.  O. 


134  Viertes  Kapitel. 

Wurfspeers  zu  bemächtigen  wußte  wie  Mars *) :  sobald  eine  wahre  Kriegs- 
kunst entwickelt  ist,  muß  der  Kriegsgott  die  Lanze  führen  wie  Ares2). 
Tyr  aber  blieb  beim  Schwert;  mit  ihm  verharrten  primitive  Völker  beim  Kult 
des  Schwertes :  die  Hunnen  Attilas,  die  Quaden  3) ;  und  so  unterlag  er  dem 
Wodan,  wie  die  römischen  und  germanischen  Götter  bei  der  Mulvischen 
Brücke  und  bei  Tolbiacum  dem  Christengott4). 

Mag  aber  selbst  unsere  artilleristische  Hypothese  sich  nicht  be- 
haupten —  die  Grundzüge  der  Geschichte  Tyrs  glauben  wir  festgelegt 
zu  haben.  Der  indogermanische  Himmelsgott  wird  überall  zum  Gott 
auch  des  Blitzes;  und  der  Gott  des  Blitzes  wird  überall  zum  Siegesgott, 
d.  h.  zum  Entscheider  der  Schlacht,  die  immer  noch  von  anderen  Göttern 
(Ares  unter  Zeus !  Athene  neben  Ares !)  geleitet  werden  mag.  Dem  Sieges- 
gott werden  bei  den  Germanen  die  Schwertfetische  geheiligt:  das  Schwert 
ist  ein  kurzes  Dolchmesser,  kann  zwar  geworfen  werden5),  ist  aber  doch 
eine  ausgesprochene  Nahwaffe.  Die  Kerntruppe  seiner  Verehrer  bilden 
die  süddeutschen,  herminonischen  Völker;  darunter  die  aus  den  Semnonen 
erwachsenen  Schwaben 6).  —  Aber  am  Unterrhein,  wohl  unter  römischem 
Einfluß,  kommt  ein  neuer  Kriegsgott  auf.  Die  Istväonen  7)  verehren  den 
Wodan  am  innigsten  —  einen  alten  Sturmdämon,  der  als  solcher  zum 
Schutzherrn  des  Fernkampfes,  der  neuen  Lanzentaktik  geworden  war.  Aber 
nun  greift  der  religiöse  Gegensatz  über  die  Stammesgrenzen.  Die  Lango- 
barden nennen  sich  nach  der  Barte  und  stehen  zu  Langbardr8)  wie  die 
Sachsen  zu  Saxnöt,  wenn  auch  freilich  Langbardr9)  nur  der  »Langbart« 
sein  kann.  Jedenfalls  der  Kampf  entscheidet  gegen  Tyr :  Odin  wird  Haupt- 
gott, Tyr  ihm  untergeordnet  als  Kriegsgott  wie  Ares  dem  Zeus. 

Der  altgermanische  Tyr  also  ist  ungeordneter  Kriegsgott.  Der  Haupt- 
sitz  seiner  Verehrung   ist  bei  den  Semnonen10;   wenigstens  nimmt 

*)  Wissowa  S.  131. 

2)  S.  337. 

3)  Ammian.  Marceil.  17,  17;  vgl.  Mogk  S.  317. 

4)  Ist  es  doch  dem  alten  Kriegsgott  Thersites  (vgl.  z.  B.  Gercke.  Deutsche 
Rundschau,  Juni  1909,  S.  358)  bei  den  Hellenen  noch  ärger  gegangen  —  er  ward 
eine  Spottfigur,  ärger  als  Thor  in  dem  Lied  der  Odinspropaganda  (Härb.). 
Sein  Nachbar  Achilleus  (Usener,  Stoff  des  Griechischen  Epos,  Wiener  Sitzungs- 
berichte 1897,  S.  57)  ist  ihm  verhängnisvoll  geworden  (vgl.  ebd.  S.  47)  —  nach 
Usener  (S.  58)  der  Sommer  gegenüber  dem  Winter,  aber,  wenn  die  Deutung 
aus  dem  Namen  recht  behält  (zu  &£\>aos),  vielleicht  ebenfalls  ein  stärkerer  Kriegs- 
gott, der  den  schwächeren  besiegte  und  verächtlich  machte! 

B)  Vgl.  Müllenhoff,  D.  Alt.  4,  622. 

6)  Ebd.  S.  523. 

7)  Vgl.  z.  B.  Golther  S.  296. 

8)  Müllenhoff  S.  462. 

9)  Vgl.  Myth.  1,  123;  2,  796. 

,0)  Tac.  Germ.  cap.  39;  vgl.  Meyer  S.  341,  Golther  202,  2. 


§  17.    Hauptgötter.  185 

man  allgemein  an,  daß  der  regnator  omnium  deus,  der  hier  in  einem 
heiligen  Hain  der  heutigen  Mark  Brandenburg  verehrt  wurde,  Tiuz  war. 
Wahrscheinlich  mit  Recht;  schon  weil  die  Semnonen  der  vornehmste 
Stamm  des  tyrverehrenden  Suevenvolkes  sind.  —  Tacitus  berichtet,  daß 
dort  in  einem  seit  Alters  heiligen  Hain  ein  Menschenopfer  dargebracht 
wurde;  der  Hain  selbst  aber  werde  noch  in  der  Weise  geehrt,  daß  man 
ihn  nur  gefesselt  betreten  durfte,  und  wer  zu  Boden  fiel,  durfte  nicht  auf- 
stehen, sondern  mußte  sich  auf  der  Erde  herauswälzen.  Was  bedeutet 
dieser  Brauch  ?  Jedenfalls  wohl  zunächst,  wie  es  z.  B.  auch  Golther  deutet, 
daß  man  sich  völlig  in  die  Gewalt  eines  Herren  über  Leben  und  Tod 
gibt.  Aber  es  liegt  wohl  weiter  eine  »heilige  Handlung«  im  Sinne  Useners1) 
vor:  die  ganze  Heergemeinde  ergibt  sich  in  ihren  Vertretern  dem  Kriegs- 
gott auf  Gnade  und  Ungnade.  Wer  fällt,  den  hat  er  zum  Opfer  erwählt, 
und  er  muß  sich  gleichsam  heimlich  fortstehlen.  Und  vielleicht  ist  bei 
Tacitus  ein  Hysteronproteron  anzunehmen:  daß  wirklich  einer  der  Ge- 
fallenen (vielleicht  auch  einer,  der  vorher  bestimmt  war  und  deshalb  einen 
Stoß  erhielt,  daß  er  fiel:  caeso  homine)  als  Ersatz  für  das  ganze  Heer 
geopfert  wurde2)? 

Hierher  könnte  dann  auch  der  nach  allgemeiner  Annahme  dem  Tiuz 
heilige  »Schwerttanz«  gehören3).  Nackte  Jünglinge  tanzen  zwischen 
Schwertern  und  aufgerichteten  Lanzen;  nachher  bilden  sie  (wenigstens  in 
mittelalterlichen  Fortsetzungen  des  uralten  Brauches)  eine  »Rose«  aus 
ihren  Schwertern,  auf  die  der  Anführer  gehoben  wird  (wie  Radetzky  auf 
dem  Prager  Denkmal  auf  die  Schilde).  Daß  dies  Spiel  ursprünglich 
»mimetischen«  Charakter  hat,  bezweifelt  seit  Müllenhoff4)  wohl  kaum 
jemand.  Sollte  aber  nicht  ursprünglich  auch  hier  eine  kunstvolle  Parade 
vor  dem  Schwertgott  gemeint  sein,  bei  der  der  Fallende  als  Opfer  dem 
Gott  dargebracht  wurde?  Man  denke,  wie  noch  im  18.  Jahrhundert  die 
Gäste  des  Kaisers  von  Persien  ihm  übermütig  widersprechen  durften; 
»zuletzt  wurde  denn  freilich  der  überheitere  Tischgenosse  bei  den  Füßen 
weg  und  am  Fürsten  nahe  vorbeigeschleppt,  ob  dieser  ihn  vielleicht  be- 
gnadige? Geschah  es  nicht,  hinaus  mit  ihm  und  zusammengehauen5)!« 
Solche  Probe  kriegsfrohen  Übermuts  liegt  vielleicht  beidemal  vor:  wer 
bei  dem  gefesselten  Gang  fällt  (man  denke  noch  an  das  volkstümliche 
Spiel   des  Sackhüpfens),   der  gehört   dem  Gott,   wenn   er  ihn  nicht  be- 


*)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  7,  297  f. 

2)  Siehe  o.  S.  159.  —  An  die  Walküre  »Heerfessel«  ist  nicht  zu  denken. 

3)  Tac.  Germ.  cap.  24;  Müllenhoff,  Über  den  Schwerttanz,  Berlin  1871, 
in  den  Festgaben  für  G.  Homeyer;  J.  Meier  bei  Paul  2,  1,  835;  Golther 
S.  203. 

4)  a.  a.  O.,  bes.  S.  8. 

5)  Ooethe,  Noten  und  Abhandlungen  zum  Divan:   »Gegenwirkung«. 


186  Viertes  Kapitel. 

gnadigt.  Später  wird  dann  das  Opfer  abgelöst,  und  aus  der  Darbringung 
an  den  Himmelsgott  ein  symbolisches  Präsentieren  des  Anführers. 

Möglich  ist  aber,  daß  auch  einfach  nur  die  Heiligkeit  des  Raumes 
bezeichnet  wurde.  Man  darf  ihn  nur  in  feierlich  gebundener  Haltung 
durchschreiten;  wer  den  Boden  mit  dem  Knie  berührt,  ist  unwürdig,  ihn 
weiter  zu  durchwandeln.  Hierin  freilich  würde  ein  Bezug  auf  den  Kriegs- 
gott und  den  Stammesgott  schwer  zu  erkennen  sein.  Oder  sollte  der 
Boden,  der  tamquam  initia  gentis  aufgefaßt  wurde,  den  mütterlichen 
Schoß  darstellen  und  seinen  Kindern  hier  nur  eine  gebundene,  embryonen- 
hafte  Bewegung  gestattet  sein1)? 

Neben  den  Semnonen  mit  ihren  suebischen  Abkömmlingen2)  und 
den  Tencterern3)  sind  die  Friesen4)  eifrige  Verehrer  des  Tyr.  Wenn  die 
Chatten  einen  Eisenring  tragen,  bis  sie  einen  Feind  niedergeschlagen 
haben5),  so  deutet  Meyer6)  auch  das  auf  Tyrkultus  —  wahrscheinlich 
mit  Recht;  es  wäre  dann  mit  jener  Fesselung  im  heiligen  Hain  zusammen- 
zuhalten: Tyrs  Verehrer  sind  seine  Knechte,  bis  sie  sich  durch  ein 
Menschenopfer  losgekauft  haben.  —  Von  den  Haruden  leitet  Olsen 7)  den 
Tyrkultus  auf  der  großen  Insel  ab,  die  heute  Tysnesoen  genannt  wird8). 
Aber  daß  Tyr  damals  noch  als  Himmelsgott  neben  der  Erdgöttin 
Nerthus  gestanden  habe,  ist  ein  zwar  bestechend  geistreicher  Gedanke, 
gegen  den  aber  doch  alle  anderen  Zeugnisse  von  dem  altgermanischen 
Tyr  sprechen.  —  Als  besondere  Tyrverehrer  sind  ferner  alle  »Schwert- 
völker« anzusprechen:  die  Quaden,  Sachsen,  Thüringer9). 

Eine  Spezialisierung  des  Kriegsgottes  Tyr  scheint  der  viel 
umstrittene  Mars  Thingsus10).  Man  fand  am  Hadrianwall  einen  Altar, 
den  Germanen  aus  Twenthe,  die  im  cuneus  Frisiorum  standen,  dem 
Marti  Thingso  et  duobus  Alaisiagis  Bedae  et  Fimüenae  stifteten. 
Ob  das  Marsbild  mit  dem  Vogel  (Gans?  Schwan?)  und  zweier  weib- 
lichen Figuren  auf  sie  zu  beziehen  oder  römisch  auszulegen  ist11),  bleibt 


x)  Vgl.  allgemein  Dieterich,  Mutter  Erde. 

2)  Zyuwäri,  siehe  o.  S.  181;  Augsburg:  Ciesburg,  vgl.  Golther  S.  205. 

3)  Tac.  Hist.  4,  64. 

4)  Meyer  S.  343. 

8)  Tac.  Germ.  cap.  31.  6)  a.  a.  O. 

7)  Del  gamle  norske  önavn  Njardalög,  Christiania  1905. 

8)  Vgl.  Helm,  Lit.-Bl.  f.  germ.  u.  rom.  Phil.  1907,  S.  268;  siehe  u. 

9)  Mogk  S.  317. 

10)  Mogk  S.  316  mit  reichen  Literaturangaben;  bes.  Scherer,  Kleine 
Schriften,  Berlin  1893,  1,  532;  Heinzel,  Wiener  Sitzungsberichte  119,  50f.; 
Hoffory,  Eddastudien,  S.  145;  Kauffmann,  PBB.  16,  206f.;  Siebs,  Ztschr. 
f.  d.  Phil.  24,  433;  Hirschfeld,  Westd.  Ztschr.  1898,  S.  19.  —  Ähnliche  An- 
passungen an  Mars  bei  dem  keltischen  Tontates:  Wissowa  S.  138  Anm.  7. 

n)  Golther  S.  204  Anm.  2. 


§  17.    Hauptgötter.  187 

zweifelhaft.  Sicher  ist  dagegen,  daß  Mars  Thingsus  ein  einheimischer 
Gott  der  cives  Tuihanti  war;  Kluge1)  hat  sogar  —  schwerlich  mit  Recht  — 
von  seinem  Namen  die  Benennung  Dingstag  für  Dienstag  ableiten  wollen, 
was  denn  auf  weite  Verehrung  des  Mars  Thingsus  deuten  würde2). 

Da  Heinzel  nachgewiesen  hat,  daß  es  bei  den  Friesen  zwei  Formen 
der  Volksversammlung  gab,  Bedel-  und  Fimelthing,  so  kann  ein  Zu- 
sammenhang zwischen  diesen  Benennungen  und  denen  der  beiden 
»Alaisiagen «  des  Thing-Gottes  wohl  nur  von  der  Hyperkritik  bezweifelt 
werden 3).  Wir  trafen  schon  wiederholt  auf  Spuren ,  daß  die  Heeres- 
gemeinde als  Einheit  gefaßt  wird:  prout  sonuit  acies  wird  aus  dem 
barditus  der  Ausgang  der  Schlacht  prophezeit;  die  Disen  nahmen  wir 
als  Nornen  des  Heeres.  So  ist  der  Mars  Thingsus  der  Gott  der  Heeres- 
gemeinde, wenn  sie  zu  richten  hat,  der  richtende  Gott  des  Kriegerthings 
in  seiner  regelmäßigen  und  außerordentlichen  Gestalt;  die  numina 
Augustorum  treten  als  Verkörperung  der  Gerechtigkeit  der  höchsten 
Kriegsherren  zu  ihm  in  eine  natürliche  Verbindung 4).  Der  cuneus 
Frisiorum  als  ein  Teil  der  acies  per  cuneos  composita5)  ist  ein  Teil 
des  Things;  nicht  zufällig  geht  Tacitus6)  von  den  duces,  qui  ante  aciem 
agunt,  zu  der  Strafgewalt  der  Priester  über,  die  selbst  nur  eine  Emanation 
der  Strafgewalt  der  Volksgemeinde  ist:  die  Heeresgemeinde  wie  die  Volks- 
gemeinde 7)  richtet  in  gegebenem  oder  gebotenem  Thing,  gerade  wie  noch 
spät  das  Freigericht  der  Feme8). 

Indem  wir  also  die  Deutungen  von  Scherer  und  Hoffory  (Gott  der 
Volksversammlung)  und  Weinhold  (Gott  des  Gerichts)  kombinieren,  er- 
klären wir  den  Mars  Thingsus  für  den  germanischen  Gott  der  Heeres- 
gemeinde, den  die  cives  Tiuhanti  dem  römischen  Mars  anähnlichen,  wie 
sie  ebenfalls  seine  Begleiterinnen  den  traditionellen  Genossinnen  des  Mars, 
den  Victorien,  angleichen.  — 

Tyr  scheint  im  Norden  als  Kriegsgott  anfangs  in  großem  Ansehen 
gestanden   zu  haben  :  die  Heerfahrt  und  das  Treiben  der  Wikinger  ward 


*)  PBB.  35,  141. 

2)  Ebenso  erklärt  Kluge  a.  a.  O.  die  bayrische  Benennung  Erchtag  (vgl. 
Golther  S.  213)  aus  einem  durch  die  Goten  vermittelten  ZiQ&wg  tj/u^a. 

3)  Henning,  Zschr.  f.  d.  Alt.  42,  193. 

4)  »Die  Versammlung  der  Krieger  ist  die  politische  Versammlung«;  Hintze, 
Staatsverfassung  und  Heeresverfassung,  Dresden  1906,  S.  4.  —  Allgemein  vgl. 
v.  Domaszewski,  Über  die  Religion  des  Römischen  Heeres. 

5)  Tac.  Germ.  cap.  4.  6)  a.  a.  O. 

7)  Vgl.  v.  Amira  in  Pauls  Grundriß  2.  Aufl.  1,  203. 

8)  Lindner,  Die  Feme,  S.  407.  —  bodthing  (Richthofen,  Altfriesische  Wb., 
S.  657)  gebotenes  Gericht;  fimelthing  (ebd.  S.  740)  »hieß  das  Gericht,  welches 
die  im  bodthing  nicht  zu  Ende  gebrachten  Sachen  verhandelte«,  also  ordentliche 
und  außerordentliche  Tagung. 


188  Viertes  Kapitel. 

nach  Zimmer1)  von  den  Irländern  »Tyverk«,  Taten  wie  Tyr  sie  liebt, 
benannt.  Danach  wäre  er  im  9.  Jahrhundert  noch  Hauptgott  wenigstens 
der  umherfahrenden  Nordleute  gewesen.  Dann  tritt  er  ganz 
zurück.  —  Wohl  bleibt  ihm  die  Siegesrune  geweiht 2)  und  die  Waffenrune 
heißt  nach  ihm;  aber  wirksam  erscheint  er  nur  im  letzten  Kampf3).  Hier 
knüpfen  märchenhafte  Züge  an4):  er  soll  zur  Fesselung  des  Fenriswolfes 
die  rechte  Hand  geopfert  haben 5),  was  wir  wieder  nur  als  mythologische 
Metapher  deuten  möchten,  wie  das  von  Odin  zum  Pfand  gesetzte  Auge. 
Man  dichtet  ihm  Verwandtschaft  an:  eine  namenlose  buhlerische  Gattin6), 
den  riesischen  Vater  Hymir  —  was  wohl  nur  den  alten  Gott  von 
riesischer  Abstammung  kennzeichnen  soll;  man  macht  ihn  zur  Folie  der 
Riesenstärke  Thors  bei  dessen  Fahrt  zu  Hymir  (Hymiskvida) 7).  Das  sind 
wohl  alles  spätere  Züge;  die  von  der  verlorenen  Hand  allerdings  immerhin 
so  alt,  daß  sie  auf  den  »irischen  Mars«  abfärben  konnte,  der  im  Kampf 
mit  den  Dämonen  seine  Hand  verliert  und  durch  eine  silberne  er- 
setzen läßt8). 

Schließlich  wird  Tyr  der  bloße  abstrakte  »Kriegsgott«,  von  dem 
Könige  abstammen9).  Bei  der  Aufteilung  der  Götter  im  letzten  Kampf 
wird  er10)  mit  dem  Höllenhund  Gorm  abgepaart,  wie  Thor  mit  der 
Midgardsschlange.  Auf  alten  mythischen  Drachenkampf  etwa  des  lichten 
Himmelsgottes  mit  einem  Sturmungeheuer  wage  ich  das  nicht11)  zu  be- 
ziehen, obwohl  zu  solcher  Interpretation  stimmen  würde,  daß  auch  dem 
Dämon  Grendel  von  Beovulf  ein  Arm  ausgerissen  wird.  Tyr  mußte  dann 
wohl  aber  ursprünglich  das  böse,  etwa  von  Thor  oder  Odin  besiegte 
Prinzip  sein.  Einfacher  ist  die  Annahme,  die  Abenteuer  Tyrs  mit  dem 
Fenriswolf  und  dem  Höllenhund  beide  erst  der  späteren  Zeit  zuzuschreiben, 
die  die  Kollektivkämpfe  der  Dämonen  gegen  die  Götter  in  heroische 
Zweikämpfe  auflöst  und  ritterliche  Anschauungen  (Schonung  des  Wolfes 
aus  Ehrfurcht  vor  heiliger  Stätte)12)  in  den  rücksichtslosen  Kampf  der 
Götter  und  Ungeheuer  trägt.    Einfluß  jenes  einhändigen  keltischen  Gottes 


J)  Vgl.  Golther  S.  212. 

2)  Sgdr.  Str.  6. 

3)  Golther  S.  211,  Mogk  S.  316,  Meyer  S.  344. 

4)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Der  gefesselte  Unhold,   Festschrift  für  Joh.  v.  Kelle, 
Prag  1908,  S.  1  f. 

B)  Lok.  Str.  38,  Gylfag.  cap.  25:  Gering  S.  319. 

6)  Lok.  Str.  40. 

7)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen  in  der  Edda,  S.  46. 

8)  Meyer  S.  346. 

9)  Golther  S.  211  Anm.  2. 

10)  Gylfag.  cap.  51:  Gering  S.  349. 

11)  Mit  Meyer  S.  346. 

12)  Gylfag.  cap.  34:  Gering  S.  326. 


§  17.    Hauptgötter.  189 

Nuada1)  ist  nicht  unwahrscheinlich.  Allerdings  hatMuch2)  in  geistreicher 
Weise  die  Einhändigkeit  des  Kriegsgottes  schon  bei  den  Skythen  nach- 
zuweisen gesucht. 

Wirkliche  oder  angebliche  Emanationen  Tyrs  sind  (außer  den 
Spezialisierungen  Mars  Thingsus,  Halamardus  u.  dgl.)  Freyr  und  Heim- 
dall8);  vor  allem  aber  Irmin,  den  wir  mit  seinen  Brüdern  zusammen 
besprechen  müssen. 

Kult  des  Tyr  ist  schon  in  (indogermanischer  Zeit  bezeugt:  er  be- 
vorzugt Pferdeopfer,  was  in  urgermanischer  Zeit  fortdauert4).  Deshalb 
werden  ihm  heilige  weiße  Rosse  gehalten,  aus  deren  Wiehern  geweissagt 
wird5).  Die  weiße  Farbe  braucht  man  nicht  auf  den  »lichten  Himmels- 
gott« zu  beziehen:  sie  kann  einfach  die  Unberührbarkeit  des  geheiligten 
Thors  symbolisieren  (wie  bei  dem  »weißen«  Elefanten  in  Siam?);  aber  es 
ist  auch  möglich,  daß  hier  eine  Erinnerung  an  Tyrs  frühere  Funktion 
fortlebt.  Ferner  gilt  ihm  der  Schwerttanz6).  —  Tyr  gilt,  als  Kriegsgott, 
nicht  bloß  für  besonders  stark,  sondern  auch  für  sehr  klug7);  Namen 
nach  ihm  zu  geben  ist  nicht  sehr  häufig. 

Ingo.   Isto.    Irmino8). 

Tacitus  nennt  drei  Söhne  des  Urmenschen  Mannus  als  Eponymi  der 
germanischen  Völkerschaftsgruppen:  e  quorum  nominibus  proximi 
Oceano  Ingaevones,  medü  Herminones,  ceteri  Istaevones  vocentur. 
Müllenhoff  zuerst  deutete  dies  so,  daß  Gruppen  der  westgermanischen 
Völker  drei  »Amphiktyonien«  bildeten,  Kultusbezirke  unter  dem  Schutz 
je  eines  Hauptpatrons.  Laistner9)  hält  allerdings  umgekehrt  den  Volks- 
namen für  primär10):  die  Ingvaeonen  »die  Einheimischen«,  die  Erminonen 
»das  Großvolk«,  die  Istvaeonen  »die  Ersten« ;  daraus  sei  (wie  oft  z.B.  bei 
den  Hebräern)  der  Stammesgott  herausgezogen  n).  Da  wir  von  Kollektiv- 
namen  altgermanischer   Stämme   aus   so   früher  Zeit   kein  Beispiel   haben 

!)  Vgl.  Much  S.  217. 
*)  a.  a.  O. 

3)  Siehe  u.  —  In  einer  Jugendschrift  erklärte  E.  H.  Meyer  den  Helden 
Roland  für  eine  Emanation  oder  Parallelform  Tyrs;  vgl.  Pf  äff ,  Alemannia  1909,  S.76. 

4)  Golther  S.  201;  ebenso  bei  Frey  und  Heimdall,  aber  auch  bei  Balder, 
ebd.  S.  203. 

5)  Tac.  Germ.  cap.  10;  Golther  S.  203. 

6)  Siehe  o.  S.  181. 

7)  Gylfag.  cap.  25:  Gering  S.  319. 

8)  Golther  S.  207;  Mogk  S.  314  nach  Tac.  Germ.  cap.  2  vgl.  Plinius 
hist.  nat.  4,  99;  Müllenhoff,  D.  Alt.  4,  519f.,  5871;  Much,  Himmelsgott, 
S.  198f.;  Koegel,  Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  13f.;  andere  Literatur  bei  Golther  207,  1. 

9)  Germ.  Götternamen :  Württemberg.  Vierteljahrshefte  f.  Landesgesch.  1892, 1  f. 
10)  Vgl.  das  Problem  Saxnot  und  die  Sachsen,  siehe  o.  S.  181. 

n)  Ähnlich  Bremer  bei  Paul  21,  923. 


190  Viertes  Kapitel. 

(wohl  später:  Allemannen),  so  entscheiden  wir  uns1)  für  Müllenhoff: 
Völkergruppen  sind  nach  ihrem  Zentralheros  benannt  wie  später  die 
Ziuwäri-Suapa 2).  Die  Ingvaeonen  auf  der  Halbinsel  zwischen  Ost- 
und  Nordsee  haben  den  Kult  der  Nerthus ;  die  Ingvaeonen  an  der  Küste, 
Angeln,  Sachsen,  Dänen  3)  verehren  Ing;  die  Skandinavier  Yngvi,  nach  dem 
sich  die  schwedischen  Könige  als  Ynglinger  benennen.  —  Die  Irminonen, 
die  Binnengermanen,  Sueven,  Marcomannen,  Quaden  haben  in  ihrer  Mitte 
den  Tyrdienst  der  Semnonen ;  bei  den  Hermunduren  Wodan  und  Tiuz.  — 
Die  Istvaeonen  am  Rhein  sind  die  Völker,  die  den  Wodandienst  auf- 
brachten. —  Abseits  stehen  die  Van di Her  (also  auch  die  Skandinavier)4) 
mit  dem  Heiligtum  der  Alces5). 

Was  bedeuten  diese  drei  heiligen  Brüder?  Die  Namen  machen 
Schwierigkeiten.  Müllenhoff  erklärt6)  Irmin  als  »erhaben«,  Isto  als  »er- 
wünscht«, »verehrt« 7),  Ing8)  als  den  »Begehrten,  Erwünschten«  —  was  ihm 
aber  selbst  mit  dem  Namen  Istos  fast  identisch  scheint,  und  sollten  gerade 
hier,  wo  drei  Völkerschaften  eine  Trias  zur  Unterscheidung  schaffen,  so 
wenig  bedeutende  Namen  gewählt  sein?  Er  zieht  deshalb  selbst  die  Be- 
deutung »der  Gekommene«9)  vor,  die  zu  der  Strophe  des  angelsächsischen 
Runenliedes  vortrefflich  stimmt10).  Scherer  faßt  Isto  als  den  Gott  des 
Herdfeuers,  Hoffory  als  den  Flammenden11).  Aber  hier,  wo  drei  Namen 
gleichsam  als  Waffennamen  geschlossener  Gemeinschaften  bewußt  gewählt 
zu  sein  scheinen,  wird  man  von  der  Forderung  eines  inneren  Zusammen- 
hanges zwischen  ihnen  kaum  absehen  dürfen. 

Auszugehen  ist  von  folgenden  Tatsachen:  die  drei  Namen  sind  in 
urgermanischer  Zeit  als  die  göttlicher  Stammväter  überliefert,  die  gleichen 
Ursprung  (von  Mannus  und  Tuisco)  haben12).  Aus  späterer  Zeit  ist  der 
Name  Irmin  in  unzweifelhaft  mythologischer  Verwendung  und  mit  deut- 
lichem Inhalt  (als  Name  des  Kriegsgottes)  bezeugt.  Der  Name  Ing  ist  in 
kaum  zu  bezweifelnder  mythologischer  Verwendung,  aber  ohne  deutlichen 
Inhalt  bezeugt,  der  Name  Isto  ist  überhaupt  nicht  belegt. 


*)  Trotz  Kossinna,  F.  F.  7,  276. 

2)  Über  die  Art  der  grammatischen  Ableitung  vgl.  Müllenhoff,  D.  A.  4,  598, 
doch  auch  Sievers,  Ber.  d.  Sachs.  Gesellsch.  d.  Wiss.  1894. 

8)  Die  danach  Beov.  1045,  1320  Ingwine,  Ing-Freunde,  heißen  wie  die  Sachsen 
Sachs-Genossen. 

4)  Trotz  Yngvi?  siehe  u. 

8)  Sijmons  bei  Paul  1,  678 f. 

6)  a.  a.  O.  S.  590. 

7)  S.  595.  8)  S.  596.  9)  S.  526. 

10)  Auch  zu  Müllenhoffs  Auffassung  des  Sceäf  im  Beovulf  vgl.  o.  S.  59. 
n)  Vgl.  Golther  S.  208;  noch  andere  Deutungen  bei  Mogk  S.  315. 
12)  Ähnlich  in  der  Bibel  Noahs  Söhne  Sem,  Harn,  Japhet  (1.  Mos.  9,  18);  vgl. 
dazu  Holzin ger,  Genesis,  S.  92. 


§  17.    Hauptgötter.  191 

Tacitus  also  berichtet,  Tuisto,  deus  terra  editus  habe  zu  seinem 
Sohn  den  Mannus,  von  dem  wieder  die  Stammväter  der  Ingaevonen, 
Herminonen,  Istaevonen  stammen.  Über  Mannus  herrscht  kein  Zweifel: 
er  ist  die  Verkörperung  der  Menschheit,  der  Urmensch,  wie  der  indische 
Manu,  Vivasvants  Sohn l).  Tuisto  oder  Tuisco  aber  macht  große  Schwierig- 
keiten. Neuerdings  hat  ihn  Kluge2)  als  Tiviskö,  Sohn  des  Tiwas  gedeutet: 
von  Tivos  stamme  Tiviskö,  von  diesem  Mannus,  von  ihm  die  Manniskönes, 
die  Menschen.  Schrader3)  hat  diese  Erklärung  durch  den  Hinweis  auf 
den  thrakisch-griechischen  »Himmelssohn«  Dionysos  gestützt,  der  Sohn 
des  Zeus  und  der  Semele,  einer  thrakisch-phrygischen  Erdgöttin,  wäre4).  — 
Aber  ist  Kluges  geistreiche  Erklärung  nicht  doch  für  so  frühe  Zeit  zu 
»gelehrt«?  Darf  man  den  Parallelismus  Tivos-Twisko-Mannus-Manniskones 
schon  einer  so  systemlosen  Zeit  zuschreiben?  Ferner:  von  Mannus 
stammen  ja  gewiß  die  Menschen,  in  dem  Taciteischen  Stammbaum  aber 
doch  zunächst  drei  Eponymi  mit  ganz  anders  gearteten  Namen.  Endlich 
glaubten  wir  Bremers  Etymologie  von  Tivas,  auf  die  Kluge  sich  stützt, 
nicht  annehmen  zu  können.  —  Ich  selbst  habe5)  Tuisco  mit  dem  Ymi 
der  nordischen  Mythologie 6)  identifiziert,  dem  Urriesen  und  Vater  der  ge- 
formten Materie;  aber  auch  hier  bleiben  Schwierigkeiten7).  Es  werden 
wohl  irgendwie  Mythendoubletten  kontaminiert  sein,  wie  im  Veda  die 
der  Urmenschen  Manu  und  Yama  (der,  wie  vielleicht  Tuisco  und  sein 
Sohn  Tveggr-Odin  »Zwilling«  heißt8)  oder  wie  in  der  Bibel  die  doppelte 
Fassung  der  Schöpfung  der  Menschen9). 

Wir  können  also  aus  Tacitus  nur  dies  mit  Bestimmtheit  herauslesen- 
die  drei  Völkergruppen  führen  ihre  Stammväter  unmittelbar  auf  den  Urvater 
der  Menschheit  zurück  —  gerade  wie  die  angelsächsischen  Stammtafeln 10). 


*)  Macdonell  S.  214. 

2)  Bunte  Blätter,  Freiburg  1908,  S.  119. 

3)  D.  Lit-Zg.  1909,  931. 

4)  Nach  Kretschmer,  Einleitung  in  d.  Gesch.  d.  griech.  Sprache,  Göttingen 
1896,  S.  241. 

5)  Arkiv  for  nordisk  Filologi  23,  247. 

6)  Grim.  Str.  21,  40. 

7)  Vgl.  ebd.  25,  333. 

8)  Oldenberg,  Vedische  Religion,  S.  275. 

9)  Sollte  nicht  auch  Adam  das  Weib  ursprünglich  selbst  gezeugt  haben? 
Wäre  das  nicht  die  einfachste  Erklärung  der  »Rippe«,  die  auch  Gunkel  (Genesis, 
Göttingen  1901,  S.  10)  nur  notdürftig  erklärt?  und  die  Verse,  die  er  dann  spricht  — 
»Bein  von  meinem  Bein  und  Fleisch  von  meinem  Fleisch«  —  gehören  zu  der 
urältesten  liturgischen  Art.  Auch  die  schaffende  Namengebung  stimmt  dazu. 
Dann  wäre  die  Analogie  zu  Ymi,  der  aus  der  Achselhöhle  und  den  Füßen  Menschen 
zeugt  (Gylfag.  cap.  5:  Gering  S.  302)  und  mit  Yama,  dem  »Zwilling«,  d.  h.  dem 
ursprünglich  doppelgeschlechtigen  Stammvater  der  Menschheit,  noch  stärker. 

10)  J.  Grimm,  Mythologie  3,  379. 


192  Viertes  Kapitel. 

Was  lehren  die  drei  Namen  oder  Gestalten? 

I  r  m  i  n J)  ist  sicher  Tiu.  »Hirmin  Mars  dicitur«,  sagt  Widukind2).  Aller- 
dings könnte  in  dem  Bericht  des  Chronisten3)  ein  Umstand  bedenklich 
stimmen :  nach  dem  Sieg  an  der  Unstrut  über  die  Thüringer  befestigen  die 
Sachsen  einen  Adler  an  der  Ostpforte  (des  Tempelraums):  ad  orientalem 
portam  ponunt  aquilam.  Der  Adler  aber,  Odins  heiliger  Vogel,  ist  am  Tor 
der  Odinsburg  (d.  h.  des  Odinstempels) 4)  angebracht,  während  westlich  am 
Tor  ein  Wolf  hängt 5).  Dennoch  darf  man  den  hier  verehrten  Gott  nicht 6) 
für  Wodan  halten.  Ein  Idol7)  war  aufgerichtet,  von  zwei  »columpnae 
umgeben,  d.  h.  rechts  und  links  ein  tre'niadr8),  eine  pfahlartige  Dar- 
stellung anderer  Götter,  wie  in  den  Tempeln  der  Germanen,  so  oft  der 
Hauptgott  zwischen  zwei  anderen  steht9).  Dies  Idol  war  die  Irminsul, 
also  auch  eine  columna,  die  den  Hauptgott  symbolisierte.  Und  da  die 
andere  Irminsäule  an  der  Diemel  auf  dem  Eresberg  lag,  so  gehörte  sie 
dem  gleichen  Gott  wie  der  Er  tag,  dem  Er-Tyr10).  Es  kann  daher 
die  an  der  Unstrut  keinem  anderen  Gott  geweiht  gewesen  sein.  Irmin 
wird  auch  bei  den  Thüringern  verehrt,  deren  letzter  König  Irminfried  531 
von  den  Sachsen  besiegt  wird.  —  Wenn  der  Große  Bär  —  das  »alte 
Wahrzeichen  der  Germanen«  in  Gottfried  Kellers  letztem  Gedichtentwurf  — 
Irmineswagen  heißen  soll11)  oder  Hildebrand  im  alten  Liede  beim  Irmingot 
schwört12),  so  ist  beides  nicht  mit  Sicherheit  auf  den  Gott  zu  beziehen: 
es  kann  einfach  »der  Große«,  »der  Hohe«  gemeint  sein,  welcher  Gott 
das  denn  auch  sein  mag. 

I  n  g 13)  ist  ausdrücklich  noch  bezeugt  durch  die  merkwürdige  Strophe 
des  angelsächsischen  Runenliedes:  »Ing  wurde  zuerst  bei  den  Ostdänen 
gesehen,  bis  er  darauf  (ostwärts?)  über  das  Meer  zog;  der  Wagen  rollte 
nach«14).     So   nannten  die  Helden  —  wohl  die  ostdänischen15)  —   den 


*)  J.  Grimm,  Mythologie  1,  290 f. 

2)  Golther  S.  210,  1. 

3)  Den  Müllenhoff,  D.  Alt.  4,  521,  ausführlich  bespricht 

4)  Ztsch.  f.  d.  Phil.  38,  172. 
B)  Grim.  Str.  10. 

6)  Mit  J.  Grimm. 

7)  Vgl.  Müllenhoff  a.  a.  O. 

8)  Häv.  Str.  49. 

9)  Nichts  anderes  werden   die  Herculis  columnae,  Tac.  Germ.  cav.  34,  ge- 
wesen sein;  doch  vgl.  Kauf f mann  PBB.  16,  223. 

10)  Müllenhoff  S.  523. 

n)  Vgl.  I.  Grimm,  Mythologie  1,  295. 

l2)  Mogk  S.  315. 

,3)  J.  Grimm  S.  286f.;  Müllenhoff,  D.  Alt.  4,  595f, 

u)  So  ten  Brink,  Gesch.  d.  engl.  Lit.,  Berlin  1877,  1,  83. 

16)  Doch  vgl.  Müllenhoff  S.  597. 


§  17.    Hauptgötter.  193 

Heros.«  —  Ferner  gibt  es  theophore  Namen  mit  Ingu-1).  —  Endlich 
besteht  kein  Zweifel  über  die  Identität  des  angelsächsischen  Ing  mit  dem 
alten  Yngvi,  als  dessen  Nachkommen  die  schwedischen  Könige  Ynglingar 
(=  Ingvaeones)  heißen  2),  und  wiederum,  daß  Yngvi  mit  Freyr  zusammen- 
fällt, geht  aus  dessen  Bezeichnung  als  Yngvi  oder  Yngvi-Freyr  hervor3). 

Wie  Ing  kommt  Sceäf4)  in  steuerlosem  Schiff  auf  einer  Garbe 
schlafend,  ans  Land  geschwommen,  wird  König  der  Angeln,  und  fährt  als 
Leiche  wieder  auf  seinem  Schiff  von  dannen5).  Müllenhoff  erkannte 
seine  mythische  Natur:  wir  faßten  ihn6)  als  Getreidedämon.  Mit  Ing  hat 
er  die  Ankunft  aus  der  Fremde  und  die  geheimnisvolle  Rückkehr  gemein  — 
die  doch  wohl  mit  dem  Vers  »der  Wagen  rollte  nach«  angedeutet  ist; 
freilich  sind  das  Züge,  die  auch  den  »Schwanenjünglingen«  eignen,  Wieland, 
Lohengrin 7). 

Weiter  könnte  man  eine  wunderliche  Nachricht  des  Tacitus8)  hierher 
beziehen : 

ceterum  et  Ulixem  quidam  opinantur  longo  Mo  et  fabuloso  errore  in  hunc 
Oceanum  delatum  adisse  Germaniae  terras  Asciburgiumque ,  quod  in  ripa  Rheni 
situm  hodieque  incolitur,  ab  Mo  constitutum  nominatumque  .  .  .  aram  quin  etiam 
Ulixi  consecratam  adiecto  Laertae  patris  nomine  eodem  loco  olim  repertam,  monu» 
mentaque  et  tumulos  quosdam  Graecis  literis  inscriptos  in  confinio  Germaniae 
Raetiaeque  adhuc  extare. 

Allerdings  hat  für  den  Ulixes  Müllenhoff9)  an  irgendeinen  keltischen 
Ulohoxsis  gedacht,  Kauffmann 10)  dagegen  an  eine  massiliotische  Weih- 
inschrift. Ich  glaube  aber,  man  muß  die  Nachricht  doch  germanisch 
deuten.  Asciburgium  heißt  >  Schiff  statte«  n)  und  »Schiff  statte«  heißt 
Noatün,  das  Heim  Njörds 12).  Auch  Njörd  kommt  aus  der  Ferne,  von 
den  Wanen,  und  kehrt  nach  drei  Nächten  in  Noatün  immer  wieder 
nach  Thrymheim  zurück 13).     Ihm  mag  jener  Altar  errichtet  sein,  und  die 

1)  Müllenhoff,  Ztsch.  f.  d.  Alt.  9,  250. 

2)  Golther  S.  208;  vgl.  Helg.  Hund.  I,  56,  Reg.  Str.  14. 

3)  Henning,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  41,  156;  Olrik,  Heltedigtning,  S.  226f. 

4)  Sijmons  bei  Paul  2.  Aufl.  1,  645;  Kögel,  Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  104. 
8)  Golther  S.  209.  6)  Siehe  o.  S.  109. 

7)  Auch  Dionysos  kommt  »in  dem  durch  keine  menschliche  Hand  bewegten 
Schiffe«  über  das  Meer  (Usener,  Sintflutsagen,  S.  116):  aber  das  gehört  wohl 
zum  Typus  des  »Heilbringers«.  Sonst  spielt  das  Fahren  im  steuerlosen  Schiff  in 
der  Mythologie  die  größte  Rolle  bei  ausgesetzten  Kindern  und  Verbrechern  (die 
Lade  des  Kypselos;  germanische  Beispiele  bei  J.  Grimm,  Rechtsaltertümer  2,  701; 
vgl.  Brand  1,  Altengl.  Lit,  S.  1087).  In  der  Moses-Sage  treffen  beide  Motive 
zusammen :  die  Aussetzung  des  Kindes  und  die  Ankunft  des  Heilbringers.  Ähnliche 
Kombination  im  finnischen  Epos  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  87. 

8)  Germ.  cap.  3.  9)  D.  Alt.  2,  191.  ]0)  PBB.  16,  223. 

11)  Müllenhoff  a.  a.  O.  —  Auch  Bethania  heißt  »Haus  des  Schiffes«;  vgl. 
dazu  Eisler,  Südd.  Monatsh.  Dez.  1909  S.  651. 

12)  Grim.  16.  13)  Gylf.  cap.  23:  Gering  S,  317. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  13 


IQ4  Viertes  Kapitel. 

Erzählung  von  seinen  beständigen  Irrfahrten  kann  den  Anlaß  zu  einem 
Vergleich  mit  Odysseus  gegeben  haben  —  freilich  war  Skadi  gerade  keine 
sehnsüchtige  Penelopeia!  Noch  wahrscheinlicher  aber  ist  mir,  daß  Njörd 
und  Frey *)  ursprünglich  identisch  sind,  und  so  wäre  denn  Yngvifreyr 
der  Gast  aus  Wanaheim,  der  an  der  Flußmündung  an  der  Schiffsküste 
landet  und  wieder  verschwindet,  und  dessen  Epiphanie  ein  Denkstein  feiert, 
vielleicht  schon  mit  Runen  beschrieben.  Denn  wie  leicht  Runen  für 
griechische  Buchstaben  gelesen  werden  können,  hat  noch  zwei  Jahrtausende 
später  die  Lesung  yalqt  ym\  ntvt  auf  den  Goldring  von  Pietroassa  (statt 
Gutanio  wi  hailag)  bewiesen  2).  Ein  ähnliches  Denkmal  an  einer  anderen 
Schiffsstätte  wären  wohl  jene  »Herkulessäulen«,  als  die  Tacitus3),  gerade 
wie  Widukind  an  der  Irminsäule,  zwei  heilige  Bäume  oder  Pfähle  deutete. 

Es  liegt  also  ein  segenspendender  »Kulturgott«  vor4),  von  dem  ver- 
schiedene Mythen  in  leichten  Varianten  erzählen.  Er  kommt  aus  der 
Fremde  (aus  Wanaheim;  von  jenseits  des  Meeres)  in  seinem  Fahrzeug 
(Ings  Wagen,  Sceafs  Wunderschiff;  Njörds  Wagen)5)  angefahren  und 
bringt  einem  germanischen  Volk6)  Segen.  Von  da  geht  er  wieder  ge- 
heimnisvoll (der  Wagen  rollt  nach,  das  Schiff  ist  wieder  an  der  Küste) 
in  seine  Heimat  zurück  —  sei  es  für  immer7),  sei  es,  um  periodisch 
wiederzukehren8).  —  Die  älteste  Form  der  Sage  ist  gewiß  die  mit  dem 
Wagen,  dessen  Altertümlichkeit  schon  J.  Grimm  betonte:  das  eben  ist 
den  Wanderern  eigen,  daß  sie  über  Meer  fahren  wie  über  trockenes  Land. 
Das  steuerlose  Schiff9)  im  Märchen  ist  bereits  eine  Rationalisierung,  ebenso 
wie  das  Altern  des  »Heilbringers«,  der  sich  dann  in  heroischer  Weise  auf 
dem  Schiff  beisetzen  läßt  Ing  ist  also  Freyr,  der  Gott  des  Ackerbaues  und 
des  Friedens.  Ob  er  eine  Emanation  von  Tiuz  ist,  was  wir  bestreiten 10),  oder 
eine  schwedisch-norwegische  Hypostase11)  ist  an  anderer  Stelle  zu  prüfen. 

Für  I  s  t  o  haben  wir  keinen  direkten  Anhalt  als  den,  daß  Wodan  von 
den  istvaeonischen  Völkern  herkam12).     Daß  der  Name  auf  Tuisto  reimt, 


*)  Siehe  u. 

2)  Vgl.  meine  Runenstudien  I;  PBB.  21,  182. 

3)  Germ.  cap.  34. 

4)  Vgl.  allgemein  Breysig,  Gottesbegriff  und  Heilbringer. 

5)  Siehe  u. 

6)  Ing  den  Ostdänen,  Sceäf  den  Angeln:  vgl.  Golther  S.  269;  Yngvifrey  den 
Schweden. 

7)  Sceäf;  Ing?  8)  Njörd. 

9)  In  der  Heldensage:  Tantris  kommt  swebende  üf  dem  wilden  se  nach  Irland 
an:  Trist,  v.  7497.  Noch  George  Eliots  Romola  muß  auf  steuerlosem  Schiff 
treiben. 

10)  Golther  S.  208. 

")  Mogk,  Menschenopfer,  S.  365. 

12)  Vgl.  Golther  S.  210,  Mogk  S.  315. 


§  17.    Hauptgötter.  195 

deutet  auf  nähere  Beziehungen  zwischen  Vater  und  Sohn  J).  —  Da  uns 
aber  noch  im  Norden  die  Trias  Thor,  Odin,  Frey  mehrfach  bezeugt  ist2) 
und  Thor  als  spezifisch  nordischer  Gott  den  Tyr  verdrängt  haben  wird, 
ist  auch  von  hier  aus   wahrscheinlich,   daß   der  dritte  Gott  Wodan   war. 

Wie  ist  nun  das  Verhältnis  der  drei  Götter  zu  einander  aufzu- 
fassen? Zumeist 3)  werden  alle  drei  Brüder  als  Emanationen  oder  Speziali- 
sierungen Tyrs  aufgefaßt.  Das  ist  an  sich  denkbar,  wie  denn  z.  B.  bei  den 
Chinesen  jede  Dynastie  ihren  eigenen  Kriegsgott  zu  besitzen  scheint4).  So 
also  stände  neben  dem  Tyr-Irmin  als  Kriegsgott  der  Mittelgermanen  ein  Tyr 
der  Angeln,  Sachsen,  Dänen:  Ing,  ein  dritter  anderer  Völker:  Ist.  Aber 
Ing-Freyr  läßt  sich  nicht  von  dem  Himmels-  oder  Kriegsgott  ableiten:  er 
ist,  wie  Wodan,  ein  zum  Gott  gewordener  Naturdämon.  —  Es  sind  also 
drei  selbständige  Götter  zu  Patronen  der  Verbände  gewählt 
worden  —  was  besondere  Verehrung  anderer  Götter  auf  ihrem  Gebiet  so 
wenig  ausschließt,  als  etwa  in  Bayern,  das  der  Maria  patrona  Bavariae  gehört, 
Wallfahrten  zu  anderen  Heiligen  verboten  sind.  Aber  in  den  Anordnungen 
der  drei  Namen  ist  gewiß  irgendein  orientierendes  Merkmal  enthalten. 
Am  einfachsten  läßt  sich  ein  geographisches  vermuten,  wie  solche  geo- 
graphische Unterscheidungen  denn  bei  den  Germanen  uralt  sind5)  und 
früh  auch  für  Volksnamen  und  Eponymi  verwandt6).  Aber  ich  sehe 
keine  Möglichkeit,  auch  nur  den  Namen  Isto  mit  einer  Himmelsrichtung 
zu  verbinden.  So  muß  man  sich  denn  wohl  dahin  bescheiden,  eine  rein 
praktische  Ursache  der  Benennung  anzunehmen:  unter  den  Namen  der 
drei  Götter  wurden  die  gewählt,  die  alliterierten7);  vielleicht  wurde  dazu 
auch  »Isto«  nach  »Tuisto«  neugebildet,  wie  bei  der  Dreiheit  Wodan- 
Wili-We8)  solche  Umstände  gewiß  mitgewirkt  haben. 

Wir  besäßen  dann  also  in  Ingo,  Irmin,  Isto  drei  urgermanische 
Hauptgötter9),  die  nur  in  ihrer  Eigenschaft  als  Kultvorsteher 
spezifische  Namen  führen.  Die  Kultverbände  haben  sich  früh  aufgelöst10); 
dabei  geht  die  Gründungssage  (Tuisto-Mannus  —  die  drei  Söhne)  ver- 
loren. Andere  religiöse  Interessen  verdrängten  die  Dreiteilung  in  Acker- 
bau —  Krieg  —  Runenweisheit  (wenn  man  will:    Nährstand,  Wehrstand, 


x)  Vgl.  meinen  Aufsatz  Ark.  for  nord.  Fil.  23,  247. 

2)  Vgl.  z.  B.  Golther  S.  605. 

3)  z.  B.  von  Golther. 

4)  de  Groot,  Kultur  d.  Gegenwart,  S.  167. 

5)  Wehrle,  Ztsch.  f.  d.  Wortforschung  7,  61  f. 

6)  Ostrogotha:  ders.  ebd.  8,  337. 

7)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  148 f. 

8)  Lok.  Str.  26,  Gylf.  cap.  6:  Gering  S.  302. 

9)  Mercurius,  Mars,  Hercules  (Tac.  cap.  9)  entsprechen  allerdings  eher  Odin, 
Tyr,  Thor  als  Frey,  Tyr,  Odin. 

,0)  Mogk  S.  315. 

13* 


196  Viertes  Kapitel. 

Lehrstand).  Neben  ihnen  mag  früh  ein  vandilischer  Verband  (mit  Thor?) 
gestanden  haben;  als  dieser  sich  löste,  erbten  Ing — Freyr  (in  Schweden) 
und  Odin  (überall  sonst  auf  gemanischen  Boden). 

Saxnöt. 
Auch  hier  liegt  die  Sache  nicht  so  einfach,  wie  sie  gewöhnlich *) 
dargestellt  wird.  Die  Identität  mit  Tyr  geht  allerdings  aus  der  altsächsischen 
Abschwörungsformel  vom  Jahre  772  hervor:  der  Täufling  entsagt  Thuner 
ende  Woäen  ende  Saxnote.  Er  ist  also  der  sächsische  Tyr,  Tyr  als 
Stammgott  der  Sachsen2).  Aber  in  der  ostsächsischen  Stammtafel  heißt 
er  Wodans  Sohn,  was  Tyr  ursprünglich  gewiß  nicht  ist.  In  späterer  Zeit, 
wo  die  genealogischen  Ämter  der  Theologen  überall  Filiationen  herstellen, 
hätte  das  wenig  zu  sagen;  aber  die  Stammtafel  von  Essex  muß  älter  sein3). 
Immerhin  ist  an  die  Deutung  der  drei  Eponymi  als  Söhne  eines  Tiu- 
Sohnes  Tiuisco4)  zu  erinnern. 

Frey 5). 
Was  seine  ursprüngliche  Bedeutung  betrifft,  so  wird  allgemein  der 
Zusammenhang  mit  Tyr  behauptet;  Golther  faßt  ihn  als  eine  Hypostase 
des  alten  Himmelsgottes  auf6),  Mogk  nennt  ihn7)  einen  Himmels-  und 
Sonnengott  (was  schon  zweierlei  ist).  Wäre  Freyr  aus  dem  Himmelsgott 
Tyr  hervorgegangen,  so  müßte  er  älter  sein  als  dessen  urgermanische 
Geltung  als  bloßer  Kriegsgott.  Aber  er  gilt  im  Norden  selbst  als  ein 
jüngerer  Gott,  was  dadurch  ausgedrückt  wird,  daß  er  Njörds  Sohn  heißt; 
und  auch  objektive  Kriterien  sprechen  dafür,  daß  er  erst  an  dem  Ausgang 
der  gemeingermanischen  Zeit  ein  selbständiger  Gott  wurde.  Denn  in 
Taciteischer  Zeit  ist  Ing-Freyr,  wie  wir  gesehen  haben,  noch  mit  alter- 
tümlich-dämonischen Zügen  ausgestattet :  der  Wagen  hat  fast  fetischistischen 
Charakter,  Sceafs  Schlaf  auf  der  Garbe  zeigt  ihn  noch  als  Naturgeist. 
Daher  stimmt  denn  auch,  daß  wir  von  dem  Gott  Freyr  nur  aus  dem 
Norden  Kenntnis  haben 8) ;  er  galt  sogar  einst  als  ein  schwedischer  Gott 9), 
allerdings  mit  Unrecht.  Vielleicht  zeugt  die  Benennung  einer  Gruppe  von 
Runennamen  nach  ihm  sogar  für  hohes  Alter  des  urgermanischen 
Fruchtbarkeitsgottes  Freyr10). 

*)  Meyer  S.  344,  Golther  S.  2131 

2)  Über  den  Namen  siehe  o.  S.  181 ;  Zweifel  äußert  Much ,  Himmelsgott,  S.  225. 

3)  J.  Grimm,  Mythologie  3,  378. 

4)  Kluge,  siehe  o.  S.  191. 

5)  Mogk  S.  318f.,  Meyer  S.  362t,  Golther  S.  218f. 

6)  Ebenso  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  104. 

7)  S.  321.  8)  Meyer  S.  36-41,  doch  vgl.  S.  362. 
9)  Vgl.  Uhland,  Schriften  7,  344. 

10)  Vgl.  u.  §  28. 


§  17.    Hauptgötter.  197 

Himmels-  oder  Sonnengott  könnte  Frey  auch  bei  späterer  Ent- 
wicklung sein.  Was  aber  Mogk  dafür  anbringt,  sind  Züge  von  zweifel- 
hafter Altertümlichkeit:  das  Wunderschiff,  das  sich  in  der  Tasche  tragen 
läßt,  wenn  man  es  nicht  braucht,  sonst  aber  Platz  für  alle  Äsen  hat *),  ist 
wohl  nur  eine  märchenhafte  Umgestaltung  von  Ings  altem  Wagenschiff, 
entstanden  aus  der  Lust  der  Wikinger,  sich  eine  einstweilen  nur  im  Traum 
mögliche  Vervollkommnung  der  Fahrgeschwindigkeit  und  Schiffsbe- 
weglichkeit auszumalen.  Daß  ein  Schiff,  das  man  in  die  Tasche  stecken 
kann  (nach  Mannhardt) ,  als  die  Wolke  aufzufassen  sei,  scheint  mir  ein 
Beispiel  jener  mythen  deuten  den  Taschenspielerei,  die  es  mit  den  Wunder- 
schätzen der  Götter2)  wohl  aufnehmen  kann.  Und  darf  man  der  Tracht 
der  alten  Germanengötter  überhaupt  Taschen  zutrauen?  —  Alf  heim  ist, 
wie  alle  »Heime«,  dem  Gott  erst  spät  zugewiesen3);  er  erhält  es,  weil 
er  eben  heiter  und  freundlich  ist.  Schirmgott  und  Schutzherr  der  Edel- 
priester4)  wird  er  aber  aus  seiner  Funktion  als  Friedensgott5). 

Wir  sehen  also  seine  ursprüngliche  Bedeutung  in  der  Identität  mit 
Ing  und  Sceaf  verbürgt.  (Das  Verhältnis  zu  Njörd  lassen  wir  einstweilen 
beiseite.)  Frey  ist  zunächst  ein  Dämon  des  Getreidebaues,  dessen  Kult 
durch  fremde  Einwanderer  mit  der  Einführung  des  Ackerbaues  von  den 
Schiffsstätten  her  sich  verbreitete  —  ein  ursprünglicher  primitiver  Dämon 
wie  Erichthonius.  der  »Genius  des  fruchtbaren  Bodens  der  Gegend  von 
Athen«  6),  der  altattische  deus  terra  edüus,  der  in  seiner  Schlangengestalt 
den  dämonischen  Ursprung  noch  so  deutlich  am  Leibe  trägt,  wie  in  der 
lokalen  Gebundenheit  seiner  Verehrung  die  Analogie  mit  dem  Heim  der 
Schiffsstätte.  Seine  Bedeutung  wächst  mit  der  des  Ackerbaues  und  des 
durch  ihn  geforderten  »Friedens«,  d.  h.  staatlich  garantierte  Rechts- 
verhältnisse7). 

Der  Name  Frey  =  gotisch  frauja,  althochdeutsch  Fr 6,  angelsächsisch 
fred  bedeutet  »Herr«,  wie  Balder  und  viele  andere  Götternamen  bis  zu 
unserem  »Herr«  für  Gott.  Dies  bedeutet  vielleicht,  daß  er  einmal  auf 
einem  bestimmten  Gebiet  höchster  Gott  war,  vielleicht  auch  das  nicht; 
keinesfalls8)  daß  er  je  Tiwaz  war. 

Er  hat  wenig  Synonyma.  Dagegen  erhält  sein  Name  gern  verdeut- 
lichende Zusätze:  norwegisch  Ingvifreyr,  Ingunarfreyr  dänisch,  angel- 


*)  Gylf.  cap.  43:  Gering  S.  333. 

2)  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  56 f. 

3)  Grim.  Str.  5. 

4)  »Goden«:  Mogk  S.  322.  5)  Siehe  u. 

6)  Preller  2,  138;  vgl.  1,  169. 

7)  Haltlos  scheint  der  Versuch  von  Detter  und  Heinzel  (PBB.  18,  560), 
ihn  mit  Lödur  (s.  u.)  zu  identifizieren. 

8)  Mit  Mogk  S.  319. 


198  Viertes  Kapitel. 

sächsisch  frea  Ingwina  »Herr  der  Ingvaeonen«,  Ingvina  ärfreyr 
»Gott  der  Fruchtbarkeit  bei  den  Ingvaeonen«1):  die  Erinnerung  an  die 
lokale  Gebundenheit  des  Dämons  hat  sich  bei  diesem  ältesten  Kultgott  der 
Germanen  merkwürdig  lange  erhalten.  —  Andere  Ehrentitel  heben  seine 
besondere  Beziehung  zu  der  kollektiv  gefaßten  Menschheit  (dem  ackerbau- 
treibenden Volk)  hervor:  folkvaldi goäa2):  »Herr,  Vertreter  der  Menschen 
bei  den  Göttern«3);  veraldar  god,  »Gott  aller  jetzt  lebenden  Menschen4). 
Dieser  letztere  Titel  geht  bei  den  Lappen  angeblich  auf  Thor  über5). 

In  seiner  Entwicklung  ist  also  Freyr  eine  vom  Vegetationsdämon  zum 
Gott  aufgestiegene  Gottheit.  Er  bildet  mit  Njörd  und  Freyja,  die  mit 
ihm  aufs  engste  zusammengehören,  die  Gruppe  der  Wanen,  der  lichten 
Kulturgottheiten  von  westlichem  Ursprung;  die  Verschiedenheit  von  den 
auf  urgermanischem  Boden  wurzelnden  Äsen  wird  deutlich  empfunden 
und  bildet  ein  weiteres  Argument  gegen  Freys  Ableitung  von  dem 
urgermanischen  Haupt-Asen  Tyr.  Der  Ackerbaudämon  wird  zum  Gott  des 
Friedens  und  damit  zum  Spender  von  »Glück«,  d.  h.  Wohlstand,  Reichtum, 
Ordnung.  Freys  Friede  ist  in  Schweden  sprichwörtlich,  wie  der  Frödis 
in  Dänemark6).  Als  Gott  der  Erdkultur  bringt  er  auch  Regen  und 
Sonnenschein  und  günstigen  Wind7).  —  Gelegentlich  wird  er,  wie  alle 
Spezialpatrone,  aus  seiner  schimmernden  Funktion  heraus  auch  Kriegsgott8), 
was  man  nicht  auf  eine  ältere  Funktion  zurückbeziehen  darf. 

Der  Gott  der  Fruchtbarkeit  erscheint  wie  seinesgleichen  in  aller  Welt, 
cum  ingenti  priapo 9).  Seine  freundliche  heitere  Art  wird  besonders  be- 
tont. —  Unter  seinen  Attributen  ist  das  älteste  eben  der  Phallus  selbst, 
nachgebildet  in  den  »heiligen  weißen  Steinen«  in  norwegischen  Distrikten10). 
Aber   alt   scheint    auch    das    Schwert    —    womit    meines    Erachtens    die 


J)  Kock;  vgl.  Mogk  S.  320,  Golther  S.  233. 

2)  Skirn.  Str.  3. 

3)  Denn  »Fürst  der  Götter,  wie  Gering  S.  52  übersetzt,  ist  er  nie  gewesen; 
Skirn.  Str.  3  hebt  eben  hervor,  daß  der  Gott  —  der  nach  Str.  6  eine  Riesin 
liebt  —  unter  den  Göttern  den  Sterblichen  am  nächsten  steht;  folk  bedeutet 
»Volk  als  politischer  Verband«  (Gering,  Vollständ.  Wörterbuch  zu  d.  Liedern 
d.  Edda,  Halle  1903,  S.  281). 

4)  Anders  Mogk  S.  322. 

5)  Krohn,  Lappische  Beitr.  zur  germ.  Mythol.:  Finnisch-ugrische  Forschungen 
1908,  S.  169. 

6)  Mogk  S.  322.  —  Auch  Janus,  dessen  Tempelschließung  für  glückliche 
Zeiten  bezeichnend  ist,  wird  (Wissowa  S.  95)  mit  Unrecht  als  ursprünglicher 
Sonnen-  oder  Himmelsgott  gedacht. 

7)  Gylf.  cap.  24  —  Gering  S.  318. 

8)  Lok.  Str.  37;  vgl.  Mogk  S.  322. 

9)  Adam  von  Bremen  cap.  4. 
*)  Vgl.  Mogk,  Menschenopfer,  S.  634. 


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§  17.    Hauptgötter.  199 

Identität  Freys  mit  Odin1)  schon  ohne  weiteres  ausgeschlossen  ist:  der 
Speergott  ist  nirgends  auch  Schwertgott!  Dies  Schwert  schwingt  sich 
(märchenhaft)  von  selbst 2),  womit  wohl  nur  seine  Trefflichkeit  ausgedrückt 
ist  (Im  Stil  der  alten  Mythendeutung  könnte  etwa  das  automatisch  wirkende 
Gesetz  verstanden  werden!)  Wenn  Loki8)  behauptet,  Frey  habe  sein 
Schwert  verschenkt,  um  Gerd  zu  erlangen,  so  liegt  möglicherweise  nur 
eine  falsche  Interpretation  von  Skirn.  Str.  25  vor4);  oder  aber  wieder  ein 
späterer  Legendenzug,  der  Freys  Opferbereitschaft  in  Form  einer  sym- 
bolischen Handlung  ausdrückt.  Die  spätere  Spekulation  folgert  dann 
daraus,  daß  er  am  jüngsten  Tag  ohne  Schwert  kämpfen  muß5).  —  Mogk6) 
bezieht  auch  dies  Schwert  auf  Tyr;  aber  von  Tyrs  Schwert  wird  nichts 
Zauberhaftes  ausgesagt7). 

Frey  erscheint  (wie  Ing,  aber  auch  wie  Thor)  im  Wagen  fahrend, 
von  einem  Eber  mit  goldenen  Borsten  (Gullinbursti,  Symbol  des  frucht- 
baren Ackers)  gezogen.  Doch  ist  er  auch8)  der  beste  aller  Reiter,  viel- 
leicht auch,  nachdem  er  eine  Lieblingsgestalt  der  Wikingerphantasie  ge- 
worden war. 

Der  Hauptsitz  seines  Kults  ist  Schweden,  wo  in  Altuppsala  sein 
berühmter  Tempel  steht  mit  seinem  Götterbild  zwischen  denen  von 
Thor  und  Odin:  er  also  als  Hauptgott  über  den  anderen  Haupt- 
göttern9). Seine  besonderen  Verehrer  sind  die  schwedischen  Könige;  des- 
halb heißt  er  auch  Svia  god,  Schwedengott.  Die  Schweden  hatten  die 
kulturelle  Führung  im  Norden 10)  und  zuerst  feste  staatliche  Ordnung. 
Von  hier  geht  seine  Verehrung  (d.  h.  sein  Kult  als  des  Hauptgottes)  zu 
den  Norwegern  in  die  Provinz  Drontheim,  wo  ein  Tempel  für  die  ganze 
»Amphiktyonie«  n)  mit  geweihten  Rossen  (wie  bei  Tyr)  steht12)  und  das 
Volk  ihn  um  Frieden  und  Fruchtbarkeit  anruft,  sowie  um  die  Zukunft 
befragt.    Von  Norwegen  geht  der  Kult  nach  Island,  wo  Hrafnkell 18)  ihm 


')  Mit  der  auch  Mogk  in  seiner  wichtigen  Untersuchung  über  die  Germ. 
Menschenopfer  operiert:  ebd.  S.  635. 

2)  Skirn.  Str.  9. 

3)  Lok.  Str.  42.    Wie  die  Zeile  »Mit  Gold  erwarbst  du  Gymirs  Tochter«,  direkt 
auf  Skirn.  Str.  19  zurückgehen  kann. 

4)  Gylf.  cap.  37:  Gering  S.  329,  und  cap.  51:  Gering  S.  349. 

5)  a.  a.  O.  S.  321. 

6)  a.  a.  O.  S.  224. 

7)  Vielleicht  ist  bei  Frey  an  ein  Sichelschwert  zu  denken,  wie  es  Ammon-Re 
besitzt?    Er  man,  Ägypt.  Rel.,  S.  61. 

8)  Meyer  S.  366. 

9)  Adam   von   Bremen   beschreibt  ihn  kurz  vor  1000;   vgl.  Mogk  S.  367; 
Ph.  W.  Kohlmann,  Adam  von  Bremen,  Leipzig  1908,  S.  lf. 

10)  Olrik,  Nordisches  Geistesleben,  S.  1. 
n)  Mogk  S.  319. 

12)  Golther  S.  229.  13)  Ebd.  S.  226. 


200  Viertes  Kapitel. 

einen  Tempel  errichtet,  Thorkell1)  ihm;  einen  Ochsen  opfert,  so  daß  Frey 
in  Familien  mit  Wodansreligion  (Hrafnkell  nach  dem  heiligen  Raben  be- 
nannt) und  Thorverehrung  (der  theophore  Name  Thorkell;  ebenso  Thor- 
grim)  den  Sieg  davongetragen  zu  haben  scheint.  Thorgrim  opfert  ihm 
regelmäßig  und  Frey  zeigt  sich  dankbar,  indem  er  die  Umgebung  seines 
Grabhügels  vor  Sonne  und  Frost  schützt,  d.  h.  fruchtbar  erhält 2).  Über- 
haupt ist  er  der  eigentliche  »Opfergott«,  weil  seine  Gunst  der  Einzelne 
unmittelbar  erprobt;  seine  Lieblinge  bilden  eine  eigene  Kategorie  und 
nennen  sich  selbst  Freys  vtnir  (angelsächsisch  Freavine,  althochdeutsch 
Fröwiri) 3).  Daher  entwickelt  sich  auch  gerade  ihm  gegenüber  besonders 
deutlich  das  naive  Gegenseitigkeits Verhältnis.  »Wir  haben  dem  Frey 
lang  gedient«,  sagen  998  die  Männer  von  Throndheim  zu  König  Olaf, 
»und  er  hat  sich  uns  gegenüber  bewährt.  Oft  hat  er  mit  uns  gesprochen 
und  uns  die  Zukunft  vorher  gesagt;  und  Frieden  und  Fülle  hat  er  uns 
verliehen.« 

Ihm  gilt  auch  das  große  Winteropfer:  an  seinem  Tempel4)  wird  dann 
sein  Bild  umhergefahren5):  in  Form  einer  »heiligen  Handlung«  wird 
seine  ursprüngliche  Ankunft  (auf  Ings  Wagen  in  der  Fahrt  von  West 
nach  Ost)  nachgebildet6). 

Ein  Beweis  für  die  Verbreitung  seines  Kultes  sind  die  kleinen  Frey- 
bilder, wie  das  silberne,  das  ein  nordischer  Wiking  von  König  Harald 
geschenkt  erhält  und  das  sich  dann  einen  Tempelplatz  auf  Island  auswählt7). 
Auch  in  Deutschland  hat  man  Spuren  seines  Kultes8)  finden  wollen,  mit 
zweifelhaftem  Recht9).  Dagegen  ist  es  sicher,  daß  sein  Bild  noch  in 
christlicher  Zeit  lebendig  war  und  Wunder  wirkte: 

Gunnar  Helmingr,  ein  des  Totschlags  beschuldigter  Mann,  flüchtete  aus 
Norwegen  nach  Schweden.  Damals  wurde  noch  den  Göttern  geopfert,  vor  allem 
dem  Frey.  Das  Götzenbild  des  Frey  redete  mit  den  Leuten,  auf  Eingebung  des 
bösen  Feindes  berichtet  der  Sagaschreiber,  und  hatte  ein  junges  Weib  zu  seinem 
Dienst.  Sie  galt  als  des  Gottes  Frau  und  war  über  Freys  Heiligtum  gesetzt 
Gunnar  flehte  sie  um  Schutz  an.  Obwohl  der  Gott  dem  Fremdling  nicht  günstig 
schien,  behielt  ihn  die  Priesterin  doch  bei  sich.  Die  Zeit  kam  heran,  da  die  Frau 
das  Götzenbild  auf  einem  Wagen  im  Lande  herumführen  sollte,  damit  Frey  den 
Leuten  fruchtbares  Jahr  bringe.  Die  Priesterin  saß  beim  Gott  auf  dem  Wagen, 
die  Dienstleute,  unter  ihnen  Gunnar,  gingen  zu  Fuß  voraus.  Als  sie  einmal 
übers  Gebirge  fuhren,  erhob  sich  ein  großes  Unwetter.    Nach  und  nach  ließen 

1)  Ebd.  S.  227,  Mogk  S.  322;  ebenso  Oddr:  Golther  S.  228. 

2)  Golther  S.  227. 

3)  Ebd.  4)  Siehe  u. 
B)  Mogk  S.  322.  367. 

«)  Golther  S.  208  Anm. 

7)  Golther  S.  231. 

8)  Im  Straßburger  Blutsegen:  Müllenhoff  und  Scherer,  Denkmäler  IV,  6. 

9)  Vgl.  Golther  S.  227  Anm. 


§  17.    Hauptgötter.  201 

alle  bis  auf  Gunnar  den  Wagen  im  Stich.  Gunnar  führte  die  Zugtiere,  als  er 
aber  müde  wurde,  setzte  er  sich  auf  den  Wagen.  Die  Frau  sagte :  Sieh  zu,  sonst 
erhebt  sich  Frey  gegen  Dich!  Gunnar  versuchte  noch  einige  Zeit  zu  gehen,  als 
er  aber  wieder  müde  ward,  sprach  er:  So  will  ichs  versuchen,  Frey  zu  wider- 
stehen, wenn  er  mich  angreift.  Er  ringt  mit  Frey  und  ist  nahe  daran,  zu  unter- 
liegen. Da  gelobt  er,  nach  Norwegen  zurückzukehren,  mit  König  Olaf  sich  zu 
versöhnen  und  den  wahren  Glauben  anzunehmen,  und  es  glückt  ihm,  Frey  zu 
fällen.  Der  böse  Geist  lief  aus  dem  Götzenbild,  das  Gunnar  in  Stücke  schlug. 
Dann  ging  er  zum  Wagen  und  befahl  der  Frau,  sie  solle  ihn  für  den  Gott  aus- 
geben, wozu  sie  gern  bereit  war.  So  fuhr  Gunnar  als  Frey  zu  den  Leuten.  Das 
Wetter  hellte  sich  auf  und  sie  kamen  zu  dem  Gastgebot,  das  ihnen  angerichtet 
war.  Dort  waren  viele  von  den  Leuten,  die  zuvor  dem  Wagen  nachgelaufen 
waren.  Dem  Volke  dünkte  es  viel  wert,  wie  Frey  seine  Macht  zeige,  daß  er  in 
solchem  Unwetter,  wo  alle  ihn  verließen,  doch  mit  seiner  Frau  zu  den  Höfen 
käme,  und  daß  er  nun  unter  den  Leuten  wandle  und  wie  andere  Menschen 
trinke.  So  besuchten  sie  den  Winter  über  die  Gasterejen.  Frey  redete  fast  allein 
mit  seinem  Weib,  nur  wenig  mit  anderen,  er  wollte  kein  blutiges  Opfer  an- 
nehmen, sondern  nur  Gold  und  Silber,  schöne  Gewänder  und  andere  Kostbar- 
keiten. Mit  der  Zeit  wurde  Freys  Weib  schwanger.  Das  galt  für  ein  gutes 
Zeichen.  Die  Witterung  war  gut  und  alles  deutete  auf  ein  fruchtbares  Jahr. 
Weithin  verbreitete  sich  die  Kunde,  wie  mächtig  der  Schwedengott  sich  zeige. 
Auch  König  Olaf  vernahm  davon,  ihm  ahnte  die  Wahrheit.  Er  schickte  Gunnars 
Bruder  Sigurd  nach  Schweden,  und  der  erkannte  alsbald,  wer  Frey  war.  Bei 
Nacht  und  Nebel  entwich  Gunnar  mit  seinem  Weib  und  allen  Kleinodien  nach 
Norwegen  und  ließ  sich  dort  taufen1). 

Wie  Golther  bemerkt,  ist  der  Freykult  der  Umfahrt  mit  der  Priesterin 
hier  noch  in  der  Erinnerung  bewahrt,  wenn  auch  in  böswilliger  Ent- 
stellung 2). 

Geopfert  werden  ihm  (neben  dem  Pferd  und  dem  Ochsen,  den 
Haustieren  des  Landmanns)  vorzugsweise  Eber,  als  Sinnbild  der  Frucht- 
barkeit. Im  Spätwinter  zum  Opferschmaus  wird  der  größte  und  schönste 
cber  dargebracht:  sonargöltr,  der  » H erden eber « 3).  Bei  diesem  feier- 
ichen  Hauptopfer  werden  Gelübde  abgelegt,  vorzugsweise  wohl  um 
»Glück«4).  Auch  diese  Sitte  dauert  noch  lange  fort:  in  Schweden, 
England,  Deutschland  ist  der  Schweinskopf  Weihnachtsgericht.  »Alt  scheint 
auch  der  Brauch,  Juleber  aus  Kuchenteig  zu  backen«  —  symbolische 
Opfertiere  —  »und  so  unter  die  Frucht  zu  reiben,  damit  die  nächste 
Aussaat  kräftig  aufgehe«  5).    Dagegen  hat  die  berühmte  Eberkopf-Phalanx, 


J)  Golther  S.  229. 

2)  Kunstvolle  Spekulationen  über  das  »Frey-Ritual«  bei  Schuck,  Studier 
i  nordisk  Literatur-  og  Religionshistoria  2,  2481;  vgl.  Kauffmann,  Arch.  f. 
Rel.-Wissensch.  11,  116. 

3)  Sievers,  PBB.  16,  542;  früher  nach  Analogie  der  »Sündenböcke«,  vgl. 
Frazer  2,  194 f.,  fälschlich  als  »Sühneber«  gefaßt,  während  er  doch  nur  um 
Fruchtbarkeit  geopfert  wird. 

4)  Helg.  Hjörv.  zu  Str.  31. 
B)  Meyer  S.  327. 


202  Viertes  Kapitel. 

haben  die  Eberhelme  der  Angelsachsen,  haben  Namen  wie  Hildisvin  und 
Hildigöltr ,  Kriegseber1),  mit  dem  Friedensgott  schwerlich  etwas  zu 
schaffen. 

Später  wird  er  noch  als  Schutzherr  der  Hügelgräber  angesehen2); 
wohl  weil  er  zum  Gott  der  Erde  geworden  war.  Schwerlich  wird  das 
Beisetzen  unter  der  Erde  mit  dem  Ausstreuen  der  Saat  verglichen. 

Von  der  jüngeren  Mythenbildung  wird  Frey  als  Spender  des 
Reichtums  ein  Liebling  auch  der  vom  Ackerbau  zum  Raubzug  flüchtenden 
Wikinger.  In  diesen  Kreisen  scheint  sich  der  von  Gold  und  Glanz 
starrende  Schatz  Freyrs  angehäuft  zu  haben3).  Der  Eber,  einst  vielleicht 
Bild  des  Dämon  Freyrs4),  erhält  goldene  Borsten5),  und  sein  Glanz,  wie 
der  von  Freys  Schwert,  erhellt  die  Nacht.  Das  Schiff  Skidbladnir6),  von 
den  Zwergen  verfertigt  und  von  Loki  dem  Freyr  gegeben 7),  hat  stets 
günstigen  Fahrwind  und  jede  gewünschte  Form8).  Schließlich  wird  ihm 
auch  noch  der  tropfende  Ring  Draupnir  zugeteilt9),  den  eigentlich  Odin 
erhielt l0),  und  die  Äpfel  der  Idun n)  —  der  Reiche  kann  alles  haben. 
Meyer12)  deutet  das  ins  einzelne  naturmythisch  aus;  besser  betont  man  wohl 
nur  den  Gesamtcharakter:  es  sind  lauter  »Glücksgaben«  märchenhafter 
Art,  die  ein  paradiesisches  Schlaraffenland  darstellen,  in  dem  sich  das 
Schwert  von  selbst  schwingt,  der  Ring  sich  von  selbst  mehrt,  das  Schiff 
seinen  Wind  und  seinen  Raum  selbst  bestimmt,  gerade  wie  auch  die 
Ähren  auf  unbesäetem  Acker  wachsen  werden  13). 

Nur  aus  Anspielungen  wissen  wir,  daß  Freyr  »der  weiße  Würger 
des  Bell« 14)  war.  Er  soll  ihn  mit  der  Faust  erschlagen  haben,  weil  er 
sein  Schwert  dem  Skirnir  gegeben  hatte 15).  Dagegen  streitet,  daß  Gerd ls) 
in    Skirnir,   der  auf   dem  Vorplatz   steht,   ihres  Bruders   Mörder  fürchtet; 


T)  Golther  S.  224. 

2j  Chadwick,  The  cult  of  Odin,  S.  59f.;  vgl.  die  Legende  von  Thorgrim 
o.  S.  200. 

3)  Vgl.  v.  d.  Leyen  S.  56f. 

4)  Wie  des  keltischen  Moccus;  Anwyl,  Celtic  Religion,  S.  30,  vgl.  S.  24. 

5)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S*  345;  vgl.  Meyer  S.  158. 
«)  Vgl.  o.  S.  197. 

7)  Gylf.  cap.  43:  Gering  S.  333;  Skäldskap.  cap.  3:  Gering  S.  365. 

8)  Vgl.  Meyer  S.  159. 

9)  Skirn.  Str.  21. 
10)  Meyer  S.  158. 
n)  Skirn.  Str.  19. 

12)  S.  159. 

13)  Vol.  Str.  62. 
,4)  Vol.  Str.  53. 

15)  Gylf.  cap.  37:  Gering  S.  329. 

16)  Skirn.  Str.  16. 


§  17.    Hauptgötter.  203 

oder  ist  ihr  prophezeit,  daß  ihn  ein  Reiter  töten  wird x),  und  wehrt  sie 
sich  deshalb  so  heftig  gegen  den  Fremdling,  der  sie  mit  goldenen 
Äpfeln  bestechen  will2)?  Beli  war  jedenfalls  ein  Riese,  mit  dem  Freyr 
ringen  mußte  wie  Thor  mit  Hrungnir3),  woraus  dann  vielleicht  die 
Legende  entstand,  er  habe  zweimal  ohne  Schwert  kämpfen  müssen.  — 
Derartige  Mythen,  die  die  Götter  noch  in  einem  rohen  Ringkampf 
zeigen4),  haben  immer  die  Annahme  hohen  Alters  für  sich.  So  muß 
auch  Beowulf  mit  dem  Ungeheuer  ringen.  Die  älteste  Vorstellung  ist  die, 
daß  das  Schwert  gegen  Dämonen  versagt5);  daraus  entwickelt  sich  dann 
ein  ätiologischer  Mythus  vom  Verlieren  des  Schwertes  bei  Frey  (wie  bei 
Rüdiger  von  Bechelaren  ?),  des  Hammers  bei  Thor.  So  muß  auch  Tyr 
dem  Fenriswolf  in  den  Rachen  greifen.  —  Da  einmal  der  Mörder  Belis 
besonders  »der  glänzende«  heißt6),  war  wohl  Beli  ein  dunkler  Dämon, 
den  der  helle  Fruchtbarkeitsdämon  töten  mußte. 

Emanationen  Freys  sind  seine  Diener:  Byggwir  und  Beyla7)> 
wohl  nichts  anderes  als  der  typische  »Oberknecht«  des  Ackerbaugottes 
und  die  »mistbesudelte«  Magd8). 

Wohl  nur  aus  der  Anlehnung  an  die  Heldensage  ist  Skirnir  ge- 
boren9), der  die  Erntejungfrau  Gerd  aus  der  Gewalt  der  Reifriesen  be- 
freit (?):  das  Gedicht  Skirnisför  bringt  jedenfalls  den  Mythus  in  rein  novel- 
listischer Form.  Das  erotische  Moment  lag  bei  dem  Gott  der  Fruchtbar- 
keit nahe.  —  Nachher  wird  Skirnir  allgemeiner  Götterbote10).  Olrik11)  hält 
solche  Götterdiener  für  eine  typische  Erscheinung  und  vergleicht  Thors 
Thjälfi  und  Freys  Byggwir,  der  aber  doch  nur  schlecht  bezeugt  ist12). 


*)  Skirn.  Str.  15. 

2)  Str.  19;  wie  Eriphyle  durch  Gold  bestochen  wird:  Preller  2,  351. 

3)  Skäldsk.  cap.  1 :  Gering  S.  360. 

4)  Vgl.  z.  B.  den  Kampf  Indras  mit  Vritra  MacdonellS.  60;  doch  wandelt 
auch  dieser  sich  in  einen  Fernkampf  wie  der  Apollons  mit  Python,  Preller 
1,  239.  287. 

5)  Brandl  in  Pauls  Grundriß  2  2,  995. 

6)  Vol.  Str.  53;  nicht  in  dem  Fragment  bei  Heinzel-Detter  1,  195,  wo 
sein  Roß   »mit  blutigen  Hufen«  erwähnt  wird. 

7)  Lok.  Str.  43—46.  56;  vgl.  Golther  S.  234. 

8)  Oder  ist  an  Consus  und  Ops  zu  erinnern,  die  uralten  römischen  »Götter 
des  Erntesegens«  (Wissowa  S.  166)?  Daß  der  Altar  des  Consus  unterirdisch 
war,  weil  man  das  Getreide  unter  der  Erde  bewahrte,  könnte  mit  Lokis  Spott 
(Str.  46)  gemeint  sein:  »im  Stroh  des  Estrichs  lagst  du  versteckt,  als  die  Krieger 
zogen  zum  Kampf«.  Die  Alliteration  der  Namen  entspräche  der  von  Consus  und 
Ops  Consiva  (Wissowa  S.  168). 

9)  Doch  vgl.  Mogk  S.  321  nach  Niedner,  Zschr.  f.  d.  Alt.  30,  135f. 
10)  Gylf.  cap.  34:  Gering  S.  324. 

n)  Danske  Studier  2,  139. 
32)  Vgl.  allgemein  o.  S.  42. 


204  Viertes  Kapitel. 

Njörd1). 

Njörd  bietet  —  vielleicht  neben  Balder  —  das  schwierigste  Problem 
der  altgermanischen  Mythologie,  gerade  auch  deshalb,  weil  neben  den 
dunklen  Punkten  völlig  helle  liegen.  Dazu  gehört  vor  allem  der  Zu- 
sammenhang mit  Frey.  »Njörds  Wesen  deckt  sich  mit  Freyr«,  wie 
Golther2)  grammatisch  anfechtbar,  inhaltlich  zutreffend  sagt.  Die  alte 
Mythologie  erkennt  das  noch  in  ihrer  Weise  an:  sie  macht  Njörd  zum 
Vater  des  Freyr,  d.  h.  sie  sieht  die  beiden  Gestalten  als  wesensgleich  an, 
Freyr  aber  als  die  jüngere  Entwicklung.  —  Freyr  und  Njörd  werden  fast 
stets  zusammengenannt  und  »durch  prädikativen  Singular  gewissermaßen 
als  Einheit  aufgefaßt«3),  wie  indisch  Mitra  und  Varuna.  Sie  sollen 
Reichtum  spenden ;  sie  werden  bei  Schwur  und  Gelübde  gemeinschaftlich 
angerufen.  Sie  besitzen  gemeinschaftliche  Haine  und  Ortschaften4)  »haupt- 
sächlich in  Uppland,  in  Schweden  und  den  angrenzenden  Gauen  und 
einem  großen  Teile  Norwegens,  namentlich  im  Throndheimer  Gebiete.« 
Natürlich  gibt  es  auch  Stätten,  in  denen  (wie  sonst  der  im  Norden 
mächtigere  Frey)  Njörd  dominiert,  so5)  die  Insel  Njardarlog  mit  einem 
heiligen  See6).  »Reich  wie  Njörd«,  eine  sprichwörtliche  Wendung,  be- 
zeichnet auch  ihn  wie  Freyr  als  Herrn  des  Reichtums.  —  Endlich  bilden 
die  beiden  mit  (der  sekundären)  Freya  die  Gruppe  der  Wanen,  der 
Kulturgötter  von  Westen. 

Njörd  ist  aber  weiter  auch  ohne  Zweifel  identisch  mit  der  Nerthus 
des  Tacitus7).  Dieser  berichtet  von  einer  Reihe  die  Langobarden  um- 
wohnender Stämme:  »sie  haben  nichts  gemein,  außer  daß  sie  einen  ge- 
meinschaftlichen Kult  der  Nerthus,  d.  h.  der  Mutter  Erde,  besitzen  und 
meinen  sie  greife  in  die  Angelegenheiten  des  Einzelnen  wie  der  Völker 
ein.  In  einer  Insel  des  Ozeans  ist  ein  unberührbarer  Hain  (castum 
nemus:  der  Hain  ist  tabu);  in  ihm  ein  geweihter  Wagen,  mit  einem 
Kleid  überdeckt.  Nur  der  Priester  darf  ihn  berühren.  Dieser  erkennt  j 
die  Herankunft  der  Göttin  und  folgt  verehrungsvoll  ihrer  Umfahrt,  die 
mit  Kühen  geschieht.  Dann  sind  Festtage,  und  jeder  Ort  feiert,  den  sie 
ihrer  Ankunft  oder  gar  ihres  Aufenthaltes  würdigt.  Dann  wird  kein  Krieg 
begonnen,  die  Waffen  ruhen;  alles  Eisen  liegt  versperrt;  dann,  nur  dann 
kennt  und  liebt  man  den  Frieden.  Bis  derselbe  Priester  die  Göttin,  die 
des  Verkehrs  mit  den  Sterblichen  ersättigt  ist,  wieder  in  den  Tempel  bringt; 
dann  werden  Wagen  und  Kleider  und,  wenn  man  das  glauben  darf,  die 
Gottheit  selbst  in  einem   verborgenen  See  abgewaschen.     Sklaven   leisten 

*)  Meyer  S.  363;  Mogk  S.  323;  Golther  S.  218f.,  238i;  M.  Olsen,  Det 
gamle  norske  önavn  Njardarlog,  Christiania  1905. 
■)  S.  225.  *)  Mogk  a.  a.  O. 

4)  Mogk  S.  323.  «)  Olsen  S.  13. 

6)  a.  a.  O.  S.  15.  7)  Germ.  cap.  40. 


§  17.    Hauptgötter.  205 

dabei  Dienste,  die  dann  gleich  der  See  verschlingt.  Das  bringt  einen 
geheimen  Schrecken  hervor  und  ein  frommes  Bangen:  was  das  wohl 
sein  möge,  was  man  nicht  sehen  darf,  ohne  zu  sterben  x). 

An  der  Deutung  der  Nerthus  als  Terra  mater  liegt  kein  Grund  vor 
zu  zweifeln ;  das  gleiche  ist  gemeint,  wenn  Tacitus 2)  einen  Teil  der  Sueben 
der  Isis  opfern  läßt.  Auch  ist  die  Bedeutung  dieses  Zeremoniells  längst 
mit  Sicherheit  gedeutet.  Nur  muß  man  bei  Isis,  Nerthus,  Terra  mater 
nicht  an  eine  Gottheit  der  abstrakten,  dem  »Himmel«  adäquaten  »Erde« 
denken,  sondern  an  die  »Göttin  des  Saatfeldes«,  das  den  Samen  aufnimmt 
und  in  seinem  Schöße  sich  entwickeln  läßt3). 

Die  Göttin  der  fruchtbaren  Erde  ist  an  irgendeiner  Stätte  zu  den 
Menschen  gekommen;  diese  Stätte  ist  dadurch  geheiligt.  Sie  liegt  an 
einem  See,  gewiß  weil  die  Göttin  mit  ihrem  Wagen  über  das  Wasser  an 
die  »Schiffsstätte» 4)  gefahren  kam  —  wie  Ing-Frey.  Dieser  Wagen  ist 
der  Fetisch,  dem  zu  Ehren  Priesterschaft  und  Fest  gegründet  sind 5).  Aus 
bestimmten  Merkmalen,  etwa  dem  Sprossen  des  ersten  Grün,  schließt  der 
Priester,  die  unsichtbare  Gottheit  habe  sich  auf  den  Wagen  niedergelassen, 
der  sonst  unberührt  dasteht,  mit  Kleidern  (und  Zierrat)  bedeckt  wie  andere 
Fetische  ö).  Sobald  diese  Zeichen  sich  gezeigt  haben,  wird  in  Form  der 
heiligen  Handlung  der  erstmalige  Umzug  der  befruchtenden  Göttin  wieder- 
holt. Wohin  sie  kommt,  dahin  bringt  sie  den  Segen  der  Fruchtbarkeit7). 
Dies  ist  heilige  Zeit:  die  Göttin  bringt  den  Frieden  Freys.  Endlich  ist  der 
Umzug  vollendet  und  im  Allerheiligsten  des  Tempels  findet  eine  Schluß- 
zeremonie statt.  Die  Analogie  anderer  Kultusgebräuche  läßt  vermuten, 
daß  ein  Sklave  als  Stellvertreter  des  männlichen  Fruchtbarkeitsgottes  mit 
dem   Symbol    der    Göttin   —   etwa    einem    Baumstumpf    mit   Andeutung 


x)  Mannhardt  und  nach  ihm  neuerdings  Mogk  (Menschenopfer  S.  631) 
haben  den  Bericht  des  Tacitus  beanstandet:  er  sei  durch  die  römischen  Opfer- 
feste der  Magna  Mater  beeinflußt.  Mir  scheint  kein  Grund,  an  der  kultischen 
Übereinstimmung  gerade  hier  zu  zweifeln,  wo  an  sich  nicht  unwahrscheinliche 
Berichte  durch  die  Analogie  der  späteren  Frey-Umzüge  gestützt  werden. 

2)  Germ.  cap.  9. 

3)  WissowaS.  159;  Dieterich,  Mutter  Erde,  scheidet  beide  Anschauungen 
nicht  immer  streng  genug.  Die  abstrakte  Erdgöttin  z.  B.  indisch  Prthivi  (Mac- 
don eil  S.  88),  griechisch  Gaea  (Prell er  1,  634);  ihr  entspricht  altgermanisch 
Jörd  (siehe  u.). 

*)  Noatün  Grim.  Str.  16  —  Asciburgium,  siehe  o.  S.  193. 

5)  Es  ist  der  »leere  Götterthron«,  auf  den  sie  sich  wieder  niederlassen  soll 
wie  Jahve  auf  seine  Lade  (Dibelius,  Die  Lade  Jahves,  S.  5,  vgl.  27;  übrigens 
wird  Jahves  »tragbarer  Thron «  —  S.  46  —  auch  »Wagen«  genannt,  vgl.  S.  43). 

6)  Siehe  o.  S.  30. 

7)  Sie  befruchtet  das  Land,  wie  der  umherziehende  Faunus  die  Frauen,  die 
er  berührt  oder  durch  seine  Diener  berühren  läßt;  Wissowa  S.  173. 


206  Viertes  Kapitel. 

weiblicher  Geschlechtsteile  —  einen  ItQÖg  yäfiog1)  vornehmen  mußte,  um 
die  Göttin  und  durch  sie  das  Land  zu  befruchten;  danach  wurde  er  ge- 
tötet    Eine  Reinigungszeremonie  mag  die  Feier  beendigt  haben2). 

Der  weiblichen  Nerthus  steht  nun  der  männliche  Njörd  gegen- 
über, der  aber  noch  immer  einen  femininen  Namen  hat  und  merkwürdiger- 
weise eine  Gattin  mit  masculinem  Namen  und  Wesen  —  Skadi.  —  Olrik 
erklärte  Njörd  früher  für  einen  alten  Sturmgott,  den  lappischen  Bigga- 
galles3),  den  die  ursprünglich  nicht  seefahrenden  Lappen  übernommen 
hätten4);  doch  scheint  er  ihn  jetzt  auch  nur  als  »Gott  der  Seefahrer  und 
des  Wohlstandes«  anzusehen5),  und  sollte  ein  solcher  sich  aus  einem 
Sturmgott  entwickeln  können,  der  nur  zu  schaden  versteht6),  nicht  zu 
nützen?  —  Endlich  Mogk7)  deutet  den  Ritus  als  Regenzauber,  wozu 
meines  Erachtens  die  ganze  feierliche  Haltung  nicht  paßt:  der  Regen- 
zauber scheint  überall  einen  fröhlichen  Charakter  zu  haben  und  durchaus 
weder  Priester-  noch  Menschenopfer  zu  erfordern.  Sein  Charakteristikum 
ist  besonders  die  Nacktheit8). 

»)  Vgl.  z.  B.  Eisler,  Südd.  Monatsh.  Dez.  1909  S.  646. 

2)  Die  letzten  Vermutungen  stützen  sich  auf  die  vielfachen  neueren  Be- 
obachtungen über  Befruchtungszauber;  vgl.  z.  B.  1.  Moses  30,  3,  wo  Bilha  auf 
Raheis  Schoß  gebären  soll,  um  sie  fruchtbar  zu  machen,  und  allgemein  Dieterich, 
Mutter  Erde;  dagegen  wurde  die  Bedeutung  des  Umzugs  auf  Grund  anderer 
solcher  Umzüge  von  Vegetationsdämonen  schon  von  Mannhardt,  Wald-  und 
Feldkulte  1,  567 f.  erkannt.  —  Schucks  Auffassung  der  Nerthus  als  einer 
chthonischen  Gottheit  (Studier  i  Nordisk  Literatur-  og  Religionshistoria  1,  115  f.) 
kann  ich  mich  so  wenig  wie  den  anderen  Spekulationen  seines  Göttermets  an- 
schließen. Vgl.  übrigens  schon  Koegel,  Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  21  f.:  die  Göttin 
der  Fruchtbarkeit  kehre  in  die  Unterwelt  zurück.  Aber  Persephone  wird  ge- 
raubt, Nerthus  kommt  und  geht  freiwillig.  Allerdings  stützt  sich  die  chthonische 
Deutung  auf  beachtenswerte  Etymologien:  Noreen  (Abriß  d.  urgerm.  Lautlehre 
S.  209)  und  Kögel  (Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  22)  stellen  Nerthus  mit  v^raQoi, 
»untere  Götter,  Götter  der  Unterwelt«,  zusammen.  Dies  hat  Le'itzmann 
(PBB.  32,  60 f.)  aufgenommen  und  von  hier  das  dunkle  angelsächsische  Wort 
neorxnawong  für  das  Paradies  geistreich  als  »Wiese  der  Unterirdischen«  gedeutet 
(S.  65).  Nur  wage  ich  einer  Etymologie  noch  nicht  beizustimmen,  gegen  die 
die  Beziehungen  von  Nerthus— Njörd  zu  dem  priapischen  Gott  Frey  so  kräftig  zu 
sprechen  scheinen.  Die  Erdgöttin  ist  freilich  als  solche  in  gewissem  Sinne  immer 
chthonisch;  ihre  Kraft  wohnt  unter  der  Erdoberfläche;  aber  im  theologischen 
Sinn  darf  so  bloß  eine  Gottheit  heißen,  deren  Wirken  an  die  Unterwelt  ge- 
bannt ist. 

3)  Danske  Studier  2,  51  f.,  vgl.  S.  42;  dazu  Olsen  a.  a.  O.  S.  27  Anm. 

4)  Vgl.  K.  Krohn,  Finnisch-ugrische  Forschungen  1908,  S.  173. 

5)  Olrik,  Nordisches  Geistesleben,  S.  36. 

6)  Lappischer  Windzauber  bei  Krohn  a.  a.  O. 

7)  Menschenopfer  S.  632. 

8)  Wein  hold,  Zur  Geschichte  des  heidnischen  Ritus,  Berliner  Sitzungs; 
berichte  1896,  S.  1—50. 


§  17.    Hauptgötter.  207 

Der  gemeinschaftliche  Name  altgermanisch  nerthus  äst  noch  nicht 
►icher  erklärt;  nertu,  »guter  Wille«1)?  keltisch  nerth,  »Kraft,  Macht?«2). 
Wahrscheinlich  ist  es,  wie  Frey,  ein  eukomiastischer  Titel. 

Die  Göttin  Nerthus  hat  einen  Priester  zur  Seite,  der  Gott  Frey  eine 
Driesterin3).  Offenbar  war  früh  aus  einem  doppelgeschlechtigen  Vegetations- 
iämon  ein  Paar  geworden,  wie  gerade  unter  diesen  häufiger4).  Die  ursprüng- 
iche  Einheit  wird  noch  gefühlt,  wenn  »Frey  und  Njörd  durch  prädika- 
iven  Singular  gewissermaßen  als  Einheit  aufgefaßt  werden«5).  Nach  der 
Spaltung  muß  jedesmal  Priester  oder  Priesterin  den  fehlenden  Teil  ersetzen: 
in  der  Legende  von  Gunnar  Helmingr 6)  sitzt  die  Priesterin  bei  dem  Gott 
uif  dem  Wagen,  wie  bei  Tacitus  der  Priester  die  Göttin  begleitet.  Ursprüng- 
ich hatten  wohl  sie  die  heilige  Hochzeit  zu  vollziehen,  die  dann  wegen 
des  Privilegium  odiosum  der  ihr  folgenden  Opferung  auf  Sklaven  ab- 
gewälzt wurde. 

Wir  nehmen  also  an:  Frey  ist  ursprünglich  mit  Njörd-Nerthus  identisch. 
Wie  kommt  es  aber  zu  der  Spaltung7)? 

Es  ist  oft  betont  worden,  daß  wir  hier  den  ersten  ausgebildeten  Kult 
bei  den  Germanen  treffen.  Bei  Tacitus  begegnen  hier  zuerst  Priester  und 
feierlicher  Ritus;  beides  bleibt  bei  Frey  gewahrt,  weit  über  die  allgemein 
üblichen  Maifeste  heraus.   Besonders  wichtig  ist  ferner  die  Zentralisierung 

*)  Golther  S.  219.  a)  Mogk  S.  367. 

3)  Vgl.  Golther  a.  a.  O.  Ähnlich  durften  dem  Fest  des  Faunus  keine 
Weiber,  dem  der  Fauna  keine  Männer  beiwohnen:  Wissowa  S.  147. 

4)  Römisch  Pales  männlich  und  weiblich,  Pomonus  und  Pomona:  Wissowa 
;».  165;  auch  Isis  und  Osiris  (Er man,  Ägypt.  Rel.,  S.  34)  sind  Geschwister- 
fcatten  wie  »Njörd  mit  seiner  Schwester  den  Frey  erzeugt«  (Golther  S.  219). 
Man  denke  auch  an  indisch  Yama-Yami. 

5)  Mogk  S.  323,  wie  Indravaruna  indisch;  schon  urarisch:  Ed.  Meyer, 
Gesch.  d.  Alt.  2  1,  2;  S.  580. 

6)  Siehe  o.  S.  200. 

7)  Axel  Kocks  Versuch,  eine  Entstehung  des  männlichen  Njörd  aus  der 
weiblichen  Nerthus  auf  rein  grammatische  Weise  zu  erklären  (Ztschr.  f.  d.  Phil. 
28,  289 f.),  ist  wohl  außer  von  Krohn  (Finnische  Beitr.  zur  Germ.  Myth.  S.  244) 
von  niemandem  gebilligt  worden.  Wie  viele  Eigennamen  mit  weiblichen 
Endungen  führen  z.  B.  bei  den  Römern  Männer!  Eher  könnte  man  noch  an 
eine  ikonische  Mythe  denken:  wie  der  sacerdos  muliebri  ornatu  bei  den  Naha- 
narvalen  (Germ.  cap.  43)  oder  wie  jenes  Kultbild  des  in  wallende  Kleider  ge- 
hüllten Christus,  aus  dem  die  Kümmernis-Legende  entstand  (vgl.  Bernoulh, 
Heilige  der  Merowinger,  S.  172)  zu  Umdeutungen  aus  dem  männlichen  ins  weib- 
liche Geschlecht,  so  könnte  eine  rohe  alte  Fetischgestalt  zu  entgegengesetzter 
»Motion«  geführt  haben.  Indes  wir  haben  hierfür  keinen  Anhalt;  auch  würde 
ich  mich  wohl  trauen,  einzelne  Mythen,  nicht  aber  ganze  Göttergestalten  so  ab- 
zuleiten. —  Ob  der  feminine  Name  neben  dem  masculinen ,  wie  (mit  anderer 
Entwicklung)  Freyja  neben  Frey  noch  lebte,  als  Loki  seine  Schelte  (Lok.  Str.  32.  36) 
sprach  ? 


208  Viertes  Kapitel. 

des  Kults  bei  Nerthus  wie  bei  Frey  in  Uppsala  —  die  anderen  Tempel 
erscheinen  nur  als  dessen  Ableger,  etwa  wie  im  Frankenreich  die  Martins- 
kirche von  Tours  dominiert x).  Sollten  diese  sonst  verfrühten  Erscheinungen 
nicht  auf  fremden  Einfluß  zurückgehen?  Olsen  meint,  daß  die  Charuden 
den  Nerthuskult  nach  Hordeland  getragen  und  dort  die  Ursprungstätte  an 
einem  heiligen  See  Vevatn3)  nachgebildet  haben;  aber  ebenso  könnte 
schon  der  Taciteische  Brauch  Nachbildung  sein.  Sein  merkwürdiges 
Fortleben  —  noch  im  12.  Jahrhundert  fährt  in  den  Niederlanden  der 
Maiwagen  um3)  —  beweist  hohes  Alter  nicht  für  die  rituellen  Einzel- 
heiten, nur  für  die  Frühlingsfeier  als  solche.  Seefahrer  und  Fischer  rufen 
vorzugsweise  Njörd  an;  Beherrscherin  des  Meeres  und  Beschützerin  der 
Seefahrer  ist  Isis4),  zu  Tacitus  Zeit  längst  in  Rom  rezipiert  samt  ihrem 
Frühlingsfest  mit  dem  Prunkschiff  an  der  Tibermündung.  Ebenso  fährt 
die  Terra  Mater  am  27.  März  mit  Rindern  um.  Weshalb  also  den  Tacitus 
anzweifeln,  der5)  erzählt:  »pars  Sueborum  et  Isidi  sacrificat ;  unde 
causa  et  origo  peregrino  sacro  partim  comperi,  nisi  quod  Signum 
ipsum  in  modum  liburnae  figuratum  docet  advectam  religionem?< 
Irgendeine  derartige  Gottheit,  deren  Attribute,  deren  Wirksamkeit  und 
deren  mannweibliche  Art  an  Ing-Frey  erinnerten,  wurde  von- den  Germanen 
rezipiert  und  als  weibliche  Hypostase  des  Fruchtbarkeitsgottes  verehrt. 
So  wäre  denn  bei  der  altgermanischen  »Erdgöttin«6)  die  Zentralisation 
des  Kultes,  die  Bewahrung  eines  festen  Rituals,  und  als  beider  Wirkung 
und  Förderung  zugleich  die  Einsetzung  von  Priestern  zu  erklären,  wobei 
nochmals  daran  erinnert  sei,  daß  die  isländischen  Goden  sich  nach  Frey 
benannten. 

Dieser  Kult  baut  sich  also  auf  alter  dämonischer  Grundlage  (Umzug)] 
unter  Benutzung  fremder  Riten  (Priestertum ;  hyög  ydjuog?  Ablution)  auf.l 
Da  Njörd  und  Frey  identisch  sind,  ist  ihr  Kult  es  auch:  Njörd  ist  nachj 
unserer  Meinung  nur  der  Name,  den  Frey  als  Gatte  der  Nerthus  führt, 
nachdem  diese  von  ihm  differenziert  worden  war.  Daneben  besteht  der 
alte  männliche  Frey  fort.  Wie  er  in  Uppsala  seinen  Tempel  hat,  besitzt  Njörd 
seinen  heiligen  Hain  als  zentrale  Kultusstätte7)  vielleicht  auf  Seeland,  der 
Insel  der  Gefjon8).    Mogk9)  deutet  den  Bericht  des  Tacitus  auf  Menschen- 


')  Bernoulli,  Die  Heiligen  der  Merovinger,  S.  222f. 

2)  a.  a.  O.  S.  23. 

3)  Für  spätere  Bräuche  vgl.  Meyer  S.  331,  Mogk  S.  368. 

4)  Wissowa  S.  295. 

5)  Germ.  cap.  9. 

6)  Mogk  S.  367,  Golther  S.  456,  Meyer  S.  420. 

7)  Nach  Much,  PBB.  17, 195  vgl.  Mogk  S.  367;  ders.  Menschenopfer  S.  632f. 

8)  Die  starke  Verbreitung  seines  Kults  bezeugt  die  Interpolation  Väf.  Str.  38 : 
Njörd  .  .  .  der  ob  tausend  Altaren  und  Tempeln  waltet. 

9)  S.  367. 


§  17.    Hauptgötter.  209 

opfer,  was  über  das  Opfer  des  Gottes-Stellvertreters  heraus  nicht  richtig 
zu  sein  braucht1). 

Die  religionsgeschichtliche  Stellung  der  beiden  Wanen  ist 
durch  den  Mythus  vom  Wanenkrieg 2)  erhärtet.  Dieser  »älteste  Kult,  der 
sich  im  mittleren  Skandinavien  klar  erkennen  läßt«,  ist  dort  jünger  als  die 
Thor-Religion,  älter  als  die  Odins  und  hat  wohl  auch  eine  nationale 
Färbung:  Schwedengötter  gegen  norwegisch-dänische  Gottheiten3).  Daß 
der  Kult  von  Njörd  und  Frey  zu  den  Finnen  gedrungen  ist,  hat  zwar 
nichts  Uuwahrscheinliches,  ist  aber  meines  Erachtens  durch  K.  Krohn4) 
nicht  bewiesen  worden.  Eher  könnten  die  Beziehungen  der  Skadi5)  auf 
einen  mythologisch -kultischen  Tauschverkehr  schließen  lassen.  Beide 
Götter  haben  vielleicht  auf  eine  Gestalt  des  finnischen  Kalewala  gewirkt6). 

Eine  Emanation  der  Nerthus  scheint  Nehalennia7). 

Skadi8). 

Skadi  gehört  wieder  zu  Njörd,  wie  dieser  zu  Frey.  Nach  altnordischen 
Berichten  —  und  sie  ist  nur  in  Skandinavien  verehrt  worden  —  ist  sie  eine 
Tochter  des  Riesen  Thjazi 9) ;  deshalb  wohnt  sie  auch  später  in  der  Riesen- 
welt Thrymheim  10).  Sie  ist  als  Geisel  ausgetauscht  worden,  als  die  Äsen 
ihren  Vater  getötet  hatten.  Aber  in  Wirklichkeit  ist  sie  eine  finnische 
Götttin11).  Der  norwegische  Mythus  läßt  die  als  Mannweib  gedachte  und 
daher  masculinisch,  wohl  im  Sinne  von  altsächsisch  scatho,  angelsächsisch 
sceada  latro,  hostis  benannte  Göttin  Skadi  im  alten  Reiche  ihres  Vaters, 
des  Riesen  Thjazi,  auf  dem  Gebirge  ganz  nach  Finnenart  als  Jägerin  auf 
Schneeschuhen  hausen.  Als  Vertreterin  des  Finnentums  wird  sie  an- 
gesehen, wenn  sie  mit  Odin  außer  anderen  Ahnen  edler  Geschlechter 
vor  allem  den  Säming,  den  Ahnen  der  Herrscher  von  Halogaland,  also 
derjenigen  Landschaft,  wo  Lappen  und  Germanen   zusammen   lebten  wie 


*)  Der  berühmte  Sonnenwagen  aus  der  älteren  Bronzezeit  (S.  Müller, 
Urgeschichte  Europas,  S.  117)  könnte  allenfalls  auch  den  Wagen  der  Nerthus 
vorstellen  und  die  vergoldete  Scheibe  die  ährentragende  Erde;  nur  ist  das  vor- 
gespannte Tier  ein  Roß  und  keine  Kuh. 

2)  Siehe  u.  §  28. 

3)  Vgl.  Mogk  S.  323,  Golther  S.  121  f. 

4)  Finnische  Beitr.  zur  germ.  Mythol.,  Helsingfors  1906,  S.  244  f. 

5)  Siehe  u. 

6)  K.  Krohn,  Finnische  Beitr.  zur  germ.  Mythol.,  Helsingfors  1906,  S.  231  f. 

7)  Siehe  u. 

8)  Golther  S.  238.  480;  Meyer  S.  363;  Mogk  S.  311. 

9)  Mogk  S.  311. 
10)  Ebd.  S.  329. 

u)  Wie  schon  W.  Müller  (Mythol.  der  Heldensage,  S.  101)  und  besonders 
Müllenhoff  (D.  Alt.  2,  55f.;  vgl.  Golther  S.  481)  ausführten. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  14 


210  Viertes  Kapitel. 

nirgendwo  sonst,  erzeugt  haben  soll.  Denn  altnordisch  Sämr ...  scheint 
durchaus  dasselbe  mit  lappisch  Säbme  plur.  Samek,  wie  die  Lappen  sich 
selbst  benennen  .  .  . x).  In  diesen  Mythen  tritt  uns  unverkennbar  die  Ansicht 
entgegen,  daß  Lappen  und  Finnen  die  älteste  Bevölkerung  des  Landes 
waren,  die  durch  die  im  Dienste  der  Äsen  und  Wanen  stehende  der 
Nordmannen  zurückgedrängt  wurde.«  Ein  Mythus  aus  dem  Kampf 
zwischen  finnischen  und  germanischen  Gottheiten  wäre  dann  also  wohl  mit 
dem  Mythus  vom  Krieg  zwischen  Äsen  und  Wanen  kontaminiert  worden. 

Skadi  begegnet  auch  als  Windname2)  und  ist  von  Much3)  gewiß 
zutreffend  als  die  Verkörperung  des  aus  dem  Norden  einfallenden  kalten 
Windes  gedeutet  worden.  Sie  wäre  also  ursprünglich  eine  finnische 
Göttin,  die  dem  wilden  Eiswind  gebietet,  und  vor  der  das  Schiff  ge- 
schirmt werden  muß4),  Frey  aber  gibt  günstigen  Fahrwind  (Skidbladnir!). 
Nun  ist  mit  ihr  ein  seltsamer  Mythus  verbunden:  der  von  der  Mißehe 
mit  Njörd.  Sie  verträgt  die  Küste  mit  den  krächzenden  Vögeln  nicht,  er 
nicht  die  Berge  mit  dem  Geheul  der  Wölfe.  Deshalb  vergleichen  sie 
sich  dahin,  daß  sie  neun  Nächte  in  der  Riesenheimat  wohnt  und  dann 
drei  in  Noatun.  Ein  seltsamer  Ausgleich!  Bliebe  sie  fort,  wie  die 
Schwanenjungfrauen ,  wäre  es  verständlicher.  Denn  wenn  Persephone 
einen  Teil  des  Jahres  an  die  Oberwelt  zurückkehren  darf5),  so  ist  das 
anders:  die  Teilung  des  Aufenthalts  zwischen  Ober-  und  Unterwelt  be- 
gegnet auch  sonst  (man  denke  nur  an  die  Dioskuren),  aber  Skadi  ist  keine 
chthonische  Gottheit,  und  dieser  Ortswechsel  läßt  sich  nicht  so  auslegen. 
Ich  habe  deshalb6)  an  eine  ikonische  Mythe  gedacht:  Überführung  eines 
Götzenbildes  der  Finnen  nach  Noatun,  das  dann  nach  einem  Krieg  die 
Residenz  bei  Finnen  und  Germanen  teilte.  Ursprünglich  würde  es  sich 
wohl  aber  um  einen  Austausch  gehandelt  haben,  wie  Loki 7)  andeutet:  Njörd 
wurde  zu  dem  Eisriesen  geschickt,  dessen  Töchter  ihn  verhöhnten8. 

Für  singulären  Ursprung  der  Aufnahme  Skadis  sprechen  auch  die 
märchenhaften  Züge,  die  sich  daran  knüpfen9).  Ihr  Vater  soll  Idun  — 
eine  späte  Gottheit  —  entführt  haben;  dafür  wird  er  von  den  Äsen  ge- 
tötet: ätiologischer  Mythus  als  Urgeschichte.  Nun  hat  Skadi  eine  Buße 
zu  fordern:  sie  darf  einen  Äsen   als  Gemahl   wählen;   aber  sie  soll   nur 


J)  Doch  vgl.  Much,  Zur  Rigsthula,  Festschr.  f.  J.  v.  Kelle  1,  235 f. 

2)  Mogk  S.  307,  Meyer  S.  236. 

3)  Ztschr.  f.  d.  Alt.  36,  127. 

4)  Häv.  Str.  153. 

5)  Prell  er  1,  763,  vgl.  784,  auch  405. 

6)  Ztschr.  f.  d.  Phil.  38,  171. 

7)  Lok.  Str.  37. 

8)  Anders  Golther  S.  240. 

9)  Vgl.  v.  d.  Leyen  S.  35f. 


§  17.    Hauptgötter.  211 

die  Füsse  der  Auszuwählenden  sehen.  Bei  dieser  Kotillontour  vergreift 
sie  sich  und  wählt  Njörd  statt  Balder:  ätiologischer  Mythus  zur  Erklärung 
der  unglücklichen  Ehe1).  Außerdem  werden  Thjazis  Augen2)  an  den 
Himmel  versetzt.  Aber  noch  bleibt  sie  finster3),  bis  Loki  sie  durch  einen 
derben  phallischen  Schwank  zum  Lachen  bringt4).  Dies  krause  Durch- 
einander scheint  sich  erst  zu  lichten,  wenn  man  in  der  einen  Bedingung 
(Gattenwahl)  eine  Doublette  der  anderen  (erstes  Lachen)  sieht.  Die  Winter- 
göttin, die  die  Tochter  des  strengen,  die  Götter  selbst  schaudern  lassenden 
Winters  (daher  später  die  verjüngende  Idun  hineingezogen  ?)  ist,  soll  zum 
Lachen  gebracht  werden:  das  Lachen  der  Sonne  als  Zeichen  des  Winterendes. 
Das  ward  nun  wohl  bei  der  heiligen  Handlung  an  ihrem  Fest  durch  groben 
Spaß  bewirkt,  der,  jedesmal  neu  improvisiert,  die  Darstellerin  der  Skadi  zum 
Lachen  reizen  mußte5);  oder  auch  durch  ein  Spiel  wie  die  Fußwahl,  die 
vielleicht  zuerst  zum  Bestimmen  der  »Mailehen«  galt:  noch  jetzt  wird  die 
Maifrau  im  Amte  Gifhorn  ausgeloost  wie  sonst  ersteigert6).  Solche  Fest- 
gebräuche wären  dann  in  den  Mythus  geraten.  »Thjazis  Augen«  aber  waren 
wohl  ein  Sternbild,  das  die  Jahreszeit  des  »Winteraustreibens«  anzeigte. 

Auf  jeden  Fall  scheint  die  echte  alte  Gattin  Njörds  Gerd7)  gewesen 
zu  sein,  ein  riesischer  Dämon  des  Erntefeldes. 

Skadi,  nach  der  schwerlich  Scadinavia  heißt8),  hat  noch  weitere 
Verwandtschaft9):  ihr  Sohn  Säming  vertritt10)  die  finnische  Urbevölkerung, 
»schwärzlich  von  Aussehen«. 

Weitere  Sagen  knüpfen  sich  auch  an  diese  Gestalt.  Sie  soll 
mit  Loki  gebuhlt  haben11),  was  sich  aber  bei  allen  Göttinnen  von 
selbst  versteht;  aber  sie  wird  auch  zu  Lokis  Bestrafung  in  besondere 
Beziehung  gebracht:  nur  sie  beteiligt  sich  daran  (sonst  werden  nur  »die 
Äsen«  genannt),  indem  sie  die  giftige  Schlange  über  Lokis  Antlitz  be- 
festigt, deren  Gift  wieder  Sigyn  auffängt12).  Ich  habe  auch  dies13)  als 
einen    Mythus    aufgefaßt,    der    aus    alten    Götzenbildern    herausgedeutet 


J)  Nach  späterem  Mythus  wird  Njörd  einst  ganz  heimkehren,  Vaf.  Str.  19. 

2)  Wie  Aurvandils  Zeh,  Golther  S.  269. 

3)  Als  Wintergöttin:  Much,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  36,  126f.;  Mogk  S.  351. 

4)  Märchenmotiv  von  erzwungenem  Lachen :  v.  d.  L  e  y  e  n  S.  37.  Man  denke 
noch  an  Mörikes  Schöne  Lau! 

5)  Vgl.  meinen  Aufsatz  a.  a.  O.  S.  169.  Lachen  als  Teil  feierlicher  Kult- 
gebräuche kommt  z.  B.  bei  den  Römern  vor;  vgl.  Di  eis,  Sibyllinische  Blätter, 
S.  69,  2;  Wissowa  S.  173. 

6)  Meyer,  Deutsche  Volkskunde,  S.  161,  vgl.  S.  145;  ders.,  Badisches  Volks- 
leben, S.  224  f. 

7)  Meyer  S.  365 f. 

8)  Müllenhoff,  D.  Alt.  2,  357f. 

9)  Golther  S.  481. 

10)  Siehe  o.  S.  210.  X1)  Lok.  Str.  52. 

12)  Lok.  nach  Str.  35.  18J  a.  a.  O. 

14* 


212  Viertes  Kapitel. 

wäre.  Daß  Loki J)  bei  Thjazis  Tod  der  erste  und  letzte  Angreifer  ge- 
wesen wäre  —  er  rühmt  sich  dessen  mit  trotzigem  Hohn  wie  Hagen  vor 
Kriemhild  der  Ermordung  Siegfrieds  —  ist  dann  wohl  wieder  erfunden, 
um  ihren  besonderen  Haß  auf  Loki  zu  motivieren.  Denn  bei  jenem 
phallischen  Spiel  ist  ihr  ja  der  Schalk  unter  den  verneinenden  Geistern 
noch  keineswegs  verhaßt! 

Anzumerken  ist,  daß  Skadi  nicht  die  einzige  Gottheit  finnischer 
Herkunft  ist:  auch  Ullr,  Thorgerd,  Irpa  gehören  vielleicht  hierher.  Viel 
stärker  ist  die  umgekehrte  Beeinflussung2). 

Freyja3). 

Njörds  zweites  Kind,  Freyja4),  scheint  ausschließlich  norwegisch- 
isländisch5) und  selbst  bei  den  Norwegern  noch  wenig  bekannt.  Das 
Paar  Freyr-Freyja  ist  gewiß  nicht  so  alt  wie  das  Paar  Njörd-Nerthus ; 
vielmehr  ist  Freyja  eine  sekundäre  Bildung  zu  Frey  (und  zugleich  eine 
Abspaltung  von  Frigg?);  ihr  Name  Freyja  —  frouwe,  Herrin  ist  einfach 
moviert  wie  gydja  Göttin  zu  Gott. 

So  ziemlich  alle  Züge  Freyjas  sind  solchen  Freys  nachgebildet.  Man 
muß  wohl  annehmen,  daß  die  Frauen  ihre  besondere  Wohlstandsgottheit 
haben  wollten;  da  ward  sie  denn  dem  Frey  gesellt  und  an  die  erste 
charakterisierte  Göttin  Frigg  angelehnt.  So  ward  sie  Göttin  der  weiblichen 
Fruchtbarkeit  und  der  Liebe.  Hilfsbereitschaft  in  Liebes-  und  Geburts- 
nöten6) sind  ihr  eigentliches  Gebiet.  —  Doch  deuten  ihre  unerklärlichen 
Beinamen7)  wohl  darauf,  daß  sie  auch  ältere  selbständige  Dämonen 
(weibliche Hausgeister?)  in  sich  aufgenommen  hat8).  Auch  mit  walkyrischen 
Zügen  ist  ausgestattet:  mit  dem  Falkengewand9),  daß  sie  auch  verleiht; 
mit  dem  Schenkenamt10). 

Als  Hauptgöttin  oder  als  Erbin  Friggs  erhält  sie  in  ihrem  Heim 
Folkwang11)  die  Hälfte  der  toten  Helden12).  Daher  heißt  sie  auch  vanadis, 
Schicksalsfrau  aus  dem  Wan engeschlecht,  oder  vanabrüdr.  Mogk 13)  meint 


x)  Lok.  Str.  50. 

2)  Olrik,  Danske  Studier  1905;  1,  39f.;  Krohn  a.  a.  O. 

3)  Golther  S.  414,  437 f.;   Mogk  S.  371;   Meyer  S.  362. 

4)  Gylf.  cap.  24:  Gering  S.  318. 

B)  Mogk  a.  a.  O.,  Golther  S.  437. 

6)  Golther  S.  437. 

7)  Gefn,  Hörn  u.  a.:  Mogk  S.  373;  vgl.  Golther  S.  447. 

8)  Doch  schreibt  Müllen  hoff  (Ztschr.  f.  d.  Alt.  30,  218)  diese  der  Frigg 
als  alten  Besitz  zu. 

9)  Thrymskv.  Str.  3. 
10)  Golther  S.  439. 

X1)  Grim.  Str.  14;  der  Name  ist  dem  des  folkvaldr  goda  Frey  nachgebildet 
Vi)  Golther  S.  437.  13)  S.  373. 


§  17.    Hauptgötter.  213 

also  mit  Recht,  Freyja  habe  von  Frigg  chthonische  Züge  ererbt.  Nur 
kann  ich  diese  weder  in  dem  Namen  Folkwang  noch  in  dem  ihres 
Saales  Sessrymnir  »der  an  Sitzen  reiche«  sehen;  der  erste  charakterisiert 
sie  als  Freys  Schwester,  der  zweite  ist  aus  dem  Vers:  »Freyja  entscheidet, 
wer  die  Sitze  dort  fülle  im  Saal«  unter  Anlehnung  an  die  Namen 
Andhrimnir,  Eldhrimnir,  Sährimnir1)  gebildet.  Ebenso  scheint  es  mir 
natürlich,  daß  der  Weg,  auf  dem  ihr  Ottar  zu  der  toten  Hyndla2)  folgt, 
der  Todesweg  genannt  wird8);  Tote  zu  erwecken  aber  ist  nicht  Aufgabe 
von  Unterweltsgottheiten :  die  vermehren  das  Reich  der  Toten  und  mindern 
es  nicht  auch  nur  auf  Zeit.  Sonst  wäre  auch  Orpheus  eine  chthonische 
Gottheit!  Vielmehr  funktioniert  Freyja  hier  als  Göttin  der  ehelichen 
Fruchtbarkeit.  Gewiß  war  sie  es  ursprünglich  selbst  und  nicht  eine 
Seherin,  die  dem  Ottar  ein  Register  seines  Geschlechtes  gab  mit  dem 
Refrain:  all  die  gehören  mit  dir  dem  gleichen  Blute  an  —  und  du 
Schwachkopf  kannst  noch  zweifeln,  welches  Geschlecht  das  vornehmste  sei ! 
Aber  die  Totenbeschwörungen  waren  eine  Modeform  geworden:  etwa 
gleichzeitig  mit  dem  Hyndlulied  entsteht  Grögaldr4);  Balders  Draumar5) 
gehören  in  denselben  Kreis.  So  wird  denn  Freyja  verdoppelt;  sie  scheint 
irgendwie  den  Beinamen  »Hündin«  geführt  zu  haben,  der  dann  als  Schelte 
gegen  sie  gewandt  wird6),  und  danach  heißt  dann  die  Seherin,  die  Freyja 
höchst  überflüssigerweise  (oder  vielmehr  aus  rein  literarischen  Gründen: 
damit  die  Gruselromantik  der  Totenbeschwörung,  wie  in  den  Ritterromanen 
des  18.  Jahrhunderts,  möglich  sei!)  aus  dem  Grabe  heraufruft7),  »Schwester 
Hyndla«,  »Mithündin«  8). 

Wirklich  chthonische  Züge  aber  verbürgt  neben  der  zweifelhaften 
Nachricht,  daß  ihr  die  Hälfte  der  Gefallenen  gehört9),  die  Geschichte 
von  Thorgerd,  Egils  Tochter 10).  Ihr  Vater  will  sich  tothungern ;  da  erklärt 
»ie  gleichfalls:  »Ich  habe  kein  Nachtmahl  zu  mir  genommen  und  werde 
keines  mehr  nehmen  als  bei  Freyja«.    Wie  die  Helden  bei  Odin  zu  Gast 

*)  Grim.  Str.  18.  2)  Siehe  u.  §  31. 

3)  Hyndl.  Str.  6. 

4)  Nach  950:  Jönsson,  Oldnord.  Lit.  Hist.  1,  S.  202  bez.  S.  232. 

5)  Gegen  900:  ebd.  S.  148;  ich  möchte  das  Gedicht  allerdings  mit  Heusler 
(Ztschr.  f.  d.  Phil.  116,  269)  für  jünger  halten. 

6)  Von  dem  Christen  Hjallti  vgl.  Golther  S.  439. 

7)  Anders  Müllenhoff,  D.  Alt.  5,  9. 

8)  Nach  Detter-Heinzel  ist  systir  hier  ein  Schmeichelwort;  mir  scheint 
es  hier  wie  in  der  angezogenen  Stelle  Vkv.  Str.  3  nur  bedeuten  zu  können  »von 
der  gleichen  Art«.  Wölunds  Gattin  war  wie  die  Egils  schön  und  trug  wie  die 
Slagfids  ein  Schwanengewand.  Ebenso  hier  Hyndl.  Str.  1 :  »erwache,  die  du  wie 
ich  benannt  bist!« 

9)  Edda  2,  616. 

10)  Grim.  Str.  14;  vgl.  u. 

11)  Golther  S.  440. 


214  Viertes  Kapitel. 

sein  wollen  (eine  Formel  auf  indogermanischer  Grundlage) J),  so  will  sie  zu  der 
Totengöttin  der  Frauen.  Ferner  stammt  wohl  von  Frigg  das  Brisingamen 2). 
Schließlich  tritt  Freyja  deren  Erbschaft  ganz  an:  sie  wird  Odins  Gattin. 

Von  dem  Bruder  Freys  stammt  (außer  der  Benennung  »Folkwang«)3) 
als  Pendant  zu  dem  Goldeber  Gullinborsti  ihr  Goldeber  Hildisvini.  Wie 
Freyr  fährt  sie,  aber  mit  Katzen,  dem  Sinnbild  der  Fruchtbarkeit4).  War 
sie  etwa  noch  besonders  Herrin  der  Haustiere  im  engeren  Sinne  und 
deshalb  auch  »Hündin«  genannt?  Oder  soll  auch  dies  nur  ihre  Lüsternheit 
ausdrücken5),  wie  sie  ihr  nicht  nur  Loki6),  sondern  auch  die  Doppel 
gängerin  Hyndla7)  nachsagt?  —  Man  denke  an  Freys  Phallus! 

Wie  Frey  Opfergott,  ist  sie  Opfergöttin.  Beiden  wird  der  Erinnerungs- 
trank geweiht  und  auch  ein  Eber  dargebracht8).  Wie  er  schön  ist,  so 
ist  sie  die  schönste  Göttin9)  —  deshalb  begehrt  der  Riese  Thrym  gerade 
sie  zur  Gattin  —  und  bekommt  den  verkleideten  Thor,  wie  Skadi  den  Njord 
statt  des  begehrten  Balder. 

Ferner  wird  sie,  wie  er,  mit  kostbaren  Kleinodien  ausgestattet:  das 
Brisingamen 10) ,  an  das  sich  allerlei  Sagen  knüpfen11).  Vermutlich  ward 
das  Bild  der  Liebesgöttin  mit  Votivgeschenken  überhäuft:  ihr  Schmuck- 
reichtum wird  verkörpert  in  den  Töchtern  Hnoss  und  Gersinni,  «Schmuck« 
und  »Kleinod«12). 

Ihr  Kult  ist  dem  ähnlich  der  Frigg13):  sie  wird  in  Kindesnot  an- 
gerufen ;  Ottar  verglast  die  Altarsteine  für  sie  mit  Opferblut 14),  wofür  sie, 
wie  Frey  in  gleichem  Fall,  sich  dankbar  erweist.  Ihre  besondere  Be- 
liebtheit schließt  Golther15)  daraus,  daß  der  über  vergebliche  Bekehrungs- 
versuche erzürnte  Christ  Hjallti  Skeggjason  in  einem  Schmähvers  erst  Freyja, 
dann  nochmals  Odin  und  Freyja  beschimpft;  aber  er  fügt  selbst  hinzu,  daß 
dies  wohl  schon  die  spätere  Auffassung  von  Freyjas  Ehe  mit  Odin10) 
voraussetzt17).  —   Eine  Emanation  der  Freyja  ist  vielleicht  Gefjon  18). 


J)  J.  Grimm'  Kl.  Sehr.;  vgl.  Golther  S.  327. 
2)  Siehe  u.  8)  Siehe  o.  S.  212. 

4)  Much  leitet  diese  in  den  Mitteilungen  der  Anthropol.  Gesellsch.  Wien 
XXXVIII  6  1908,  S.  6,  recht  unwahrscheinlich  von  dem  Löwen  der  Magna  Mater  ab. 

5)  »Freyja  als  Venus  vulgivaga«,  Golther  S.  443. 

6)  Lok.  Str.  30.  32.  7)  Hyndl.  Str.  47-48. 
8)  Hyndl.  Str.  46.            9)  Mogk  S.  372. 

10)  Meyer  S.  419,  Golther  S.  441. 
1!)  Siehe  u.  12)  Mogk  S.  372. 

1?)  Golther  S.  445,  Meyer  S.  420.  u)  Hyndl.  Str.  10. 

15)  S.  439.  16)  Siehe  u. 

17)  Zu  dem  Schmähvers  vgl.  Golther  a.  a.  O.  Anm. 

18)  Mogk  S.  375,  Golther  S.  446;  vgl.  u.  —  In  die  christliche  Legende  soll 
sie  als  Frau  Verena,  die  Patronin  der  öffentlichen  Dirnen,  eingegangen  sein: 
Bernoulli,  Die  Heiligen  der  Merowinger,  S.  189. 


§  17.    Hauptgötter.  215 

An  die  junge,  aber  rasch  zu  großer  Beliebtheit  gelangte  Gestalt 
knüpfen  sich  zahlreiche  Mythen.  Vielleicht  alt  und  auf  sie  dann  erst 
später  übertragen  ist  jener  Mythus  von  Brisingamen,  dem  »Kleinod  der 
Breisinger«  1).  Schon  in  dem  alten  Gedicht  Thrymskvida  besitzt  Freyja 
diesen  kostbaren  Schmuck:  er  zerspringt2),  als  sie  vor  Zorn  schnaubt.  Es  ist 
also  ein  Brustschmuck  wie  die  Aegis  der  Athena3),  das  »funkelnde  Sturm- 
schild«, das  ursprünglich  die  Donnerwolke  war4),  später  aber  ein  Prunk- 
stück des  Hephaestos  wird5).  Doch  wird  bei  Athena  mehr  das  runde 
Mittelstück  des  Schmucks  hervorgehoben,  bei  Freyja  das  »breite  Hals- 
band«, was  vielleicht  einige  naturmythische  Auslegungen6)  gleich  aus- 
schließt 7). 

Der  Schmuck  hat  nun  eine  Vorgeschichte,  die  J.  Grimm8)  für  indo- 
germanisch hielt,  Müllenhoff9)  wenigstens  für  urgermanische  Ausbildung 
einer  indogermanischen  Grundlage,  wobei  der  Mythus  von  der  Sonnen- 
göttin Frija-Frigg,  der  Gemahlin  des  Irmintiu-Zeus,  auf  Freyja  übertragen 
worden  wäre.  Die  indogermanische  Grundlage  und  eine  starke  germanische 
Umbildung  halte  ich  auch  für  bewiesen ;  im  einzelnen  aber  hege  ich 
gegen  Müllenhoffs  mit  vollstem  Recht  berühmten  Aufsatz  mancherlei  Be- 
denken. Gewiß  ist  nie  ein  kunstvolleres  Gebäude  mythologisch-heroischer 
Konstruktion  aufgeführt  worden.  Nirgends  zeigen  sich  die  Gaben,  die 
der  große  Forscher  in  unerreichtem  Maße  besaß,  so  wirksam  vereint,  wie 
hier:  ungeheure,  sichere  Kenntnis  des  Materials;  geniale  Kombinations- 
gabe; einfühlende  Phantasie.  Was  sonst  etwa  Jacob  Grimm,  Hermann 
Usener,  Ludwig  Laistner  einzeln  besitzen,  vereint  er  —  aber  fehlt  nicht 
ein  wenig  das  Element  Axel  Olrik,  die  sicher  scheidende  Kritik? 

Auch  Müllenhoff  scheint  hier  in  der  älteren  Methode  (die  wieder  die 
neueste  geworden  ist,  noch  mehr  in  der  Heldensage  als  in  der  Mytho- 
logie) befangen:  alle  Motive  als  gleichartige  Mosaiksteine  zu  verwerten 
und  über  den  Unterschieden  der  äußeren  Chronologie  die  der  inneren 
zurückzustellen.  Daher  werden  seine  Gaben  verhängnisvoll :  der  zu  große 
Reichtum  an  Zügen  läßt  fast  jede  Annahme  mit  erwünschten  Belegen 
ausstatten,  die  zu  kühne  Kombinationsgabe  zu  entfernte  Dinge  verbinden, 
die  zu  starke  Phantasie  eigene  Mythen  ersinnen.     Freilich   wirken  sie  mit 


2)  Müllenhoff,  Ztsch.  f.  d.  Alt.  12,  304  und  30,  320;   Golther  S.  441  f., 
452 f.;  Mogk  S.  372;  Meyer  S.  419. 

2)  Thrymskv.  Str.  12.  '        3)  Preller  1,  191.  229. 
*)  Ebd.  S.  119.  5)  Ebd.  S.  126. 

6)  Vgl.  Mogk  S.  372:  Golther  u.a.:  die  Sonne;  W.Müller:  der  Mond; 
U  hl  and:  Morgen-  und  Abendstern;  Mannhardt:  Morgenröte. 

7)  Dagegen  wäre  E.  H.  Meyers   Deutung  auf  den   Regenbogen  so  weit 
haltbar. 

8)  Mythol.  1,  284;   Golther  S.  452. 

9)  Ztschr.  f.  d.  Alt.  30,  219. 


216  Viertes  Kapitel. 

bestechender  Gewalt.  Zumal  die  Forscher  auf  dem  Gebiet  der  Helden- 
sage haben  kaum  zu  widerstehen  gewagt :  fast  nur  Heinzel l)  hat  gegenüber 
Müllenhoffs  Geschichte  der  germanischen  Dioskuren  jenen  methodischen 
Gesichtspunkt  betont,  den  wir  von  ihm  und  ten  Brink  (in  seinem 
»Beovulf«)  als  ein  neues  Hilfsmittel  zu  denen  der  Wolf-Lachmannschen 
Epenvergleichung  hinzugelernt  haben:  daß  es  in  der  Mythengeschichte 
nicht  nur  ein  Nacheinander  gibt,  sondern  auch  ein  Nebeneinander,  und 
neben  den  Filiationen  (die  freilich  selbst  zu  Doubletten  führen)  primäre 
Doubletten. 

Allerdings  haben  sich  die  Forscher  gerade  gegenüber  dem  mytho- 
logischen Unterbau,  der  doch  für  Müllenhoff  die  Hauptsache  war,  reser- 
vierter benommen.  »Die  Entwicklung  des  Dioskurenmythus  zur  Helden- 
sage entzieht  sich  im  einzelnen  unserer  Kenntnis ;  und  ebensowenig  läßt 
sich  über  die  ursprüngliche  Bedeutung  des  von  Müllenhoff  rekonstruierten 
Mythus  mit  Sicherheit  urteilen«,  sagt  Sijmons2),  der  aber  doch  gleich 
hinzufügt,  bei  der  Sage  von  den  Harlungen  sei  alte  Beziehung  zum 
Himmelsgott  noch  erkennbar3).  Jiriczek4)  bezweifelt  den  mythischen 
Ursprung  des  getreuen  Ratgebers  Eckehart5).  Panzer6)  geht  auf  Heinzeis 
Weg  der  Motivvergleichung  weiter  und  gelangt  dabei  zu  anderen  Bedenken. 
Fundamental  aber  ist  Jiriczeks  Einspruch,  wenn  er7)  die  Verbindung 
der  Ermanarichssage  mit  dem  Dioskurenmythus  lediglich  auf  Namen- 
gleichheit begründen  will;  und  allgemeine  Bedenken  formuliert  nicht 
übel  Golther8):  »Ober  Vermutungen  gelangt  der  Versuch,  germanische 
Tiuzsagen  wieder  herzustellen,  nicht  hinaus.  Sehr  gewagt  scheint  es, 
Sagenzüge,  die  längst  alle  Beziehungen  und  allen  Zusammenhang  ver- 
loren, wieder  an  den  Himmelsgott  anzuknüpfen.  Denn  keine  Gewähr  ist 
vorhanden,  daß  diese  Stoffe  einst  wirklich  ...  zu  Tiuz  und  den  Alkiz 
gehört  haben.« 

Ich  glaube,  daß  in  die  dicht  verzweigten  Urwälder  der  germanischen 
Heldensage  Licht  erst  dann  kommen  wird,  wenn  von  der  altgermanischen 
Literatur-  und  Stilgeschichte  aus  die  Auffassungen  und  Formgebungen 
verschiedener  Perioden  strenger  gesondert  werden  können ;  unsere  Sagen- 
konstruktionen sind  gewiß  oft  so  anachronistisch  zusammengeschweißt  wie 


*)  Über  die  Walthersage  z.  B.  S.  95 ;  über  die  ostgotische  Heldensage 
z.  B.  S.  7. 

2)  Bei  Paul  1,  679.  2)  Vgl.  S.  685. 

4)  Deutsche  Heldensage,  Straßburg  1888;  1,  101. 

*)  Über  andere  Widersprüche  Jiriczeks  gegen  Müllenhoff  vgl. 
Sijmons  S.  686;  andere  Einwände  von  Sijmons  selbst,  z.  B.  betreffs  der 
Beowulfstelle,  S.  684. 

6)  Hilde-Gudrun,  Halle  1901,  S.  153  f. 

7)  S.  100.  8)  S.  217. 


§  17.    Hauptgötter.  217 

Wilhelm  Jordans  Nibelungen.  Hier  wage  ich  nur  die  mythische  Geschichte 
des  Brfsingamens  zu  skizzieren ,  wie  sie  sich  mir  aus  den  einigermaßen 
verbürgten  Obereinstimmungen  zu  ergeben  scheint.  Nur  Diaskeuast  ver- 
suche ich  zu  sein  —  so  schön  es  freilich  ist,  Homeride  zu  sein,  auch  nur 
als  letzter1). 

Festgestellt  scheinen  etwa  folgende  Tatsachen: 

In  indogermanischer  Zeit  werden  zwei  göttliche  Jünglinge  verehrt,  die 
besonders  dadurch  gekennzeichnet  sind,  daß  sie  Brüder  sind,  als  Reiter 
auftreten,  atmosphärischen  Charakter  haben  2). 

Mit  diesen  indogermanischen  »Dioskuren«  sind  —  nach  Müllenhoffs 
glänzendem  Nachweis3)  —  die  »Alces«  identisch,  die4)  bei  den  Naha- 
narvalen  verehrt  werden5);  sie  gehen  als  Haddingjar6)  in  den  Norden, 
als  Harlunge  in  die  Heldensage  über. 

Der  Grundzug  ihres  Wesens  ist  überall,  daß  sie  »reisige  Jünglinge< 
sind;  danach  heißen  sie  bei  den  Indern  »die  Roßherrn«,  danach7)  ihre 
heroischen  Deszendenten  Sarus  und  Ammius  bei  den  Germanen. 

Bereits  in  indogermanischer  Urzeit  sind  sie  Träger  eines  Mythus :  die 
beiden  Reiter  werben  um  die  Sonne.  Sie  besteigt  ihren  Wagen  und  ist 
beider  Gattin  nach  eigener  Wahl:  indisch8).  Die  Gottessöhne  freien  um 
die  »Sonnentochter«,  die  nur  eine  Emanation  der  Sonne  ist:  lettisch9). 
Die  Dioskuren  sind  vermählt  mit  den  beiden  Töchtern  des  Leukippos  10), 


*)  Als  eine  wirkliche  Fehlerquelle  bei  Müllenhoff  ist  seine  Über- 
schätzung der  Namen  zu  bezeichnen.  Mythische  und  heroische  Eigennamen 
Jhaben  fast  stets  eine  prägnante  Bedeutung,  die  aber  keineswegs  immer  appella- 
tivisch gefaßt  werden  darf:  die  wirklichen  Menschen  hießen  eben  damals  auch 
•Dietrich  und  Ermenrich.  Vgl.  allgemein  meine  Kriterien  der  Aneignung,  Leipzig 
1906,  S.  35;  Günter,  Legendenstudien,  S.  72. 

2)  Indisch  sind  es  die  Acvins  (Myriantheus,  Die  Acvins  oder  arischen 
Dioskuren,  München  1876;  v.  Bradke,  Dyaus  Asura  und  die  Acvins;  K.  Jaisle, 
Die  Dioskuren  als  Retter  zur  See  bei  Griechen  und  Römern  und  ihr  Fortleben 
in  christlichen  Legenden,  Tübingen  1907;  vgl.  auch  Wundt  S.  280 f.).  Die 
atmosphärische  Natur  wird  angezweifelt  von  Geldner,  sonst  allgemein  anerkannt 
(Macdon eil  S.  53).  Lettisch:  die  »Gottessöhne,  die  auf  ihren  Rossen  geritten 
kommen,  um  die  Sonnentochter  zu  freien«  (Oldenberg,  Rel.  d.  Veda,  S.  213; 
Macdonell  a.  a.  O.).    Griechisch:  die  Dioskuren  (Prell er  2,  91). 

3)  Ztschr.  f.  d.  Alt.  12,  346. 

4)  Tac.  Germ.  cap.  43. 

5)  Vgl.  u.,  wo  auch  weitere  Literatur. 

6)  Hyndl.  Str.  22. 

7)  Wie  Roediger,  Ztschr.  a.  Ver.  f.  Volksk.  1,  248,  schön  nachwies. 

8)  Macdonell  S.  51.  Daneben  ist  die  Sonne  noch  mit  dem  Mond  ver- 
mählt (Oldenberg  a.  a.  O.). 

9)  Oldenberg  S.  214. 
10)  Preller  S.  94. 


218  Viertes  Kapitel. 

Lichtgöttinnen *) ;  ihre  Schwester  Helena  die  Morgenröte  oder  der  Mond  2) : 
griechisch8). 

Auch  dieser  Mythus  ist  von  den  Germanen  übernommen  worden. 
Denn  in  der  Tat  scheint  es  uns  nicht  zweifelhaft,  daß  die  Harlunge 
Ambrico  und  Fridila  im  Grunde  die  beiden  Zeussöhne,  die  Acvins  sind, 
die  nicht  nur  die  Sonne  oder  die  Tochter  im  Wettlauf4)  ersiegten,  sondern 
auch  prangend  im  Goldschmuck,  die  Brust  bedeckt  mit  breitem  Ge- 
schmeide, dieselben  auf  ihren  Wagen  nehmen«5).  Beweisgründe  sind 
folgende  Obereinstimmungen:  1.  Die  Harlungen  sind  reisige  Brüder  von 
ausgeprägt  jugendlichem  Typus6).  2.  Sie  werben  um  die  Besitzerin  des 
großen  Brustschmucks,  d.  h.  die  Sonnengöttin,  und  erlangen  ihren  Besitz7). 
Eine  jüngere,  aber  vielleicht  noch  immer  indogermanische  Entwicklung 
scheint8)  die  Sage,  daß  die  Acvinen  die  Sonne  nicht  für  sich,  sondern  für 
einen  anderen  Gott  werben  —  wohl  für  den  Mond,  mit  dem 9)  auch  die 
lettische  Sonnentochter  vermählt  ist10)  Diese  Entwicklung  beruht  wohl 
schon  auf  ethischen  Einwirkungen:  die  Doppelehe  der  Göttin  erschien 
verletzend.  Dazu  kam  dann  die  inzwischen  erfolgte  Ausbildung  deut- 
licherer Naturgötter.  Es  entstand  nun  aber  eine  doppelte  Überlieferung: 
die  Roßherren  einerseits  Freiwerber,  anderseits  selbst  Freier.  Sie  wird,. 
wie  es  scheint,  erst  auf  germanischem  Boden  ausgeglichen,  indem  das 
uralte  Novellenmotiv  vom  ungetreuen  Werber  eingeführt  wird  n). 


1)  Ebd.  S.  98.  2)  S.  109. 

3)  Die  griechische  Vorstellung  ist  wohl  doch  auch  nur  dureh  die  Ersetzung 
einer  weiblichen  Sonnengöttin  mittelst  des  männlichen  Sonnenbeherrschers  zu 
erklären;  vgl.  Oldenberg  S.  214. 

4)  Vgl.  Müllenhoff  S.  218. 

5)  Müllenhoff  S.  223. 

6)  Müllenhoff  S.  222;  vgl.  Wolfskehl,  Germ.  Werbungssagen,  Darm- 
stadt 1893. 

7)  Über  die  Besitzerin  des  Brustschmucks  siehe  u. 

8)  Macdonell  S.  51. 

9)  Oldenberg  S.  213. 

10)  Soma  wird  (ygl.  Macdonell  S.  213),  allerdings  nur  mit  zweifelhaftem 
Recht,  als  der  Mond  gedeutet:  vielmehr  hängt  seine  Beziehung  zu  den  Acvinen. 
vielleicht  mit  deren  stark  betontem  Honig-Symbol  (ebd.  S.  49)  zusammen.  Ähnlich 
fällt  von  den  Mähnen  der  Walküren  fruchtbarer  Tau  in  die  Täler;  vgl.  Golther 
S.  316:  die  Acvinen  schütten  Honig  aus. 

11)  Das  Motiv  vom  ungetreuen  Brautwerber  wurzelt  gewiß  in  historischen 
Erfahrungen.  Der  Verdacht,  dem  Wielands  Kombabus  ausweicht,  konnte  so 
manchen  Boten  treffen,  als  die  Königstöchter  aus  weiter  Ferne  geholt  und  per 
procurationem  vermählt  wurden  —  gewiß  ein  alter  symbolischer  Gebrauch  der 
Besitzergreifung  (entartet  zu  den  berüchtigten  »Probenächten«  deutscher  Bauern- 
mädchen?). Noch  bei  dem  dramatisch  oft  behandelten  Stoff  der  Elfride  (Erich. 
Schmidt,  Charakteristiken,  Berlin  2,  S.  442)  kann  man  zweifeln,  ob  es  sich 
um  Wahrheit  oder  Legende  handelt;  und  man  denke  noch  daran,  wie  König 


§  17.    Hauptgötter.  219 

Hiermit  war  also  erreicht,  daß  die  Reisigen  Freier  und  Freiwerber 
zugleich  waren.  Diese  Gestalt  des  Mythus  setzt  die  Harlungensage  voraus J). 
Sie  ist  als  altmythisch  verbürgt  durch  die  Benenung  des  alten  Schatzes 
der  Harlunge  als  Brisingamene 2)  und  durch  die  weite  Verbreitung  von 
Bergen  und  Burgen,  die  nach  ihnen  benannt  sind3). 

Dieser  Mythus  von  den  treulosen  beiden  Werbern  um  die  strahlende 
Jungfrau  wird  schon  vor  dem  siebenten  Jahrhundert4)  an  die  ostgotische 
Ermenrichsage  geknüpft.  Ursache  der  Verbindung  waren  doch  wohf 
historische  Ereignisse  am  Hof  des  Ermanaricus,  etwa  wie  der  Tod  Attilas 
in  die  Nibelungensage  hineinspielt5),  denn  ein  mythischer  Hermanarich 
ist  nirgends  bezeugt  und  weder  von  Müllenhoff  noch  von  Rödiger6) 
mit  Wahrscheinlichkeit  erschlossen;  die  Möglichkeit,  daß  der  Gott,  für 
den  sie  werben,  so  geheißen  hätte,  genügt  nicht.  Dazu  kommt,  daß  der 
Himmelsgott  in  keiner  alten  Gestalt  des  Mythus  eine  Rolle  spielt. 
Nicht  für  Irmintiu-Tyr  wird  geworben,  denn  nirgends  entspricht  dieser 
dem  Mondgott7);  nirgends  haben  wir  bei  den  Germanen  eine  Spur  von 
einer  Gattin  Tyrs;  die  Ehe  des  Zeus  ist  schwerlich  proethnisch.  Für 
die  Identität  der  Umworbenen  mit  Dione-Juno8)  sprechen  keinerlei  ge- 
nügende Kriterien.  Ebensowenig  ist  es  ein  ausweichendes  Moment,  daß 
die  Alemannen,  in  deren  Mitte  sich  der  Verbreitungsherd  der  Sage  be- 
findet, Ztuwärt  sind9). 

Aus  der  Heldensage  mit  ihrer  beliebten  Formulierung  ethischer  Gegen- 
sätze10) stammt  dann  der  gute  Ratgeber11)  und  der  böse  Verleumder12) 
und  die  Ausmalung  der  Intrige.  Weiterhin  verschmilzt  dann  die  zyklische 
Tendenz  der  Heldensage  die  Hartungensage  mit  der  von  den  Nibelungen 
(Hamdfsmäl).  —  Ob  die  »nur  äußerlich  an  die  Geschichte  geknüpften« 
Sagen  von  Walthari  und  Hilde  wirklich  »aus  einem  gemeinsamen  Grund- 


Karl  VIII.  von  Frankreich  die  Braut  Kaiser  Maximilians  trotz  freiem  Geleit  »unter- 
schlug«. —  Ob  nicht  auch  bei  Apollos  Werbung  für  Admet,  deutlicher  noch  bei  Sieg- 
frieds für  Günther  dies  das  ursprüngliche,  später  nach  ritterlich-moralischer  An- 
schauung umgebogene  Motiv  war? 

J)  Vgl.  Sijmons  S.  685. 

2)  Müllenhoff  S.  221.  3)  Ebd. 

4)  Müllenhoff  S.  221  nach  dems.  Ztschr.  f.  d.  Alt.  12,  279. 

5)  Vgl.  Sijmons  S.  621. 

6)  a.  a.  O.  S.  249.  7)  Indisch;  lettisch. 

8)  Müllenhoff  S.  219.  9)  Ebd.  S.  221. 

10)  Ekkehart-Sibiche  usw.  (Müllenhoff  S.  242)  wie  Beovulfs  Gefolgsmänner 
beim  letzten  Kampf;  oder  wie  Keie  im  Erec,  der  betrügerische  Seneschal  im 
Tristan  usw.  mit  ihren  Gegenspielern;  vgl.  über  Treu  und  Untreu  im  Epos 
Uhland,  Schriften  1,  303. 

»)  Eckewart:  Müllenhoff  S.  225 f.,  236. 

12)  Ebd.  S.  241. 


220  Viertes  Kapitel. 

mythus  entwickelt  sind«1),  stehe  dahin;  mir  persönlich  scheint  das  Motiv 
von  der  gemeinschaftlichen  Flucht  des  heroischen  Paares2)  von  dem  der 
Werbung  unterschieden. 

Neben  dieser  Reihe  von  Mythen,  die  die  Eroberung  (oder  Wieder- 
eroberung) der  Sonne  (oder  des  Mondes)  in  die  Form  einer  Werbung 
hüllen,  geht  nun  ein  anderer  Stamm  von  Mythen,  der  sie  als  Befreiung  einer 
gebundenen  oder  sonstwie  gefangenen  Jungfrau  darstellt. 
An  der  indogermanischen  Existenz  ist  nicht  zu  zweifeln:  griechisch  z.  B. 
Perseus  und  Andromeda3);  germanisch  Brynhild  in  der  Waberlohe  —  Dorn- 
röschen. Diese  Reihe  hängt  mit  der  vorigen  insofern  zusammen,  als  in 
einem  hierher  gehörigen  Mythus  wiederum  das  Schmuckstück  als  Kenn- 
zeichen der  Lichtjungfrau  besonders  betont  wird.  Es  ist  die  alte  Fabel  von 
Menglöd:  »die  mit  dem  Halsschmuck  Beladene«  4)  oder  »Halsbandfrohe«5) 
wird  von  Svipdag  befreit6).  Ein  näherer  Zusammenhang  mit  der  Werbungs- 
sage besteht  jedoch  nicht.  Alle  Eigenheiten  der  Agvinen  fehlen  dem  Befreier, 
der  nur  Einer  ist,  zu  Fuß  kommt7),  bei  dem  die  Schwierigkeiten  des 
Weges  (in  märchenhafter  Ausmalung)  das  Hauptinteresse  bilden  usw. 
Man  hat  also  auch  kein  Recht,  Svipdag  aus  Tiuz  abzuzweigen8),  da 
nirgends  Zeus  oder  Jupiter  oder  Tyr  mit  der  Mission  betraut  sind,  die 
gefesselte  Jungfrau  zu  befreien:  der  »Sonnenheld«  ist  mit  dem  »Himmels- 
gott« nirgends  identisch. 

In  beiden  Reihen  dient  der  Schmuck  lediglich  (gerade  wie  in  nach- 
vedischer  Zeit  der  Brautschmuck  kaustubha  bei  Vishnu)9)  als  kenn- 
zeichnendes Attribut;  es  mag  wohl  auf  der  Brust  des  rohen  Holzbildes, 
das  die  Sonnengöttin  etwa  vorstellte,  eine  Sonnenscheibe  befestigt  gewesen 
sein,  und  warum  sollte  die  bei  besonders  geehrten  Figuren  nicht  kost- 
baren Glanz  besessen  haben?10)  Das  Prachtstück  wäre  dann  der  »Schmuck 
der  Breisinger«  ll)  gewesen. 

Nun  heftet  sich  aber  in  einer  bestimmten  Epoche  ein  Hauptinteresse 
an  die  kostbaren  Besitztümer  der  Götter12).  Damit  gewann  Brisingamen 
eine  neue  Wichtigkeit:  es  wurde  der  Göttin  des  Reichtums  zugeteilt, 
während   es  vorher   der   Frigg  gehört   hatte,   wenn   diese  Sonnengöttin 


!)  Sijmons  S.  621  gegen  Müllenhoff  S.  235f. 

2)  Vgl.  schon  Jakobs  Flucht  vor  Laban  1.  Mos.  31. 

3)  Preller  2,  72.  4)  Mogk  S.  373. 

5)  Golther  S.  451. 

6)  Vgl.  Golther  ebd.  und  S.  237  nach  Müllenhoff  S.  219. 

7)  Fjölsv.  Str.  1.  8)  Mit  Golther  S.  453. 
9)  Macdonell  S.  39. 

10)  Vgl.  Saxo  bei  Müllenhoff  S.  220. 

»)  Vgl.  ebd.  S.  221. 

12)  Vgl.  für  diese  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  221. 


§  17.    Hauptgötter.  221 

war1).  Nun  heißt  sie  auch  Mardöll,  »die  Meeresperle«  2),  »die  über  das 
Meer  Glänzende«3),  weil  ihr  Schmuck  widerstrahlt  wie  die  Sonne  über 
dem  Meer?  Die  isländische  Märchen  Jungfrau  Maerthöll,  die  goldene 
Tränen  weint,  wird  man  mit  Golther4)  gegen  Mogk5)  nicht  heranziehen 
dürfen,  nicht  zwar  weil  sie  gelehrten,  aber  weil  sie  rein  märchenhaften 
Ursprungs  zu  sein  scheint.  —  Die  Thrymskvida  setzt  (wie  erwähnt)  bereits 
Freyjas  Besitz  des  Schmuckstücks  voraus. 

An  den  Erwerb  des  Schmucks  knüpfen  fabulierende  Vor- 
geschichten an  wie  an  Sifs  goldenes  Haar  oder  das  Schiff  Skidbladnir. 

Wohl  die  älteste  Sage  vom  Brisingamen  ist  die,  die  im  zehnten  Jahr- 
hundert die  Husdrapa  bezeugt6):  Loki  stiehlt  den  Schmuck  und  verbirgt  ihn 
auf  einer  Meeresklippe,  aber  Heimdali  schlich  in  Robbengestalt  hinzu  und 
nimmt  ihn  dem  in  gleiche  Gestalt  verwandelten  Loki  ab.  —  Die  Legende 
ist  leicht  naturmythologisch  zu  deuten 7) ,  aber  ihr  hohes  Alter  ist  damit 
noch  nicht  bewiesen,  und  Müllenhoffs  Sagen paral  1  el en 8)  scheinen  es  mir 
ebensowenig  zu  verbürgen.  Die  Gegenüberstellung  Loki  -  Heimdali  darf 
auch  der  von  Sibech  und  Ekkehart  schwerlich  gleich  gestellt  werden,  ob- 
wohl Eckart-Eckewart 9)  v  i  e  1 1  e  i  c  h  t  eine  heroische  Hypostase  Heimdalls 10) 
ist.  Loki  vertritt  wohl  das  »dunkle  Prinzip«,  aber  nie  die  Dunkelheit,  wie 
die  sonnenraubenden  Mächte. 

Liegt  es  nicht  näher,  an  eine  Dublette  jener  Lokifabel  zu  denken,  die 
den  Prolog  zu  Reg.  bildet  (d.  h.  die  Einleitung  zu  den  eddischen  Einzel- 
liedern der  Nibelungensage)?  Andvari  und  Otr  erscheinen  in  Fischgestalt, 
allerdings  einer  als  Hecht,  der  andere  als  Otter,  wie  Loki  und  Heimdali 
in  denen  von  Robben.  Loki  fängt  den  Hecht  Andvari  und  raubt  ihm 
seinen  Schatz;  also:  Loki  (das  scheint  die  Grundgestalt)  in  Fischgestalt 
*-aubt  einen  Schatz,  den  er  aber  wieder  hergeben  muß.  Auf  diesem  ge- 
raubten Schatz  nun  aber,  das  ist  das  Merkwürdigste,  liegt  ein  Fluch  — 
wie  auf  dem  Goldenen  Vließ,  wie  auf  dem  Schatz  von  Tolosa.  Nach 
dem  Prolog  zu  Reg.11)  soll  er  zwei  Brüdern  und  acht  Fürsten  Verderben 
bringen  —  nach  dem  Prolog  des  Sörlathättr12)  soll  er  zwei  gleich  mächtige 
Fürsten  in  ewigen  Streit  verwickeln.  Beidemal  scheint  der  Fluch,  der  in 
irgendeiner  typischen  Form  vorlag,  der  Situation  angepaßt,  im  Sörlathättr 

J)  Müllenhoff  S.  217. 

2)  Gylf.  cap.  35:  Gering  S.  326. 

3)  Mogk  S.  373.  4)  S.  445  Anm.  1. 

5)  Mogk  a.  a.  O.  6)  Müllenhoff  S.  228. 

7)  Müllenhoff  a.  a.  O.  8)  S.  230. 

9)  Müllenhoff  S.  225.  236. 

10)  Ebd.  S.  228.  236.  245.  251  f. 
u)  Reg.  Str.  5,  isolierte  Strophe. 
12)  Müllenhoff  S.  227. 


222  Viertes  Kapitel. 

freilich  noch  »von  der  auf  Island  herrschenden  euhemeristisch  -  histori- 
sierenden Auffassung  der  Göttersage« x)  beeinflußt. 

Ursprünglich  lag  also  wohl  nur  eins  jener  Loki  -  Märchen  2)  vor,  in 
denen  sich  die  Phantasie  des  Volkes  an  Lokis  Gewandtheit,  Verwandlungs- 
kunst und  schließlichem  Mißerfolg  ergötzte;  hier  ist  das  berühmte  Schmuck- 
stück der  Gegenstand  wie  in  Reg.  der  wunderbare  tropfende  Ring. 

Ganz  ähnlich  ist  wohl  die  märchenhafte  Erzählung  aufzufassen,  wie 
Loki  den  Schmuck  von  Freyja  zu  Odin  schaffen  soll  und  als  Fliege  und 
Floh  eindringt3);  die  halb  schwankhafte  Verwandlung  begegnet  auch 
sonst4).  Noch  Offenbach  hat  in.  seinem  »Orpheus  in  der  Unterwelt«  das 
skurrile  Motiv5)  in  Musik  gesetzt. 

In  beiden  Legenden  spielt  Freyja  eine  rein  passive  Rolle.  Anders  in 
der  dritten,  die  nun  die  eigentliche  Vorgeschichte  des  Halsbandes  gibt 
Wie  die  Ägis  ein  prachtvolles  Werk  des  Hephaestos  sein  soll 6),  so  muß 
auch  das  Brisingamen  von  Zwergen  kunstvoll  geschmiedet  sein  und  zwar, 
um  seine  besondere  Kostbarkeit  auszudrücken,  von  deren  vier;  denn 
Sindri,  der  für  Frey  Schiff  und  Eber  geschmiedet  hatte7),  muß  über- 
boten werden8).  Dafür  gewährt  sie  jedem  eine  Nacht  und  muß  sich 
nun  von  Loki9)  nachsagen  lassen,  sie  habe  nicht  nur  von  den  Äsen, 
sondern  auch  von  den  Elfen  jeden  beglückt.  —  Bei  dieser  Halsband- 
geschichte tut  wohl,  wie  bei  einer  berühmteren  anderen,  Verleumdung 
das  Beste:  das  Motiv,  daß  ein  weibliches  Wesen  für  einen  kostbaren  Besitz 
ihre  Ehre  hingibt,  ist  auf  Freyja  übertragen,  weil  sie  eben  den  kostbarsten 
Besitz  ihr  eigen  nennt. 

Müllenhoff 10)  und  nach  ihm  z.  B.  Panzer11)  halten  diese  Fabel  für 
übertragen.  Saxo  erzählt  nämlich,  Frigg  habe  sich  durch  einige  Schmiede 
des  Goldes  bemächtigt,  mit  dem  eine  dem  Odin  geweihte  Bildsäule  ge- 
schmückt war;  Odin  läßt  die  Schmiede  hängen  und  richtet  die  Säule  (mit 
dem  Goldschmuck)  wieder  auf;  Frigg  gibt  sich  uni  familiariutn  hin, 
um  den  Schmuck  wieder  für  sich  zu  erlangen.  —  Das  Grundmotiv  ist 
offenbar  das  gleiche:  eine  Göttin  opfert  ihre  Ehre  um  eines  Schmuckes 
willen.     Bedenkt  man  aber,  wie  in  der  Lokasenna  der  nordische  Momus 

x)  Ebd.  2)  Siehe  u. 

3)  Müllenhoff  S.  226,  ebenfalls  nach  dem  Sörlathättr. 

4)  Panzer,  Hilde-Kudrun,  S.  163. 

5)  E.  Th.  A.  Hoffmanns  »Meister  Floh«. 

6)  Preller  1,  20.  7)  Golther  S.  224. 

8)  Späten  Ursprungs  mindestens  der  Zwergnamen  beweist  ihre  alphabetische 
Anordnung:  Alfrigg,  Berlingr,  Grerr  —  statt  Crerr  — ,  Dvalin.  Schwerlich  heißt 
der  Schmuck  nach  diesen  »brisingar«,  »Zusammenflechtern«.  Golther  S.  442 
Anm.  2. 

e)  Lok.  Str.  30.  10)  S.  220. 

u)  a.  a.  O.  S.  163. 


§  17.    Hauptgötter.  223 

eigentlich  alle  Göttinnen  mit  der  gleichen  Schelte  beehrt,  so  wird  man 
auf  seinen  Anwurf1)  wenig  Gewicht  legen,  zumal  er  vielleicht  nur  mit 
verschiedenen  Namen  Odins  spielt.  Ich  möchte  glauben,  daß  hier  um- 
gekehrt einmal  Frigg  von  Freyja  geerbt  hat2).  — 

Gruppiert  sich  so  der  größte  Teil  der  Mythen  von  Freyja  um  das 
Brustband,  so  gibt  es  doch  noch  einige,  die  aus  anderen  Quellen  stammen. 
Freyja  gilt  als  die  schönste  Göttin;  deshalb  begehren  sie  die  Riesen3): 
Thrym,  der  Riesenbaumeister,  Hrungnir,  was  immer  abgewendet  wird, 
Eine  spezifische  Andeutung  dieser  Götternovellen  scheint  mir  nicht  be- 
rechtigt. 

Schließlich  geht  Freyja  ganz  in  Friggs  Stellung  über  und  wird 
Fjölnis  vif,  Odins  Weib4).  Das  führt  nun  aber  zu  weiteren  mythischen 
Auseinandersetzungen.  Die  Doppelehe  beunruhigt,  und  deshalb  wird 
aus  Odin  ein  Odr  als  Gatte  Freyjas  abgezweigt,  der  nur  diesem  Zwecke 
dient5).  Da  man  aber  von  ihm  wenig  zu  sagen  weiß,  geht  Odr  wieder 
davon  und  seine  Braut6)  weint  goldene  Tränen  und  zieht  ihm  suchend 
nach7).  Mogk  (mit  andern)  möchte  hierfür  fremden  Einfluß  annehmen 
(man  hat  an  Adonis  gedacht).  Könnte  nicht  einfach  das  Motiv  der  un- 
tröstlichen Witwe  in  märchenhafter  Weise  hyperbolisiert  sein:  weint  Sigrun 
um  Sevafjöll,  die  glänzende  Sonne  im  goldenen  Schmuck  (d.  h.  die 
irdische  Freyja)  bittere  Tränen  8),  so  muß  die  goldene  Göttin  wohl  goldene 
Tränen  weinen! 

Der  Abwesenheit  Odrs  ist  vielleicht  die  Odins  erst  nachgebildet, 
während  derer  ein  anderer  Vize-Odin,  Mitodin,  herrscht9)  —  eine  aben- 
teuerliche Geschichte,  die,  so  wie  Saxo  sie  erzählt,  nicht  alt  sein  kann  10) 
und  wahrscheinlich  auf  irgendein  religionsgeschichtliches  Intermezzo  hin- 
weist, etwa  die  vorübergehenden  Erfolge  eines  finnischen  Zaubergottes11). 

Dieser  Parallelismus  Freyja:  Odr  —  Frigg :  Mitodin  führt 
schließlich  zu  weiteren  Verwechselungen,  so  daß  auf  die  unangenehme, 
aber  sittenstrenge  Ehegöttin  Frigg  (die  hierin  der  homerischen  Hera 
gleicht)  die  eigentlich  der  Liebesgöttin  Freyja  gehörige  Fabel  von  dem 
Ehebruch  der  Göttin  mit  dem  Diener12)  übergeht. 

Weitere  üble  Nachrede  mögen  die  eifersüchtigen  Frigg-Verehrer  auf 
Freyja  gehäuft  haben,  die  schließlich  auch  die  Schwächen  der  Venus  auf 
sich  nehmen  muß13);  dies  Veneris  war  schon  Freyjas  Tag  geworden.  — 


x)  Lok.  Str.  36.  2)  Vgl.  u. 

3)  Golther  S.  432.  4)  Vgl.  Mogk  S.  373. 

5)  Vgl.  Mogk  S.  90.  6)  So  schon  Vol.  Str.  25. 

7)  Golther  S.  444.  8)  Helg.  Hund.  2,  44. 

9)  Golther  S.  307,  Mogk  S.  349. 
10)  Vgl.  Müllen  hoff  S.  220.  ")  Siehe  u. 

12)  Müllenhoff  S.  220.  13)  Vgl.  Golther  S.  433. 


224  Viertes  Kapitel. 

Rekapitulieren  wir,  was  wir  über  Freyja  festgestellt  zu  haben  glauben. 
Auch  diese  Göttin  scheint  uns  klein  angefangen  zu  haben;  sie  war  viel- 
leicht eine  einzelne  Walküre  (worauf  Falkenhemd  und  Schenkenamt  deuten 
könnten)  oder  auch  eine  chthonische  Gottheit;  doch  glaube  ich,  ihre 
dahin  weisenden  Züge  könnten  aus  der  Walkürennatur  schon  genügend 
erklärt  werden.  Vielleicht  um  ihres  Namens  willen  kommt  sie  zu  Frey 
in  enge  Beziehungen,  erbt  mancherlei  Attribute  u.  dgl.  von  ihm,  erhält 
anderes  von  der  älteren  Hauptgöttin  zur  Ausstattung,  nachdem  sie  (im 
Gebiet  der  Frey-Religion  ?)  selbst  die  Hauptgöttin  geworden  war.  Schließ- 
lich wird  sie  als  solche  die  Gattin  Odins  —  worauf  wohl  auch  jene  Stelle 
Hjalltis  geht.  —  So  scheint  sie  vorzugsweise  zu  jenen  späten  Gebilden 
zu  gehören,  die  den  (relativ)  einheitlichen  Charakter  des  alten  Götter- 
himmels zersprengen,  wie  Dionysos  bei  den  Hellenen. 

Als   eine  Emanation   der  Freyja  ist  vielleicht  Gefjon1)  aufzufassen. 

Diese  Gottheiten,  Tyr  und  die  drei  Wanen,  bilden  (auch  wenn  der 
Mythus  von  Freyjas  Schmuck  mit  Tyr  nichts  zu  tun  hat)  einen  zusammen- 
schließenden Kreis  der  aus  indogermanischer  Wurzel  oder  fremden  Ein- 
flüssen sich  entwickelnden  Dämonen.  Die  zunehmende  Akklimatisation 
macht  aus  dem  Himmelsgott  einen  Kriegsgott,  aus  der  Erdgöttin  einen 
oder  zwei  Fruchtbarkeitsgötter,  denen  dann  in  Freyja  eine  neue  Göttin 
angebildet  wird.  Himmel,  Fruchtbarkeit,  Kultur,  Liebe  —  das  ist  immer 
noch  das  Gebiet  des  uralten  Zeus;  in  eine  ganz  andere,  spezifisch  ger- 
manische Gruppe  treten  wir  mit  dem  Zyklus  Wodans. 

Wodan. 

Innerhalb  der  uns  besser  bekannten  Periode  bildet  Wodan  den  eigent- 
lichen Mittelpunkt  der  altgermanischen  Mythologie2). 

Wodan  ist  keine  indogermanische  Gottheit.  Mit  keinem  Gott  des  i 
griechischen,  indischen,  römischen  Olymps  (und,  so  viel  ich  weiß,  auch 
mit  keiner  slawischen  oder  keltischen  Gottheit)  zeigt  er  so  viel  Beziehungen, 
wie  Thor  mit  Indra,  Heimdali  mit  Savitri,  oder  gar  Tyr  mit  Dyaus-Zeus- 
Juppiter.  Daß  die  Römer  ihn  mit  Mercurius  vergleichen  konnten,  beweist 
natürlich  noch  keine  Wurzelgemeinschaft;  es  sind  nur  partielle  Ähnlich- 
keiten vorhanden,  wie  ebenfalls  mit  dem  indischen  Arjuna  und  dem  (auch 
im  Namen  verglichenen)  Väla. 


')  Golther  S.  446;  vgl.  u. 

2)  Mogk  S.  331  f.;  Meyer  S.  367f.;  Mogk  S.  293f.;  Chantepie  S.  221  f.; 
v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  55 f.;  H.  M.  Chadwick,  The  cult  of  Othin,  Oxford 
1899;  vgl.  die  Rezension  von  A.  Heusler,  Anz.  f.  d.  Alt.  27,  204.  Schon  1775 
erschien  ein  Schriftchen  »Wodan,  der  Sachsen  Held  und  Gott«,  das  Goethes 
Freund  Behrisch  zum  Verfasser  haben  soll. 


§  17.    Hauptgötter.  225 

Auch  dem  Wesen  nach  wie  nach  Attributen,  Kompetenz,  Entwicklung 
ist  er  von  anderen  Gottheiten  der  Indogermanen  charakteristisch  ver- 
schieden. Man  kann  fast  behaupten,  daß  Wodan  dem  Jahve  der  Hebräer 
eher  ähnlich  sieht  als  den  Hauptgöttern  der  nichtgermanischen  Indo- 
germanen. Mit  ihm  teilt  er  die  starke  Betonung  der  geistigen  Eigen- 
schaften, den  Typus  des  nationalen  Heerführers,  den  impetus,  den  andere 
ursprüngliche  Sturm-  oder  Gewittergötter  nicht  so  ungebrochen  bewahrt 
haben.  Selbstverständlich  stammt  diese  Ähnlichkeit  aber  nicht  aus  ur- 
sprünglicher Gleichheit;  sondern  in  beiden  Hauptgöttern  haben  ebenso 
kriegerische  wie  nachdenklich-religiöse  Völker  ihr  Ideal  verkörpert. 

Möglich  wäre  allerdings,  daß  seine  Anfänge  den  Germanen  und 
ihren  keltischen  Nachbarn  gemein  gewesen  wären  2) ;  der  voll  entwickelte 
Gott  gehört  jedenfalls  nur  den  Germanen.  Er  ist  altgermanisch, 
d.  h.  die  Germanen  besitzen  ihn  vor  der  Trennung  der  Stämme;  aber  es 
ist  unsicher,  ob  er  gemeingermanisch  war,  d.  h.  allen  Stämmen  gehörte. 
Wahrscheinlich  war  er  nicht  oberdeutsch2):  auf  diesem  Gebiet  findet 
sich  in  Orts-  und  Personennamen ,  Benennungen  von  Pflanzen  u.  dgl. 
kein  Bezug  auf  ihn.  Die  Nordendorfer  Spange,  die  ihn  nennt,  ist  auf 
oberdeutschem  Gebiet  gefunden,  braucht  aber  nicht  dort  entstanden  zu 
sein3).  Immerhin  bleiben  einige  fragliche  Zeugnisse.  Das  Wort  wötan 
wird4)  als  »tyrannus«  glossiert,  wahrscheinlich  rein  appellativisch:  »ein 
wütender  Herr«.  Doch  könnte  mit  Wotan,  »Herr«,  eben  auch  sein 
appellativischer  Name  (vgl.  Frey,  Rig,  Balder)  gemeint  sein.  Jonas  von 
Bobbio  (Langobarde,  kurz  nach  620)  erzählt  in  der  Vita  Columbani,  daß 
die  Alemannen  ihrem  Gotte  Vodano  Opfer  gebracht  hatten :  das  könnten 
sie  aber  von  den  Franken  haben.  Entscheidend  ist  schließlich  die  Be- 
urteilung des  »Wode«  und  des  wütenden  Heers5). 

Jedenfalls  wird  Wodan  verehrt  in  »Niederdeutschland,  bis  tief  nach 
Mitteldeutschland  hinein«;  die  Rheinlande,  das  Gebiet  der  Istvaeonen 
(Isto  =  Wodan)6),  sind  hier  das  Zentrum,  wie  weiterhin  Dänemark  und 
der  skandinavische  Norden  »die  eigentliche  Stätte  der  Wodansverehrung< 
werden  7).  Für  ein  verhältnismäßig  spätes  Beginnen  des  Wodankultes  bei 
den  Angelsachsen  spricht,  daß  dort  keine  Eigennamen  mit  »Rabe«  (seinem 
heiligen  Thier:  in  Wolfram,  Hrabanus  usw.)  gebildet  werden8). 


J)  Chadwick  S.  2. 

2)  Mogk  S.  329;  anders  Chadwick  a.  a.  O. 

?)  Henning,  Die  deutschen  Runendenkmäler,  Straßburg  1889,  S.  102 f. 

4)  Mythol.  1,  110. 

5)  Siehe  u. 

6)  Siehe  o.  S.  193. 

7)  Golther  S.  210. 

8)  Edw.  Schroeder,  Die  deutschen  Personennamen,  Göttingen  1907,  S.  19. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  15 


226  Viertes  Kapitel. 

Altgermanische  Zeugnisse  sind  reichlich  vorhanden1).  Vor 
allem  gehört  hierher  das  Zeugnis  des  Tacitus2):  deorum  maxime  Mer- 
curium  colunt,  cui  certis  diebus  humanis  quoque  hostiis  litare  fas 
habent.  Ebenso  wird  nach  Ann.  13,  57  im  Krieg  zwischen  Hermunduren 
und  Chatten  das  feindliche  Heer  dem  Mars  und  Mercur  (Tiuz  und  Wodan) 
geweiht8).  Daß  Mercurius  nur  Wodan  sein  kann,  beweist  der  Name  des  vierten 
Wochentages  (franzözisch  Mercredt ,  englisch  Wednesday)  und  Angaben 
wie  Mercurium,  Voden  anglice  appellatum  u.  dgl.  m.4).  —  Die  inter- 
pretatio  Romana  geht  vielleicht  von  der  »Geschäftserfahrung«  des  klugen 
Gottes  aus,  die  vermittelnden  Kaufleuten5)  besonders  wichtig  war;  dazu 
kommen  das  Attribut  des  Hutes,  die  Seelenführung  und  andere  Momente6). 
—  Die  Cimbern  weihen  auf  dem  Krainberge  bei  Miltenberg  dem  Mer- 
curius Cimbrianus  eine  Reihe  von  Widmungen7).  Bei  den  Batavern  im 
zweiten  Jahrhundert  hat  sich  bereits  die  Trias  Mercur — Mars  -  Herkules 
(Wodan — Tyr — Thor)  ausgebildet;  das  bedeutet  kein  Sinken  des  Gottes, 
sondern  im  Gegenteil  Ausarbeiten  der  Hierarchie8).  —  Er  wird  auch  allein 
genannt:  Mercurio  regt  setzt  der  Bataver  Blesio  einen  Stein9)  mit  der 
Inschrift  Mercuri  Channini  (dem  Totengott  Wodan?)10)  im  oberen  Ahrtal 
bei  Blankenheim  n). 

Aus  frühchristlicher  Zeit  zeugen  Gregor  von  Tours,  Kapitulare,  Buß- 
ordnungen für  die  Franken.  —  Von  niederdeutschem  Gebiet  aus  ver- 
breitet sich  die  Benennung  Wödnes  dagi2)f  die  noch  spät  bei  Sachsen, 
Friesen,  Niederfranken  herrscht;  aber  nur  zum  Teil  mitteldeutsch  ist:  da- 
für (schon  bei  Notker)  der  Name  Mittwoch  18). 

Von  diesem  Zentrum  aus14)  dehnt  sich  der  Wodanskult  aus.  Be- 
sonders  eifrig  scheinen   die  Sachsen   gewesen   zu  sein,   die  alten  Tyr- 


!)  Mogk  S.  331;  Meyer  S.  9f.,  368;  Golther  S.  298f.;  vgl.  Kauff- 
mann,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  38,  289. 

2)  Germ.  cap.  9. 

3)  Golther  S.  295  Anm. 

4)  Mogk  S.  331. 

6)  Vgl.  Kauffmann  a.  a.  O.  S.  296. 

6)  Die  Übereinstimmung  ausführlich  dargestellt  bei  Meyer  S.  368. 

7)  Kauffmann  a.  a.  O.  S.  293.   • 

8)  Die  Stellung  zwischen  den  beiden  Nebengötter  ist  nach  dem  Ausdruck 
von  Dibelius,  Lade  Jahves,  S.  84,  nach  dem  »glorifizierenden  symmetrischen 
Schema«  gebildet. 

9)  Mogk  S.  331. 

10)  Vgl.  Siebs,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  24,  1461 
")  Golther  S.  296,  2. 

12)  Varianten  bei  Golther  S.  297,  1. 

13)  Golther  a.  a.  O.;  Mogk  S.  329. 

14)  Mogk  S.  329. 


§  17.   Hauptgötter.  227 

« 

Verehrer:  von  ihnen  (aus  Saxland)  soll  Odin  über  Dänemark  nach  dem 
Norden  gekommen  sein.  Wie  Frey  Svia  gody  Schwedengott,  heißt  er 
Saxagud.  Die  Sachsen  müssen  ihm l)  noch  im  achten  Jahrhundert  ab- 
schwören. Ihre  Nachbarn,  die  Langobarden,  kennen  ihn  als  Himmels- 
gott und  Siegesherren2),  die  Thüringer  als  Heilgott3).  Für  die  Angel- 
sachsen wird  er  Stammvater4),  ebenso  vielleicht  später  für  die  Gauten, 
die  heutigen  Goten  in  Schweden5):  Gaut,  angelsächsisch  Ge'at;  ebenso 
für  den  dänischen  Stamm  der  Skjöldungenkönige.  —  Im  Norden  scheint 
er  schon  Anfang  des  sechsten  Jahrhunderts  bekannt  zu  sein;  seinen  Kult 
bei  den  Schweden  aber  setzt  Chadwick 6)  nicht  vor  500  n.  Chr.  an.  Später 
ist  er  dort  (nach  Ortsnamen)  sehr  verbreitet;  nicht  ganz  so  stark  in  Nor- 
wegen (weil  Thor  ein  stärkerer  Nebenbuhler  war  als  Tyr  und  Frey). 

Über  den  Kampf  der  Wodansreligion  mit  anderen  Kulten  wird  noch 
später  zu  handeln  sein. 

Der  Name7)  wird  schon  von  Adam  von  Bremen  gedeutet:  Wodan 
id  est  Juror  %  Kluge  stellt  Wodan  zu  lateinisch  vates,  Seher,  ebenso 
Chadwick:  wodinas  mspired9). 

Neben  Wodan  begegnet  in  nicht  sicheren  Beziehungen  dazu  (nach 
Golther  wie  Odr  zu  Odin)  W  o  d  e ;  bedeutet  dies  eine  bestimmte  Art 
von  Geistern,  so  könnte  Wodan  dazu  stehen  wie  thiudan  gotisch  zu 
thiud:  »Wodenführer«10).  Zimmer,  Mogk,  Meyer  vergleichen  den  indischen 
Windgott  Vdta ,  was  jedenfalls  etymologisch  nicht  stimmt.  Ein  Wind- 
dämon scheint  allerdings  auch  Wodan,  aber  Väta  vertritt11)  fast  nur  das 
Element,  gerade  die  geistige  Seite  ist  in  ihm  unentwickelt;  auch  Mac- 
donell12)  hält  die  Identität  für  zweifelhaft,  die  Oldenberg13)  gar  nicht  in 
Betracht  zieht. 


*)  Müllenhoff  und  Scher  er,  Denkmäler  IV  1. 

2)  Paulus  Diaconus  1,  8. 

3)  Müllenhoff  und  Scherer,  Denkmäler  IV  2. 

4)  Golther  S.  242.  298  Anm.  2. 

5)  Golther  S.  301. 

6)  S.  65;  mit  Argumenten  besonders  aus  der  Heldensage  S.  50  f.  und  von 
Iden  Runen. 

7)  Meyer  S.  370;  Golther  S.  293.  357;  Chadwick  S.  66. 

8)  »Wütendes  Heer«  für  »Wotans  Heer«  (Meyer  a.  a.  O.)  ist  dafür  nicht 
beweisend,  siehe  u.  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch  S.  55,  erklärt  seltsam:  »Darnach 
verdankte  der  Gott  seinen  Namen  den  Zuständen  des  Zauberers,  der  wütigen 
Besessenheit.« 

9)  Siebs  (Ztschr.  f.  d.  Phil.  24,  157)  hält  Henno  (vgl.  u.)  für  den  ältesten 
Namen  des  Gottes  Wodan. 

10)  Vgl.  Golther  293,  1. 
u)  Macdonell  S.  81  f. 

12)  S.  83. 

13)  Religion  des  Veda  S.  225. 

15* 


228  Viertes  Kapitel. 

Für  die  Beurteilung  von  Wodans  Wesen1)  ist  die  Grundfrage,  ob 
Wodan  mit  Wode  zusammenhängt2).  Sehen  wir  von  diesem  Wode  zu- 
nächst ab,  so  haben  wir  für  sein  Wesen3)  folgende  Schlüssel:  den 
römischen  Vergleich  mit  Mercurius,  die  Erscheinung,  die  Opfer  und  den 
Kult,  die  spätere  Entwicklung. 

Man  erklärt  ihn  für  einen  Wind-,  Himmels-,  Totengott;  für  eine  Ver- 
göttlichung des  Zauberers4);  daneben  hat  er  in  Deutschland  als  Heilgott, 
im  Norden  als  Weisheits-  und  Kriegsgott  funktioniert. 

Was  ist  .zentral?  —  Ich  werde  versuchen,  zu  zeigen,  daß  die 
Grundanschauung  (»Grundbegriff«  sollte  man  hier  so  wenig  sagen 
wie  bei  der  sprachlichen  Etymologie)  die  der  mächtigen  Bewegung 
ist:  im  Rauschen  der  heiligen  Bäume  .wie  im  Sturm,  im  Fernkampf  wie 
in  der  geistigen  Konzentration ;  in  der  weitüberschauenden  Herrschaft  wie  in 
dem  plötzlichen  Eingreifen  im  entscheidenden  Augenblick.  —  Man  findet 
,furor<  zu  abstrakt;  aber  »Fruchtbarkeit«  ist  das  auch  und  »Weisheit«  eben- 
falls. Es  ist  doch  nicht  zu  vergessen,  daß  es  uralte  indogermanische  Abstrakta 
in  der  Sprache  tatsächlich  gibt  und  besondere  Abstraktsuffixe,  daß  »Schick- 
sal« ein  höchst  abgezogener  Begriff  ist  und  »Tugend«  oder  »Zeit«  auch. 

Mir  scheint  die  Grundanschauung  im  Wesen  des  Gottes  Wodan,  daß 
er  Herr  über  alle  starken,  zum  Vorteil  führenden  Bewegungen  ist.  Sollte 
ich  Ein  Wort  wählen,  so  würde  ich  doch  sagen:  der  Sturmgott  —  der 
Gott  aller  Stürme,  auch  der  stürmischen  Bewegung  jenes  »Windes«  oder 
»Hauches«,  den  wir  »Seele«  nennen.  Nur  von  hier  aus  scheint  mir  Ein- 
heit in  das  Bild  zu  kommen ;  eben  wie  der  christliche  Gott  in  Gunst 
und  Strafe,  Überlegung  und  Tat  als  »Gott  der  Liebe«  aufgefaßt  werden 
soll.  Und  auch  die  Entwicklung  scheint  mir  von  diesem  Mittelpunkt  am 
besten  zu  übersehen5). 

Wodan-Mercurius.  Die  Umdeutung  gehört  so  wenig  wie  die 
des  Tyr  in  Mars  nur  dem  Tacitus:  Mercurius  mercator ,  negotiator, 
nundinator  heißt  Wodan  als  »Gott  der  Händler,  der  reisenden  Kauf- 
leute« in  römischen  Inschriften6).  »Dieser  Mercurius  ist  der  Wodan  der 
deutschen  Völker« 7),  ist  der  »Mercurius  Cimbrianus«  jenes  Steins  aus  der 


')  Vgl.  besonders  Uhland  bei  Golther  S.  357;  Golther  S.  294;  für  den 
deutschen  Wodan  speziell  S.  303,  für  den  nordischen  S.  357;  vgl.  Snorri  ebd.  S.  309. 

2)  Ja  Golther  S.  292,  Meyer  S.  382;  ja,  aber  nur  mit  dem  ursprünglichen 
Winddämon:  Mogk  S.  332,  oder  gar  nicht:  S.  334. 

a)  Golther  S.  296,  Mogk  S.  332,  Meyer  S.  367. 

4)  v.  d.  Leyen. 

5)  Um  ihre  Aufklärung  hat  sich  nach  Henry  Petersen  (und  Unland,, 
der  aber  allzu  stark  der  Naturmythologie  und  Ausdeutung  huldigte)  Chadwick 
die  größten  Verdienste  erworben. 

6)  K auf f mann,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  38,  296. 

7)  Ebd.  S.  297. 


§  17.    Hauptgötter.  229 

Gegend  von  Miltenberg1).  Der  Vergleich  wurzelt2)  in  der  Betonung  der 
Klugheit,  ja  der  Schlauheit,  der  überlegenen  Einsicht  vor  allem  in  die 
menschlichen  Geschicke.  Wie  Mercurius  mit  seinen  schalkhaften  Zügen 8), 
so  ist  auch  Wodan  vor  allem  (wie  Frey  und  Thor  und  mehr  noch  als 
dieser)  ein  »Menschengott«,  in  seiner  Art  den  Erdensöhnen  näher  verwandt 
als  ein  Apollon,  Mars,  Tyr.  Wissowa4)  scheint  zu  vermuten,  daß  Wodan 
überhaupt  als  römischer  Gott  des  Handels  und  Verkehrs  zu  (Kelten  und) 
Germanen  gekommen  sei,  gerade  wie  die  Römer  selbst  von  den  ver- 
schiedenen im  Wesen  des  griechischen  Hermes  vereinigten  Seiten  nur 
seine  Eigenschaft  als  Handelsgott  in  Betracht  kommen  ließen5);  aber  von 
dem  Handelsgott  aus  sind  der  Fürstengott  und  der  Kriegsgott  nicht  ver- 
ständlich. Auch  wäre  schwerlich  gerade  der  Verkehrsgott  bei  den  alten 
Germanen  zum  Hauptgott  geworden.  —  Der  Eindruck  der  Überein- 
stimmung wurde  verstärkt  durch  innere  Ähnlichkeiten  (der  Totengott)  und 
äußere  (der  Hut)6).  Anderes  mußte  zurücktreten:  die  subalterne  Stellung 
des  Götterboten,  die  Heroldszeichen,  das  lautlose  gewandte  Wesen. 

Vom  Mercurius  aus  sind  also  nur  gewisse  Seiten  des  ausgebildeten 
Wodan  zu  erklären;  in  eine  der  vermuteten  Zentral eigenschaften  oder 
Hauptfunktionen  (Wut,  Begeisterung;  Himmelsgott,  Kriegsgott)  führt  der 
Vergleich  nicht  —  auch  nicht  in  die  des  Totengottes,  die  für  die  römische 
Anschauung  von  Mercur  gewiß  nicht  wesentlich  ist7).  Immerhin  finden 
wir  uns  schon  hier  auf  mehr  intellektuelle  Eigenschaften  hin- 
gewiesen, wo  Freys  Priapus  oder  Thors  Kraft  mehr  nur  animalisch 
wirken. 

Die  Erscheinung  Wodans  ist  mit  charakteristischer  Vorliebe  aus- 
gearbeitet8). Durchaus  dominiert  das  »Windhafte«;  dagegen  bietet  sich 
äußerlich  keine  Spur  von  einem  »Himmelsgott«  dar. 

Vorzugsweise  erscheint  er  als  Reiter  (auf  Sleipnir9),  dessen  acht 
Füße  aber  nirgends  hervorgehoben  werden)  mit  dem  großen  Schlapphut10). 
Beides,  Roß  und  Hut,  gehören  auch  dem  »wilden  Jäger«  I1).  Oft  erscheint 
er  einäugig,  verkleidet  auch  als  blind  (Gestr  inn  blindi).    Die  Deutung 


*)  Ebd.  S.  289 f. 

2)  Siehe  o.  S.  226. 

3)  Hermes  als  Meisterdieb,  Preller  1,  391,  wie  Odin  in  dem  einen  Odin- 
schwank der  Edda. 

4)  S.  250.  5)  S.  249. 

6)  Siehe  o.  S.  226. 

7)  Vgl.  Wissowa  S.  249  Anm.  2. 

8)  Vgl.  Mogk  S.  336,  Meyer  S.  368f. 

9)  Siehe  u. 

J0)  Meyer  S.  370. 

*')  Meyer  S.  370.  383. 


230  Viertes  Kapitel. 

der  Einäugigkeit  ist  strittig,  da  der  Mythus  von  der  Verpfändung  in 
Mimirs  Quell *)  wohl  sekundär  sein  wird 2). 

Meyer8)  versucht  auch  für  die  Erscheinung  Schichten  und  Bezirke  ab- 
zugrenzen: gemeingermanisch  tritt  er  als  älterer  Mann  mit  einem  breiten 
Graubart  auf,  ferner  mit  dem  Speer  bewaffnet.  Gemeingermanisch  scheint 
auch,  daß  er  vorzugsweise  reitet:  so  deutsch  und  dänisch;  isländisch  geht 
er  meist,  norwegisch  und  schwedisch  kommt  beides  vor.  Die  begleitenden 
Hunde  teilt  der  Gott  wieder  mit  dem  »wilden  Jäger« ;  die  Raben  (oder 
Vögel  überhaupt)  sind  zweifelhaft. 

S.  Müller4)  sucht  ein  frühes  Odinbild  nachzuweisen.  Aber  schwer- 
lich kann  dieser  Reiter  den  Gott  darstellen,  der  beim  letzten  Kampf5)  mit 
eingelegtem  Speer  auf  den  Fenriswolf  losreitet  (mit  der  Midgardssch lange 
kämpft  Thor)  und  nie,  wie  hier,  eine  Schlange  oder  einen  Drachen  be- 
kämpft. Macht  die  eigentümliche  Bildung  der  Schlange  nicht  die  Nach- 
bildung einer  antiken  Gottheit  wahrscheinlich,  so  möchte  ich  eher  an  einen 
drachenkämpfenden  Heros  denken;  der  begleitenden  Vögel  wegen6)  an 
Sigurd,  der  allerdings  nicht  zu  Pferde  kämpft7).  — 

Was  bedeuten  die  Einzelheiten  dieses  Bildes?  Dominierend  erscheint 
der  Ausdruck  höheren  Alters.  Roß  und  Waffe  sind  an  sich  nichts 
Auffallendes;  wohl  aber,  daß  ein  Gott  als  älterer  Mann  erscheint.  Wie 
für  den  indischen  Indra8)  die  Betonung  seiner  Geburt,  ist  für  Odin  das 
reife  Alter  charakteristisch.  Nur  dies  soll  wohl  auch  der  graue  Bart  aus- 
drücken, der  freilich  in  die  ganze  stürmische  Erscheinung  trefflich  hinein- 
stilisiert ist.  Aber  an  sich  ist  ein  Bart  keineswegs,  wie  viele  Mythologen 
(von  dem  Wodanbild  fasziniert)  anzunehmen  scheinen ,  ein  Sturmsymbol : 
bei  den  Indern  hat  der  Sturmgott  Rudra 9)  keinen  Bart 10),  aber  der  (proble- 
matische) Sonnen-  oder  Gewitterdämon  Pushan  trägt  einen  solchen  n)  und 
daneben,  wie  Rudra,  geflochtene  Haare.    Boreas12)  hat  »langes  struppiges 

*)  Vol.  Str.  29,  Gylf.  cap.  15:  Gering  S.  309. 

2)  Vgl.  o.  S.  167.  Ob  nicht  der  ganze  Mythus  aus  dem  zweideutigen  Vers- 
paar Vol.  29,  1—2  (vgl.  Heinzel-Detter  z.  St.)  erst  herausgesponnen  ist? 
Odin  »birgt«  sein  Auge  in  dem  Quell,  wie  wir  noch  sagen:  er  »versenkt«  es? 
Allerdings  setzt  die  Vol.  (vgl.  Str.  28  und  den  Parallelismus  mit  Heimdalls  Hörn 
Str.  27)  die  »Verpfändung«  schon  voraus.  Aber  sie  benutzt  auch  sonst  älteres 
Gut  (wie  Str.  3). 

3)  S.  370  f. 

4)  Urgeschichte  Europas  S.  186. 
B)  Gylf.  cap.  51 :  Gering  S.  349. 

6)  Reg.  Str.  31  f. 

7)  Doch  scheinen  solche  Bilder  vorzukommen;  vgl.  Säve,  Siegfriedbilder, 
Hamburg  1870,  S.  73;  von  ihm  freilich  S.  77  anders  erklärt. 

8)  Macdonell  S.  56. 

9)  Macdonell  S.  77.  10)  S.  74. 
u)  Ebd.  S.  35.            12)  Preller  1,  471. 


§  17.    Hauptgötter.  231 

Haar« ,  aber  bärtig  ist  er  nicht  Das  eignet  vielmehr  den  Wasser-  und 
Waldgeistern ').  —  Der  Bart  ist  vielleicht  noch  Zeichen  des  vornehmen 
Mannes  und  daher  des  »Fürstengott es«  2);  aber  der  lange  graue  Bart  kann 
wohl  eben  nur  das  Alter  symbolisieren,  oder  vielmehr  die  Erfahrung  des 
reifen,  weisen  Mannes  —  wie  bei  Zeus,  bei  dem  indischen  Dionysos  — 
oder  Piaton.  Odin  darf  nicht  jung  sein,  denn  er  hat  lange  Erfahrungen 
hinter  sich  und  ist  in  Anstrengung  gereift3).  Deshalb  wird  auch  gern  in 
mythischen  Andeutungen  von  seiner  Vorzeit  gesprochen4).  Aber  eine 
eigene  Vorgeschichte  des  jungen  Wodan  (wie  des  jungen  Zeus  oder 
Indra)  besitzen  wir  nicht:  die  germanische  Anschauung  scheint  die  Vor- 
stellung des  göttlichen  Kindes  nicht  zu  besitzen ;  sie  ist  zu  ernst,  vielleicht 
auch  ein  wenig  zu  feierlich  dazu.  • 

Das  Eine  Auge  —  wenn  es  ein  alter  mythischer  Zug  ist  —  läßt 
sich  nicht  so  leicht  deuten.  Natürlich  hat  man  es  auf  die  Sonne  be- 
zogen 5).  Ich  muß  gestehen,  daß  mir  dies  mythologisch  nicht  unbedenklich 
scheint.  Der  Mythus  wäre  doch  nur  ätiologisch  zu  verstehen:  als  Ant- 
wort auf  die  Frage,  warum  es  nur  Eine  Sonne  gebe;  eine  Frage,  der  ich 
noch  nie  begegnet  bin.  Sonst  ist  es  wohl  natürlich,  die  Sonne  als  Auge 
des  Himmels  zu  bezeichnen,  weil  sie  auf  uns  »herabsieht«6);  damit  ist 
aber  noch  nicht  gesagt,  daß  eine  klare  primitive  Vorstellung  das  mensch- 
lich gedachte  Auge  als  Symbol  der  Sonne  hätte  brauchen  können.  Die 
Sonne  ist  eine  goldene  Scheibe,  ein  Wagen,  ein  Tierfell,  ein  Schild;  aber 
ein  Gott  mit  einer  ins  Gesicht  geklemmten  Sonne  wäre  vermutlich  unseren 
Altvordern  höchst  seltsam  vorgekommen.  Bei  dem  Rundauge  auf  der 
gewölbten  Stirn  (einer  nicht  nur  bei  den  Kyklopen  begegnende  Vorstellung) 
wäre  das  Bild  immer  noch  denkbar;  aber  wenn  von  dem  untrennbaren 
Dual  der  Augen  das  eine  fehlt,  kann  das  andere  schwerlich  als  das 
singulare  tantum  Sonne  zu  denken  sein.  Eine  Möglichkeit  sehe  ich 
noch  dafür:  die  in  einigen  Mythologien  auftauchenden  Vorstellungen  von 
zwei  Sonnen,  einer  Tag-  und  einer  Nachtsonne:  das  fehlende  Auge  wäre 
dann  die  verschwundene  Nachtsonne.  Aber  ist  dieser  Mythus  bei  den 
Germanen  je  vorhanden  gewesen? 


!)  Besäßen  wir  nur  eine  Ikonographie  der  Götter  und  Dämonen,  wie  wir 
solche  von  den  katholischen  Heiligen  besitzen! 

2)  Vgl.  Rig.  Str.  15  und  die  vielen  »barttragenden«  Beinamen  nordischer 
Fürsten  wie  Svend  Gabelbart  u.  dgl. 

*)  Wie  Häv.  Str.  58—59  fordert. 

4)  Lok.  Str.  9. 

5)  Ebenso  bei  anderen  Völkern;  vgl.  St  ahn,  Die  Simson-Sage,  Göttingen 
1908,  S.  55. 

6)  So  heißt  die  Sonne  in  vedischen  Hymnen  Varuna  und  Mitras  schönes 
Götterauge  (Geldner-Koegi,  70  Lieder  des  Rigveda,  S.  15),  oder  noch  oben- 
drein Agnis  (ebd.  S.  55)  —  was  doch  jede  Anschauung  ausschließt. 


232  Viertes  Kapitel. 

Müllenhoff1)  deutet  die  Sage  als  einen  Naturmythus,  »und  zwar  das 
Abbild  eines  alltäglich  sich  wiederholenden  Vorganges:  daß  die  Sonne 
im  Wasser  wiederscheint«.  Aber  er  selbst  führt2)  Ortsnamen  mit  Mimi 
nur  bei  Flüßchen  und  Quellen  an ;  jener  Mythus  würde  dann  doch  wohl 
die  Sonne   eher   mit   einem  Gott  breiter  Wasserflächen  verbunden  haben. 

Ich  möchte  die  Einäugigkeit  (ich  wiederhole:  wenn  sie  ursprünglich 
ist)  viel  eher  aus  irgendeinem  Mythus  epischer  Art  ableiten  als  aus  dem 
Mimirs;  wenn  sie  nicht  vielleicht  einfach  einem  ikonischen  Mythus  ent- 
sprungen ist.  Der  Schlapphut  Odins  verdeckt  oder  verdunkelt  doch  ein 
Auge  —  sollte  von  solchen  Darstellungen  nicht  die  Vorstellung  her- 
stammen ? 

Ober  die  Attribute  —  Hut,  Mantel;  Speer,  Roß;  Hunde,  Raben  — 
handeln  wir  besonders.  Auf  den  reichen  Waffenschmuck  jüngerer  Dar- 
stellungen8) brauchen  wir  nicht  einzugehen.  Besonders  ist  dagegen  noch 
auf  Odins  Neigung  zu  Verkleidungen  hinzuweisen4).  Doch  ist  zweierlei 
zu  unterscheiden :  die  Verwandlung  in  Tiergestalt,  erst  in  späteren  Mythen 
beliebt,  aber  wohl  (wie  in  Zeus'  Verwandlungen  in  Stier,  Wolke,  goldenen 
Regen  usw.)  auf  dämonische  Erbschaft  zurückgehend;  und  die  eigentliche 
Verkleidung  (als  Bettler,  Steuermann,  Greis  usw.),  die  mehr  mit  seiner 
Funktion  als  Fürstengott  zusammenhängt:  er  geht  wie  Harun  al  Raschid 
in  unscheinbarer  Form  einher,  um  die  Menschen  und  besonders  die 
Gewalthaber  zu  prüfen  (Grfm).  —  Wer  will,  mag  auch  hier  Wolken 
sehen  und  an  Hamlets  Wolke,  die  bald  ein  Kamel  ist  und  bald  ein  Un- 
geheuer, erinnern. 

Wir  finden  also  als  Kern  der  Anschauung  von  Wodans  Persönlich- 
keit das  Alter  oder  besser  die  Reife.  Dies  selbst  aber  wiederum  bedeutet 
nichts  anders  als  Erfahrenheit,  Weisheit.  »Alter«  ist  die  mythologische 
Chiffre  für  Weisheit,  wie  etwa  im  Hildebrandslied  oder  der  Nibelungen- 
art der  wise  dem  tumben  gegenübersteht.  —  So  kommen  wir  auch  hier 
auf  die  Betonung  intellektueller  Macht.  — 

Kein  Gott  besitzt  so  viele  Attribute  wie  Odin  und  keiner  so  viel 
Namen,  die  er  in  den  Grim.  selbst  stolz  aufzählt.  Wichtig  sind  vor 
allem  die  Attribute.  Es  sind  drei  Paare:  zwei  gehören  zur  Kleidung, 
zwei  zur  Ausrüstung,  zwei  zur  Begleitung.  Der  Hut*)  und  der  Mantel 
haben  es  gemein,  daß  sie  der  Verhüllung,  Vermummung  dienen  6).    Natür- 


J)  D.  Alt.  5,  102. 
2)  S.  106. 

8)  Uppsala:  vgl.  Mogk  S.  336;   die   Bildsäule,   die   Frigg   berauben   ließ, 
s.  o.  S.  222. 

4)  Vgl.  Golther  S.  330. 

5)  Meyer  S.  368.  383. 

•)  Nach  der  er  Grimr  heißt,  vgl.  Meyer  S.  370. 


§  17.    Hauptgötter.  233 

lieh  kann  aber  dies  nicht  die  ursprüngliche  Funktion  sein.  Eher  noch 
könnte  man  hier  Zeichen  des  großen  Zauberers  sehen:  der  Hut  der 
Zwerge  und  Elfen  ist  ein  Zaubergerät,  und  Odins  Mantel  wirklich  ge- 
legentlich ein  Zaubermantel,  in  dem  er  sogar  andere  in  fremde  Länder 
trägt1).  Indeß  läßt  sich  beobachten,  daß  Attribute,  die  zur  eigentlichen 
Kleidung  gehören,  fast  stets  elementarische  Symbole  sind  —  sei  es, 
daß  sie  ursprünglich  Fetische  von  symbolischer  Art  sind  (wie  die  Ägis), 
sei  es,  daß  sie  das  Element  andeuten,  in  dem  die  Gottheit  sich  bewegt, 
wie  Skadis  Schneeschuhe,  der  caduceus  des  antiken  Götterboten.  Ich 
glaube,  daß  Hut  und  Mantel  allerdings  einen  alten  Naturdämon  an- 
zeigen. Führen  nun  verschiedene  Erwägungen  zu  der  Vermutung,  er  sei 
ursprünglich  der  Geist  des  in  den  Baumkronen  stürmenden  Windes,  so 
passen  dazu  diese  Attribute  vortrefflich.  Der  sonderbare  große  Schlapphut 
ist  der  metaphorische  Ausdruck  des  über  das  Gesicht  des  Gottes  hin  und 
her  wehenden  Laubes  am  Gipfel,  der  Mantel  des  übrigen  im  Sturm  hin 
und  her  wehenden  Laubes.  —  An  sich  ist  gewiß  die  Erklärung  beider 
Attribute  mit  der  verhüllenden  Wolke  gut  möglich;  aber  Odin  scheint 
eben  kein  Wolkengott  zu  sein. 

Der  Speer  und  das  Roß  gehören  nicht  ganz  so  eng  zusammen. 
Das  Roß  ist  nur  mythologische  Umschreibung  der  raschen  Bewegung 
und  deshalb  gewiß  alt2).  Wie  der  Speer  hat  es  seinen  eigenen  Namen: 
Sleipnir,  der  Springer;  aber  die  für  die  germanische  Mythologie  (wenig- 
stens durch  ihre  Beliebtheit)  bezeichnende  Benennung  der  Waffen  und 
Tiere  stammt  wohl  erst  aus  der  Heldensage:  Sigurd,  ebenso  Roland, 
der  Cid  u.  a.  haben  benannte  Rosse.  Auch  sehen  die  drei  Namen 
Sleipnir — Gungnir(der  Speer) — Draupnir  (der  Tröpfler,  Odins  Wunder- 
ding) sich  so  verdächtig  ähnlich  wie  Andhrimnir — Eldhrimnir — Saehrimnir  8) 
—  sollte  es  nicht  späte  Fabrikarbeit  sein?  Auch  der  Name  Mjölnir, 
der  Zermalmer,  für  Thors  Hammer  gehört  in  dieselbe  Kategorie.  Später 
haben  dann,  wie  alle  »Heime«,  auch  alle  Götterrosse  Namen  be- 
kommen4); zuerst  vielleicht  Heimdalls  Roß  Gulltopp  »mit  goldenem 
Stirnhaar«. 

Für  das  Roß  des  Sturmgottes  ist  natürlich  seine  ganz  besondere 
Schnelligkeit  bezeichnend.  Wie  der  Apoll  von  Amyklae  zum  Ausdruck 
seiner  besonderen  Wahrhaftigkeit  (oder  eher  wohl :  Aufmerksamkeit)  und 
wirksamen  Hilfe  vier  Ohren  und  vier  Arme  besaß 5),  so  hat  Sleipnir  acht 


J)  Saxo  1,  40;  vgl.  Mogk  S.  335. 

2)  Vgl.  Meyer  S.  371,  Golther  S.  312,  Mogk  S.  335. 

8)  Grim.  Str.  18. 

*)  Grim.  Str.  30;  Gylf.  cap.  15:  Gering  S.  310. 

•)  Preller  1,  294. 


234  Viertes  Kapitel. 

Füße:  »damit  soll  wohl  die  große  Geschwindigkeit  angezeigt  werden«1). 
Grau  von  Farbe  ist  Sleipnir  wohl,  weil  Odin  selbst  grau  ist. 

An  dies  Roß  knüpfen  später  weitere  Märchen:  es  soll  von  dem 
Riesenhengst  Swadilfari  und  Loki  abstammen2),  So  wäre  denn  das  edle 
Kampfroß  des  vornehmen  Gottes  eine  reelle  »Spottgeburt  von  Dreck  und 
Feuer« !  eine  jener  unsauberen  Bastardlegenden,  an  denen  die  theologische 
Spekulation  sich  vergnügt  wie  die  vom  Ursprung  des  Erichthonios8)  oder 
des  Typhon 4).  Wieder  von  Sleipnir  soll  dann  Sigurds  Grani  abstammen ; 
wahrscheinlich  war  es  umgekehrt! 

Zweifelhafter  ist  schon  das  Alter  des  Speers.  Ein  Speerkult,  der 
dem  Schwertkult  (Tyr)  und  dem  Hammerkult  (Thor)  entspräche,  ist  nicht 
bezeugt;  freilich  ist  Wodan  als  Gott  vielleicht  jünger  als  beide,  sicher  als 
der  indogermanische  Tyr,  wahrscheinlich  als  der  keltisch-germanische  Thor. 
In  der  deutschen  Oberlieferung  ist  der  Speer  wohl  nicht  belegt.  Wenn 
im  Merseburger  Spruch  Thor  und  Wodan  se  holse  fahren,  werden  sie 
wohl  mit  Jagdspeeren  bewaffnet  sein;  aber  das  wird  nicht  erwähnt,  und 
läge  ja  auch  nur  in  der  Situation  als  solcher.  In  der  altnordischen 
Dichtung  aber  ist  der  Speer  ganz  eigentlich  Odins  Kennzeichen  geworden5); 
er  schleudert  ihn  feierlich  zur  Kriegserklärung  wie  dtr  römische  Flamen  6). 
Mogk7)  faßt  den  Speer  als  den  Blitz,  den  der  Gott  aus  dunkler  Wolke 
schleudert.  Aber  Gewittergott  ist  Thor  und  sein  Hammer  der  Donner- 
keil; der  Wind  schleudert  keine  Blitze. 

Ich  habe  schon  früher  ausgeführt,  daß  mir  gerade  auf  der  Einführung 
des  Speers  (oder  seiner  neuen  taktischen  Verwertung8)  der  Sieg  Odins 
über  Tyr  zu  beruhen  scheint.  Wie  er  aber  dazu  kam,  Speergott  zu 
werden,  das  erkläre  ich  so  wie  die  Erfindung  der  Runen9).  Der  Wind- 
gott hat  den  Holzspeer10)  vom  Baum  geweht  und  ihn  so  den  Menschen 
geschenkt.  Eine  schwache  Erinnerung  daran  lebt  vielleicht  noch  in  der 
merkwürdigen  Sage,  wie  Odin  dem  Starkad  den  Rohrstab  gibt,  der  zum 
Speer  geworden  König  Wikar  durchbohrt11),  wenn  nicht  gar  noch  Hods 


')  Golther  S.  312. 

2)  Meyer  S.  234.  278;  Golther  S.  273;  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  38. 

3)  Preller  1,  198. 

4)  Ebd.  64,  3.  Nicht  der  Adler  des  Zeus,  aber  der  des  Prometheus  hat 
ähnlichen  Ursprung:  er  stammt  von  Typhon  und  Echidna  (Preller  1,  99 
Anm.  4).  —  Selbst  Mogk  S.  351  scheint  das  Märchen  noch  für  alt  und  echt  zu 
halten. 

5)  Siehe  o.  S.  183;  Golther  S.  311. 

6)  Völ.  Str.  24.  7)  S.  336. 

8)  Vgl.  z.  B.  für  die  Zulus  Schurtz,  Urgesch.  d.  Kultur,  S.  337. 

9)  Altgerm.  Poesie  S.  494. 
,0)  Schurtz  a.  a.  O. 

n)  Golther  S.  325. 


§  2.   Wesen  und  Begriff  der  Mythologie.  235 

Mistelzweig  ein  Nachklang  des  ursprünglichen  Speers  ist1).  Odin  schenkte 
den  Speer,  und  deshalb  stehen  Runen  auf  dem  seinigen.  —  Natürlich  ist 
das  nur  eine  Hypothese;  der  Sturmdämon  mag  auch  Kriegsgott  geworden 
und  als  solcher  mittelst  seiner  fernhin  treffenden  Lanze  von  dem  alten 
Kriegsgott  differenziert  sein. 

Auch  an  den  Speer  knüpfen  einige  Mythen  eine  märchenhafte  Vor- 
geschichte. Wie  alle  wunderbaren  Fortschritte  der  Technik  wird  auch  er 
den  Zwergen  zugeschoben,  wie  Freys  Schiff  Skidbladnir2).  Der  Gott 
trifft  sicher  wie  Apollon3):  seine  Lanze  hält  nie  im  Flug  inne4).  Sym- 
pathischen Zauber  bedeutet  es  daher,  wenn  Erik  den  Speer  über  seine 
Feinde  schwingt5),  unmittelbaren  Sieg,  wenn  Odin6)  dem  Dag  seinen 
Speer  leiht. 

Die  Raben  halte  ich  für  alt:  sie  holen  die  für  den  Odinskult 
charakteristischen  Opfer  des  »Hängegottes«  aus  dem  Baum:  sie  sind 
Galgenvögel.  Ursprünglich  aber  waren  sie  wohl  einfach  die  Vögel,  die 
in  den  vom  Wind  durchheulten  Baumkronen  auf  und  ab  flogen 7).  Aber 
erst  spät  sind  sie  zu  seinen  »Gedankenboten«  gemacht  worden8).  Man 
nennt  sie  dann  Hugin  »Gedanke«  und  Munin  »Gedächtnis«,  ein  Paar  wie 
Prometheus  und  Epimetheus 9). 

Der  Rabe  wird  das  Zeichen  der  dämonischen  Schlachtfahne10),  was 
glücklicherweise  noch  niemand  totemistisch  gedeutet  hat.  —  Neben  den 
Raben  kommt  der  Adler  als  ein  anderer  Vogel  des  Schlachtfeldes  vor11), 


*)  Sgdr.  Str.  17.  Eine  ähnliche  Fiktion  wird  noch  von  den  Fehmrichtern 
angewandt,  wenn  sie  einen  Strang  von  der  nächsten  Eiche  machen  lassen 
(Lind n er,  Die  Veme,  Paderborn  1872,  S.  211):  die  Eiche  vollzieht  gleichsam 
die  Strafe  an  dem  Verbrecher. 

2)  Meyer  S.  157f. 

3)  Preller  1,  274. 

4)  Vgl.  v.  d.  Leyen  S.  57. 

5)  Mogk  S.  337. 

6)  Helg.  Hund.  2,  27. 

7)  Meyer  S.  371,  Mogk  S.  336.  —  Die  Raben  Barbarossas  im  Kyffhäuser 
sind  wohl  jung. 

8)  Immerhin  haben  auch  Mitra  und  Varuna  »Spione»,  Kundschafter,  die  vom 
Himmel  die  Welt  durcheilen  und  alles  sehen;  Macdon  eil  S.  23. 

9)  Vögel  als  Boten  sind  uralt  in  Mythen,  wie  besonders  der  semitischen 
Sintflutsage  (nicht  in  hellenischen  Berichten  echten  Ursprungs:  Usener,  Sintflut- 
sagen, S.  254;  vgl.  auch  Macdon el  1  S.  152);  vgl.  allgemein  Kluge,  Die  Heimat 
der  Brieftaube:  Bunte  Blätter,  Freiburg  1908,  S.  145,  und  dazu  Edw.  Schroeder, 
Anz.  f.  d.  Alt.  1908,  226 f.:  sie  stammen  aus  dem  wirklichen  Gebrauch.  —  Auf- 
fallender ist,  daß  auch  in  dem  heiligen  Baum  des  Zeus  sich  heilige  Tauben 
wiegen  (Preller  1,  124). 

lü)  Meyer  S.  374. 

X1)  Raubvögel  und  Wolf  als  typische  Tiere  des  Schlachtfeldes:  J.  Grimm,, 
Andreas  und  Elene,  S.  25;  Brand  1,  Altengl.  Lit.  S.  1078. 


236  Viertes  Kapitel. 

der  ebenfalls  die  Gipfel  hoher  Bäume  umkreist1).  An  eine  Übertragung 
des  Adlers2)  des  Zeus  ist  gewiß  nicht  zu  denken;  wohl  aber  (wie  bei 
diesem?)  an  eine  ursprüngliche  Adlergestalt  des  Dämons,  die  bei  allen 
am  Himmel  tätigen  Naturgeistern  vorzukommen  scheint8);  er  heißt  auch 
selbst  noch  Oern,  Adler4). 

Auch  die  Wölfe  begleiten  den  Kriegsgott5)  und  begleiten  Odin 
wohl  erst,  seit  er  das  geworden  ist,  denn  sie  haben  keine  alte  Analogie. 
Die  Aristeia  Odins6)  schildert  den  Gott,  wie  er  als  vornehmer  Herr 
zwischen  seinen  beiden  gezähmten  wilden  Tieren  sitzt  wie  der  König  im 
Ruodlieb7)  mit  seinen  je  zwei  Leoparden,  Löwen,  Bären;  »c'est  une 
belle  magnificence  de  roi«,  wie  noch  Victor  Hugos  König  Ludwig  XL 
von  seinen  Löwen  im  Käfig  sagt.  Die  Situation  ist  populär  geworden 
und  Bücher  wie  Golthers  »Religion  und  Mythus  der  Germanen«  bilden 
Odin  in  dieser  Gala -Haltung  ab,  in  der  der  einfache  Gläubige  ihn  sich 
schwerlich  in  der  Regel  vorstellte:  damals  war  der  Wanderer  in  Hut 
und  Mantel  gewiß  populärer. 

Die  große  mythologische  Requisitentaufe  erstreckt  sich  natürlich  auch 
auf  die  Wölfe:  sie  heißen8)  Freki,  der  Gefräßige,  und  Geri,  der  Gierige9) 
womit  wohl  nur  der  Gegensatz  der  futterbedürftigen  Tiere  und  des 
asketischen  Gottes  in  maiorem  dei  gloriam  akzentuiert  werden  soll. 

Während  auf  dem  Pergamonfries  die  Göttertiere  eifrig  am  Kampf 
gegen  die  Giganten  teilnehmen,  werden  die  doch  hierfür  sehr  geeigneten 
Wölfe  und  Raben  Odins  beim  Ragnarök  lü)  nicht  erwähnt,  vielleicht  weil 
schon  auf  der  Gegenseite  ein  Wolf  steht.  —  Die  Namen  der  Odinstiere 
werden  gern  als  »Wappennamen«  verwandt11);  in  dem  Namen  unseres 
größten  mittelalterlichen  Dichters,  Wolfram,  haben  sie  sich  zusammen- 
gefunden, wie  Wolfgang  sowohl  Goethe  als  Mozart  heißen. 

Der  große  Namenreichtum 12),  mit  dem  die  Grim.13)  prahlen,  entstammt, 
nur  sehr  zum  Teil   den   verschiedenen  Funktionen   des  Gottes  (so  Sieg- 

1)  Grim.  Str.  10. 

2)  Oder  der  Adler:  Preller  1,  127. 

8)  Ebenso  z.  B.  bei  Indra,  Macdon  eil  S.  152;  doch  vgl.  u.  über  den 
Raub  des  Unsterblichkeitstranks. 

4)  Mogk  S.  340. 

5)  Golther  S.  312;  ebenso  hat  Mars  den  Wolf,  nach  dem  sich  die  Hirpoiner 
benennen:  Wissowa  S.  137. 

6)  Grim.  Str.  19. 

7)  Her.  v.  Seiler  5,  84f. 

8)  Grim.  Str.  79. 

9)  Gylf.  cap.  38:  Gering  S.  329. 
10)  Gylf.  cap.  5:  Gering  S.  348. 

")  Vgl.  meinen  Aufsatz  »Copulative  Eigennamen«  Ztschr.  f.  d.  Alt.  43,  161. 
")  Golther  S.  355 f. 
18)  Str.  46-50,  54. 


§  17.    Hauptgötter.  237 

vater,  Walvater;  aber  die  meisten  gerade  hierher  gehörigen  Titel  wie 
»Hängegott»,  »Rabengott«  fehlen  in  dieser  vorsichtig  auf  Effekt  ge- 
arbeiteten Dichtung).  Viele  Titel  sind  beschreibender  Natur  (»Breithut«, 
»Langbart«,  »Graubart«  »Stabträger«)  oder  enkomiastisch  (der  Erhabene, 
Kampffrohe,  Wahre,  Wachsame);  andere  spielen  auf  einzelne  Abenteuer 
an  (der  Truggewandte,  der  Verlarvte)  oder  auf  seine  Vielgestaltigkeit  selbst 
(der  Gestaltentauscher).  Einige  wird  auch  der  Preisdichter  selbst  er- 
funden haben,  und  vielleicht  sind  Namen  wie  Thud  und  Uä1)  nur 
mythische  Klänge  ohne  Inhalt.  Aber  die  Menge  der  Namen  bleibt  doch 
bezeichnend2).  — 

Diese  charakteristische  Erscheinung  wird  nun  noch  weiter  ausgemalt, 
wobei  der  Weg,  der  von  Hut  und  Mantel  des  Sturmgeistes  zu  Roß  und 
Speer  des  Gottes  und  wohl  weiter  zu  Raben  und  Wolf  des  Totengottes 
führte,  mit  immer  weiteren  Einzelheiten  gewandelt  wird.  Natürlich  reitet 
auch  er,  wie  seine  Walküren,  durch  Luft  und  Meer3)  und  trägt,  nach 
späterem  Skaldenbericht,  zündende  Flammen  in  der  Hand5).  Anderseits 
macht  es  seinen  Bewunderern  Freude,  ihn  in  unscheinbarer  Gestalt  auf- 
treten zu  lassen,  als  Fergen  (Härb.)  oder  Kleinbauern  (Einleitung  zu  Grim.) : 
um  so  wirkungsvoller  läßt  dann  der  Gesang  des  Landstreichers  im  feurigen 
Ofen  am  Schluß  »den  Ordensstern  sehen«.  —  Hier  allein5)  ist  auch  seine 
rein  flüssige  Diät  erwähnt6).  Es  liegt  in  der  Linie  märchenhaft  steigernder 
Phantasie;  so  hat  auch  der  große  Chemiker  Berthelot  mit  der  Idee 
gespielt,  die  Zukunft  werde  nur  noch  chemische  Destillate  als  Nahrungs- 
mittel kennen.  Aber  der  alte  Opfergott  hatte  einen  kräftigen  Appetit  und 
will  auch  als  Gast  bei  Geirröd  selbst7)  nicht  hungern. 

Neben  dem  Vergleich  mit  Mercurius  und  der  Erscheinung  des  Gottes 
bildet  sein  Kult  ein  wichtiges  Mittel,  die  ursprüngliche  Natur  Odins  zu 
ergründen  —  ein  Mittel,  dessen  sich  besonders  Chadwick  mit  kluger 
Methode  und  sicherem  Erfolg  bedient  hat.  Der  Kult  Odins  unterscheidet 
sich  durch  bestimmte  Eigentümlichkeiten8). 

Auszugehen  ist  von  dem  Menschenopfer9).  Es  ist  von  Tacitus  10) 
bezeugt;    und   die   Fortdauer  beweisen   zahlreiche   nordische  Berichte11). 


')  Str.  46. 

£)  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch  S.  132,  schiebt  sie  ausschließlich  auf  die  Lieb- 
haberei der  Skalden  für  Odin. 

3)  Mogk  S.  335.  4)  Ebd. 

p')  Grim.  Str.  18.  6)  Siehe  o.  S.  175. 

"')  Einl.  zu  Grim. 

8)  Chadwick  a.  a.  O.;  Mogk  S.  337;  Meyer  S.  315.  388. 

9)  Vgl.  Mogk,  Menschenopfer  bei  d.  Germanen. 

10)  Germ.  cap.  9:    Mercurium  colunt,  cni  certis  diebus  humanis  quoque  hosttis 
litare  fas  habent;  Mogk  bei  Paul  S.  345;  Meyer  S.  335;  Golther  S.  327. 

n)  Vgl.  Golther  a.  a.  O. 


238  Viertes  Kapitel. 

Tiuz  und  Donar  geben  sich  mit  Tieropfern  zufrieden  —  Wodan  erhält 
noch  spät  neungeteilte  Opfer  von  Menschen  und  Tieren1).  Einar,  der 
Jarl  der  Orkneys,  opfert  den  Hälfdan  in  grausamer  Weise  dem  Odin  für 
Sieg2):  er  läßt  ihm  »den  Blutadler  ritzen«3),  d.h.  die  Rippen  zerbrechen 
und  die  Lungen  herausziehen :  der  Mensch  wird  in  ein  heiliges  Tier  Odins 
gewandelt.  —  Ebenso  opfern  die  Sachsen  Menschen4). 

Weshalb  bringt  man  ihm  Menschenopfer?  Bei  dem  Kriegs- 
gott scheinen  sie  begreiflich,  wie  sie  denn  auch  in  freilich  viel  geringerem 
Maße  bei  Tyr  nachzuweisen  sind 5).  Man  will  sein  Gefolge  vergrößern 6), 
indem  man  ihm  neue  Einherier  schickt:  so  gelten  auch  die  toten  Feinde, 
wenn  sie  in  der  Schlacht  gefallen  sind,  als  Opfer7).  Deshalb  opfert" man 
ihm  zunächst  Könige  und  Helden8),  dann  als  deren  Stellvertreter  Ge- 
fangene und  Vertreter9).  Aber  Tyr  ist  doch  auch  Kriegsgott  und  empfängt 
nur  bei  den  höchsten  Festen  ausnahmsweise  Menschenopfer!  Ich  glaube: 
Odin  war  in  höherem  Grad  als  Tyr  »Staatsgott«,  und  Menschenopfer  sind 
Staatsopfer,  wie  z.  B.  in  Rom  keine  alten  Menschenopfer  bezeugt  sind  10), 
aber  nach  voller  Festigung  des  Staates  bei  schwerer  Notlage  desselben 
Menschenopfer  dargebracht  werden  —  und  zwar  aus  feindlichen  Nationen  u). 
Bei  den  Indern  sollen  Menschenopfer  bei  der  Errichtung  eines  Backstein- 
altars bezeugt  sein12):  auch  dies  ist  ein  offizieller  Akt  wie  das  Bauen  eines 
festen  Hauses  mit  wirklicher  oder  symbolischer  Einmauerung  von  Menschen 13). 
—  Tyr  scheint  der  Kriegsgott,  den  der  Einzelne  um  Sieg  anruft,  für  den 
der  Einzelne  Siegesrunen  ritzt u),  aber  Wodan  ist  der  Herr  der  Heerscharen 


*)  Meyer  S.  335:  in  Uppsala  alle  neun  Jahre  neun  Menschen  geopfert,  im 
dänischen  Lethra  alle  neun  Jahre  sogar  99  Menschen  —  Pferde  —  Hunde  — 
Hähne.  Die  Neunzahl  auch  bei  der  Runenfindung  die  Dreierreihe  vornehm: 
meine  Altgerm.  Poesie  S.  83.  85. 

2)  Mogk  bei  Paul  S.  339. 

3)  Solche  Grausamkeiten  können  wohl  historisch  sein;  vgl.  Mogk,  Menschen- 
nopfer, S.  609. 

4)  Vgl.  Olrik.  Nordisches  Geistesleben,  S.  73;  ähnliche  scheußliche  »Um- 
formungen« des  Menschenkörpers  durch  chinesische  Henker  schildert  Mirbeau, 
Le  jardin  des  supplices. 

5)  Tac.  Germ.  cap.  39;  vgl.  o.  S.  185. 

6)  Chadwick  S.  13.  24. 

7)  Ebd.  S.  8. 

8)  Beispiele  aus  Schweden:  Golther  S.  327;  vgl.  die  athenische  Sage  von 
König  Kodrus. 

9)  Chadwick  S.  27. 

10)  Wissowa  S.  31,  vgl.  109,  3. 
")  Ebd.  S.  54. 

12)  Oldenberg  S.  363;  Hildebrandt  S.  9,  vgl.  161  f. 
13)01denberga.  a.  O.;  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  1,  18. 

13)  Sgdr.  Str.  6. 


§  17.    Hauptgötter.  239 

wie  jener  Gott  Zebaoth,  dem  das  ganze  Volk  der  Amalekiter  geopfert 
werden  soll l).  Deshalb  treten  auch  zu  ihm  die  Walküren  in  engste  Be- 
ziehung, die  wir  als  Kollektiv  -  Fylgjen  des  Heeres  glaubten  auffassen  zu 
sollen. 

Aber  es  sind  Gründe  da,  anzunehmen,  daß  das  Menschenopfer  für 
Wodan  uralt  ist,  vielleicht  älter  als  jene  Einsetzung  zum  »Staatsgott«,  die 
die  nach  römischem  Muster  sich  organisierenden  Rheingermanen  bis  in  den 
hohen  Norden  verbreitet  zu  haben  scheinen  was  dann  auch  die  natürliche 
Erklärung  für  den  ersten  Religionskrieg  bei  den  Germanen  wäre:  die 
organisierte  Religion  der  Wodansverehrer  hätte  die  freiere  der  Tyrverehrer 
besiegt 2). 

Wiewurdegeopfert?  Die  Benennung  als  Hangagod  und  nament- 
lich als  Hangatyr3),  Hängegott,  könnte  eine  alte  Schelte  seiner  Gegner 
sein;  aber  das  Hängen  selbst  ist  eine  uralte  Form  der  Tötung:  an  die  arbor 
infelix  wird  der  römische  Hochverräter  gefesselt4)  und  aus  der  »Säule« 
oder  dem  »Stamm«  entwickelt  sich  der  Galgen  der  Germanen5).  So 
schon  in  den  ältesten  Berichten  alter  germanischen  Menschenopfer6).  Die 
Urform  dieser  Opferung  war  wohl  die,  daß  der  Mensch  dem  fetischistisch 
verehrten  Baumstamm  dargebracht  wurde,  wie  in  Afrika  die  Knochen 
geopferter  Pferde  um  den  »Lappenbaum«  geschichtet  werden7).  — 

Aber  als  charakteristische  Eigenform  des  Odinkult  erscheint8)  nicht 
das  bloße  Hängen,  sondern  die  Verbindung  von  Hängen  und 
Speeren.  Charakteristisch  ist  besonders  die  Geschichte  von  Wikars 
Tod9): 

Wikar  und  seine  Schiffsgefährten  müssen  wegen  widrigen  Windes  einmal 
(ange  liegen.  Da  befragen  sie  das  Losorakel.  Es  ergibt  sich,  daß  Odin  einen 
Mann  aus  ihrer  Schar  verlangt.  Das  Los  trifft  den  König  Wikar  selber,  wodurch 
die  bestürzt  sind.  Starkad  schlägt  vor,  das  Opfer  nur  andeutungsweise  zu  voll- 
ziehen. Er  steigt  unter  einer  Föhre  auf  einen  hohen  Block,  biegt  einen  schwanken 
Ast  herab  und  knüpft  daran  dünne  Kalbsdärme.  »Nun  ist  Dir  hier  ein  Galgen 
bereitet,  König,  der  nicht  lebensgefährlich  bedünken  wird.«    Wikar  steigt  auf  den 


J)  1.  Sam.  cap.  15;  vgl.  allgemein  Schrader  Reallexikon  S.  604. 

2)  Vgl.  noch  die  Schilderung  des  Wanenkriegs  Völ.  Str.  23. 

3)  Mogk  S.  337. 

4)  Schrader,  Reallexikon,  S.  834. 
B)  Ebd.  S.  837. 

6)  Bei  Mogk,  Menschenopfer,  S.  608. 

7)  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  1,  62.  --  G.  Keller  (Gedichte  S.  363;  in 
den  Werken  2,  96)  hat  in  dem  grausam -humoristischen  Gedicht  »Weihnachts- 
markt« geschildert,  wie  eine  alte  Frau  sich  selbst  als  Geschenk  an  den  Baum 
hängt.    Vgl.  Häv.  Str.  138;  siehe  u. 

8)  Chadwick  S.  I4f. 

9)  Chadwick  S.  4,  Golther  S.  325. 


240  Viertes  Kapitel. 

Block  und  legt  sich  die  Schlinge  um  den  Hals,  Starkad  nimmt  einen  Rohrstab, 
den  ihm  sein  Pflegevater  Hrossharsgrani,  der  verhüllte  Odin,  in  der  Nacht  ge- 
geben, stößt  damit  nach  dem  König  und  spricht:  »Nun  geb'  ich  Dich  dem  Odin!« 
Alsbald  wird  der  Stab  zum  Speer,  der  den  König  durchbohrt,  der  Block  fällt 
unter  seinen  Füßen,  die  Kalbsdärme  werden  zum  starken  Weidenstrang,  der  Ast 
schnellt  empor  und  hebt  den  sterbenden  König  ins  Gezweig. 

Während  der  Gehängte  vom  Speer  durchbohrt  wird,  wird  gesagt: 
»Ich  weihe  dich  dem  Odin!«1). 

Diese  Zeremonien  fehlen  auch  nicht  bei  Odins  Selbstopferung2): 

Ich  weiß,  daß  ich  hing  am  windbewegten  Baum 

Neun  Nächte  hindurch, 
Verwundet  vom  Speer,  geweiht  dem  Odin, 

Ich  selber  mir  selbst. 

also  Hängen,  Speeren,  Weihen.  Es  werden  oft  auch  noch  Gefolgstiere 
aufgehängt:  Hunde3),  Pferde,  Hähne.  So  in  Uppsala;  so  Hund  und  Habicht 
neben  Broderus4);  ebenso  hängt  ein  Wolf  am  Tor  von  Odins  Saal5). 

Dies  Mithängen  ist  nicht  obligatorisch,  aber  doch  beachtenswert:  der 
Geopferte  wird  durch  die  Begleitung  der  heiligen  Tiere  gleichsam  zu 
einem  Abbild  Odins  gemacht,  der  mit  den  Vögeln  (zu  denen  die  Hunde 
dann  gleich  zugedacht  werden)  in  der  Baumkrone  haust.  Und  so  wäre 
es  möglich,  daß  jedes  Odinsopfer  nur  eine  »heilige  Handlung«  wäre: 
eine  mimische  Wiederholung  der  einmaligen  Tat  des  Gottes,  der  sich 
selbst  mit  dem  Speer  am  Baum  durchbohrte.  —  Doch  ist  Odins  Runen- 
findung  nicht  so  sicher  ein  ganz  alter  Mythus,  daß  wir  diese  (an  sich 
nicht  unwahrscheinliche)  Hypothese  wagen  dürften. 

Dann  also  müssen  wir  uns  die  Entstehung  des  Odin-Ritus  als  wohl 
so  denken:  das  Ursprüngliche  ist  das  Hängen  —  die  natürliche  Art, 
diesem  Gotte  zu  opfern.  Vielleicht  genügte  es  auch  anfangs,  wie  später 
das  Durchbohren  mit  dem  Speer,  um  den  Krieger  der  Ehren  des  Helden- 
todes teilhaftig  zu  machen:  Germanen,  die  den  Schild  verloren,  hängen 
sich  auf6):  multique  super stttes  bellornm  infamiam  laqueo finierunt1)* 
Sollte  der  Odinstod  den  Tod  auf  dem  Schlachtfeld  ersetzen?  oder  war 
er  schon  damals  (wie  etwa  für  die  ungetreuen  Mägde  der  Penelope)  ein 
schmachvoller  Tod  für  den,  den  des  Feindes  Schwert  verschont?—  Dann 


!)  Chadwick  S.  7-8,  24;  vgl.  Golther  S.  328. 
2)  Häv.  Str.  138. 
?)  Meyer  S.  335. 

4)  Saxo  8,  414;  vgl.  Chadwick  S.  424. 

5)  Grim.  Str.  15.  Ob  das  im  Mittelalter  beliebte  Aufhängen  von  Ketzern 
und  Verbrechern  zwischen  Hunden  und  Katzen  ein  Rudiment  dieses  Brauches 
ist,  bleibt  mindestens  zweifelhaft. 

6)  Tac.  Germ.  cap.  6. 

7)  Vgl.  allgemein  Hirzel,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  79  Anm.  6. 


§  17.    Hauptgötter.  241 

aber  wird  Odin  der  Gott  des  Speers.  Diese  Waffe  wird  sein  heiliges 
Symbol.  Seine  Anhänger,  dürfen  wir  annehmen,  »zeichnen«  sich  mit 
dem  Speer1). 

Und  so  ist  denn  auch  Odins  Selbstopferung  wohl  nur  (in  ihren 
äußeren    Formen)   eine  Nachahmung   der  Aufnahme   in   den  Odinskult2). 

Nun  ist  es  allgemein  üblich,  mit  der  heiligen  Waffe  Todesurteile  zu 
vollstrecken.  Die  Assassinen  tun  es  mit  dem  Dolch 3) ,  die  Camorra  tut 
es  mit  dem  Messer4);  die  Freischöffen  »zeichnen«  den  Frevler5)  —  und 
die  Wodanverehrer  tun  eben  das  mit  dem  Speer.  Nur  wer  so  gezeichnet 
ist,  gehört  sicher  dem  Gott;  deshalb  werden  Greise  mit  dem  Speer 
getötet6),  um  zu  ihm  zu  kommen.  Es  ist  dasselbe,  wie  wenn  fromme 
Katholiken  sich  in  einer  Franziskanerkutte  begraben  lassen,  um  der  geist- 
lichen Vorteile  der  Zugehörigkeit  zum  Orden  teilhaftig  zu  werden. 

Wir  müssen  annehmen,  daß  beide  Riten  nebeneinander  fortdauerten: 
das  Hängen  für  den  »Galgengott«7),  das  Speeren  für  den  Speergott;  zu- 
nächst ist  alles  Hängen  an  sich  ein  Opfern  für  Odin  8)  und  so  wohl  auch 
alles  Durchbohren  mit  dem  Speer;  denn  so  ist  wohl  das  »Zeichnen  für 
Odin«9),  des  Njörd  in  der  Ynglingasaga  c.  II10)  zu  verstehen:  er  »zeichnet 
sich  selbst  mit  dem  Speer«  und  opfert  sich  so  dem  Odin,  wie  dieser  sich 
selbst  opfert. 


*)  Solche  religiösen  Tätowierungen  sind  nicht  ganz  selten;  das  berühmteste 
ist  das  »Kainszeichen«,  ursprünglich  das  Wappen  der  alten  echten  Jahve- Verehrer 
(Holzinger,  Genesis,  S.  50 f.  nach  Stade),  später  ein  signum  reprob ationis. 
(Und  so  stimmt  dann  in  jedem  Sinn  Freiligraths  berühmter  Vers:  »Das  Mal 
der  Dichtung  ist  ein  Kainsstempel!«)  —  Ein  Zeichen  auf  der  Stirn  als  Legitimation 
zum  Eintritt  in  die  Seligkeit  bei  den  Chassidim:  M.  Buber,  Die  Legende  des 
3aalschem,  Leipzig  1908,  S.  213.  —  Tätowieren  schon  in  der  Steinzeit  wahr- 
scheinlich: Schwantes,  Aus  Deutschlands  Urgeschichte,  Leipzig  1909,  S.  31. 

2)  Knabenweihe  mit  Fasten  und  Peinigen  ist  eine  häufige  Erscheinung  bei 
fast  allen  Naturvölkern,  Aufhängen  der  Täuflinge  z.  B.  bei  einigen  Indianer- 
stämmen (H.  Schurtz,  Altersklassen  und  Männerbünde,  Berlin  1902,  S.  98). 
Wir  dürfen  solche  Zeremonien  den  alten  Germanen  sicher  ebensogut  zutrauen 
wie  die  »Kopf Jägerei«  (ebd.  S.  99:  das  nisi  hoste  caeso  exuere  votivum  obliga- 
tumque  virtuti  oris  habitum,  Tac.  Germ.  cap.  31). 

3)  Heckethorn,  Geheime  Gesellschaften,  übs.  v.  L.  Katscher,  Leipzig 
1900,  S.  99. 

4)  S.  211. 

5)  Lindner,  Die  Veme,  S.  575. 

6)  Allerdings  bei  den  Herulern  auch  mit  dem  Dolch?    Chadwick  S.  33. 

7)  Chadwick  S.  9.  —  Olrik,  Nord.  Geistesleben,  S.  34,  erklärt  das  Hängen 
ials  allgemeine  Form  der  Seelenlösung. 

s)  Ebd.  S.  16.  20.  36  f.,  vgl.  35. 

9)  Hyndl.  Str.  27;  doch  vgl.  Heinzel-Detter,  Edda  2,  628,  allgemein: 
»für  die  Götter  gezeichnet«. 

10)  Vgl.  Chadwick  S.  14. 
Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  16 


242  Viertes  Kapitel. 

Diese  Selbstopferung  bildet  überhaupt  einen  charakteristischen  Zug 
der  Odinsreligion.  König  Erik  verlobt  sich  dem  Odin,  nach  zehn  Jahren 
als  Opfer  zu  sterben1);  Eyvind  ist  von  Kind  auf  dem  Odin  (und  dem 
Thor)  geweiht2),  ebenso  Wikar  zum  Hängetod  bei  Odin  geweiht3) 
und  beide  nehmen  das  Gelübde  dann  selbst  auf  sich.  Besonders  merk- 
würdig ist  die  Geschichte  aus  der  Gautreksaga4),  wo  zweimal  Angehörige 
eines  Geschlechts  sich  ins  Meer  stürzen,  um  zu  Odin  zu  fahren,  der 
dafür  die  Familie  begünstigt.  Es  ist  ein  Bondengeschlecht,  des  Speertodes 
nicht  würdig,  weshalb  noch  besonders  die  Hoffnung  ausgesprochen  wird, 
Odin  werde  auch  den  Knecht  annehmen5). 

So  also  ist  zunächst  eine  doppelte  Art  des  Odinsritus  anzunehmen, 
und  beide  bleiben  dauernd  möglich.  Aber  als  die  höchste  Form  des 
ersten  Opfers  erscheint  doch  ihre  Kombination:  erst  gehangen  und 
dann  gespießt6). 

Man  wird  annehmen  dürfen,  daß  für  die  theologische  Vorstellung 
beide  Vorgänge  unterschieden  bleiben:  das  Hängen  als  Opferhandlung, 
das  Speeren  als  Obergabe  an  Odin, 

Daß  der  Orkus  vernehme:  wir  kommen, 

Daß  gleich  an  der  Türe 

Der  Wirt  uns  freundlich  empfange, 

wie  Goethe  singt7). 

Die  zu  Odin  geschickt  werden,  sollen  auch  nicht  mit  leeren  Händen 
kommen.  Statt  am  Baum  werden  sie  auf  dem  Scheiterhaufen  »bei- 
gesetzt«, umgeben  von  Gefolge,  Schmuck  und  Tieren,  nach  ältester  Sitte ; 
dann  wird  der  Scheiterhaufen  angezündet  und  die  Leiche  verbrannt  nach 
uralter  Sitte  wie  im  brennenden  Palast.  So  Harald  Hilditönn8);  so  erhält 
Balder  selbst  Roß  und  Ring  mit9).  Die  Leichenverbrennung  als  Opfer 
wird  bezeugt  bei  den  Herulern  (verbunden  mit  suttee ,  der  »freiwilligen« 


!)  Golther  S.  259. 

2)  Ebd.  S.  326.  3)  Ebd. 

4)  Mogk,  Menschenopfer,  S.  615. 

5)  Ebd.  S.  616. 

6)  Der  Umstand,  daß  auch  Absalon,  während  er  am  Baume  hängt,  von  Joab 
mit  dem  Speer  durchbohrt  wird  (2.  Sam.  8,  9—14),  brachte  mich  auf  den  Ge- 
danken, es  könne  ein  ältester  Ritus  bewahrt  sein.  Dies  ist  aber  abzulehnen :  wie 
mir  Prof.  Graf  Baudissin  mitteilt,  ist  an  der  historischen  Geltung  dieses 
Berichts  nicht  zu  zweifeln,  obwohl  später  sich  Volkssagen  an  Absalons  Gestalt 
geheftet  haben  (vgl.  Schwally,  Hebräische  Kriegsaltertümer). 

7)  Schwager  Kronos.  —  Vgl.  Thorsteins  Empfang  im  Berge:  Golther  S.  88, 
vgl.  ebd.  S.  317—318;  Brynhild  Sig.  sk.  Str.  69—70.  —  Ebenso  hebräisch:  Ber- 
tholet, D.  israel.  Vorstellungen  vom  Zustand  nach  dem  Tode,  Freiberg  1899,  S.  20. 

8)  Saxo  8,  391;  Chadwick  S.  22. 

9)  Gylf.  cap.  49:  Chadwick  S.  33. 


§  17.    Hauptgötter.  243 

Verbrennung1),  ebenso  bei  den  ,Rus'2).  Deshalb  wird  Odin  Patron  des 
Leichenbrands  wie  Frey  des  Hügelgrabs8).  —  So  wird  denn  schließlich 
auch  Odin  selbst4)  nach  eigenem  Ritus  beigesetzt  (in  Saxos  euhemcristischem 
Bericht):  »als  es  zum  Sterben  ging,  ließ  er  sich  mit  der  Speerspitze  be- 
zeichnen«, und  dann  ward  er  mit  großer  Pracht  verbrannt. 

Soll  man  diese  Verbindung  des  Leichenbrandes  mit  dem  Odinsopfer 
als  eine  Fortsetzung  des  früh  geübten  Brauchs,  die  Toten  auf  dem  Schiacht- 
felde zu  verbrennen,  auffassen?  Oder  ward  ursprünglich  der  Baum  mit 
der  Leiche  verbrannt? 

Wann  wird  geopfert?  Zu  relativ  und  absolut  bestimmten  Zeiten. 
Das  erstere  ist  der  Fall,  wenn  dem  Kriegsgott  für  Sieg  geopfert  und  bei 
Beginn  des  Krieges  ihm5)  das  ganze  Heer  der  Feinde  geweiht  wird6); 
dann  wieder  bei  Beginn  der  Schlacht  und  nach  deren  Vollendung7).  Das 
Opfer  vor  der  Schlacht  dient  zugleich  als  Orakel8).  —  Dem  Staatsgott 
wird  bei  großer  gemeiner  Not  geopfert:  bei  Hungersnot  wird  der  Königs- 
sohn Angantyr  zum  Tode  bestimmt9),  Heidrek  schickt  dann  aber  als 
dessen  Stellvertreter  den  König  Harald  mit  seinem  Sohn  und  dem  ganzen 
Heer  dem  Odin  zu  10). 

Es  gibt  aber  anch  drei  absolut  bestimmte  Opfer11):  bei  Winter- 
beginn für  den  Gott  der  Fruchtbarkeit  Frey;  in  der  Mitte  des  Winters 
dem  Thor  (?)  für  die  Saat;  im  Sommer  Odin  »Siegesopfer«,  d.  h.  Opfer 
für  allgemeines  Gedeihen. 

Wo  wird  geopfert?  Diese  großen  Opfer  setzen  Kultstätten 
voraus,  deren  viele  im  Norden  bezeugt  sind12),  so  in  Lund,  Wiborg, 
Odinsve  (jetzt  Odense)  in  Fünen ;  viele  theophore  Ortsnamen  beweisen  das 
Gleiche.     Die  Haupttempel  sind  in  Uppsala  und  Hleidra. 

Den  Tempel  von  Uppsala  beschreibt  Adam  von  Bremen  13),  den  von 
Hleidra  Thielmar14).  In  Upsala  steht  sein  Bild:  sculpunt  armatum  sicut 
nostri  Martern,  d.  h.  mit  dem  Speer  gerüstet.  Dort  wird  zur  Frühlings- 
wintersgleiche, in  Leire  (Hleidra)  im  Januar  geopfert15).  Vor  dem  Tempel  steht 


x)  Wie  sie,  gleich  Dido,  Brynhild  in  Sig.  sk.  Str.  65  f.  allerdings  atrsübt. 

2)  Ibu   Foszlans   Bericht  um  922—923  vgl.  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  2891; 
Chadwick  S.  43f. 

3)  Snorri  bei  Golther  S.  311. 

4)  Ebd.  5)  Siehe  o.     ' 

6)  Chadwick  S.  6f.  31;  Golther  S.  325. 

7)  Chadwick  S.  6;  vgl.  Mogk  S.  339. 

8)  Golther  S.  313.  9)  Hervarars.  cap.  11  f. 
10)  Chadwick  S.  5.  1!)  Chadwick  S.  5f. 

12)  Golther  S.  305;  vgl.  Thümmel.  PBB.  35,  96:  keine  Odinstempel   auf 
Island. 

13)  IV.  27.  u)  Chron.  1,  9;  vgl.  Mogk  S.  338. 
15)  Chadwick  S.  6. 

16* 


244  Viertes  Kapitel. 

ein  Riesenbaum  x),  dem  ohne  Zweifel  der  Tempel  den  Ursprung  verdankt: 
er  war  die  Stätte  der  Epiphanie  und  erzeugte  so  den  Tempel  wie  die 
Stätte  von  Lourdes  die  Kirche.     Ihm  wird  Yggdrasill  nachgebildet  sein2). 

Wie  man  im  Mittelalter  für  besonders  verehrte  Heilige  Johannis- 
minne  und  St.  Gertrudensminne  trank,  so  wird  die  allgemeine  Ver- 
ehrung Odins  durch  das  symbolische  Alltagsopfer  des  Zutrinkens  be- 
zeugt, das  ihm  mit  Thor  und  Freyja  gemeinschaftlich  dargebracht  wird3); 
es  bedeutet  eine  symbolische  Gastgemeinschaft,  bei  der  die  vornehmsten 
Gäste  geehrt  werden. 

Natürlich  bringt  man  auch  ihm  kleinere  Gaben  wie  die  Nordendorfer 
Spange4).  Und  man  verehrt  seine  Spur:  Hufeisenabdrücke  des  Wodans- 
rosses  werden  gezeigt,  ein  Hufeisen  noch  im  schwedischen  Wexiö5):  als 
Kurschmied  tritt  er  ja  auch  im  Merseburger  Spruch6)  auf. 

Schließlich  entwickelt  sich  ein  besonderer  Typus  des  O  d  i  n  s  - 
Verehrers7),  durch  die  leichte  Bewaffnung  (für  den  Fernkampf)  im 
Krieg  charakterisiert8)  und  nach  Chadwicks  nicht  völlig  überzeugender) 
Beweisführung9)  in  der  Gestalt  Starkads,  des  riesischen  Kämpfers  (und 
typischen  Recken  der  Wikingerzeit10);  etwa  wie  Wate  in  der  Kudrun)  ver- 
körpert. Odin  gehören  auch  die  Berserker1').  Auch  Dag12)  ist  nach 
Kauffmanns  schönem  Beweis13)  ein  eifriger  Odinsverehrer,  dem  deshalb 
Odin  seinen  Ger  leiht  u) ;  ein  anderer  ist  Franmar  15). 


*)  Vgl.  Fjöl.  Str.  13—16,  Chadwick  S.  74—75. 

2)  Chadwick  S.  79;  siehe  u.  3)  Golther  S.  313. 

4)  G  olther  S.  245.  5)  Meyer  S.  388. 

6)  Verbreitung  des  Hufeisenaberglaubens:  Wuttke  s.  v.,  bes.  S.  176;  der 
göttlichen  Fußspuren:  Andre e,  Parallelen  1,  94 f.  301.  Problematischer  urzeit- 
licher Kult  des  (menschlichen?)  Fußes:  Schwantes,  Aus  Deutschlands  Urzeit, 
S.  71.  —  Auch  »Siegessteine«  trägt  man  als  (Odin  geweihte)  Amulette,  wie  Thors 
Hammer:  vielleicht  Steine  aus  Rabennestern  (Petersen,  Gudedyrkelse,  S.  87,1 
Anm.  2). 

7)  Chadwick  S.  21.  s)  Ebd.  S.  39.  9)  Ebd.  S.  71. 
10)  Olrik,  Nord.  Geistesleben,  S.  68 f. 
n)  Golther  S.  310. 

12)  Helg.  Hund.  II.  ")  PBB.  18,  127. 

u)  Unrichtig   scheint   mir   Olriks  Satz:    »Der   Odinsglaube   ist  Sache   des 

Einzelmenschen,  während  im  Gegenteil  die  Verehrung  Thors  die  Menschen 
zu  einer  Gemeinschaft  zusammenschließt«  (Nordisches  Geistesleben  S.  30).  Wir 
haben  auch  bei  Thorsverehrern  innige  Beziehungen  ganz  persönlicher  Art  und 
glaubten  Odin  gerade  auch  als  Staatsgott  auffassen  zu  sollen,  wie  es  fast  alle 
Götter  sind,  von  denen  die  Herrschergeschlechter  sich  herleiten:  Ares  bei  den 
Römern,  Poseidon  in  Athen  (Preller  1,  577).  Und  hätte  ein  »Gott  des  Ein- 
zelnen« König  des  Götterstaats  werden  können?  —  Seine  Klugheitsmoral  abei 
(ebd.)  geht  doch  wohl  aus  dem  Begriff  der  Welterfahrenheit  hervor  und  hat  zum 
Gegensatz  weniger  Thors  Uneigennützigkeit,  als  vielmehr  seine  rohe  Kraft. 
1B)  Eddica  minora  S.  83,  vgl.  S.  LXXIV. 


§  17.    Hauptgötter.  245 

So  kommen  wir  denn  zu  der  entscheidenden  Frage,  was  das  Wesen 
dieser  spezifischen  Odinsreligion  war?  was  der  unterscheidende  Besitz 
licht  des  Gottes,  sondern  seiner  Anbeter? 

Ich  glaube,  Sieg  und  Erfolg  der  Odinsreligion  hängen  mit  einer 
Wandlung  in  der  Vorstellung  vom  Leben  nach  dem  Tode 
zusammen1).  Bedenken  wir  jenen  charakteristischen  Zug  des  Rituals: 
Jas  »Zeichnen«  mit  dem  Speere  —  für  das,  wohl  zufällig,  derselbe 
\usdruck  verwandt  werden  konnte  wie  für  das  Bekreuzen.  Es  hat  nur 
Sinn,  wenn  ein  Erkennen  und  Anerkennen  der  Speerwunde  im  Jenseits 
/orausgesetzt  wird.  Der  alte  Nordmann  hat  nicht  den  massiven  Glauben 
ies  päpstlichen  Legaten  zu  Albi:  »schlagt  nur  Alle  tot  —  der  Herr 
tfird  die  Seinen  schon  herausfinden!«  Er  will  dem  Gott  die  Seinen 
ordnungsgemäß  durch  ein  Eigentumszeichen  überweisen  —  gerade  wie 
jie  Kreuzfahrer  sich  durch  ein  Kreuz  als  Soldaten  Gottes  zeichneten. 
Man  darf  aber  nicht  etwa  in  Siegfrieds  Schulterkreuzchen  eine  Erinnerung 
in  seine  Weihe  an  Odin  sehen  wollen!)  Die  Seelen,  oder  mindestens 
iiese  Seelen,  gehen  also  in  eine  neue  Existenz  über  und  zwar  in  eine 
erwünschte  Existenz.  Dem  entspricht  dann  auch  die  Einrichtung  der 
Walküren,  die  die  Begnadeten  zu  Odin  holen,  entspricht  Walhall  und  das 
-eben  der  Einherier. 

Erwin  Rohde  hat  in  seiner  berühmten  »Psyche«  nachgewiesen,  wie 
erst  ganz  allmählich  und  von  einem  bestimmten  Zentrum  aus2)  der  Un- 
iterblichkeitsglaube  die  hellenische  Religion  durchdringt.  Sie  war  bis 
Jahin  auf  bestimmte  Zeremonien  beschränkt  gewesen;  nun  »wird  nicht 
jine  gesteigerte  Moral«  gefordert,  wohl  aber  ein  ganzes  dem  Gott  geweihtes 
L^eben3).  So  entsteht  ein  Mysterien kult,  »die  einzige  Kirchenbildung,  die 
las  Altertum  entwickelt  hat« 4).  Auf  Ähnliches  deuten  die  Anfänge  der 
i7odansreligion  hin.  Sie  hat  nicht  den  ersten  festen  Kult  auf  germanischem 
Üoden  hervorgebracht  —  der  kam,  wie  wir  sahen,  mit  Nerthus,  wohl 
licht  ohne  fremden  Einfluß;  aber  sie  ist  die  erste  wirkliche  »Religion« 
nit  Bekennern,  die  sich  Einem  Gott  und  seinem  Kultus  ganz  ergeben. 
>Jicht  daß  sie  deshalb  nicht  auch  Thor  und  Frey  geopfert  hätten :  strengen 
Henotheismus«  im  Sinne  Max  Müllers  anzunehmen,  haben  wir  gar  kein 
techt.  Aber  nur  Einem  fühlen  sie  sich  persönlich  verbunden  —  gerade 
vie  wir  auch  solche  Thorverehrer  treffen.  —  Ich  will  darauf  kein  Gewicht 
egen,  daß  Odins  Erzählung  von  der  Runenfindung5)  leicht  als  die  Ober- 
ragung   mystischer   Initiationszeremonien   auf    den   Gott   selbst   gedeutet 


*)  Vgl.  u.  §  28. 

2)  a.  a.  O.  S.  295  f. 

3)  Rohde,  Die  Religion  der  Griechen,  Heidelberg  1895,  S.  23. 

*)  Kern,  Über  die  Anfänge  der  hellenischen  Religion,  Berlin  1902,  S.  31. 
5)  Häv.  Str.  138 f.;  siehe  o. 


246  Viertes  Kapitel. 

werden  kann.  Aber  deutlich  ist  zu  erkennen,  daß  in  dem  Kult  Odins 
eine  Leidenschaftlichkeit  des  Gefühls  sich  entwickelt,  der  die  biedere 
praktische  Treue  anderer  Verehrungen  nicht  verglichen  werden  kann.  Ein 
im  eigentlichen  Sinne  religiöses  Moment  muß  es  hier  wie  anderwärts 
gewesen  sein,  was  die  Menschen  zu  der  Ekstase  der  Selbstweihe  hinriß: 
was  kann  das  besser  gewesen  sein  als  der  Glaube  an  ein  Jenseits? 

Freilich  —  an  eine  Fortdauer  der  Seelen  glaubten,  mit  allen  Primi- 
tiven, die  Indogermanen  schon  auf  animistischer  Stufe1).  Aber  es  war,  wie 
in  den  alten  hellenischen  Anschauungen,  ein  bloßes  Fortvegetieren,  oben- 
drein meist  zeitlich  begrenzt;  nur  die  Substanz  der  Seele,  möchte  man 
sagen,  blieb  erhalten  —  nicht  ihre  individuelle  Prägung,  die  nur  in 
äußerstem  Umriß  (die  Tierphysiognomien  böser  Totengeister!)  noch  eine 
Zeitlang  dauerte.  Nun  aber,  scheint  es,  verspricht  Odin  den  Seinen  wirk- 
liches Fortleben  jenseits  des  Grabes:  eine  individuelle  Weiterexistenz 
mit  Essen  und  Trinken2)  —  und  Kämpfen.  Erst  von  da  an,  denke  ich 
mir,  konnte  man  im  Sinne  des  Unsterblichkeitsglaubens  de  causis  a  bar- 
baris  contemptae  mortis  reden.  Wer  mit  dem  Speer  gezeichnet  war, 
der  brauchte  die  Vernichtung  nicht  mehr  zu  scheuen  —  und  die  alten 
Germanen  scheuten  sie3). 

Man  kann  sich  vorstellen,  wie  diese  Offenbarung  wirken  mußte. 
Irgendwo  am  Rhein,  wo  auch  das  Runenalphabet  entstand  (nicht  zwar 
wie  ich  glaube,  die  Runenschrift),  dort  wird  den  Istvaeonen  die  Vor- 
stellung der  persönlichen  Unsterblichkeit  vermittelt  —  in  ziemlich  massiver 
Form,  aber  um  so  verständlicher  und  packender.  Man  braucht  nicht  mit 
Gruppe  dem  Adaptianismus  zu  huldigen,  um  fremden  Kultureinfluß  so 
wahrscheinlich  zu  finden  wie  etwa  bei  den  modernen  indischen  Sekten- 
bildungen (Babuismus).  Wie  der  Islam  die  Beduinen  durch  feste  Formen 
des  Lebens  —  und  lockende  Vorstellungen  des  Jenseits  band,  so  mochte 
nun  der  Glaube  an  diesen  »Höchsten«,  den  > Wunschherren «  4)  seine  An- 
hänger begeistern,  daß  sie  die  Tyrverehrung  und  später  noch  den  (an 
sich  jüngeren)  exklusiven  Thorkult  über  den  Haufen  warfen. 

Es  gibt  vielleicht  noch  Spuren,  die  das  Aufkommen  derOdins- 
religion  andeuten.  Zwar  zuviel  möchte  gewiß  gerade  ich  aus  der  Namens- 
liste der  Grim.  nicht  ablesen;  aber  auffällig  sind  doch  so  schwer  zu  erfindende 
Namen  wie  Jafnhär,  der  »ebenso  Erhabene«  5)  und  Thridi6).  Der  Gebrauch, 
den  die  Gylf.7)  von  diesen  Namen  macht,  steht  gewiß  unter  dem  Einfluß  der 


x)  Vgl.  allgemein  Wundt  S.  551  f.  2)  Grim.  Str.  18. 

3)  Olrik,  Nordisches  Geistesleben,  S.  40. 

4)  Oski,  Grim.  Str.  49. 

6)  Str.  49,  allerdings  in  einer  Interpolation. 
6)  »Der  Dritte«,  Str.  46. 
)  Cap.  2:  Gering  S.  299. 


7 


§  17.    Hauptgötter.  247 

christlichen  Dreieinigkeit;  aber  die  Namen  selbst?  Könnte  Odin  sie  nicht 
errungen  haben,  als  der  ursprünglich  nur  dämonischer  Ehren  teilhaftigen 
junge  Gott  von  seinen  Verehrern  erst  neben  Tyr,  dann  neben  Tyr  und 
Thor  gestellt  wurde?  Werden  wir  doch  solchen  »Kompromißgruppen« 
von  Göttern  noch  wiederholt  begegnen. 

Eine  wirkliche  Religion  mit  persönlichen  Adepten  setzt  auch  der  Ritus 
voraus,  dessen  Umständlichkeit  und  Feierlichkeit  unter  den  germanischen 
Opfergebräuchen  nicht  seinesgleichen  hat  —  denn  bei  dem  Umzug  der 
Nerthus  handelt  es  sich  um  eine  einmalige  heilige  Handlung.  Die  vielen 
liebkosenden  Namen,   die  reiche  Legendenbildung  —  alles  stimmt  dazu. 

Und  es  stimmt  auch  dazu,  was  wir  aus  Odins  Erscheinung  hervor- 
hoben: die  Betonung  intellektueller  Momente.  Odin  hat  die  Runen  ge- 
funden, die  Schutzmittel  wider  alle  Gefahren ;  er  auch  das  Kraut  wider  den 
Tod.  Der  Totengott  ist  Lebensgott  geworden  —  gerade  wie  in  der  Predigt 
des  Paulus  der  gekreuzigte  Gott.  Nur  daß  diese  Entwicklung  —  gegen 
Bugges  allzukühne  Gleichsetzungen  —  christlichem  Einfluß  lange  vorausliegt. 

Gegen  die  neuerdings  besonders  von  Olrik  und  v.  d.  Leyen  ver- 
tretene Anschauung,  der  neue  Glauben  sei  bereits  vom  Christentum 
mitbestimmt,  scheint  mir  der  barbarische  Stil  des  Odinsrituals  entscheidend 
zu  sprechen;  nicht  minder  die  echt  heidnische  Schilderung  des  Walhalla- 
lebens. Mir  scheint  es  im  allgemeinen  methodisch  bedenklich,  einer  in 
voller  Blüte  ihrer  Propaganda  befindlichen  Religion  zugleich  so  viel  und 
so  wenig  Einfluß  zuzuschreiben,  wie  es  in  solchen  Fällen  dem  Christen- 
tum gegenüber  geschieht.  Hätte  die  christliche  Predigt  den  Unsterblich- 
keitsglauben vermittelt,  so  müßte  er  christlicher  aussehen,  —  so  etwa  wie 
am  Schluß  derVöluspa!  Uns  scheint  die  altgermanische  Speerreligion  — 
von  einer  solchen  kann  man  fast  so  gut  wie  von  der  »Religion  des 
Kreuzes«  sprechen  —  durchaus  mit  altheidnischen  Entwicklungen  (Eleu- 
sinische  Mysterien,  auch  noch  Mithraskult)  auf  Einer  Stufe  zu  stehen; 
und  die  Neuerung  ist  lange  nicht  so  groß  als  die  Amenophis  IV1). 
Übrigens  mögen  wie  bei  diesem  politische  Rücksichten  mitgespielt  haben, 
denn  das  nationale  oder  vielmehr  staatliche  Moment  tritt  bei  Wodan 
deutlich  hervor;  er  ist  nicht  umsonst  Gott  der  Könige,  hat  es  nicht  zu- 
fällig auf  Island  zu  keinem  rechten  Ansehen  und  Kult  gebracht. 

Vor  allem :  vertragen  sich  Menschenopfer  mit  einer  christianisierenden 
Religion?  Sie  sind  nicht  etwa  eine  Entartung:  gerade  der  ältere  Odin 
ist  finsterer  und  grausamer  als  der  in  der  Edda,  wie  auch  v.  d.  Leyen2) 
mit  vollem  Recht  betont.  Diese  obligatorischen  Menschenopfer  sind  das 
Ergebnis  einer  leidenschaftlichen  heidnischen  Gier  nach  Fortexistenz,  wie 


')  Er  man,  Ägypt.  Rel.,  S.  66. 

2)  Germ.-Rom.  Monatsschrift  1,  286. 


248  Viertes  Kapitel. 

sie  sich  auch  bei  den  Germanen  (wie  bei  den  alten  Hebräern  an  der 
Schwelle  des  Monotheismus)  in  den  Sagen  von  unendlich  lange  lebenden 
Helden  *)  ausspricht.  Die  Menschenopfer  sind  schließlich  im  letzten  Sinne 
doch,  wie  in  der  Geschichte  König  Auns  (der  neun  Söhne  —  mit  Odins 
heiliger  Zahl  —  um  langes  Leben  opferte)2)  Ersatzopfer:  um  nicht  selbst 
zu  sterben,  schickt  man  dem  Totengott  andere  Opfer3). 

Denn  das  ist  wohl  sicher:  wie  die  Wiedergeburt4),  so  ist  auch  die 
individuelle  Fortdauer  nur  als  möglich  gedacht,  keineswegs  als  selbst- 
verständlich. Hierin  liegt  ja  eben  der  besondere  Anreiz  aller  Mysterien- 
kulte, daß  sie  der  Seele  eine  erwünschte  Zukunft  verbürgen :  Seligkeit  der 
Mithraskult,  Nirvana  der  Buddhismus  in  seiner  strengsten  Ausübung.  — 
Schon  von  der  Frau  im  Jenseits  ist  nur  in  spärlichen  Andeutungen 5)  die 
Rede;  Helgi  kann  Sigrun  kein  Wiedersehen  im  Jenseits  versprechen6). 
Aber  auch  die  Höllenstrafen  für  Verbrecher  werden  (wie  überall) 7)  jung 
sein.  Wer  die  Seele  nicht  irgendwie  »einbalsamiert«,  dem  geht  sie  ver- 
loren; sie  verwest  wie  der  Körper.  Der  Speerstich  Odins  rettet  sie:  nun 
empfängt  Er  die  Seelen  in  seiner  Halle  und  sie  sind  für  immer  geborgen. 
Aber  die  Knechte  kommen  zu  Thor,  wie  der  Odinsverehrer  höhnisch 
ruft8)  —  zu  Thor,  der  nicht  einmal  ein  »Heim«  hat,  um  sie  aufzunehmen, 
denn  Bilskirnir9)  ist  von  einem  Thorverehrer  nur  schlecht  der  Walhall- 
strophe nachgedichtet.  Die  Einherier  begleiten  Odin  zum  letzten  Kampf 10) 
wie  die  Guten  den  iranischen  Heiland11)  —  Thor  kämpft  allein. 

Als  letzten  Schlüssel  zum  Verständnis  Wodans  suchen  wir  die  Ent- 
wicklung seines  Bildes  zu  nutzen.  Als  Wurzel  der  ganzen 
Bildung  haben  wir  mit  größter  Wahrscheinlichkeit  einen  Windgott  anzu- 
sehen u).  Dafür  sprechen  noch  Namen  wie  Geigudr  und  Väfudr,  die  auch 
den  Wind  bezeichnen  13) ;  denn  daß  Elementarnamen  nachträglich  verliehen 
werden,  ist  nicht  üblich.  Hier  findet  aber  auch  seine  gesamte  Entwicklung 
ihren  wahrscheinlichen  Kernpunkt. 


')  Methusalem  —  Starkad. 

2)  Golther  S.  84. 

3)  Noch  für  Papst  Leo  XIII.  hat  eine  Nonne  Jahre  ihres  Lebens  im  Gebet 
geopfert,  die  ihm  zuwachsen  sollten. 

4)  Siehe  o.  S.  213. 

5)  Freyja  siehe  o.  S.  213. 

6)  Helg.  Hund.  2,  44f. 

7)  Vgl.  z.  B.  für  die  Griechen  Roh  de  S.  57  f.  284  f.  291  f. 

8)  Härb.  Str.  24. 

9)  Grim.  Str.  24. 
10)  Grim.  Str.  23. 

")  Oldenberg,  Kultur  der  Gegenwart,  S.  85. 

12)  Mogk  S.  333,  Meyer  S.  370.  375. 

13)  Mogk  S.  335. 


§  17.    Hauptgötter.  249 

Daß  er  nicht  von  vornherein  ein  Gott  ist,  sondern  noch  bei  den 
Germanen  ein  Dämon  war,  dafür  spricht  die  elementare  Gebundenheit. 
Der  Hängegott  empfängt  seine  Opfer  am  hohen  Baum ;  ein  solcher  weiht 
den  Tempel  zu  Upsala.  Dafür  spricht  weiter  die  starke  Betonung  der 
Verwandlungsfähigkeit:  er  kommt  als  Erntearbeiter,  Fährmann,  Fahrender, 
alter  Mann;  aber  auch  als  Schlange  zu  Gunnlöd,  als  Adler  zu  ihrem 
Vater.  Besonders  nimmt  er  auch1)  die  Gestalt  seiner  Schützlinge  an: 
Gestr  inn  blindi 2).  Snorri  3)  hebt  besonders  hervor,  »daß  er  Gestalt  und 
Aussehen  wechseln  konnte,  wie  er  nur  wollte«.  —  Im  Norden  teilt  er 
diese  starke  Lust  zum  Gestaltentausch  nur  mit  dem  alten  Feuerdämon 
Loki,  mit  dem  er  wirklich  von  altersher  zusammengehört4).  Bei  den 
Hellenen  tauscht  freilich  der  große  Zeus  nicht  minder  häufig  und  noch 
seltsamer  die  Gestalt,  der  doch  schon  in  indogermanischer  Urzeit  ein 
Gott  war  —  aber  doch  fast  nur  in  seinen  Liebesgeschichten,  die  wohl 
zumeist  entweder  später  Fabulierkunst  entstammen  oder  Übertragungen  sind. 
Übrigens  zeigt  zwar  nicht  der  ursprüngliche,  wohl  aber  der  »fertige«  Odin 
manche  Ähnlichkeit  mit  Zeus,  zumal  von  der  Weltregierung  her. 

Daß  er  gerade  ein  Winddämon  war,  zeigt  sich  in  einigen  Spezial- 
funktionen:  er  haucht  dem  Menschen  den  Atem  ein5);  er  gibt  günstigen 
Fahrwind6);  er  beschwichtigt  den  Sturm7);  er  heißt  deshalb  auch  Vidrir, 
»Wettermacher«.  Er  macht  das  Wetter  allerdings  durch  Runen8)  wie 
die  finnischen  Zauberer9)  oder  durch  Zauber  überhaupt  wie  die  Hexen; 
aber  es  ist  doch  eine  spezifische  Kompetenz,  die  ihm  in  sein  Weltreich 
hinein  geblieben  ist.  Dagegen  sind  die  Wandererlegenden  10)  wohl  nicht 
mit  Mogk11)  von  hier  abzuleiten:  der  viator  indefessus12),  Gangleri, 
»Wanderer«,  Gangradr  »Wegewalter«,  Vegtamr  »Weggewohnte«  macht 
diese  »Inspektionsgänge«  als  Herrscher  und  Prüfer:  er  ist  überall,  ohne 
allwissend  zu  sein.  Dazu  kommen  die  vielen  Heiligtümer.  (Auch  Thor 
ist   immer  unterwegs.)     Daher  ist  er  besonders  auch  Gast  der  Könige13). 

Der  Winddämon  war  wohl  ursprünglich  ganz  »Augenblicksgott«, 
streng  lokalisiert:  der  Geist,  der  in  einem  besonders  hohen  Baum  hauste 
und  seine  Wipfel  schüttelte.  (Eine  besondere  Baumart  scheint  ihm  nicht, 
wie  dem  Zeus  die  Eiche,  gehört  zu  haben.)  Wahrscheinlich  infolge 
starker  Verehrung  (wie  in  Upsala)  wird  er  zum  Windgott  überhaupt:  zum 

x)  Wie  christliche  Heilige:  Georg,  vgl.  z.  B.  »Sankt  Georgs  Ritter«  von 
Uhland;  Maria,  vgl.  z.  B.  G.  Kellers  Sieben  Legenden. 

2)  Vgl.  Golther  S.  342. 

3)  Ebd.  S.  309.  4)  Lok.  Str.  9. 
5)  Vol.  Str.  18.           6)  Hyndl.  Str.  3. 
7)  Reg.  Str.  16f.  8)  Häv.  Str.  152. 

9)  Vgl.  allgemein  Mogk  S.  336. 

10)  Golther  S.  340f.  n)  S.  335. 

12)  Saxo  1,  128.  13)  Golther  S.  341  f. 


250  Viertes  Kapitel. 

Herrn   der   Sturmgeister,   zum  König   der  Winddämonen  —  zum  Führer 
des  Wilden  Heeres,  der  hoch  oben  stürmenden  Windgeister1). 

So  kommen  wir  zu  den  Emanationen:  Der  Windgott  war  schon 
in  urgermanischer  Zeit  über  seine  alte  Bedeutung  hinausgewachsen ;  wahr- 
scheinlich ging  von  irgendeinem  Heiligtum  eine  mächtige  Propaganda  aus, 
seit  er  irgendwo  zum  Speergott  geworden  war. 

Dem  Windgott  steht  der  Totengo tt2)  nahe:  wir  hatten  schon  mehr- 
mals zu  betonen,  wie  Wind-  und  Totengeister  sich  berühren,  besonders 
während  diese  in  der  Luft  einherfahren.  Als  Psychopompos  nimmt  er 
dem  Sigmund  seinen  toten  Sohn  ab  und  führt  ihn  ins  Meer3).  Ebenso 
ist  bei  den  Hellenen  »Zagreus,  der  wilde  Jäger,  nun  auch  Totengott  und 
Seelenfänger  geworden«*). 

Die  umgekehrte  Meinung,  der  Totengott  sei  die  Urform,  wird  ins- 
besondere von  Mogk  vertreten ;  aber  von  hier  aus  scheint  mir  der  Weisheits- 
und Staatsgott  ebenso  schwer  abzuleiten,  wie  leicht  aus  dem  Windgott 
der  Totengott.  Ich  kann  deshalb  auch  nicht  mit  Siebs7  geistreicher  Argu- 
mentation5) die  von  ihm  erschlossene  Benennung  Henno  für  primär 
halten,  sondern  nur  für  den  spezifischen  Titel  Wodans  als  Totengott. 
Das  ist  er  also  schon  zur  Zeit  jenes  dem  Mercurio  Channini  gesetzten 
Steins 6). 

Diese  Eigenschaft  wird  nun  weiter  spezialisiert,  beidemal  im  Auschluß 
an  frühere  Art  des  Gottes:  Odin  gilt  als  Gott  der  Gehängten, 
Hangagod,  Hangatyr7).  Der  Gott,  dem  die  Opfer  an  den  Baum  gehängt 
werden,  erscheint  als  Herr  aller,  die  gehängt  sind.  Später  freilich,  als  nur 
noch  der  Schlachttod  für  rühmlich  galt,  müssen  sie  noch  nachträglich 
mit  dem  Speer  durchbohrt  werden 8). 

Odin  gilt  als  Gott  der  in  der  Schlacht  Gefallenen9).  Nach 
der  älteren  Anschauung  empfängt  er  sie  alle  (sie  sind  ja  auch  zumeist  durch 
den  Speer  »gezeichnet« !);  später  erhält  angeblich  Freyja  die  Hälfte 10)  und  Thor 
die  Knechte  n).    Die  letztere  Nachricht  hat  R.  v.  Liliencron  12)  als  einen  Ge- 


1)  Über  den  Anteil  des  Windgottes  an  der  Menschenschöpfung  vgl.  u.  Die 
Trinität  ist  eine  Stufe  auf  dem  Wege  zur  Alleinherrschaft,  doch  halte  ich  nur  die 
Dreiheit  Odin— Hönir— Loki  für  alt  (über  Odin  -Wili-We  vgl.  u.). 

2)  Meyer  S.  375,  Mogk  S.  337. 
a)  Sinf;  Gering  S.  184. 

4)  Deubner,  Arch.f.  Rel -Wissensch.  10,80;  vgl.  auch  Weniger,  ebd. 9,217. 
6)  Ztschr.  f.  d.  Phil.  24,  157. 

6)  Vgl.  ebd.  S.  146 f. 

7)  Mogk  S.  337.  8)  Siehe  o.  S.  241. 
9)  Golther  S.  315f.  325 f. 

,0)  Grim.  Str.  14;  vgl.  o.  S.  213. 

n)  Härb.  Str.  24. 

vz)  Vgl.  Gering,  z.  d.  St.,  S.  47,  7. 


§  17.    Hauptgötter.  251 

danken  von  hoher  und  schöner  Milde  gerühmt:  »daß,  während  die  schon 
hier  vom  Glück  begünstigten,  die  ruhmgekrönten  Söhne  Odins,  nach 
Walhall  übersiedelnd,  zu  neuen  glänzenderen  Freuden  eingehen,  doch 
auch  für  den  fleißigen  und  mit  ruhmloser  Treue  sich  abmühenden  Diener 
des  Thor  nach  seinen  irdischen  Mühen  eine  freundliche  Stätte  bei  seinem 
hohen  Schirmherrn  bereitet  ist«.  So  fein  das  gedacht  ist,  bleibt  doch 
zweifelhaft,  ob  wir  einen  so  milden  Gedanken  den  stolzen  Odinverehrern 
zuschreiben  dürfen.  Die  Alternative  wird  wohl  stehen  wie  bei  Achilleus: 
ruhmvoller  Tod  —  oder  Vergessenheit;  selbst  Hjalli,  der  als  Ersatz  für 
Högni  stirbt1),  wird  durch  keine  Aussicht  auf  das  Jenseits  getröstet. 
Ferner  sieht  man  nicht  recht,  was  die  Anschauung  hierbei  befriedigen 
soll;  die  Seele  bleibt  unverklärt,  und  so  hätten  wir  ein  Heim  des  Thor 
mit  lauter  arbeitenden  Knechten  erfüllt.  (»Die  andern  trinken  Bairisch 
Bier,  und  unterdessen  donnern  wir,«  wie  Hoff  mann  v.  Fallersieben  den 
Kontrast  der  Hohen  und  Niedern  im  Jenseits  drastisch  ausdrückt)2). 
Kampf  und  weise  Ruhe  sind  der  Verklärung  fähig,  aber  subalterne  Tätig- 
keit auf  dem  Schlachtfeld  oder  im  Haus?  Immerhin  könnte  man  sich 
noch  immer  Thor  als  einen  Trostgott  für  die  bei  Odin  nicht  hoffähigen 
Krieger  denken  (mit  der  Wendung,  die  Goethe  seiner  Indischen  Legende 
gab)  —  wenn  nur  Thor  überhaupt  Gott  der  Knechte  wäre  und  nicht 
vielmehr  der  freien  Bauern.  Es  wird  wohl  also  nur  eine  Hohnrede  Här- 
bards  sein:  ich  bekomme  die  Edlen;  magst  du  den  Abhub  haben!8) 

An  Freyjas  Deputat  glaube  ich  auch  nicht.  Einherier  erster  und 
zweiter  Klasse  mit  oder  ohne  Speck,  Ziegenmeth  und  ewigem  Kampf  — 
es  ist  ein  schwer  auszudenkender  Gedanke.  Ich  denke  mir,  die  Göttin 
hatte  ursprünglich  einfach4)  den  kommenden  Gästen  die  Sitze  im  Saal 
anzuweisen,  sie  als  Hausfrau  zu  »setzen«,  etwa  wie  Hygd5)  unter  den 
Kriegern  waltet.  Daraus  machte  dann  der  »Weltenbaumeister«  der  Grim. 
eine  zweite  Halbstrophe  (denn  die  hatte  er  fast  immer  mühsam  nach- 
zufüllen6), nachdem  vorher  die  «Heime«  wohl  höchstens  eine  trockene 
nafnathula  gebildet  hatten,  wie  wir  sie  etwa  Grim.  Str.  44  noch  un- 
verändert besitzen  7). 


J)  Atlm.  Str.  60. 

2)  Übrigens  nach  einer  alten  Anekdote  vgl.  H.  Normann,  Österreichische 
Senfkörner,  Leipzig  1833,  S.  75.  —  Die  Vorstellung  realisiert  in  Hundings  Knechts- 
diensten in  Walhall,  Helg.  Hund.  2,  38. 

3)  Die  schönste  Schilderung  des  Empfanges  in  Walhall  in  den  Eiriksmäl 
W.  Hertz'  Übersetzung  bei  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  142. 

4)  Nachdem  sie  die  Geltung  von  Odins  Göttin  erhalten  hatte:  Frigg  fehlt, 
trotz  ihrer  Rolle  in  der  Prosa  —  Einleitung,  in  den  Grim. 

5)  Beow.  1927  f.  6)  Vgl.  etwa  Str.  13! 

7)  Müllen  hoff  (D.  Alt.  2,  362)  bezieht  diesen  Zug  auf  die  Identität  von 
Freyja  mit  (Mardöll  Gefn)  Gefjon:   »die  die  Hälfte  der  Sterbenden  (die  Frauen) 


252  Viertes  Kapitel. 

Als  Gott  der  Kriegshelden  wählt  Odin  seine  Gäste  (durch  die  Walküren) 
aus  oder  gibt  ihnen  Urlaub,  wie  dem  Starkad,  dem  Schwedenkönig  Aun, 
solange  er  den  Zehnten  gibt  u.  a. *).  Daß  er  Tote  erwecken  kann ,  be- 
richtet nur  Snorri2)  —  er  tut  es  durch  Zauber;  durch  Zauber  kann  er 
auch  Tote  sprechen  lassen3).  Sonst  aber  ist  er  nur  Herr  der  Toten4) 
in  ihrem  Reich  und  kann  den  getöteten  Balder  nicht  wieder  beleben  (oder 
wenigstens  nicht  unmittelbar)5). 

Die  Funktion  als  Totengott  wird  für  die  Sagenbildung  von  Odin 
entscheidend.  Er  wird  zum  Führer  des  Heeres  ruheloser  Seelen  (Wode), 
obgleich  das  seiner  ursprünglichen  Aufgabe,  den  Seelen  Aufnahme  in  der 
Totenhalle  zu  gewähren,  widerspricht;  aber  schließlich  wird  das  Tosen 
der  heimatlosen  Geister  zum  geordneten  Ritt  über  Bifröst  stilisiert,  während 
eigentlich  die  Regenbogenbrücke  nur  für  die  Äsen  bestimmt  ist,  die  vom 
Himmel  zur  Erde  reiten  wollen6). 

Man  pflegt  Odin  auch  als  Himmels-  und  Sonnengott  zu  be- 
zeichnen 7).  Als  Sonnengott  soll  er  aufzufassen  sein ,  wenn  er  die  Welt 
alle  Morgen  von  Osten  durch  ein  Fenster  überblickt;  aber  ist  das  nicht 
Herrscherfunktion?  und  im  Osten  wird  es  eben  zuerst  hell.  Auch  Frigg 
und  Frey  sehen  von  der  Himmelswarte  herab,  wie  Zeus  vom  Olympos. 
Dann  sein  Eines  Auge 8) ;  aber  diese  Götterverstümmelungen  schienen  uns 
nur  mythologische  Metaphern :  wie  Tyr,  der  Starke,  eine  Hand,  hat  Odin, 
der  Aufseher  der  Welt,  ein  Auge  »verpfänden«  müssen.  Auch  der  Gold- 
helm, der  übrigens  mehr  gelegentlicher  Schmuck  als  wesentliches  Attribut 
scheint,  ist  ein  Fürstenzeichen.  Kurz,  er  scheint  mir  wohl  »Herr  des 
Himmels«,  da  er  eben  Fürst  der  Götter  ist,  nicht  aber  Himmelsgott  im 
elementaren  Sinn,  und  Sonnengott  überhaupt  nicht.  Übrigens  pflegen 
echte  Sonnengötter  zu    den  Menschen    naturgemäß   selten   in    engere  Be- 


zu  sich  nimmt  und  die  unter  vielfältigen  Namen  als  fahrende  Frau  einmal  mit 
umher  wanderte«  (gestützt  von  Much,  Himmelsgott,  S.  262;  vgl  269).  Aber 
daß  unter  der  Hälfte  der  Sterbenden  die  Frauen  zu  vermuten  seien,  ist  nur  auf 
den  Ausruf  von  Egils  Tochter  gegründet;  auch  ist  ja  in  Grim.  nur  von  den  auf 
dem  Schlachtfeld  Gefallenen  die  Rede,  und  da  damit  die  Zahl  der  sterbenden 
Männer  keineswegs  erschöpft  ist,  waren  die  Frauen  nicht  die  andere  Hälfte  der 
Sterbenden.  Müllenhoff  hat  wohl  aber  überhaupt  die  Grim.  durchaus  —  nach 
ihrem  mythologischen  wie  nach  ihrem  poetischen  Wert  —  überschätzt. 

x)  Golther  S.  327. 

2)  Vgl.  ebd.  S.  310.  3)  Veg.  Str.  4-5. 

4)  Mogk  S.  337.  *)  Siehe  u# 

6)  Mogk,  Sammlung  Göschen  4,  47;  vgl.  51;  Menschenopfer,  S.  612, 
v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  127,  u.  A.  halten  Wodan  von  vornherein  für  einen 
chthonischen  Gott,  aber  eine  Analogie  für  solche  Entfaltung  eines  Unterwelt- 
gottes dürfte  nicht  aufzufinden  sein;  vgl.  o.  S.  250. 

7)  Mogk  S.  345.  8)  Vgl.  o.  S.  231. 


§  17.    Hauptgötter.  253 

Ziehungen  zu  treten  —  von  Helios  gibt  es  kaum  eigentliche  Mythen  in 
diesem  Sinn,  von  Sürya  *)  erst  recht  nicht.  Odin  aber  ist  ein  Menschen- 
gott im  vollsten  Sinn,  wie  Apollon,  der  denn  auch  nicht  im  eigentlichen 
Sinn  Sonnengott  heißen  darf2). 

Der  Gott  der  in  der  Schlacht  Gefallenen  wird  dagegen  unvermeidlich 
zum  Kriegsgott3). 

Eine  Abgrenzung  von  Tyr  versuchten  wir  schon:  sie  beginnt  mit 
der  Verschiedenheit  der  Waffen  (Schwert  und  Speer,  Taktik  und  Strategie) 
und  gipfelt  wohl  in  der  Unterscheidung  Tyrs  als  Gott  des  einzelnen 
Kriegers  von  Odin  als  Gott  des  Königs  und  des  gesamten  Heeres.  — 
Der  Führer  der  Winddämonen  leitet  die  ewige  Schlacht  in  den  Lüften4), 
ein  trefflicher  Heeresmann,  mit  trefflichen  Waffen  gerüstet  (»der  kampf- 
gewohnte Heervater«,  der  seine  Wölfe  —  mit  Leichen?  —  füttert)5);  des- 
halb heißt  er  Heervater,  Heerteiler,  der  Heerfrohe  usw. 

Als  Schutzherr  des  staatlichen  Krieges  (wogegen  Tyr  auch  privaten 
Fehden  als  Unparteiischer  Vorsitzen  mag)  eröffnet  er  den  ersten  Kampf 
durch  Speerwurf6)  und  wird  so  Vater  der  Schlacht,  wie  die  Nornen  das 
Leben  eröffnen7).  Vor  allem  aber  gehört  ihm  die  Entscheidung  des 
Krieges,  wie  sie  Zeus  zukommt  und  nicht  Ares.  Deshalb  heißt  er  Sig- 
fadr,  Siggautr,  und  ihm  wird  für  Sieg  geopfert;  so  schon  früh  bei  den 
Südgermanen,  Wandalen,  Sachsen,  Langobarden.  —  Dies  ist  der  Kern 
der  meisten  heroischen  Wodanslegenden. 

Vielleicht  hieran  knüpft  die  moralisierende  Auffassung  des  Gottes. 
Die  Erkenntnis,  daß  »der  schlechtere  Mann  gewinnt«,  mußte  von  der 
Lokasenna8)  bis  zu  Heines  Romanzero  mit  dem  Bedürfnis  des  Menschen 
hadern,  den  Kampf  als  ein  Gottesurteil  aufgefaßt  zu  sehen.  Irgendwelche 
Entschuldigungen  werden  erdichtet,  mit  denen  die  Theodicee  aller  Epochen 
gearbeitet  hat.  Jedenfalls  ist  man  geneigt,  die  Helden,  zu  denen  er  sich 
gesellt,  als  die  Besseren  anzusehen  (Völsungen). 

Als  besonders  wichtig  erscheint  mir  eine  Funktion  Odins,  die  meist 
übersehen  wird9):  Odin  als  der  besondere  Fürsten-  und  Staatsgott. 


1)  Macdonell  S.  30f. 

2)  Preller  1,  231. 

3)  Mogk  S.  338,  Meyer  S,  37. 

4)  Mogk  a.  a.  O. 

5)  Grim.  Str.  19. 

6)  Völ.  Str.  21.  Mittelst  des  ins  feindliche  Gebiet  oder  ins  Meer  ge- 
schleuderten Speers  ergreifen  noch  im  Mittelalter  deutsche  Kaiser  (Otto  I.  am 
Sund!)  Besitz. 

7)  Mogk  S.  339. 

8)  Str.  22. 

9)  Doch  vgl.  Mogk  S.  339. 


254  Viertes  Kapitel. 

Den  »offiziellen«  Charakter  der  Odinsreligion  haben  wir  mehrfach  schon 
hervorzuheben  gehabt.  Lamm  und  Stier,  auch  Menschenopfer  unerhört 
mag  der  Einzelne  (Fürst  oder  freier  Bauer)  seinem  Gott  schlachten  —  ein 
ganzes  Heer  kann  nur  von  Staatswegen  geweiht  werden.  Als  Vertreter 
des  Volkes  wird  Wikar1)  in  Norwegen,  Domaldi2)  bei  den  Schweden 
geopfert 3). 

Vielleicht  ist  auch  der  Mangel  an  theophoren  Namen  nach  Odin  damit 
zu  erklären,  daß  nach  ihm  sich  nur  Völker  nennen  durften  (Langbardr 
und  die  Langobarden?)4),  nicht  Einzelne? 

Keineswegs  können  wir  aber  die  neuerdings  öfter  (z.  B.  v.  d.  Leyen) 
ausgesprochene  Meinung  teilen,  Odin  sei  überhaupt  nur  sozusagen  ein 
esoterischer  Gott  gewesen,  mit  dem  das  Volk  sich  gar  nicht  befaßte. 
Gewiß  war  der  tägliche  Kult  vor  allem  den  kleineren  Gottheiten  und 
Geistern  geweiht,  aber  die  großen  Tempel  setzen  Wallfahrer  und  Pilger 
voraus;  und  die  uns  so  gut  bezeugten  Götterbilder  sind  so  wenig  wie 
das  des  Olympischen  Zeus  von  armen  Dichtern  errichtet.  Aber  sein 
Kult  bleibt  für  die  wichtigsten  Fragen  reserviert. 

Njörd  ist  die  offizielle  Gottheit  einer  Amphiktyonie,  Frey,  der  Herr 
der  Goten,  der  Theokrat  isländischer  Kultusbezirke  —  Odin  ist  der  Staats- 
gott als  solcher,  der  Gott  der  staatlichen  Ordnung.  Als  solcher  ist  er 
zunächst  Erzieher  der  Fürsten  und  Helden5).  Es  ist  eine  unter 
den  Göttern  vielbegehrte  Stellung :  Starkad  wird  sein  Zankapfel  dem  Thor, 
Geirröd  der  Frigg  gegenüber,  weil  auch  diese  ihre  Lieblinge  haben.  Später 
wird  Odin  als  Erzieher  der  Menschen  und  des  Fürsten  von  Heimdall 
beerbt,  wenn  nicht  umgekehrt  er  dem  Standesgott  der  »Wächter  über  dem 
Volk«  diese  Funktion6)  abgenommen  hat. 

Odin  leitet  Geirröds  Kindheit7)  »und  belehrt  ihn  aus  dem  Schatze 
seiner  Weisheit« :  er  gibt  ihm  Lehren  wie  der  macchiavellistische  Fürsten- 
spiegel der  Häv.8)  mit  seiner  spezifisch  dynastischen  Warnung  vor  dem 
Kronprinzen9);   er  erteilt   ihm  Runen  wie  Rig  dem  jungen  Jarl 10).     Wie 


J)  Vgl.  Golther  S.  325. 

2)  Ebd.  S.  327. 

3)  Negelein  (Germ  Mythol.  S.  105)  bringt  diese  Königsopfer  mit  uralten 
Sühneopfern  zusammen,  die  später  durch  die  Verhöhnung  und  Tötung  eines 
Scheinkönigs  abgelöst  wurden  —  ein  Ritus,  der  besondere  Aufmerksamkeit  er- 
regt, seit  Reich  (Der  Mimus)  ihn  zur  Erklärung  der  Verhöhnung  Christi  heran- 
gezogen hat. 

4)  Vgl.  auch  Aldagautr,  Valgautr,  Siggautr;  Golther  S.  301:  Gaut  ist  der 
Ahnherr  der  Amaler. 

B)  Vgl.  Golther  S.  3281 

6)  Vgl.  Rig. 

7)  Anschließende  Märchenzüge  siehe  u. 

8)  Str.  83  f.  9)  Str.  88.  10)  Rig.  Str.  36. 


§  17.    Hauptgötter.  255 

er  so  für  das  Leben  rüstet,  so  auch  besonders  für  den  Kampf:  er  macht 
den  Harald  Hilditönn  für  den  Kampf  fest,  lehrt  ihn  die  keilförmige 
Schlachtordnung  (den  »Eberkopf«)  und  die  Anordnung  des  Seetreffens  — 
Dinge,  die  nicht  er  erfindet1),  aber  die  nur  er  kennt:  Alleinbesitz  einer 
Einzelweisheit  ist  eine  besondere  Eigenheit  des  Runengottes ;  so  weiß  nur 
er  das  Zauberwort  des  Merseburger  Spruches,  nur  er  das  geheime  Auf- 
erstehungswort für  Balder.  —  Um  die  Prinzen  zu  erziehen  und  zu  heben, 
stiftet  er  den  Krieg. 

Er  ist  aber  auch  der  Aufseher  über  die  Könige2).  Daher 
wandert  er  umher,  um  sie  zu  prüfen3)  und  kehrt  als  Gast  bei  ihnen  ein 
wie  Christus  und  die  Heiligen  in  mittelalterlichen  Legenden4). 

Die  Aufgabe  der  plötzlichen  Rettung  aus  Gefahren,  eine  Hauptfunktion 
alter  Götter,  ist  im  Norden  fast  ganz  auf  Odin  als  Fürstengott  über- 
gegangen5). Odin  rettet  die  Fürsten  und  Helden  durch  plötzliches  Ein- 
greifen, oft  in  Verkleidung  und  mit  Zaubermitteln6),  wie  das  ähnliche 
Wundermärchen  bei  allen  Völkern  gern  erzählen  (Ilias;  christliche  Legenden). 
Vorzugsweise  rettet  er  aus  Kampfesnot,  doch  auch  (wie  die  Acvins)  aus 
Seenot7),  und  umgekehrt  stößt  er  (oder  Geirröd  auf  seinen  Rat)  die 
Nebenbuhler  in  die  See  zurück8). 

Ein  merkwürdiger  typischer  Zug  des  nordischen  Fürstengottes  ist  aber, 
daß  er  seine  Lieblinge  am  Schluß  regelmäßig  verläßt  und  sie  dann  besiegt 
fallen9).  Hauptbeispiele  sind  die  Siegfriedsage10)  und  die  von  Harald 
Hilditönn  n),  wo  er  ganz  novellistisch  eine  Intrigantenrolle  in  Lokis  Stil 
spielt.  Andere  Fälle:  Hrolf 12),  der  Berserker  Franmar,  der  deshalb  Vor- 
wurf er  hebt,  wie  Loki 13),  Thor14),  Egill 15):  der  »bessere  Mann«,  den  der 


*)  Schon  die  Heruler  haben  die  svinfylking  (Chadwick  S.  21);  doch 
schreiben  ihm  die  Skandinavier  allerdings  ihre  Erfindung  zu  (ebd.  S.  39.  54. 

2)  Golther  S.  342f. 

3)  Grim.  Str.  1. 

4)  Sehr  hübsch  über  Odin  als  Wanderer  und  Gast  Golther  S.  344.  Ebenso 
besuchen  die  Himmlischen  den  Abraham  (Gen.  18,  1 — 15)  um  ihn  zu  prüfen,  und 
werden  aufgenommen,  wie  Odin— Grim  es  von  Geirröd  erwartet. 

^Indische  Rettungsgötter:  Indra  (Macdon eil  S.  62)  und  die  Acvins 
(S.  59);  ihre  berühmteste  Tat  die  Errettung  des  Bhüjju  aus  den  Wogen. 

6)  Golther  S.  333f. 

7)  Hnikar  der  Fährmann:  vgl.  Golther  S.  332. 

8)  Einl.  zu  Grim.;  zu  der  Devotionsformel  vgl.  Härb.  Str.  60,  zu  der  Anekdote 
Teil,  wie  er  Geßlers  Schiff  zurückstößt,  und  altnordische  und  lappische  Märchen 
v.  d.  Leyen  S.  52. 

9)  Golther  S.  329f.  10)  Ebd.  S.  330. 
")  S.  331.           12)  Ebd.  S.  331. 

13)  Lok.  Str.  22.  14)  Härb.  Str.  25. 

15)  Golther  S.  329,  1;  Chadwick  S.  12. 


256  Viertes  Kapitel. 

Gott  dazu  gemacht  hat,  fällt.  Gründe,  diesen  Zug  zu  erklären,  sind  wohl- 
feil wie  Brombeeren.  Es  könnte  die  (auch  bei  den  Hellenen  gerügte) 
Unzuverlässigkeit  des  Schlachtenglücks  angedeutet  sein;  oder  die  psycho- 
logische Erfahrung  vom  Wankelmut  der  Fürsten  (Deörs  Klage!)  wäre  auf 
ihren  Gott  übertragen ;  oder  eine  Warnung  vor  unbedingter  Hingabe  läge 
darin ;  oder  schließlich  gar  die  üble  Nachrede  der  Gegner  Odins.  Wichtiger 
wäre  es,  einen  Zusammenhang  zwischen  diesem  typischen  Zug  und  dem 
Bilde  des  Gottes  herauszufinden.  Ob  darin  eine  Mißbilligung  der  Ver- 
suche liegt,  den  Gemeinschaftsgott  zum  persönlichen  Gönner  zu  machen? 
Oder  ob  er  ursprünglich  nur  seinen  Günstling  mit  großem  Gefolge  holte 
und  dies  später  zur  Niederlage  des  Heeres  umgedeutet  wurde?  Es  könnte 
auch,  wie  oft,  das  Opfer  auf  den  Gott  abgefärbt  haben.  Verräter  und 
Fahnenflüchtige  hängt  man  an  die  Bäume1)  und  weiht  sie  also  dem 
Wodan  —  so  wird  er  zum  »Verrätergott«. 

Der  Gott  der  Könige  aber,  der  König  der  Götter  ist,  wird  Gott 
der  Weisheit2).  Auch  von  hier  gehen  zahlreiche  Mythen  und 
Legenden  aus3),  v.  d.  Leyen4)  läßt  diese  Seite  ganz  in  Odins  Zauber- 
tätigkeit  wurzeln  und  sieht  in  ihr  den  Mittelpunkt  des  ganzen  Wesens: 
Odin  als  Patron  und  Verkörperer  der  Medizinmänner  (wie  Bragi  der 
Sänger).  Aber  ich  bezweifle,  ob  ein  spezieller  »Zaubergott«  vorkommt. 
Dieses  Amt  ist  fast  überall  auf  den  Hauptgott  übergegangen ;  so  hat  Zeus 
an  der  nationalen  Mantik  einen  bedeutenden  Anteil5),  und  Jupiter  muß 
die  Wahl  der  Auguren  genehmigen 6).  Oder  ein  Gott,  dessen  Kompetenz 
nah  angrenzte,  ward  mit  der  Obhut  der  Zauberei  betraut,  wie  bei  den 
Ägyptern  Thott,  der  Schreiber  der  Götter7),  das  Zauberbuch  über  den 
Re  liest8).  Schwerlich  war  es  bei  den  Germanen  anders.  Auch  ist  Odin 
keineswegs  bloß  über  den  Zauber  gesetzt,  sondern  über  alle  Weisheit, 
auch  über  die  Lebensweisheit  des  erfahrenen  Mannes9),  über  die  Er- 
fahrung des  Erziehers lü)  und  besonders  noch  über  die  Liebeserfahrung  — 
keineswegs  bloß  über  den  Liebeszauber.  Aber  allerdings  fällt  der  Zauber 
so  notwendig  unter  die  Kompetenz  des  Weisheitsgottes,  wie  die  Heilkraft 


T)  Tac.  Germ.  cap.  12. 

2)  Mogk  S.  341,  Meyer  S.  378. 

3)  Golther  S.  338 f.    Odin  waltet  des  »Rats«   in  dem  ganzen  vieldeutigen 
Sinne  des  Wortes  (vgl.  Grönbech,  Lykkemand  og  Nidig,  S.  170. 

4)  Sagenbuch  S.  129 f.   132f. 

5)  Preller  1,  143. 

6)  Wissowa  S.  452. 

7)  Erman,  Ägypt.  Rel.,  S.  18. 

8)  Ebd.  S.  159. 

9)  Hävämäl. 

10)  Einl.  zu  Grim. 


§  17.    Hauptgötter.  257 

unter  die  des  Zauberers:  der  Zauber  ist  nur  ein  Einzelfall  seiner  »Kunst«, 
d.  h.  seines  Gelernthabens1). 

Ich  sehe  also  den  Ursprung  dieser  Funktion  vor  allem  in  seiner 
allgemeineren  Stellung  als  Gott  der  Ordnung,  als  Herrschergott  begründet. 
Aber  vielleicht  brachte  schon  der  Dämon  des  Windes  in  den  Baumgipfeln 
einen  starken  Ansatz  zu  dieser  Begabung  mit;  zauberkräftig  sind  ja  viele 
Elementargeister. 

Hierher  ziehe  ich  die  tiefsinnigste  aller  germanischen  Mythen:  die 
von  Odins  Runenfindung2).  Diesen  viel  umstrittenen  Mythus  3)  wollte 
Bugge  für  christlich  erklären  (und  nach  ihm  z.  B.  Golther).  Hierüber 
hat  eingehend  Chadwick  gehandelt.  In  zwei  Punkten,  meint  Golther, 
zeigt  sich  der  christliche  Ursprung :  in  der  Selbstopferung  des  Gottes,  und 
in  der  Erhebung  des  Galgenbaumes  zum  Weltsymbol.  Ich  kann  Chadwick 
nicht  folgen,  wenn  er4)  die  Selbstopferung  Odins  in  Frage  zieht  und 
meint,  gesagt  sei  nur,  daß  Odin  zugleich  Opfer  und  Opferempfänger  sei. 
Die  Analogie  der  für  den  Odinskult  so  charakteristischen  Selbstweihen 
scheint  mir  entscheidend.  Diese  beseitigt  aber  zugleich  die  Analogie  mit 
dem  Opfertod  Christi,  denn  er  gibt  sich  für  die  Menschen  hin  —  Odin 
opfert  sich,  wie  sich  seine  Anhänger  opfern5):  um  ihres  eigenen  Vorteils 
willen.  —  Völlig  stimme  ich  dagegen  Chadwick  bei,  wenn  er6)  die 
Identität  des  Galgenbaumes  mit  der  Weltesche  bezweifelt,  die  freilich  früh 
ein  Interpolator 7)  annahm.  »Yggdrasill« ,  Odins  Roß,  heißt  der  Welten- 
baum, weil  er  die  heiligen  Odinsbäume  nachbildet8),  auf  denen  die 
Gehängten  »reiten«.  Nirgends  wird  erwähnt,  daß  Odin  an  der  Welt- 
esche hing9). 

Aber  wie  in  diesen  beiden  Zügen,  so  scheitert  eine  Vergleichung 
der  Kreuzigung  mit  der  Runenfindung  in  allen  Punkten.  Das  Kreuz  ist 
eben  kein  »windbewegter  Baum«,  was  aber  die  heiligen  Bäume  Odins 
sind.  Christus  hängt  nicht  neun  Nächte;  neun  aber  ist  Odins  Zahl.  Der 
Speerstoß,  dort  ganz  nebensächlich,  ist  hier  ein  rituelles  Hauptmoment. 
Und  endlich  —  »geweiht  dem  Odin!«  Hätte  man  in  christlicher  Zeit 
einen  Mythus  noch  geduldet,  der  den  Tod  Christi  parodiert  hätte? 

Zum  Schluß :  der  Mythus  ist  wahrscheinlich  schon  gemeingermanisch. 
Chadwick  hat  auf  den  angelsächsichen  Dialog  Salomon  and  Saturn  hin- 

J)  Über  die  Arten  des  von  Odin  geübten  Zaubers  vgl.  Golther  S.  339 ;  sie 
I  beziehen  sich  naturgemäß  vorzugsweise  auf  den  Krieg,  dann  auf  die  Wieder- 
herstellung der  Ordnung  in  jedem  Sinn :   Haß  versöhnen ,  Liebe  zur  Erfüllung 
I  bringen,  Krankheit  heilen. 

2)  Mogk  S.  342f.,  Golther  S.  3431,  Meyer  S.  378,  meine  Altgerm. 
Poesie  S.  4941,  Chadwick  S.  72 f;  allgemein  vgl.  Wundt  S.  479. 

3)  Häv.  Str.  138  f.  4;  S   80  f. 

»)  Vgl.  o,  S.  245f.  6)  S.  73f.  7)  Str.  138. 

*)  Nicht  umgekehrt:  S.  77.  9)  S.  75. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  17 


258  Viertes  Kapitel. 

gewiesen1),  wo  es  heißt,  »Mercurius  der  Riese«  habe  die  Buchstaben  er- 
funden, was  immerhin  auf  den  römischen  Mercurius  gehen  kann,  wenn 
er  auch  mit  weniger  Recht  als  der  Dämon  Odin  »riesisch«  heißen  würde; 
und  auf  den  Beginn  des  Runengedichts:  »Os,  der  Ase,  ist  der  Anfang 
aller  Rede«.  Schwache  Spuren,  die  doch  aber  durch  andere 2)  aus  Zauber- 
sprüchen gestützt  werden.  Auch  ist  zu  beachten,  daß  Tacitus3)  von  der 
römischen  Wahrsagung  in  unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der  Haupt- 
verehrung des  Mercurius  -  Wodan  spricht.  Die  Runen  standen  wohl  von 
Anfang  an  unter  Odins  besonderem  Schutz  —  weil  er  sie  gefunden  hatte 
(oder  umgekehrt!). 

Der  Mythus  ist  also  altheidnisch;  und  das  ist  er  seinem  ganzen  Zu- 
schnitt nach  in  so  ausgesprochener  Weise,  daß  wohl  nur  die  spezifisch 
nordische  Neigung,  überall  christlichen  Einfluß  zu  sehen  (die  jetzt  K.  Krohn 
bis  zur  Christianisierung  des  Merseburger  Spruches  hat  gelangen  lassen), 
die  Auffassung  des  großen  Meisters  altnordischer  Forschung  erklärt,  auf 
die  Müllenhoff4)  so  leidenschaftlich  antwortete.  Man  könnte  in  der  Tat 
ebensogut  in  Helgis  Erscheinung  vor  Magd  und  Gattin5)  einen  Nach- 
klang der  Auferstehungsgeschichte  sehen! 

Was  erzählt  der  Mythus  von  der  Runenfindung?6)  —  Der  Gott  hängt 
am  Baum  wie  ein  Odinsopfer,  mit  dem  Speer  gezeichnet.  Er  wird 
gleichsam  selbst  eine  Frucht  der  frugtfera  arbor ,  von  der  die  Runen 
kommen:  nach  neun  Nächten  fällt  er  ab7):  sein  eigener  Sohn,  von  sich 
selbst  wiedergeboren  —  wie  denn  jene  primitiven  Jünglingsweihen  oft  als 
Neugeburt,  Wiedergeburt  aufgefaßt  werden8).  In  dieser  Zeit  hat  er 
gefastet  und  in  ekstatischer  Konzentration  nach  unten  geblickt.  Dort, 
am  Baum,  aber  unterhalb  des  Gipfels,  fand  er  die  Runen,  die  zauber- 
haften surculi  der  frugifera  arbor9)  —  und  nun  war  er  reif  und 
gedieh  und  besaß  Wort  und  Werk  —  gerade  wie  Kon  der  Junge  wuchs 
und  gedieh  und  die  Runen  kannte10).  Denn  später,  scheint  es,  erfand 
man   für  jede  »Welt«    einen   besonderen  Runenhüter11);    aber   der   Erste 


*)  S.  29.  2)  Vgl.  ebd. 

3)  Germ.  cap.  10. 

4)  D.  Alt.  V. 

6)  H.  Hund.  2,  39  f. 

6)  Mogk  (Sammlung  Göschen  15,  45)  hat  ihn  mit  dem  Glauben  zusammen- 
gebracht, die  Götter  bedürften  der  Verjüngung.  Aber  der  Mythus  von  Odins 
Äpfeln  ist  jung;  auch  sieht  man  nicht,  daß  eine  Verjüngung  Odins  erfolgt. 

7)  Wie  ein  neuer  Ring  vom  Draupnir,  Skirn.  Str.  21. 

8)  Schurtz,  Altersklassen  und  Männerbünde,  S.  104 f. 

9)  Germ.  cap.  10. 
10)  Rig.  Str.  36. 
n)  Häv.  Str.  142. 


§  17.    Hauptgötter.  259 

blieb  Odin.  Nun  besitzt  er  das  Geheimnis  der  Dinge,  nun  ist  er  Herr: 
»Wissen  ist  Macht«  *)< 

Der  Mythus  ließ  sich  euhemeristisch  auf  die  Erfindung  der  Runen- 
schrift deuten,  mit  der  sein  Kult  gewandert  ist2).  Aber  es  ist  hier  doch 
nicht  an  Schriftrunen,  sondern  an  Zauberrunen  gedacht,  wenn  auch  in 
letzter  Linie  beide  identisch  sein  mögen3).  Die  Runen  geben  dem  Gott 
Herrschaft  über  alle  Dinge,  denn  Runen  stehen  überall4):  man  muß  sie 
nur  lesen  können. 

Der  Gott  also  hat  in  furchtbarer  Anstrengung  (deren  Schilderung  den 
zur  Ekstase  reizenden  Vorbereitungen  der  Zauberer  und  den  analogen 
Mysterien  der  Jünglingsweihe  nachgebildet  ist)  die  Weisheit  erworben  — 
eine  echt  germanische  Vorstellung.  Er  besitzt  sie  nicht  von  Geburt,  wie 
Hermes  nach  dem  vierten  Tag  (ihm  war  die  Vierzahl  heilig,  wie  dem 
Odin  die  Neunzahl)5);  sie  ist  ihm  nicht  geschenkt.  —  Dies  ist  echt  ger- 
manische Anschauung,  daß  der  höchste  Besitz  errungen,  erarbeitet  werden 
muß.  Und  zwar  in  geistigem  »Sturm«,  in  der  »Wut«  leidenschaftlicher 
Hingabe  —  im  furor  poeticus  eines  Shakespeare,  im  furor  teutonicus 
eines  Luther. 

Die  gleiche  Grundanschauung  liegt  dem  Mythus  zugrunde,  daß  Odin 
sich  Weisheit  aus  Mimirs  Quell  trinkt  und  dafür  sein  Auge  gibt6). 
Hier  schöpft  der  Gott  den  Zauber  aus  dem  rinnenden  Wasser,  wie  er 
ihn  dort  vom  Baum  pflückt. 

Eine  dritte  Variante  scheint  die  Legende  von  Odin  und  Saga7). 
In  dem  Saal  Sökkvabekk  »Sinkebach«,  Ort,  wo  sich  ein  Bach  hinab- 
stürzt, einem  von  Odins  überflüssigen  Neben palästen ,  trinkt  Odin  dort 
alle  Tage  vergnügt  aus   goldenem   Gefäß.     Der  trunkfrohe  Dichter   der 


*)  Fast  die  gleiche  Auffassung  finde  ich  nachträglich  bei  v.  d.  Leyen, 
Sagenbuch,  S.  59.  Ein  solcher  Kampf  um  die  Weisheitsmacht  begegnet  auch 
sonst.  Die  ursprüngliche  Großtat  des  Mose  ist  (Ed.  Meyer,  Berl.  Sitzungs- 
berichte 1905  XXXI,  S.  4)  nicht,  daß  er  das  Volk  aus  Ägypten  geführt  hat,  sondern 
daß  er  mit  Jahve  um  die  Gewinnung  der  Losorakel  (Runen!)  gekämpft  hat. 
»Mose  hat  Jahve  im  Kampfe  gezwungen,  ihm  seine  Geheimnisse  (darunter  ur- 
sprünglich wohl  vor  allem  seinen  Namen)  zu  offenbaren;  diese  ha.t  er  dann 
weiter  den  Priestern  überliefert,  deren  Stellung  und  Einkommen  auf  diesem  kost- 
baren Besitz  beruht.«  Der  Mythus  ist  dem  unsern  so  nah  verwandt  wie  dem 
von  Jakobs  Kampf  mit  Jahve  (Gen.  c.  32,  vgl.  Ed.  Meyer  a.  a.  O.);  nur  ist  der 
Kampf  mit  dem  Gott  in  eine  Selbstaufopferung  des  Gottes  gewandelt,  aus  dem 
Geist  des  Mysteriums  heraus. 

2)  Mogk  S.  330. 

3)  PBB.  21,  177. 

4)  Sgdr.  Str.  15—17,  vgl.  Häv.  Str.  142. 

5)  Preller  1,  391. 

6)  Vgl.  o.  S.  167,  Mogk  S.  342,  Golther  S.  346. 

7)  Grim.  Str.  2;  vgl.  Golther  S.  345. 

17* 


260  Viertes  Kapitel. 

Grim.,  dem  für  die  zweite  Halbstrophe  gern  ein  Trinkspruch  einfiel1), 
dachte  dabei  schwerlich  an  Weisheitstränke;  und  »Sökkvabekk» ,  Sturze- 
bach, ist  wohl  nur  ein  Gegenstück  zu  »Fensaltr«  2)  Meergrund.  Aus  der 
unbekannten  Saga  machte  dann  Snorri  eine  vornehme  Göttin,  die  zweite 
nach  Frigg;  aber  wenn  sie  nicht  diese  selbst  ist,  so  ist  sie  doch  die  späte 
Herrin  der  Wahrsagekunst3):  irgendeine  Egeria  in  einer  Grotte,  in  der 
der  Bach  herunterrauscht,  und  von  der  Odin-Numa  sich  seine  Inspiration 
holt.  Es  wird  wohl  aber  einfach  Frigg  sein.  Auch  den  älteren  Mythus 
vom  Göttertrank  hat  man  zur  Erklärung  von  Odins  Weisheit  benutzt 4).  — 

Wiederum  von  der  Runenherrschaft  ist  die  Heilkunst  abgezweigt, 
Heilgott5)  ist  Odin  aber  schon  im  Merseburger  Zauberspruch,  also  in 
gemeingermanischer  Zeit;  ebenso  im  angelsächsischen  Zaubersegen6). 
Nur  er  kennt  die  Heilrunen  für  das  verletzte  Götterroß  genau,  wie  sein 
Hypophet  in  den  Häv. 7). — 

Der  Runengott  wird  auch  Gott  des  Gedeihens.  »Gott  der 
Fruchtbarkeit«8)  ist  schwerlich  richtig:  das  ist  Frey,  der  die  Erde  segnet; 
Odin  aber  segnet  die  Arbeit  an  der  Ernte,  hierin  Erbe  der  Feldgeister, 
die  ja 9)  mit  den  Winddämonen  eng  zusammenhängen  10).  Man  läßt  ihm 
die  letzten  Halme  für  sein  Pferd  (Mecklenburg,  Schweden) :  »  Wode,  Wode, 
hale  dinem  Rosse  nu  Foder,  nu  Distel  und  Dorn,  tom  andern  Jahr 
beter  Korn«11).  Denn  das  Gedeihen  der  Saat  ist  zauberbedürftig,  und 
deshalb  macht  man  den  Gott  darauf  aufmerksam,  daß  er  seines  Rosses 
wegen  selbst  an  dem  Gedeihen  der  Saat  interessiert  sei.  So  kann  er 
auch  ein  Getreidefeld  in  einer  Nacht  wachsen  lassen  12)  —  eine  mytho- 
logische Hyperbel,  die  auch  Schiller  seinen  König  Karl  VI.  anwenden 
läßt:  »wächst  mir  ein  Kornfeld  auf  der  flachen  Hand?« 

Natürlich  tritt  auch  Vermischung  ein :  wenn  er  Menschenopfer  gegen 
Mißwachs  empfängt13),  hat  er  Frey  wirklich  beerbt.  —  Er  spendet  auch 
Reichtümer14)  wie  Frey. 

Dem  Gott  des  Gedeihens  opfert  man  aber  gern  für  bestimmte  Zwecke: 
Dag  um  Vaterrache15),  Gest  um  Straflosigkeit16).  — 


!)  Grim.  Str.  3,  motiviert;  Str.  13,  unmotiviert;  Str.  19.  25. 

2)  Voi.  Str.  34;  Gylf.  cap.  35:  Gering  S.  326. 

3)  Meyer  S.  381.  414;  dagegen  Müllenhof f  H.  Z.  30,  218,  Mogk  S.  371 

4)  Häv.  Str.  140;  vgl.  u. 
B)  Meyer  S.  377. 

6)  Chadwick  S.  29.  7)  Str.  145. 

8)  Mogk  S.  338.  9)  Siehe  o.  S.  103. 

10)  Vgl.  Meyer  S.  332. 
«)  Meyer  S.  390.  12)  Mogk  a.  a.  O. 

13)  Golther  S.  327. 
u)  Ebd.  S.  336. 
1B)  Golther  S.  325.  16)  Ebd.  S.  342. 


§  17.    Hauptgötter.  261 

Die  letzte  Ableitung  des  Runengottes  ist  die,  daß  er  Gott  der 
Dichtkunst  wird  *)  —  was  man  ihm  einst  schon  für  die  indogermanische 
Urzeit  zuschob.  Aber  die  Findung  des  Dichtertranks  wenigstens  ist  so  wenig 
indogermanisch,  wie  die  der  Runen  christlich  ist.  Die  Dichtkunst  bedarf 
eines  eigenen  Patrons  erst,  wenn  es  einen  eigenen  Dichterstand  mit  kunst- 
voller Technik  und  hohen  Ansprüchen  gibt.  Dann  mag  man  sich  einen 
neuen  Heros  schaffen  wie  Bragi  oder  Linus2),  oder  einen  Gott  um  das 
Patronat  bitten,  wie  etwa  die  heilige  Barbara  Schutzpatronin  der  Artillerie 
geworden  ist.  Wird  irgend  jemand  Snorris  spöttische  Aussage  für  alt 
halten3):  »Eine  andere  Kunst  war  die,  daß  er  beredt  und  glatt  sprach,  daß 
das  allein  allen,  die  es  hörten,  wahr  deuchte.  Er  redete  immer  im  Vers- 
maße, so  wie  man  jetzt  das  spricht,  was  Skaldenkunst  heißt.  Er  und 
seine  Hofgoden  heißen  Liederschmiede,  weil  von  ihnen  diese  Kunst  in 
den  Nordlanden  ausging«?  Wenn  Snorri  das  nicht  aus  Gedichten  wie 
Häv.  abstrahiert  hat,  so  wird  es  eben  auf  Renommage  der  Hofdichter 
beruhen,  die  schon  als  solche  den  Fürstengott  zum  Schutzgott  wählen 
mußten. 

Gewiß  jung  ist  der  berühmte,  arg  verkünstelte  Mythus  von  der  Er- 
oberung des  Begeisterungstrankes,  auf  den  Ad.  Kuhn  die  ver- 
gleichende Mythologie  begründet  und  den  jetzt  eben  H.  Schuck4)  vom 
Standpunkt  der  folkloristischen  Mythenvergleichung  aus  mit  wahrhaft  skal- 
discher Künstelei  zu  retten  und  zu  deuten  unternommen  hat;  jung 
mindestens  in  der  Form,  wie  er  uns  aus  dem  Norden  überliefert  ist  — 
alte  Elemente  scheint  er  zu  enthalten. 

Einen  echten  folkloristischen  Kern  darf  man  allerdings  annehmen : 
in  der  Vorstellung  von  einem  Begeisterungstrank,  wie  die  Medizin- 
männer ihn  wirklich  nehmen  und  Gott  Indra  ihn  leidenschaftlich,  bis  zur 
Berauschung,  liebt5)  —  gerade  er,  einfach  wohl  weil  er  der  Lieblings- 
gott der  Inder  war6).  Soma  ist  ja  auch  selbst  ein  indischer  Hauptgott 
geworden7),  nach  echt  indischer  Abstraktion,  die  die  Kraft  des  Trank- 
opfers in  ihm  wie  die  des  Gebets  in  Brihaspati  verkörpert. 

Nachdem  Odin  besonderer  Patron  der  Zauberer  geworden  war,  mochte 

ein  Mythus  von  der  Erfindung  dieses  Begeisterungstrankes  an  ihn  geknüpft 

■werden:  denn  an  einem  solchen,  aus  mancherlei  Bestandteilen  gemischten 

»Zaubermeth«  wird  es  im  Norden  wohl  auch  nicht  gefehlt  haben,  da  die 


J)  Mogk  S.  344,  Meyer  S.  235f.,  Golther  S.  350. 

2)  Preller  1,  461. 

3)  Ynglingas.  cap.  6;  vgl.  Golther  S.  309. 

4)  Studier  i  nordisk  litteratur-  og  religionshistoria,  Stockholm,  1,  29  f. 

5)  Macdonell  S.  56. 

6)  S.  54. 

7)  Ebd.  S.  104. 


262  Viertes  Kapitel. 

Zauberin  Thorbjörg  eine  Speise  zu  sich  nimmt  »aus  dem  Herzen  aller 
Tiere,  die  es  an  Ort  und  Stelle  gab,  zubereitet«  x).  Nach  einem  derartigen 
Zaubertrank  schmeckt  dies  seltsame  Gemisch  aus  dreifach  destillierter 
Weisheit2):  erstens  Götterspeichel  (und  dieser  wieder  von  Äsen  und 
Wanen  gemischt!)8),  zweitens  Blut  des  daraus  geschaffenen  Kvasir,. 
drittens  Honig  von  den  Zwergen.  Das  kann  reine  Allegorie  sein;  etwa: 
göttliche  Weisheit  —  Leben  —  Süße.  Aber  als  Vorbild  hat  gewiß  solch 
ein  Zaubertrank  gedient  wie  etwa  die  Zauberspeise,  nach  deren  Genuß 
man  die  Sprache  der  Gänse  versteht:  man  haut  einer  weißen  Schlange 
den  Kopf  ab,  spaltet  ihn,  verbirgt  darin  eine  Erbse,  vergräbt  ihn  dann  in 
die  Erde;  daraus  wächst  eine  Erbsenstaude;  wenn  man  deren  erste  Schote 
ißt,  versteht  man  die  Gänsesprache4).  Die  Hauptsache  ist  eben  immer, 
eine  recht  merkwürdige  Köcherei  in  die  Hexenküche  zu  bringen.  Ebenso 
bei  Zaubertränken  anderer  Art,  z.  B.  Liebestränken  wie  dem  berüchtigten 
in  Immermanns  »Cardenio  und  Celinde«,  über  den  Platen  und  unser 
trefflicher  Goedeke5)  sich  so  lebhaft  entsetzten. 

Ein  solcher  Begeisterungstrunk  für  die  Zauberer  liegt  also  wohl  zu- 
grunde6). Er  ist  nun  auf  die  Dichtung  übertragen,  sei  es,  daß  das 
durch  die  Dichter  selbst  geschah,  sei  es,  daß  erst  der  fromme  Snorri  die 
schwarze  Magie  durch  weiße  ersetzte  —  worauf  vielleicht  das  sehr  »moderne« 
Epigramm  auf  die  Afterpoesie  schließen  läßt7). 

Nun  heftet  sich  an  jedes  Element  eine  novellistisch  ausgeschmückte 
Vorgeschichte.  Zunächst  an  den  Trank  selbst:  er  kommt  natürlich 
von  Odin  —  aber  woher  hat  ihn  der?  Worauf  die  Antwort,  wie  in 
einer  analogen  Fragenkette  bei  Goethe,  lautet:  »Der  hats  genommen!« 
Solche  »besitzerklärende  Mythen«  haben  wir  schon  oben 8)  als  eine 
nordische  Lieblingsgattung  bezeichnet.  Um  zu  erklären,  wie  Odin 
zu  dem  Zaubertrank  kam ,  scheint  die  »gelehrte« ,  d.  h.  gewiß  in  den 
Kreisen  der  Sänger9)  entstandene  und  gepflegte  Legende  zwei  wirklich 
uralte  Fabeln  verschmolzen  zu  haben. 


5)  Golther  S.  650;  vgl.  den  Hexenkessel  im  Macbeth. 

2)  »Mythologische  Bilder  für  Gärung  und  Alkohol«,  wie  Much  (Gott. 
Gel.-Anz.  1908,  S.  369)  sich  hübsch  ausdrückt. 

3)  Vgl.  v.  d.  Leyen  S.  65. 

4)  Wuttke  S.  316. 

5)  Grundriß  zur  Gesch.  d.  d.  Lit.  3,  491. 

6)  Vgl.  Achelis,  Die  Ekstase,  S.  11. 

7)  So  schon  Kuhn  selbst,  Mythol.  Studien  1,  193.  v.  d.  Leyen  (Sagen- 
buch S.  145  f.)  hält  dagegen  einen  primitiven  Mythus  vom  Wasser,  das  aus  dem 
Gewahrsam  eines  Riesen  und  seiner  Tochter  geholt  wird,  für  den  Kern  der  Sage 
(vgl.  ebd.  S.  79). 

8)  S.  21. 

9)  Die  Anspielungen  darauf  besonders  lieben:  Golther  351,  1. 


§  17.    Hauptgötter.  263 

Den  mythologischen  Kern  des  bei  Snorri  zusammengewobenen 
Sagenkomplexes  scheint  ein  indogermanischer  Mythus  von  der  Gewinnung 
des  Zaubertranks  zu  bilden ,  auf  den  zuerst  Wolfgang  Menzel *)  hinwies. 
Adalbert  Kuhn,  viel  vorsichtiger  als  seine  meisten  Nachfolger2)  bringt  doch 
zwei  sehr  beachtenswerte  Übereinstimmungen  zwischen  der  Herabkunft 
des  Soma  und  des  Suttungmeths  bei:  der  Trank  ist  in  einem  Berge  ver- 
schlossen, und  er  wird  durch  einen  Adler  geholt  —  mag  das  nun  der 
Adler  des  Gottes  sein  oder  der  Gott  als  Adler3).  —  Zu  diesen  von  Kuhn4) 
behandelten  Punkten  möchte  ich  noch  einen  dritten  stellen,  der  allerdings 
in  den  indischen  Berichten  nicht  ausdrücklich  formuliert  ist,  aber  wohl  un- 
bedingt angenommen  werden  muß;  Häv.  Str.  106  dagegen  ist  es  direkt  aus- 
gesprochen. Der  Trank  wird  nämlich  geraubt,  indem  der  göttliche  Räuber 
ihn  austrinkt  und  in  seinem  Bauche  mitbringt  —  in  seiner  barbarischen 
Roheit  gewiß  ein  alter  Zug. 

Auf  andere  Übereinstimmungen  wie  die  drei  Tränke  des  Meths  mit 
den  —  bei  anderer  Gelegenheit!  —  von  Indra  ausgetrunkenen  drei  Kufen 
Soma5)  vermag  ich  kein  Gewicht  zu  legen.  Aber  auch  bei  jenen  drei 
Punkten  bleiben  noch  immer  Bedenken.  In  dem  indischen  Bericht  ist  der 
Trunk  selbst  im  Berg  verschlossen,  d.  h.  der  Regen  in  der  Wolke;  in  dem 
eddischen  ist  es  die  Jungfrau,  die  ihn  behütet  —  das  häufige  Sagenmotiv 
von  der  im  Berge  eingeschlossenen  Frau 6),  das  sich  mit  jenem  nicht  völlig 
deckt:  soweit  es  mythisch  ist,  scheint  es  die  Sonnenjungfrau  zu  meinen.  — 
Ferner  raubt  Odin  nicht,  wie  gewöhnlich  angegeben  wird,  in  Adlergestalt, 
sondern  in  Schlangengestalt,  d.  h.  in  einer  Gestalt,  in  der  er  durch  das 
Bohrloch  kriechen  kann  —  wie  Loki  als  Fliege  oder  Floh  zu  der  ein- 
geschlossenen Freyja  kommt7).  Er  flieht  nur  in  Adlergestalt,  d.  h.  als 
schneller  Vogel  und  wird  von  Suttung  in  Adlergestalt  verfolgt  —  eine 
Dublette  zu  Thjäzis  Adlergestalt  in  der  Idunfabel 8),  ein  altes  Märchenmotiv. 
Kann  das  wirklich  ein  alter  Zug  sein?  —  Anderseits  bemerkt  Macdon  eil9), 


x)  Odin,  Stuttgart  1855,  S-  49;  mit  der  berühmten  Gleichsetzung  von  alt- 
nordischem Kvasir  mit  deutschem  Käse  und  russischem  Quas  —  wobei  noch 
außerdem  Kvasir  »Ausdruck  der  absoluten  Harmonie«  sein  soll! 

2)  Nur  den  Kern  hält  er  für  echt  und  alt,  S.  133. 

3)  Wie  Gylf.  cap.  4:  Gering  S.  356.  —  Macdonell  (S.  52)  scheint  es  für 
die  ältere  Fassung  zu  halten,  daß  Indras  Adler,  der  Blitz,  den  Trank  (das  Amrta) 
holt;  doch  da  es  sich  um  einen  sicher  elementarischen  Mythus  handelt  (ebd.  S.  62), 
ist  die  Vogelgestalt  des  Naturgeistes  wohl  sicher  primitiver  als  der  Adler,  der 
bloß  das  Attribut  eines  Gottes  ist. 

4)  S.  135  und  130. 

5)  Kuhn  S.  131. 

6)  Kuhn  S.  135. 

7)  Vgl.  o.  S.  222. 

8)  Brag.  cap.  2:  Gering  S.  353;  cap.  4  ebd.  S.  356. 

9)  S.  152. 


264  Viertes  Kapitel. 

daß  dieser  Adler  (oder  Falke)  die  einzige  Verwendung  eines  Vogels  im 
Veda  darstellte ;  das  macht  doch  auch  bedenklich,  obwohl  sogar  v.  d.  Leyen, 
sonst  so  märchenfreudig,  dies  für  einen  uralten  indogermanischen 
Mythus  hält1). 

Neben  dem  Magenraub  scheint  früh  ein  (indischer)  Becher  oder  (alt- 
nordischer) Kessel  verwandt  zu  sein;  Odrerir  selbst  (»der  Trank,  der  das 
Altern  verhindert«)2)  bezeichnet  bald  den  Trank3),  bald  den  Kessel4).  Und 
für  das  Alter  des  Kesselraubs  spricht  neben  eddischen  Analogien  (Hymiskv.) 
und  der  durch  Eigennamen  verbürgten  Heiligkeit  des  Mischgefäßes  im 
Norden  auch  der  finnische  Mythus  von  Sampo. 

Man  sieht  —  wo  man  genauer  hintastet,  weicht  der  Boden  unter  den 
Füßen!  Übrig  bleibt  schließlich  nur  ein  indogermanischer  Mythus  (oder 
ein  Schema  indogermanischer  Mythen),  wonach  ein  Gott  den  Zaubertrank 
aus  einem  Versteck  holt  —  gerade  wie  sonst  andere  Schätze  (Brisingamen, 
Iduns  Äpfel)  geholt  werden.  Dieser  Mythus  braucht  mit  Indra  nicht  von 
Anfang  an  verbunden  gewesen  zu  sein  und  ward  auf  ihn  vielleicht  nur 
übertragen,  weil  er  der  Soma-Gott  par  excellence  ist5).  Er  gehörte  zu 
Odin  gewiß  nicht  von  Anfang  an,  da  keine  seiner  Grundfunktionen  zu 
dieser  Gewinnung  des  Zaubertranks  in  Beziehung  steht.  (Anders  wäre  es, 
wenn  er,  wie  v.  d.  Leyen  will,  vor  allem  Zaubergott  wäre.)  Ursprünglich 
ist  es  gewiß  ein  Elementarmythus  und  von  Naturgeistern  getragen. 

Odin  hätte  ja  einfach  wie  Loki  zu  Freyja  dringen  und  wie  Indra  den 
Trank  holen  können.  Aber  die  Liebhaberei  einer  bestimmten  Epoche  für 
Liebesfabeln  der  Götter  (vgl.  das  Netz  des  Hephaistos  in  der  Odyssee !)  erweitert 
seine  Fahrt  um  ein  Liebesabenteuer.  Es  wird  auf  Odin,  wie  der  Mythus 
vom  geraubten  Zaubertrank,  so  auch  ein  weitverbreitetes  novellistisches 
Motiv  von  der  betrogenen  Retterin  übertragen:  eine  Jungfrau  hilft 
einem  Gott  oder  Helden  aus  größter  Gefahr  zu  einem  wunderbaren  Schatz, 
und  wird  von  ihm  später  grausam  verlassen.  (Es  kann  als  Nachgeschichte 
noch  eine  Rache  angehängt  werden  (wie  in  der  Medeafabel),  die  dann  — 
wie  Kriemhilds  Rache  —  späteren  Generationen  zur  Hauptsache  wird; 
oder  die  Fabel  wird  ins  Versöhnliche  umgebogen:  so  gehören  vielleicht 
auch  die  Legenden  von  Ariadne  und  Psyche  in  diesen  Zusammenhang.) 
Diese   Liebesgeschichte,   ein   Gegenstück   zu   der   von  Billings  Tochter6), 


1)  Märchen  S.  54. 

2)  Nach  Bu gge. 

3)  Häv.  Str.  106.  —  Brag.  cap.  3—4:  Gering  S.  355. 

4)  Gering  S.  99,  3.  —  Ganz  moderne  sexualpathologische  Erklärung  der 
Prometheusmythen  bei  Abraham  Traum  und  Mythus,  Leipzig  1909,  S.  30 f., 
56  f.,  61  f. 

5)  Vgl.  Macdonell  S.  56. 

6)  Häv.  Str.  95  f. 


§  17.    Hauptgötter.  265 

in  der  ein  Mägdelein  den  Gott  nasführet,  wird  den  Fahrenden  das  Inter- 
essanteste. So  erzählen  sie,  wie  Gunnlöd  den  Meth  dem  Gott  überliefert, 
der  sie  dafür  sitzen  läßt  —  ein  Motiv,  das  aus  täglicher  Erfahrung  immer 
wieder  geschöpft  werden  konnte1). 

Und  wie  an  die  Gewinnung,  so  heften  sich  wieder  an  ihre  Vor- 
geschichte und  Nachgeschichte  allerlei  in  der  Luft  flatternde  Motive,  deren 
Märchenhaftigkeit  schon  Kuhn  zugab2):  von  dem  Knecht,  um  dessen 
Wetzstein  die  anderen  sich  die  Hälse  durchschneiden8);  von  der  Lohn- 
forderung für  die  Arbeit  mit  neun  Knechtskräften,  und,  wie  schon  er- 
wähnt, von  dem  Schlüpfen  durchs  Schlüsselloch  und  dem  Wettfliegen  der 
beiden  Adler.  —  Der  Bohrer  mit  dem  appellativischen  Namen  Rati  »der 
Nager«  4)  hat  gewiß  auch  noch  irgendeine  märchenhafte  Vorgeschichte  wie 
so  viele  wunderbare  Werkzeuge.     Andere  Züge6)  übergehe  ich. 

Wir  glauben  also  etwa  folgende  Geschichte  des  Mythus  vom 
Zaubertrank  annehmen  zu  sollen:  erstens  indogermanischer  Mythus 
vom  Raub  des  Göttertrankes;  zweitens  der  Opfertrank  der  Götter  wird 
zum  Begeisterungstran fc  der  Zauberer  —  eine  Vorstellung,  die  noch  nach- 
zuleben scheint,  wenn  ein  abgesprengtes  Stück  der  Odrerir-Legende 6)  mit 
der  Runenfindung  kombiniert  ist.  Von  hier  stammt  die  bunte  Mischung 
der  Flüssigkeiten.  Die  folkloristisehe  Erklärung  ging  hier  irre:  weil  diese 
Bestandteile  —  Speichel,  Blut,  Honig  —  an  sich  alle  mythologische  Requi- 
siten sind  und  zu  den  primitiven  Zaubermitteln  gehören  7),  hielt  man  auch 
dies  Konglomerat  für  alt.  Aber  solches  Zusammengießen  und  Zusammen- 
backen aus  altem  Bauschutt  ist  für  die  Epochen  der  archaisierenden  Mythen - 
fabrikation  bezeichnend8). 

Der  göttliche  Begeisterungstrank  wird   drittens   von  dem  Dichter  in 


J)  So  machte  im  18.  Jahrhundert  die  Geschichte  von  Inkle  und  Yariko  großes 
Aufsehen:  ein  englischer  Offizier  sollte  seine  Lebensretterin,  eine  Indianerin,  als 
Sklavin  verkauft  haben.  Aus  den  englischen  Wochenschriften  drang  der  Stoff 
nach  Frankreich  und  Deutschland:  Geliert  dichtete  ihn  in  eine  moralische  Er- 
zählung um,  der  junge  Goethe  wollte  ihn  dramatisieren.  —  Eine  wirkliche  Tat- 
sache scheint  zugrunde  zu  liegen. 

2)  Golther  S.  354  und  bei  v.  d.  Leyen  S.  54f. 

3)  Vgl.  die  Erzählung  vom  Wettmäher  Lityerses  Roschers  Lexikon  2,  2,  2066 
(Crusius). 

4)  Brag.  cap.  4:  Gering  S.  356. 

5)  Vgl.  v.  d.  Leyen  a.  a.  O. 

6)  Häv.  Str.  140. 

7)  Vgl.  z.  B.  Wundt,  Völkerpsychologie  2,  2,  18 f. 

8)  Man  vgl.  z.  B.  die  Geschiente  von  Orions  Erzeugung,  auf  die  zu  Kwasir 
J.  Grimm  hinwies  (Golther  S.  353):  er  wird  aus  dem  Wasser  der  Götter  und 
dem  Staub  der  Hütte  erzeugt  —  auch  ist  er  so  recht  eine  Spottgeburt  von 
Dreck  und  —  Wasser.  Die  Fabel  ist  wohl  etymologisch  zu  erklären  (ebd. 
Anm.  2). 


266  Viertes  Kapitel. 

»gelehrter«  Weise1)  auf  den  Dichtermeth  umgedeutet.  Ein  allegorischer 
Grundgedanke  scheint  den  Kern  zu  bilden;  zum  Dichter  gehört  göttliche 
Weisheit  —  Herzensblut  —  Süße;  so  kommen  der  Mischkrater  — 
Kvasirs  Blut  —  der  Honig  zusammen2). 

Viertens:  Odin  wird  zum  Prometheus  dieses  Feuertranks.  Deshalb 
wird  auf  ihn  die  Fabel  von  der  betrogenen  Helferin  übertragen  oder, 
wenn  das  schon  früher  geschehen  war,  wird  sie  in  diesen  Kontext  ge- 
bracht; und  natürlich  ist  die  Geliebte  des  Gottes  eine  Riesentochter  wie 
Freys  Gerd:  so  hat  sie  auch  das  Dumm-Gutmütige  mancher  Riesen. 

Märchen  von  dem  Riesen,  den  die  Zwerge  ertränken,  von  Odins 
Dienst8),  von  Verwandlungen  in  Schlange  und  Adler  schließen  sich 
endlich  an. 

Das  scheint  mir  ungefähr  die  Literaturgeschichte  von  Suttungs  Metru 
Sie  ist  kompliziert,  aber  doch  noch  viel  einfacher  als  die  Herstellung  des 
Tranks,  der,  aus  drei  Destillaten  zubereitet,  durch  3  +  1  Hände  geht4): 
Götter  —  Zwerge  —  Riesen  —  Odin  allein ;  und  zwar  unter  Anwendung  von: 
erstens  Weisheit  (bei  der  Versöhnung:  Anknüpfung  an  den  Wanenkrieg); 
zweitens  Gewalt  (der  Zwerge);  drittens  Zauber  (der  Mühlstein);  viertens 
List  (Odin  bei  Gunlöd).  So  ist  der  ganze  Mythus  zusammengebraut,  mit 
blutigem  Schweiß;  nun  hat  der  Zaubertrank  alle  Elemente,  durch  die 
die  berufsstolzen  Sänger  die  Wunderkraft  ihrer  Dichtung  motivieren 
können!  — 

Immer  mehr  an  Macht  gewachsen5),  wird  Odin  schließlich  fast 
henotheistisch  zum  Allvater,  Alfadir,  Aldafadir6),  Veratyr,  Gott  der 
Männer7).  Einen  christlichen  Einfluß  bei  dieser  monarchischen  Zuspitzung 
zu  sehen,  ist  nicht  erforderlich :  auch  bei  den  Indern  und  sonst  zeigt  sich 
diese  Tendenz.  Bei  den  Benennungen  aber  mag  das  christliche  Muster 
mitgewirkt  haben. 

Von  hier  aus  wird  er  auch  Schöpfer  der  Menschen8)  und  der 
Welt9),  worüber  in  dem  Kapitel  »Kosmogonie«  zu  handeln  ist.  — 

Bei  der  Betrachtung  der  Erscheinung,  bei  der  Prüfung  der  Zeugnisse, 
bei  der  Interpretation  der  Entwicklung  ergab  sich  überall  dasselbe  Bild: 
eine   leidenschaftliche,   aber  sich   selbst  weise  zähmende   Herrschernatur, 


')  Golther  a.  a.  O. 

2)  Ähnlich  die  Bestandteile  des  —  wirklichen  —  Biers  im  Kalewala:  J.  Grimm  , 
Kl.  Sehr.  2,  92. 

3)  Vgl.  o.  S.  18  über  die  Mythen  vom  dienenden  Gott. 

4)  Ähnlich  wie  Gusts  Gold,  Reg.  Str.  5. 

5)  Häv.  Str.  141. 

6)  Vgl.  Freys  Benennung  als  Weltgott. 

7)  Mogk  S.  346. 

8)  Vol.  Str.  18. 

9)  Ebd.  Str.  4;  vgl.  Mogk  a.  a.  O. 


§  17.    Hauptgötter.  267 

mehr  auf  geistige  als  auf  körperliche  Kraft  gestellt,  mehr  Ehrfurcht  als 
Liebe  erweckend  —  das  ist  Wodan.  Ganz  individuell  steht  seine  Gestalt 
unter  denen  der  Götter,  fast  wie  eine  menschliche  Persönlichkeit:  keines- 
wegs ein  idealer  Charakter,  sondern  launisch,  hinterhältig,  den  Weibern 
geneigt  bis  zur  Schwäche,  rühm-  und  spottsüchtig;  aber  ein  überlegener 
Geist,  immer  tätig  im  Dienst  seiner  Aufgabe,  strengster  Arbeit  fähig, 
herrschgewaltig  und  siegesbewußt.  So  haben  die  Germanen  allmählich 
das  Bild  ihres  höchsten  Gottes  herausgearbeitet.  Ein  weltschmerzlicher 
Ton  klingt  aus  den  Bekenntnissen  der  Häv.,  eine  charakteristische  Mischung 
von  Scheu  und  Vertraulichkeit  aus  den  Zeugnissen  seiner  Verehrer.  Ehr- 
lichen Haß  konnte  er  wohl  so  gut  erwecken  wie  unbedingte  Hingabe.  — 
Den  freien  Bauern  auf  Island  blieb  er  fremd,  den  Fürsten,  Heerführern, 
Sängern  ward  er  zum  Hausgott  und  Herzensfreund.  Sieht  man  die  großen 
Gestalten  typischer  Deutscher  an,  so  mag  man  sich  hier  an  Luther  (in  der 
verhaltenen  Leidenschaftlichkeit),  dort  an  Friedrich  den  Großen  (in  seiner 
harten  Regententätigkeit)  oder  an  Bismarck  (der  beides  vereint)  erinnert 
fühlen;  auch  der  Humor  der  großen  Deutschen  fehlt  dem  Erzähler  der 
Liebesabenteuer  so  wenig  wie  die  Resignation.  Aus  primitivsten  Ansätzen 
ist  im  Laufe  der  Jahrhunderte  von  einem  verehrungsvollen  Volk  eine 
Göttergestalt  herausgemeißelt  worden,  in  der  der  Germane  sich  selbst  er- 
kennen konnte,  wie  der  Hellene  in  Apollon,  der  Inder  in  Indra. 

Craigie x)  meint,  wo  in  den  Mythen  Odin  mit  Christus  um  die  Seelen 
kämpft,  klinge  das  mehr  legendarisch  —  wo  es  Thor  tut,  volkstümlicher. 
Das  mag  wohl  sein;  denn  die  sich  von  Odin  trennten,  waren  nicht  ein- 
fache Leute  aus  dem  Volk:  es  waren  die  führenden  Geister.  — 

Ich  wiederhole2)  die  treffliche  Charakteristik  des  Hyndluljöds8): 

Laßt  uns  Heervater  bitten,        seine  Huld  zu  gewähren, 

Der  gern  dem  Gefolge        sein  Gold  spendet; 

Dem  Hermod  gab  er        Helm  und  Panzer, 

Ein  schneidiges  Schwert        schenkt  er  dem  Sigmund. 

Dem  einen  gibt  Sieg  er,        dem  andern  Schätze, 
Weisheit  vielen,        und  gewandte  Rede; 
Dem  Seemann  Fahrwind,        dem  Sänger  Dichtkunst, 
Männliche  Tatkraft        manchem  Helden.  — 

Wir  haben  die  Entwicklung  seiner  Funktionen  und  die  damit  un- 
mittelbar verbundenen  Mythen  im  Zusammenhang  behandelt;  wie  gewöhn- 
lich wenden  wir  uns  jetzt  der  weiteren  Legendenbildung  zu. 
Doch  ist  hier  ein  Glied  derselben  spezieller  Prüfung  bedürftig:  der  Sitz» 
das  Heim  des  Gottes. 


*)  Religion  of  Ancient  Scandinavia,  London  1906,  S.  10. 

2)  Mit  Golther  S.  357. 

3)  Hyndl.  Str.  2. 


268  Viertes  Kapitel. 

Der  Sturmgott  hat  sein  Heim  in  den  Bergen  l),  der  Heimat  der  Wind- 
götter. Er  nennt  sich  selbst2)  den  »Alten  vom  Berge«  — wie  nach  Jahr- 
hunderten das  Haupt  der  Assassi nen  sich  wieder  nennen  sollte!  Er  heißt 
auch  »Felsengott«;  und  Wodansberge  sind  über  ganz  Deutschland,  Eng- 
land, Skandinavien  verbreitet3).  —  Mag  der  Dämon  immerhin  im  Gipfel 
großer  hochbelaubter  Bäume  erscheinen  —  sein  eigentliches  Heim  sind 
die  Berge,  aus  denen  er  plötzlich  stürmend  hervorbricht. 

Aus  diesem  Geisterversammlungsort,  wo  der  Winddämon  mit  den 
Totengeistern4)  haust,  entwickelt  sich  Valhöll,  das  Totenreich5)  —  zu- 
nächst also  als  allgemeines  Heim  der  ruhelosen  Geister 6).  Nachdem  aber 
um  den  Schlachtengott  eine  besondere  Garde  der  Speertoten  gebildet  war 
wird  dies  Heim  für  sie  reserviert  und  ganz  dem  Odin  zugeeignet:  die 
Totenhalle  wird  nach  dem  Muster  seiner  Tempel 7)  stilisiert  mit  goldenem 
Schmuck,  mit  Speeren  und  Schilden  an  den  Wänden,  Brünnen  auf  den 
Bänken,  einem  Wolf  am  westlichen  Tor  und  darüber  ein  Adler  —  seine 
heiligen  Tiere  als  Hausmarke  am  Tor,  Votivgaben  der  Krieger  rings- 
umher8). 

Weshalb  das  Heim  540  Tore  hat9),  weiß  ich  nicht  zu  erklären.  Neun 
ist  Odins  Zahl;  aber  was  bedeutet  9  x  60?  zumal  60  keine  heilige  Zahl 
ergibt10).  Ebensowenig  ist  die  Zahl  der  800  Einherier11)  zu  erklären  oder 
mit  der  der  Tore  in  Obereinstimmung  zu  bringen.  (Daß  Bilskirnir 12) 
540  Räume  hat,  wie  Valhöll  soviel  Tore,  ist  natürlich  nur  unverständige 
Nachbildung.) 

Es  ist  wohl  das  älteste  unter  den  »Heimen«  der  Götter,  die  die 
Grimnismäl  kodifizieren.  Hier  leben  die  Einherier,  die  Helden,  und  werden 
von  den  Walküren  bedient13),  Wundertiere  märchenhafter  Natur  stehen 
ihnen  14)  zur  Verfügung.  Es  ist  das  märchenhafte  Gemälde  eines  heroischen 
Schlaraffenlandes   (denn   auch    der   ewige  Kampf   der  Unsterblichen  ist  ja 


x)  Mogk  S.  336,  Golther  S.  289. 

2)  Reg.  Str.  18. 

3)  Myth.  1,  128f.;  Golther  S.  297. 

4)  Siehe  o.  S.  82. 

5)  Golther  S.  289f.,  Meyer  S.  292f. 

6)  Vgl.  Mogk  S.  339. 

7)  Grim.  Str.  8  f. 

8)  Zschr.  f.  d.  Phil.  38,  175. 

9)  Grim.  Str.  23;  Gylf.  cap.  40:  Gering  S.  331. 
10)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  86 f. 

u)  Str.  24. 

12)  Schullerus:   Bestreitung  des  echtgermanischen  Ursprungs  des  Valholl- 
glaubens  (PBB.  12,  122f.)  hat  Hoffory  (Eddastudien  S.  126 f.)  siegreich  widerlegt. 
la)  Chadwick  S.  47. 
14)  Grim.  Str.  18;  vgl.  Gylf.  cap.  38:  Gering  S.  330. 


§  17.    Hauptgötter.  269 

nur  Sport),  wie  schon  der  Sterbende  »bei  Odin  zu  Gast«  sein  will1). 
Wie  in  Mohameds  Paradies  sind  die  Einzelheiten  realistisch  ausgemalt: 
Odin  weckt  die  Einherier,  um  die  Bänke  mit  Polster  zu  belegen  und  die 
Bierkrüge  zu  scheuern,  und  läßt  die  Wunschmädchen  Wein  auftragen2); 
nur  das  erotische  Element  scheint  gänzlich  zu  fehlen. 

Daneben  wird  dem  Hauptgott  noch  Sökkvabekk3)  im  gemeinschaft- 
lichen Besitz  mit  Saga  zugeschrieben ;  Gladsheim,  Welt  der  Freude 4)  ist 
vielleicht  ursprünglich  der  heilige  Bezirk  um  Walhalla,  dann  aber5)  selbst 
als  goldener  Saal  aufgefaßt,  als  Gegenstück  zu  dem  silbernen  Valaskjälf% 
in  dem  sich  der  Hochsitz  Hlidskjälf1)  befinden  soll;  doch  ist  Valaskjälf 
wohl  selbst  erst  aus  Valhöll  und  Hlidskjälf  aufgebaut. 

So  ist  der  Gott  mit  Landbesitz  reichlich  ausgestattet  wie  ein  deutscher 
Fürst  des  Mittelalters ;  doch  nicht  nur  in  Valhöll  oder  auf  der  allgemeinen 
Warte  Hlidskjälf  sieht  ihn  die  Phantasie  des  Volkes.  Denn  zumeist  ist  auch 
er  auf  der  Reise;  und  an  seine  Wanderungen  knüpfen  sich  weitere 
Legenden. 

Wir  können  sie  in  drei  Gruppen  teilen :  Liebesabenteuer  —  Prüfungen, 
die  er  durchmacht  —  Prüfungen,  die  er  vornimmt. 

Odins  Liebesabenteuer8)  sind  an  Buntheit  nur  mit  denen  des 
Zeus  zu  vergleichen.  Wenn  aber  der  Don  Juan  des  Olymps  immer  sieg- 
reich ist,  so  ist  Odin  bald  glücklich,  indem  er  überlistet9),  bald  erfährt  er 
Demütigung  wie  bei  Billings  Tochter 10).  Es  ist  kein  symbolischer  Mythus, 
sondern  an  dem  höchsten  Gott  wird  der  Kirke-  Zauber  der  Verliebtheit 
illustriert,  gerade  wie  das  Mittelalter  ihn  an  Aristoteles,  der  die  Geliebte 
auf  seinem  Rücken  reiten  läßt,  darstellt.  Der  Gott  der  Weisheit  wird  von 
einem  namenlosen  Mädchen  gefesselt,  die  ihn  von  bewaffneten  Kriegern 
oder  von  einer  ans  Bett  gebundenen  Hündin  erwarten  läßt  —  alte  Liebes- 
sch wanke,  wie  sie  Ulrich  von  Liechtenstein  oder  Henricus  der  Schreiber 
im  Korb  (im  Volkslied)  oder  Falstaff  wieder  erleben.  —  Auch  im  Härb. 
wird  Odin  n)  als  der  gewissenlose  Lebemann  hingestellt  und  Thors  Worte: 
»Da  hast  du  mit  falschem  Herzen  die  gute  Gabe  gelohnet«  12)  passen  genau 


x)  Golther  S.  327;  schon  in  den  Eiriksmäl  ebd.  S.  317. 

2)  Ebd. 

3)  Grim.  Str.  7.  4)  Str.  8. 

8)  Gylf.  cap.  14:  Gering  S.  307. 

6)  Grim.  Str.  6. 

7)  Gylf.  cap.  17:  Gering  S.  313. 
?)  Golther  S.  336. 

9)  Gunnlöd.  Häv.  Str.  102 f.;  Golther  S.  337;  siehe  o.  S.  263. 

10)  Häv.  Str.  95  f. 

11)  Vgl.  Golther  S.  337. 

12)  Härb.  Str.  21. 


270  Drittes  Kapitel. 

auf  sein  Verhältnis  zu  Gunnlöd.  Ein  gewisser  Einfluß  des  höfischen 
Liebeslebens  auf  dasjenige  des  Hofgottes  wird  nicht  abzustreiten  sein. 

Die  Demütigung  (zweimaliger  Backenstreich)  und  der  Sieg  durch  List 
(und  Zauber)  sind  in  dem  Roman  von  Odin  und  Rinda  verbunden1). 
Daß  aber  Rinda  mit  Billings  Tochter  identisch  sei,  ist  nicht  anzunehmen : 
dann  dürfte  Odin  den  schließlich  errungenen  Triumph  nicht  verschweigen. 
Ebensowenig  vermag  ich  v.  d.  Leyens  Kombination  mit  Frey  und  Gerd2) 
mir  anzueignen.  Rindas  Geschichte  ist  ein  heroischer  Roman  von  langer 
Werbung,  Verkleidung  als  Goldschmied3),  Verkleidung  als  Mädchen  (wie 
in  der  Wolfdietrichsage),  widerwärtiger  Vergewaltigung.  Doch  spielen 
mythische  Züge  mit:  Erzeugung  des  Rächers,  Zauberrunen  (wie  in 
Skirn.). 

Mit  Recht  lehnt  Golther4)  eine  mythische  Ausdeutung  ab.  Auf  den 
Liebling  der  Dichterphantasie  werden  Romanzüge  übertragen :  er  fängt  sich 
in  der  Schlinge  der  Billingstochter  wie  Ares  im  Netz  des  Hephaistos,  er 
überwindet  allen  Widerstand  wie  Zeus  bei  Danae  (wo  noch  eher  ein 
mythischer  Hintergrund  denkbar  ist).  — 

Odins  Verbannung5)  wird  mit  der  Rinda-Fabel  zusammengebracht, 
indem  diese  ätiologisch  verwandt  wird :  die  Götter  verstoßen  Odin  wegen 
unwürdigen  Benehmens.  Daneben  eine  ätiologische  Dublette:  Odin 
geht  aus  Scham  über  Friggs  Ehebruch6).  Man  wird  sich  hier  zu  der 
religionsgeschichtlichen  Deutung  bekennen  müssen :  der  eindringende  Gott 
wird  von  Anhängern  der  älteren  Kulte  zurückgedrängt,  seine  Verehrung 
vielleicht  auf  Jahre  verhindert7);  vielleicht  auch  sein  Götzenbild  versteckt 
oder  vergraben  8).  — 

Einen  Mythus  von  Odins  siegreicher  Fahrt  in  das  »Pelzland«,  wo  er 
die  finnischen  Zauberer  besiegt,  konstruierten  Detter9)  und  Boer10);  doch 


*)  Saxo  3,  126f.;  Golther  S.  306. 

2)  Sagenbuch  S.  137. 

3)  Zu  diesem  Motiv  vgl.  Panzer,  Hilde-Kudrun,  S.  268 f. 

4)  S.  338. 

5)  Golther  S.  306f.,  Meyer  S.  376. 
6j  Golther  S.  307. 

7)  So  auch  Golther  S.  308. 

8)  v.  d.  Leyen  (Sagenbuch  S.  130,  vgl.  103)  führt  den  Mythus  auf  den 
älteren  vom  Tod  des  Sonnengottes  zurück.  Eine  naturmythologische  Deutung 
auf  »das  uralte  Motiv  vom  Auszug  und  der  Wiederkehr  des  Gottes  des  Natur- 
lebens«, wie  sie  schon  bei  den  Irrfahrten  des  Odysseus  Ed.  Meyer  (Hermes 
30,  241  f.;  vgl.  Solmsen,  Ztschr.  f.  vgl.  Sprachf.  42,  229)  gegeben  hat,  ist  abzu- 
lehnen, da  eben  nichts  bei  Wodan  auf  Altertümlichkeit  solcher  Mythen  deutet. 
Über  den  letzten  Kampf  siehe  u. 

e)  Ztschr.  f.  d.  Alt.  32,  449. 
10)  Ark.  f.  nord.  Fil.  8,  105. 


§  17.    Hauptgötter.  271 

kann  dieser  Mythus  von  einem  Mythus  durch  Heusler  und  Ranisch x) 
für  erledigt  gelten. 

Auch  sonst  hat  der  Gott  viele  Prüfungen  zu  bestehen:  er  gibt 
sein  Auge  zum  Pfand,  wird  bei  Geirröd  gefoltert2),  hat  mit  Frigg  zu 
streiten.  Auch  hier  tritt  die  starke  Vermenschlichung  hervor:  auf  sein 
Leiden  wies  schon  der  Mythus  von  der  Runenfindung. 

Odin  selbst  prüft  besonders  die  jungen  Könige3)  in  mannigfacher 
Weise,  zumeist  auf  Tüchtigkeit  im  Kriege,  wozu  eigentlich  auch  die 
werbende  mute  des  Königs  gehört;  deshalb  wird  Geirröd  auf  Geiz 
geprüft. 

Weitere  Abenteuer  deutet  das  Härbardslied  an;  so  die  Ober- 
listung  eines  Riesen  Hiebard 4),  der  ihm  den  Zauberzweig  gab  und  dem  er 
dafür  den  Verstand  nahm ;  oder  sollte  hier  ein  Parallel mythus  zur  Suttung- 
mythe  vorliegen? 

Ober  Odins  Verwandtschaften5)  ist  später  zu  handeln.  Alt  und 
mythisch  wichtig  ist  nur  die  Ehe  mit  Frigg. 

Frig-g-6). 

Frigg  ist  die  einzige  sicher  gemeingermanische  Göttin  7) ,  aber  keine 
indogermanische  Gottheit.  Germanisch  Frija  (Merseburger  Zauberspruch), 
althochdeutsch  Fr  ja,  altnordisch  Frigg,  »die  Geliebte«,  »das  Weib« 
schlechthin  =  priyä ,  sanskritisch  Gattin  8) ,  braucht  nicht  von  Anbeginn 
Wodans  Gemahlin  gewesen  zu  sein9).  Indessen  ist  eine  elementare  Grund- 
bedeutung schwer  zu  ermitteln ;  und  wir  glauben  heute,  daß  ebensowenig 
jede  Gottheit  auf  einen  Naturmythus  zurückgeführt  zu  werden  braucht, 
wie  jeder  Kasus  auf  eine  lokale  Grundbedeutung.  —  Müllenhoff  hält  Frigg 
für  eine  Lichtgöttin ;  aber  weder  daß  sie  die  Mutter  Balders  ist  (und  muß 
wirklich  die  Mutter  eines  Lichtgottes  eine  Lichtgöttin  sein?)  noch  daß  ihr 
Heim  Fensalir  »die  Meersäle«  heißt,  sind  notwendig  alte  Züge.  Auch 
daß  sie  eine  alte  Erdgöttin  sei,  hat  man  vermutet lü),  als  Erde  also  dem 
i Himmel  gesellt;  aber  daß  Odin  ein  Himmelsgott  sei,  glaubten  wir  eben 
ablehnen  zu  müssen.   In  Friggs  Mythologie  sehe  ich  nirgends  elementarische 

»)  Eddica  minora  S.  LXVIII. 
2)  Grim.  3)  Vgl.  o.  S.  254. 

4)  Härb.  Str.  20. 

5)  Golther  S.  355;  vgl.  allgemein  Meyer  S.  381. 

6)  Müllenhoff,  Zschr.  f.  d.  Alt.  30,  217;  Golther  S.  306f.  430f.;  Mogk 
:S.  369;  Meyer  S.  4131 

7)  Mogk  S.  312,  anders  Much  (Himmelsgott  S.  24 f.),  dessen  urgermanische 
Bellona  mir  nicht  bewiesen  scheint. 

8)  Mogk  S.  369,  vgl.  ebd.  S.  358,  Golther  S.  421  Anm. 

9)  Nach  Müllenhoff  a.  a.  O. 
10)  Ebd.  S.  249. 


272  Viertes  Kapitel. 

Züge.  Vielmehr  scheint  mir  mit  jener  Deutung  des  Namens,  sie  sei  »die 
Gemahlin«,  »die  Geliebte«  schlechtweg,  der  Kern  getroffen:  alles  deutet 
darauf,  daß  sie  von  Haus  aus  die  Schutzgöttin  der  Frauen  (im 
Gegensatz  zu  den  spezifisch  »männischen«  Gottheiten,  Tyr,  Odin  dem 
Veratyry  Frey  dem  veraldar  god)  gewesen  ist.  Dafür  zeugt  der  Name, 
die  Funktionen,  die  stete  spätere  Verbindung  mit  dem  obersten  Gott. 
Wir  gehen  von  dieser  Beziehung  aus,  die  für  ihren  Mythenkreis  allein 
produktiv  ist. 

Ist  die  Verbindung  mit  Wodan  ursprünglich?  Oberdeutsch 
sind  keine  Spuren  davon  erhalten,  mitteldeutsch  nur  der  Merseburger 
Spruch  *),  in  dem  sie  immerhin  unter  anderen  Gottheiten  in  Wodans  Um- 
gebung erscheint.  Hauptsitz  ihrer  Verehrung  sind  überhaupt  die  Wodan- 
völker. Bei  den  Langobarden  ist  der  Mythus  von  dem  Wettstreit  des  gött- 
lichen Ehepaares  wohl  schon  an  der  unteren  Elbe  entstanden,  wenn  auch 
später  als  die  historischen  Kämpfe  mit  den  Winilern2).  Im  Norden  ist  sie 
immer  mit  Odin  verbunden.  Es  ist  eine  Ehe  wie  die  des  Zeus  mit  Hera: 
bald  glückliche  Gedankengemeinschaft  (Veg),  bald  Zwist  und  List  wie  in 
dem  Langobardenmythus3)  oder  der  Agnar-Sage  (Grimnismäl) 4). 

Ein  alter  Mythus  scheint  sie5)  mit  drei  Göttern  zu  verbinden: 
mit  der  Trias  Odin — Wili — We,  die  freilich  selbst  von  zweifelhaftem 
Alter  ist.  Frigg  war  eben  zu  der  Zeit,  als  man  die  Götter  zu  zählen  und 
zu  ordnen  anfing,  die  einzige  Göttin,  deren  Rang  dem  der  höchsten  Götter 
glich.  Daß  sie  je  dem  Tiuz  gehört  habe6),  ist  unbeweisbar.  Dagegen 
scheint  sie  in  der  schwedischen  Sitte,  den  Donnerstag  zu  heiligen  (man 
spinnt  nicht  und  erwartet  göttlichen  Besuch),  dem  Thor  verbunden:  das 
heißt  helga  Thoregud  och  Frigge,  den  Gott  Thor  und  Frigg  heilig 
halten 7).  Aber  das  bedeutet  wohl  auch  nur  eine  begriffliche  Gemein- 
schaft: Arbeit  in  Haus  und  Hof  unterlassen.  Thor  ist  hier  ursprünglich: 
sonst  gehört  der  Frigg  der  Freitag 8).  Sie  ist  also  mit  Wodan,  Thor,  Tyr 
in  den  Kreis  der  Hauptgottheiten  aufgenommen.  Auch  diese  Obersetzung 
von  dies  Veneris  kam  aus  Niederdeutschland  nach  Skandinavien,  deshalb 
Frjädagr  statt  Friggjardagr. 

Jedenfalls  spricht  dies  alles  für  eine  gewisse  ursprüngliche  Selbständig- 
keit.    Gewiß   ehrte   man  sie,   indem  man  sie  zur  Gattin  des  Hauptgottes 


')  Mogk  S.  369. 

2)  Müllenhoff,  D.  Alt.  2,  97f. 

3)  Meyer  S.  372.  381,  Mogk  S.  369,  Golther  S.  431. 

4)  Vgl.  Golther  S.  431. 

5)  Golther  S.  433  nach  Lok.  Str.  26. 

6)  Müllenhoff,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  30,  217;  Golther  S.  433.  452. 

7)  Mogk  S.  371. 

8)  Golther  S.  429  Anm. 


§  17.   Hauptgötter.  273 

machte  —  es  war,  wie  die  Ehe  des  Zeus,  eine  staatlich-religiöse  Sanktion 
der  Monogamie  — ,  aber  wäre  sie  das  immer  gewesen,  so  hätte  sie  es 
nicht  zu  solcher  Bedeutung  gebracht. 

Ihre  Funktionen  sind  dementsprechend  von  doppelter  Art :  primär 
und  sekundär,  diese  nämlich  aus  der  Verbindung  mit  Odin  abgeleitet. 

Primäre  Funktionen  der  Frauengöttin  sind  Liebe  und  Ehe 
(mit  Einschluß  der  ehelichen  Fruchtbarkeit).  König  Rerir1)  erhält  von 
ihr  Fruchtbarkeit  (wie  sie  Rfg-Heimdall  den  Standesvertretern  schafft)2). 
Das  isländische  elskugras  Liebesgras  heißt  auch  Friggjargras.  Hierher 
gehört  ferner  häusliche  Arbeit  und  häuslicher  Fleiß3).  Der  Gürtel  des 
Orion  heißt  in  Schweden  ihr  Gespinst:  Rocken,  auch  Spindel  der  Frigg4). 
Überhaupt  ist  sie  in  dem  kulturell  führenden  Schweden  besonders  beliebt ; 
in  Norwegen,  dem  am  meisten  »männischen«  der  nordischen  Lande,  sind 
Ortsnamen  nach  Frigg  nicht  nachzuweisen5). 

In  ihren  sekundären  Funktionen  ist  sie  als  Gattin  des  höchsten 
Gottes  die  »trefflichste  der  Göttinnen« ;  aber  überall  einen  Schritt  hinter 
ihm.  Zukunftskundig  wie  er6)  greift  sie  doch  nicht  wie  er  in  die  Ge- 
schicke ein.     Auch  sie  ist  zauberkundig  —  aber  erst  er  heilt7). 

Dennoch  kann  sie  ihn  überlisten:  auf  ihren  schlauen  Rat  hin  ver- 
schaffen sich  die  Langobarden  Sieg  von  dem  Siegesgott8);  durch  ihre 
betrügerische  List  wird  Geirröd  veranlaßt,  den  landfremden  Gast  zu  miß. 
handeln  9)  —  wie  Odin  ja  auch  sonst  von  Frauen  überlistet  wird  (Billings 
Tochter). 

Dies  führt  zu  den  Sagen  von  ihrer  Untreue :  der  wunderlichen  Novelle 
von  dem  Ehebruch  mit  dem  Diener10),  die  vielleicht  die  weibliche  Gier 
nach  Schmuck  ebenso  illustrieren  soll  wie  das  eine  Odinsabenteuer  die 
männliche  Verliebtheit.  Loki11)  und  Saxo12)  werfen  ihr  Buhlerei  vor;  ist 
die  Erzählung,  daß  sie  einst  drei  Göttern  gehörte  (wie  Heimdali  neun 
Mütter  hat),  alt,  so  kann  der  Vorwurf  von  hier  stammen.  Er  paßt  recht 
schlecht  zu  dem  Bild  der  Ehegöttin ;  aber  deshalb  braucht  sie  noch  nicht 13) 


!)  Golther  S.  432. 

2)  Mogk  S.  371. 

3)  Mogk  S.  371. 

4)  Vgl.  auch  oben  (S.  27)  über  die  Heiligung  des  Donnerstags. 

5)  Mogk  S.  371.  —  Im  übrigen  vgl.  u.  über  ihre  Emanationen. 

6)  Lok.  Str.  29,  Golther  S.  430,  Mogk  S.  370. 

7)  Merseburger  Spruch;  Meyer  S.  393. 

8)  Golther  S.  360.  431,  Meyer  S.  372.  381,  Mogk  S.  369. 

9)  Grim. 

10)  Meyer  S.  377,  Golther  S.  306. 
1J)  Lok.  Str.  26. 

12)  Vgl.  Golther  S.  432. 

13)  Mogk  S.  370. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  18 


274  Viertes  Kapitel. 

die  Himmelsgöttin  zu  sein,  die  mit  dem  Bruder  oder  den  Brüdern  des 
Gemahls  während  der  Abwesenheit  der  Sonne  buhlt.  —  Als  Obergöttin 
ist  sie  auch  die  Mutter  Balders,  die  den  Eid  abnimmt  und  Nannas  Kopf- 
tuch empfängt1). 

Spätere  Legenden  fehlen  fast  ganz;  die  Volkssagen  von  Fru 
Frick2)  sind  verdächtig3).  —  Als  Göttin  des  Spinnens  (Arachne!)  und 
wegen  ihrer  Weisheit  wird  sie  später  mit  Minerva  gleichgesetzt.  Nahe 
Berührungen  mit  Freyja4)  und  entferntere  zu  Nerthus5)  und  den  chthonischen 
Göttinnen  Hlödyn  und  Fjörgyn6)  sind  bei  dem  verhältnismäßig  wenig 
ausgeprägten  Charakter  der  Göttinnen  begreiflich.     . 

Ihr  H  e  i  m  Fensalir,  Meersäle 7)  wird  von  Mogk 8)  als  nordgermanisches 
Indizium  aufgefaßt.  Ist  es  aber  überhaupt  sicher,  daß  das  ihr  »Heim« 
ist?  Der  Sammler  der  Grim.  hätte  es  sich  dann  gewiß  nicht  entgehen 
lassen ;  aber  er  scheint  Frigg  (als  Saga)  nach  Sökkvabekk  zu  versetzen. 
Gylf.  Kap.  35 9)  kann  einfach  aus  Vol.  34  gefolgert  sein:  daß  der  Saal 
»überaus  stattlich«  ist,  scheint  eine  verzweifelt  leere  Angabe  gegenüber 
denen,  die  schon  Glitnir  oder  Walaskjälf 10)  betreffen.  Offenbar  bildet 
Friggs  Weh11)  ein  Gegenstück  zu  dem  Sigyns12);  und  wie  diese  im  Hain 
sitzt  an  Lokis  Schmerzenslager,  so  weint  Frigg  in  Fensalir  an  dem  Scheiter- 
haufen Balders.  Dieser  aber  ward  auf  dem  Schiff  errichtet,  das  dann  nach 
alter  Fürstensitte  die  Leiche  ins  Meer  fahren  soll  —  und  dort,  denke  ich, 
in  den  Meersälen,  sitzt  seine  Mutter  und  beweint  an  dem  ins  Meer  hinab- 
gesunkenen Holzstoß  Walhalls  Unglück.  —  Jedenfalls  sehen  wir  sie  in 
Tätigkeit  nur  auf  Hlidskjälf  (Langobarden-  und  Agnarsage). 

Vom  Kult  der  Frigg13)  sind  nur  bekannt  Anrufung,  Heiligung  des 
Donnerstages,  und  Zauber:  dazu  legt  man  die  Wurzel  des  Frigg -Grases 
unter  das  Kopfkissen. 

Zu  ihren  Emanationen  rechnet  Meyer14)  die  Freyja,  die  man15) 
wohl  besser  aus  Frey  ableitet.  Aber  wie  Skirnir  bei  Frey,  sind  bei  Frigg 
»Dienerinnen«,  die  wir  als  selbständig  gemachte  Einzelfunktionen  ansehen 1(J). 


*)  Mogk  S.  370. 

2)  Meyer  S.  424 f. 

3)  Mogk  S.  369,  Golther  S.  329  Anm. 

4)  Siehe  o.;  vgl.  Golther  S.  440,  Meyer  S.  361. 
B)  Mogk  S.  370.  6)  Ebd. 

7)  Golther  S.  431.  8)  S.  371. 

9)  Gering  S.  327;  vgl.  cap.  49  ebd.  S.  343. 
10)  Gylf.  cap.  17:  Gering  S.  312. 
»)  Vol.  Str.  34.  12)  Str.  35. 

1?)  Meyer  S.  417. 
u)  S.  418.  15)  Siehe  o. 

16)  Gylf.  cap.  35:  Gering  S.  326;  Golther  S.  413f.;  Mogk  S.  370;  Meyer 
S.  414. 


§  17.    Hauptgötter.  275 

F  u  1 1  a  x)  ist  im  Merseburger  Spruch  Frias  Schwester,  später 2)  ihre 
Dienerin  und  Botin.  Nach  Gylf.3)  ist  sie  Jungfrau,  geht  mit  flatterndem 
Haar  und  hat  ein  goldenes  Band  um  das  Haupt;  sie  trägt  Friggs  Truhe 
und  bewahrt  ihr  Schuhzeug;  auch  ist  sie  in  ihre  heimlichen  Pläne  ein- 
geweiht. Deshalb  erhält  sie  einen  goldenen  Fingerreif  als  Andenken 
Nannas  4). 

Mythische  Tiefen  sind  hier  schwerlich  zu  suchen.  Die  Schuhe  haben 
vielleicht  rechtssymbolische  Bedeutung 5).  Einfacher  aber  ist  es,  die  Göttin 
eben  als  die  der  Fülle  aufzufassen.  »In  Fulla  wird  die  Göttin  Frija  nach 
ihrer  Reichtum  und  Segen  spendenden  Tätigkeit  persönlich«,  wie  in 
lateinischen  Gottheiten,  Copia,  Abundantia 6).  Es  ist  der  häusliche  Wohl- 
stand in  ihr  verkörpert: 

Sie  mehrt  den  Gewinn 

Mit  ordnendem  Sinn 

Und  füllet  mit  Schätzen  die  duftenden  Laden 

Und  dreht  um  die  schnurrende  Spindel  den  Faden 

Und  sammelt  im  reinlich  geglätteten  Schrein 

Die  schimmernde  Wolle,  den  schneeigten  Lein  . . . 

Lofn7)  erhört  gern  die  Gebete  und  ist  mild;  sie  hat  von  Allvater 
und  Frigg  die  Erlaubnis  erhalten,  Ehen  zwischen  den  Menschen  zustande 
zu  bringen,  denen  vorher  ein  Hindernis  im  Wege  stand;  nach  ihrem 
Namen  heißt  die  Erlaubnis  »lof«  8).  Natürlich  ist  es  umgekehrt.  —  Gering9) 
vergleicht  die  Juno  pronuba,  die  aber  nach  Wissowa10)  nur  dichterische 
Benennung  der  göttlichen  Brautführerin,  der  Juno  Juga,  ist11).  Sie  ist 
Emanation  der  Frigg  als  Göttin  der  Liebenden. 

Sjöfn  (man  beachte  den  Reim  auf  Lofn)  »ist  eifrig  bemüht,  die 
Menschen  zur  Liebe  zu  entflammen,  Männer  sowohl  wie  Frauen«12). 
Die  Gottheiten  der  Stimmungen  und  Leidenschaften  sind  wohl  immer 
jünger  als  die  offizieller  Tätigkeit;  auch  Sjöfn  wird  zu  Lofn  erst  hinzu- 
erfunden sein. 


J)  Golther  S.  431.  432.  435;  Meyer  S.  392.  414.  424;  Mogk  S.370. 
2)  Einl.  zu  Grim. 
8)  cap.  35. 

4)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  346. 

5)  Golther  S.  432. 

6)  Ebd.  S.  435. 

7)  Mogk  S.  371;  Golther  S.  432.  435;  Meyer  S.  414. 

8)  Gering  S.  327. 

9)  a.  a.  O.  ,0)  S.  119. 
n)  Eher  wäre  noch  die  Ehegatten  versöhnende  Viriplaca  (Wissowa  S.  195) 

rergleichbar. 

]2)  Gering  S.  327:  »die  nordische  Venus«;  Golther  S.  435,  Mogk  S.  371, 
/leyer  S.  414. 

18* 


276  Viertes  Kapitel. 

Eir  ist  die  Ärztin  unter  den  Äsen1),  eigentlich  die  Göttin  der  häus- 
lichen Krankenpflege.  Sie  wird  auch2)  mit  einem  Geschwader  anderer 
meist  einsilbiger  Mädchen  zu  Menglöds  Füßen  gesehen ;  jedenfalls  ist  dabei 
an  Friggs  Dienerinnen  gedacht. 

Gnä3)  »wird  von  Frigg  in  ihren  Angelegenheiten  nach  verschiedenen 
Orten  entsendet,  sie  hat  ein  Roß,  das  durch  Luft  und  Meer  zu  schreiten 
vermag  und  Höfvarpnir  (wohl  »der  Hufwerfer«)  heißt«.  Von  einer  ihrer 
Botschaften  muß  ein  Gedicht  gehandelt  haben,  aus  dem  ein  Dialog- 
fragment4) mitgeteilt  wird.  Möglicherweise  spielte  diese  Iris  eine  ähnliche 
Rolle  wie  Skirnir.  In  ihr  den  Regenbogen  zu  sehen,  sind  wir  schwerlich 
berechtigt.     Vielleicht  verkörpert  sie  die  rasche  Aufsicht  der  Herrin. 

Söl  die  Sonne5),  auch  als  Sunna  im  Merseburger  Spruch,  undBil 
die  Mondabnahme,  mit  Hjüki  dem  »Zunehmenden«  als  Mondkinder6)  ge- 
nannt. Bil  ist  wohl  mit  Stnthgunth  der  Wegerkämpferin,  der  Genossin 7) 
im  Merseburger  Spruch  identisch.  Sie  sind  in  dieser  Gesellschaft  wohl 
nicht  rein  elementarisch  zu  verstehen,  sondern  Bil  steht  hier  für  beide  Mond- 
phasen (ab-  und  zunehmenden  Mond),  Sinthgunth  (Klopstocks  »stiller  Ge- 
fährte der  Nacht«)  für  den  Mond,  und  dies  Paar,  Sonne  und  Mond, 
vermutlich  gemeinschaftlich  zum  Ausdruck  der  unvermeidlichen  Arbeit  (der 
»Plackerei  bei  Tag  und  Nacht«,  wie  Frau  Marthe  Schwertlein  klagt). 

Vär8)  hört  auf  die  Eide  und  heimlichen  Abmachungen  der  Menschen, 
der  Männer  wie  der  Frauen.  —  »Vär  ist  auch  weise  und  wißbegierig,  so 
daß  ihr  nichts  verborgen  bleiben  kann«.  Das  Letztere  scheint  etymologische 
Spielerei ;  aber  als  Vertragsgöttin  wird  Vär  schon 9)  bei  der  feierlichen 
Verlobung  angerufen.     Also  die  Göttin  des  Liebesvertrags. 

Vor,  die  Vorsicht,  ist  von  Meyer10)  aus  Vär  abgespalten. 

Syn  11)  »hütet  die  Türen  in  der  Halle  und  schließt  sie  vor  denen,  die 
nicht  hineingehen  sollen.  Auch  ist  sie  bei  den  Thingversammlungen  in 
solchen  Streitsachen  zur  Schützerin  bestellt,  wo  Männer  etwas  zu  leugnen 
haben.  Daher  stammt  die  Redensart :  Syn  ist  vorgeschoben,  wenn  jemand 
leugnet«.  Die  »Ableugnung«  (zu  synja  leugnen)  könnte  eine  hübsche  Gott- 
heit der  häuslichen  Notlüge  sein  (die  heilige  Elisabeth  mit  den  Rosen !)  Doch 


')  Gering  S.  326,  Golther  S.  435,  Meyer  S.  414,  Mogk  S.  371. 

2)  Fjöl.  Str.  38. 

3)  Gering  S.  326,  Mogk  S.  370,  Meyer  S.  415,  Golther  S.  436. 

4)  Etwa  im  Stil  von  Helg.  Hund.  2,  38—39. 
B)  Golther  S.  437,  Meyer  S.  415. 

6)  Gylf.  cap.  11:  Gering  S.  305. 

7)  Mogk  S.  374. 

8)  Gering  S.  327,  Golther  S.  435. 

9)  Thrymskv.  Str.  30. 
10)  S.  414. 

n)  Gering  S.  327,  Golther  S.  436,  Meyer  S.  415. 


§  17.    Hauptgötter.  277 

könnte  auch  die  Obhut  über  die  wirklichen  Türen  ihre  ursprüngliche 
Funktion  sein,  wie  bei  dem  uralten  Janus  der  Römer1);  es  gibt  vielfach 
besondere  türhütende  Gottheiten  2). 

Hl  in3),  die  Schützerin,  »ist  angewiesen,  die  Menschen  zu  schützen, 
die  Frigg  vor  irgendeiner  Gefahr  behüten  will«,  also  etwa  die  Vorsicht, 
auf  die  denn  auch  die  Weisheit  folgt:  Snotra4),  die  Kluge,  «ist  weise 
und  von  feinem  Anstand« ;  die  Gottheit  der  feinen  häuslichen  Sitte  macht 
den  Schluß. 

Sie  sind  wohl  nicht  alle  von  gleicher  Art;  obwohl  die  einfach 
charakterisierenden  Namen  —  fast  alle  von  Snorri  auch  etymologisch  ge- 
deutet —  auf  ein  hohes  Alter  deuten,  wie  die  der  vergleichbaren,  besonders 
römischen  Numina.  —  In  unmittelbarer  Beziehung  zu  Frigg  stehen  ihre 
Dienerin  Fulla,  ihre  Botin  Gnä,  ihre  Beamtinnen  Söf  (zugleich  von  Odin 
bevollmächtigt)  und  Hlin,  ihre  Verwandten  Sol  und  Sinthgunt.  Aber  auch 
die  anderen  haben  meist  ähnliche  Funktionen  und  sind  auf  das  häusliche 
Leben  bezogen  oder  auf  die  Liebe.  Von  jungen  Abstraktionen  im  Stil 
der  Idun 5)  sind 6)  diese  Verkörperungen  realer  Tätigkeiten  voll  zu  unter- 
scheiden7): der  Pflege  von  Kranken  und  Liebeskranken,  der  Obhut  über 
Eide  und  die  häusliche  Ruhe,  der  vorsichtigen  Haltung  und  des  gesitteten 
Benehmens  stehen  sie  vor8).  Die  Reimpaare  verraten  alte  nafnathulur: 
Lofn  und  Sjöfn,  Hlin  und  Syn9). 

Auch  Gefjon  könnte  eine  Emanation  der  Frigg  sein.  Wahr- 
scheinlich aber  ist  sie  die  ursprüngliche  Göttin  desLandgewährens 
(vgl.  die  isländische  Landnäma).     Dafür  spricht  die  »Didosage« 10): 

König  Oylfi  herrschte  über  das  Land,  das  jetzt  Schweden  heißt.  Von  ihm 
wird  erzählt,  daß  er  einem  fahrenden  Weibe  zum  Dank  für  das  Vergnügen,  das 


')  Wissowa  S.  96. 

2)  van  Gennep,  Rites  de  passage,  S.  28. 

3)  Gering  S.  327,  Golther  S.  436,  Meyer  S.  415. 

4)  Ebd. 

6)  Wie  z.  B.  griechisch  Metameleia;  vgl.  Höfer  in  Roschers  Lexikon  2, 
2,  2846;  über  römische  Personifikationen  Deubner  ebd.  3,  2,  2145. 

6)  Gegen  Meyer  S.  415,  Mogk  S.  371;  vgl.  Golther  S.  447. 

7)  Eine  hübsche  allgemeine  Charakteristik  bei  Meyer  (S.  415);  den  ganzen 
Typus  vergleicht  mit  indischen  Verkörperungen  wie  Savitar  v.  N  e  g  e  1  e  i  n  (Germ. 
Wythol.  S.  30).  Indische  Göttinnen  von  ganz  demselben  Typus  spenden  eben- 
falls wie  Fulla  »Überfluß«,  oder  speziell  (Idä)  Fülle  von  Milch  und  Butter: 
'Macdonell  S.  124. 

8)  Man  könnte  lange  Strecken  der  Häv.  unter  ihren  Schutz  stellen:  Häv. 
cStr.  1  unter  Syn,  3—4  unter  Eir,  5  f.  unter  Snotra,  7  unter  Hlin  usw. 

9)  Meyer  S    237.   415;    Golther  S.   446;    Mogk   S.   312.    375;    Much, 
Himmelsgott,  S.  261. 

10)  Golther  S.  447,   wo   auch   volkstümliche   Analogien;   Meyer   S.  416; 
Tolstois  Volkserzählung:  »Wie  viel  Erde  braucht  der  Mensch«. 


278  Viertes  Kapitel. 

sie  ihm  durch  ihre  Künste  bereitet  hatte,  so  viel  Ackerland  zugestand,  als  vier 
Ochsen  in  einem  Tage  und  einer  Nacht  umpflügen  könnten.  Das  Weib  aber 
war  vom  Geschlechte  der  Äsen  und  hieß  Gefjon;  sie  nahm  vier  Ochsen,  ihre 
eigenen  Söhne,  die  sie  fern  im  Norden  in  Jotunheim  einem  Riesen  geboren 
hatte,  und  spannte  sie  vor  den  Pflug.  Der  Pflug  ging  so  scharf  und  tief,  daß 
er  'das  Land  herausriß,  und  die  Ochsen  schleppten  es  gen  Westen  in  das  Meer 
hinaus,  bis  sie  in  einem  Sund  stehen  blieben.  Hier  festigte  Gefjon  das  Land 
und  gab  ihm  den  Namen  Selund  (Seeland).  Dort  aber,  wo  das  Land  heraus- 
gerissen war,  entstand  ein  See,  der  jetzt  in  Schweden  Log  (der  Mälarsee)  ge- 
nannt wird;  und  es  liegen  so  die  Buchten  im  Log  wie  die  Vorgebirge  im  Selund. 
Davon  erzählt  der  Skald  Bragi  der  Alte. 

Gefjon  wäre  also  vielleicht  auf  Seeland  besonders  verehrt  worden,  als 
die  Göttin,  die  dies  Land  mit  seinen  abgerissenen  Ufern  dem  Meer  ab- 
gerungen und  den  Menschen  geschenkt  hätte.  Schwedischen  Ursprungs 
ist  diese  Sage  wohl  sicher1). 

Diese  lokale  Gottheit  von  Seeland  wäre  dann  später  etwa  als  eine 
weibliche  Göttin  des  Ackerbaus  (der  Land  gewinnt)  aufgefaßt  worden2). 
So  wäre  sie  in  den  Kreis  der  Haus-  und  Fleißgottheiten  eingerückt.  Da 
man  aber  wenig  von  ihr  wußte,  stattete  man  sie  mit  entlehntem  Gut  aus, 
und  auch  Freyja  mußte  hergeben,  wie  sie  von  Frigg  geerbt  hatte.  Von 
ihr  hat  Gefjon  die  Herrschaft  über  diejenigen,  die  als  Jungfrauen  sterben  — 
wunderlich  genug  bei  der  Mutter  dieser  Söhne  von  einem  Riesen;  von 
Frigg,  daß  sie  die  Weltgeschichte  so  gut  wie  Odin  kennt3).  Dazu  der 
übliche  Vorwurf  der  Buhlerei,  hier  vielleicht  ebenfalls  an  Friggs  Ehe- 
bruch mit  dem  Diener  um  des  Schmucks  willen  angelehnt4)  —  und  eine 
Göttin  ist  fertig. 

Gering  hält  die  landumpflügende  Riesin  und  die  Göttin  auseinander ; 
dann  bleibt  dieser  aber  eigentlich  nichts5).  Meyer  führt  sie  auf  die 
Gabiae  römischer  Inschriften6)  zurück,  die  »Geberinnen«,  die  auch  bei 
Kelten  und  Litauern  vorkommen,  und  zu  denen  er  auch  G armangab is 
rechnet7).  Gefjon  wäre  dann3)  »Frigg  als  gütige  Geberin«.  Aber 
die  Gewährung  von  Land  geht  über  Friggs  Kompetenz  weit  hinaus. 
Dagegen  sind  die  volkstümlichen  Parallelen  zu  Gefjons  Land-  und  Land- 
rechtsgewähr, die  er9)  mitteilt,  sehr  beachtenswert;  die  (von  uns  voraus- 
gesetzte) Göttin  der  Landgabe  wäre  demnach  auch  in  Deutschland  und 
England  verehrt  worden.  — -  Ihr  Kult  besteht  darin,  daß  sie  von  den 
Mädchen  zur  Beteuerung  angerufen  wird. 


»)  Müllenhof f,  D.  Alt.  2,  361;  Mogk  S.  375.    Much  (PBB.  17,  196;  vgl. 
Himmelsgott  S.  262)  setzt  ihre  Hein.at  in  die  Nähe  des  Tempels  von  Lethra. 

2)  v.  Negelein  (Germ.  Mythol.  S.  67)  hält  sie  überhaupt  für  ein  Sinnbild 
des  Ackerbaues,  der  das  umgepflügte  Land  erobert. 

3)  Golther  S.  447.  4)  Lok.  Str.  20. 

5)  Golther  S.  448;  vgl.  MogL  S.  312.  6)  S.  213,  vgl.  S.  417. 

7)  Siehe  u.  8)  S.  415.  9)  S.  416. 


§  17.    Hauptgötter.  279 

Nachdem  sie  Frigg  genähert  war,  wird  ihr  Name  zur  Umschreibung 
der  Frau  allgemein  benutzt  wie  der  Tyrs  zur  kenning  (appellativischen 
Umschreibung)  der  Götter  (Veratyr). 

Gefn1)  ist  vielleicht  eine  Seegöttin2)  und  als  solche  ein  Pendant  zu 
der  Landgöttin  Gefjon.  Uns  aber  ist  der  Name  nur  als  Beiname  der 
Freyja3)  überliefert;  vielleicht  hat  erst  ihr  Aufgehen  in  diese  die  Be- 
rührungen der  Gefjon  zu  Freyja  verursacht.  Weinhold  erklärt  sie  geist- 
reich für  eine  Meerriesin:  die  der  Sturmflut,  die  Seeland  vom  Festland 
losriß;  so  würde  sie  dann  ganz  zu  Gefjon  gehören.  Wie  sie  von  Freyja 
aufgesogen  wurde,  bleibt  in  jedem  Fall  dunkel. 

Auch  hinter  anderen  —  unerklärten  —  Namen  der  Freyja  wie 
Hörn  und  Syr4)  können  ursprüngliche  Gottheiten  stecken,  etwa  Lokal- 
gottheiten wie  Gefjon;  aber  es  ist  uns  nichts  von  ihnen  bekannt. 

Thor. 

Thor  ist  die  am  deutlichsten  charakterisierte  Gestalt  der  nordischen 
Mythologie.  Er  gibt  keine  Probleme  auf  wie  Wodan,  Freyja,  Balder;  er 
ist  eine  durchsichtige,  einfache  Natur,  die  neben  dem  »Genie«  Wodan 
fast  philiströs  wirkt.  Klar  ist  auch  seine  Geschichte:  die  Entwicklung 
vom  Naturdämon  durch  den  Berufsgott  hindurch  zum  moralischen  Wesen 
liegt  hier  wunderschön  klar  vor. 

Mit  Wodan  zusammen  ergibt  er  den  deutschen  Nationalcharakter  — 
keiner  von  beiden  allein.  Luther,  Friedrich  der  Große,  Bismarck  haben 
Züge  von  beiden :  das  heftige  Losbrechen,  die  Verachtung  der  Gelehrsam- 
keit, Bismarck  auch  die  Liebe  zur  Landarbeit;  Goethe  hat  mehr  von  Wodan, 
Lessing,  Schiller,  selbst  Nietzsche  mehr  von  Thor  —  alle  freilich  nicht 
von  seiner  »philiströsen«,  sondern  von  seiner  elementaren  Seite5). 

Thor  ist  kein  indogermanischer  Gott  wie  Tyr,  aber  mit  indo- 
germanischen Gottheiten  näher  als  Wodan  verwandt.  Der  Himmelsgott 
der  Indogermanen  ist  vielfach  zugleich  Gewittergott  (Zeus,  Jupiter);  und 
alle  Mythologien  entwickeln  an  dem  Repräsentanten  der  Kraft  gern  moralische 
Funktionen  (der  Hilfe,  der  Reinigung  und  Befreiung:  Herakles,  Apollon), 
aber  auch  gern  komische  Züge  (Herakles,  Pushan).  Es  ist  ferner  in  den 
atmosphärischen  Eigenschaften  des  Gewittergottes  eine  Tendenz  auf  gewisse 
moralische  Eigenschaften  (Heftigkeit,  Plötzlichkeit,  Versöhnlichkeit)  gegeben, 
die    durch    den    Gegensatz    zu    anderen   Himmelsgöttern    noch    lebhafter 


*)  Golther  S.  446,  Mogk  S.  375,  Meyer  S.  418. 

2)  Zu  geofon   Meer?    Much,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  35,  327,  nach  J.  Grimm. 

3)  Gylf.  cap.  35:  Gering  S.  326. 

4)  Gering  a.  a.  O. 

5)  Uhland,   Schriften  6,  4f.;   Mogk  S.   357;   Meyer  S.  347;   Golther 
S.  242 f.  —  J.  Grimm,  Über  die  Namen  des  Donners,  Kl.  Sehr.  2,  402. 


280  Viertes  Kapitel. 

herausgetrieben  wird:  Varuna  als  Herrscher  über  die  regelmäßigen  Er- 
scheinungen am  Himmel  gerät  zu  Indra  als  dem  Gewittergott  in  einen 
ähnlichen  Kontrast1),  wie  Odin  als  Sturmgott  zu  Thor,  dem  Gott  des 
dem  Ackerbau  so  wichtigen  Gewitters.  Freilich  hat  sich  bei  den  Indern 
nur  Indra  zum  »soveretgn  of  the  warrior  type«  entwickelt;  bei  den 
Germanen  waren  dagegen  zwei  kriegerische  Typen  zu  unterscheiden.  Es 
sind  die  beiden,  die  durch  unsere  Kriegsgeschichte  in  so  scharfer  Trennung 
durchgehen  wie  durch  keine  andere:  der  Stratege  und  der  Draufgänger,  der 
»Generalstäbler«  und  der  Reitergeneral,  Friedrich  der  Große  und  Seydlitz, 
Gneisenau  und  Blücher,  Moltke  und  Steinmetz  —  auch  sie  oft  genug  im 
Konflikt,  selten  sich  ergänzend  wie  Wellington  und  Nelson. 

Mit  Pushan 2)  sind  die  Übereinstimmungen  allerdings  auffallend. 
Pushan  ist  kein  Naturgott3),  was  ihm  gewisse  Züge  Thors  nimmt;  er 
ist4)  von  Haus  aus  Gott  der  Wege,  etwa  wie  Janus,  ebenfalls  keiner 
physikalischen  Deutung  fähig,  der  Gott  der  Türen  und  Tore  ist5);  aber 
er  ist  von  da,  wie  Thor  auf  seinem  Wege,  zum  Gott  des  Ackerbaues  ge- 
worden. Er  ist  ein  »Mehrer  der  Nahrung« 6).  Er  ist  der  beste  Wagenfahrer7) 
und  sein  Wagen  wird  von  Ziegen  gezogen 8).  Er  vertreibt  die  Bösen  vom 
Wege9).  Und  was  ließe  sich  nicht  gar  aus  dem  Umstände  machen,  daß 
Pushan10)  mit  zahnlosem  Munde  Haferschleim  mummelt,  wie  Thor11) 
Grütze  ißt!  Es  ist  aber  einfach  an  die  Nahrung  des  Bauern  (und  die 
entsprechenden  Opfer  für  ihre  Gottheiten:  Grütze  für  die  Hausgeister 
u.  dgl.)  zu  denken ;  auch  in  der  Rfg.  fängt  das  Fleischessen  erst  bei  dem 
Freibauern  an,  ist  aber  schon  bei  ihm  ein  Sonntagsmahl.  Man  sieht  hier, 
wie  leicht  die  gleiche  Funktion  zu  nachträglichen  Ähnlichkeiten  führen 
kann!  So  fehlt  denn  auch  beidemale  die  Spottrede  der  Verehrer  vor- 
nehmerer Götter  nicht:  wie  Odin-Härbard  den  Thor,  neckt  etwa  ein 
Indra-Diener  den  Pushan: 

Wer  höhnend  zu  dem  Pushan  spricht: 

cEin  Grützeesser  bist  du  ja5, 

Nicht  duldet  dessen  Hohn  der  Gott12). 


»)  Macdonell  S.  28. 

2)  Oldenberg,  Rel.  d.  Veda,  S.  230;  Macdonell  S.  35. 
s)  Oldenberg  S.  232;  vgl.  Macdonell  S.  37. 
4)  Nach  Oldenberg  S.  230. 

B)  Wissowa  S.  96;  vgl.  auch  Syn  (siehe  o.  S.  275):  »Syn  hütet  die  Türen  in 
der  Halle«. 

6)  Macdonell  S.  35.  7)  Macdonell  S.  35. 

8)  Sonderbar  erklärt  von  Oldenberg  S.  232. 

9)  Ebd.  S.  231.  10j  Ebd. 
»)  Härb.  Str.  3. 

12)  Rigveda  6,   56;   Graßmann   1,  285.    Etymologisch  scheint  der  Name 
Pushan  mit  dem  des  Pan  (alt  Paön)  identisch  (Schulze,  Ztschr.  f.  vgl.  Sprf.  42,  81 ; 


§  17.    Hauptgötter.  281 

Völlig  sicher  steht  Thor  auf  urgermanischem  Boden  x).  Überall 
ist  er  Herr  des  Donnerstags2)  und  somit  eine  Hauptgottheit.  Tacitus3) 
nennt  ihn  als  Herkules  neben  Mercurius  -  Wodan  und  Mars-Tyr;  in 
analogen  Triaden  kehrt  er  in  Abschwörungsformeln  wieder.  Zufällig 
nicht  belegt  ist  er  bei  den  Bayern,  wo  auch  der  Donnerstag  Pfinztag 
heißt4)  —  wie  »Mittwoch«  oberdeutsch  gegen  den  »Wodanstag«  der 
Angelsachsen  u.  a.  steht.  Ausdrücklich  bezeugt  ist  er  bei  den  Sachsen5) 
und  sonst  bei  den  Deutschen  (Nordendorfer  Spange);  bei  den  Angel- 
sachsen, wo  er  aber  (wie  bei  allen  Niederdeutschen)  gegen  Wodan  zurück- 
tritt7). Die  Normannen  hielten  lang  am  Thordienst  fest6);  noch  heute 
sind  in  der  Normandie  zehn  Turville ,  Thorstadt  (gegen  zwei  Frevüle, 
Freystadt)  nachzuweisen8).  Ebenso  in  Irland:  der  erste  dort  genannte 
Normanne  heißt  Turgeis  =  Thorgisl;  das  Königshaus  der  Normannen 
auf  Dublin  leitet  sich  von  Thor  ab  und  besitzt  einen  heiligen  Thonarsring 9). 

Zum  Hauptgott  wird  er  ferner  bei  den  Schweden  (neben  Frey)  und 
Norwegern;  vor  allem  aber  auf  Island10).  Hier  sind  unter  den  Eigen- 
namen 51  mit  Thor,  3  mit  Frey,  keiner  mit  Odin11)  gebildet.  Ohne 
Zweifel  würde  Thor  die  anderen  Göttergestalten  (außer  Odin)  weniger 
überragen,  wenn  nicht  unsere  Oberlieferung  vor  allem  von  seiner  Insel 
stammte. 

Von  Norwegen  kam  der  Thorkult  sogar  über  die  germanischen  Grenzen 
hinaus  zu  den  Finnen12).  Vielleicht  auch  zu  den  Kelten,  wenn  ihr 
Donnergott  Tanaros  13)  nicht  urverwandt  ist.  — 

Sein  Wesen  ist  klar:  er  ist  ursprünglich  Gewi ttergott 14)  wieder 
indische  Lieblingsgott  Indra 15).    Nach  unserer  Anschauung  wird  er  durch 


vgl.  374).    Auch  Pan  ist  ein  Ackerbaugott  (vgl.  Prell  er  1,  738 f.),  doch  hat  er 
sich  durch  die  malerische  Betonung  der  landschaftlichen  Stimmungen,  wie  sie  die 
hellenische  Mythologie  so  einzig  auszeichnet  (doch  vgl.  unsere  Elfen;  siehe  o. 
S.  118  Anm.),  von  etwa  gemeinsamen  Grundlagen  weit  fortentwickelt. 
*)  Mogk  S.  354. 

2)  Ebd.;  Golther  S.  253. 

3)  Germ.  cap.  9.  4)  Mogk  S.  355. 

5)  Taufgelöbnis:  Müllenhoff  und  Scherer,  Denkm.  LI. 

6)  Mogk  S.  356. 

7)  Golther  S.  253. 

8)  Ebd.  S.  247,  3. 

9)  Meyer  S.  348. 
10)  Golther  S.  251. 

")  Doch  vgl.  dazu  oben  S.  253. 

12)  Mogk  S.  356;  Krohn,  Finnisch-Ugrische  Forschungen,  S.  164 f. 

13)  Golther  S.  243,  1. 

14)  Golther  S.  242,  Mogk  S.  357,  Meyer  S.  347.  359. 

15)  Macdonell  S.  54;  vgl.  ebd.  S.  59 f.  —  Auch  Jahve  wird  vielfach  als 
ursprünglicher  Gewittergott  gedeutet. 


282  Viertes  Kapitel. 

Kollektivierung  der  Augenblicksgötter,  der  Herren  der  Einzelgewitter,  ent- 
standen sein;  doch  ist  die  Vorstellung  eines  einheitlichen  Gewittergottes 
vielleicht  auch  primär,  da  sie  fast  überall  sehr  alt  zu  sein  scheint. 

Daher  sind  seine  Attribute  der  Hammer,  der  rollende  Wagen:  Donner- 
keil und  Donner ;  er  fährt  im  Sturm,  daß  die  Berge  brechen  und  die  Erde 
flammt.  Dies  ist  eine  allgemeine  Volksvorstellung  bei  Angelsachsen, 
Schweden,  noch  jetzt  bei  den  Dithmarschen :  »Nu  feert  de  Olde  all  wedder 
da  bawen  un  haut  mit  syn  Ex  (Axt,  Hammer)  anne  Räd«  x). 

Dazu  stimmt  die  interpretatio  Romana:  entweder  Jupiter,  weil  dieser 
den  Blitz  schleudert  (daher  erhält  er  den  dies  Jovis,  englisch  Thursday) 
oder  Herkules,  wegen  der  ganzen  Erscheinung  und  der  Schlagwaffe.  (Der 
Herkules,  der  bei  den  Friesen  seine  »Säulen«  hat2)  und  der,  der  einmal 
bei  den  Germanen  war  und  noch  heute  als  Tapferster  der  Männer  ge- 
priesen wird3),  sind  nicht  auf  Thor  zu  beziehen.)  Jupiter4):  Thor 
autem  cum  sceptro  (Donnerkeil-Blitz)  Jovem  simulare  videtur  (Adam 
von  Bremen).  Herkules5)  liegt  noch  näher  wegen  Körperkraft,  Tatenlust 
und  Eßlust!,  Bekämpfung  der  Riesen  und  Ungeheuer,  schließlich  auch 
wegen  des  moralistischen  Anstrichs.  So  nennen  ihn  Inschriften  der 
batavischen  Gardereiter  in  Rom 6) ;  so  finden  wir  ihn,  in  Einzelerscheinungen 
oder  nur  durch  Epitheta  gekennzeichnet:  als  Hercules  barbatus,  magu- 
sanus1),  invictus.  (Dagegen  ist  Hercules  Saxanus  römisch,  nicht  ger- 
manisch)8). —  Thor  der  Gewittergott  ist  vielleicht  ursprünglich  identisch 
mit  Fjörgynn9). 

Der  Hammer10)  ist  sein  wichtigstes  Attribut11),  er  heißt  Mjblnir, 
Zermalmer12).  Der  Name  gehört  wohl  nicht  mit  Odins  Speer  Gungnir,  Ring 
Draupnir  und  Roß  Sleipnir  in  dieselbe  Kategorie  der  heroisierenden  Waffen 
taufe,  da  er  schon  in  der  Thrymskvida  begegnet.  Vielleicht  darf  man  an 
nehmen,  daß  dies  der  Name  des  Augenblicksgottes 13)  oder  des  fetischistisch 
verehrten   Donnerkeils   war;   daß   er  nie  sein   Ziel   verfehlt   und14)  nach 


J)  Mogk  S.  357  nach  Müllenhoff. 

-)  Germ.  cap.  34;  siehe  o.  S.  194.  3)  Ebd.  cap.  3. 

4)  Mogk  S.  354,  Meyer  S.  348,  Golther  S.  243. 

6)  Mogk  S.  355,  Meyer  S.  347,  Golther  S.  243. 
6j  Mogk  S.  355. 

7)  Kauffmann,  PBB.  15,  533,  erinnert  an  Thors  Sohn  Magni. 

8)  Meyer  ebd.  18,  106.  9)  Siehe  u. 
10)  Much,  Himmelsgott,  S.  231  f. 

")  Meyer  S.  349;  vgl.  Golther  S.  245.  262.  276. 

12)  Anders  Mogk,  I.  F.  29,  110:  der  glänzende  (Blitz). 

13)  Vgl.  Keraunos:  Usener,  Rhein.  Museum  60,  1  f . 

14)  Wie  gewisse  Waffen  der  Primitiven  (Schurtz,  Urgeschichte  der  Kultur, 
S  335  f.),  der  Bumerang,  mit  denen  ihn  aber  sonst  zu  vergleichen  folkloristischer 
Überschwang  scheint! 


§  17.    Hauptgötter.  283 

dem  Wurfe  in  die  Hand  des  Wing-Thor,  Schleuder-Thor,  zurückkehrt, 
konnte  freilich  auch  dem  göttlichen  Werkzeug  nachgerühmt  werden  x). 

Ist  aber  die  Thrymskvida,  wie  jetzt  einige  vermuten,  jünger  als  man 
sonst  annahm,  so  würde  der  Name  Mjölnir  wohl  nicht  aus  jener  Gruppe 
appellativischer  Benennungen  für  göttliche  Requisiten  entfernt  werden 
dürfen. 

Gegen  die  Altertümlichkeit  der  Thrymskvida  sprechen  allerdings  zwei 
Momente.  Zunächst  spielt  Freyja  hier  eine  Hauptrolle,  eine  Göttin,  die  wenigstens 
ich  erst  für  einen  späten  Gast  am  Asenhimmel  halten  möchte.  Und  zweitens  — 
ist  das  Gedicht  von  allem  Anfang  an  für  besonders  altertümlich  gehalten,  von 
Chamisso  als  Probe  ältester  germanischer  Poesie  übersetzt  worden  usw.  Das 
mag  ein  befremdendes  Argument  scheinen,  ist  aber  ein  sehr  ernsthaftes.  Immer 
wieder  kann  man  es  beobachten,  daß  bei  der  Entdeckung  neuer  literarischer 
Gebiete  Stücke  am  meisten  ins  Auge  fallen,  die  nicht  zu  den  »echtesten«  ge- 
hören. Was  galt  den  alten  Sammlern  alles  als  »rechtes  Volkslied« !  Wie  lange 
war  die  Laokoongruppe  das  Muster  antiker  Skulptur!  Und  hat  nicht  sogar  der 
große  Mabillon  seine  glänzende  Urkundenlehre  aus  einem  unechten  Dokument 
herausgesponnen?  —  Das  ist  nun  keineswegs  etwa  ein  »neckischer  Zufall«, 
sondern  geht  ganz  natürlich  zu :  Nachahmer  arbeiten  die  charakteristischen  Züge, 
wo  sie  sie  richtig  erkennen,  übertrieben  heraus  und  gelten  deshalb  späteren  als 
beste  Vertreter  der  Art.  Aus  Macaulays  »Lays  of  ancient  Rome«  läßt  sich 
weniger  der  Ton  alter  historischer  Balladen  erlernen,  als  die  Vorstellung,  die 
Niebuhr  und  seine  Schüler  von  diesen  hegten.  Und  so  könnte  auch  die 
Thrymskvida a)  uns  deshab  besonders  »echt«  scheinen,  weil  sie  Merkmale  der 
Altertümlichkeit  in  kunstvoller  Häufung  brächte! 

»Einen  so  echten  Rembrandt  hat  Rembrandt  nie  gemalt!«,  urteilte  ein  feiner 
Kunstkenner  über  eine  Fälschung.  —  Aber  archaisierende  Gedichte  sehen  doch 
anders  aus. 

Natürlich  knüpfen  spätere  Sagen  besitzerklärender  Art  an ;  der  Hammer 
ist  Arbeit  der  Zwerge8)  und  zwar  trotz  Wodans  Draupnir  und  Freys 
Gullinbursti  die  vortrefflichste;  nur  der  Handgriff  sei  etwas  kurz,  aber 
dafür  könne  man  ihn  unter  dem  Rock  verborgen  tragen4)  —  das  plötz- 
liche Aufzucken  des  Blitzes  etwas  schneidermäßig  symbolisiert.  Der  Zu- 
sammenhang mit  Zeus'  Doppelbeil 5)  scheint  abzulehnen.  Der  Donnerkeil 
ist  in  der  ganzen  Welt  ein  beliebter  Fetisch;  er  wird  zur  Waffe  um- 
geformt. Als  Doppelaxt  erscheint  er  in  der  Dichtung  nie:  es  ist  eine 
Keule  mit  kurzem  Griff,  glühender  Stahl,  auch  feurige  Axt  bei  den  Angel- 
sachsen benannt6),  ursprünglich  aber  ein  steinerner  Hammer. 


*)  Über  den  Donnerkeil:  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  2,  30 f.  In  Birma 
nimmt  das  Volk  an,  daß  der  in  den  Boden  einschlagende  Blitzstrahl  sich  wieder 
in  die  Höhe  arbeitet:  S.  37. 

2)  Für  die  freilich  sogar  Neckel  (Eddaforschungen  S.  51)  hohes  Alter  zugibt 

s)  v.  d.  Leyen  S,  58,  Mogk  S.  351. 

4)  Skäldsk.  cap.  3:  Gering  S.  366. 

5)  S.  Müller,  Urgeschichte  Europas,  S.  151;  vgl.  o.  S.  71. 

6)  Golther  S.  245. 


284  Viertes  Kapitel. 

Thor  braucht  die  Eisenhandschuhe,  um  den  glühenden  Hammer 
anzufassen  1).  In  Wirklichkeit  sind  sie  vielleicht  nur  aus  irgendeiner  Dichter- 
stelle gefolgert,  wo  von  Thors  eiserner  Faust  (oder  »eisengepanzerter 
Faust«)  die  Rede  war.  Es  ist  aber  zuzugeben,  daß  der  Handschuh  in 
Thors  Mythenkreis  eine  Rolle  spielt:  im  Handschuhdaumen  Skrymirs 
steckt  er2). 

Der  Kraftgürtel  verdoppelt  die  Asenkraft8).  Eigentlich  ist  sie 
vielmehr  in  ihm  nur  zum  Teil  deponiert,  weil  er  sonst  zu  stark  wäre 
(vgl.  die  Erzählungen  von  Kämpfen  mit  gebundenem  Arm,  oder  die  Sieben- 
meilenstiefel,  die  den  Peter  Schlemihl  erst  zu  rasch  davonjagen).  Der 
Gürtel  ist  also  eine  Art  Sparbüchse  der  göttlichen  Kraft,  gerade  wie 
Aphrodites  Schönheitsgürtel  auch.  Wird  der  Gott  gereizt,  so  fährt  er  in 
seine  Asenkraft:  er  tut  den  Stärkegürtel  an  —  ein  mythologischer  Aus- 
druck für  die  Verdoppelung  der  Kraft  durch  die  Wut,  die  die  Irländer4) 
bizarr  physiognomisch  ausdrücken5). 

Sein  Wagen  ist  kein  Seh iffs wagen ,  wie  Ing- Freys,  sondern  ein 
solider  Bauernwagen,  ein  plaustrum,  mit  knirschenden  Rädern,  der  die 
Berge  dröhnen  läßt6).  Vor  den  Wagen  sind  Böcke  gespannt,  deren 
Namen  Tanngniost  und  Tanngrisnir,  Zahnknisterer  und  Zahnknirscher 7) 
wir  wieder  für  gelehrte  Erfindung  halten8);  in  der  Thrymskvida 9)  heißen  sie 
einfach  die  gehörnten  Böcke,  die  schnellen  Renner.  Sie  repräsentieren 
wohl  einfach,  wie  bei  Pushan,   die  Landwirtschaft;   denn  einen  Ochsen- 


J)  Gylf.  cap.  21:  Gering  S.  316,  Golther  S.  262. 

2)  Gylf.  cap.  45:  Gering  S.  336  —  Lok.  Str.  60;  vgl.  auch  die  Schelle  mit 
dem  Lederschuh:  Härb.  Str.  35.  Im  Mythus  kommen  sie  nur  bei  Thors  Höllen- 
fahrt (Skäldsk.  cap.  2:  Gering  S.  363;  vgl.  u.)  vor,  nicht  notwendig  in  ursprüng- 
licher Form. 

3)  Gylf.  a.  a.  O. 

4)  Olrik,  Nord.  Geistesleben,  S.  81;  vgl.  139. 

5)  Solche  Vorstellung  von  der  »Asenkraft«  ist  weit  verbreitet.  So  bei  der 
jüdischen  Sekte  der  Chassidim  ganz  primitiv  formuliert:  »Und  er  versammelte 
seine  Kraft  und  holte  sie  aus  allen  Dingen,  denen  sie  gegeben  war,  und  band 
sein  Leben  los  von  allen  Wesen  und  Mächten«  (M.  Bub  er,  Das  Rufen  :  Neue 
Deutsche  Rundschau,  Juni  1907,  S.  727).  »Wenn  der  Zulu  einen  verlorenen 
Gegenstand  nicht  finden  kann,  nimmt  er  Zuflucht  zur  inneren  Eingebung  und 
bemüht  sich  zu  fühlen,  wo  der  Gegenstand  steht.  Fast  alle  wilden  Völker  kennen 
diesen  Akt  des  unbedingten  Willens;  sie  nennen  das  ,die  Tore  der  Entfernung 
öffnen*.  Es  ist  eine  unbewußte  Gehirntätigkeit,  die  an  Ekstase  grenzt«  (L.  Deubner, 
Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  9,  461).  So  haben  wir  uns  Odins  Konzentration  bei  der 
Runenfindung  vorzustellen;  und  was  er  mit  geistiger  Kraft  leistet,  tut  Thor,  wie 
immer,  mit  körperlicher. 

6)  Lok.  Str.  55;  vgl.  Thrymskv.  Str.  21. 

7)  Gylf.  cap.  21:  Gering  S.  316. 

8)  Anders  Mogk  S.  357,  der  sie  auf  den  zackigen  Blitz  bezieht. 
»)  Str.  21. 


§  17.    Hauptgötter.  285 

wagen  könnte  man  dem  raschen  Polterer  doch  nicht  geben !  Auch  die 
Bauernbraut  im  Hochzeitswagen  x)  trägt  ein  Kleid  von  Ziegenfell.  —  An 
die  erotische  Bedeutung  des  Bocks  (wie  bei  Lokis  Spiel  vor  Skadi)  ist 
bei  unserem  tugendhaftesten  Gott  nicht  zu  denken;  eher  könnte  noch  die 
Ähnlichkeit  der  roten  Barte  nachgeholfen  haben.  Mit  der  Freude  des 
Bauern  an  schönem  Vieh  hat  man  ihre  Hörner  mit  Silber  bedeckt2)  wie 
der  Riese  Thrym  und  der  Bauer  Renner  es  taten3). 

Auch  werden  diese  Böcke  ein  Lieblingsgegenstand  der  volkstümlichen 
Phantasie.  Der  Gott  lebt  von  ihnen,  indem  er  sie  schlachtet  und  wieder- 
belebt4), woran  sich  weitere  Fabeln  knüpfen5).  Vorbild  ist  wohl  der 
Eber,  den  die  Einherier  nie  fertig  bekommen6),  und  beidemale  wurzelt 
die  Vorstellung  in  einem  kräftigen  natürlichen  Bauernwunsch:  ach  wenn 
doch  dies  Tier  nie  ein  Ende  nähme!  —  Natürlich  läßt  sich  auch  jeder 
Bock  oder  Eber,  der  wieder  lebendig  wird,  naturmythologisch  erklären7). 

Als  sein  Zeichen  dient,  wie  für  Odin  das  des  Speers,  das  Hammer- 
zeichen oder  Hakenkreuz 8),  das  leicht  zu  Verwechslungen  mit  dem  christ- 
lichen Kreuz  führen  konnte9).  Im  Norden  werden  Waffen,  Geräte, 
Schmucksachen  —  Grabsteine,  Urnen  —  Zauberringe  (wie  der  runen- 
tragende von  Körlin),  Speerspitzen  10)  —  Hausmarken  damit  signiert.  Ein 
Nephritbeil  wird  als  Donnerkeil  unter  die  Dachsparren  gesteckt:  Thor  ist11) 
besonders  der  Weihegott. 

Seine  Erscheinung12)  ist  »von  großem  Wüchse,  schönem  Antlitz, 
jung,  hier  und  da  barsch,  überall  aber  mit  rotem  (flammendem)  Bart«: 
ein  schöner  junger  Bauer.  —  Der  Bart  wird  besonders  betont  als  Zeichen 
des  kräftigen  freien  Mannes,  daher  der  Hercules  barbatus  einer  römischen 
Inschrift  —  man  denkt  an  die  mohamedanische  Gewohnheit,  beim  Barte 
des  Propheten  zu  schwören.  Eben  dahin  gehört  das  flatternde  Haar; 
auch  der  Bauer  der  Rig. 13)  trägt  Bart  und  eine  Locke  vor  der  Stirn  —  die 
berühmte  »Schwedenlocke«,  die  noch  Gustav  Adolf  trägt? 

Dazu  stimmen  seine  Namen  14):  Donar  (wozu  keltisch  Tanaros),  der 
Donnerer ;   Vingnir  Schwinger  (des  Hammers),   Reidartyr  Oekuthor 


!)  Rig.  Str.  21.  2)  Mogk  S.  356. 

3)  Wein  hold,  Altnord.  Leben,  S.  40. 

4)  Golther  S.  276. 

5)  Gylf.  cap.  44:  Gering  S.  334. 

6)  Grim.  Str.  18;  Gylf.  cap.  38:  Gering  S.  329. 

7)  Falk  (Ark.  f.  nord;  Fil.  5  [NF.  1]  S.  259  Anm.)  vermutet,  daß   auch  der 
Bär  dem  Thor  heilig  war;  er  wird  auch  selbst  so  genannt. 

8)  Meyer  S.  356. 

9)  Gobi  et  d'Alviella,  Migration  des  symboles,  S.  22. 

10)  Sgdr.  Str.  17.  «)  Siehe  u. 
12)  Mogk  S.  356.  13)  Str.  15. 
14)  Meyer  S.  248,  Golther  S.  243. 


286  Viertes  Kapitel. 

Vagnaverr :  Wagen-  oder  Fahrgott  (er  reitet  nie);  Hlorridi  »der  brütende 
Wetterer«  *).  Sie  ergeben  nicht,  wie  bei  Wodan,  eine  vervielfachte  Tätig- 
keit, sondern  eine  bestimmte  Konzentration;  ebenso  die  skaldischen  Be- 
nennungen 2).  Er  hat  weniger  heiti  (eingliedrige  Benennungen)  als  Odin, 
aber  fast  noch  mehr  kenningar  (umschreibende  Benennungen). 

Sein  Heim3)  heißt  Thrudheim  oder  Thrudvang,  Heim  oder  Feld 
der  Stärke,  wie  er  Thrudvaldr ,  der  Hammer  Thrudhamar  heißt.  In 
diesem  Land  steht  die  Halle  Büskirnir 4),  über  deren  Unechtheit  wir  uns 
schon  ausgesprochen  haben5).  —  Übrigens  ist  er  selten  zu  Haus;  und 
wenn  er  (wie  in  Alv.)  zurückkommt,  wird  sein  Heim  nicht  genannt. 

Seine  Funktionen  geben  ein  einheitliches  Bild: 

Der  Gewittergott  ist  höchstens  noch  daran  zu  erkennen,  daß  er 
guten  Fahrwind  gibt,  wenn  das  Gewitter  die  Luft  gereinigt  hat6);  doch 
wenden  sich  die  Wikinger  mit  der  Bitte  um  diese  Gunst  fast  an  alle 
Götter. 

Der  Gewittergott  ist  Gott  des  Ackerbaus  geworden.  Sein  Ver- 
hältnis zu  anderen  Fruchtbarkeitsgöttern  ist  wohl  ähnlich  wie  das  Odins 
zu  anderen  Göttern  des  Gedeihens  aufzufassen:  Frey  macht  die  Erde 
fruchtbar,  Thor  schützt  die  Landarbeit  (vor  den  riesischen  Feinden)  — 
doch  Vollenden  ist  des  Odin  Werk. 

Von  hier  aus  wird  er  Gott  der  Bonden,  der  freien  Bauern.  Als 
solcher  empfängt  er  von  den  Schweden  bei  drohender  Seuche  Opfer,  gibt 
auch  Heilquellen  und  Heilkräuter 7) :  die  Heilung  des  Bauernarztes  gegen- 
über der  Zauberkur  des  gelehrten  Arztes  Odin.  Besonders  heilt  er  am 
Donnerstag.  —  Er  schützt  den  Hirten  und  das  Vieh,  macht  den  Boden 
urbar,  und  seine  Donnerkeile  oder  Julkuchen  in  Form  hammerverzierter 
Böcke  machen  das  Saatkorn  fruchtbar8). 

Im  Norden  wird  er  zum  Hauptgott  des  Volkes9);  ein  Kompromiß 
vielleicht  mehr  noch  der  Priester  als  der  Gläubigen  bildet  die  offizielle 
Dreizahl  Thor — Odin— Frey 10),  die  also  die  alte  Odin — Thor — Tyr  ersetzt. 


1)  Mogk  S.  357  nach  Gering,   Ztschr.   f.   d.  Phil.  26,  25;  vgl.  Golther 
S.  282,  1. 

2)  Golther  S.  264. 

8)  Mogk  S.  358,  Golther  S.  262. 

4)  Grim.  Str.  24;  Gylf.  cap.  21:  Gering  S.  316. 

B)  Nach  Noreen  ist  es  eigentlich  ein  Name  des  aufleuchtenden  Blitzes 
und  von  dem  »Herrn  Bilskirnirs«  hat  die  Halle  den  Namen  durch  Rückschluß 
(Golther  a.  a.  O.  Anm.  2). 

6)  Meyer  S.  358. 

7)  Meyer  S.  357. 

8)  Ebd.  S.  359. 

9)  Mogk  S.  364,  Meyer  S.  360,  Golther  S.  247.  255. 
10)  Meyer  S.  348. 


§  17.    Hauptgötter.  287 

Aber  Thors  Tag  ist  der  höchste  Feiertag  im  Norden *) ,  und  auch  in 
Deutschland  eifern  die  Geistlichen  bis  ins  Hexenzeitalter  hinein  gegen  den 
Donnerstag  als  Festtag  »und  eigenartige  heidnische  Festgebräuche  hafteten 
bis  heut  namentlich  am  Donnerstag,  Gründonnerstag,  Himmelfahrts- 
donnerstag und  an  den  Adventsdonnerstagen«2). 

Von  dieser  Stellung  scheinen  weitere  Funktionen  auszustrahlen.  Uralt 
ist  Thors  Amt  zu  weihen3),  d.  h.  Handlungen  rechtsgültig  zu  machen, 
besonders  die  Ehe,  weshalb  er  Veor%  der  »Weihende«,  heißt.  Doch  könnte 
diese  Funktion  auch  noch  unmittelbar  von  dem  Donnergott  stammen, 
der  durch  Donnerschlag  weiht  (vgl.  noch  die  große  Prüfungsszene  in 
Schillers  Jungfrau  von  Orleans). 

Er  wird  durch  den  Hammer  vertreten  (wie  Christus  durch  das  Kreuz) : 
der  Hammer  wird  dem  Brautpaar  in  den  Schoß  gelegt5).  Er  ist,  wie 
auch  sonst,  der  göttliche  Gode,  der  himmlische  Gemeindevorsteher  der 
Freien,  wie  Odin  der  Fürst.  So  soll  er  schon  auf  dem  Virringstein  in 
Jütland  ein  Grabmal,  auf  dem  Glavendrupstein  in  Fünen  Runen  weihen, 
d.  h.  untadlig  machen  6).  Das  sind  Funktionen  des  Goden,  des  halbpriester- 
lichen  Gemeindevorstandes:  er  legitimiert,  unterschreibt  gleichsam,  indem 
er  im  Blitz  herabsteigt 7).  —  Auch  Balders  Scheiterhaufen  wird 8)  mit  Thors 
Hammer  geweiht. 

Aus  der  »Goden -Funktion«  geht  weiter  hervor  Thors  Tätigkeit  als 
Gerichtsleiter,  während  die  analoge  Stellung  Tyrs  aus  seinem  Amt 
als  Gott  der  Heergemeinde  zu  resultieren  scheint.  Der  Donnerstag  ist 
wie  der  beliebteste  Tag  für  Hochzeiten,  so  auch  für  Gerichtstage  der  an- 
gezeigte Tag9):  »am  Donnerstag  werden  die  wichtigsten  nordischen  Thinge 
eröffnet;  zum  isländischen  Althing  hatten  alle  Goden  in  der  Donnerstags- 
nacht vor  Sonnenaufgang  sich  einzustellen.  Das  norwegische  Frostuthing 
fand  im  berühmten  Thorstempel  zu  Moeri  statt«.  Thor  ist  insbesondere 
auch  der  Schutzherr  der  Landnahme  (wie  vielleicht  ursprünglich  auf  See- 
land Gefjon  dieser  gebietet)10):  »wo  die  mit  seinem  Bild  beritzten  Holz- 
schnitzpfeiler, die  der  Ankömmling  angesichts  der  isländischen  Küste  über 
Bord   warf,  antrieben,   da   umlief  derselbe  mit  dem  Thorsbilde  oder  mit 


J)  Meyer  S.  360. 

2)  Ebd. 

3)  Meyer  S.  359,  Golther  S.  251 ;  über  den  Begriff  vgl.  o.  S.  53. 

4)  Thrymskv.  30,  Hym.  11. 

5)  Thrymskv.  30;  soll  man  an  phallische  Bedeutung  denken? 

6)  Golther  S.  251,  2. 

7)  Usener,  Keraunos. 

3)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  345. 
9)  Meyer  S.  359. 
10)  Siehe  o.  S.  276. 


288  Viertes  Kapitel. 

Feuer  das  Land,   um  es  zu  seinem  Eigen  zu  weihen«1):  da  spricht  also 
Thor  als  Gerichtsherr  herrenloses  Land  dem  Bewerber  zu2). 

Deshalb  ist  er  auch  Herr  der  Strafe8):  auf  dem  Thorstein  wird  dem 
Verbrecher  der  Rücken  gebrochen.  Und  so  hilft  er  auch  den "  Bösewicht 
ermitteln,  wenn  Zaubernägel,  die  auf  Island  in  den  Kopf  eines  Thor- 
hammers geschlagen  werden,  dem  Dieb  ins  Auge  dringen  sollen.  —  Auch 
bei  der  Götterdämmerung  (wie  am  Schluß  der  Lokasenna)  ruht  der  Straf- 
vollzug in  seinen  starken  Händen. 

Endlich  wird  Thor  auch,  wie  jeder  Schutzgott,  Schlachtpatron. 
Mit  Herkulesliedern  ziehen  die  Deutschen  in  die  Schlacht,  die  Normannen 
mit  dem  Ruf  ,Tur  aie\  Thor  helfe4).  —  So  kann  er  auch  auf  dem 
Schlachtfeld  mit  Odin  in  Konflikt  geraten,  wie  wenn  Styrbjörn  gegen 
den  schwedischen  König  Eirik  vor  der  Schlacht  bei  Fyrisvellir  ihn  anruft; 
aber  Odin,  dem  sich  Eirik  angelobte,  war  stärker5). 

Auch  Thors  Kult6)  ist  zunächst  an  heilige  Bäume  geknüpft;  etwa 
an  solche,  in  die  der  Blitz  eingeschlagen  hatte?  Bonifatius  fällt  um  730 
bei  Geismar  in  Hessen  eine  arbor  Jovis :  nach  der  herrschenden  Meinung 
eine  dem  Thor  heilige  Eiche7).  Ebenso  werden  ihm  dann  auch  ganze 
Haine  und  Wälder  geweiht:  »jenseits  der  Weser,  d.  i.  an  ihrem  öst- 
lichen Ufer,  befand  sich  ein  dem  Herkules  geweihter  Wald,  in  dem 
Arminius  die  Bundesgenossen  gegen  Germanicus  zusammenscharte«  8). 

Allmählich  werden  die  Haine  wieder  durch  T  e  m  p  e  1  ersetzt 9).  Viele 
sind  in  Schweden,  in  Norwegen  nachzuweisen;  eine  seiner  heiligsten 
Stätten  liegt  dort  zu  Moeri  im  Drontheimschen,  wo  der  Frostuthing  statt- 
fand, andere  in  den  Bezirken  von  Akershus,  Hedemarken,  Stavanger, 
Bergenhus.  Ebenso  auf  Island10);  den  ersten  hat  Thor  selbst  bestimmt  * x), 
wie  das  christliche  Heilige  auch  so  häufig  tun. 

Im  Tempel  steht  sein  Bild12);  so  in  Moeri  auf  dem  mit  Böcken  be- 
spannten Wagen;  im  norwegischen  Gudbrandsdal  mit  dem  Hammer  in 
der  Hand,  mit  Gold  und  Silber  geschmückt,  und  täglich  mit  vier  Broten 


J)  Ebd. 

2)  Das  Landnämabok   nennt   von  allen  Gottheiten  nur  ihn :   T  h  ü  m  m  e  I , 
PBB.  35,  95. 

3)  Ebd.  S.  360. 

*)  Doch  vgl.  Golthers  kritische  Bedenken  S.  253,  2. 
R)  Meyer  S.  358,  Golther  S.  254. 

6)  Meyer  S.  355 f. 

7)  Ebd.;  Mogk  S.  356. 

8)  Mogk  S,  355  nach  Tac.  Ann.  cap.  12. 

9)  Mogk  S.  356,  Meyer  S.  358,  Golther  S.  247.  255. 

10)  Aufzählung  bei  Thümmel,  PBB.  35,  95. 

n)  Golther  S.  248,  Meyer  S.  358,  Mogk  S.  356. 
12)  Vgl.  o.;  Golther  S.  255,  Mogk  S.  356. 


§  17.    Hauptgötter.  289 

und  Fleisch  bewirtet.  Vier  ist  eine  altertümliche  Zahl,  sonst  aber  nicht  mit 
heiligen  Dingen  verbunden)1),  außer  in  komischer  Verwendung;  so  auch 
Thrymskv.  24,  wo  er  mit  Überbietung  seiner  heiligen  Zahl  acht  Lachse  ver- 
zehrt; auch  in  Gudbrands  Tempel  läßt  er  nie  etwas  von  den  Opferspeisen 
übrig2).  —  Er  steht  aber  natürlich  auch  in  Kollektivtempeln,  so  in  Alt- 
uppsala,  und  oft  als  mest  hgnadr,  der  am  meisten  verehrte.  So  eben 
dort 8) :  Thor  praestdet  in  aere,  qui  tonitrus  et  fulmina  .  .  .  gubernat 
(Adam  von  Bremen);  im  Gudbrandsdal,  mit  dem  Schwurring  am  Finger, 
zwischen  Thorgerd  und  Irpa4). 

Wir  besitzen  frühe  Thorsbilder  auf  Felsen  und  sonst,  Darstellungen 
von  Opfern  vor  Thor,  vielleicht  auch  schon  aus  der  Thorsepik5);  ebenso 
frühe  lappische  Bilder  des  Gottes6).  —  Diese  Thorsbilder  werden  ver- 
kleinert als  Amulet  getragen,  so  ein  aus  Zahn  geschnitztes  im  Beutel  des 
Skalden  Halfred 7).  Symbolisch  tun  Hammeramulette 8)  denselben  Dienst 9) ; 
das  Hammerzeichen  wird  als  Segnen,  dem  Bekreuzigen  analog  emp- 
funden 10). 

Vor  den  Bildern  und  Bäumen  werden  ihm  Opfer  gebracht11).  Bei 
den  Normannen  sind  Menschenopfer  bezeugt,  mit  Prophezeiung  aus 
den  zuckenden  Herzen  12)  verbunden13);  die  Kämpfer  heiligen  sich,  indem 
sie  das  Gesicht  mit  dem  Opferblut  beschmieren,  wie  sonst  die  Tempel- 
säulen blutig  gemalt  werden  14).  Sonst  sind  es  vorzugsweise  Opfergaben, 
die  dem  Ackerbaugott  zukommen :  Brot  und  Fleisch,  Rinder  und  Rosse 15). 
Auch  Tempelgaben  werden  dargebracht  wie  die  ihm  und  Wodan  ge- 
weihte (?)  Nordendorfer  Spange  aus  dem  siebenten  Jahrhundert16). 

Das  Opfer  wird  wieder  symbolisch  durch  Zutrinken  angedeutet17). 
Bei  der  Hochzeit  gebührt  dem  Thor  der  erste  Becher;  bei  Gelagen  teilt 
er  die  Ehre  mit  Odin  (und  anderen  Äsen).    So  wird  denn  auch  besonders 


J)  Meine  Altgerm.  Poesie  S.  83. 

2)  Golther  S.  254. 

3)  Mogk  S.  356. 

4)  Golther  S.  482,  Meyer  S.  273. 

5)  Rosenberg,  Nordboernes  handsliv  1,  45. 

6)  Krohn,  Finnisch-ugrische  Forschungen,  S.  164. 

7)  Golther  S.  247,  3;  ebd.  über  Thorsbilder  überhaupt. 

8)  Ebd.  S.  252. 

9)  Mogk  S.  364. 
,0)  Ebd.  S.  357. 
ll)  Meyer  S.  355.  357;  Golther  S.  245.  253. 

2)  Wie  bei  den  Azteken?    Vgl.  Högni  und  Budli  Akv.  22—24. 
L3)  Golther  S.  253. 
I4)  Ebd.  S.  254. 

5)  Über  die  Grütze  Härb.  Str.  3;  vgl.  o.  S.  279. 

J)  Vgl.  Golther  S.  245,  3. 
l7)  Golther  S.  252.  254. 
Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  19 


290  Viertes  Kapitel 

das  Trinkhorn  mit  dem  Hammerzeichen  geweiht,  das  dann  mit  dem 
Kreuzeszeichen  verwechselt  wird. 

Dem  Orakeldienst  dienen  auch  Blitz  und  Donner1);  zu  einer 
regelrechten  Lehre  von  diesen  Orakeln,  wie  die  Etrusker  sie  den  Römern 
vererbt  haben,  ist  es  aber  nicht  gekommen. 

Am  nachhaltigsten  zeigt  die  Macht  des  Thorkultes  sich  in  der  lange 
festgehaltenen  Feier  des  Donnerstages2).  In  der  alten  Zeit  besaß  Thor 
aber  auch,  wie  Frey  und  Odin,  große  Opferfeste  an  bestimmten 
Zeiten  3),  besonders  im  Mai,  vielleicht  auch  die  etwas  später  fallende  Hagel- 
feier. Dagegen  hat  er  an  den  drei  großen  Opfern  nicht  (wie  Odin,  Frey, 
Tyr)  Anteil4):  diese  Regulierung  muß  älter  sein  als  sein  Aufsteigen  zum 
nordischen  Volksgott. 

Der  Thorsdienst  stellt,  wie  nur  noch  der  Odinsdienst,  im  Norden 
eine  wirkliche  Religion  dar.  Typus  des  Thorverehrers  ist  jener 
Thorolf5),  der  auf  den  Rat  seines  Freundes  Thor  nach  Island  fährt  und 
ihm  dort  sofort  die  Stätte  heiligt.  Die  Thorverehrer  benennen  ihre  Kinder 
nach  ihm6):  »in  den  Namen  der  fast  4000  Personen,  welche  die  Land- 
näma  aufzählt,  kommen  Thor  980  mal,  Frey  4  mal,  andere  Gottheiten  über- 
haupt nicht  vor«7);  es  heißt  also  etwa  der  vierte  Isländer  nach  ihm! 
Ebenso  werden  Örtlichkeiten  nach  Thor  benannt,  doch  gehören  ihm  nicht 
alle  Donnersberge,  -brunnen,  -hügel8). 

Das  glänzende  Denkmal  dieser  einseitigen  Thorverehrung  scheint  mir 
die  eddische  Lo  käsen  na  —  eine  Auffassung,  die  mir  so  nahe  zu  liegen 
scheint,  daß  ich  stolz  darauf  bin,  sie  meines  Wissens  zuerst  auszusprechen. 
Das  Gedicht  ist  in  vergrößertem  Maßstab  nach  dem  gleichen  Schema  an- 
gelegt wie  der  Wodans  Preis  dienende  Merseburger  Spruch:  alle  Gott- 
heiten versuchen,  was  nur  »Unser  Gott«  vollbringen  kann.  Loki  ist  in 
die  Halle  eingedrungen,  in  der  die  Götter  tafeln9);  niemand  weiß  ihm 
gegenüber  zu  bestehen.  Denn  alle  sind  sie  sich  eigener  Schuld  und  Schande 
bewußt,  die  Loki  vornimmt:  die  neuen  Modegottheiten  der  Dichter,  Bragi 
und  Idun,  vielleicht  auch  Gefjon;  die  alten  Hauptgottheiten,  Odin,  Frigg» 
Freyja,  Njörd,  Tyr,  Frey.  Aber  dann  erscheint,  wie  in  Bürgers  ähnlich 
angelegter  christlicher  Chronique  scandaleuse  »Frau  Schnips«  (die  wieder 


x)  Meyer  S.  360. 

2)  Mogk  S.  356. 

s)  Meyer  S.  361,  Mogk  S.  355. 

*)  Vgl.  Meyer  S.  361. 

5)  Mogk  S.  356,   Golther  S.  248,  Meyer  S.  348. 

6)  Meyer  a.  a.  O.,  Golther  S.  248.  251.  264. 

7)  Thümmel,  PBB.  35,  96. 

8)  Mogk  S.  355  gegen  Meyer  S.  355. 

9)  Über  den  Mythus,  denn  einen  solchen  nehme  ich  an,  vgl.  u. 


§  17.    Hauptgötter.  291 

an  Hayneccius'  »Meister  Pfriem«  aus  der  Reformationszeit  ein  älteres 
Vorbild  hat)  Christus,  so  hier  Thor.  Wohl  ist  auch  er  nicht  ohne  Fehl: 
die  Schlappe  bei  Skrymir  muß  sein  Verehrer  gestehen1).  Aber  von  der 
Feigheit  und  der  Unsittlichkeit,  die  der  Thorsdiener  wie  ein  christlicher 
Priester  der  übrigen  Walhalla  vorwerfen  kann,  ist  er  rein;  begeistert  wie 
Hippolytos  zu  dem  Bilde  der  Artemis  wendet  sich  der  Dichter  zu  diesem  Bild 
der  Reinheit  und  Kraft.  Und  Loki  weicht:  dieser  weiß  zu  kämpfen2)!  — 
Es  wäre  nicht  unmöglich3),  daß  sogar4)  liturgische  Formeln  des  Thorritus 
in  dieser  Aristeia  des  Donnerers  bewahrt  wären,  der  der  Odinfreundliche 
Sammler  der  Edda  freilich  das  Härbardslied  als  Gegengewicht  anhing! 

Eine  so  tief  in  der  Volksanschauung  wurzelnde  Persönlichkeit  lebt 
natürlich  auch  in  der  Volkssage  fort,  und  zwar  lange:  christliche  Heilige 
beerben  ihn,  besonders  im  Norden  der  Nationalheilige  Olaf5),  gelegentlich 
auch  Petrus6),  mit  dem  er  das  rauhe  Wesen  und  das  rasche  Zuschlagen 
gemein  hat 7).  Wir  dürfen  deshalb  die  reiche  S  a  g  e  n  b  i  1  d  u  n  g ,  die  sich 
an  seinen  Namen  knüpft,  großenteils  für  echt  volkstümlich  halten;  freilich 
aber  wird  eine  solche  Gestalt  auch  die  mythologische  Phantasie  des  is- 
ländischen Gelehrten  angeregt  haben,  so  gut  wie  die  Odins  die  eines 
Saxo 8) ! 

Diese  Sagen  beziehen  sich  überwiegend  auf  Thors  Fahrten  und 
Riesen  kämpfe.  Er  ist  immer  unterwegs,  wie  der  Herr  eines  großen 
Unternehmens;  wie  der  Inspektor  eines  ausgedehnten  Gutes  immer  in 
Bewegung.  Diese  Tätigkeit  wird  ganz  realistisch  angeschaut,  daher  auch 
(wie  bei  Herakles)  seine  charakteristische  Eßlust9). 

Auf  seinen  Fahrten  begleitet  ihn  oft  Thjälfi,  vielleicht10)  »der 
Arbeiter«  —  eine  Personifikation  des  Blitzes11)?,  wenn  er  nicht  eben  ein- 
fach der  Diener  und  Gefolgsmann  des  Gottes  ist,  wie  Frey  und  Frigg 
solche  Boten  und  Botinnen  bei  sich  haben;  eine  frühe  Hypostase  Thors 
könnte  er  freilich  deshalb  so  gut  sein  wie  Skirnir  eine  solche  Freys.    Daß 


x)  Die  Str.  60  und  62  sind  wohl  Doubletten;  selbst  die  stärkere  Str.  60 
—  etwa  von  einem  Gegner  Thors  eingelegt?  —  braucht  man  nur  mit  Härb. 
Str.  26  zu  vergleichen,  um  zu  erkennen,  wie  hier  alles  für  Thor  gestimmt  ist! 

2)  Str.  64.  3)  Vgl.  u.  4)  Str.  55. 

5)  Meyer  S.  361,  Mogk  S.  361. 

6)  Meyer  S.  232. 

7)  Ev.  Marc.  14,  47,  Luc.  22,  50,  Matt.  26,  51  nach  Ev.  Joh.  18,  10  auf  Petrus 
zu  beziehen;  Vol.  Str.  26:  »Nur  Thor  schlug  zu  voll  trotz'gen  Mutes  —  selten 
sitzt  er,  wenn  er  solches  vernimmt. & 

8)  v.  d.  Leyen  (Sagenbuch  S.  160)  sieht  viel  zu  viel  Hohn  der  Dichter  in 
diesen  gemütlichen  Scherzlegenden. 

9)  Mogk  S.  357:  Thrymskv.  Str.  24—25. 
10)  Uhland  6,  33. 

n)  Mogk  S.  358;  Much,  Himmelsgott,  S.  234. 

19* 


292  Viertes  Kapitel. 

die  Figur  alt  ist,  macht  Olrik1)  aus  lappischen  Mythen,  die  sich  auf 
den  —  von  den  Germanen  entlehnten  —  Thor  beziehen,  wahrscheinlich ; 
er  kommt2)  auch  in  Schweden  vor3). 

Olrik  ist4)  geneigt,  auch  Thjälfis  Schwester  Röskwa  für  alt  zu  halten, 
als  eine  Fruchtgöttin,  wie  Fauna;  doch  gesteht  er  selbst  die  geringe  Be- 
glaubigung ein. 

Auch  Loki  begleitet  ihn  gern;  als  Feuer?,  als  einfacher  untergeordneter 
Dämon5)  oder  aus  jenem  Behagen  der  Legendenerzählung  heraus,  das 
Kraft  und  Schlauheit  so  gern  kontrastiert6)?  Auf  jeden  Fall  wird  man 
gerade  bei  diesen  liebevoll  ausgesponnenen  Erzählungen  der  frei  er- 
findenden Phantasie  einiges  Recht  zugestehen  müssen  und  nicht  jede 
Einzelheit  (wie  besonders  Uhland  tat)  als  mythologisch  gebunden  ansehen 
dürfen. 

Die  Riesenkämpfe  zeigen  ihn  als  Wohltäter,  der  böse  Dämonen  ver- 
scheucht7), wie  Herakles  und  Theseus  auf  ihren  Streifereien  tun;  auch  sie 
sind  aber  nicht  alle  ins  Einzelne  auszudeuten8).  Man  denke  doch  nur 
an  das  höfische  Epos  des  Mittelalters:  aus  den  unumgänglichen  Voraus- 
setzungen der  Erzählungskunst  ergeben  sich  auch  da  Kontrastfiguren  wie 
der  feige  Keii,  wie  der  betrügerische  Drachentöter  im  Tristan,  oder  wie 
anderseits  die  tölpelhaften  Riesen,  Wate,  Ilsant.  Auch  dort  streift  der  Held 
durch  die  Welt,  um  edle  Taten  zu  verrichten,  tötet  Drachen,  befreit  Jung- 
frauen, wird  von  Zauberern  genarrt.  So  gewiß  diese  Motive  sich  an  der 
Quelle  der  Mythologie  nähren,  so  gewiß  sind  sie  doch  an  sich  dem  Epos 
unentbehrlich,  und  Goethe  hat  nicht  lauter  einzelne  Allegorien  im  Sinn, 
wenn  er  in  seinem  »Neuen  Amadis«  die  Kinderträume  schildert:  »und 
ich  ward  ein  warmer  Held  ....  und  durchzog  die  Welt;  warf  mein 
blinkendes  Geschoß  Drachen  durch  den  Bauch  ....  Ritterlich  befreit*  ich 
dann  die  Prinzessin  Fisch  ...... 

Vielleicht  die  älteste  Tat  Thors  ist  die  Tötung  des  Thiäzi9).  Thiäzi 
ist  nach   Hellquist10)  ein   Kurzname,   der   einem   mächtigen   Sturmriesen 


*)  Danske  Studier  2,  129;  vgl.  3,  65. 

2)  Ebd.  2,  136. 

3)  Vergleichbar  ist  vielleicht  der  indische  Matarisvan  (Macdon eil  S.  71), 
der  Bote  und  Diener  Vivasvants,  doch  auch  zu  Agni  in  nahen  Beziehungen;  er 
ist  wohl  sicher  der  Blitz  (S.  72). 

4)  a.  a.  O.  S.  137. 

6)  Vgl.  Olrik,  Danske  Studier  1905,  S.  140f.;  bes.  S.  145;  hier  auch  ent- 
lehnte Mythen  der  Esthen. 

6)  Vgl.  Mogk  S.  358. 

7)  Mogk  S.  360. 

8)  Golther  S.  265f. 

9)  Golther  S.  2.  449,  Mogk  S.  350,  Meyer  S.  229 f. 
10)  Ark.  f.  nord.  Fil.  21,  132f. 


§  17.    Hauptgötter.  293 

Alvaldi  der  Allgewaltige  beigelegt  wurde;  später  machte  man  ihn  zu 
dessen  Sohn.  Ein  Sturmdämon  wird  es  wohl  sein,  den  der  Donnergott 
bändigt:  dahin  weist  auch  die  Adlergestalt  und  die  Entführung  in  der 
(im  übrigen,  wie  schon  die  Verbindung  mit  Odin  zeigt,  stark  überarbeiteten) 
Sage  der  Bragaroedur  *).  Die  älteren  Quellen  melden,  daß  Thor  »der  erste 
und  letzte  bei  einem  (gemeinschaftlichen)  Angriff  anf  Thjäzi  war2);  daß 
er  den  trotzigen  Riesen,  Alvaldis  Sohn,  erschlug  und  seine  Augen  an  den 
Himmel  warf3);  daß  er  böse  war4);  ferner  übereinstimmend,  daß  Thjäzi 
der  Vater  der  Skadi  war,  die  seinen  Tod  rächen  wollte.  (Deshalb  machen 
die  Grim.  Str.  11  Thjäzi  zum  Vorbesitzer  von  Skadis  Burg  Thrymheim, 
obwohl  solche  Immobilienerbschaft  an  Töchter  problematisch  ist.) 

Altertümlich  sind  zwei  Züge:  die  Bildung  des  Sternbildes5)  und  der 
gemeinschaftliche  Angriff  (wie  er  Brag.  auch  geschildert  wird).  Aber  auch 
die  ganze  Art,  wie  von  dem  Abenteuer  gesprochen  wird,  scheint  einen 
alten,  uralten  Mythus  vorauszusetzen,  auf  den  man  sich  gern  Anspielungen 
erlaubte.  —  Nun  ist  in  Brag.  das  von  der  isländischen  Freude  an  Bränden 
diktierte  abscheuliche  Verbrennen  des  Adlers  gewiß  jung  —  alt  aber  wohl 
daß  Thjäzi  innerhalb  des  Gitters  von  Asgard«  fiel.  Dies  also  war  wohl 
die  Urform :  ein  gewaltiger  Riese  bricht  in  die  Götterburg  ein  (und  raubt 
eine  Göttin?  vgl.  Thryms  Begehr  nach  Freyja).  Die  Hauptgötter  greifen 
ihn  nun  an  —  aber  dann  schlägt  Thor  trotzigen  Mutes  zu6)  und  wirft 
als  Zeichen  des  Triumphes  die  Augen  des  Riesen  an  den  Himmel.  Es 
wäre  die  älteste  Form  des  Provokationsmythus7)  und  später  (durch 
Skadi -Njörd)  mit  dem  Wanenkrieg  verbunden.  —  Diese  Tat  Thors  ist 
dann  sein  Haupttitel,  Sieg  und  Rettung  zugleich;  wie  Indra  der  Töter 
Vritras,  Apollon  der  des  Python,  wie  die  Acvinen  die  Retter  Bhujyns,  ist 
er  der  Besieger  Thjäzis. 

Alt  und  mythisch  scheint  auch  die  Legende  von  Aurvandil8): 
Thor  trägt  den  Riesen  Unverzagt  über  die  Eiswogen  von  dem  kalten 
Riesenland  im  Nordosten  her.  Diesem  erfriert  ein  Zeh,  der  aus  dem 
Korb  hervorgeblickt  hatte;  der  Gott  bricht  ihn  ab  und  wirft  ihn  an  den 
Himmel,  so  daß  »Aurvandils  Zeh«  ein  Sternbild  wird:  der  Name  Aurvandil 
wird  mit  sanskrit  usra,  lateinisch  aurora  zusammengebracht9). 

2)  Brag.  cap.  2:  Gering  S.  353.  2)  Lok.  Str.  50. 

3)  Härb.  Str.  19.  4)  Hyndl.  Str.  31,  d.  h.  Vol.  h.  sk. 

5)  Vgl.  u.  zu  Aurvandils  Zeh;  über  solche  »Verstirnung<  allgemein  H.  Schmidt , 
IJona,  Göttingen  1907,  S.  63. 

6)  Vol.  Str.  26. 

7)  Siehe  u.;  eine  altgriechische  Analogie  bei  Bethe,  Hektors  Abschied, 
Leipzig  1909,  S.  428  f. 

8)  Golther  S.  269,  Mogk  S.  360. 

9)  Auch  Mogk  (Sammlung  Göschen  S.  69)  hält  ihn  für  einen  etymologischen 
Mythus  aus  dem  Namen  des  Morgensterns,  angelsächsisch  earendel. 


294  Viertes  Kapitel. 

Soweit  mag  der  Mythus  noch  auf  den  ursprünglichen  Gewittergott 
zurückgehen,  der  den  dunklen  Himmel  reinigt  und,  indem  er  von  Nord- 
osten dahergefahren  kommt,  die  Sternbilder  wieder  sichtbar  macht.  Aur- 
vandil  wäre  dann  ein  alter  Helligkeitsdämon,  wozu  die  sehnsüchtige  Er- 
wartung seiner  Göttin  Gröa1)  recht  wohl  ^passen  würde,  ebenso  auch  die 
selbständigen  Legenden,  die  Saxo2)  von  dem  Kampf  des  Horvendillus 
gegen  den  norwegischen  König  Coli erus,  »die  personifizierte  Kälte«  3)  aus- 
zuf echten  hat,  und  vielleicht  doch  auch  ein  Kern  der  mittelhochdeutschen 
Orendelsagen. 

Für  die  Form  dieses  Mythus  ist  zu  bemerken,  daß  Legenden  vom 
tragenden  Gott  oder  Heros  typisch  sind.  Abgesehen  von  dem  Typus  des 
umklammernden,  quälenden  Alps  (Sindbadtypus)  haben  wir  einerseits  den 
ruhenden  Träger  (Atlas),  anderseits  den  schreitenden  (Christophorus).  Dies 
Bild  wird  ausgeschmückt,  indem  der  Träger  allerlei  stützende  Grundlagen 
unter  die  Füße  erhält  (er  steht  auf  der  Schildkröte  usw.),  der  Schreitende 
dagegen  durch  Unterschieben  unter  die  Last  erleichtert  wird4).  In  dieser 
Weise,  denke  ich  mir,  ist  der  Gewittergott,  der  den  Morgenstern  (?)  über 
die  dunklen  (Himmels-)Wogen  herüberträgt,  zu  seinem  Tragekorb  ge- 
kommen. 

Doch  ist  der  ursprüngliche  Mythus  Aurvandils  nicht  zu  rekonstruieren. 
Es  kann  sich  um  das  Schema  der  »relativen  Unverwundbarkeit«  handeln : 
das  Gotteskind  wird  durch  die  Kälte  getragen,  nur  der  Zeh  erfriert,  wie 
etwa  bei  den  sieben  Rabenbrüdern  ein  Arm  als  Rabenflügel  »unerlöst« 
bleibt.  Doch  scheint  es  mir  wahrscheinlicher,  daß  ursprünglich  ein  Kampf 
zwischen  dem  Götterdämon  und  dem  Frostriesen  vorliegt,  dem  Thor  dann 
eine  Zehe  abbricht  (wie  Grendel  den  Arm,  Tyr  die  Hand  verliert),  um 
sie  als  Trophäe  an  den  Himmel  zu  werfen.  Zumal  Hrungnirs  Fuß5) 
erinnert  stark  an  Aurvandils  Zehe.  So  droht  auch6)  Thor  dem  Loki,  er 
werde  ihn  »aufwärts  gen  Osten«  schleudern,  wo  keine  Seele  ihn  mehr 
sehen  werde.  Ebenso  sollen  Burs  Söhne  Ymirs  Gehirn  an  den  Himmel 
geschleudert  haben 7).  —  Also  eine  Dublette  zu  dem  andern  alten  Mythus : 
Thor  wirft  Thjäzis  Augen  als  Gestirn  zum  Himmel8). 


J)  Skäldsk.  cap.  1:  Gering  S.  360. 
2)  1,  135f. 
*)  Mogk  a.  a.  O. 

4)  Das  Kissen  des  Herakles  (Prell er  2,  220);  vgl.  die  breit  auslagernden 
Säulenkapitelle. 
6)  Siehe  u. 

6)  Lok.  Str.  59. 

7)  Gylf.  cap.  8:  Gering  S.  303. 

8)  Härb.  Str.  19.  Das  Schleudern  an  den  Himmelsraum  als  triumphierendes 
Vernichten  des  Gegners  ist  wohl  die  ältere  Form  für  das  spätere  Versetzen  an 
den  Himmelsraum  <,  wie  bei  der  Oriongruppe  (Prell er  1,  466). 


§  17.    Hauptgötter.  295 

Wie  die  Geschichte  von  Hrungnir1)  bei  Snorri2)  vorliegt,  ist  sie 
offenbar  ein  Konglomerat  verschiedener  Mythen.  Wir  können  zunächst  aus 
Anspielungen  der  Edda  feststellen,  daß  (erstens)  Thor  Hrungnir  getötet 
hat3)  und  zwar  (zweitens)  mit  dem  Hammer4),  weil  (drittens)  Hrungnir  ein 
Riese5)  mit  steinernem  Haupt6)  war.  Alles  Übrige  bleibt  hypothetisch. 
Doch  lassen  sich  aus  Snorris  Erzählung  etwa  folgende  Elemente  aus- 
sondern 7) : 

Es  scheint  eine  alte  Legende  gegeben  zu  haben,  wie  der  aufs  Höchste 
gestiegene  Übermut  der  Giganten  die  Götter  in  ihrem  eigenen  Heim 
herausforderte.     Hiervon  haben  wir  drei  Lesarten: 

1.  Thjäzi  (raubt  eine  Göttin?  und)  wird  »innerhalb  des  Gitters  von 
Asgard«  getötet  —  gewiß  keine  Erfindung  Snorris! 

2.  Hrungnir  kommt  nach  Asgard  und  droht  Walhall  nach  Jötunheim 
zu  schaffen. 

3.  Loki  kommt  zu  Ägirs  Gastmahl  und  fordert  alle  Götter  und 
Göttinnen  durch  Hohnreden  heraus. 

Beiden  letzteren  Varianten  ist  gemein,  a)  daß  der  fremde  Gast  auf  sein 
Verlangen  mit  den  Göttern  zum  Trinkgelage  zugelassen  wird,  b)  daß  er 
sie  durch  Spott  reizt,  c)  daß  die  Rückkehr  Thors  der  Frechheit  des  Zu- 
dringlings  ein  Ende  macht8).  Beide  dienten  wohl  ursprünglich  als  Vor- 
spiele zur  Götterdämmerung,  mit  der  die  Lok.  ja  noch  jetzt  Lokis  Lästerungen 
verbindet.  Auf  eine  ins  Einzelne  gehende  Ausarbeitung  deutet,  daß 
beidemal  eine  Göttin  9)  dem  Fremden  einzuschenken  wagt  und  dafür  (Lok. 
zu  Str.  52  Sif,  Skäldsk.  cap.  1  Sif  und  Freyja)  ausgenommen  wird  von 
der  allgemeinen  Verwünschung. 

Alt  ist  gewiß  auch  jener  Kampf  mit  Hrungnir  dem  Lärmer,  dem 
Vertreter  riesischen  Übermuts10),  der  wie  ein  Doppelgänger  Thors 
mit  Kraft  und  Durst  prahlt:  wir  werden  dem  Motiv  der  Herausforderung 
Thors  noch  öfter  begegnen.  Es  kommt  zu  einem  Zweikampf,  bei  dem 
Thor  wohl  auf  den  steinernen  Kopf  zunächst  vergeblich  schlug,  bis 
irgendein  Zaubermittel  angegeben  ward  (wie  es  bei  der  Tötung  »gefrorener« 
Zaubermenschen   üblich    ist).     Dann   stürzt   er   und   würgt  sterbend  Thor 

1)  Golther  S.  267 f.,  Mogk  S.  361,  Meyer  S.  231. 

2)  Skäldsk.  cap.  1:  Gering  S.  357. 

3)  Härb.  Str.  14. 
*)  Lok.  Str.  61. 

5)  Hym.  Str.  16. 

6)  Härb.  Str.  15. 

7)  Anders  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  179. 

8)  Vgl.  auch  Vol.  Str.  23:  Frage  des  Anteils  am  Opferschmaus,  und  cap.  26: 
Thors  Zuschlagen. 

9)  Lok.  zu  Str.  52  Syl,  Skäldsk.  cap.  1  Freyja. 
10)  Meyer  a.  a.  O. 


296  Viertes  Kapitel. 

mit  seinem  Fuß,  bis  dieser  von  dem  Hals  des  Gottes  heruntergeworfen  — 
und  wohl  an  den  Himmel  geschleudert  wird. 

Dieser  Kampf  mit  Hrungnir  erinnert  wohl  an  den  mit  Hymir  in  der 
Betonung  der  rohen  Unverwundbarkeit  des  Riesen;  aber  das  charakte- 
ristische Merkmal  der  Hymirlegende,  das  Holen  des  Kessels,  fehlt,  so  daß 
Hrungnir  und  Hymir  nicht  als  Dubletten  zu  betrachten  sind. 

Diese  beiden  Mythen:  von  dem  Herausforderer  vor  der  Paradiespforte 
und  von  dem  Herausforderer  Thors  zum  Zweikampf  sind  vielleicht  erst 
durch  Hrungnirs  Namen  verbunden.  Der  Kampf  zwischen  Thor  und 
Hrungnir  mag  noch  elementar  zu  deuten  sein,  zwar  schwerlich  als  ein 
Kampf  zweier  Gewitter1),  denn  jedes  Gewitter  gehört  Thor;  aber  etwa 
ais  der  Kampf  des  luftreinigenden  Gewitters  gegen  böse  Dämonen  und 
Dienste  (Beowulf  gegen  Grendel).  —  Sie  werden  nun  weiter  mit  der 
Aurvandil-Legende  verbunden:  Thor  erzählt  diese  der  Gattin  Aurvandils, 
damit  sie  ihm  einen  Dienst  leistet  (oder  zum  Dank  für  ihren  Dienst)  — 
und  infolgedessen  mißlingt  Gröas  Bemühung,  und  der  verwundete  Thor 
bleibt  ungeheilt!  Das  ist  gegen  alle  mythologische  Logik  und  kann  in 
dieser  Form  unmöglich  ursprünglich  sein. 

Wir  hätten  soweit  in  Snorris  Hrungnirbericht  erstens  den  Kampf 
zwischen  Thor  und  Hrungnir  (auch  von  Thjodolf  von  Hvin  besungen); 
zweitens  damit  verbundene,  gleichfalls  alte  Mythen:  die  Herausforderung 
der  Götter,  und  Aurvandil.  Dazu  kommt  weiter  drittens  eine  Vorgeschichte, 
die  Hrungnirs  Ankunft  vor  Asgard  motiviert;  vielleicht  enthält  sie  in  dem 
Wettritt  zwischen  Odin  und  Hrungnir  ein  altes  mythologisches  Moment: 
man  denke  an  Beowulfs  Wettschwimmen,  an  Thors  Kraftproben !  Viertens 
folgt  eine  Ausmalung  des  Zweikampfes.  Da  Thor  seinen  Thiälfi  hat,  erhält 
auch  Hrungnir  seinen  Sekundanten  Mökkurkalfi :  einen  künstlichen  Lehm- 
riesen mit  dem  Herz  einer  Stute.  Man  deutet  auch  ihn  elementar:  der 
umnebelt  aus  dem  Lehmgrund  aufragende  Fels« 2)  oder  die  Dünste  des 
feuchten  Lehmbodens,  die  sich  als  Wasser  niederschlagen.  Ich  möchte  in 
diesem  Riesen,  der  vor  Angst  Wasser  läßt  (was  Thor  bei  Fjalar  nicht 
wagt)3)  nur  ein  komisches  Gegenbild  der  Tapferkeit  sehen  und  in  seinem 
Kampf  eine  jener  beliebten  alten  komischen  Kampfepisoden,  wie  die  von 
Jorcus  und  Zivelles.  Oder  sollte  ein  Götterspott  der  Thorverehrer  auf 
einen  asischen  Bundesgenossen  dahinter  stecken?  Fünftens  kommt  dann 
eine  Ausmalung  der  Verwundung,  bei  der  der  märchenhafte  fliegende  Wetz- 
stein, den  Odin  als  Riesenknecht  gebraucht4),  noch  einmal  zur  Ver- 
wendung  kommt;    sechstens    wird    ein    Mythus   von    dem    riesenstarken 

J)  Meyer  S.  231,  der  Jeremias  Gotthelf  heranzieht. 

2)  Golther  S.  183. 

3)  Härb.  Str.  27. 

4)  Brag.  cap.  4 :  G  e  r  in  g  S.  356. 


§  17.    Hauptgötter.  297 

Götterknaben  Magni  (vgl.  Herakles  in  der  Wiege!)  hineingeschmuggelt, 
indem  die  Befreiung  von  dem  Riesenfuß  ihm  zuerteilt  wird. 

Ungefähr  so,  scheint  mir,  wird  Hrungnir  bei  genauerer  Analyse  seinen 
Mythus  behalten;  wie  Snorri  die  Erzählung  gibt,  ist  sie  selbst  ein  künst- 
licher Lehmriese,  aus  mythischen  Elementen,  märchenhaftem  Schmuck  (das 
steinerne  Herz;  der  Wetzstein)  und  seltsamen  Motivierungen  künstlich 
zusammengebacken.  — 

Eine  ähnliche  Lagerung  verschiedener  Schichten  wird  man  wohl  bei 
einem  der  berühmtesten  Thorabenteuer  annehmen  müssen:  bei  den  Er- 
lebnissen Thors  in  Utgard1).  Ich  war  früher  geneigt,  die  ganze 
Geschichte  für  eine  junge  Fabel  zu  halten;  aber  es  sind  doch  einige 
Punkte,  die  das  zweifelhaft  machen. 

Als  wesentlich  alter  Kern  scheint  ein  Mythus  auszuschälen,  wonach 
Thor  auf  einer  Fahrt  sich  vor, Riesen  flüchten  muß  und  zwar  in  den 
Handschuh  eines  Riesen  2) ;  weil  Skrymir  seinen  Ranzen  fest  zugeschlossen 
hatte,  mußte  der  heißhungrigste  der  Götter  hungern3).  Auch  die  Finnen 
erzählen,  wie  der  Donnergott  bei  den  Riesen  eingesperrt  und  gefesselt, 
dann  aber  durch  einen  seiner  Knechte  befreit  ward4). 

Vermutlich  liegt  einer  jener  Mythen  vom  gefangenen  Gott  vor, 
wie  bei  Njörds  Vergeiselung 5)  oder  in  der  Simsonsage.  Man  könnte 
denken,  daß  sie  als  Gegenstück  zu  der  von  Hrungnir  angelegt  war:  wie 
dort  der  Riese  seinen  Bezirk  verließ,  um  die  Götter  herauszufordern,  so 
mag  hier  Thor  aus  seiner  Welt  herausgegangen  sein,  um  die  Riesen  (oder 
den  stärksten  der  Riesen)  herauszufordern.  Denn  dies  Motiv  der  Aus- 
forderung zum  Zweikampf6)  scheint  wesentlich;  es  ist  vielleicht  auch  noch 
für  die  Rahmenfabel  der  Vaf.  benutzt  (der  Gott  kommt  zum  Riesen  und 
ist  dem  Tod  verfallen,  wenn  er  in  einer  Wettprobe  nicht  siegt;  ähnlich 
umgekehrt  wieder  Alv.).  Der  Zweikampf  war  vermutlich  ursprünglich 
eben  nur  ein  solcher  und  zwar  um  Kraft:  Thor  konnte  den  von  dem 
Riesen  zugeschnürten  Sack  nicht  öffnen  usw.  —  Aher  wie  Mökkurkälfi 
um  des  Thjälfi  willen  erfunden  scheint,  sind  dann  neue  Kraftproben  nötig, 
als    dieser   und   Loki    Begleiter  Thors    geworden   sind7).     Nun    werden 


!)  Golther  S.  276f.,  Meyer  S.  243f.,  Mogk  S.  363.  —  Gylf.  cap.  45f.: 
Gering  S.  335. 

a)  Lok.  Str.  60,  Härb.  Str.  26. 

3)  Lok.  Str.  62. 

4)  K.  Krohn,  Lappische  Beitr.  zur  germ.  Mythol.,  S.  166. 

5)  Vgl.  Lok.  Str.  34. 

6)  Vgl.  Loki  und  Bragi  Lok.  Str.  15. 

7)  Eine  Spur  seiner  ursprünglichen  Einsamkeit  zeigt  vielleicht  noch  Gyif. 
cap.  45,  indem  nur  Thor  herüberschwimmt,  und  seine  Begleiter  —  hier  noch 
Röskwa  —  dann  auch  drüben  sind. 


298  Viertes  Kapitel. 

märchenhafte  Kraftproben  erfunden  x)  oder  vielmehr  übertragen :  die  Vir- 
tuositäten Thors,  Stärke,  Schnelligkeit,  Appetit,  werden  auf  drei  Personen 
verteilt  —  immer  aber  unterliegt  der  Gott. 

Dies  muß  seine  Verehrer  verdrossen  haben.  Der  Gott  sollte  nicht 
unterlegen  sein.     Dazu  gibt  es  drei  Wege: 

1.  Er  wird  befreit  und  siegreich  —  dies  wird  die  ältere,  bei  den  Lappen 
bewahrte  Form  sein. 

2.  Er  wird  besiegt  —  aber  nur  in  der  unwirklichen  Welt.  Jenseits  der 
Welt,  in  Utgard,  da  hört  seine  Kraft  auf  —  da  wo  die  reinen  Formen 
wohnen,  die  »Ideen»,  der  Gedanke,  der  schneller  als  alle  Tat  ist2) —  das 
Alter,  das  den  Stärksten  bezwingt.  Daß  dies  sinnige  Spiel  mit  Allegorien 
jung  sei,  hat  niemand  bezweifelt,  v.  d.  Leyen3)  erinnert  sehr  gut  an  das 
Ausmalen  der  Unterwelt,  wo  Hunger  die  Schüssel,  Schwund  das  Messer, 
Träghans  der  Knecht  ist.  Oder  man  mag  an  F,ontenelles  »Empire  de 
la  poe'sie«4)  erinnern,  wo  es  etwa  heißt:  »Die  große  Provinz  ,Nach- 
ahmung'  ist  unfruchtbar,  und  bringt  nichts  hervor.  Ihre  Einwohner  sind 
arm,  und  holen  sich  die  Nahrung  von  den  Feldern  der  Nachbarn  —  wobei 
allerdings  einige  zu  Wohlstand  gekommen  sind5).«  Ähnliche  geistreiche 
Entwickelungen  allegorischer  Begriffe  findet  man  bei  mittelalterlichen 
Poeten,  oder  bei  Ferdinand  Raimund  —  volkstümlich  ist  das  nicht,  sondern 
gelehrt  wie  ein  spanisches  Auto. 

Aber  diese  allegorische  Ausdeutung  von  Thors  Niederlagen  muß 
relativ  früh  vor  sich  gegangen  sein,  denn  das  Märchen  kam  als  solches 
nach  Island G)  und  ward  in  Island  populär  7). 

3.  Er  wird  nur  scheinbar  besiegt —  alles  war  nur  ein  Spiel8);  sonst 
hätte  Thor  nicht  alle  niedergeschlagen. 

Utgard,  die  unwirkliche  Welt,  wird  nun  ein  Lieblingsgegenstand 
spekulativer  Phantasien.  Für  Saxo  ist  es  einfach  »das  Jenseits«,  das  er 
mit  einem  seltsamen  Aufwand  mythologischer  Gelehrsamkeit  ausstaffiert9); 
noch  einfach  der  großartige  Herr  einer  Welt,  in  der  Thor  »nix  to  seggen 


J)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  40 f. 

2)  Übrigens  eine  uralte  Metapher,  schon  auf  Indras  Wagen  angewandt 
(Macdon eil  S.  55).  Ebenso  begegnet  das  alles  bezwingende  Alter  schon  früh 
im  angelsächsischen  Rätsel  (B ran  dl  Altengl.  Lit.,  S.  1092);  selbst  Saxos  Personi- 
fikation des  Hungers  (S.  39;  Herrmann  S.  48f.)  klingt  volkstümlich. 

3)  PBB.  33,  384. 

4)  CEuvres  5,  1.  5)  S.  9. 

6)  v.  d.  Leyen,  PBB.  33,  3821 

7)  Ebd.  S.  384.  —  Anderer  Art  ist  das  »schwere  Kind«  der  Deutschen 
Sagen  I.  N.  14. 

8)  Gylf.  cap.  47. 

9)  Vgl.  Golther  S.  279.  Thorkil-Thor  sieht  Geruth-Prometheus  und  den 
Herrn  der  Hölle  an  Händen  und  Füßen  mit  eisernen  Ketten  crefesselt  —  Loki- 


§  17.    Hauptgötter.  299 

hat«,  einer  Welt  von  ungeheueren  Dimensionen,   deren  weitere  Märchen- 
züge v.  d.  Leyen  *)  hübsch  aufgewiesen  hat. 

Wie  viel  hypothetisch  bleibt,  ist  zu  sehen ;  klar  scheint  mir  doch,  daß 
der  alte  Mythus  von  Thors  üblen  Erlebnissen  bei  einem  Riesen  (dessen 
alter  Name  wohl  der  auf  Ymir  und  Hymir  reimende  Skrymir  ist)2)  von 
den  späteren  Fabeleien  über  Utgard  und  Utgardaloki  (der  Name  »Pförtner 
von  der  Hölle«  kommt  noch  in  Deutschland  vor)  zu  scheiden  ist. 

Mit  der  Utgardfabel  hängt  irgendwie  die  durchaus  märchenhaft  ge- 
haltene Erzählung  von  Thors  Höllenfahrt3)  zu  Geirröd  zusammen4). 
Auch  hier  scheinen  Bruchstücke  sehr  alter  Mythen  mit  junger  Aus- 
schmückung in  gewaltsamer  Weise  zusammengeleimt.  Die  weite  Ver- 
breitung dieser  gleich  der  Utgardsage  sehr  beliebten  Fabel5)  hat  gewiß 
zu  diesen  Amalgamierungen  viel  beigetragen;  das  letzte  hat  aber  wohl 
auch  hier  der  große  Mytholog  Snorri  selbst  getan6). 

Der  Kern  der  Sage  scheint  darin  zu  stecken,  daß  Thor  den  Loki  aus 
der  Gefangenschaft  befreit  —  ein  ähnliches  Motiv  wie  in  der  vor  den 
Reg.  verwerteten  Erzählung,  wie  die  Götter  sich  aus  der  Gefangenschaft 
der  Zwerge  lösen  mußten.  Auch  hier  scheint  als  Bedingung  der  Frei- 
lassung7) ein  Kampf  zwischen  Gott  und  Riesen  aufgestellt  gewesen  zu 
sein  und  zwar  mit  der  erschwerenden  Klausel,  daß  der  Gott  von  seinen 
Attributen  —  Hammer,  Kraftgürtel,  Handschuh  —  keinen  Gebrauch 
machen  dürfe  —  Kampfbedingungen,  wie  sie  im  Epos  auch  begegnen. 
Hierdurch  erhält  also  die  Geschichte  den  gleichen  Reiz  wie  die  Utgard- 
fabel: der  Held  glaubt  selber  nicht  mehr  Thor  zu  sein8).  Das  Ende  ist 
natürlich  Thors  Sieg  und  die  Tötung  des  Ungeheuers,  das  Loki  ge- 
fesselt hat. 


Satanas.  Bei  Snorri  dagen  (vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  46)  ist  Utgarda-Loki 
der  Beschließer  der  jenseitigen  Welt,  den  Gering  S.  337  Anm.  mit  Loki  indenti 
fiziert,  während  ich  jede  auch  nur  etymologische  Berührung  ablehnen  möchte. 

J)  Märchen  S.  401 

2)  Lok.  Str.  62. 

3)  v.  d.  Leyen  S.  45. 

*)Golther  S.  274,  Meyer  S.  232,  Mogk  S.  361.  —  Skäldsk.  cap.  2: 
Gering  S.  361. 

B)  Vgl.  Mogk  S.  362. 

6)  Die  Geschichte  war  im  Norden  besonders  beliebt:  » König  Harald  hardradi 
von  Norwegen  (1047—66)  ging  einmal  mit  Skald  Thjodolf  über  die  Gasse  und 
hörte,  wie  sich  in  einem  Hause  ein  Gerber  und  ein  Schmied  zankten.  ,Mach 
mir  augenblicklich  ein  Gedicht  hierauf,  rief  er  dem  Skalden  zu,  ,der  eine  der 
Kerle  sei  der  Riese  Geirröd,  der  andere  Thor'«  (Wein hold,  Altnord.  Leben, 
S.  234).    Der  Schmied  mit  seinem  Hammer  soll  natürlich  den  Thor  vorstellen. 

7)  Wie  bei  Hymir,  siehe  u. 

8)  Lok.  Str.  60. 


300  Viertes  Kapitel. 

Ein  ursprünglicher  Naturmythus  r)  mag  (wie  bei  dem  Hymir-Mythus, 
s.  u.)  vorliegen;  vielleicht  eine  Erzählung,  wie  das  Feuer  von  den  Riesen 
zurückgeraubt  wurde  (»Feuersnot«  im  Sinne  Richard  Strauß'!)  und  von 
den  Göttern  zurückerobert  werden  mußte.  In  der  vorliegenden  Form 
aber  konzentriert  die  Erzählung  ihr  Interesse  auf  zwei  Punkte: 

1.  Thor  ist  ohne  seine  Attribute.  Ob  wohl  die  illoyale  Lösung,  daß 
der  Gott  sich  gleichwertige  Werkzeuge  von  einem  freundlichen  Riesen- 
weib borgt,  ursprünglich  ist?  (Die  wohlgesinnte  Riesin  begegnet  auch 
in  der  Hym.),  Das  Ältere  war  wohl,  daß  auf  wunderbare  Weise  ihm  die 
Kräfte  zuflössen,  die  sonst  in  Hammer,  Gürtel  (und  Handschuhen)  ver- 
borgen waren,  wie  dies  durch  den  alten  Vers,  den  Snorri 2)  zitiert,  noch 
angedeutet  scheint:  mit  dem  Wachsen  der  Flut  wächst  ihm  die  (sonst  im 
Gürtel  deponierte)  Kraft,  wie  dem  Völund  die  Flügel  (vielleicht)  und  dem 
Simson  die  Haare  der  Kraft  wieder  wachsen.  Wie  der  Fluß  die  Kraft, 
gab  vielleicht  der  Vogelbeerbaum  den  Stab  (vgl.  Balders  Mistelzweig!). 

2.  Die  Vorgeschichte  von  Lokis  Gefangenschaft  ist  ganz  märchenhaft 
nicht  ohne  Anstücken  alter  Reste:  zu  Lokis  Verkleidung  in  Freyjas  Falken - 
gewand  ist  an  die  Thrymskvida  zu  erinnern,  und  wenn  Loki  in  der  Kiste 
drei  Monate  hungern  muß,  liegt  hier  vielleicht  in  primitiver  Art  das  Motiv 
vor,  das  wir  rationalistisch  in  Utgard  haben,  wo  Thor  hungert,  weil  er 
den  Ranzen  nicht  öffnen  kann. 

An  diesen  beiden  »Leimstangen«  ist  nun  weiter  noch  anderes  hängen 
geblieben,  wie  Loki  an  dem  Stocke3).  Die  Töchter  Geirröds  mit  zer- 
brochenem Rückgrat4)  begegnen  in  Saxos  Bericht  von  Utgard  (um  eine 
vermehrt),  wo  auch  der  vom  Eisen  durchbohrte  Geirröd  nicht  fehlt.  (Daß 
der  Geirröd  der  Grim.  durch  sein  eigenes  Schwert  durchbohrt  wird,  ist 
wohl  nur  zufällige  Übereinstimmung.) 

Undenkbar  ist  es  nicht,  daß  auch  die  rein  märchenhaft  anmutenden 
Bestandteile  auf  alte  Mythen  zurückgehen.  Vielleicht  hat  ursprünglich  der 
»Speerröter«  den  Loki  getötet,  indem  er  seine  Seele  (den  Seelenvogel) 
fing  und  Thor  mußte  ihn  beleben;  der  glühende  EisenkeH,  den  Geirröd 
nach  ihm  schleudert,  war  wohl  ursprünglich  sein  eigener  Donnerhammer, 
so  daß  die  Bedingung  vom  Fehlen  der  Attribute  Thors  auf  einen  ursprüng- 
lichen Raub  aller  Rangzeichen  zurückzuführen  wäre.  — 

Eine  andere  Reihe  von  Legenden  knüpft  an  die  Heimkehr 
Thors  an.     Es    ist  seine  typische  Situation,   auswärts  zu  sein  oder  eben 

1)  Meyer  S.  233. 

2)  Gering  S.  362. 

3)  Mit  dem  automatischen  Zauber  des  Klebens  spielt  die  Volksphantasie 
auch  sonst  gern :  Halli  begießt  seine  Locken  mit  Teer,  damit  Silber  darin  kleben 
bleibt  (Wein hold,  Altnord.  Leben,  S.  339). 

4)  Gering  S.  363. 


§  17.    Hauptgötter.  30 1 

auswärts  gewesen   zu  sein.     Sie  scheint  sogar  von  seinem  Ritual  voraus- 
gesetzt: in  der  Lok.1)  klingen  die  Verse: 

Es  dröhnen  die  Berge,  der  Donnerer,  mein  ich, 
Fährt  von  Hause  hierher. 

wie  eine  leichte  Variation  jener  liturgischen  Formeln,  mit  denen  besonders 
Savitar  in  dem  Rigveda  begrüßt  wird: 

Im  Wagen  fährt  herauf  der  Gott  Savitar, 
Aufs  neue  sein  Werk  zu  tun2). 

oder  auch  Indra: 

Auf  unsere  Andacht  merkend,  komm,  o  Indra, 
Und  lenke  hierher  das  Gespann  der  Falben8). 

Die  Anrufung  feiert  die  Heimkehr  des  Gottes  zu  den  Seinen.  Nur 
von  besonders  geliebten  Gottheiten  heißt  es  so:  er  kommt  wieder! 

Statt  der  Fahrt  steht  der  Schlaf  in  der  echten  alten,  wundervoll  er- 
zählten Legende  von  Thrym4).  Der  Gott  kommt  aus  dem  Schlaf  »zu 
sich«  und  vermißt  seinen  Hammer:  er  hat  sein  Hauptattribut  verloren 
und  muß  den  Donnerkeil  wieder  erobern5).  Das  Motiv  fällt  also  unter 
unser  Schema  »Raub  des  Rangzeichens«6),  und  der  Reiz  der  Erzählung 
besteht  darin,  Thor  zu  zeigen,  wie  er  aussieht,  wenn  es  nicht  »er  selbst« 
ist  —  ein  ähnliches  Thema  wie  bei  »Thor  in  Utgard«,  aber  wie  durchaus 
anders  aufgefaßt! 

Es  ist  nicht  ein  natursymbolischer  Mythus  mehr,  sondern  völlig  in 
anschauliche  Dichtung  aufgelöst7).  Die  mythische  Grundlage  wird  etwa 
gelautet  haben:  ein  Riese  raubte  dem  Thor  den  Hammer  (denn  das 
»Stehlen«  ist  eigentlich  Sache  der  Zwerge!)  und  wollte  ihn  nur  heraus- 
geben, wenn  man  ihm  dafür  die  schönste  Göttin  überließe;  auf  Lokis 
Rat  verkleidete  sich  Thor  als  Freyja,  drang  so  bei  den  Riesen  ein  und 
erschlug  sie,  nachdem  er  den  Hammer  geholt  hatte.  Aber  mit  welchem 
novellistischen  Behagen  ist  die  Situation  erfaßt!  das  uralte  Lieblingsmotiv 
des  weiblich   eingekleideten  Mannes8)   wird  ausgekostet  an  dem  weiber- 


*)  Str.  55. 

2)  Geldner-Kaegi  S.  46. 

3)  Ebd.  S.  76,  ähnlich  in  homerischen  Hymnen. 

4)  Thrymskv.:  Golther  S.  266;  Mogk  S.  361 ;  Meyer  S.  232f.;  v.  d.  Leyen  , 
Märchen  S.  50,  Sagenbuch  S.  197. 

5)  Kauffmann    (Ztschr.   f.    d.    Phil.    36,   135)    vergleicht   ein   esthnisches 
Märchen. 

6)  Siehe  o. 

7)  Vgl.  auch  Golther  S.  267. 

8)  Achill  auf  Skyros;  Herakles  bei  Omphale;  vgl.  auch  das  Verbot  5.  Mos.  22, 5: 
»ein  Weib  soll  nicht  Mannsgeräte  tragen,  und  ein  Mann  soll  nicht  Weiberkleider 


302  Viertes  Kapitel. 

feindlichen  Gott;  der  Gegensatz  der  schlauen  »Kammerzofe«  Loki  und 
des  unbehilflichen  Helden,  die  Enttäuschung  der  plumpen  Riesen  wird 
nicht  minder  gemessen.  —  Der  Schluß  mag  eine  Vorstellung  davon  geben, 
wie  das  Abenteuer  mit  Hrungnir  in  seiner  »versöhnlichen«  Form  schloß; 
der  Knecht,  der  den  Gott  rettet,  mag  Loki  entsprochen  haben. 

Eine  Dublette  der  Thrym-Erzählung  ist  die  Legende  von  Hymir1). 
Zwar  wird  eigentlich  ein  Gegenstück  erzählt:  während  dort  die  Riesen 
sich  eines  dem  Thor  gehörigen  Gegenstandes  bemächtigen,  holt  hier  Thor 
umgekehrt  Thor  einen  Kessel  von  den  Riesen.  Indessen  spricht  die 
typische  Anlage  solcher  Mythen  dafür,  daß  ursprünglich  auch  hier  die 
Götter  die  Besitzer,  die  Riesen  die  Räuber  sind.  (Freilich  kommt  das 
umgekehrte  Schema  unzweifelhaft  vor,  wie  bei  den  Mythen  vom  Raub 
des  Feuers  u.  dgl.)  Jedenfalls  aber  schließen  die  Endzeilen  der  Hym.  die 
Erzählung  an  den  Typus  der  »Nostoi«  Thors  an.  v.  d.  Leyen2)  hat 
gezeigt,  daß  die  Gylf.  hier  einen  einfacheren  Text  hat  als  das  eddische 
Gedicht,  an  dessen  Jugend  schon  wegen  der  schwülstigen  »kenningar« 
nicht  zu  zweifeln  ist3).  Die  Prosa  erzählt  nur,  daß  Thor  auf  der  Heim- 
fahrt zu  dem  Riesen  Hymir  kommt,  den  er  auf  den  Fischfang  begleiten 
will.  Hymir  weist  ihn  höhnisch  ab,  worauf  der  Gott  durch  die  un- 
geheuersten Leistungen  seiner  Asenkraft  sich  legitimiert.  Schließlich  gibt 
der  Riese  der  von  Thor  gepackten  Mitgardsch lange  die  Freiheit  wieder, 
worauf  der  Gott  ihn  mit  dem  Hammer  tötet.  —  Dieser  Kern  der  Ge- 
schichte, wenn  es  der  Kern  ist  (von  dem  Kessel  ist  in  der  Gylf.  gar 
nicht  die  Rede!)  ist  in  der  Hym.  märchenhaft  erweitert,  indem  den  Riesen- 
leistungen Thors  solche  Hymirs  gegenübergestellt  sind  —  der  gleiche 
Wettkampf4)  wie  in  Utgard5).  Außerdem  ist  neu  eine  motivierende  Vor- 
geschichte: Thor  wird  zu  Hymir  geschickt,  um  den  Kessel  zu  holen,  und 
zwar  auffallenderweise  in  Begleitung  Tyrs,  der  diesmal  statt  Loki  die  Rolle 

antun;  denn  wer  solches  tut,  der  ist  dem  Herrn,  deinem  Gott  ein  Greuel«  —  das 
vielleicht  religiöse  Umkleidungen  im  Auge  hat,  wie  wir  sie  im  Kult  der  Alces 
{praesidet  sacerdos  muliebri  ornatu,  Tac.  Germ.  cap.  43)  und  in  manchem  orien- 
talischen und  orientalisierenden  Kult  finden:  Erinnerungen  an  die  Leidenszeit 
eines  erniedrigten  Gottes?    Simson  und  Dalila! 

*)  Hym.;  Gylf.  cap.  48:  Gering  S.  342.  —  Golther  S.  270f.,  Meyer 
S.  238f.,  Mogk  S.  362,  v.  d.  Leyen  S.  46. 

2)  Märchen  S.  48. 

3)Jönsson  (Norsk  Lit.  Hist.  1,  159)  setzt  es,  gewiß  zu  früh,  in  das  Ende 
des  10.  Jahrhunderts,  Jessen  freilich  wohl  zu  spät  in  das  12—13.  Jahrhundert. 

4)  a.  a.  O.  S.  47. 

5)  Die  Freude  der  Heldenzeit  an  Kämpfen  mit  Seeungeheuern  spielt  mit, 
wie  bei  Beowulfs  Schwimmabenteuern  (vgl.  Brandl,  Altengl.  Lit,  S.  992; 
Wein  hold,  Altnord.  Leben,  S.  311);  ebenso  der  am  Trinken  —  beides  kom- 
biniert in  der  Örvaroddssaga  (vgl.  Eddica  minora  S.  LXII). 


§  17.    Hauptgötter.  303 

des  Listigen  x)  übernimmt.  Die  Angst  und  das  lächerliche  Versteck  Thors 
sind  mit  Motiven  in  dem  Mythus,  der  der  Erzählung  von  Thor  in  Utgard 
zugrunde  liegt,  zu  vergleichen.  Endlich  ist  noch  eine  Nachgeschichte 
hinzugedichtet,  in  der  Thor  die  nachstürzenden  Riesen  tötet  und  sein 
einer  Bock,  von  Loki  gelähmt,  hinstürzt.  In  dem  letzten  Zug  mögen 
alte  Momente  stecken:  Loki  und  nicht  Tyr  war  wohl  ursprünglich  auch 
hier  Thors  Begleiter;  die  Lähmung  des  Bocks  erinnert  an  die  Geschichte, 
wie  vor  der  Utgardfabel  Thjälfi  (unabsichtlich)  einen  Bock  des  Gottes 
lähmt.  Die  Hauptfrage  bleibt  wohl  die  nach  dem  Kessel ;  und  hier  möchte 
ich  der  poetischen  Fassung  den  Vorzug  geben.  Eine  der  vielen  Legenden 
von  Thors  Riesenkämpfen  liegt  sicher  zugrunde 2)  und  fast  nie  fehlt  echten 
alten  Legenden  ein  konkreter  Mittelpunkt,  ein  zentraler  Gegenstand,  wie 
es  in  der  Thrymskvida  der  Hammer  ist,  in  Skirn.  die  Zauberrute.  Hymir 
hatte  wohl  den  Kessel  geraubt,  den  Thor  wieder  holen  sollte;  der  Riese 
forderte  Kraftproben,  die  der  Gott  bestand,  und  schließlich  erschlägt  Thor, 
wie  in  der  Thrymskv.,  den  Räuber  und  bringt  das  Besitzstück  zurück,  dessen 
Wert  —  von  seiner  rituellen  Verwendbarkeit  abgesehen  —  hier  wie  bei 
homerischen  Kampfpreisen  uns  eine  sehr  frühe  Kulturstufe  vergegenwärtigt. 

Mit  naturmythologischen  Erklärungen  ist  schwerlich  viel  anzufangen. 
»Hymir  ist  die  personifizierte  Dunkelheit  in  der  Luft,  die  über  dem  winter- 
lichen Meere  lagert,  die  noch  heute  der  Norweger  unter  gleicher  Be- 
zeichnung kennt  und  die  schwer  auf  der  Seele  des  Norwegers  liegt.  Auf 
der  einen  Seite  steht  dieser  Dämon  mit  dem  Winter  in  engster  Verbindung 
auf  der  anderen  mit  dem  Meere«  3).  Es  ist  sehr  wohl  möglich,  daß  Hymir 
dereinst  ein  solcher  Dämon  war,  mit  dem  der  Gewittergott  Thor  zu 
kämpfen  hat  wie  Indra  mit  Vritra4);  hat  doch  ein  anderer  Dämon,  den 
dieser  bekämpft,  99  Arme,  ein  anderer  3  Köpfe  und  6  Augen5),  wie 
Hymirs  Mutter6)  900  Köpfe  hat.  —  Aber  die  Seele  der  Erzählung,  wie 
sie  uns  nun  einmal  vorliegt,  ist  nicht  mehr  ein  elementarer  Kampf  (wie 
noch  so  oft  deutlichst  im  Veda),  sondern  ein  Messen  der  Kraft  zwischen 
Gott  und  Riesen  —  und  an  dies  Motiv  hat  sich  die  Weiterentwicklung 
gehängt,  nicht  an  die  naturmythische  Urbedeutung. 

Über  den  Gesamtcharakter  dieser  Thorslegenden 7)  läßt  sich  das  Gleiche 
sagen:  mögen  sie  ursprünglich  Thor  als  den  >  Wiederbringer«,  nämlich 
der  guten  Jahreszeit,   gefeiert   haben  —  jetzt   ist   dieser  Sinn  ihnen  ganz 

!)  Hym.  Str.  6. 

2)  Über  die  Namen  Hymir — Skiymir  vgl.  o. 

3)  Mogk  a.  a.  O. 

4)  Macdonell  S.  60. 

5)  Ebd.  S.  61. 

6)  Hym.  Str.  8;  vgl.  v.  d.  Leyen  S.  47. 

7)  Vgl.  Meyer  S.  350,  Mogk  S.  363. 


304  Viertes  Kapitel. 

verloren  und  die  Freude  an  dem  fahrenden  Ritter  Thor,  an  seinen  Nöten 
und  Siegen,  ist  die  gestaltende  Kraft  geworden.  — 

Eine  künstliche  Nachbildung  sind  die  Alvissmäl1).  Auch  dies 
Gedicht  ist  auf  den  Kontrast  zwischen  Thors  Riesenstärke  und  einer  idyllisch- 
häuslichen Situation  gebaut,  wie  die  Thrymskv.;  doch  zeigt  die  Rahmen- 
erzählung bereits  Entfremdung  von  sicherer  Anschauung:  es  ist  gewiß 
einem  Thorverehrer  nie  eingefallen,  seinen  Gott  ein  Examen  über  geistigen 
Besitz  abhalten  zu  lassen!  —  Schon  dies  scheint  mir  die  Meinung Jönssons2) 
zu  widerlegen,  daß  die  Rahmenfabel  alt  sei;  sie  benutzt  nur  ein  altes 
Märchenmotiv,  das  von  dem  heimkehrenden  Helden,  der  gerade  recht 
kommt,  um  eine  Ehe  zu  verhindern  (Herzog  Ernst-Sage).  Eine  Anlehnung 
an  die  Rahmenfabel  der  Vaf.  (Gott  und  Zwerg  im  Examen  wie  dort  Gott 
und  Riese)  macht  weiter  Jönssons  frühe  Ansetzung  des  Gedichts3)  un- 
möglich. 

Den  eigentlichen  Inhalt  des  Gedichts  bildet  ja  die  Belehrung  über 
poetische  Ausdrücke  für  die  wichtigsten  Dinge4);  es  war  eine  ganz  nette 
Idee,  das  trockene  Thema  durch  den  Kontrast  des  ungeheuren  Schwieger- 
vaters und  des  kleinen  zappeligen  Schwiegersohnes  zu  würzen  —  nur 
durfte  man  eben  nicht  >den  Landwirtschaftsminister  über  Unterrichtsfragen 
prüfen  lassen « 5) !    » 

Eine  Heimwegsgeschichte  führt  auch  das  Härbardslied  vor:  Thor 
wird  bei  der  Heimfahrt  von  einem  Fluß  aufgehalten,  den  Odin  vielleicht  hoch 
hat  ansteigen  lassen 6),  und  Härbard-Odin  will  ihn  (kann  man  hinzudenken) 
nur  herüberlassen,  wenn  er  bei  einem  Wettkampf  siegreich  bleibt:  sie 
haben  ihre  Taten  aneinander  zu  messen,  und  wer  mehr  > Points«  hat,  muß 
nachgeben.  Thor  unterliegt.  —  Die  Hauptsache  ist  aber  auch  hier  die 
Ausfüllung:  eben  die  Aufzählung  der  Taten  Odins  und  Thors;  man  mag 
hier  an  einen  wirklichen,  auf  Grundlage  feststehender  Formeln  improvi- 
sierten Wettstreit  zwischen  einem  Odinverehrer  und  einem  Thordiener 
denken.  Daß  aber  Odin  wirklich  einmal  seinem  Nebenbuhler  den  Heim- 
weg versperrt  hat,  kann  gute  alte  mythische  Überlieferung  sein. 

Weitere  Legenden  entstehen,  als  die  festsitzende  Thorsreligion 
vom  Christentum   bedrängt  wird 7).     Thor  verlangt  von  dem  Konvertiten 

*)  Golther  S.  282,  Mogk  S.  361. 
2)  Den  oldnord.  Lit.  Hist.  1,  166. 

3  900-950:  a.  a.  O.  S.  167;  dagegen  Heusler,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  266 
um  1200!  —  Riese  und  Gott  im  Zwiegespräch:  vgl.  allgemein  Wundt  3,  488.  — 

4)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  469. 

5)  Heusler  (Arch.  f.  n.  Spr.  116,  265)  betont  übrigens  mit  Recht,  daß  das 
Gedicht  nicht  bloß  eine  Sammlung  ist,  sondern  zugleich  ein  an  Neubildungen, 
reiches  Spiel  mit  der  alten  Form  der  Thula. 

6)  Vgl.  Gjalp  bei  der  Fahrt  zu  Geirröd  Skäldsk.  cap.  2:  Gering  S.  363. 
T)  Golther  S.  258 f. 


§  17.    Hauptgötter.  305 

Thorgisl  sein  Eigentum,  einen  ihm  einst  verheißenen  Ochsen;  er  erbittet 
—  vergeblich  —  von  Svein,  dem  Sohn  seines  abgefallenen  Verehrers 
gleichen  Namens,  Rettung  vor  dem  Beil  der  glaubenseifrigen  Neuchristen ; 
er  wird  im  Zweikampf  mit  Christus  bald  siegreich,  bald  besiegt  gesehen. 
Für  all  diese  Mythen  ist  ein  inniger  herzlicher  Ton  charakteristisch:  das 
Volk  trennte  sich  ungern  und  nicht  ohne  Gewissensbisse  von  dem  lieben 
Gott,  der  so  ganz  Geist  von  seinem  Geist  war.  Man  fühlte  sich  ihm 
verpflichtet. 

Die  große  Bedeutung  des  Thorkultes  liegt  auf  der  Hand.  Sein 
natürlicher  Charakter,  die  größere  Intimität  mit  dem  Gott  —  Odin  bleibt 
erhaben  — ,  die  reine  rohe  Kraft  machen  aus  Thor  in  der  Tat  den  reellen 
Repräsentanten  des  Heidentums.  Odin  ließ  sich  umtaufen;  Thor  blieb 
auch  als  Elias  oder  heiliger  Olaf  ein  »großer  Heide«  wie  Goethe.  — 

Thor  erdrückt  seine  Verwandtschaft  wie  Odin  die  seine1). 

Spät  ist  seine  Verwandtschaft  mit  Odin :  daß  »Jupiter«  der  Sohn  des 
»Mercurius«  sein  sollte,  fiel  schon  dem  Abt  Helfric  auf2);  ebenso  dem 
Saxo  3). 

Nur  Ableitungen  aus  seinem  Wesen  scheinen  die  Söhne  Modi, 
Zorn  (Thors  Asenzorn)  und  Magni,  Kraft  (vgl.  den  Beinamen  des  Her- 
cules Magusanus).  Magni  erscheint  bei  Hrungnir  als  Thors  Doppelgänger; 
doch  kann  die  Legende  von  der  Riesenkraft  des  Kindes  alt  sein.  Daß 
Thor  den  Magni  mit  Jarnsaxa,  Eisenschwert  erzeugte,  ist  Allegorie  im 
Wikingergeschmack.  —  Die  beiden  Söhne  werden  in  der  neuen  Welt  den 
Hammer  an  Stelle  ihres  Vaters  handhaben4),  was  sie  vielleicht  nur  dem 
Vorteil  verdanken,  wie  Widar  und  Wali  ein  alliterierendes  Paar  zu  bilden. 
Übrigens  eignen  sie  sich  für  die  neue  Zeit,  da  beide,  insbesondere  Modi, 
noch  ein  völlig  unbeschriebenes  Blatt  sind  wie  die  unkompromittierten 
Götter,  der  schweigsame  Widar  und  der  einnächtige  Wali5). 

Es  werden  ihm  ferner  beigelegt  eine  Tochter  Thrud,  die  Kraft,  ein 
Bruder  M  e  i  1  i ,  von  dem  man  gar  nichts  weiß;  ein  V  i  n  g  n  i  r  (Schwinger 
des  Hammers)  und  eine  Hlöra  (zuckende  Flamme,  nämlich  des  Blitzes) 
werden  zu  ihm  in  künstliche  Verwandtschaft  gebracht.  Dies  könnten  alte 
Opfergottheiten  sein,  Verkörperungen  ritueller  Funktionen,  wie  z.  B.  der 
indische  Soma6). 

Die  Riesin  Jarnsaxa,  Magnis  Mutter,  »Eisenschwert«  oder  »Eisen- 
gestein«   (wie   der  Feuerstein  als  niedergeschlagener  Blitz  aufgefaßt  wird), 


J)  Vgl.  Mogk  S.  358f.,  Meyer  S.  349,  Golther  S.  263. 

2)  Vgl.  Craigie,  Mythology  of  Ancient  Scand.,  S.  14. 

3)  S.  185;  Herrmann  S.  247. 

4)  Vaf.  Str.  51;  Gylf.  cap.  53:  Gering  S.  351. 

5)  Veg.  Str.  11. 

6)  Macdonell  S.  104f. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  20 


306  Viertes  Kapitel. 

fällt  durch  ihren  Namen  etwas  aus  diesem  Kreis  heraus;  sie  könnte  ein 
alter  Bergdämon  etwa  des  eisenhaltigen  Gesteins  sein1).  Jedenfalls  ist 
wohl  aber  ihre  Verbindung  mit  Thor  Magni  Modi  jung. 

Einige  Bedeutung  haben  aus  Thors  Sippe  nur  eine  andere  Gattin 
und  die  Mutter. 

Sif2). 

Der  Name  ist  nicht  mit  Sicherheit  gedeutet:  die  Erfreuende«  (zu 
gotisch  sifan)?  »die  Sippe«3). 

Von  ihr  handelt  nur  Ein  Mythus  —  denn  Lokis  selbstverständliche 
Behauptung,  auch  sie  besessen  zu  haben4),  darf  keine  mythische  Geltung 
beanspruchen.  —  Es  wird  erzählt,  Loki  habe  aus  Bosheit  Sifs  Haar  ab- 
geschnitten, und  Thor  habe  ihm  dafür  alle  Knochen  im  Leib  knicken 
wollen5);  Loki  löst  sich  durch  das  Gelübde,  Sif  neue  Haare  zu  schaffen 
und  läßt  ihr  von  den  Zwergen  goldenes  Haar  schmieden.  —  Man  erklärt 
den  eigentümlichen  Mythus  naturmythologisch :  die  Haare  seien  die  Ähren 
des  sprossenden  Erdreiches.  Diese  aber  werden  doch  nicht  vom  Feuer 
verzehrt;  und  Loki  ist  kein  Getreidedämon.  Viel  näher  scheint  mir6)  die 
ikonische  Deutung  zu  liegen:  das  Feuer  hat  die  Haare  einer  Bildsäule 
verzehrt,  die  nun  durch  goldene  Haare,  im  Feuer  (und  also  auf  Lokis 
Geheiß)  kunstfertig  (durch  Ivaldis  Söhne)  hergestellt,  ersetzt  werden ;  oder 
die  Bildsäule  besaß  eben  goldene  Haare,  an  die  sich  nun  das  Märchen 
knüpfte  —  wie  Helios  goldene  Haare  trägt. 

Mythisch  bedeutsam  müssen  ihre  Haare  wohl  jedenfalls  sein;  das 
Wahrscheinlichste  bleibt  deshalb  wohl,  daß  auch  sie,  wie  Jarnsaxa,  ein 
alter  Naturgeist  war,  den  man  dem  Ackerbaugott  nachträglich  antraute; 
und  so  werden  die  goldenen  Haare  wohl  doch  die  Ernte  symbolisieren. 
Bedenkt  man,  daß  Ceres,  die  Göttin  des  pflanzlichen  Wachstums7),  als 
Weihegabe  den  ersten  Ährenschnitt,  das  praemetium,  erhielt8),  so  könnte 
man  versucht  sein,  an  einen  kultischen  Ursprung  des  Mythus  zu  denken : 
der  Göttin  wird  »das  Haar  abgeschnitten«,  damit  es  künftig  um  so  reicher 
und  goldener  wachse,  und  ihr  wird  das  neue  »Goldhaar«  dargebracht. 
Loki  wäre  dann  erst  später,  in  der  Blütezeit  der  Loki- Abenteuer,  hinein- 
gezogen; denn  die  Geschichte  von  seiner  Loslösung  hat  durchaus  den 
üblichen  Typus  (wie  in  der  Einleitung  zu  Reg.  usw.)  und  ist  mit  der 
Sitte,  bei  der  Ernte  jemanden  zu  binden  und  zur  Lösung  zu  zwingen9), 
schwerlich  in  Verbindung  zu  bringen. 


*)  Vgl.  u. :  Dea  Sandraudiga. 

2)  Golther  S.  262.  419,  Meyer  S.  349,   Mogk  S.  359.  —  Skäldsk.  cap.  3: 
Gering  S.  364. 

3)  Meyer  a.  a.  O.  4)  Lok.  Str.  54.  5)  Lok.  Str.  61. 
6j  Ztschr.  f.  d.  Phil.  38,  176. 

7)  Wissowa  S.  150.  8)  S.  151. 

9)  Pfannenschmid,  Germ.  Erntefeste,  Hannover  1888,  S.  93 f. 


§  17.    Hauptgötter.  307 

Für  rein  märchenhaften  Charakter  des  Goldhaars  tritt  v.  d.  Leyen  x)  ein. 

Ein  Kult  der  Sif  ist  nicht  nachgewiesen2)  und  die  Identität  mit  jener 
Haiva,  »die  Geliebte«3),  die  einen  batavischen  Altar  zusammen  mit  Her- 
cules Magusanus  hat,  ist  zweifelhaft4);  zu  unserer  Deutung  würde  sie 
nicht  übel  passen. 

Thors  Mutter. 

Die  alten  Götter  haben  selten  Vater  oder  Mutter  —  oder  sie  haben 
deren  mehr  als  nötig.  Dem  Thor  werden  zugesprochen  Jörd,  die  Erde; 
Fförgynn,  gotisch  fairguni,  Gebirge;  Hlödyn,  in  Nordwestdeutschland 
als  Hludana  verehrt  und  angelsächsisch  mit  Latona  gleichgesetzt,  die  des- 
halb Thunres  mödur  heißt5). 

Auf  jeden  Fall  ist  klar,  daß  die  Erdgöttin  Thors  Mutter  sein  soll6). 
Das  ist  nun  seltsam:  der  Gewittergott  Sohn  der  Erde!  Doch  ist  auch 
Indra,  dessen  Mutter  oft  genannt  wird7),  Sohn  des  Dyaus  und  der  Erde, 
daneben  allerdings  auch  der  »Kuh«,  d.  h.  der  Regenwolke8);  und  Zeus, 
der  ja  bei  den  Hellenen  auch  Gewittergott  ist,  hat  Gaea  zur  Mutter9). 
Immerhin  zeigt  schon  die  Unfestigkeit  dieser  Angaben,  daß  die  Geburt 
des  Gewittergottes  aus  der  Erde  schwerlich  als  indogermanischer  Mythus 
angesehen  werden  darf:  als  die  Physikertheologie  sich  zu  regen  begann, 
wurde  diese  Genealogie  erdacht,  bei  der  vielleicht  die  im  Erdboden  ge- 
fundenen »Donnerkeile«  mitwirkten.  In  Thors  Mythenkreis  aber  spielt 
seine  Mutter  so  wenig  eine  Rolle  wie  in  dem  des  Zeus  —  mit  Indra  steht 
es  anders,  weil  für  ihn,  wie  für  Dionysos,  die  wunderbare  Geburt  wesent- 
lich scheint;  wie  denn  die  Vorstellung  der  Göttermutter  nur  mit  Götter- 
kindern oder  Götterjünglingen  verträglich  scheint  (Leto  mit  Apollon  und 
Artemis),  nicht  mit  dem  reifen  stürmischen  Mann. 

Wenn  aber  die  Verwandtschaft  jung  sein  wird,  ist  doch  Thors  Mutter 
gewiß  nicht,  wie  vermutlich  seine  Söhne,  eine  späte  allegorische  Erdichtung; 
sondern  wie  die  Gattin,  ist  die  Mutter  eine  uralte  Gottheit,  die  mit  dem 
Lieblingsgott  nachträglich  verbunden  wird.  Die  Erdgottheit  wäre  dann 
eben  die.  Herrin  der  Erde  schlechtweg  —  nicht  wie  Nerthus — Isis— Tellus 
die  der  fruchtbaren  Erde.  Doch  sind  Berührungen  unvermeidlich,  und 
vielleicht  ist  die  letztere  überhaupt  erst  aus  der  anderen  abgezweigt. 


')  Märchen  S.  57. 

2)  Vgl.  Mogk,  PBB.  14,  91  f. 

s)  Much,  H.  Z.  39,  51;  vgl.  Siebs,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  24,  461. 

4)  Vgl.  Mogk  S.  3591 

5)  Mogk  S.  358,  Meyer  S.  349,  Golther  S.  461.  —  Siebs  (Ztschr.  f.  d. 
Phil.  24,  457  f.)  trennt  Hludana  und  Hlödyn  und  hält  jene  für  eine  Meeresgottheit, 
die  er  ferner  der  —  chthonisch  aufgefaßten  —  Nerthus  gleichsetzt. 

6)  Golther  S.  454f.  7)  Macdonell  S.  56. 
8)  Ebd.           9)  Preller  1,  637. 

20* 


308  Viertes  Kapitel. 

Die  Erdgöttin  erscheint  unter  verschiedenen  Namen: 

In  angelsächsischen  Segen1)  wird  Erce,  Erce,  Erce,  eorthan  möder 

angerufen :    also  wieder  die  Herrin  der  Erde,  nicht  die  Erde  selbst.     Das 

Gebet  an  sie  wirkt2)  Sdgr.  Str.  4  nach: 

Heil  euch  Äsen!   euch  Asinnen  Heil! 
Heil  dir,  fruchtbare  Flur!3) 

Hlödyn,  Hludana,  wird  von  friesischen  Pächtern  der  Fischerei  ver- 
ehrt4) —  weil  die  Erdgötlin  auch  die  Bäche  beherrscht?  Der  Name  zu 
hlöd,  Erdhaufe5). 

Problematischer  ist  Fjörgyn6).  Neben  diesem  Feminimum  haben 
wir  einen  männlichen  Fjörgynn,  der  einmal  Frigg  zur  Geliebten  oder 
Gattin  hat7)  und  dem  ein  litauischer  Donnergott  Perkunas  genau  ent- 
spricht. Der  Name  gehört  zu  lateinisch  quercus:  fergttnjas  der  Eichen- 
gott; gerade  wie  auch  Zeus8)  der  »Eichengott«  ist.  So  ward  auch  Thor9) 
bei  einem  robur  Jovis  verehrt,  wohl  weil  die  Eiche  den  Blitz  anzieht 10). 
Fjörgyn  wäre  etwa  die  Eichengöttin  oder  »die  im  Eichenwald  Verehrte«  n). 

Wir  haben  also  12)  in  Fjörgynn  und  Fjörgyn  ein  androgynes  Paar  wie 
in  Njörd  und  Nerthus,  Frey  und  Freyja.  Dergleichen  begegnet  bei 
Vegetationsdämonen  öfter 13)  und  ist  vielleicht  prinzipiell  aus  der  späteren 
Geschlechtsverleihung  an  ursprünglich  ungeschlechtige  Geister  zu  erklären. 
Doch  können  auch  verschiedene  Nomina  sich  begegnet  sein :  die  Analogie 
der  Eschenfrau  u.  dgl. u)  läßt  denken,  daß  die  Eichenfrau  eine  alte  Dryade 
des  Eichenwaldes  war,  die  mit  dem  Eichengott,  d.  h.  dem  alten  in  der 
Eiche  verehrten  Gewittergott  nur  durch  ihren  Namen  zusammengeführt 
wurde.  Die  Annahme,  daß  die  Erdgöttin  nach  ihrem  Gemahl  benannt 
worden  sei 15),   scheint  uns  zu  stark  von  der  Analogie  moderner  Namen- 


*)  Grein-Wülker,  Bibl.  d.  ags.  Poesie"  1,  312f.;  vgl.  Wülker,  Grundriß 
d.  ags.  Poesie,  Leipzig  1885,  S.  347;  Kögel,  Gesch.  d.  altd.  Lit.  1,  139f. 

2)  Nach  Golthers  hübscher  Beobachtung,  S.  455. 

3)  Vgl.  hdl  weas  thu,  folde  fdra  moder  im  Segen. 
*)  Meyer  S   349. 

e)  Mogk  S.  359. 

6)  Vgl.  Much,  Himmelsgott,  S.  204 f. 

7)  Lok.  Str.  26;  vgl.  Golther  S.  454,  2. 

8)  Preller  1,  123. 

9)  Siehe  o.  S.  288. 

10)  Dagegen  scheint  der  indische  Regengott  Parjanya  nicht  identisch:  Mac- 
donell  S.  84. 

")  Hirt,  J.  F.  1,  480. 

12)  Mogk  S.  358. 

1?)  Faunus  und  Fauna,  vielleicht  auch  Pomonus  und  Pomona;  Wissowa 
S.  165  u.  a. 

14)  Vgl.  o.  S.  94. 

15)  Golther  S.  455. 


§  17.    Hauptgötter.  309 

gebung  in  der  Ehe  beherrscht  Auch  ist  ja  gar  nicht  bezeugt,  daß  Fjörgyn 
je  Thors  Gattin  war  —  der  auch  gar  nicht  (wie  Golther  voraussetzt)  der 
»Himmel«  war.  —  Denkbar  ist  aber,  daß  Fjörgynn,  der  Eichengott,  ursprüng- 
lich nicht  mit  Thor  identisch,  sondern  ein  anderer  Gewittergott  war,  der  dann 
in  Thor  (bis  zum  Vergessen  seines  Namens)  aufging;  und  von  einem  alten 
Elternpaar  (wie  oft  werden  so  entthronte  Götter  auf  den  Altenteil  gesetzt! 
man  denke  an  Zeus'  Vater!)  blieb  nur  die  Mutter  übrig,  da  Odin  der 
Vater  ward.  So  wäre  denn  auch  die  Beziehung  Friggs  zu  Fjörgynn 
erklärt.   — 

Als  Erdgöttin  wird  auch  Rind1)  verehrt.  In  der  Edda  wird  erzählt, 
daß  sie  im  Westen  Wali,  den  Rächer  Balders,  gebären  wird2);  daß  sie 
einst  vor  Ran  ein  Zauberlied  sang,  das  lehrte:  Jeder  sorge  für  sich  (man 
vergleiche  etwa  den  Oddrünargrätr!),  bringt  erst  der  späte  Grogaldr3)  hinzu. 
Endlich  Snorri  notiert4),  daß  Rind,  Walis  Mutter,  wie  Jörd,  Thors  Mutter 
zu  den  Asinnen  gehören. 

Eine  alte  Erdgottheit  mag  wohl  vorliegen:  die  harte  Erdrinde,  meint 
Golther,  der  durch  Odins,  des  Gottes  gedeihlicher  Arbeit,  Werben  der 
Sohn  Bfu,  der  Bebauung,  abgewonnen  wird;  während  Wali  dann  aus  der 
harten  Erdrinde  geboren  sein  könnte  wie  die  neuen  Menschen  nach  der 
Sintflut  aus  den  »Gebeinen  der  Mutter« ,  den  Steinen  Deukalions  und 
Pyrrhas5).  Jenes  hausbackene  Zauberlied  aber  soll  wohl  nur  durch  den 
mystischen  Klang  geheimnisvoller  Götternamen  geadelt  werden. 

Tanfana  wird6)  ebenfalls  für  eine  Erdgöttin  gehalten;  wohl  mit 
zweifelhaftem    Recht 7). 

Die  alten  Hauptgötter. 

Die  bisher  besprochenen  Gottheiten  bilden  einen  einigermaßen  ge- 
schlossenen Kreis:  Tyr  und  Frey,  Odin  und  Frigg,  Thor  und  ihr  un- 
mittelbarer Anhang.  Diese  fünf  sind  auch  (neben  Sonne  und  Mond) 
Herren  der  Wochentage:  Dienstag  Tiu,  Mittwoch  Wodan,  Donnerstag 
Thor,  Freitag  Frigg — Freyja.  Sonnabend  freilich  ist  dem  Frey  nicht  zu- 
gefallen. Sie  sind  die  Inhaber  der  großen  Tempel  mit  zentralisiertem 
Kult  (Frey — Njord,  Tyr,  Thor,  Odin),  die  Führer  eigener  »Religionen« 
mit  besonderem  Verehrertypus  (Odin,  Thor);  sie  sind  auch  durch  Götter- 


J)  Golther  S.  456,  Meyer  S.  370.  401;  über  den  Roman  von  Odin  und 
Rind  siehe  o.  S.  270. 

2)  Veg.  Str.  11.  8)  Str.  6. 

4)  Gylf.  cap.  36:  Gering  S.  328. 

5)  Preller  1,  865.    Auch  die  Söhne  von  Kadmos'  Drachensaat,  durch  den 
Stein  erregt,  erheben  sich  sofort  zum  furchtbaren  Kampf  wie  Wali  (Veg.  Str.  17). 

6)  Golther  S.  459. 

7)  Vgl.  u. 


310  Viertes  Kapitel. 

kämpfe  (besonders  zwischen  Odin  und  Thor,  doch  auch  Njord  und  Skadi  ?) 
als  Individualitäten  charakterisiert.  Man  könnte  sie  etwa  in  folgendem 
Stammbaum  anordnen: 

indogermanisch:   Zeus,  Dyaus 

urgermanisch:  Tyr,  Irmin 

niederdeutsch-  *^-^  fremden  Ursprungs 

gemeingermanisch:  Wodan,  Isto  nordisch-gemeingermanisch: 

|        nordisch:  Ing,  Frey— Njord 

nordisch:  Odin Thor.  "^-^ 

Skadi  finnisch. 

nordisch. 

Aber  zu  diesem  im  Norden  zu  einem  gewissem  Abschluß  gelangten 
Kreis  tritt  nun  das  große  Rätsel,  das  Hauptproblem  der  germanischen 
Mythologie:  Bai  der,  ein  Hauptgott,  und  doch  zu  diesem  Kreis  der 
Hauptgötter  exzentrisch;  ein  eigener  Typus,  und  doch,  so  viel  wir  sehen,  ohne 
eigene  Gemeinde;  der  Held  eines  aufregenden  Mythus  von  merkwürdiger 
Eigenart,  und  doch  der  Liebling  nivellierender  Göttergleichmacherei. 

Balder1). 

Golther  und  Kauffmann  halten  von  den  beiden  stark  abweichen  Er- 
zählungen Saxos  Bericht,  Meyer  und  Mogk  sowie  besonders  Olrik  und 
Heusler  den  der  Edda  für  ursprünglicher;  Niedner  hält  Snorris  Bericht 
für  eine  hübsche  Kombination 2).  —  Ebenso  umstritten  ist  das  Alter 
Balders :  indogermanisch — urgermanisch — nordisch  ? 

Vielleicht  liegt  die  Sache  bei  allen  Schwierigkeiten  doch  nicht  ganz 
so  verwickelt,  wie  es  nach  den  neuesten  Aufklärungen  scheinen  könnte. 
Man  muß  sich  nur  bemühen,  Überlieferung,  Erschließung  und  deutende 
Hypothese  recht  fest  auseinanderzuhalten;  denn  zu  vermeiden  sind  die 
letzteren  beiden  Hilfsmittel  allerdings  nicht  —  wenn  man  auch  von  ihnen 
bescheidener  und  analogiegemäßer  Gebrauch  machen  sollte,  als  gerade  in 
Balders  Angelegenheiten  wiederholt  geschehen  ist. 


J)  Kauffmann,  Balder.  Mythus  und  Sage,  Straßburg  1902;  doch  vgl. 
Heusler,  D.  Lit.-Zeitg.  1Q03  S.  488;  Kauffmann,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  35,  524; 
Mogk,  Lit.-Bl.  f.  rom.  u.  germ.  Phil.  1905  S.  190.  —  Schuck,  Studier  i  nordisk 
Litt,  og  Religionshistoria  T.  II.  —  Döhring,  Kastors  und  Balders  Tod,  Arch. 
f.  Rel.-Wissensch.  5,  38 f.  27 f.;  Meyer  S.  278 f.  391  f.;  Golther  S.  364.  420; 
Mogk  S.  323.  351;  Chantepie  S.  253;  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  20;  Detter, 
PBB.  19,  493 f.;  Niedner,  H.  Z.  41,  3035;  andere  Literatur  bei  Mogk  und 
Golther  (wie  gewöhnlich).  —  Wiedergabe  des  eddischen  Berichts  bei  Meyer 
S.  397,  desjenigen  Saxos  ebd.  S.  395;  vgl.  Olrik,  Sakses  Oldhistorie :  Ref.  bei 
Golther  S.  377;  Vergleich  beider  Berichte  übersichtlich  bei  Meyer  S.  398.  401 ; 
vgl.  ferner  z.  B.  Golther  S.  373.  738f.,  Detter  S.  495,  Niedner  S.  324. 

2)  S.  433. 


§  17.    Hauptgötter.  311 

Was  steht  fest? 

Zunächst:  was  in  bezug  auf  das  Alter?  Balder  unmittelbar  für 
eine  indogermanische  Gottheit  anzusprechen,  sind  wir  nicht  berechtigt, 
d.  h.  die  germanische  Überlieferung  hat  unzweifelhaft  Züge,  die  sich  so 
bei  keiner  einzigen  indogermanischen  Gottheit  einzeln  oder  gar  vereinigt 
wiederfinden.  Auch  der  Name  steht  isoliert  ?  was  zwar  allein  nicht  be- 
weisend wäre.  —  Eine  andere  Frage  ist,  ob  in  der  germanischen  Gestalt 
nicht  indogermanische  Grundzüge  weiter  entwickelt  sind;  diese  häufig 
bejahte  Frage  (Balder  der  lichte  Gott,  der  von  dem  dunkeln  Gott  getötet 
wird)  ist  aber  erst  später  zu  erörtern. 

Für  den  ur germanischen  Ursprung  sprechen  folgende  außer- 
nordische Anhaltspunkte1):  Für  die  Deutschen  beweist  der  Merseburger 
Spruch 2).  Hier  wird  Phol  in  einer  Weise  erwähnt,  die  zu  der  nordischen 
Gestalt  Balders  trefflich  stimmt,  und  sein  Name  wird  im  dritten  Vers 
durch  »Balder«  aufgenommen.  Phols  Identität  mit  Balder  wird  ferner 
gestützt  durch  zahlreiche  Ortsnamen3):  Phtiolsouua ,  Pholesbrunno  in 
Thüringen,  Pholespitint  in  Österreich  und  Bayern  u.  a. 

Allerdings  ist  die  Identität  von  Phol  und  Balder  angefochten  worden. 
Unhaltbar  sind  die  Versuche,  fremde  Namen  einzusetzen:  Apollo4)  oder 
gar  Paulus5),  für  deren  Platz  in  diesem  Zauberspruch  schlechterdings 
nichts  spricht6).  Oder  man  hat  gar  eine  Göttin  daraus  gemacht7)  oder 
wenigstens  ein  männliches  Pendant  zu  Volla8).  Aber  der  Gott,  der  vor 
Wodan  genannt  wird,  muß  schlechterdings  ein  Hauptgott9)  und  kann 
nicht  ein  unbekanntes  kleines  Göttlein  sein.  —  Viel  haltbarer  war  früher 
der  Versuch,  den  Namen  Balder,  wie  er  im  dritten  Vers  des  Merseburger 
Spruchs  begegnet,  appeilativisch  aufzufassen:  in  angelsächsischen  und 
nordischen  Dichtungen  bedeutet  er  >Herr«.  Aber  dieser  Möglichkeit  ist 
durch  Edward  Schroeders  glänzenden  Aufsatz  über  Belisars  Roß10)  der 
Boden  entzogen:  die  appellativische  Bedeutung  ist  sekundär,  zunächst  im 
zweiten  Teile  von  Kenningen  (mannhaldr,  folkbaldr)  n),  dann  auch 
allein  verwandt. 


1)  Vgl.  Golther  S.  382 f. 

2)  MSD.  IV.  2. 

3)  Mogk  S.  324,  Golther  S.  385. 

*)  Gering,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  26,  145. 
B)  Bugge,  Studien,  S.  301  f. 

6)  Golther  S.  384  m.  Anm. 

7)  Golther,  Gesch.  d.  d.  Lit.,  S.  39,  nach  Andern. 

8)  Kauffmann  a.  a.  O.  S.  221. 

9)  Vgl.  meine  Rezension  Anz.  f.  d.  Alt,  19,  210. 

10)  H.  Z.  35,  241  f. 

11)  a.  a.  O.  S.  243,  wie  öl-Gefjon  Golther  S.  447. 


312  Viertes  Kapitel. 

Der  Phol  des  Merseburger  Spruches  also,  dessen  Roß  Balders  Roß 
heißt,  ist  Balder1). 

Fast  in  ganz  Deutschland2)  kommen  ferner  Sagen  vor,  die  zu  dem 
Baidermythus  Beziehungen  zeigen.  Doch  steht  dies  schon  an  der  Grenze 
der  Erschließung. 

Für  die  Angelsachsen  spricht:  Die  Königslisten  von  Wessex  und 
Bernicia  nennen  Baeldaeg ,  Vodens  Sohn,  der  ebenso  in  isländischer 
Genealogie  begegnet3)  und  schon  von  altenglischen  Chronisten  sowie  von 
Snorri4)  mit  Balder  gleichgestellt  wird.  Der  Name5)  bedeutet  »der  lichte 
Tag« G)  und  kann  wohl  nur  einen  Gott  bezeichnen. 

Für  Deutsche  und  Angelsachsen  gemeinsam  spricht  jenes  aus 
dem  Götternamen  abgeleitete  Appellativum  angelsächsisch  bealdor,  alt- 
hochdeutsch Paltar7),  das  jedenfalls  ein  besonderes  Ansehen  des  Gottes 
beweist 8). 

Wir  halten  also  den  gemeingermanischen  Ursprung  Balders 
für  zweifellos  erwiesen;  was  selbstverständlich  eine  spezifisch  nordische 
Weiterentwicklung  so  wenig  wie  bei  Thor  oder  Frey  ausschließt9).  — 

Für  das  Wesen  dieses  gemeingermanischen  Gottes  steht  der 
Name  zu  Gebot,  der  jetzt  durch  Edw.  Schroeder  zweifellos  festgestellt  ist.  Es 
kommt  von  einer  Wurzel  bal-,  zu  litthauisch  und  baltoslawisch  baltas,  weiss 
und  bedeutet  »licht«,  also:  der  »helle,  glänzende  Gott« 10).  —  Die  frühere 
Deutung  »der  Kühne«  (zu  dem  Namen  der  gotischen  Balthen  n)  muß  als  er- 
ledigt gelten ;  ebenso  Meringers  geistreiche  Vermutung,  der  Name  gehöre 
zu  einem  Appellativstamm  »behauener  Baum,  Klotz«,  wie  »Äsen«  vielleicht 
zu  »Balken«,   und  bedeute  ein  altes  Fetischbild12);  übrigens  ist  uns  von 


x)  Much  (Himmelsgott  S.  255)  vermutet,  daß  Balder  auch  *Dagas,  »Tag«, 
geheißen  habe.  Kögel  (Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  262  f.)  wollte  auch  den  Straßburger 
Blutsegen  (MSD.  IV.  6)  heranziehen,  wobei  Vrö-Frogerus  des  Saxo  dem  Balder 
entspräche  (vgl.  Detter  S.  511  f.) ;  was  mehr  als  problematisch  ist  (vgl.  Golther 
S.  384  Anm. 

2)  Vgl.  Kuhn,  Der  Schuss  des  Wilden  Jägers  auf  den  Sonnenhirsch,  Ztschr. 
f.  d.  Phil.  1,  89f.;  Losch,  Balder  und  der  weiße  Hirsch,  Stuttgart  1892. 

3)  Mogk  S.  324,  Golther  S.  366,  3. 

4)  Golther  S.  382. 

5)  Vgl.  Schroeder  S.  342.  343. 

6)  Meyer  S.  392. 

7)  Golther  S.  382,  Mogk  S.  324. 

8)  Vgl.  meine  Rezension  a.  a.  O.  S.  211. 

9)  Die  Versuche,  Balders  Tod  in  der  Kalewala  nachzuweisen  (Ohrt,  Kale- 
wala,  Kopenhagen  1908,  S.  139)  wage  ich  nicht  für  das  hohe  Alter  des  Mythus 
zu  verwerten. 

10)  Vgl.  Mogk  S.  324,  Golther  S.  366. 

1!)  Vgl.  Schroeder  S.  241. 

12)  I.  F.  18,  285,  vgl.  »Wörter  und  Sachen«  1,  201  f. 


§  17.    Hauptgötter.  313 

Balderbildern  nichts  Zuverlässiges  überliefert.  —  Ferner  haben  wir  die 
Legende:  ist  auch  der  nordische  Mythus  (der  hier  allein  unzweideutig 
belehrt;  der  Merseburger  Spruch  kann  nur  durch  Erschließung  fruchtbar 
gemacht  werden)  unzweifelhaft  spezifisch  entwickelt,  so  wird  man  doch 
annehmen  dürfen,  daß  er  (wie  in  anderen  Fällen,  z.  B.  dem  Thors)  nur  den 
urgermanischen  Charakter  fortbildet.  Danach  ist  Balder  unzweifelhaft  ein 
Lichtgott1);  was  sich  also  mit  der  Benennung  deckt.  Weiter  ist  von 
Bedeutung  die  Analogie  verwandter  Götter-  und  Sagengestalten,  die 
gleichfalls  das  »helle  Prinzip«  vertreten:  es  ist  der  so  häufige  als  merk- 
würdige Typus  des  getöteten  Gottes:  Osiris,  den  Set  durch  List  tötet2) 
und  der  wiederbelebt  wird3),  nachdem  er  lange  tot  gewesen4);  Adonis, 
der  stirbt  und  wiederkehrt5)  u.  a.  Ebenso  ist  in  der  Heldensage  der  ent- 
sprechende Typus  des  lichten  Helden,  der  durch  Verrat  von  dem  dunklen 
Widerpart  getötet  wird  (Siegfried,  Rustan  usw.)  unverkennbar. 

Der  gemeingermanische  Gott  muß  eine  ansehnliche  Geltung  gehabt 
haben;  die  Mythen,  die  sich  an  ihn  knüpfen,  zeugen  für  seine  Beliebt- 
heit, die  Art  der  Erwähnung6)  für  sein  Ansehen.  Daß  dagegen  Spuren 
seines  Kults  nicht  mit  Sicherheit  bezeugt  sind7),  ist  kein  Gegenbeweis: 
nirgends  stellt  man  sich  gern  unter  den  Schutz  eines  unterliegenden  Gottes, 
mag  man  seinen  Tod  auch  noch  so  leidenschaftlich  beklagen.  Erst  die 
Epoche  des  Christentums  mit  ihrer  ganz  anderen  Auffassung  von  Tod 
und  Leben  konnte  das  ändern.  Übrigens  hat  Winifred  Faraday 8)  treffend 
bemerkt:  wenn  das  Fehlen  des  Kults  bewiese,  müßte  man  auch  Tyr  aus 
den  nordischen  Götterlisten  streichen:  nur  Odin,  Thor,  Frey,  Njord, 
Frigg,  Freyja  werden  in  den  isländischen  Sagas  mit  Opfern  geehrt. 

Hiermit  ist  etwa  die  Summe  dessen  gegeben,  was  wir  von  Balder 
zuversichtlich  als  alt  überliefert  verzeichnen  können.  Wir  kommen  zu 
den  mythischen  Fortentwicklungen. 

Wie  steht  es  mit  dem  altdeutschen  Baidermythus9)?  Be- 
trachten wir  den  Merseburger  Zauberspruch  als  Zwischenglied  zwischen 
der  urgermanischen  Vorstellung  des   lichten  Gottes   und   der  nordischen 


J)  Mogk  S.  325,  Meyer  S.  392,  Golther  S.  366. 

2)  Er  man,  Ägypt.  Rel.,  S.  34. 

3)  Ebd.  S.  36.  4)  Vgl.  ebd.  S.  156. 

5)  Preller  1,  359. 

6)  Merseburger  Spruch. 

7)  Doch  vgl.  Golther  S.  381. 

8)  Populär  Studies  in  Mythology  Romance  Folklore  N.  12:  The  Edda  I; 
London  1902;  S.  19. 

9)  Vgl.  Kuhn  und  Losch  a.  a.  O.  sowie  meine  Rezension  von  Losch: 
Anz.  f.  d.  Alt.  19,  211,  deren  Gedanken  zum  Teil  weiter  (und  wie  ich  fürchte, 
zu  weit)  geführt  sind  von  Niedner,  H.  Z.  41,  101  f.  (vgl.  S.  104). 


314  Viertes  Kapitel. 

Oberlieferung  von  dem  durch  Lokis  Schuld  und  Hödurs  Ungeschick  ge- 
töteten Lichtgott,  so  ergeben  sich  Beziehuugen  in  folgenden  Punkten: 

Balder  erscheint  inmitten  anderer  Göttergestalten:  eine  charakte- 
ristische Situation.  Thor  steht  immer  isoliert:  »der  Starke  ist  am 
mächtigsten  allein«  — ,  Odin  allein  oder  an  der  Spitze  der  geordneten  Götter- 
gemeinde, Balder  aber  wird  auf  dem  Hintergrund  einer  ungeordnet  fest- 
lichen Götterversammlung  sichtbar,  wie  in  der  nordischen  Überlieferung. 
So  stellt  auch  die  spätere  Kunst  den  lichten  Apollon  am  liebsten  dar. 

Balder  fährt  mit  anderen  Gottheiten  auf  die  Jagd  *).  Ein  Zusammen- 
hang mit  dem  Schuß,  der  in  der  Edda  seinen  Tod  bringt,  ist  wenigstens 
denkbar  (Siegfried  wird  nach  einer  Überlieferung  auf  der  Jagd  ermordet). 

Wichtiger  ist,  daß  dem  Roß  Balders  ein  Fuß  verrenkt  wird.  Wir 
werden  dies  wohl  mit  nordischen  Mythen  zusammenbringen  dürfen:  Loki 
lähmt  einen  Ziegenbock  Thors2)  oder  dieser  wird  auf  andere  Weise  un- 
fähig zum  Laufen  gemacht3).  Ein  Göttertier  wird  nicht  plötzlich  unwohl: 
es  muß  etwas  dahinterstecken  und  wohl  sicher  eine  Bosheit  des  Gegen- 
spielers4). Auch  Wäinämoinens  wunderbares  Roß  wird  im  Kalewala 
durch  den  Pfeil  eines  bösen  alten  Lappen  tödlich  getroffen5).  —  Alle 
Gottheiten  bemühen  sich  um  die  Heilung,  die  aber  nur  Wodan  gelingt. 
Ebenso  finden  wir  in  der  nordischen  Sage  alle  Gottheiten  um  seine 
Rettung  bemüht;  Odin  hat  das  letzte  Wort6).  — 

Wir  dürfen  also,  wenn  wir  das  merkwürdige  Denkmal  in  die  Ent- 
wicklungsreihe von  den  ältesten  zu  den  ausführlichsten  Zeugnissen  ein- 
schalten, mit  einiger  Wahrscheinlichkeit  behaupten: 

1.  Balder  besaß  schon  in  der  gemeingermanischen  Mythologie  einen 
Gegenpart,  der  ihn  schädigt. 

2.  Die  Schädigung  hing  vermutlich  mit  Jagd  und  Schuß  zusammen. 

3.  An  sie  knüpfte  sich  eine  Bemühung  aller  Gottheiten  um  Balder, 
die  von  Wodan  abgeschlossen  ward. 

Mit  Hufe  der  Sagenvergleichung  können  wir  aber  noch  erheblich 
weiter  kommen  und  auch  für  die  altdeutsche  Mythologie  allein  schon 
einige  Entwicklung  feststellen. 

Der  Merseburger  Spruch  ist  ein  Zauberspruch  zu  Heilzwecken.  Er 
dient    der    mythologisch  -  epischen    Empfehlung   einer   uralten   Sympathie- 

*)  Die  natürlichste  Interpretation  vgl.  Niedner  a.  a.  O.  S.  103. 

2)  Hym.  Str.  37. 

3)  Gylf.  cap.  44:  Gering  S.  335. 

4)  Ähnlich  vielleicht  in  der  dunkeln  alten  Sage,  in  der  der  Sonnenwagen  ein 
Rad  verliert  (Macdon eil  S.  63). 

5)  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  87;  charakteristisch  für  die  Altertümlichkeit  des 
finnischen  Epos,  daß  bei  dem  ersten  Auftreten  des  Gottes  gleich  schon  Menschen 
da  sind! 

5)  Vaf.  Str.  54-55. 


§  17.    Hauptgötter.  31 5 

formel :  sie  ist  einmal  von  einem  Gott  in  einem  kritischen  Augenblick 
erfolgreich  angewandt  worden.  (In  psychologischer  Hinsicht  ist  solch  ein 
ehrwürdiges  Denkmal  des  höchsten  Altertums  mit  den  Reklame- »Referenzen« 
moderner  Heilmittel  aufs  engste  verwandt.)  Das  Wichtigste  ist  also 
in  der  Zauberformel,  daß  eine  Heilung  erfolgt.  Ursprünglich  aber 
braucht  sie  nicht  erfolgt  zu  sein.  Kuhn  und  Losch  haben  es  näm- 
lich höchst  wahrscheinlich  gemacht,  daß  die  Einleitung  des  Zauber- 
spruchs einen  uralten  Mythus  in  starker  Abschwächung  enthält.  Weit 
verbreitet  ist  eine  Sage,  nach  der  »der  wilde  Jäger«  oder  irgend- 
ein Bösewicht  auf  den  »Sonnenhirsch«  geschossen  und  ihn  ver- 
wundet hat  —  wobei  der  Sonnenhirsch  selbst  den  ursprünglich  ver- 
wundeten Gott x)  vertritt  (wie  die  Hirschkuh  für  Iphigenie  unter- 
geschoben wird).  Der  Hirsch  ist  ein  Symbol  der  Sonne  und  zwar  des 
Gestirns  in  seiner  Veränderlichkeit,  weil  die  Hörner  (nach  denen  er  be- 
nannt ist)  periodisch  abgeworfen  und  erneuert  werden.  Es  handelt  sich 
also  um  einen  uralten  Sonnenmythus2),  der  wahrscheinlich  die  tägliche 
Überwältigung  der  Sonne  darstellt,  die  in  dem  Blutmeer  der  Abendröte 
versinkt. 

Ich  kann  weder  Kuhns  Gleichsetzung  des  Jägers  mit  Wodan  8)  billigen 
noch  die  des  verwundeten  Gottes  mit  Frey;  vielmehr  scheint  Losch  mir 
erwiesen  zu  haben,  daß  in  der  germanischen  Fassung  der  Legende  eben 
Balder  von  dem  bösen  Jäger  getroffen  ward  4).  Diese  Legende  hat  sich  dann 
Stufe  für  Stufe  abgeschwächt.  Statt  des  Gottes  ward5)  sein  Hirsch  ge- 
troffen; dann  dieser  durch  das  geläufige  Roß  ersetzt;  endlich  die  Heilung 
hinzuerdichtet.  Und  zwar  ist  der  letzte  Schritt 6)  wohl  erst  durch  die 
eifrigen  Wodansdiener  geschehen :  Wodan  sollte  auch  hier  helfen  können 
und  ward  deshalb,  befremdend  genug,  an  zweiter  Stelle  eingeschoben. 
(Ursprünglich  mag  es  etwa  geheißen  haben;  Phol  und  die  Seinen  fuhren 
zur  Jagd.)  Nun  war  man  so  weit,  daß  man  aus  der  alten  Legende  vom 
täglichen  Ritt  des  Lichtgottes  und  seinem  Fall7)  einen  Heilspruch  für 
verletzte  Reitpferde  machen  konnte!  — 

Wir  wenden  uns  zum  altnordischen  Baidermythus.  Ich  gebe 
zunächst  eine  chronologische  Übersicht  der  nordischen  Zeugnisse. 


')  Kuhn  S.  99.  106. 

2)  Vgl.  Kuhn  S.  115. 

3)  A.  a.  O.  S.  99. 

4)  Niedner  (S.  110)  nennt  es  die  mythische  Schilderung  eines  nordischen 
Hochsommertages,  geht  aber  zu  weit  in  der  Einzeldeutung  besonders  der  be- 
gleitenden Göttinnen. 

5)  Wie  vielfach,  vgl.  Kuhn. 

6)  Vgl.  R.  M.  Meyer  S.  211. 

7)  Vgl.  E.  H.  Meyer  S.  392. 


316  Viertes  Kapitel. 

1.  Ortsnamen  sind  in  Dänemark  besonders  verbreitet1),  so  daß  Saxos 
Andeutung,  der  Balderkult  habe  sich  von  hier  aus  verbreitet,  zutreffen 
mag.  Denn  überhaupt  ist  die  Erinnerung  an  Balder  in  Dänemark  am 
lebhaftesten,  nächstdem  in  Island  und  Norwegen,  am  geringsten  in 
Schweden2),  wo  vermutlich  der  Balder  ähnliche  Frey  ihm  das  Wasser 
abgrub.  Doch  ist  gemeinnordisch  die  Benennung  ßaldrsbrd  für  die 
Hundskamille,  wegen  ihrer  weißen  Farbe3),  und  Ortsnamen  finden  sich 
auch  in  Norwegen4). 

2.  Eddische  Zeugnisse :  Die  Eddalieder  bringen  nur  Eine  wichtige 
Nachricht:  Vol.  Str.  32—34  wird  erzählt,  daß  Odins  Sohn,  der  edle 
Balder,  von  Hod  mit  einem  schlanken  Mistelzweig  erschossen  und 
von  seinem  Bruder  (Wali)  rasch  gerächt  wurde.  Die  rasche,  sprung- 
artig andeutende  Erzählung  setzt  den  Mythus  als  bekannt  voraus.  — 
Str.  62  erzählt  im  gleichen  Stil,  daß  nach  der  Wiedergeburt  der 
Welt  Balder  und  Hod  zusammen  in  Odins  Burg  wohnen  werden.  — 
Das  Gedicht  Baldrs  draumar  oder  Vegtamskvida  scheint  im  Wesent- 
lichen nur  diese  Verse  zu  glossieren  und  eine  verhüllte  Andeutung  der 
Klage  um  Balder  beizufügen.  Allerdings  hält  Jönsson5)  das  Gedicht  der 
Völ.  für  etwa  gleichzeitig;  Heusler6)  erklärt  es  dagegen  wohl  mit 
größerem  Recht  für  jung.  Jedenfalls  fügt  es  unseren  Kenntnissen  nichts 
Wesentliches  zu,  denn  die  bösen  Träume  Balders  —  allerdings  auch  in 
der  finnischen  Legende  und  ähnlich  bei  Saxo,  wo  Hei  dem  Balderus  er- 
scheint —  und  Odins  Orakel-Ritt  sind  gewiß  Fiktionen  der  Rahmenfabel.  — 
Lok.  Str.  27 — 28  beklagt  Frigg,  daß  ihr  Sohn  Balder  nicht  da  sei, 
um  Loki  zum  Zweikampf  herauszufordern,  und  Loki,  trotzig-herausfordernd 
wie  Hagen  vor  Kriemhild,  rühmt  sich,  an  Balders  Tod  schuld  zu  sein.  — 
Neue  Momente:  erstens  Balder,  der  gütige  Gott,  war  auch  tapfer;  zweitens: 
Loki  ist  die  Ursache  seiner  Ermordung.  —  Grfrn.  Str.  12  weist  dem 
Balder  die  Halle  in  Breidablik ,  »Breitglanz«,  zu;  »kein  anderes  Land 
in  aller  Welt  ist  so  von  Freveln  frei«.  Ich  glaube  an  diese  isolierte 
Angabe  so  wenig  wie  an  die  übrige  Topographie  der  Grfm.;  Name 
und  Charakteristik  ließen  sich  für  Balder  leicht  erfinden,  wenn  nicht 
etwa  Völ.  64 7)  benutzt  ist.  —  Hyndl.  Str.  30—31  bringt  die  auf  der 
späten   Zählung  der   Äsen   fußende  Aussage,   Balder  sei   einer  von  den 


J)  Baldrs  Quelle,  Baldrs  Grab  u.  a.;  vgl.  Mogk  S.  327.    Ein  Grab  des  Zeus 
auf  Kreta,  euhemeristisch  ausgedeutet:  Preller  1,  133.  135. 

2)  Ebd.  S.  325. 

3)  Ebd.  S.  327. 
*)  S.  327. 

B)  Oldnord.  Lit.  hist.  S.  148. 

6)  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  269. 

7)  Gimle  und  das  unvergängliche  Glück  nach  Balders  Wiederkehr. 


§  17.    Hauptgötter.  317 

zwölf  gewesen,  und  wiederholt  die  Nachrichten,  daß  Odin  Balders  Vater, 
Wali  sein  Rächer  war;  noch  berichtet  die  Strophe,  daß  Balders  Leiche 
auf  den  Holzstoß  kam. 

Die  Eddagedichte  berichten  also  folgendes:  erstens  Balder  ist  der 
Sohn  von  Odin  und  Frigg;  zweitens,  er  wird  auf  Lokis  Veranlassung 
durch  Hod  getötet  und  zwar  durch  einen  Schuß  mit  dem  Mistelzweig; 
drittens,  Wali  rächt  ihn  —  ob  an  Hod  oder  Loki,  wird  nicht  gesagt; 
viertens,  Balder  wird  auf  dem  Scheiterhaufen  beigesetzt;  fünftens,  er  kommt 
einst  wieder  und  herrscht  mit  Hod  zusammen,  das  Opfer  mit  seinem  Töter. 

Diese  Nachrichten  können  sehr  wohl  auf  Eine  Oberlieferung  zurück- 
gehen; jedenfalls  hat  es  kein  Bedenken,  sie  zu  kombinieren.  Im  Gegen- 
teil bleibt  es  auffällig,  wie  nahe  sich  diese  Belege  fast  alle  im  Wortlaut 
stehen.  Sind  sie  auch  zeitlich  durch  keinen  allzugroßen  Abstand  ge- 
trennt —  von  Vol.  bis  Hyndl.  etwa  75  Jahre  — ,  so  würde  doch  bei  der 
starken  Veränderung  zu  Saxo  hin  einiges  Zuströmen  von  Varianten  oder 
Zwischengliedern  zu  erwarten  sein.  Weshalb  fehlt  so  viel,  was  bei 
Snorri  steht? 

3.  Der  Bericht  der  Snorra  Edda  ist  in  sich  geschlossen  und  lücken- 
los. Balder  ist  (nach  Thor)  Odins  zweiter  Sohn,  schön ;  ein  heller  Glanz 
geht  von  ihm  aus;  er  ist  weise,  spricht  schön,  ist  milde:  doch  ist  das 
Eigentümliche  dabei,  daß  keiner  seiner  Urteilsprüche  in  Kraft  bleibt«1). 
Er  hat  die  Halle  Breidablik  und  ein  (ausnahmsweise  anonymes)  Roß,  das 
mit  ihm  verbrannt  wird2).  Er  ist  mit  Nanna  vermählt  und  hat  den  Forseti 
zum  Sohn3)  —  dies  letztere  wohl  nur  eine  Konjektur  Snorris,  weil  auch 
Forseti  ein  milder  Richter  ist.  Skadi  wollte  ihn  freien,  bekam  aber  den 
Njord4). 

Nach  der  eigentlichen  Balderlegende5)  hat  Balder  böse  Träume  (auch 
Veg.,  wo  aber  nichts  von  deren  Wirkung  gemeldet  wird);  weshalb  Frigg  alle 
Dinge,  die  ihm  schaden  könnten,  in  Bann  nimmt.  Übermütig  schießen 
und  werfen  nun  alle  Götter  nach  dem  Liebling.  Aber  Loki  erfragt  bei 
Frigg  (wie  Hagen  bei  Kriemhild),  wie  Balder  verwundet  werden  kann: 
ein  Mistelzweig  war  noch  nicht  im  eidfähigen  Alter,  Nun  verführt  Loki 
den  blinden  Äsen  Hod6),  mit  diesem  Schößling  auf  Balder  zu  schießen; 
und  der  Gott  wird  durchbohrt.  Seine  Leiche  wird  auf  einen  Scheiter- 
haufen  auf   ein  Schiff  gelegt.     Aber  noch   versucht   man   ihn   zu  retten. 


*)  Gylf.  cap.  22:  Gering  S.  317. 

2)  cap.  15  S.  310. 

3)  cap.  32  S.  321. 

4)  Bragar.  cap.  2:  Gering  S.  354. 

5)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  343—46;  dazu  cap.  53:  S.  351, 

6)  Vgl.  Gylf.  cap.  22:  Gering  S.  321. 


318  Viertes  Kapitel. 

Hermod,  nur  hier  genannt  (und  vielleicht  aus  der  Heldensage  über- 
nommen) *),  reitet  zur  Unterwelt,  um  Balder  zu  lösen.  Dies  soll  gewährt 
werden,  falls  alle  Dinge,  lebende  und  tote,  um  Balder  weinen.  Hermod 
bringt  den  feierlich  mit  allen  Attributen  um  den  Scheiterhaufen  ver- 
sammelten Äsen  die  Botschaft;  doch  Loki,  als  altes  Weib  Thökk  (die 
Schweigerin)  verhüllt,  macht  die  Bedingung  unerfüllbar2).  —  Es  folgt  die 
Rache  und  schließlich  die  Wiederkehr  Balders  und  Hods  aus  dem  Reiche 
der  Hei.  (Also  ist  auch  Hod  dort  hingekommen,  jedenfalls  durch  Wali 
getötet.) 

In  dieser  Darstellung  Snorris  ist  nichts,  was  dem  früheren  Befund 
widerspricht.  Wir  haben  auch  hier  denselben  gütigen  Gott,  während  er 
bei  Saxo3)  kriegerisch  ist  —  was  doch  noch  ganz  etwas  anderes  ist  als 
seine  Tapferkeit  nach  Friggs  Lob!  Ferner  finden  wir  die  Keime  ent- 
wickelt, die  wir  im  Merseburger  Spruch  aufspürten :  den  Feind,  die  fröh- 
liche Versammlung  (dort  Jagd,  hier  Spiel  auf  dem  Thingplatz),  den  Schuß, 
die  Heilungsversuche.  —  Auch  stimmen  zahlreiche  Sagenparallelen4),  nach 
denen  der  sonst  unverwundbare  lichte  Gott  oder  Held  durch  Verrat 
mittelst  der  einzigen  Waffe,  die  ihn  fällen  kann  (oder  an  der  einzigen 
Stelle,  an  der  er  verwundbar  ist)5),  getötet  wird. 

Wir  dürfen  also,  denke  ich,  annehmen,  daß  Snorri  im  Wesentlichen 
zuverlässig  die  Sagengestalt  wiedergibt,  wie  sie  im  Volk  (oder  in  außer- 
eddischen  Quellen)  auf  Island  lebte.  Denn  auch  was  er  mehr  hat,  als 
die  Edda,  sieht  nicht  nach  Erfindung  aus. 

Neu  den  Gedichten  gegenüber  sind  nämlich  folgende  Züge:  erstens 
die  Bannung  aller  schädlichen  Dinge  durch  Frigg;  zweitens  der  Ritt  Her- 
mods;  drittens  der  Versuch  der  Lösung  und  seine  Vereitelung.  Dagegen 
ist  Lokis  Anfrage  bei  Frigg  nur  eine  unvermeidliche  Konjektur:  er  muß 
eben  irgendwie  erfahren,  wo  die  Achillesferse  bleibt;  das  Spiel  ist  nur 
eine  genrebildliche  Ausmalung  eines  an  sich  schon  bezeugten  und  kaum 
entbehrlichen  Motivs  —  die  todbringende  Waffe  wird  auf  dem  Hinter- 
grund der  unschädlichen  gezeigt  — ;  und  selbst  Hods  Blindheit  braucht 
kein  neuer  Zug  zu  sein,  da  schon  früh  Loki  als  der  eigentliche  Täter 
(Lokasenna)  und  Hod  als  der  unfreiwillige  Mörder  unterschieden  scheinen. 
Jene  Züge  nun  aber  sind  märchenhafte  Zusätze,  wie  wir  sie  an  so 
vielen  echten  alten  Mythen  hängen  sahen  wie  die  Miesmuscheln.   Märchen- 


!)  Hyndl.  Str.  2;  Mogk  S.  327. 

2)  Um  die  in  der  Sintflut  untergehenden  Menschen  weinen  nach  dem  Keil- 
schriftbericht alle  Götter  (Holzinger,  Genesis,  S.  87);  die  ganze  Natur  erzittert 
bei  Indras  Geburt,  auch  die  Götter  (Macdon eil  S.  56). 

3)  Meyer  S.  404,  Mogk  S.  325,  Niedner  S.  305. 

4)  Vgl.  Heusler  in  seiner  Rezension  von  Kauffmann  S.  493. 

5)  Vgl.  über  die  »relative  Unverwandelbarkeit«  o.  S.  18. 


§  17.    Hauptgötter.  3 19 

haft,  aber  aus  echtem  altem  mythologischen  Märchenstil  ist  es,  daß  alle 
Dinge  in  Eid  genommen  werden1);  märchenhaft  sind  die  Einzelheiten 
von  Hermods  Ritt;  typisches  Mythenmärchen  ist  die  Klage  der  ganzen 
Natur2).  Nur  Ein  Motiv  bleibt  übrig:  daß  die  Wiedergabe  des  Toten  an 
eine  —  unerfüllt  bleibende  —  Bedingung  geknüpft  wird:  ein  Zug,  der 
ja  auch  typisch  ist  (Orpheus  und  Eurydike  und  das  verbotene  Umsehen, 
vgl.  Lots  Weib;  Persephone,  die  durch  den  Granatkern  die  Heimat  ver- 
scherzt). Es  scheint  aber  schon  älter,  da  der  Schluß  der  Veg.  dies  Motiv 
nach  der  Völ.  nachzuholen  für  nötig  hält3). 

Auf  Snorris  persönliche  Rechnung  könnte  man  höchstens  jene 
ironische  Bemerkung  setzen,  daß  Balders  Sprüche  nicht  zur  Erfüllung 
kommen ;  soll  sie  etwa  einer  zu  nahen  Vergleichbarkeit  des  milden  Richters 
mit  Christus  entgegenwirken? 

4.  Im  Bericht  Saxos4)  erblickt  Balders  Sohn  Odin  Nanna,  die  Tochter 
des  norwegischen  Königs  Gevarus,  beim  Baden  —  ein  biblisches  Motiv 
(Bathseba,  Susanna)  von  orientalischer  Lüsternheit,  dem  germanisch  alte 
Parallelen  nicht  zur  Seite  stehen :  ganz  anders  sieht  Frey  (Skirn.  Einleitung) 
Gerda,  wie  sie  »vom  Wohnhaus  ihres  Vaters  zum  Frauengrund«  geht,  etwa 
wie  Faust  Gretchen  erblickt.  Doch  könnte  diese  Einzelheit  gelehrte  Zutat 
sein.  —  Nanna  liebt  den  schwedischen  Königssohn  Hotherus.  In  zwei  An- 
sätzen —  erst  von  walkürenhaften  Waldmädchen,  dann  von  Gevarus  selbst  — 
erfährt  Hotherus  die  relative  Unverwundbarkeit  des  semideus  Balder:  dieser 
kann  nur  mit  dem  Schwert  des  Waldgeistes  Miming  getötet  werden.  Diesem 
lauert  Hotherus  auf,  fesselt  ihn  und  zwingt  den  satyrus,  das  Schwert  aus- 
zuliefern. Es  kommt  zur  Schlacht,  wobei  die  Äsen  auf  Balders  Seite  fechten; 
trotzdem  siegt  Hotherus,  und  Balder  flieht;  Mimings  Schwert  bleibt  außer 
Aktion.  Hotherus  vermählt  sich  mit  Nanna  und  wird  in  einer  neuen 
Schlacht  seinerseits  zur  Flucht  genötigt.  Im  Elend  trifft  er  von  neuem 
die  prophetischen  Frauen,  die  ihm  den  Rat  geben,  von  der  kraftvermehrenden 
Speise  Balders  zu  essen.  Nun  durchbohrt  er  Balder,  der  nach  drei  Tagen 
an  der  Wunde  stirbt.     Es  folgt  die  Rache  durch  Bous. 

Dieser  Bericht  enthält  sicher  alte  Einzelheiten.  So  wird  von  einer 
Quelle  erzählt,  die  Balder  erweckt,  um  sein  Heer  zu  stärken,  und  ein 
solches  »Baldersbrunn«  gibt  es  bei  Roeskilde.  Auch  die  seltsame  Doppel- 
prophezeiung der  Waldnymphen  könnte  man  mit  jener  Eigenheit  Balders, 


*)  Wie  im  Dornröschen-Märchen;  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  22. 

2)  v.  d.  Leyen  S.  26;  R.  M.  Meyer,  Mythologische  Schemata,  Arch.  f. 
Rel.-Wissensch.  10,  88. 

8)  Muchs  naturallegorische  Deutung  des  Weinens  der  ganzen  Natur  aus 
den  Harztropfen  (Himmelsgott  S.  258)  muß  ich  ablehnen:  weder  Harz  noch  Tau 
können  von  der  ganzen  Natur  abgesondert  werden. 

4)  Golther  S.  273i;  Olrik,  Kilderne  1,  141  f.   2,  13f. 


320  Viertes  Kapitel. 

daß  seine  Sprüche  nicht  erfüllt  werden,  in  Verbindung  bringen;  nur  daß 
diese  Angabe  Snorris  selbst1)  bedenklich  ist.  Das  wichtigste  Moment 
aber  in  Saxos  Bericht  bildet  das  Schwert  Mim ings 2).  Andere  Einzelheiten 
sind  alt,  aber  schwerlich  von  vornherein  mit  der  Balderlegende  verbunden; 
so  der  Wunderring  oder  die  Schlange,  die  Gift  in  die  Speise  tropft  — 
was  zu  Lokis  Fesselung  sehr  gut,  zu  Balders  Götterspeise  sehr  schlecht  paßt. 

Im  übrigen  sieht  die  Erzählung,  wie  sie  bei  Saxo  steht,  nicht  nur  (wie 
seine  Geschichte  von  Rind  auch)  mit  ihren  mehrmaligen  Peripetien  mehr 
romanhaft  aus  als. mythisch  oder  episch;  es  ist  auch  nichts  von  dem  alten 
Charakter  geblieben.  Balder,  der  helle,  friedliche  Gott,  ist  zum  dunklen, 
kriegerischen  Zauberer  geworden ;  der  Gatte  der  Nanna  muß  seine  Gattin 
einem  Nebenbuhler  überlassen ;  Loki  ist  ausgeschaltet  und  das  uralte  Motiv 
des  Spiels  mit  den  Waffen  beseitigt.  Es  bleibt  überhaupt  nur  erstens  Balders 
Unterstützung  durch  die  Äsen,  zweitens  sein  Tod  durch  eine  prädestinierte 
Waffe;  sonst  ist  es  ein  historischer  Roman  auf  die  Namen  Balder,  Hother, 
Nanna  mit  reichlicher  Vorführung  von  interessanten  kulturhistorischen 
Details  (Waldnymphen,  Götterspeise,  Thors  Keule,  Hotherus  als  vom  Berg 
herab  Urteil  erteilender  Musterfürst)3). 

Aber  —  es  bleibt  der  wichtige  Einzelzug  des  verhängnisvollen  Schwertes. 
Offenbar  müßte  dies  zwar  gleich  bei  der  ersten  Schlacht  die  Entscheidung 
bringen ;  auch  ist  seine  Eroberung  nach  dem  üblichen  Schema  (Fesselung, 
Lösung)  wahrscheinlich  Zusatz,  da  eine  solche  besitzerklärende  Mythe  sonst 
für  die  verhängnisvollen  Waffen  nicht  nachzuweisen  ist.  Aber  manche 
Spuren  in  anderen  Sagen  scheinen  auszusagen ,  daß  Balder  durch  ein 
solches  Schicksalsschwert  fallen  mußte4). 

Es  wäre  also  wohl  etwa  so  zu  urteilen:  daß  Saxo  auch  hier  gute 
Quellen  besitzt,  sie  aber  eigenmächtig  in  seiner  ironisch -antikisierenden 
Art  zu  einem  Roman  verarbeitet5).  — 

Was  den  Kern  des  Baidermythus  betrifft,  so  herrscht  Einig- 
keit6) über  folgende  Punkte:  Balder  ist7)  ein  lichter  Gott,  der  nur  durch 
Eine  Waffe  getötet  werden  kann,  d.  h.  der  durch  diese  Waffe  getötet  wird. 
Es  ist  soweit  ein  uralter  indogermanischer,  wenn  nicht  unvermeidlich- 
menschlicher Elementarmythus:  die  helle  Sonne  stirbt,  obwohl  sie  doch 
eigentlich  Sol  invictus  ist;  also  muß  sie  doch  eine  geheimnisvolle  Ver- 
wundbarkeit besitzen. 


x)  Siehe  o.  S.  318.  2)  Siehe  u. 

3)  Vgl.  Olrik,  Danske  Studier,  1909,  S.  1  f. 

4)  Aufgezählt  bei  Mogk  S.  326. 

F*)  Der  persönlichen  Eigenart  Saxos  ist  Olrik  bei  seinen  glänzenden  Quellen- 
scheidungen doch  wohl  nicht  ganz  gerecht  geworden. 

6)  Wenn  man  von  Kauffmanns  folkloristischen  Irrwegen  absieht. 
3)  Mogk  S.  327.  377.  Heusler  a.  a.  O. 


§  17.    Hauptgötter.  #  32  j 

Dieser  Naturmythus  wird  erstens  in  typischer  Weise  historisiert,  d.  h. 
der  tägliche  Vorgang  wird  in  einen  einmaligen  verwandelt1);  zweitens 
im  Einzelnen  anschaulich  episch  gestaltet.  Hierbei  entstehen  drei  Fragen : 
wie  wird  der  Held  getötet?    durch  wen?    wie  wird  er  wieder  belebt? 

Die  Art  der  Tötung  ist  es,  die  diesen  Mythen  ihre  eigenartige 
Silhouette  gibt.  Wie  wird  Balder  getötet?  Nach  der  Edda  durch  den 
Mistelzweig;  nach  Saxo  durch  ein  fatales  Schwert. 

Man  hat  beide  Aussagen  geistreich  kombiniert:  »Mistiltein«,  Mistel- 
zweig  sei  der  alte  Name  des  Schwerts,  mit  dem  Balder  getötet  wird,  wie 
denn  tatsächlich  dieser  Schwertname  in  Sagen  begegnet2),  und  es  liege3) 
ein  irreführendes  Orakel  vor;  etwa  wie  Kaiser  Friedrich  II.  Florenz  ver- 
mied, weil  ihm  der  Tod  in  der  Blumenstadt  prophezeit  war,  und  in 
Firenzuola  starb ;  oder  ein  Mißverständnis  (ähnlich  wie  bei  Mimirs  Haupt 
und  in  andern  Fällen). 

Für  das  Schwert  als  Balders  Todeswaffe  sprechen  einige  mythische 
Analogien.  Heimdali  fällt  durch  das  eigene  Schwert,  das  Loki  führt,  Frey 
steht  dem  letzten  Kampf  schwertlos  gegenüber4).  Ferner  jene  späteren 
Mythenzüge,  die  aber  alle  auf  eine  spätere  Ersetzung  der  Schußwaffe 
durch  das  Schwert  zurückgehen  können;  ebenso  kann  natürlich  der 
Schwertname  »Mistelzweig«  umgekehrt  aus  der  Baidersage  entstanden  sein. 

Gegen  das  Schwert  sprechen  folgende  Argumente:  Die  ältesten 
Sagen  lassen  den  lichten  Helden  durch  einen  Schuß  verwundet  werden, 
und  diese  Spur  trafen  wir  auch  in  dem  urgermanischen  Baidermythus. 
Auch  entspricht  die  tückische  Verwendung  aus  dem  Hintergrund  der 
in  diesem  Mythus  überall  und  unvermeidlich  früh  eingetretenen  Ethi- 
sierung  besser  als  das  tapfere  Schwert.  Noch  bei  Saxo  fehlt  die  organische 
Verbindung  zwischen  Waffe  und  Mord,  die  bei  Snorri  unmittelbar  vor- 
handen ist. 

Gegen  die  Kombination  beiderVarianten  spricht,  daß  wir 
alte  Namen  der  mythischen  Waffen  nirgends  glaubten  annehmen  zu 
dürfen ;  ferner,  daß  die  Benennung  für  ein  Schwert  höchst  seifsam  scheint 
und  der  Analogie  entbehrt.  Ein  Schwert  mag  ,Balmung',  Sohn  des  Glanzes, 
heißen  wie  Siegfrieds  Schwert5),  oder  Durandarte,  oder  Alteclere; 
aber  nach  einer  Schmarotzerpflanze  benennt  ein  Germane  seine  Waffe 
schwerlich,  ehe  deren  Name  mythisch  geheiligt  ist. 


1)  Vgl.  o.  S.  45. 

2)  Golther  S.  379,  1. 

3)  Nach  Niedners  sinnreicher  Vermutung  S.  308.  321  f.  Spruch  der  völva; 
vgl.  Golther  S.  368. 

4)  Niedner  S.  307,  vgl.  Mogk  S.  326. 

5)  Schroeder  a.  a.  O.  S.  244. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  21 


322  *       Viertes  Kapitel. 

Gegen  den  Mistelzweig  spricht,  daß  dieser  sonst  Glück  und 
Abwehr  des  Bösen  bedeutet1);  ferner  die  berühmte  Analogie  des  Toledoth 
Jeschu2).  —  Konrad  Hofmann  hat  in  seiner  unendlichen  Gelehrsamkeit 
weit,  weit  ab  von  Balders  Landen  eine  eigentümliche  Parallele  entdeckt,  die 
dann  vor  allem  Bugge  betonte.  Eine  Schmähschrift  aus  jüdischen  Kreisen 
stellt  Jesus  als  einen  Meister  der  schwarzen  Magie  dar.  Christus  hatte  alles 
Holz  in  Eid  genommen ,  so  daß  er  vor  dem  Galgentod  sicher  schien, 
»denn  er  wußte  sein  Urteil  wohl,  daß  er  zum  Hängen  würde  verdammt 
werden«.  Aber  Judas  hat  in  seinem  Garten  einen  großen  Krautstengel; 
an  den  wird  Jesus  gehängt.  —  Von  hier,  meinte  Bugge,  stamme  der 
Mistelzweig.  Aber  ein  Krautstengel  als  Kreuz  und  eine  Mistel  als  Pfeil 
sind  doch  zweierlei :  gemeinsam  ist  eben  nur  das  Motiv  der  relativen  Un- 
verwundbarkeit. Ebenso  ist  auch  das  gemeinsame  Motiv,  daß  um  Christus 
wie  um  Balder  einer  sich  weigert  zu  klagen,  ein  mythologisches  Schema  8). 

Für  den  Mistelzweig  spricht:  Eine  finnische  Rune,  in  der  der 
Held  »mit  einem  giftigen  Wasserpflanzenstengel«  durchbohrt  und  ins 
Wasser  geworfen  wird4).  Die  Altertümlichkeit  des  letzten  Zuges  verdient 
besondere  Beachtung:  auch  der  getötete  Osiris  wird  ins  Wasser  geworfen, 
und  bei  Balder  deutet  Friggs  Klage  in  Fensalir5)  vielleicht  noch  auf  das 
gleiche  Motiv.  Weiter  die  Analogie  der  Hinrichtung  Wikars6),  die 
jedenfalls  größer  ist  als  mit  der  Geschichte  in  Toledoth  Jeschu.  Ein 
Rohrstab  wird  in  der  Hand  des  Verräters  zum  Speer,  der  den  König 
durchbohrt:  »alles  sterbt  den,  der  sterben  soll«7).  Ferner  weitere  Sagen- 
parallelen in  dem  Sinne,  daß  der  Stärkere  mit  den  schwächsten  Waffen 
bezwungen  wird  —  eine  beliebte  mythische  Paradoxie  (wie  ein  Ungeheuer 
mit  Haarfäden  gefesselt  wird)8).  Oder  die  Schwäche  der  Waffe  wird  auf 
den  Schützen  übertragen :  so  kann  Ilion  nur  durch  die  Pfeile  des  kranken 
Philoktet  erobert  werden.  Auch  anders  geartete  und  dem  Sinne  der 
Baidermythen  noch  näher  kommende  Parallelen  außerhalb  der  ger- 
manischen Mythologie  sprechen  dafür;  so  die  (späte)  Sage,  daß  Gaia 
ihre  Söhne,  die  Giganten,  durch  ein  Zauberkraut  auch  gegen  Sterbliche 
feien  will  (denn  diesen  gegenüber  erlischt  ihre  relative  Unverwundbarkeit, 
wie  umgekehrt  Macduff  durch  keinen,  den  ein  Weib  gebar,  fallen  kann), 

!)  Niedner  S.  321. 

2)  Vgl.  v.  d.  Leyen,   Märchen,  S.  23 f.:   Niedner  S.  334. 

3)  Vgl.  v.  d.  Leyen  S.  25;  meine  Mytholog.  Schemata  Arch.  f.  Rel.- 
Wissensch.  10,  88  f.  Die  Christianisierung  des  Mythus  ist  dann  noch  weiter  fort- 
geführt worden  von  K.  Krohn,  Finnische  Beiträge  zur  Germ.  Mythol.,  S.  118f. 

4)  Krohn  S.  112. 

5)  Vgl.  o.  S.  274. 

•)  Vgl.  o.  S.  239;  Golther  S.  325. 

7)  Fäf.  Str.  11;  vgl.  Detter  S.  500. 

8)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Festgabe  für  Kelle  1,  7 f. 


§  17.    Hauptgötter.  323 

während  Zeus,  nachdem  er  der  Sonne,  dem  Mond  und  der  Morgenröte 
zu  scheinen  verboten  hat,  das  Kraut  abschneidet1).  Immerhin  hängt  also 
auch  hier  das  Leben  des  Festgemachten  von  einer  kleinen  Pflanze  ab.  — 
Endlich  besonders  wichtig  scheint  uns:  daß  der  Zweig  gesch  ossen 
werden  kann;  einen  Schuß  setzt  aber  auch  die  deutsche  Fassung  voraus2). 

Somit  fürchte  ich  auch  hier  gegen  den  Strom  schwimmen  zu  müssen, 
indem  ich  den  Mistelzweig  für  das  Ursprüngliche  halte8).  Wir  kommen 
zu  der  Frage  nach  dem,  der  Balder  tötet. 

Die  älteren  Berichte  wissen  von  Hod  dem  Mörder  Balders;  aber 
daß  er  nicht  aus  Bosheit  sündigte,  machen  schon  hier  die  Verse  wahr- 
scheinlich, die  Balder  und  Hod  in  der  goldenen  Zukunft  als  Freunde 
zeichnen.  Immerhin  ist  wahrscheinlich,  daß  in  der  ältesten  Zeit  einfach 
Hod  Gegner  und  Mörder  zugleich  war. 

Hod  heißt  »der  Kampf«;  also  ein  Feind  des  milden  Friedensgottes. 
Er  soll  blind  sein,  was  wohl  ursprünglich  nur  seinen  Gegensatz  zur 
Helligkeit  ausdrückt:  er  lebt  im  Dunkeln;  vielleicht  ist  es  aber  auch  nur 
eine  Erfindung  aus  der  Zeit,  in  der  er  Lokis  blindes  Werkzeug  geworden 
war.  Denn  trotz  Johann  von  Böhmen  kann  ein  Gott,  der  »Krieg«  heißt, 
schwerlich  blind  gewesen  sein,  wie  Niedner4)  betont:  es  wäre  eine  frostige 
Allegorie.  —  Die  kriegerische  Natur  ist  bei  Saxo  gewahrt5),  aber  der 
charakteristische  Gegensatz  verwischt. 

Später  ward  dem  üblichen  Schadenstifter  Loki  auch  hier  die  Haupt- 
schuld zugeschoben.  Daß  jemals  Odin  der  Anstifter  gewesen  wäre,  wie 
Detter6)  will,  ist  durchaus  abzuweisen :  gerade  er  zeigt  sich  ja  um  Balders 
Schicksal  besorgt7).  »Blind«  ist  nicht  »einäugig«8),  was  Odin  ja  aller- 
dings ist;  und  weshalb  sollte  Odin  seinen  Sohn  umbringen  wollen? 

Sobald  nun  Loki,  die  spätere  Kausalität  alles  Bösen,  zur  treibenden 
Kraft  geworden  war,  sinkt  Hod,  von  dem  eben  nur  diese  Eine  Tat  be- 
kannt war,  zum  blinden  Werkzeug  herab  —  zu  jenem  »blinden  Hödur«, 
dem  Sinnbild  unverständiger  Nachgiebigkeit  gegen  böse  Einflüsse,  den 
Fürst  Bismarck  den  Deutschen  ebenso  unvergeßlich  wie  erfolglos  als 
Warnungsbild  hingestellt  hat.  —  Die  Rache  an  Hod,  erst  nur  eine  un- 
entbehrliche Genugtuung  der  Sippenehre,  wird  nun  in  die  ethisch  ge- 
forderte furchtbare  Bestrafung  Lokis  gewandelt.  — 


*)  Prell  er  1,  79;  vgl.  die  Darstellung  der  Baidersage  bei  Saxo. 

2)  Ebenso  wird   Kanut  beim  Spiel  aus   dem   Hinterhalt   erschossen:   Saxo 
S.  321,  Hermann  S.  434. 

3)  Über  die  Entwicklung  zum  Schwert  siehe  u. 

4)  S.  315. 

5)  Mogk  S.  325;  vgl.  Meyer  S.  394. 

6)  a.  a.  O.  S.  506. 

7)  Niedner  S.  311. 

8)  Detter  S.  502. 

21* 


324  Viertes  Kapitel. 

Die  Wiederbelebung  wird  in  manchen  alten  Mythen  ausführlich 
beschrieben :  die  Glieder  des  zerschnittenen  Osiris  werden  zusammengefügt 
und  (unter  Zaubersprüchen)  belebt  —  was  wohl  den  mythologisch  epischen 
Vorspruch  zu  der  uralten  Heilformel  ben  se  bona ,  bluot  si  blnoda, 
lid  si  geliden  söse  gelimida  sin  bildete l) ;  ähnlich  ist  es  in  der  Fabel 
von  Absyrtus.  —  Von  Balder  wird  nur  gemeldet,  daß  er  wieder- 
komme. Dennoch  haben  wir  einen  Fingerzeig,  wie  die  Belebung  zu 
denken  ist.  Odin  flüstert  dem  Balder  ein  Wort  ins  Ohr,  ehe  man 
ihn  auf  den  Holzstoß  hob 2).  Natürlich  weiß  ein  moderner  Mytholog  das 
Wort  so  wenig  wie  der  arme  Vafthrudnir.  Aber  an  eine  bloße  Vexier- 
frage möchte  ich  in  diesem  feierlich -ernsten  Gedicht  doch  nicht3)  glauben. 
Das  Zauberwort  schläft  mit  dem  Toten  nnd  geht,  wenn  die  Zeit  erfüllt 
ist,  auf  wie  eine  Saat:  dann  weckt  es  den  toten  Gott4).  Doch  wird 
diese  Huldigung  an  den  Totenerwecker  Odin,  wie  sein  Heilruhm  im 
Merseburger  Spruch ,  jüngeren  Datums  sein :  ursprünglich  heilte  wohl 
die  Zeit,  wie  sie  Wölund5)  die  Flügel  und  Simson  die  Haare  wieder 
wachsen  läßt.  — 

Wir  können  somit  den  alten  Mythus  wie  folgt  aus 
seinen  Gliedern  aufzubauen  suchen: 

Balder  hat  als  lichter  Gott  den  dunklen  Hod  zum  Feind.  Er  ist  nur 
durch  eine  Waffe  zu  töten,  die  keine  Waffe  ist  (man  denke  an  Macbeths  Tod 
durch  den  ungeborenen  Macduff).  Bei  einem  fröhlichen  Waffenspiel  schießt 
Hod  die  schwächste  Pflanze  auf  den  Gott  und  tötet  ihn6).  Als  ein  gewiß 
alter  Zug  folgt  (wie  noch,  mit  Beseitigung  aller  mythischen  Zutat,  im 
Nibelungenlied)  die  Klage7),  nicht  christlich8),  sondern  den  Adonisklagen 
vergleichbar:  ein  Versuch,  die  chthonischen  Gottheiten  zu  rühren  und 
dann  ein  ritueller  Akt.  Er  wird  in  einen  Versuch  der  Wieder- 
bringung  (Hermod  -  Thökk)  umgedeutet.  Auf  das  Mißlingen  folgt  die 
Rache  und  jenseits  der  Weltgeschicke  die  Wiedergeburt. 

Die  literarische  Entwicklung  des  Mythus  kennen  wir  vor 
allem  durch  Olrik.  Die  rein  mythische  Auffassung  haben  wir  in  den 
Eddagedichten    und    bei    Snorri    (deren    Differenzen   Niedner   übertreibt). 


x)  Erman,  Ägypt.  Rel.,  S.  36;  vgl.  Merseburger  Spruch  MSD.  IV.  2,  7. 

2)  Vaf.  Str.  54. 

3)  Wie  in  den  Heidreksrätseln ;  Eddica  minora  S.  XCIII. 

4)  Wiederbelebung  übt  Odin  sonst  nur  an  Gehängten,  weil  sie  ihm  geweiht 
sind,  Häv.  Str.  156;  doch  da  Balder  wie  Wikar  eine  Art  Speertod  stirbt,  fällt  auch 
er  unter  Odins  Zauberbereich. 

5)  Siehe  o.  S.  165. 

6)  Ein  realistisch-heroisches  Motiv  vgl.  Beov.  v.  2435 f.,  Detter  S.  499;  so 
ist  König  Heinrich  II.  von  Frankreich  wirklich  im  Turnier  erstochen  worden. 

7)  Mogk  S.  326,  Niedner  S.  329. 

8)  Meyer  S.  401. 


§  17.    Hauptgötter.  325 

Daraus  entwickelte  sich  eine  rationalisierende  isländische  Saga,  und  schließ- 
lich schreibt  Saxo  eine  »Rettung«  Hothers1).  Die  ältesten  Zeugnisse  fallen 
um  900 2);  um  950  ist  die  Sage  fertig  entwickelt3).  —  Die  Entwicklung 
nimmt  einen  charakteristischen  Gang:  vom  Mythischen  zum  Märchen- 
haften4) und  dann  wieder  ins  Aufgeklärte.  Später  schrumpft  der  Gott 
wieder  in  der  volkstümlichen  Überlieferung  zu  einem  Kleinkönig  auf  See- 
land ein,  dessen  Gegner  Hoder  in  der  Nähe  saß 5).  —  Rein  literarisch  ist 
dagegen  wieder  der  späte  Versuch  der  Frithjofsage,  den  Kult  Balders  in 
den  glänzendsten  Farben  zu  schildern:  ein  Baldertempel  am  Sognefjord 
mit  großer  Heiligkeit6).  Das  beweist  nur,  daß  man  sich  im  13. — M.Jahr- 
hundert von  neuem  für  Balder  interessierte.  Natürlich  hat  dabei  die 
vielleicht  vom  Christentum  geförderte,  jedenfalls  jetzt  vom  Christentum 
gewürdigte  Ethisierung  Balders  beigetragen  7).  — 

Erst  jetzt  dürfen  wir  die  Frage  aufwerfen,  woher  die  mythische 
Gestalt  Balders  selbst  stamme.  Man  leitet  ihn  in  der  Regel  von 
dem  Himmelsgott  ab;  Detter8)  setzt  ihn  mit  Frey  gleich,  weil  er  wie  dieser 
mild  und  kriegerisch  zugleich  ist.  Gewiß  steht  er  Frey  nahe,  wie  er  ein 
spendender  Gott9).  Bedenkt  man  aber  die  große  Zahl  mythischer  und 
sagengeschichtlicher  Parallelen10),  so  erscheint  es  schwer  glaublich,  daß 
von  Zeus,  Tyr  usw.  jedesmal  im  Sonderleben  der  betreffenden  Völker  eine 
fast  gleiche  Gestalt  abgespalten  sein  soll ;  eine  wirkliche  Identität  aber,  die 
Balder  als  eine  schon  indogermanische  Hypostase  des  Himmelsgottes  dar- 
tun würde,  ist  nicht  zu  erweisen.  Das  Wahrscheinlichste  ist  vielmehr 
wohl,  daß  all  diesen  Gestalten  eine  gleiche  Bildung  vorausliegt,  nämlich 
ein  Dämon  des  Lichts,  der  von  dem  Sonnengott  unabhängig  ist. 
Berührungen  konnten  bei  seinem  Anwachsen  zu  göttlicher  Bedeutung 
gewiß  nicht  ausbleiben  (der  Sonnenhirsch);  entscheidend  aber  scheint,  daß 
dieser  Gott  von  eigentlichen  Funktionen  fast  ganz  frei  bleibt.  Wir 
erfahren  nirgends,  daß  ihm  eine  spezielle  Aufsicht  anvertraut  ist  wie  dem 


*)  Vgl.  Heusler  S.  492. 

2)  Wohin  Niedner  S.  311  das  alte  Vegtamslied  setzt. 

3)  Mogk  S.  325;  vgl.  Niedner  S.  317. 

4)  Vgl.  Meyer  S.  400. 

5)  Mogk  S.  327. 

6)  Meyer  S.  406. 

7)  Gegen  die  Annahme,  daß  der  Mythus  überhaupt  christliche  Elemente 
berge  —  Bugge,  Studien  1,  83t;  vgl.  Golther  S.  378,  Meyer  S.  401  — 
Olrik,  Sakses  Oldhistorie  2,  13 f.;  vgl.  Mogk  S.  324.  Nacheddische  Balder- 
legenden: Olrik,  Kilderne  2,  381  44. 

8)  S.  513. 

9)  Mogk  S.  325. 

10)  Detter  S.  514;  Niedner  S.  334;  Kauffmann;  Schuck;  v.  d.  Leyen 
passim. 


Viertes  Kapitel. 

Frey  oder  Thor;  eine  solche  Spezifikation  müssen  wir  aber  theoretisch 
fordern,  wo  eine  Hypostase  angenommen  werden  soll.  Ebensowenig  ist 
es  trotz  den  scharfsinnigen  Bemühungen  Kauffmanns  gelungen,  einen  Ritus 
nachzuweisen  —  es  sei  denn  eben  jene  eine  wichtige  Zeremonie  des 
Klagens,  die  die  Götter  und  alle  Wesen  im  Mythus  üben,  wie  auf  Erden 
Adonis  oder  Osiris  oder  Balder  beklagt  wurde. 

Unverkennbar  ist  bei  dieser  Gestalt  das  frühe  Eingreifen  der  Helden- 
sage und  der  Epik  überhaupt.  Ihre  Einwirkung  verrät  sich  schon  in  der 
starken  Ethisierung  der  Charaktere;  dann  aber  auch  in  den  Situationen. 
Der  Traum  —  wenn  er  alt  ist  — :  das  ritterliche  Spiel,  die  Absendung 
eines  Boten,  die  prunkvolle  Beisetzung  —  das  sind  alles  epische  Lieblings- 
motive, wie  wir  sie  im  Nibelungenlied  oder  Iwein,  Achilleis  oder  Beowulf 
in  charakteristischer  Ausprägung  wiederfinden.  Nun  ist  ja  in  der  Tat  die 
Verwundung  und  der  Tod  ein  Gegenstand  mehr  für  die  Heldendichtung 
als  für  die  Götterdichtung.  Und  hier  liegt  wohl  die  Achse  des  Stückes. 
Kern  des  Mythus  ist  überall,  wie  wir  sahen,  daß  der  lichte  Gott  von  dem 
dunklen  getötet  wird  —  so  möchte  ich  es  ausdrücken ;  die  Helligkeit  und 
das  Dunkel  scheinen  mir  hier  die  herrschenden  Vorstellungen ,  nicht 
Sonne  und  Wolke  oder  Nacht.  So  also  stirbt  die  Helligkeit,  das  Lichte, 
Osiris,  Adonis,  Balder  —  eine  tägliche  Erfahrung.  Sie  deckt  sich  mit 
der  kaum  minder  häufigen  Erfahrung  von  der  Tötung  des  hellen,  jungen 
Lieblingshelden  durch  den  feindlichen  und  also  bösen,  tückischen  Kämpfer. 
So  treffen  sich  hier  notwendig  Mythus  und  Stammesepik,  und  Siegfried 
oder  Isfendiar,  Achilleus  oder  Helgi  werden  Helden  des  Volksepos;  Osiris 
aber  und  Balder  (und  in  früheren  Epochen  wäre  es  Antinous  ebenso  ge- 
gangen) werden  Hauptpersonen  eines  mythischen  Epos.  Dies  ist  getränkt 
von  Wirklichkeitsmalerei :  der  Traum,  die  Sorge,  die  leidenschaftliche  Klage, 
der  Scheiterhaufen  —  wo  fände  man  so  realistische  Züge  auch  nur  in  der 
Anschaulichkeit  der  Thrymskvida?  sie  stammen  aus  der  Analogie  des 
wirklichen  Heldenschicksals.  Ist  nicht  auch  uns  Theodor  Körner  nahezu 
eine  mythische  Gestalt  geworden?  ist  er  es  nicht  schon  in  Uhlands  Wenn 
heut  ein  Geist  herniederstiege,  zugleich  ein  Sänger  und  ein  Held  — «? 
Und  zugleich  ist  hier  mehr  Dunkles,  Mystisches  als  in  den  meisten  Mythen : 
die  geheimnisvolle  Waffe,  das  blinde  Werkzeug,  das  Zauberwort  ins  Ohr 
des  Toten  geraunt.  Sie  stammen  aus  der  mythischen  Stimmung  einer 
Periode,  die  der  klaren  Götterbildung  vorausliegt  —  der  dämonistischen, 
mit  zerfließenden  Gestalten  und  Zauberspuk  arbeitenden  Epoche. 

Hierin  liegt  der  besondere  fesselnde  Reiz  der  Erzählung:  sie  hat 
allen  Zauber  einer  längst  historisch  gewordenen  Stilmischung  —  den 
Zauber  der  Volksepen,  den  Zauber  des  Straßburger  Münsters.  Die  Stil- 
reinheit von  Skfrnisför  oder  Thrymskvida  fehlt  —  nicht  etwa  bloß  den 
Berichten,  nein,  schon  dem  Mythus  selbst;  die  sympathische  Hauptgestalt 


§17.    Hauptgötter.  327 

entbehrt  der  scharfen  Umrisse  Thors  oder  Odins.  Aber  zwei  Epochen 
haben  ihr  Bestes  auf  die  Bahre  des  sterbenden  Gottes  gelegt:  die  dumpfe 
Befangenheit  des  indogermanischen  Dämonismus,  und  die  frische  Lebens- 
lust der  überall  anhebenden  weltlichen  Epik.  Die  Helden  weinen  über 
den  toten  Gott ;  und  so  ist  die  Intensität  dieser  Klage  denn  auch  religions- 
geschichtlich wichtig:  konnte  wirklich,  wie  Olrik  meint,  an  eine  allgemeine 
Unsterblichkeit  auch  nur  der  Helden  geglaubt  werden,  als  sogar  ein  Gott 
in  Hels  Reich  eingehen  mußte?  Denn  seine  späte  Wiederkehr  löst  den 
Schmerz  um  seinen  wirklichen  Tod  nicht.  — 

Unter  den  vielen  Hypothesen,  die  bei  Deutung  der  Rätsel  von  Balder 
vorgebracht  sind,  möchte  ich  nur  vier  der  scharfsinnigsten  kurz  erwähnen : 
die  von  Bugge,  Detter,  Kauf f mann  und  Schuck.  Sie  mögen  auch  dem 
Kritiker  zeigen,  wie  zurückhaltend  ich  noch  in  mythologischen  Ver- 
mutungen bin. 

1.  Bugge  hat  die  da  n  i  sc  he  Baidersage  fast  ganz  in  ein  Mosaik  mittel- 
alterlicher Reminiszenzen  aufgelöst1):  Saxos  Hotherus  ist  Paris,  der  den 
Achilles  tötet2);  Nanna  ist  Oenone3);  Gevarus  deren  Vater  Cebren4) 
Hothers  Begegnung  der  drei  Waldmädchen  entspricht  der  des  Paris  mit 
den  drei  Göttinnen5),  wobei  des  Dares  Excidium  Trojae  vermittelt  hat6); 
doch  muß  noch  Benoits  Roman  de  Troie7)  hinzugezogen  werden.  Der 
Eingriff  der  Götter  in  den  Kampf  muß  wieder  unmittelbar  auf  den 
Trojanischen  Kampf  zurückgehen8)  —  obwohl  Bugge  selbst  den  ent- 
scheidenden Unterschied  hervorhebt,  daß  dort  die  Götter  geteilt  sind,  die 
bei  Saxo  geschlossen  auf  Balders  Seite  kämpfen.  Und  wenn  die  drei 
Waldmädchen  dem  Balder  stärkende  Speise  bringen ,  Athene  aber  dem 
Achill  Nektar  und  Ambrosia  in  die  Brust  gießt,  so  ist  das9)  »eine  un- 
verkennbare Übereinstimmung« ,  bei  der  Saxo  gar  Ausdrücke  des  Homer 
noch  bewahrt  haben  soll. 

Bugges  Werk lü)  ist  uns  heute  nur  noch  das  Denkmal  einer  ehr- 
würdigen Persönlichkeit  und  einer  überwundenen  Epoche.  Den  großen 
Forscher  zog  eine  unendliche  Gelehrsamkeit  in  ihre  Netze;  er  wußte  ihr 
nicht  zu  gebieten.  So  ist  sein  Buch  verhängnisvoll  geworden:  von  ihm 
ging  jene  böse  Manier  der  Motiven  -  Mosaikkunst  aus,  die  nun  in  Boers 
Sagenforschungen  wohl  ihre  tragische  Höhe  erreicht  hat11).    Denn  nun  ist 


x)  Studien  1,  83 f.;  vgl.  z.  B.  Golther  S.  380;  gegen  Bugge  Olrik,  Sakses 
Oldhistorie,  S.  46. 

2)  S.  85.  3)  S.  89,  vgl.  177  f.  *)  S.  89.  5)  S.  94. 

6)  S.  95.  7)  S.  101  f.  8)  S.  108.  9)  S.  124. 

10)  Studien  über  d.  Entstehung  d.  nordischen  Götter-  u.  Heldensagen,   übs. 
v.  O.  Bremer,  München  1889. 

n)  Vgl.   meinen   Aufsatz    »Der   Sprung   aus   dem    Fenster     Ztschr.   f.   d. 
Alt.  51,  292. 


328  Viertes  Kapitel. 

ganz  verloren,  was  Bugge  doch  noch  besaß:  eine  vereinheitlichende  Ge- 
samtauffassung. Zwar  realisieren  läßt  sich  auch  dieser  Saxo  nicht:  ein 
hochgelehrter  Mönch,  der  die  entlegenste  Literatur,  Scholien  zu  Tzetzes 
gar,  so  gut  kennt  wie  die  einheimische  Sage  oder  die  großen  epischen 
Dichtungen  des  Mittelalters,  und  der  nun  wahllos  bald  hierhin,  bald  dort- 
hin greift,  um  der  alten  Sage  ein  neues  Kleid  zu  sticken.  Aber  Bugge 
bemüht  sich  doch  wenigstens,  in  jedem  Einzelfall  die  Möglichkeit  der 
Übermittlung  nachzuweisen,  wo  die  Epigonen  einfach  Steinchen  aus  zehn 
Baukästen  aneinanderlegen. 

Indes  ist  doch  vor  allem  in  den  Einzelzügen  Bugges  methodische 
Schwäche  zu  suchen.  Es  ist  vergleichende  Sagengeschichte  ohne  Ver- 
gleichung  der  Sagen;  es  ist  einerseits  ein  weltenweites  Umgreifen  nach 
Ähnlichkeiten,  und  anderseits  ein  Übersehen  der  stärksten  Übereinstimmungen. 
Aufgebaut  ist  die  ganze  Vergleichung  auf  der  relativen  Unverwundbarkeit 
von  Achill  und  Balder  —  daß  dies  Motiv  auch  sonst  so  oft  begegnet, 
wird  ignoriert.  Immer  müssen  literarische  Beziehungen  aufgedeckt  werden ; 
selbst  wenn  Balder  eine  Quelle  öffnet,  soll  das  auf  —  Lykophron  zurück- 
gehen, obwohl  Bugge  selbst x)  auf  den  Ortsnamen  Baldersbrunn  hinweist. 
Dazu  dann  die  überkühnen  Etymologien  wie  Gevarus  —  Cebren  oder 
Oenone  —  Nanna.  Ein  bedeutender  Gelehrter  wühlt  freudig  in  der  Fülle 
von  Anklängen  und  wagt  nicht,  sie  methodisch  zu  vereinfachen,  wie  daß  vor 
allem  Adalbert  Kuhn  lange  vor  ihm  getan  hatte.  Aber  es  half  doch  immer 
neue  Beziehungen  zu  finden:  zu  Irland,  zur  mittelalterlichen  Literatur. 
Die  modernen  Bugges  ohne  seine  Kombinationsgabe,  dafür  mit  einer 
mechanisierten  »Methode«  (der  das  Beste  aller  Methode  fehlt:  der  gesunde 
Menschenverstand)  schreiben  über  die  alte  Dichtung  neue  Prosadichtungen, 
die  nicht  einmal  heuristische  Bedeutung  haben,  und  bringen  uns  von  dem 
in  gesunder  Verbindung  von  Analyse  und  Synthese  bei  Olrik,  Jiriczek, 
Panzer  erreichten  Wege  wieder  ab. 

Viel  einfacher  beurteilt  Bugge  die  isländische  Baidersage.  Sie  ist 
christianisiert,  was  Saxos  Bericht  nicht  ist2).  Balder  ist  in  Christus  um- 
gedeutet, Loki  ist  Luzifer,  der,  wie  Goethes  Mephisto,  seinen  Schwanz 
verloren  hat3).  Hödur  ist  Longinus4),  der  Christus  mit  der  Lanze  durch- 
bohrt, und  der  Krautstengel  des  Toledoth  Jeschu  ist5)  das  Kreuz.  —  Diese 
Anschauungen  hat  K.  Krohn6)  fortgeführt7). 

Über  die  Einzelpunkte  haben  wir  schon  gehandelt:  über  den  Kraut- 
stengel,  das  Weinen   der  Natur8).     Hier   ist   noch    einmal  das  Ganze  zu 


*)  S.  111.  2)  S.  84. 

3)  S.  53.  73.  4)  S.  55.  85. 

5)  S.  47  f.  6)  Siehe  o.  S.  322,  3. 

7)  Vgl.  Kau  ff  mann,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  117. 

*)  S.  87  f. 


§  17.    Hauptgötter.  329 

prüfen.  Wie  soll  man  sich  die  Entstehung  der  christianisierten  Baidersage 
vorstellen?  Soli  ein  Christ  den  nordischen  Christus  vom  Teufel  über- 
wältigen und  in  die  Unterwelt  mit  seinem  Mörder  fahren  lassen?  Soll 
ein  Heide  den  Feind  seiner  Götter  verherrlichen?  Gewiß  entstand  ein 
religiöser  Synkretismus  auch  auf  Island;  aber  wie  er  aussah,  zeigen  jene 
Legenden  von  Thors  Erscheinen  bei  den  Neuchristen,  zeigt  vielleicht  selbst 
der  Schluß  der  Völuspä.  Wer  aber  aus  Balders  »mildem«  Wesen  schon 
christlichen  Einfluß  folgert,  der  muß  den  Helgi  der  Helg.  Hjörv  für  einen 
reinen  Christen  erklären.    Und  wie  urheidnisch  ist  die  Rache  für  Balder! 

2.  Detter1)  knüpft  mit  kühnster  Kombination  die  Baidersage  an  das  über 
die  ganze  Welt  verbreitete  Motiv  vom  Brüderkampf  an.  Odin  verhetzt 
die  Brüder  Balder  und  —  Wali  zum  Kampf  und  spielt  den  Mistelzweig 
dem  Mörder  Balders  in  die  Hände,  der  dann  (wie  bei  Wikar)  zum  tötlichen 
Speer  wird.  —  Von  der  Unhaltbarkeit  einzelner  Kombinationen  abgesehen, 
ist  auch  hier  ein  erstaunlicher  Mangel  an  Gefühl  für  die  Seele  eines 
Motivs,  wenn  man  so  sagen  darf,  zu  beobachten.  In  einer  auf  den  Mord 
in  der  Sippe  begründeten  Fabel  wird  natürlich  vor  allem  das  genealogische 
Motiv  betont.  Wie  nachdrücklich  stößt  Hildebrand  seinen  Schrei  aus : 
»Nun  wird  mich  mein  eigenes  Kind  mit  dem  Schwert  erschlagen!«  Hier 
aber  wäre  gerade  der  Kern  der  Fabel  verloren!  Etwa,  wie  wenn  einer 
die  Ödipusfabel  so  vortragen  würde:  »Nachdem  Ödipus  den  Laios  (seinen 
Vater)  erschlagen  hatte,  vermählte  er  sich  mit  Jokaste,  die  übrigens  auch 
seine  Mutter  war.« 

3.  Kauffmanns  schwieriges,  weil  allzugelehrtes  Buch  hat  Much  2)  über- 
sichtlich analysiert.  Kauffmann,  der  überhaupt  jeden  Mythus  mit  einem 
Ritus  in  doktrinäre  Verbindung  bringt 3),  findet  den  Schlüssel  zur  Erklärung 
des  Baidermythus  (den  er  vorzugsweise  nach  Saxo  aufbaut)  in  dem  Ritus 
des  Sühneopfers.  Balder  wird  von  den  Göttern  geopfert,  damit  die  Gefahr 
von  ihnen  abgewandt  wird ;  die  Kultsitte  des  Todaustragens  oder  vielmehr 
das  ihr  vorausgehende  Menschenopfer  sei  in  den  Himmel  übertragen.  — 
Diese  wesentlich  von  Frazer  angeregte  folkloristische  Auffassung  wird  mit 
dem  Motiv  des  »verborgenen  Lebens«,  d.  h.  der  in  irgendeinem  Gegen- 
stand deponierten  Lebenskraft  (Meleagermotiv)  kombiniert,  in  weitgehender 
Ausdeutung  einer  gewaltsam  gedeuteten  Stelle4). 

Daß  diese  interessanten  Kombinationen  unhaltbar  sind,  haben  die 
Rezensionen  von  Heusler,  Mogk  und  Much  ausführlich  dargetan.  Wir 
haben  hier  —  mit  diesen  Kritikern  —  hervorzuheben,  wie  auch  Kauff- 
mann   dem  Mythus   das  Herz   ausbricht,   indem   er   gerade   den    bezeich- 


*)  PBB.  18,  82 f.    18,  495!.;  vgl.  Golther  S.  380. 
2)  Gott.  Gel  -Anz.  1908  S.  361  f. 
s)  Vgl.  z.  B.  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  113.  115. 
4)  Vol.  Str.  32. 


330  Viertes  Kapitel. 

nendsten  Eigenzug  (was  Heyse  den  »Falken«  einer  Novelle  nennt)  in  den 
Hintergrund  schiebt:  die  relative  Unverwundbarkeit  des  Helden. 

4.  Schuck  lehnt  sich  zum  Teil  an  Kauffmann  an  1),  geht  doch  aber  bei 
folkloristischen  Ausgangspunkten  (wie  auch  dieser  selbst  bemerkt)  mehr 
literarhistorisch  vor.  Er  löst  Saxos  Baidersage  in  zwei  sich  folgende 
.  Parallelberichte 2)  auf,  die  norwegische  und  die  dänische,  kompliziert  aber 
die  Grundidee  von  Bugge  und  Olrik  durch  mancherlei  Filiationen8), 
schlingt  ebenfalls  die  Dioskurensage4)  und  ein  kühn  erschlossenes  Frey- 
Ritual5)  hinein  und  kommt  schließlich  zu  einem  vereinfachten  mythologischen 
Roman  in  Saxos  Art:  Odin  hat  Balder  festgemacht,  außer  gegen  eine 
Waffe,  deren  Gebrauch  von  dem  Brechen  eines  Mistelzweiges  abhängt. 
Hoder  bricht  den  Zweig,  holt  die  Mistel,  kämpft  gegen  Balder,  wobei 
Odin  und  Loki  mitkämpfen Wir  haben  hier  den  äußerlichen  Syn- 
kretismus, wie  er  etwa  in  gewissen  irenisch-harmonisierenden  Bestrebungen 
der  Theologie  seine  Triumphe  gefeiert  hat;  ein  Mythus  entsteht,  der  wegen 
der  Häufung  der  Motive  nicht  ursprünglich  sein  kann  und  mit  seiner 
breiten  Ausgleichungsmanier  die  Pointen  der  Sage  zerbricht.  — 

Man  schelte  diese  Kritik  nicht  »überheblich«.  Sie  geschieht  nur,  um 
auf  die  Notwendigkeit  einer  spezifisch  mythologischen  Behandlungsweise 
mythologischer  Probleme  hinzuweisen.  Wenn  Bugge  mit  seiner  viel- 
seitigen Bedeutung,  Detter  mit  seinem  Scharfsinn,  Kauffmann  mit  seiner 
Gelehrsamkeit,  Schuck  mit  seinem  Geist  am  Schwarzen  vorbeischießen  — 
und  daß  sie  das  tun,  haben  für  alle  vier  schon  andere  erwiesen  — ,  dann 
ist  das  eine  Mahnung  für  alle  Mythologen.  Kauffmann  hat  das  folklo- 
ristische Moment  überspannt,  wie  die  anderen  das  sogenannte  geschicht- 
liche; alle  haben  aber  die  Sage  zwar  mit  Motiven  aus  aller  Welt  (und  so 
auch  aus  der  Mythologie  der  Edda)  zusammengebracht,  sie  aber  dennoch 
isoliert  gelassen,  wo  es  sich  um  ihren  Zusammenhang  mit  der  germanischen 
Gesamtmythologie,  um  ihre  Stellung  innerhalb  der  Religionsgeschichte 
handelt.  In  diesen  Dingen  ist  von  J.  Grimm,  ja  von  W.  Müller  und  erst 
recht  von  den  beiden  Petersen  mehr  zu  lernen  als  von  der  virtuosen 
Analyse  Schucks  und  Kauffmanns  oder  der  geistreichen  Synthese  Bugges 
und  Detters.  Deshalb  habe  ich  diesen  brennenden  Punkt  zur  Exempli- 
fikation mythologischer  Methodologie  gewählt  —  obwohl  ich  weiß,  daß 
nun  jeder  Kritiker  bemerken  wird,  ich  »fühle  mich  glücklich  im  Besitz 
der  allein  seligmachenden  Methode«.  Doch  nein;  das  Wort,  das  Odin 
dem  toten  Balder  ins  Ohr  geraunt,  wissen  wir  alle  nicht. 


x)  Vgl.  Kauffmann,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  113. 
a)  I:  S.  31;  II:  S.  41,  vgl.  S.  92.  93. 

3)  Diagramm  S.  102.  240. 

4)  S.  103.  r>)  S.  248  f. 


§  17.    Hauptgötter.  33  1 

Ergänzend  können  wir  vermuten1),  daß  Balder,  nachdem  er  ein 
Gott  geworden  war,  wohl  auch  sein  Attribut  erhielt:  als  solches  ist 
wohl  sein  Roß  anzusehen2),  das  mit  ihm  verbrannt  wurde3).  Losch4) 
geht  in  der  Deutung  von  mancherlei  Fußspuren  auf  dies  Fohlen  zu 
weit,  hat  aber  wohl  recht,  wenn  er  das  Pferd  für  eine  Ersetzung  des 
Hirsches5)  ansieht.  Daß  die  Quellenerweckung,  später  realistisch  als 
Quellenfindung  umgedeutet,  zu  den  besonderen  Kräften  Balders  und  seines 
Rosses  gehörte,  dafür  spricht  noch  jene  Quellenfindung  Balders  bei  Saxo ; 
aber  dies  sind  übertragene  Züge6).  — 

Wir  kommen  nun  zu  Balders  Sippe.  Als  seine  Gattin  bezeichnen 
Edda  und  Saxo  (der  zwar  daraus  die  von  Balder  nur  begehrte  Gattin  des 
Hotherus  macht)  übereinstimmend  Nanna.  Die  Eddagedichte  wissen  nichts 
von  ihr;  eine  andere,  sterbliche  Nanna  (mit  anderem  Vater:  Nökkwi)  wird  in 
einem  späten  Gedicht7)  erwähnt.  »Es  kommt  sonst  sehr  selten  vor,  daß 
Menschen  die  Namen  von  Göttern  führen«8).  Die  Prosaedda  zählt9) 
Nanna  an  letzter  Stelle  in  einer  wilden  Liste  der  Asinnen  auf,  die  durchaus 
abgeleiteter  Natur  ist.  Ferner  erzählt  Snorri  bei  dem  ausführlichen  Bericht 
über  Balder  von  ihr  zweierlei :  erstens,  als  die  Leiche  des  Gottes  auf  den 
Scheiterhaufen  gebracht  wurde,  brach  der  Gattin  das  Herz10);  zweitens, 
aus  der  Unterwelt  sendet  sie  als  Abschiedsgruß  an  Frigg  ein  Kopftuch, 
an  Fulla  einen  goldenen  Fingerreif,  während  Balder  dem  Hermod  den 
Ring  Draupnir  mitgibt u).  —  Endlich  nennt  Snorris  Götterkatalog 12)  Nanna 
Neps  Tochter  noch  als  Mutter  Forsetis. 

»Nanna  die  Kühne13)  ist  eine  Frauengestalt  wie  etwa  Hilde,  die  Streit 
unter  tapferen  Helden  veranlaßt«,  meint  im  Anschluß  an  Saxos  Bericht 
Golther  u).  Indeß  bezeugen  die  eddischen  Belege  nichts  von  einer  solchen 
Bedeutung  Nannas,  und  selbst  bei  Saxo  bleibt  sie  ganz  im  Hintergrund, 
obwohl  doch  in  seinem  Roman  (selbst  wenn  man  von  Bugges  Verweisen 
auf  Paris   absieht)   eine  Helena-Rolle   nahegelegen    hätte.  —  Vollkommen 


*)  Von  weiteren  Hypothesen  erwähne  ich  nur  noch  die  Muchs,  der  (Ztschr. 
f.  d.  Alt.  46,  309)  Balder  und  Hod  mit  den  beiden  Brüdern  der  Grimnismal  und 
Hod  noch  mit  Heidrek  kombiniert. 

2)  Merseburger  Spruch. 

3)  Gylf.  cap.  15:  Gering  S.  310. 

4)  S.  28.  5)  S.  46  f. 

6)  Über  elgv  söl  yr  in  der  Runenreihe  vgl.  meine  Rezension  von  Losch 
S.  112  Anm. 

7)  Hyndl.  Str.  20.  s)  Gering  z.  d.  St. 
9)  Brag.  cap.  1:  Gering  S.  352. 

10)  Gylf.  cap.  45:  Gering  S.  345.  11)  Ebd.  S.  346. 

52)  Gylf.  cap.  32:  Gering  S.  321. 

13)  Vgl.  zum  Namen  Golther  S.  378  Anm.;  Hellquist,  Ark.  f.  n.  Fil.21, 137. 

14)  a.  a.  O. 


332  Viertes  Kapitel. 

stimme  ich  dagegen  Golther  bei,  wenn  er1)  ihre  stimmungsmäßige  Auf- 
gabe betont:  »Die  Wirkung  des  rührenden  Bildes  vom  Morde  des  reinen 
Gottes  wird  erhöht,  wenn  das  liebende  Weib  ihm  zur  Seite  steht,  dessen 
Herz  vom  Todesstoße  mitgetroffen  wird2).«  Von  hier,  glaube  ich,  ist 
die  ganze  Figur  zu  verstehen.  Wie  die  Szenen,  denen  sie  gesellt  ist:  die 
umständliche  Bestattung,  der  Botenritt  Hermods,  so  gehört  sie  selbst  zu 
den  Anleihen  der  Baidersage  bei  der  Heldendichtung,  und  ihr  Name  sogar, 
wie  der  Hermods,  mag  von  dort  stammen.  In  jener  Epoche,  da  eine  fast 
sentimentale  Erweichung  den  starken  Helden  eine  treue  Liebe  zur  Seite 
gab,  in  der  Zeit  der  nordischen  Helgilieder,  gab  man  dem  Götterliebling 
ein  treuergebenes  Weib,  wie  sogar  seinem  Widerpart  Loki  in  Sigyn 3)  ein 
solches  beschert  ward.  —  Aus  der  Epik  stammen  denn  wohl  auch  die 
singulären  Abschiedsgeschenke4).  Sie  sind  individualisiert  und  gelten 
zunächst  Odin  und  Frigg,  den  Eltern;  Fulla  ist  dann  wohl  als  Schatz- 
verwalterin dazugekommen,  oder  einfach  in  einer  Strophe  durch  den 
Stabreim  mit  Frigg.  Auch  im  Merseburger  Spruch  füllt  Fulla  den  Vers 
so  schön  aus. 

Forseti5)  ist  wohl  dem  Balder  nur  durch  künstliche  Verwandt- 
schaft6) verbunden,  wie  denn  auch  zu  dem  Bild  des  jugendlichen  Gottes 
solcher  Sohn  nicht  recht  paßt  und  man  Odin  ungern  als  Großvater 
sieht. —  Wer  der  Schwiegervater  N e p  war,  wissen  wir  auch  nicht;  seine 
Lebensaufgabe  ist,  mit  Nanna  zu  alliterieren,  wie  es  auch  Nökkvi  tun 
muß.  — 

Mit  der  —  in  vielfacher  Hinsicht  —  exzentrischen  Gestalt  Balders 
verlassen  wir  den  Kreis  der  Hauptgötter,  müssen  aber  nochmals  daran 
erinnern,  daß  man  sich  diese  nicht  etwa  als  eine  geschlossene  Gruppe 
denken  darf;  das  Goldene  Buch  bleibt  offen,  Namen  werden  neu  ein- 
getragen, andere  gelöscht. 

§  18.    Gegengötter. 

Es  ist  eine  höchst  merkwürdige  religionsgeschichtliche  Tatsache,  daß, 
sobald  Göttergestalten  gebildet  werden,  bald  auch  Gegengötter  ent- 
stehen. Mit  diesem  Terminus  bezeichne  ich  nicht  solche  Götter,  die  zu 
einzelnen  anderen  im  Gegensatze  stehen  —  eine  Erscheinung,  die  eben- 
falls unvermeidlich  eintritt,  sobald  sich  ein  Henotheismus  entwickelt,  d.  h- 
die    entschiedene    Vormachtstellung    eines    einzelnen    Gottes,     wie    wir 


')  S.  379. 

2)  Zu  dem  Zerspringen  des  Herzens  vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  27. 

3)  Gylf.  cap.  50:  Gering  S.  347. 

4)  Vgl.  Sig.  sk.  Str.  49. 

5)  Gylf.  cap.  32:  Gering  S.  321. 

6)  Vgl.  u. 


§  18.    Nebengötter.  333 

solche  Kämpfe  zwischen  Thor  und  Odin  so  deutlich  beobachten  können. 
Unter  »Gegengöttern«  aber  verstehe  ich  solche  Gestalten,  die,  im  übrigen 
den  Göttern  nahe  verwandt  oder  völlig  gleichartig,  zu  ihrer  Gesamt- 
heit in  Feindschaft  stehen,  ja  geradezu  ein  der  Götterwelt  feindliches 
Prinzip  darstellen  *). 

Das  Phänomen  ist  kein  zufälliges,  sondern  mit  dem  Wesen  des 
Götterglaubens  selbst  unlösbar  verbunden2).  Denn  die  Stufe  der  Götter- 
verehrung ist,  wie  wir  sahen,  mit  einer  zunehmenden  Ethisierung  der 
übermenschlichen  Wesen  identisch;  mindestens  werden  die  Götter  als 
diejenigen  Mächte  betrachtet,  die  die  physische  wie  die  ethische  Welt  auf- 
bauen und  schützen,  für  das  Recht,  den  Eid,  die  Heiligkeit  des  Hauses 
eintreten  und  selbst  im  Verkehr  mit  den  Menschen  eine  größere  Zuver- 
lässigkeit erweisen,  als  sie  von  den  fahrigen  Geistern  und  Dämonen  er- 
wartet werden  darf.  (Natürlich  bleiben  alle  diese  Züge  relativ:  Odin 
genügt  den  ethischen  Ansprüchen  des  Thorverehrers  in  der  Lokasenna 
keineswegs.) 

Der  Typus  der  Gegengötter  weist  nun  aber  mancherlei  Varianten  auf. 
Sie  können  einerseits  ganz  auf  der  Stufe  der  Dämonen  gehalten  werden: 
formlose,  wilde  Vertreter  der  ursprünglichen  Ordnung  oder  Unordnung, 
die  gegen  das  neue  Prinzip  des  ,Kosmos*  revoltieren,  Raubritter,  die  »schon 
vor  den  Hohenzollern  im  Lande  waren«  (wie  Herr  v.  Waldow-Steinhövel 
im  Preußischen  Herrenhause  sagte),  Romantiker  des  Chaos.  So  bei  den 
Hellenen  die  Titanen  und  Giganten:  der  hellenische  Geist  versagte  diesen 
Barbaren  die  volle  Gunst  der  hellenischen  Götterbildung.  Anderseits 
können  sie  zu  einer  vollständigen  Gegenwelt  ausgebildet  werden,  so  daß 
jeder  wohltätige  Geist  sein  gleichsam  parodistisches  Gegenbild  hat  und 
dem  höchsten  Gott  ein  höchster  Herr  der  bösen  Geister  gegenübersteht  — 
eine  Form,  die  die  vollkommenste  Ausbildung  in  dem  Dualismus  der 
persischen  Religion  gefunden  hat.  Zwischen  beiden  Extremen  stehen  zahl- 
reiche Mittelformen.  So  ist  der  indische  Vritra3)  —  bei  demNoreen4)  mit 
geringem  Recht  eine  genaue  Übereinstimmung  mit  Loki  findet  —  noch 
immer  ein  bloßer  gestaltloser  Dämon,  dessen  Wesen  sich  besonders  auch 
wieder  darin  verrät,  daß  er5)  auch  im  Plural  vorkommt,  in  unbestimmter 


x)  Freilich  können  in  diese  Klasse  auch  echte  alte  Götter  durch  die  Feind- 
seligkeit der  Verehrer  der  neuen  gedrängt  werden  und  umgekehrt;  man  denke 
nur  an  die  Polemik,  die  in  C.  F.  Meyers  der  im  Kult  von  St.  Felix  und  Regula 
ergraute  Domherr  gegen  die  Verehrung  des  hl.  Thomas  von  Canterbury  ausübt ! 
Aber  der  metaphysische  Ursprung  führt  häufiger  zu  Gegengöttern. 

£)  Vgl  allgemein  Wundt  S.  473. 

3)  Macdonell  S.  158. 

4)  Vgl.  Golther  S.  410. 
B)  Macdonell  S.  359. 


334  Viertes  Kapitel. 

Zahl  oder  mit  der  märchenhaften  Dämonenzahl  99.  Aber  zugleich  wird 
er  doch  als  Repräsentant  der  bösen  Mächte  in  so  hohem  Grade  betrachtet 
daß  seine  Fällung  als  diejenige  Tat  erscheint,  durch  die  Indra  seine 
Stellung  begründet  hat *)  —  gerade  wie  Apollon  der  Pythontöter 2) ,  ist 
Indra  der  Vritratöter.  —  Die  germanische  Mythologie  finden  wir  im  Norden 
auf  einer  Stufe,  die  etwa  zwischen  der  primitiveren  indischen  und  der 
reiferen  persischen  steht:  Dämonen,  aber  doch  schon  unter  der  bestimmten 
Führung  Eines  götterartigen  Wesens;  keine  völlige  Gegenwelt,  aber  doch 
beim  geringsten  Kampf  die  Möglichkeit  einer  fast  vollständigen  Aufteilung 
zwischen  beiden  Heerscharen,  so  daß  jeder  Gott  seinen  teuflischen 
Gegner  hat.  Teuflisch  —  denn  diese  Vorstellung  ist  in  der  Tat  aus  denselben 
Anschauungen  hervorgegangen,  die  das  böse  Prinzip  orientalischer  Reli- 
gionen noch  im  Christentum  lebendig  halten  konnten.  Der  Widerstreit 
zwischen  dem  Postulat  einer  geordneten,  gerechten  Weltordnung  und  den 
Erfahrungen,  die  nach  Hamlets  Monolog  eigentlich  jeden  zum  Selbstmord 
treiben  müßten  —  dieser  dem  ursprünglichsten  Menschen  wie  dem  Dichter 
des  Hiob  oder  dem  Verfasser  der  Theodicee  empfindliche  Widerstreit  wird 
durch  die  Annahme  böser  Kräfte  erklärt.  »Der  Teufel  ist  das  Alibi  Gottes« 
und  Ahriman  ist  die  Entschuldigung  für  Ormuzd.  Dazu  kommt,  daß  ja 
schon  auf  den  frühesten  Stufen  die  persönliche  Erfahrung  von  der  feind- 
lichen Gesinnung  einzelner  Dämonen  bestand,  die  bei  den  Elfen  sogar 
schon  in  eine  völlige  (wenn  auch  wohl  nicht  von  vornherein  ethische) 
Zweiteilung  in  dunkle  und  helle  Geister  geführt  hatte. 

Als  allgemeine  Regel  kann  wohl  aufgestellt  werden,  was  sich  unter 
diesen  Umständen  leicht  begreift,  daß  die  Vertreter  des  bösen  Prinzips 
nicht  neu  geschaffen  werden,  sondern  diese  Funktion  auf  mächtige,  längst 
gefürchtete,  vielfach  auch  bereits  im  Interesse  ihrer  irdischen  Klienten  von 
den  Göttern  bekämpfte  Dämonen  übergeht. 

Diese  aus  vergleichender  Religionsbetrachtung  gewonnenen  Prole- 
gomena  helfen  die  sehr  interessante  Erscheinung  des  nordischen  Gegen- 
Odin  verständlich  machen  und  sind  wohl  auch  für  die  Wahrscheinlichkeit 
einer  bestimmten  Entwicklungsgeschichte  Lokis  nicht  ohne  Nutzen.  Denn 
um  diesen  konzentriert  sich  die  Nebengötterschaft :  nur  Ein  Glied  der- 
selben ist  vielleicht  von  Haus  aus  selbständig:  Hod. 

An  die  Riesen,  mit  denen  Thor  zu  kämpfen  hat,  ist  nur  kurz  zu 
erinnern :  wie  die  Giganten  der  griechischen  Mythologie  sind  es  Vertreter 
der  früheren,  vorkosmischen  Zustände,  die  wieder  überhandnehmen  würden, 
wenn  nicht  Thor  viele  Riesenweiber  tötete3).  Aber  sie  treten  in  den 
Götterkreis  nicht  wie  Hod  und  Loki  ein.  — 


»)  Ebd.  S.  60.  2)  Preller  1,  239. 

3)  Härb.  Str.  23. 


§  17.    Gegengötter.  335 

Von  Hod1),  dem  Mörder  Balders,  erfahren  wir  sonst  in  der  Prosa- 
Edda  nur  noch,  daß  er  stark  war,  wofür  sonst  kein  Anhaltspunkt  gegeben 
ist.  Hotherus  bei  Saxo 2)  ist  noch  stark,  kunstfertig,  ein  Meister  im  Saiten- 
spiel —  was  eben  nur  bedeutet,  daß  er  ein  vollkommener  Ritter  ist  wie 
Tristan.  Nach  unserer  Auffassung  des  Bäldermythus  können  wir  Hod  nur 
als  einen  dunkeln  Dämon  ansehen,  der  den  lichten  Geist  ursprünglich 
wohl  selbständig  tötete  und  zwar  durch  einen  Schuß.  Er  könnte  schon 
gemeingermanisch  sein,  da  wir  einen  solchen  Schuß  schon  im  Merseburger 
Spruch  angedeutet  glaubten;  dagegen  ist  eine  völlige  Gleichsetzung  mit 
analogen  Tötern  lichter  Helden  abzulehnen;  sie  sind  nur  alle  gleichen 
Ursprungs.  —  Die  Blindheit  halten  wir3)  für  spätere  Erdeutung.  Seine 
Wiederkehr  dagegen  könnte  allenfalls  alt  sein,  da  es  sich  um  periodische 
Naturvorgänge  handelt;  freilich  widerspräche  diese  Idee  der  des  ewigen 
Friedensreiches  der  Zukunft4).  —  Später  wird  noch  die  Geschichte  der 
Rache  angeknüpft :  Wali 5)  oder  Bous-Büi  tötet  ihn,  was  also  immer  noch 
die  Vorstellung  einer  Schuld  Hods  voraussettzt.  — 

Ober  die  Auffassung  Lokis6)  in  der  Edda  ist  kaum  Streit;  das 
Problem  ist  hier  vor  allem  sein  Ursprung  und  seine  Entwicklung  bis  zu 
dieser  Auffassung  als  » Teufel  der  nordischen  Götterwelt<.  Da  handelt 
es  sich  zunächst  um  das  Alter  des  Loki. 

Auch  wenn  die  Benennung  Vritras  als  »der  Bedecker <  7)  mit  der 
Lokis  als  »der  Schließer«  zur  völligen  Deckung  zu  bringen  wäre,  würden 
die  Gestalten  sich  nicht  decken.  Vritra  hält  das  der  Menschheit  nötige 
Regenwasser  zurück  und  ist  deshalb  als  eine  spezifische  Schöpfung  der 
verlechzende  heißen  Zone  anzusehen;  von  dem  in  Loki  unverkennbaren 
Feuerwesen  besitzt  er  nichts. 

Muchs  Vergleich  Lokis  mit  Prometheus8)  hat  bestechende  Einzelheiten: 
das  Schmieden  an  den  Felsen9),  die  Beziehung  zum  Feuer.  Im  ganzen 
scheint  sie   mir   den   Kern   beider  Gestalten   zu   verfehlen:    Loki   ist   ein 


i)  Gylf.  cap.  28:  Gering  S.  321.  —  Mogk  S.  3251  351,  Golther  S.  368f. 

2)  Vgl.  z.  B.  Golther  S.  373. 

3)  Siehe  o.  S.  321. 

4)  Über  etwaigen  Zusammenhang  zwischen  Hod  und  Hönir  siehe  unten; 
Much  (Himmelsgott  S.  277)   bringt  ihn  mit  Tyr  zusammen. 

5)  Siehe  u. 

6)  Mogk  S.  346,  Meyer  S.  275,  Golther  S.  363f.  408f.,  Chantepie 
S.  259;  Weinhold,  Die  Sagen  von  Loki,  H.  Z.  7,  U;  Wislicenus,  Loki, 
Zürich  1867;  Wisen,  Oden  och  Loke,  Stockholm  1873;  Warnatsch  Beitr.  zur 
germ.  Mythol.,  Beuthen  1895.  —  Für  die  Namen  Lokis  und  seiner  Sippe  Kock, 
Kuhns  Ztschr.  10,  90  f. 

7)  Macdonell  S.  159. 

8)  Himmelsgott  S.  240. 

9)  Das  aber  auch  sonst  begegnet:  v.  d.  Leyen,  Festschrift  für  Kelle,  S.  7 f.; 
Kaarle  Krohn,  Der  gefesselte  Unhold,  Finnisch-ugrische  Forschungen  7,  127. 


336  Viertes  Kapitel. 

Dämon ,  Prometheus  ein  Heros  seinem  Ursprung  nach ;  der  hellenische 
Halbgott  durchaus  menschlich,  in  festen  Zügen,  der  nordische  Gegengott 
eine  fast  gestaltlose  Erscheinung  in  charakteristischem  Wechsel  der  äußeren 
Form.  —  Über  Schonings  Deutung  Lokis  als  eines  ursprünglich  leichen- 
fressenden Dämons l)  haben  wir  schon 2)  ausführlich  gehandelt.  — 
v.  d.  Leyen3)  will  den  listigen  Götterdieb  zur  Urform  machen,  was  aller 
Analogie  zu  widersprechen  scheint.  Ebensowenig  sind  andere  böse 
Dämonen  anders,  als  eben  in  dem  Besitz  dieser  Eigenschaft  mit  Loki  zu 
vergleichen.  Noch  weniger  läßt  sich  Bugges  Herleitung  aus  Luzifer4) 
aufrecht  erhalten,  schon  weil  Luzifer  nie  zu  Gott  in  einem  solchen  Ver- 
hältnis von  Gleich  zu  Gleich  gestanden  hat,  wie  Loki  zu  den  Äsen. 

Bei  den  Deutschen  oder  Angelsachsen  ist  von  Loki  keine  Spur  zu 
finden;  die  Teufelslegenden  können,  soweit  sie  überhaupt  heidnischen 
Ursprung  haben,  auch  auf  andere  Dämonen  zurückgehen.  Auch  zeigt 
der  nordische  Loki  noch  so  viel  Rudimente  der  älteren,  rein  dämonischen 
Stufe,  daß  er  gewiß  erst  bei  den  Skandinaviern  zu  seiner  Entfaltung  als 
> dämonischer  Gott«  gelangt  ist.  Wir  können  deshalb  nur  sagen: 
der  ursprüngliche  Dämon  kann  gemeingermanisch  gewesen  sein;  der 
eigentliche  Loki  gehört  ausschließlich  dem  Norden  an  und  ist  fast  vor 
unsern  Augen  in  der  Umwandlung  begriffen.  Möglich  wäre  immerhin, 
daß  die  in  England  und  Deutschland  strengere  Mission  die  Spuren  des 
heidnischen  Teufels  —  der  durch  seine  Existenz  die  heidnischen  Götter 
moralisch  hebt  —  schärfer  ausgerottet  hätte,  als  im  Norden  geschah. 

Allgemein  wird,  unzweifelhaft  mit  Recht,  zugestanden,  daß  Loki  in 
seiner  ursprünglichen  Natur  nicht  der  Böse,  daß  er  nicht 
der  »Lügner  von  Anbeginn«  ist.  Über  sein  ursprüngliches  Wesen 
stehen  sich  aber  zwei  Hauptauffassungen  gegenüber:  Loki  ein  ursprüng- 
licher Feuerdämon5),  und  Loki  »der  Schließer«  (zu  luka,  schließen, 
beendigen)6).  Wir  betrachten  die  letztere,  jüngere  Auffassung  zunächst 
und  glauben  sie  ablehnen  zu  müssen.  Der  Name  Loki  ist  aller- 
dings nicht,  wie  man  früher  annahm,  von  Logt,  Lohe,  Feuer  ab- 
zuleiten7) und  auch  nicht  aus  Lucifer8),  woraus  sich  ein  Licht-  und  Feuer- 
bringer  ableiten  ließe,  der  wie  Prometheus  zu  den  Göttern  in  Gegensatz 
gerät,  und   wie   er   gefesselt   und    befreit   wird.     Aber  die  Deutung  »der 


J)  Dödsriger  S.  27  f.  2)  Siehe  o.  S.  121  f. 

8)  Sagenbuch  S.  223.  4)  Siehe  o.  S.  328. 

5)  Golther  S.  408f,  vgl.  417;  Meyer  S.  161,  hübsche  Charakteristik  S.  276; 
abgelehnt  von  Mogk  S.  347. 

6)  Isländisch   als  männlicher  Beinamen;  Weinhold   a.  a.  O.;  vgl.  Mogk 
S.  347,  Golther  S.  406. 

7)  Mogk  S.  346,  Golther  S.  406,  Meyer  S.  276. 

8)  J.  Grimm,  Mythol.  3,  82  skeptisch,  Bugge,  Studien,  S.  73 f.  zuversichtlich. 


§  18.    Nebengötter.  337 

Beschließer»  paßt  durchaus  nicht  zu  seinen  feststehenden  Hypostasen,  vor 
allem  nicht  zu  seinem  andern  Namen  Lopt.  Loki  schließt  aber  auch 
nirgends  ab;  im  Gegenteil  wird  durch  ihn  erst  immer  erregt,  was  dann 
Odin  und  Thor  abschließen  müssen  *).  Auch  die  besonders  häufige  Ver- 
wandlung in  Tier-  und  Menschengestalt  (Kuh,  Stute,  altes  Weib,  Magd, 
Vogel  usw.),  die  allerdings  nicht  in  jedem  Einzelfall  alter  Legende  angehört, 
spricht  für  die  alte  Dämonennatur,  verträgt  sich  aber  nicht  mit  der  einheit- 
lichen Funktion  des  Beschließers.  Endlich  ist  der  ganze  Begriff  zu  künstlich, 
selbst  für  eine  jüngere  Abstraktion.  Daß  Loki  aber  eine  solche  überhaupt 
nicht  ist,  beweisen2)  schon  seine  alten  eigentümlichen  Beziehungen  zu 
Thor  und  Odin  —  zwei  Göttern,  die  sich  aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
selbst  erst  in  urgermanischer  Zeit  aus  Dämonen  entwickelt  haben.  Und 
zwar  aus  verwandten  Dämonen:  Gewitter  und  Sturm  haben  Beziehungen 
zum  Feuer. 

Wir  halten  also  Loki  nicht  für  eine  junge  Abstraktion 8).  Vielmehr 
halten  wir  ihn  für  einen  uralten  Feuerdämon  oder  vielmehr,  da  hier 
eine  Vereinzelung  kaum  möglich  ist  und  nirgends  existiert  zu  haben 
scheint,  für  den  Feuerdämon,  der  dann  zum  Feuergott  wird4). 

Aus  der  Sage,  wenn  er  sich  vor  Schmerzen  umwerfe,  sobald  ihn  die 
Gifttropfen  treffen,  dann  entstehe  ein  Erdbeben5),  ist  nicht  zu  schließen, 
daß  er  etwa  vulkanischer  Natur  sei:  das  sind  die  andern  Götter  auch 
nicht,  deren  Bewegungen6)  die  Erde  beben  lassen.  —  Auch  als  der 
Riese  in  Utgard  schnarcht,  glaubt  man  an  ein  Erdbeben. 

Loki  scheint  schlechtweg  der  Gott  des  Feuers  zu  sein,  der  Herr  des 
Elements,  und  wie  des  Feuers  Macht  wohltätig,  aber  auch  gefährlich  — 


')  Schoning  deutet  ihn  als  Tod«  —  ein  zu  metaphysischer  Name  für 
den  Töter. 

2)  Gegen  Mogk  S.  347.  348. 

3)  Übrigens  brauchte  eine  solche  Abstraktion  nicht  durchaus  jung  zu  sein: 
bei  Römern  und  Slawen  begegnen  sie  früh;  aber  sie  entsprechen  nicht  dem  Typus 
der  germanischen  Gottheiten.    Auch  der  Urbegriff  Wodans  steht  noch  weit  ab. 

4)  Die  germanische  Konzeption  des  Feuers  deckt  sich  nicht  mit  der  anderer 
Indogermanen.  Agni  (Macdon eil  S.  88 f.)  ist  die  spezifisch  indische  Ver- 
körperung des  heiligen  Opferfeuers  (vgl.  ebd.  S.  99),  und  diese  Vorstellung 
bleibt  lebendig,  sobald  von  ihm  gesprochen  wird.  Übrigens  zeigt  sich  in  diesem 
Gott  das  Dämonische  noch  in  der  besonders  beliebten  Vergleichung  mit  Tieren: 

IKuh,  Pferd,  Adler  (Macdon eil  S.  89)  —  Tiere,  in  die  Loki  sich  wirklich  ver- 
wandelt. —  Hephaestos  scheint  dagegen  (was  bei  Preller  1,  174  allerdings 
nicht  hervortritt)  wenigstens  in  erster  Linie  der  Gott  des  Werkfeuers  zu  sein,  des 
Feuers,  das  schmiedet  und  formt.  —  Einen  Feuergott  haben  z.  B.  auch  die 
Chinesen  (de  Groot,  Kultur  d.  Gegenwart,  S.  167). 

5)  Vgl.  allgemein  Losch,  Ursache  u.  Bedeutung  der  Erdbeben  im  Volks- 
glauben und  Volksbrauch,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  5,  236  f.  369  f. 

6)  a.  a.  O.  S.  239  f.  369  f. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  22 


338  Viertes  Kapitel. 

denn  die  Elemente  hassen  das  Gebild  der  Menschenhand.  Je  mehr  die 
Germanen  in  geordnete  Verhältnisse  hinein  wuchsen,  desto  größer  ward 
die  Scheu  vor  dem  Häusern  und  Wäldern  gefährlichen  Feuer.  Einst  der 
Begleiter  Thors  —  denn  das  aus  Blitz  erzeugte  Feuer  ist  das  heiligste  — 
wird  er  nun  zum  Gegner  des  Bauerngottes  und  dann  auch  des  Staats- 
gottes, Widersacher  der  Schutzgötter  von  Stadt  und  Land;  und  so  fällt 
ihm,  mit  Ibsen  zu  sprechen,  die  Aufgabe  des  »großen  Verneiners«  zu. 

Da  nun  aber  das  alte  Wesen  auch  vielfach  (selbst  in  der  Lokasenna) 
durchscheint,  so  entsteht  ein  interessanter  problematischer  Göttercharakter. 
Wie  er  auch  die  Neuesten  zu  psychologischer  Behandlung  gereizt  hat x),  so 
hat  er  die  Seelenkunde  schon  der  Alten  angezogen,  wie  Brynhild  und 
Gudrun,  wie  Völund  und  Dag.  Charakteristisch  ist  Snorris  Beschreibung2): 
»Zu  den  Äsen  wird  auch  der  gerechnet,  den  manche  den  Verläumder  der 
Äsen  oder  den  Urheber  des  Trugs  und  die  Schande  aller  Götter  und 
Menschen  nennen.  Sein  Name  ist  Loki  oder  Lopt.  Loki  ist  schön  und 
anmutig  von  Aussehen,  aber  böse  an  Gemütsart  und  höchst  unbeständigen 
Wesens  (was  übrigens  nirgends  bezeugt  ist!)3).  Er  brachte  die  Äsen  oft 
arg  in  Verlegenheit,  hat  sie  aber  auch  oft  durch  seine  List  aus  schlimmer 
Lage  befreit  .  .  .«  Das  Bild  ist  durch  Kontamination  gewonnen;  um  so 
schärfer  treten  die  inneren  Widersprüche  dieser  ältesten  germanischen 
»problematischen  Natur«  hervor. 

Daß  ziemlich  früh  die  Antithese  Gott-Teufel  an  der  Ausarbeitung  der 
Gestalt  mitgearbeitet  hat4),  ist  keineswegs  unmöglich;  in  der  Hauptsache 
handelt  es  sich  aber  doch  um  eine  parallele  Entwicklung.  Übrigens  ge- 
winnt Loki  erst  beim  Jüngsten  Gericht  die  Miltonischen  Züge  eines  über- 
legten Götterfeindes;  bis  dahin  ist  er  mehr  ein  übermütiger  und  neidischer 
Gesell  —  eine  Gestalt,  die  wohl  auf  Island  volkstümlich  werden  konnte5). 

Wir  versuchen ,  die  Mythen  und  Legenden  von  Loki  einigermaßen 
nach  ihrer  inneren  Chronologie  zu  ordnen.  Einen  Kult  hat  der  böse 
Loki,  wie  es  scheint,  nicht  (undenkbar  wäre  es  an  sich  keineswegs) ;  doch 
sollen  ihm  Kinder,  die  einen  Zahn  verlieren,  diesen  opfern:  »gib  mir 
einen  Beinzahn,  hier  hast  du  einen  Goldzahn«.  Soll  das  den  Zerstörer 
(z.  B.  von  Sifs  Haaren)  abfinden?  oder  stammt  es  noch  aus  dem  Kult 
des  Feuerdämons,  der  neue  Zähne  »schmieden«  soll? 


*)  Jacobo  wski,  Loki.    Der  Roman  eines  Gottes,  Berlin  1899. 

2)  Gylf.  cap.  33:  Gering  S.  322.  —  Golther  S.  411;  vgl.  Mogk  S.  346. 
353;  Meyer  S.  275. 

3)  Hölderlins  Charakteristik:  Das  Feuer  geht  empor  in  freudigen  Ge- 
stalten, aus  der  dunkeln  Wiege,  wo  es  schlief,  und  seine  Flamme  steigt  und  fällt, 
und  bricht  sich  und  umschlingt  sich  freudig  wieder,  bis  ihr  Stoff  verzehrt  ist« 
(Hyperion;  Werke  her.  v.  B.  Leitzmann  2,  98). 

4)  Meyer  S.  54.  401. 

5)  Golther  S.  409. 


§  18.    Nebengötter.  33g 

Wie  ist  denn  wohl  der  Name  zu  erklären?  Irgendeine  Umdeutung 
aus  Logi,  als  das  Feuerwesen  vergessen  war?  Oder  ob  es  einfach  ein  alter, 
an  sich  »sinnloser«  Dämonenname  war,  wie  wir  deren  wohl  viele  werden 
annehmen  müssen  *)  ?  — 

Lokis  andere  Namen2)  sind:  Lopt3),  »Luft«,  der  Luftige?, 
auch  als  Personenname  (und  erster  Bestandtteil  von  Frauennamen)  im 
Norden  gebräuchlich4).  Mogk5)  möchte  es  als  »den  persönlich  auf- 
gefaßten Luftkreis«  deuten.  Das  scheint  mir  zu  abstrakt.  Ich  glaube 
eher,  das  Lopt  und  Lodur6)  die  Gestalt  des  Feuerdämons  von  ver- 
schiedenen Seiten  beleuchtet  zeigen:  Lodur  das  Feuer  nach  seiner  er- 
stickenden Wirkung,  Lopt  nach  seiner  unfaßbaren,  luftartigen  Natur  (den 
»Feuerstoff«,  das  Phlogiston  der  vorklassischen  Chemie).  —  Die  Be- 
zeichnung wird  in  den  eddischen  Liedern  nur  gebraucht,  wo  Loki  als 
böser  Gott  in  seinem  Gegensatz  zu  den  Äsen,  als  Zauberschmied,  als 
Vater  der  Unholde  bezeichnet  wird;  sie  scheint  einen  gewissen  feierlich- 
dunkeln Klang  angenommen  zu  haben. 

Lodur7)  wird  von  Noreen8)  mit  indisch  Vritra  zusammengestellt: 
Vlödurr ,  ältere  Form  =  Vritra.  »Unverkennbare  Ähnlichkeit  herrscht 
zwischen  dem  indischen  Vritra,  dem  Dämon  der  Sonnenhitze,  welcher 
das  himmlische  Gewässer  einschließt  und  daher  von  Indra  bekämpft  und 
endlich  getötet  wird,  worauf  er  in  Gestalt  eines  Wurmes  niederstürzt, 
und  dem  nordischen  Loki,  dem  Gott  der  Hitze,  der  von  Thor  (dem 
Donnerer  gleich  Indra)  beständig  feindselig  betrachtet  und  schließlich  auch 
gefangen  genommen  wird,  dem  Vater  des  gleicherweise  einst  von  Thor 
bekämpften  Mi dgardwurmes.«  Ich  glaube,  wir  haben  auch  hier  eine  jener 
mythologischen  Vergleichungen,  die  an  die  Etymologien  vor  Beobachtung 
der  Lautgesetze  erinnern:  Anklänge  müssen  Identität  beweisen,  auf  die 
Chronologie  der  Entwicklungsstufen  wird  keinerlei  Rücksicht  genommen. 
Der  Vater  des  Wurms  und  der  Wurm  sind  dasselbe,  Tötung  und  Ge- 
fangennahme gleichbedeutend;  der  Dämon  des  Feuers  ist  der  der  Hitze 
(die  den  Nordländern  schwerlich  so  bösartig  vorgekommen  wäre  wie  den 
Indern;  als  ein  Missionar  den  Eskimos  von  der  Hölle  erzählte,  sagt 
Lichtenberg,  sehnten  sie  sich  alle  nach  der  schönen  Wärme  dort).  Nirgends 
steht  Loki  mit  den  Gewässern  in  solchem  Zusammenhang  wie  Vritra  mit 


*)  Vgl.  meinen  Aufsatz  »Isolierte  Wurzeln«   in  der  Ztschr.     Wörter  und 
Sachen«  1,  34f.,  bes.  S.  63. 

2)  Kock  S.  99. 

3)  Lok.  Str.  6,   Hyndl.  Str.  43,   Fjöl.  Str.  26,  Gylf.  cap.  33:  Gering  S.  322; 
vgl.  Golther  S.  410  Anm. 

4)  Ebd.  5)  S.  348.  6)  Siehe  u. 

7)  An  der  wichtigen  Stelle  Vol.  Str.  18. 

8)  Nord.  Tidskr.  for  Fil.  N.  R.  12.  4,  28 f.;  Vgl.  Golther  S.  410. 

22* 


340  Viertes  Kapitel. 

den  Regenwolken ;  und  die  Feindschaft  mit  Thor  scheint  sekundär.  So  ist 
jedes  Wort  in  Noreens  Parallele  mehr  als  anfechtbar;  denn  wenn  sie 
Mythologie  treiben,  verlassen  gerade  die  strengsten  Grammatiker  und  sorg- 
fältigsten Hüter  der  Lautlehre  am  unbesorgtesten  den  Pfad  der  Gesetz- 
mäßigkeit. 

Bliebe  also  selbst  Noreens  lautliche  Gleichung  bestehen,  so  würde  sie 
doch  für  Lodurs  Wesen  weniger  besagen  als  die  heut  so  oft  verspotteten 
Parallelen  Gandharven:  Kentauren  und  Hermes:  Sarameya.  Der  »Ver- 
schließer«  wäre  dann  vielleicht  wegen  seiner  Listen  und  Heimlichkeiten 
ebenso  benannt  wie  der  Wolkenverschließer  der  Inder. 

Detter  und  Heinzel *)  leiten  den  Namen  von  altnordisch  löd  »Boden- 
ertrag« ab :  Lodur  wäre  also  etwa  der  Dämon  des  vom  Erdfeuer  erwärmten 
Landes?  Was  man  allenfalls  mit  Odins2)  Schelte  von  Lokis  acht  Monaten 
unter  der  Erde  verbinden  könnte. 

Beide  Deutungen  scheinen  mir  zu  der  Stelle  nicht  zu  passen,  an  der 
der  Ausdruck  pathetisch  und  jedenfalls  mit  bestimmter  Absicht  verwandt 
wird;  ich  glaube,  daß  der  Name  nur  irgendwie  den  Geist  der  Feuer- 
wärme bedeuten  kann.  Aber  eine  äußere  Etymologie  weiß  ich  dieser 
inneren  nicht  beizugeben,  so  erwünscht  auch  ein  Zusammenhang  mit 
neuhochdeutsch  »lodern«  wäre  . .  .3).  — 

Ich  will  versuchen,  eine  Entwicklungsgeschichte  Lokis 
zu  geben.  Zahlreiche  Spuren  volkstümlicher  Vorstellungen  von  dem 
Feuergott  Loki  verzeichnet  Golther4):  »Loki  fährt  über  die  Äcker«, 
heißt  es,  wenn  Brand  oder  Hitze  die  Wiesen  versengt.  Knistert  das  Feuer, 
so  heißt  es:  Loki  prügelt  seine  Kinder.  Doch  spielt  auch  hier  der 
Teufel  mit,  wenn  der  Schwefeldampf  Lokis  Geruch  heißt  —  Noch  spät 
wird  Lokis  Name  zur  Bezeichnung  des  feurigen  Elements  denen  von 
Wasser  (Hier)  und  Luft  (Käri)  gesellt5).  Altertümliche  Mythen  zeigen  ihn, 
von  seiner  späteren  Rolle  noch  weit  entfernt,  in  ähnlichen  Verbindungen. 
Da  sie  aus  der  später  herrschenden  Anschauung  von  dem  großen  Übel- 
stifter durchaus  nicht  erklärt  werden  können,  müssen  wir  von  diesen 
Rudimenten  einer  älteren  Auffassung  ausgehen. 

Viermal  wird  Loki  in  eine  Trias  mit  Odin  und  Hönir  gebracht:  in 
einer  gewiß  altertümlichen  und  feierlichen  Strophe6)  und  an  drei  von 
vornherein  nicht  unbedenklichen  Stellen7). 


*)  PBB.  18,  560.  2)  Siehe  u. 

3)  Hofforys  geistvollen  Versuch,  einen  alten  Luftgott  Lodur  von  Loki  zu 
trennen  (Eddastudien  S.  117)  vermag  ich  nicht  gut  zu  heißen. 

4)  S.  409. 

5)  FAS.  2,  3f.;  vgl.  Golther  S.  408  Anm. 

6)  Vol.  Str.  18. 

7)  Einl.  zu  Reg. ;  Brag.  cap.  2 :  G  e  r  i  n  g  S.  352 ;  Skäldsk.  cap.  4 :  G  e  r  i  n  g  S.  366. 


§  18.    Nebengötter.  341 

1.  Über  die  Stelle  von  der  Menschenschöpfung1)  ist  später  ausführlicher 
zu  handeln.  Hier  sei  nur  bemerkt,  daß  mir  zwar  eine  leise  Anlehnung 
an  die  biblischen  Namen  Adam  und  Eva  bei  Ask  und  Embla  möglich 
scheint,  nicht  aber  christlicher  Ursprung  der  ganzen  Stelle;  denn  sie 
steht  altheidnischen  Anschauungen  viel  näher  als  dem  Bericht  der  Genesis, 
indem  ja  dort  auch  von  der  Dreieinigkeit  durchaus  nicht  die  Rede  ist; 
und  welcher  Christ  oder  Halbchrist  hätte  Loki  in  die  christliche  Trinität 
hineinzuschmuggeln  gewagt? 

Da  kamen  zum  Meeresstrand        mächtig  und  hold 
Aus  diesem  Geschlecht        drei  der  Äsen; 
Auf  freiem  Felde        fanden  sie  kraftlos 
Ask  und  Embla        unsichern  Loses. 

Hauch  und  Seele        hatten  sie  nicht, 
Gebärde  und  Wärme        noch  blühende  Farben; 
Den  Hauch  gab  Odin,        Hönir  die  Seele 
Lodur  die  Wärme        uud  leuchtende  Farben. 

Daß  die  Schöpfung  lebender  Wesen  ein  solches  »Symbolum«  mehrerer 
Götter  sei,  ist  eine  durchaus  beliebte  kosmologische  Vorstellung  zahl- 
reicher Völker.  Ich  führe  hier  nur  zwei  griechische  Parallelen  an : 
Prometheus  und  Athena  bilden  neue  Menschen  aus  Erde,  denen  die  Winde 
dann  den  Geist  einblasen 2) :  der  Adler  des  Prometheus  ist  von  Hephaistos 
gefertigt  und  von  Zeus  beseelt3). 

Wir  haben  hier  also  die  Trias  Odin — Hönir — Loki4)',  in  der  Hönir 
»die  dritte  stumme  Person«  ist5);  wir  haben  über  ihn  noch  eigens  zu 
aandeln.  Wer  nun  jede  Dreiheit  mit  Odin  für  christlich  beeinflußt 
erklärt,  muß  auch  die  Götzengruppen  mit  Odin,  Thor  und  Frey  in  den 
beidnischen  Tempeln  dafür  halten,  was  wir  lieber  lassen  wollen6). 

Wenn  nun  den  noch  leblosen  Menschenbildern  der  Windgott  den 
Hauch  gibt,  der  Feuerdämon  Wärme  und  leuchtende  Farbe,  so  wird  der 
Seelenspender  wohl  jedenfalls  auch  ein  vergöttlichter  Elementargeist  (vielleicht 


l)  Vol.  Str.  18.  2)  Preller  1,  473. 

3)  Ebd.  S.  99  Anm.  4. 

4)  Mogk  S.  350,  Golther  S.  412.  416,  Meyer  S.  278. 
8)  Mogk  a.  a.  O. 

6)  Die  Dreiheit  ist  hier  fast  unvermeidlich.  »Luft,  Licht,  Wärme  —  diese 
drei  sind  wie  der  Geist,  der  Sohn,  der  Vater«,  sagte  Herder  zu  seinem  Schüler 
.  G.  Müller.  —  Der  »Lebenshauch«  fehlt  zur  Unterscheidung  von  den  Menschen 
len  Tieren :  G  u  n  k  e  1 ,  Genesis,  S.  9.  —  Wie  nah  solche  Aufteilung  liegt,  beweist 
iine  wirklich  merkwürdig  ähnliche  altbiblische  Stelle:  Jes.  42,  5  heißt  es  von 
jott:  »Der  Odem  gab  dem  Menschenvolk  auf  der  Erde,  Und  Lebenshauch  denen, 
iie  auf  ihr  wandeln«,  woraus  dann  Irenaeus  eine  Unterscheidung  von  Odem 
ind  Hauch  gefolgert  hat  (Bittlinger,  Materialisierung  religiöser  Vorstellungen, 
Tübingen  1905,  S.  117). 


342  Viertes  Kapitel. 

ein  Wolkendämon)  sein.  Jedenfalls  ist  er  wohl  eine  alte,  der  Erinnerung 
fast  entschwundene  Gestalt:  warum  hätten  spätere  Mythologen  nicht  lieber 
Thor  mitgehen  lassen  sollen  ?  er  hätte  das  neue  Werk  so  schön  mit  dem 
Hammer  weihen  können !  Deshalb  besteht  auch  für  die  andern  Abenteuer 
dieser  Dreiheit  wenigstens  der  Verdacht  der  Altertümlichkeit;  freilich  können 
sie  dem  Mythus  von  den  drei  menschenbelebenden  Elementargöttern  nach- 
gebildet sein.     Es  sind  die  folgenden: 

2.  Loki  tötet,  als  die  drei  über  Land  fahren,  eine  Otter,  die  des  zauber- 
kräftigen Bauern  Hreidmar  Sohn  ist.  Die  Götter  müssen  Buße  leisten; 
dazu  nimmt  Loki  alles  Gold  Andvaris  und  zuletzt  noch  seinen  Wunder- 
ring. Andvari  legt  seinen  Fluch  auf  das  geraubte  Kleinod,  das  Loki 
wieder  holt1). 

Es  ist  nicht  zu  bezweifeln,  daß  Snorris  schon  angezogene  Charakteristik 
Lokis2)  sich  vor  allem  auf  dies  berühmte  Abenteuer  bezieht.  Man  wird 
ihr  auch  fundamentale  Bedeutung  für  die  Erkenntnis  Lokis  nicht  ab- 
sprechen dürfen. 

An  ihrer  Altertümlichkeit  kann  zunächst  irre  machen,  daß  sie  in 
manchen  Punkten  an  solche  Loki-Legenden  erinnert,  denen  man  schwer- 
lich ein  hohes  Alter  zuschreiben  darf.  Auch  in  der  Geschichte  von  Sifs 
Haaren  wird  Loki  zu  einer  goldenen  Buße  gezwungen ;  auch  von  Geirröd 
wird  er  gefangen  und  zu  einer  Buße  genötigt.  Auch  machen  die  vielen 
Verwandlungen  einen  märchenhaften  Eindruck,  und  in  der  »Hypothesis«  zu 
den  Reginsmäl  ist  in  der  starken  Ausnutzung  mythologischer  Kuriositäten 
(das  Netz  von  Ran  geborgt)  so  wenig  wie  in  den  Skäldskaparmäl  (Freyjas 
Falkenhemd)  überflüssiger  Prunk  eines  gelehrten  Bearbeiters  zu  verkennen. 
(In  der  Thrymskv.  braucht  Loki  das  Falkenkemd  wirklich,  um  bis  in  das 
Riesenland  zu  fahren,  wohin  sogar  Odin  einen  Reisesegen  braucht3); 
aber  zu  Geirröd  kommt  Thor  zu  Fuß.)  —  Sieht  man  aber  genauer  zu, 
so  stehen  die  Dinge  doch  hier  anders.  Die  Verwandlungen  sind  viel 
einfacher:  Otr  und  Andvari  sind  wohl  Dämonen4)  des  Wasserfalls  und 
des  goldhaltigen  Wassers  und  deshalb  in  Fischgestalt.  Charakteristisch 
ist  ferner,  daß  hier  nicht  Loki  allein  gefangen  wird,  sondern  alle  drei 
Äsen,  was  auf  jenes  uralte  Mythenmotiv  von  dem  gefangenen  Gott,  der 
sich  lösen  muß5),  schließen  läßt. 

Dennoch  mag  die  Erzählung,  wie  sie  vorliegt,  manche  Phasen  hinter 
sich    haben:    die   beiden    im    Wasser   gefangenen   Dämonen    sind    wohl 


*)  Hypothesis  zu  Reg.  und  Reg.  Str.  1 — 12  =  Skäldsk.  cap.  9:  Gering 
S.  366.  —  GoltherS.  416,  Meyer  S.  279.  Aufwiegen  der  Leiche  mit  Gold: 
Saxo  S.  24  (Hermann  S.  30). 

2)  Gylf.  cap.  23:  Gering  S.  322. 

3)  Vaf.  Str.  4. 

4)  So  auch  MogkS.  297.  5)  Vgl.  o.  S.  18. 


§  18.    Nebengötter.  343 

Dubletten,  der  Wunderring  kann  später  eingefügt  sein.  Aber  der  Grund- 
gedanke des  Mythus  scheint  alt  und  deutlich :  es  ist  jene  Vorstellung  von 
der  Verderblichkeit  des  Goldes,  die  fast  alle  Kulturvölker  beim 
Eintritt  in  den  »Industrialismus«  zu  symbolischen  Mythen  gebracht  hat. 
Die  Weltumsegelung  der  Argonauten  bringt  das  fatale  Goldene  Vließ,  wie 
Prometheus,  der  Begründer  der  Kulturmenschheit,  mit  Pandora,  der  Göttin 
des  Unheilschatzes,  verwandt  ist;  andere  Mythen  verwandter  Art  erwähnten 
wir  schon  und  verweisen  vor  allem  auf  die  tiefsinnige  Legende  von 
Gullveig1),  der  »Goldheit« 2):  sie  ist  die  Botin  der  Kulturgötter,  der 
Wanen,  die  die  patriarchalischen  Äsen  vergebens  zu  vernichten  suchen8). 

Ein  ätiologischer  Mythus  für  die  verderbenstiftende  Kraft  des  Goldes 
liegt  vor.  Wie  kommt  es,  daß  das  Gold  Unheil  bringt?  es  liegt  ein 
Fluch  auf  ihm.  Sein  Herr  wird  getötet  und  gerächt  und  schwere  Buße 
für  die  Tötung  geleistet  (Formeln,  die  Gullveig  wie  Otr-Andvari  treffen). 
Vielleicht  war  das  Otterfell  —  wie  das  heilige  Robbenfell  in  Hellas4)  — 
ein  Fetisch,  ein  Golddämon,  oder  das  Abzeichen  reicher  (finnischer?) 
Vornehmer. 

Aus  der  Völsungasaga  kann  der  Fluch  schwerlich  stammen,  der  viel- 
mehr dort  erst  als  epischer  Faden  eingeflochten  ist 5) ;  aber  daß  dies  mög- 
lich war,  zeugt  für  das  Alter  des  Mythus.  Daß  er  aber  spezifisch  nordisch 
ist,  beweist  die  Situation  des  Fischfangs  am  Wasserfall6). 

Also  Loki  ist  mit  Odin  und  Hönir  beteiligt  an  der  Einbringung  des 
Goldes,  das  eigentlich  nur  den  Zwergen  gehören  sollte:  als  man  es  ihnen 
raubte,  verfluchten  sie  es.  Die  alte  Trias  steht  noch  am  Eingang  der 
neuen  Weltepoche;  der  Feuerdämon  aber  ist  bei  der  menschlichen  Ver- 
wertung des  Goldes   am   stärksten   beteiligt.  —  Man   beachte  wohl,   daß 


J)  Wie  Angelus  Silesius  im  »Cherubinischen  Wandersmann«  (her.  von 
W.  Bölsche,  Jena  1905,  S.  34  N.  249  u.  256)  sagt. 

2)  Völ.  Str.  23.  Argentnm  et  aurum  propüüne  an  irati  dii  negaverint  dubito, 
sagt  (Germ.  cap.  5)  schon  der  Geschichtsphilosoph  Tacitus.  Silber  und  Gold 
haben  die  Götter  den  Germanen  versagt  —  vielleicht  im  Zorn,  vielleicht  aus  Liebe. 

3)  Schon  Tacitus  bezeugt  Germ.  cap.  5  eine  instinktive  Scheu  der  Ger- 
manen vor  dem  gleißenden  Golde:  argentnm  magis  quam  aurum  sequuntur, 
was  er  allerdings  rationalistisch  erklärt;  aber  geschah  es  wirklich  nulla  affectione 
animi?  Die  volkstümliche  Anhänglichkeit  an  die  alte  Silbermünze  läßt  noch 
Maurus  Jokäi  in  seinem  in  kulturarmen  Verhältnissen  spielenden  Roman 
»Schwarze  Diamanten  eine  Rolle  spielen.  Doch  ist  natürlich  an  sich  das  Gold 
schlechtweg  als  Sinnbild  des  Besitzes  gemeint;  nur  vertritt  das  fremde  Gold 
diesen  Begriff  noch  anschaulicher.  —  Diese  Scheu  vor  dem  Gold  macht  auch 
Roethes  geistreiche  Argumentation  über  Abhängigkeiten  in  der  Heldendichtung 
(Nibelungias  und  Waltharius  S.  671)  anfechtbar. 

4)  Siehe  o.  S.  73  Anm.  4. 

5)  Vgl.  auch  Mogk  S.  350. 

6)  Vgl.  Völ.  Str.  59. 


344  Viertes  Kapitel. 

hier  von  seiner  Bosheit  nicht  die  Rede  ist,  was  doch  so  nahe  gelegen 
hatte ;  er  ist  nur  voreilig,  wie  bei  der  Hexe  Gullveig  Thor  es  ist x).  Aber 
er  ist  mit  der  schlimmen  Geschichte  in  erster  Linie  verbunden ;  unmöglich 
wäre  es  nicht,  daß  seine  Wendung  in  peius  von  hier  ihren  Ursprung 
genommen  hätte. 

3.  Nur  eine  Nachbildung  dieser  berühmten  Fabel  scheint  mir  die  Ge- 
schichte von  der  Trias  und  Thjazi2)  —  ein  seltsamer  abenteuerreicher 
Mythus,  der  seine  Unursprünglichkeit  schon  in  der  Häufung  der  Motive 
verrät  (etwa  wie  der  von  Suttungs  Trank,  oder  wie  ein  überfulltes  modernes 
Märchen)3).     Märchenhafte  Elemente  sind  unverkennbar4). 

Der  Zweck  der  ganzen  Erzählung  scheint,  Skadis  Bußforderung  eine 
Vorgeschichte  zu  geben.  Diese  läuft  nun  im  Wesentlichen  der  Hreidmar- 
Legende  parallel.  Wie  dort  die  Otter,  wird  hier  der  Ochse  »gejagt«. 
(Man  denke  übrigens  für  das  Motiv  der  verhängnisvollen  Tötung  geweihter 
Tiere  z.  B.  an  Hyperions  Sonnentiere  in  der  Odyssee.)  Nun  »rächt«  ihn 
der  Adler,  nachdem  er  vorher  (etwa  wie  die  Riesin  Hyrrokin  bei  Balders 
Bestattung)  den  Willen  der  Götter  zauberisch  gehemmt  hatte.  Wie  bei 
Gullveig  Thor  und  bei  Andvari  Loki,  greift  nun  auch  hier  dieser  ein,  wobei 
die  Stange  wohl  kaum  noch  auf  sein  Element  —  die  Schürstange  beim 
Herdfeuer?  —  bezogen  werden  darf;  und  muß  sich  wieder  lösen,  was  dies- 
mal durch  die  Äpfel  der  (späten  Göttin)  Idun  geschieht.  Loki  muß  diese 
schaffen,  wie  er  die  Schätze  des  Andvari  schaffen  muß.  Dann  entzünden 
die  Götter  (d.  h.  ursprünglich  er)  ein  Feuer,  in  dem  der  Adler-Riese  ver- 
brennt. —  Thjazi  mag  wohl  ein  alter  Gegner  des  Feuergottes  sein,  etwa  5) 
der  Sturmwind,  der  das  Feuer  verlöscht  —  auch  der  Winddämon  Hraesvelg6) 
hat  Adlergestalt.  Auch  die  seltsamen,  an  indische  und  keltische  Götter- 
fabeln erinnernden  Verwandlungen  —  der  Adler  holt  die  in  eine  Nuß 
verwandelte  Idun  —  könnten  altertümlich  sein.  Das  ganze  Gewebe  mit 
Freyjas  obligatem  Falkenkleid  ist  es  gewiß  nicht,  und  lehrt  übrigens  in 
keinem  Fall  Neues  für  Lokis  Erkenntnis. 

4.  Das  faröische  Märchenlied  von  Odin,  Hönir,  Loki,  die  einem  Bauern 
den  Sohn  vor  einem  Riesen  retten7),  geht  wohl  schwerlich  auf  alte  Ober- 
lieferung zurück.  Vielleicht  enthält  die  Stelle  über  Hönir  alte  Tradition 8), 
und  die  beiden  anderen  Götter  der  Trias  sind  hinzugekommen. 

5.  Möglich  Ist  es,  daß  auch  am  Ende  der  Völuspä9)  ursprünglich  die 
Trias  stand  (Odin  durch  seine  Waffen  vertreten) ;  so  vermutet  Hoffory 10) : 

*)  Vol.  Str.  26. 

-)  Brag.  cap.  2:  Gering  S.  352.  —  Golther  S.  412,  Meyer  S.  233. 

8)  Vgl.  z.  B.  Mitteilungen  aus  dem  Quickborn  2,  123. 

4)  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  32 f. 

5)  Gering  S.  353.  6)  Väf.  Str.  37. 
7)  Golther  S.  397.  8)  Vgl.  u. 

9)  Str.  63.  f°)  Eddastudien  S.  107. 


§  18.    Nebengötter.  345 

»dann  mag  Hönir  den  Looszweig  kiesen,  Lodur  Labsal  jedem  gewähren, 
und  die  Söhne  von  Odins  Brüdern  sollen  wohnen  im  weiten  Wind- 
heim« *).  Doch  ist  mir  im  Ganzen  wahrscheinlicher,  daß  die  ganze  erste 
Halbstrophe  Hönir  allein  gehörte2).  — 

Dem  unter  die  Äsen  versetzten  Feuerdämon  wachsen  durch  die  Ver- 
bindung mit  Thor  persönlichere  Züge.  Der  Feuergott  wird  indi- 
viduell gestaltet. 

Loki  scheint  auch  außerhalb  der  Trias  früh  mit  anderen  Äsen 
gepaart  worden  zu  sein.  Es  ist  kein  Grund,  seine  Berufung  auf  ur- 
zeitliche Blutbrüderschaft  mit  Odin3)  für  Fiktion  zu  halten4).  Die  Ver- 
treibung und  Verbrennung  böser  Geister  ist  wahrscheinlich  die  älteste 
Aufgabe  des  Opferfeuers5)  und  auch  Loki  hat  gewiß  einmal  diese  Auf- 
gabe gehabt.  (Sie  könnte  in  dem  Verbrennen  Thjazis  noch  durchschimmern : 
»Lokis  Späne  heißen  die  zum  Feueranzünden  verwendeten  Späne« 6)  und 
auf  einem  Feuer  aus  Spänen  wird  der  Adler  angebrannt.)  Bei  dieser 
apotreptischen  Tätigkeit  mochten  Feuer  und  Sturm  (als  reinigender  Wind; 
anders  Thjazi  als  schädlicher  Wind)  sich  wohl  zusammenfinden. 

Viel  näher  aber  noch  liegt  die  Verbindung  von  Thor  und  Loki, 
Gewitter  und  Feuer7).  Doch  wird  das  neuisländische  Sprichwort:  »Lange 
gehen  Loki  und  Thor«  bei  langandauerndem  Gewitter8)  abgeleitet  sein. 
Das  Feuer  fliegt   dem  Donner  voraus:   Loki   sucht  als  Späher  die  Stätte, 

*)  Für  die  Art  der  Ersetzung  Odins  vgl.  Tac.  Germ.  cap.  20,  wo  es  sich 
allerdings  um  sororum  filii  handelt. 

2)  Hoffory,  der  Lodur  von  Loki  trennt,  läßt  nur  den  ersteren  in  die 
Oreiheit  (Eddastudien  S.  117):  der  brausende  Wind,  die  eilige  Wolke  und  die 
labende  Wärme  (vgl.  S.  109).  Uns  macht  schon  die  alte  Blutbrüderschaft 
.^wischen  Odin  und  Loki  die  herkömmliche  Anschauung  wahrscheinlicher.  Noch 
stärker  lösen  Detter  und  Heinzel  (PBB.  18,  560)  die  Trias  auf:  Lodur  sei 
rrey,  Hönir  identisch  mit  Odin,  und  diese  Zwei-Dreiheit  erst  das  Resultat 
des  Wanenkrieges  —  ein  durch  die  unglaubwürdigsten  Identifikationen  ge- 
wonnenes Resultat  eines  Krieges  fast  mit  dem  gesamten  Stand  unserer  Über- 
lieferung. 

3)  Lok.  Str.  19. 

4)  Noch  weniger  mit  Niedner  (H.  Z.  36,  290)  für  Parodie  des  Freundschaft- 
verhältnisses zwischen  Frey  und  Skirnir.  Man  müßte  dann  eine  feierliche  Stelle 
wie  Ex.  4,  25  auch  für  parodistisch  erklären,  in  der  Mosis  Gattin  im  Kampf  mit 
Jahve  ihre  frühere  Blutbrüderschaft  anruft  (vgl.  Ed.  Meyer,  Berl.  Sitzungsber. 
1905,  XXXI.  S.  5).  Sie  wird  einmal  den  Gott  mit  Opfern  zum  Blutsfreund  ge- 
macht haben,  wie  Abraham  die  Engel;  und  ebenso  waren  Loki  und  Odin  Bluts- 
freunde durch  gemeinschaftlichen  Opfergenuß,  wie  Äsen  und  Wanen  nach  dem 
Bunde  (Vol.  Str.  23). 

5)  Macdonell  S.  95. 

6)  Golther  S.  409. 

7)  Visen  a.  a.  O.,  Mogk  S.  348.  352,  Golther  S.  414. 

8)  Meyer  S.  277. 


346  Viertes  Kapitel. 

ehe  Thor  einschlägt.  (Unserer  Empfindung  erscheint  freilich  der  Blitz  als 
Herr,  der  Donner  als  Diener.)  So  wird  Loki  zu  Thrym  (und  zu  Geirröd) 
vorausgeschickt,  ehe  Thor  selbst  kommt1).  —  Loki  begleitet  den  Thor 
auch  nach  Utgard  und  hat  sich  dort  mit  Logi,  dem  Feuer,  im  Verzehren 
zu  messen2);  auch  Thjälfi,  der  Blitz,  geht  mit  und  unterliegt  der  Schnellig- 
keit des  Gedankens.  —  Wir  vermögen  diesen  geistreichen  Kombinationen 
kein  hohes  Alter  zuzuschreiben ;  auch  tritt  Loki  sonst  nirgends  als  be- 
sonders gierig  auf,  wie  Thor.  Aber  das  Duell  zwischen  Loki  und  Logi 
mußte  einer  in  Reimkünsten  schwelgenden  Zeit  Vergnügen  machen. 

In  der  Thrymskvida  bereits  werden  Lokis  Schlauheit  und  Thors  plumpe 
Kraft  kontrastiert3).  In  Utgard  wird  ihre  Verschiedenheit  noch  stärker 
betont.  Schließlich,  als  Thor  der  Schutzherr  der  Gehöfte  geworden,  wird 
sein  natürlicher  Begleiter  ihr  Feind.  Er  lähmt  Thors  Bock  bei  der  Heim- 
kehr von  Hymir4)  und  in  der  Urform  der  Geirröd -Erzählung5)  wird 
er  dem  Thor  wohl  die  Kleinodien  gestohlen  haben,  um  ihn  waffenlos 
den  Dämonen  auszuliefern. 

Daß  Loki  in  der  gleichen  Weise  auch  Odins  Nebenbuhler  und  Feind 
geworden  sei,  ist  nicht  wahrscheinlich ;  auch  scheint  er  mit  Mitodin 6)  und 
Ollerus-Ull,  einem  anderen  Stellvertreter  Odins,  sich  nicht7)  im  Wesen, 
sondern  nur  in  Äußerlichkeiten  (Schönheit?,  Buhlerei)  zu  decken.  — 

Loki  entwickelt  sich  zum  Umstürz  er  und  Feind  aller  gött- 
lichen Ordnung.  Der  mit  dem  Feuergeist  verbundene  Begriff  der  Beweg- 
lichkeit und  Lebhaftigkeit  war  nie  verloren  gegangen.  Je  stärker  die 
Ordnung  als  Werk  der  Götter  betont  wird,  desto  entschiedener  gerät 
er  zu  ihr  in  Gegensatz.  Einzelne  Mythen  konnten  diese  Tendenz  be- 
glaubigen und  stärken.  Er  erhält  nun  auch  seinen  persönlichen  Gegner 
in  Heimdalls).  Der  Schutzherr  menschlicher  geregelter  Tätigkeit9) 
heißt  ausdrücklich  »Feind  des  Loki«  10)  und  kämpft  mit  ihm  um  Freyjas 
Halsgeschmeide  n). 

Als  Gegengott  hat  Loki  auch  in  der  Lokasenna  die  Anklage  gegen  die 
Götter  zu  führen,  wobei  Thor  —  wie  sonst  Heimdali  —  als  sein  spezieller 
Gegner  und  Bezwinger  auftritt. 


x)  Meyer  deutet  dies  auf  das  Wetterleuchten. 

2)  Gylf.  cap.  46:  Gering  S.  348. 

n)  Vgl.  zu  dem  Motiv  Olrik,  H.  Z.  51,  6. 

4)  Golther  S.  414. 

B)  Vgl.  o.  S.  299  f.  6)  Siehe  o.  S.  270. 

7)  Wie  Mogk  S.  349  meint. 

8)  Golther  S.  363.  415,  Meyer  S.  279,  Mogk  S.  325. 

9)  Siehe  u. 

10)  Lokadölg;  vgl.  Golther  S.  363. 
n)  Ebd.  S.  415. 


§  18.    Nebengötter.  347 

Der  Feind  der  göttlichen  Ordnung  kommt  nun  all- 
mählich zu  der  »bösen  Welt«  in  ein  festes  Verhältnis: 
zu  Unterwelt  und  »Hölle«,  zu  den  Ungeheuern  des  Abgrunds.  Er 
wird  der  Gegen-Odin,  der  Herr  aller  bösen  Geister.  Er  wird  Vater 
der  Hei x)  und  in  allen  Dingen  der  äußerste  Gegensatz  zu  den  Göttern 
oben.  Sind  diese  auf  ihre  Männlichkeit  stolz,  so  wirft  ihm  Odin2) 
vor,  er  habe  acht  Winter  unter  der  Erde  als  Magd  Kühe  gemolken 
und  selbst  Kinder  geboren3).  Zwar  gibt  Loki4)  dem  Odin  die  Schelte 
zurück,  die  auch  sonst  im  Norden  als  härteste  Beschimpfung  weibischer 
Haltung  bekannt  war 5),  aber  von  ihm  erzählt  eine  andere  Fabel  geradezu, 
er  habe  als  Stute  mit  einem  Hengst  Odins  Roß  Sleipnir  erzeugt6).  So 
ist  denn  wohl  auch  jener  Aufenthalt  als  Weib  unter  der  Erde  nicht  natur- 
mythologisch zu  deuten7),  sondern  eben  nur  als  ein  äußerster  Schimpf. 
So  wird  einem  gewissen  Refr  nachgesagt,  jede  neunte  Nacht  sei  er  Weib 
geworden  und  habe  einen  Mann  gebraucht8)  —  also  eine  Art  Werwolf- 
tum  mit  periodischer  Verwandlung9).  Wie  dieser  Refr  immer  acht  Tage 
Mann  ist,  so  ist  —  noch  schlimmer  —  Loki  acht  große  Tage  (Monate)  Weib. 
An  eine  androgyne  Gottheit  ist  deshalb  gewiß  nicht  zu  denken,  auch 
nicht  an  ein  altes  Paar  wie  Njord :  Nerthus10).  Loki  nimmt  jetzt  teil  an 
dem  formlosen  Fratzen  Charakter  der  Unterweltsdämonen11),  an  der  Ver- 
kehrung  aller  Dinge,   die  dann  in  Utgard  auf  die  Spitze  getrieben  wird. 

Mit  Utgardaloki  wird  er  von  Mogk  und  Gering 12)  identifiziert ;  aber 
Loki  wohnt  eben  nicht  in  Utgard,  sondern  in  der  von  den  Äsen  be- 
herrschten Welt;  ein  eigentlicher  Unterweltsgott  ist  er  nie  geworden. 

Den  Gipfel  dieser  Funktion  als  Gegengott  bezeichnet  die  Beteiligung 
an  Balders  Tod  13)  und  am  Weltuntergang 14).  — 

Loki  geht  schließlich  als  grotesk-grausige  Gestalt  in  die  Volks- 
sage über  —  als  Träger  der  bösen  wie  Thor  als  Träger  der  guten  Rolle. 


J)  Mogk  S.  352. 

2)  Lok.  Str.  23;  Golther  S.  416. 

3)  Vgl.  Str.  33.  4)  Str.  24. 

5)  Vgl.  Golther  S.  417  Anm.  2. 

6)  Hyndl.  Str.  42;  Gylf.  cap.  42:  Gering  S.  332. 

7)  Was  auch  Golther  S.  417  ablehnt. 

8)  Much,  Zur  Rigsthula,  Festschr.  f.  J.  v.  Kelle,  1,  228. 

9)  Vgl.  o.  S.  129. 

10)  Eine  tolle  Erklärung  für  Lokis  Mutterschaft  —  nun  gar  aller  Unholde  — 
gibt  Hyndl.  Str.  43:  Loki  wird  von  einem  Frauenherz  schwanger,  das  er  halb 
verkohlt  in  der  Asche  findet;  vgl.  für  die  abergläubische  Grundlage  Heinzel- 
Detter  S.  631  mit  Lit. 

n)  Vgl.  allgemein  Wundt,  Völkerpsychologie  2,  2,  372. 

12)  z.  d.  St.  13)  Siehe  o.  S.  317. 

14)  Golther  S.  533.  535.  427  (siehe  u.),  bei  denen  er  wirklich  eine  Art  Anti- 
christ wird. 


348  Viertes  Kapitel. 

Hierbei  sind  zu  scheiden  ätiologische  Mythen,  in  denen  ihm  die 
Schuld  an  irgendeiner  störenden  Einrichtung  zugeschoben  wird,  und 
Charakterrollen,  in  denen  lediglich  das  aus  behaglichem  Schauder  und 
Freude  an  seiner  Beweglichkeit  zusammengesetzte  Interesse  an  seiner  Ge- 
stalt sich  auslebt.  Man  denke  etwa  an  die  Räuberromantik  von  Robin 
Hood  bis  Rinaldini  und  leider  bis  zur  neuesten  Gegenwart! 

1.  Ätiologische  Mythen:  Loki  wird  Ursache  des  Bösen,  auch  des  Un- 
begreiflichen in  der  Welt.  Weshalb  hat  Sif  goldene  Haare1)?  Eine 
Novelle,  bei  der  in  ganz  realistischer  Weise  Thor  der  polternde  Hausherr, 
Loki  der  boshafte  Hausfreund  ist2). 

2.  Charakterrollen:  Wie  liebevoll  (im  ästhetischen  Sinn)  ist  schon 
sein  Anteil  an  Balders  Ende3)  ausgemalt,  oder  die  Zänkereien  mit  Gefjon4), 
wie  überhaupt  sein  ganzes  Spiel  in  der  Lokasenna!  Zu  beachten  ist 
auch  hier  die  Proteusnatur :  wie  er  als  altes  Weib  Thökk5)  das  Frei- 
bitten  Balders  verhindert. 

Hierher  gehört  ferner  das  Märchen  vom  Riesenbaumeister  und  seinem 
Roß  Svadlifari 6).  Vielleicht  liegen  alte  Motive  zugrunde:  daß  der  Feuergott 
Vater  des  Rosses  »Gewitterwolke«  äst.  Doch  ist  es  wohl  einfach  ein  volks- 
tümliches Märchen  dem  Typus  der  Lokifabeln  (Loki  bringt  die  Götter  in 
Gefahr  —  wird  zur  Lösung  gezwungen  —  Thor  macht  mit  dem  Hammer 
ein  Ende)  nahegebracht  werden.  Immerhin  ist  auch  die  Verführung  der 
gefährlichen  menschlichen  Tüchtigkeit  oder  Frömmigkeit  ein  altes  mytho- 
logisches Motiv,  besonders  bei  den  Indern,  wo  die  Apsarasen  diesem 
Zwecke  dienen. 

Ein  später  Nachklang  solcher  Mythen  scheint  die  Angabe,  daß 
Lopt  das  Verderbensschwert  Lävatein  geschmiedet  habe,  durch  das 
der  Hahn  Widofnir  getötet  werden  kann7).  Man  hat  die  Angabe  zur 
Rekonstruktion  des  Baidermythus  benutzen  wollen8);  es  ist  aber  wohl 
nur  eine  Nachbildung  desselben:  auch  hier  muß  der  Bringer  alles  Bösen 
ein  »Zweig«  genanntes  Schwert  verderblicher  Art  liefern.  Aber  Loki 
schmiedet  nie  selbst;  dafür  hat  er  bei  Sifs  Haar  und  beim  Brisingamen 
die  Zwerge. 

Endlich   muß  Loki   auch   die  phallischen  Mythen  übernehmen. 


J)  Golther  S.  419,  Meyer  S.  157;  siehe  o.  S.  306. 

2)  Pope,  Rape  of  the  lock;  das  Abschneiden  der  Haare  als  Beschimpfung: 
Wein  hold,  Deutsche  Frauen. 

3)  Mogk  S.  351,  Meyer  S.  157.  397f.,  Golther  S.  419. 

4)  Meyer  S.  417. 
B)  Gylf.  cap.  49. 

6)  Mogk  S.  351,  Golther  S.  413,  Meyer  S.  234,  v.  d.  Leyen  S.  38. 

7)  Fjölsv.  Str.  25  -26. 

8)  Schuck,  Studier  2,  106 f. 


§  18.    Nebengötter.  349 

Ob  sie  in  der  germanischen  Mythologie  so  selten  waren  oder  nur  so 
sorgfältig  ausgerottet  wurden  ?) l). 

Merkwürdig  sind  Lokis  weitere  Schicksale  in  der  Volkssage,  die  Olrik  ver- 
folgt hat.  In  den  Ländern,  wohin  Nordmänner  die  Kunde  von  ihm  gebracht 
haben,  England,  Shetlandsinseln,  aber  auch  Faröer  und  Island  selbst  (die  Über- 
lieferungen der  Insel  sind  oben  zum  Teil  benutzt)  hielt  sich  die  alte  Anschauung: 
er  wird  mit  Odin  zusammen  genannt,  überlistet  die  Riesen,  begleitet  Thor  usw. 2). 
In  den  »echtnordischen  Ländern«  dagegen  weiß  das  Volk  nichts  von  dem  Gott 
Loki:  es  kennt  nur  einen  Dämon  Lokke,  der  in  Dänemark  als  Geist  des  in  der 
heißen  Luft  flimmernden  Lichtes  auftritt ?),  in  Schweden  und  Südnorwegen  als 
Geist  des  Herdfeuers4),  im  südlichen  Norwegen  auch  als  neckender  nächtlicher 
Unhold5).  Ob  diese  Gestalten  des  Volksglaubens  unmittelbar  von  dem  alten 
Feuerdämon  herstammen  ?  Ob  sie  wirklich  schon  auf  die  Ausbildung  der  Götter- 
gestalt eingewirkt  haben6)? 

Auch  als  Personennamen  kommt  Loki  im  Norden  und  in  England  vor7). 

Auch  in  Lokis  Verwandtschaft8)  lassen  sich  zwei  Schichten 
scheiden :  die  alte  Sippe  des  Feuerdämons  und  die  junge  des  bösen  Gottes. 
Eine  alte  Gottheit  könnte  Sigyn  sein9).  Ihr  Name  ist  nicht  gedeutet; 
daß  sie lu)  unter  den  Asinnen  aufgezählt  wird,  hat  nichts  zu  sagen.  Eigen- 
tümlich aber  ist  der  Zug,  daß  sie  über  den  gefesselten  Loki  eine  Schale 
hält,  um  das  von  der  Schlange  tropfende  Gift  abzufangen.  Das  erinnert 
an  die  Funktion  der  »Dienerinnen  Friggs«  wie  Hlfn,  Syn  und  besonders 
Eir11).  Vielleicht  war  sie  ursprünglich  die  Schutzgöttin,  die  vor  Gift 
behütete,  und  ihre  Schale  das  Attribut12).  Durch  eine  ikonische  Mythe 
wäre  sie  dann  mit  Lokis  Bestrafung  verbunden  worden.  Doch  ist  bei 
der  etymologischen  Verwandtschaft  von  Feuer  und  Gift  (»Eiter«)  eine 
ältere  Beziehung  denkbar.  —  Zur  Gattin  Lokis  ward  sie  wohl  aber  jeden- 
falls erst  in  der  Epoche  der  treuen  Frauen  in  der  nordischen  Dichtung18): 
51'e  ist  lediglich  Gattin  des  gefesselten  Loki. 

Jung  ist  vermutlich  Lokis  zweite  Gattin  Angrboda  »die  Schaden- 
öotin« 14).     Sie  soll   die  Mutter   des  Höllenwolfs   sein   (»den  Wolf  zeugte 


x)  Die  Geschichte  von  der  Göttin,  die  nicht  lachen  kann  (v.  d.  Leyen, 
Märchen,  S.  37;  Mörikes  Märchen  von  der  schönen  Lau)  wird  auf  ihn  und 
Skadi  übertragen  (vgl.  o.  S.  211). 

2)  Danske  Studier  1909  S.  69;  vgl.  ebd.  1908  S.  193  f. 

3)  Danske  Studier  1909  S.  77. 

4)  S.  78  f.  5)  S.  80f.  6)  S.  83.  7)  S.  83. 

8)  Mogk  S.  347.  352. 

9)  Vol.  Str.  35;  Schluß  zu  Lok.  =  Gylf.  cap.  50:  Gering  S.  347.  —  Meyer 
iS.  236.  400,  Golther  S.  421  f. 

10)  Brag.  cap.  1:  Gering  S.  352.  n)  Golther  S.  435f. 

12)  Vgl.  den  gesegneten  Becher  Sgdr.  Str.  8. 

13)  Vgl.  Nanna  S.  331.  —  Eine  ganz  ähnliche  Funktion  hat  in  der  Bibel  Rizpa 
2.  Sam.  21,  10 f.  (vgl.  Greßmann,  Schriften  des  A.  T.  in  Auswahl,  Göttingen 
1910,  S.  148). 

M)  Golther  S.  425,  Mogk  S.  847. 


350  Viertes  Kapitel. 

Loki  mit  der  wilden  Angrboda«)1)  oder  der  gesamten  »Höllenbrut«2): 
Fenriswolf,  Midgardschlange  und  Hei 3).  Natürlich  muß  sie  eine  Erzriesin 
(»eine  Riesin  in  Jötunheim«)4)  sein.  —  Wie  in  der  Mythologie  so  oft,  ist 
auch  hier  wohl  die  Mutter  die  Tochter  ihrer  Kinder:  als  man  die  apo- 
kalyptischen Ungeheuer  an  Loki  heranschleifte,  ward  eine  Mutter  für  sie 
nötig.  —  Oder  wäre  sie  eine  alte  Götterbotin  und  Schadenstifterin  wie  Eris, 
die  später  auch  Ate  das  Verhängnis5)  und  den  furchtbaren  Eid6)  zu 
Töchtern  erhält,  und  dem  Ares,  so  weit  er  als  Unheilstifter  gilt,  zugesellt 
wird7)? 

Seine  Brüder  Helblindi8)  »der  Unterweltsblinde«  und  Byleipt 
oder  Byleist9)  faßt  Mogk  als  Hypostasen  Lokis  auf.  —  Beide  werden 
in  dem  bedenklich  vollständigen  Götterkatalog  Snorris10)  genannt,  Byleipt 
noch  in  Gedichten11),  doch  nur  so,  daß  Loki  Byleipts  Bruder  heißt.  — 
Ich  hege  den  Verdacht,  daß  der  »Blinde  der  Hei«  einfach  Hod  ist,  der 
blinde  Ase,  der  zur  Hei  herabsinkt,  und  den  man  wegen  seines  Zu- 
sammengehens mit  Loki  bei  Balders  Tötung  diesem  angebrüdert  hat. 
Byleipt  aber  ist  nur  in  der  späten  und  abgeleiteten  Stelle  des  Hyndl.  sicher 
Loki;  in  der  Völuspa  kann  mit  seinem  Bruder  sehr  wohl  ein  anderes 
Ungetüm  gemeint  sein,  um  so  mehr,  als  Loki  bereits  genannt  ist: 

Es  segelt  von  Norden  über  die  Erde  ein  Schiff. 
Mit  den  Leuten  der  Hei,  und  Loki  steuert; 
Dem  Wolfe  folgen  die  wilden  Gesellen, 
Mit  ihnen  ist  Byleipts  Bruder  im  Zuge. 

Kann  Loki  zugleich  steuern  und  im  Gefolge  des  Wolfs  hinterher- 
gehen 12)? 

ich  denke  also,  man  muß  Lokis  Brüder  streichen,  wie  er  denn  »ein- 
sam hier  in  seiner  Größe,  groß  in  seiner  Einsamkeit«  sich  viel  besser  aus- 
nimmt 13).     Daß  Byleipt  aus  Beelzebub  entstellt  sei 14)  und  Helblindi    der 


*)  Hyndl.  Str.  42.  2)  Golther  S.  425. 

3)  Gylf.  cap.  34:  Gering  S.  323. 

4)  Ebd.  5)  Preller  1,  534  Anm.  2. 
6)  Ebd.  S.  836.  7)  Ebd.  S.  338. 

8)  Golther  S.  410,  Mogk  S.  347. 

9)  Kock,  I.  F.  10,  100.  Nach  Wadstein  (Ark.  f.  nord.  Fil.  11,  77)  zu 
bylr  Sturm:  »der  Sturmblitz«. 

10)  Gylf.  cap.  33:  Gering  S.  322. 
")  Völ.  Str.  51,  Hyndl.  Str.  42. 

12)  Wenn  Snorri  (Gylf.  cap.  51:  Gering  S.  348;  vgl.  Heinzel-Detter, 
Edda  2,  67)  eine  gute  Quelle  hat,  kann  Hrym  gemeint  sein;  dann  stimmt  aber 
Völ.  Str.  50  wieder  nicht. 

13)  Auch  den  buddhistischen  Versucher  Mära  wird  solche  Verwandtschaft 
beschert:  Durst,  Unruhe,  Verlangen  als  Töchter  (Windisch,  Mära  und  Buddha, 
Leipzig  1895,  S.  197). 

u)  Bugge,  Studien,  S.  75  f. 


§  18.    Nebengötter.  35  \ 

blinde  Teufel  in  der  Hölle,  damit  der  christlichen  Dreieinigkeit  eine 
höllische  gegenüberstehe1),  wird  durch  den  Umstand,  daß  uns  Snorri 
sie  zusammen  nennt,  nicht  eben  wahrscheinlicher.  —  Ein  Kind  Lokis  von 
dem  Hengst  Swadilfari  soll  Odins  Roß  Sleipnir  sein 2),  wie  er  denn  noch 
andere  Kinder  geboren  hat3). 

Vor  allem  aber  gilt  in  der  späteren  nordischen  Mythologie  die 
>  Teufelsbrut« 4)  als  seine  Nachkommenschaft,  der  Weltdrache,  der  Fenris- 
wolf  und  die  Unterweltsgöttin,  die  drei  Verschlinger  für  Erde,  Sonne  und 
Menschen  (samt  den  sterblichen  Göttern)  —  eine  Gruppierung,  die  mit 
der  der  apokalyptischen  Reiter  nur  die  Vollständigkeit  der  Vernichtung 
gemein  hat.  Sie  sind5),  sicher  zum  Teil,  wahrscheinlich  alle  älter,  als 
Loki  (mindestens  soweit  er  Gott  ist)  und  erst  später  an  ihn  geknüpft. 
Loki  wird  eben  der  »Vater  aller  Hindernisse«,  wie  Typhon6)  »der  Vater 
aller  mythischen  Ungetüme«  wird 7). 

1.  Über  Hei  ist  später  eigens  zu  handeln.  In  ihrer  Passivität  paßt 
sie  schlecht  zu  den  beiden  andern  Ungeheuern.  Diese  entstammen  ur- 
alten dämonischen  Vorstellungen8). 

2.  Der  Fenrisülf9)  hat  einen  dunkeln  Namen,  der  vielleicht 
mit  »Meer«  oder  »Sumpf«  zusammenhängt10).  Die  Analogie  zu  dem 
Namen  des  Midgardsorms  ließe  erwarten,  daß  Fenrir  ursprünglich  eine 
Benennung  der  Sonne  gewesen  wäre;  aber  in  der  Edda  wird  Fenrir 
auch  allein  zur  Bezeichnung  des  Fenriswolfes  gebraucht.  Vielleicht  ist 
er  ursprünglich  mit  dem  von  Indra  getöteten  Drachen  Vritra11)  identisch. 
Er  ist  ein  chaotisches  Ungeheuer  wie  der  —  mit  Loki  zufällig  nicht 
zusammengebrachte  —   Drache  Nidhögg 12). 


!)  Golther  S.  410.  *)  Siehe  o.  S.  233. 

3)  Solche  Fabeleien  über  den  Ursprung  von  Wunderrossen  sind  indo- 
germanisch :  Achills  Rosse  sind  von  Zephyr  und  der  Harpye  Podarge  —  Schnell- 
fuß —  erzeugt,  und  noch  näher  kommt  es,  wenn  Boreas  in  Gestalt  eines  Rosses 
mit  dunkler  Mähne  mit  den  Stuten  des  Erichthonios  zwölf  windschnelle  Füllen 
erzeugt  (Prell er  1,  473)  —  eine  Parallele,  die  Bugge  (Studien  S.  270;  vgl. 
v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  39)  entging.  Oder  Pegasos  stammt  von  Gorgo  nnd 
Poseidon  (Preller  1,  80,  vgl.  65).  Die  indischen  Götterrosse  (Macdonell 
S.  148  f.)  scheinen  keine  solche  Allianzsagen  veranlaßt  zu  haben.  —  Auf  Loki 
aber  ist  der  Mythus  wohl  nur  übertragen. 

4)  Olrik,  Om  Ragnarok;  Golther  S.  425;  Mogk  S.  310.  347. 

5)  Mogk  a.  a.  O. 

6)  Preller  1,65. 

"')  Vgl.  Zacher,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  30,  289 f.:  Loki  und  Typhon. 

8)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  28 f. 

9)  Olrik  S.  2346.  10)  Mogk  S.  311. 
n)  Macdonell  S.  138. 

12)  Der  Leichen  frißt  wie  die  indischen  Pisäcas  (Macdonell  S.  164).  Much 
(Himmelsgott,  S.  220)  hält  ihn  für  ein  Wesen  vulkanischen  Charakters. 


352  Viertes  Kapitel. 

Daß  er  erst  später  an  Loki  angeschoben  ist,  wird  schon  durch  seine  starke 
eigene  Familie  wahrscheinlich.  Von  ihm  hat1)  die  »Alte  im  Eisenwalde« 
zwei  Söhne  geboren,  die  Wölfe  Skoll  und  Hat i,  von  denen  Hati  einmal 
die  Sonne  verschlingen  wird.  Nur  andere  Namen  für  Skoll  und  Hati 
scheinen  Wali  und  Narfi  (oder  Nari,  allein  genannt  als  Sohn  des  Sigyn)2). 
Von  diesen  ist  Wali3)  ebenfalls  ein  Wolf,  wenn  auch  nach  schlechter 
Nacherklärung  durch  göttliche  Verwandlung  —  eine  solche  Verzauberung 
in  Tiergestalt,  hellenisch  so  beliebt  (Aktäon!  Metamorphosen),  kommt  in 
echter  altgermanischer  Mythologie  nie  vor4).  Wali  zerreißt  dann  seinen 
Bruder  (In  der  Nachrede  der  Lok.  ist  es  gerade  umgekehrt  und  mit  den 
Därmen  des  Zerrissenen  wird  Loki  gefesselt).  Hier  gilt  besonders  Mogks 
Wort5):  »Dies  ganze  Verwandtschaftsverhältnis  Lokis  zeigt  das  bunteste 
Gemisch  von  Gestalten  mit  physischem  Hintergrund  und  subjektiven 
poetischen  Gebilden,  denen  sich  Mißverständnisse  des  Verfassers  der  Snorra 
Edda  zugesellt  haben  mögen.«  Auf  die  beiden  Sonnenwölfe  wird  der 
Fluch  des  Sippenmordes6)  angewandt:  statt  daß  einer  die  Sonne  er- 
würgt7), muß  er  den  Bruder  töten.  Warum  ließen  denn  die  Äsen  nicht 
wenigstens  die  beiden  Wölfe  sich  gegenseitig  ermorden  wie  die  Männer 
der  Kadmeischen  Saat? 

Für  das  Alter  des  Namens  Narfi  spricht,  daß  er  noch  einmal8)  für 
den  Vater  der  Nacht  vorkommt.  (Ebenso  heißt  Hati  auch  der  riesische 
Vater  der  Hexe  Hrimgerd:  Helg.  Hjörv.)  Auch  scheint  der  einfache 
Typus  von  Namen  wie  Narfi  und  Hati  zu  dem  von  Loki  zu  stimmen. 
Doch  nennen  nur  spätere  Mythologen9)  die  Namen  Skoll  und  Hati  und 
machen  über  die  Mutter  —  natürlich  eine  Riesin  —  und  die  Stellung 
der  Wölfe  zur  Sonne  nähere  Angaben.  Wahrscheinlich  liegen  Sagen- 
parallelen vor:  entweder  verschlingt  der  Fenriswolf  selbst  die  Sonne 10), 
oder  zwei  Wölfe  verfolgen  sie,  von  denen  sie  dann  einer  verschlingt; 
diese  werden  dann  zu  seinen  Söhnen  gemacht11).  Nun  war  eine  Mutter 
nötig,  wie  Angrboda.  Am  Ende  der  Welt,  wo  die  Sonne  versinkt,  ist 
der  »Eisenwald« 12)  —  wohl  nicht  einfach  ein  Urwald18),  sondern  das  Land 


*)  Vol.  Str.  40. 

2)  Gylf.  cap.  33:  Gering  S.  322. 

8)  Gylf.  cap.  50:  Gering  S.  347. 

4)  Vgl.  o.  S.  130;  doch  vgl.  Gering,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  41,  488. 

6)  S.  348.  6)  Vol.  Str.  45.  7)  Vol.  Str.  40. 

8)  Gylf.  cap.  10:  Gering  S   304. 

9)  Grim.  Str.  39;  Gylf.  cap.  12:  Gering  S.  306. 
10)  Vaf.  Str.  47. 

»)  Als  Vater  der  Wölfe  heißt  Fenrir  (Grim.  Str.  40,  Gylf.  cap.  12)  Hrödvitnir 
der  berühmte  Wolf. 

12)  Vol.  Str.  40;  Grim.  Str.  39. 

18)  Wie  »Iserlohn«:  Gering  S.  19. 


§  18.    Nebengötter.  353 

des  Sonnenuntergangs,  des  dämmernden  Glanzes  — ,  wo  Helios  am  ehernen 
Himmel  emporsteigt  und  seine  Rosse  in  dem  wie  blankes  Erz  strahlenden 
See  der  Äthioper  tränkt1).  Dort  also,  wo  die  Sonne  untergeht,  sitzt  die 
Alte2)  und  wartet  auf  das  Ende  der  Sonne.  Diese  namenlose  und 
vielleicht  gerade  deshalb  uralte  Gottheit  des  Sonnenuntergangs  ward  zur 
Mutter  der  Wölfe,  die  nach  manchen  primitiven  Mythologien  die  Sonne 
fressen3).  —  Oder  ist  die  Alte  die  Verkörperung  der  bösen  Hexen,  der 
> Weiber  am  Eisenwald«  (jdrnvidjur)?  Das  deutet  Snorri4)  an,  der 
diese  von  dem  Wald  der  Alten  benennen  läßt. 

Die  ursprüngliche  Funktion  des  Wolfes  ist  unzweifelhaft  seine  eschato- 
logische5):  er  verschlingt  die  Sonne.  Daran  knüpfen  ätiologische  Mythen. 
Wenn  der  böse  Wolf  die  Sonne  auffressen  kann,  warum  tut  er  es  nicht? 
Weil  er  gefesselt  ist6)  —  eine  uralte  Erklärung,  für  die  samt  ihren  Einzel- 
heiten v.  d.  Leyen 7)  die  merkwürdigsten  Parallelen  aufgefunden  hat.  Bei 
Snorri  selbst  steht  sie  in  zwei  Varianten 8)  mit  drei  Fesseln,  deren  letzte  — 
wie  der  Göttermeth  —  eine  zauberhafte  Quintessenz  unmöglicher  Dinge  dar- 
stellt; mit  dem  üblichen  Botenritt  (Skirnisför)  und  den  kunstvollen  Zwergen. 
Die  letzte  Fessel  heißt  Gleipnir  —  eine  Benennung  vom  Typus  Mjölnir 
Sleipnir  Gungnir.  Weiter:  wie  kommen  die  Götter  dazu,  ihn  zu 
fesseln?  Orakel  warnten  sie9),  denn  er  wuchs  bei  ihnen  auf  (!)  und  nur 
Tyr  wagte  ihn  zu  füttern.  (Bessere  Variante :  alle  drei  Ungeheuer  wachsen 
in  Jötunheim  auf10). 

3.  Jörmungand11),  die  Weltschlange,  der  Midgardsormr12),  ist 
das  riesische  Meerungeheuer,  das  die  Menschenerde  umspannt  wie  Okeanos 
und  sie  verschlingen  möchte.  Sie  ist  aber  auf  den  Meeresgrund  gebannt, 
wo  sie  ohne  Ende  wächst 13),  bis  auch  sie  einmal  frei  wird  und  die  Erde 
verschlingt.  —  Der  Mythus  von  Thor  bei  Hymir  spielt  mit  ihr,  wie  die 
Hiobsdichtung  mit  dem  Leviathan :  Thor  angelt  sie  in  die  Höhe,  da  speit  die 
Schlange  Gift  (wie  die  zu  Lokis  Pein  über  seinem  Haupt  befestigte  Schlange14). 


x)  Preller  1,  434.     Anders    über  Jarnvidr   und  seine   Synonyma   Kauff- 
imann,  PBB.  18,  163. 

2)  Wie  Thökk  in  der  Höhle,  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  346. 

8)  Über  »Verschlingungsmärchen«  Wundt  2,  3,  230. 
4)  Gylf.  cap.  12.  5)  Siehe  u. 

ö)  Gylf.  cap.  25:  Gering  S.  319. 

7)  Märchen  S.  28,  Festschrift  für  J.  Kelle  1,1t 

s)  Gylf.  cap.  25  und  ausführlicher  cap.  34. 

9)  Gering  S.  323. 

10)  Ebd.  S.  322.  »)  Vol.  Str.  50. 

12)  Olrik  S.  25;  Gylf.  cap.  34:  Gering  S.  322. 

13)  Gylf.  cap.  34:  Gering  S.  322. 

14)  Ein  ähnliches  dämonisches  Tier  war  vielleicht  ursprünglich  die  Schlange 
des  biblischen  Paradieses;  vgl.  Holzinge  r,  Genesis,  S.  33:  der  Fluch,  ihre 
Bestrafung. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  23 


354  Viertes  Kapitel. 

Diese  eschatologischen  Ungeheuer  sind  viel  furchtbarer  als  Loki  und 
haben  ihm  erst  den  grausigen  Charakter  gegeben,  den  er  zuletzt  annimmt. 

Lokis  Eltern1)  werden  schon  in  alten  Strophen  erwähnt 2).  Nur 
bei  Snorri8)  heißt  er  der  Sohn  des  Riesen  Fdrbauti,  »des  gefährlich 
Schlagenden«,  d.  h.  des  Sturmwinds,  da  dieser  das  Feuer  in  dem  Holze 
entfacht4).  Mogk  meint:  »Es  mag  bei  der  Schöpfung  dieser  Verwandt- 
schaft Vermischung  alter  Naturmythen  mit  dem  jüngeren  Lokimythus  statt- 
gefunden haben,  denn  hier  scheint  schon  Loki  als  das  vernichtende  Feuer 
aufgefaßt  zu  sein,  das  der  Sturmwind  auf  bewaldeter  Insel  vom  Himmel 
herabbrachte.  Das  wäre  dann  ein  Parallelmythus  zu  dem  Mythus  von  der 
Entstehung  des  Lichts  und  der  Wärme  auf  Gotland5).«  Nach  Bugge6) 
bedeuten  dagegen  die  Namen  von  Lokis  Eltern  ein  dichterisches  Bild: 
daß  der  Sturmwind  die  flammende  Lohe  aus  dem  Gehölz  schlägt.  Aber 
das  kann  er  doch  nur,  wenn  das  Feuer  schon  da  ist!  Der  Blitz  kann 
Feuer  entzünden,  nicht  der  Sturm. 

Stände  der  Name  Laufey,  »die  Laubinsel«,  nicht  in  der  Thrymskv.,  so 
würde  ich  unbedenklich  auch  hier  Adoptiveltern  Snorrischer  Faktur  zu  sehen 
glauben.  Anderseits  genügt  er  doch  nicht  (mit  dem  Hammer  Mjölnir,  s.  o.), 
um  das  Gedicht  umdatieren  zu  lassen;  und  für  Interpolationen  sind  die  beiden 
Belege  zu  gut  verankert.  Aber  der  durchsichtig  komponierte  Name  bleibt 
verdächtig  und  gewinnt  nicht  dadurch,  daß  Snorri7)  ihm  die  Variante 
Ndl  »die  Nadel«,  d.  h.  der  Nadelbaum,  beigibt.  Ob  vielleicht  Laufey  ur- 
sprünglich eine  Ortsbezeichnung  war,  dem  »Eisenwald  der  Alten»  ent- 
sprechend? dort  der  Punkt  des  Herabgehens  der  Sonne8),  hier  etwa  die 
Stelle  des  Aufgangs,  des  Auftauchens  des  himmlischen  Feuers?  »Sohn 
der  Laufey«  wäre  dann  erst  lokal  gemeint9),  später  metonymisch  ver- 
standen worden  und  schließlich  der  allegorischen  Deutung  verfallen.  Loki 
der  Sohn  der  Laubinsel ?  aber  Nadelholz  brennt  doch  nicht  weniger  gut! 
—  Färbauti,  ein  alter  Winddämon,  der  die  Äste  herunterschlägt,  war  dann 
der  gegebene  Vater10). 

Da  Skoll  und  Hati  Lokis  Enkel  vom  Fenriswolf  sein  sollen,  hätten  wir 
hier  glücklich  einen  dämonischen  Urgroßvater.  Indessen  pflegt  die  mytho- 
logische Anschauung  über  zwei  Generationen  nicht  herauszugehen.  — 


*)  Vgl.  Kock  S.  101. 

2)  Thrymskv.  Str.  17.  20,  Lok.  St.  39;  ebenso  Skäldsk.  cap.  3:  Gering  S.  364 
heißt  Loki  der  Sohn  der  Laufey,  der  »Laubinsel«  (Golth  er  S.  184. 409,  Mogk  S.  347). 

3)  Skäldsk.  a.  a.  O.  4)  Gering  S.  21. 
5)  Säve,  Gutinska  Urkunder,  S.  31. 

ö)  Golth  er  S.  184.  409. 

7)  Gylf.  cap.  33:  Gering  S.  322. 

8)  Freilich  später  Völ.  Str.  40  nach  Osten  verschoben! 

9)  Etwa  wie  Sigrun  von  Sewafjöll,  Helg.  Hund.  2,  44. 

10)  Vielleicht  ist  er  auch  Völ.  Str.  52  mit  dem  »Mörder  der  Zweige<  gemeint. 


§  18.    Nebengötter.  355 

So  hat  Loki  durch  die  beherrschende  Stellung,  die  er  gewann,  einen 
ganzen  Familäenstaat  um  sich  gebildet.  Die  Vorstellung  einer  geschlossenen 
»Hölle«  ist  aber  nicht  entstanden :  nur  während  ihrer  Unmündigkeit  leben 
die  drei  Ungeheuer  zusammen  in  Jötunheim  1).  Später  sind  sie  getrennt: 
die  Schlange  allein  trifft  Thor  bei  Hymir,  und  sie  kommt  zu  Ragnarök 
von  Osten2);  Loki,  die  Leute  der  Hei,  der  Wolf  von  Norden3);  Hei 
selbst  von  Süden4),     Feinde  ringsum«! 

Zu  diesen  dämonischen  Ungeheuern  gehört  ferner  der  Drache  Nfd- 
högg5).  Der  »schadengierig  Hauende«6)  scheint  ein  alter  Dämon:  der 
Leichenzehrer«,  der  die  Toten  schädigt7).  Später  ist  er  zu  der  Weltesche 
Yggdrasil  in  weltumstürzende  Beziehung  gebracht  worden,  vielleicht  weil 
die  Wurzeln  des  Weltbaums  schlangenförmig  gezeichnet  waren8);  und 
so  ist  denn9)  dem  einen  Drachen  ein  ganzes  Nest  von  Schlangen  unter- 
gelegt worden.  —  Natürlich  wird  er 10)  zum  letzten  Kampf  in  einer  wenn 
auch  nur  äußerlichen  Beziehung  gedacht.  — 

Viel  stärker11)  ist  Surts  Anteil  an  diesem  Kampf.  Surt12)  gilt  ge- 
radezu als  das  Haupt  der  götterfeindlichen  Heeres13).  Das  Feuer  des  Welten- 
brands heißt  Surts  Lohe14)  und  somit  ist  er  ein  Feuerdämon15).  Das  berichtet 
die  Prosa  Edda16)  auch  ausführlich:  »Zuerst  bestand  die  Gegend,  welche 
Muspellsheim  heißt;  diese  ist  hell  und  heiß,  und  sie  kann  von  niemandem, 
der  dort  nicht  zu  Hause  ist,  betreten  werden.  Surt  hat  dort  die  Herr- 
schaft, der  an  der  Grenze  seines  Reiches  sitzt;  in  der  Hand  hält  er  ein 
glühendes  Schwert,  und  am  Ende  der  Welt  wird  er  kommen,  und  alle 
Götter  besiegen  und  die  Welt  mit  Feuer  verbrennen.  So  heißt  es  in  der 
Völuspä17).«  Das  wäre  ganz  schön,  wenn  nicht  der  Verdacht  bestände, 
daß  das  alles  abgeleitet  ist18). 


*)  Gylf.  cap.  33:  Gering  S.  322. 

2)  Vol.  Str.  50.  3)  Str.  51.  4)  Str.  52. 

5)  Vol.  Str.  39.  66;  Grim.  Str.  32.  35  =  Gylf.  cap.  15:  Gering  S.  309,  cap.  16 
ebd.  S.  311;  ebd.  cap.  52:  Gering  S.  351  =  Vol.  Str.  39.  —  Müllenhoff, 
D.  Alt.  5,  36.  —  Golther  S.  536  Anm.,  Mogk  S.  379.  381. 

6)  Bugge  S.  480 f. 

7)  So  an  der  ältesten  Stelle  Vol.  Str.  39. 

8)  Denn  wir  halten  dies  (siehe  u.)  für  einen  ikonischen  Mythus. 

9)  Gylf.  cap.  16. 

10)  Völ.  Str.  66.  n)  Olrik  S.  227 f. 

12)  Völ.  Str.  47.  52,  Vaf.  Str.  17.  51,  Fäf.  Str.  14  (=  Vaf.  Str.  17);  wertlos 
Fjöl.  Str.  18.  —  Gylf.  cap.  4:  Gering  S.  300,  cap.  7  ebd.  S.  313,  cap.  51  S.  349f., 
aus  Völ.  Str.  47  f.  abgeleitet. 

13)  Vaf.  Str.  17;  Fäf.  Str.  14. 

14)  Vaf.  Str.  51 ;  Gylf.  cap.  16. 

15)  Golther  S.  189,  Mogk  S.  382;  Phillpott  (Ark.  f.  nord.  Fil.  21,  14f.) 
spezialisiert  wahrscheinlich  mit  Recht:  ein  vulkanischer  Dämon. 

16)  Gylf.  cap.  4.  17)  Str.  52.  18)  Vgl.  Olrik  S.  221  f. 

23* 


356  Viertes  Kapitel. 

Zunächst:  Müspell1)  =  Muspilli  hat  es  natürlich  gegeben;  und  die 
an  dem  Erdbrand  beteiligten  Dämonen  können  wohl  »Müspells  Söhne< 
heißen 2)  —  etwa  wie  Loki  Sohn  der  Laufey  heißt.  Nun  aber  diesem 
vermeintlichen  Vater  Muspell  ein  Müspellheim  zu  dedizieren  3),  das  sollte 
doch  auch  die  stutzig  machen,  die  an  alle  »Heime«  aller  Edden  sonst 
willig  glauben!  Das  Land  der  Weltvernichtung  —  ein  kurioses  Land 
fürwahr!  Und  die  Funken,  die  vom  Weltbrand  sprühen4),  könnten  echt 
sein  —  aber  ein  feuersprühendes  Land  ist  denn  doch  eine  zu  große  tech- 
nische Rarität5). 

Daß  das  Land  hell  und  heiß  ist,  konnte  Snorri  sich  selbst  sagen; 
sonst  aber  bringt  seine  Schilderung  des  Königs  von  Feuerland  nur  Einen 
neuen  Zug:  daß  er  an  der  Grenze  seines  Reiches  sitzt;  und  dies  kam 
wohl  zustande,  indem  Snorri  zwei  Strophen  der  Völ.6)  kombinierte  und 
deshalb  Surt  zum  Pendant  Heimdalls  machte. 

Ich  würde  also  aus  der  so  oft  auch  uns  verblendenden  Augentäuschung 
Gylfis  nichts,  aber  auch  gar  nichts  für  Surt  zu  schließen  wagen.  Dann 
bleibt  übrig  1.  er  ist  ein  Hauptführer  im  Kampf  gegen  die  Götter;  2.  er 
hat  mit  dem  Weltbrand  zu  schaffen ;  3.  ein  anderer  Hauptfeind  der  Götter 
(nach  der  herrschenden  Annahme  Fenrir7)  heißt  »sein  Blutsfreund«8)  — 
wie  Loki  und  Odin  Blutsfreunde  waren 9).  —  Wahrscheinlich  ist  er  also  ein 
alter  Dämon  des  vulkanischen  Erdfeuers 10),  und  sein  Blutsbruder  ist  dann 
doch  wohl n)  der  Feuerdämon  Loki. 

Die  Versuchung,  aus  Myrkwid ,  »Dunkelwald« ,  das  Müspells 
Söhne 12)  durchreiten,  etwas  für  Müspell  und  Surt  zu  gewinnen,  muß  man 
wohl  aufgeben.  Detter  und  Heinzel 13)  denken  an  den  deutschen  Schwarz- 
wald; aber  andere  Stellen14)  lassen  wohl  kaum  Zweifel  übrig,  daß  mit 
dem  Fliegen ,   Reiten ,  Senden  durch  den  dunkeln  Tann  lediglich  ein  un- 


1)  Lok.  Str.  42. 

2)  Ebd.;  Gylf.  cap.  13:  Gering  S.  307,  cap.  37  ebd.  S.  329,  cap.  43  S.  333, 
cap.  51  S.  349. 

3)  Gylf  cap.  4:  Gering  S.  300,  cap.  5  S.  301,  cap.  8  S.  303,  cap.  11  S.  305. 

4)  Gylf.  a.  a.  O.  cap.  8  und  11. 

5)Heinzel-Detter    (Edda   2,   66)    möchten   Muspell    und   Muspellheim 
trennen:  Muspell  wäre  eine  Person,  der  Herr  von  Muspellheim. 

6)  Str.  46  und  47;  vgl.  Gylf.  cap.  51:  Gering  S.  350. 

7)  Gering  z.  St.;  vgl.  Heinzel-Detter  2,  63. 

8)  Völ.  Str.  47. 
*)  Lok.  Str.  9. 

10)  Vgl.  Golther  a.  a.  O. 
•    n)  Vgl.  Heinzel-Detter  a.  a.  O. 

12)  Lok.  Str.  42. 

13)  S.  66. 

14)  Vkv.  Str.  1;  Helg.  Hund.  1,  52;  vgl.  Oddr.  Str.  23. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  357 

bestimmter  dunkler  Weg  gemeint  ist.  Wie  gern  brächte  man  sonst  den 
Dunkelwald  mit  dem  Eisenwald  der  Alten1)  zusammen2)! 

Surt,  ein  speziell  isländischer  Dämon  des  verderblichen  Erdfeuers,  mag 
wohl  der  ursprüngliche  Heerführer  der  götterfeindlichen 
Scharen  gewesen  sein,  als  man  in  Island  die  Legende  vom  Ragnarök 
ausbildete;  daher  nahm3)  dort  die  Schilderung  des  Weltbrandes  den 
Charakter  eines  vulkanischen  Ausbruchs  an,  wogegen  Loki  gemeinnordisch 
ihr  Leiter  ward4).  Und  so  stehen  diese  beiden  noch  jetzt  mit  unklaren 
Kompetenzen  nebeneinander.  Daß  Surt  den  Frey  erschlägt5),  hat  schwer- 
lich besondere  Bedeutung. 

Der  letzte  Gegengott  ist  Hrym.  Die  Versedda  nennt  ihn  nur  einmal6): 
Von  Osten  fährt  Hrym,  im  Arm  den  Schild, 

Snorri 7)  schließt  aus  dem  Schlußvers  dieser  Strophe  noch,  daß  Hrym 
das  Schiff  Naglfär  steuert;  sonst  wird  er8)  nur  beiläufig  noch  einmal  er- 
wähnt. —  Meyer9)  bringt  Hrym  als  den  Totenschiffer  mit  Charon  zu- 
sammen; es  ist  aber  nicht  einmal  sicher,  ob  das  Totenschiff  Naglfär10)  ihm 
von  vornherein  gehört.  Der  Name  (»erschöpft,  kraftlos«?)11)  hilft  nicht 
weiter.  Der  Name  klingt  alt.  Ob  bei  Hryms  Schild  an  den  Sonnen- 
schild12) zu  denken  ist,  den  er  geraubt  hätte? 

Summa:  er  ist  noch  irgendein  alter  Dämon,  der  beim  Generalappell 
der  Weltzerstörer  mit  aufgeboten  wird13).  — 

Der  Windgott  Hraesvelg14)  ist  schwerlich  mit  Gering15)  als  Teil- 
nehmer der  teuflischen  Scharen  anzusehen ;  mit  Heinzel-Detter 16)  wird  man 
an  der  Stelle  der  Völuspä  einfach  an  den  Adler  des  Schlachtfelds  denken 
müssen,  der  die  Leichen  verzehrt,  gerade  wie  der  Sonnenwolf,  weil  er 
eben  Wolf  ist,  sich  vom  Fleisch  gefallener  Männer17)  nährt.  -  Es  sind 
auch  so  schon  der  Gegengötter  genug18). 

§  19.    Eddische  Nebengötter. 

Eine  Reihe  von  Göttergestalten  gehören  noch  zu  dem  offiziellen  Kreis 
der  »großen  Götter«,  ohne  doch  in  Kult  oder  Mythus  so  stark  wie  Odin, 


*)  Vgl.  Müllenhoff,  D.  Alt.  5,  122. 

*)  So  auch  in  der  Saga:  Hervararsaga;  vgl.  j.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  39. 

3)  Philipott  S.  24. 

4)  Über  Surts  isländischen  Ursprung  vgl.  Philipott  S.  27. 

5)  Gylt  cap.  51:  Gering  S.  349.  6)  Vol.  Str.  50. 
7)  Gylf.  cap.  51:  Gering  S.  348.  8)  Ebd.  S.  349. 
9)  S.  469.           10)  Golther  S.  534  Anm. 

")  Gering  S.  12.  12)  Grim.  Str.  38. 

13)  Müllenhoff  (D.Alt.  5,  149)  hält  ihn  für  eine  neue  Erfindung. 

14)  Siehe  o.  S.  99.  15)  Zu  Vol.  Str.  50. 
16)  Edda  2,  65.           17)  Vol.  Str.  4L 

18)  Vgl.  über  Ragnarök  überhaupt  u. 


358  Viertes  Kapitel. 

Thor,  Tyr,  Frey,  Njord,  Frigg,  Freyja  hervorzutreten,  obwohl  ihre  Bedeutung 
gelegentlich  schon  an  die  Balders  streift.  Einige  sind  auch  ganz  unter- 
geordneter Natur,  wenigstens  nach  unseren  Quellen. 

Heimdali. 

H e i m d a  1 1 x)  ist  lediglich  nordisch2)  und  sogar  nur  norwegisch- 
isländisch3).  Er  scheint  jung;  sein  Name4)  ist  singulär,  ein  Kult  nicht 
belegt.  Eine  Aristie  des  später  beliebten  Gottes,  »Heimdallargaldr«  (von 
Snorri  auch  in  den  Skäldsk.  erwähnt)  ist  bis  auf  zwei  Verse5)  verloren. 
Außerdem  nennt  der  Skald  Ulf  Uggvason  ihn  in  seiner  Hüsdrapa6).  — 
Von  Eddaliedern  nennen  ihn  Völuspä,  Thrymskvida7),  Lokasenna8),  Grimnis- 
mäl 9)  und  nach  der  herrschenden  Ansicht  (die  auch  die  eddische  Hypothesis 
ausdrückt)  die  Rigsthula.  Ohne  ihn  zu  nennen,  schildert  ihn  die  in  die 
Hyndluljöd  eingelegte  kleine  Völuspä 10),  die  die  neun  Mütter  aufzählt 
und  von  Heimdalls  Jugend  mystisch  berichtet.  Allerdings  ist  diese  Quelle 
nicht  einwandsfrei :  die  Angaben  über  die  Nahrung  des  jungen  Gottes11) 
berühren  sich  verdächtig  mit  dem  Zaubertrank  der  Grimhild12),  und  da 
beide  Gedichte  etwa  gleichzeitig  sind  13),  so  liegt  der  Gedanke  einer  Ent- 
lehnung nahe,  die  dann  wohl  für  die  Priorität  des  Zaubergemisches14) 
spricht.  Aber  die  anderen  Strophen  lassen  noch  genug  übrig;  zumal 
wenn  man  sie  durch  die  Rigsthula15)  ergänzt. 

Der  Name16)  steht  unter  den  eddischen  Götternamen  insofern  isoliert, 
als  er  ein  durchsichtiges  Kompositum  ist:  »über  die  Welt  leuchtend«  oder 
»über  die  Welt  gefeiert«  (zu  angelsächsisch  deall,  stols,  berühmt)  17)  oder 
»der  hell  Leuchtende«  18).  Daneben  aber  steht  das  einfache,  aber  vielleicht 
entlehnte  Appellativum  Rig  »der  König«  19). 

Sein  Wesen  ist  mannigfaltig  gedeutet  worden.  Daß  er  eine  Art 
Lichtgott    ist,    wird    schon    wegen    seines    Namens    kaum    bezweifelt20). 


*)  Uhland,  Sehr.  6,  14;  Müllenhoff,  H.  Z.  30,  245;  Mogk  S.  317.  352. 
379;  GoltherS  359;  Meyer  S.  408;  Much  S.  357;  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  6; 
R.  M.  Meyer,  Ark.  f.  nord.  Fil.  23,  250. 

2)  Meyer  S.  42. 

3)  Ebd.  S.  408;  Mogk  S.  317.  *)  Siehe  u. 

5)  Gylf.  cap.  27:  Gering  S.  321. 

6)  Zwischen  975  und  980  (Golther  S.  359). 

7)  Str.  14.  8)  Str.  47—48.  9)  Str.  13:  Heim. 

10j  Hyndl.  Str.  36f.  ")  Hyndl.  Str.  39.  12)  Gud.  2,  22. 

13)  Gegen  950:  Hyndl.  Jönsson  S.  202,  Gud.  2:  ebd.  S.  297. 
u)  Golther  S.  362  Anm.  2. 
15)  Siehe  u.  16)  Golther  S.  360. 

17)  Wie  in  Mardöll;  Bugge. 

18)  Kögel,  I.  F.  5,  313.  10)  Mogk  S.  318. 

'20)  Nur  v.  d.  Leyen  (Sagenbuch  S.  221)  schreibt  ihm  elfischen  Ursprung  zu 
wie  mir  scheint,  durchaus  gewaltsam. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  359 

Außerdem  haben  wir  als  Anhaltspunkte  die  Mythen  und  Snorris  Auf- 
fassung 1). 

Bei  Snorri  stammen  aus  der  Völ.2)  das  Hörn  Heimdalls  (mit  dem  wohl- 
feilen Namen  Gjallarhorn  »das  gellende  Hörn«);  aus  der  Lok.  der  Wächter 
der  Götter;  aus  Grim.  die  Burg  des  Gottes.  Daß  er  der  hellste  Ase  heißt 
und  zukunftskundig  ist3),  hat  Snorri  hier  nicht  benutzt.  Zitiert  werden 
die  Grim.  und  der  für  die  neun  jungfräulichen  Mütter  maßgebende  Heim- 
dallargaldr4).  —  Von  sonst  unbelegten  Angaben  bringt  Snorri  in  der 
Gesamtcharakteristik  Heimdalls 5)  zwei  weitere  Namen  des  Gottes :  Hallin- 
ski'di,  »der  gebogene  Schlittschuhe  trägt «,  und  Gtillintanni,  Goldzahn«; 
den  Namen  seines  Rosses  Gulltopp,  »mit  goldenem  Stirnhaar«0)  und  die 
Lokalisierung  von  Heimdalls  Burg  bei  der  Brücke  Bifröst7).  —  Sodann 
Einzelzüge  aus  dem  Bild  des  Wächters :  er  sitzt  am  Rand  des  Himmels  — 
er  sieht  und  hört  mit  märchenhafter  Schärfe. 

An  anderer  Stelle  berichtet  Snorri:  Heimdall  reitet  auf  Gulltopp  zu 
Balders  Begräbnis8)  —  ebenso  bei  Ulf  Uggvason.  —  Beim  Ragnarök  töten 
sich  Heimdall  und  Loki9).  Dies  geht  bei  der  Aufteilungstendenz  der 
guten  und  bösen  Mächte  wohl  aus  der  besonderen  Feindschaft  zwischen 
dem  Unheilstifter  und  dem  Wächter10)  hervor. 

Der  Mythus  gibt  folgende  Hauptzüge:  1.  Wunderbare  Geburt.  Dieser 
—  in  der  germanischen  Mythologie  bei  Urwesen  häufige,  bei  Göttern 
singulare  —  Zug  scheint  besonders  Lichtgottheiten  eigentümlich:  Athene11), 
Dionysos12),  Indra13).  2.  Besondere  Angaben  über  die  Erziehung.  Auch 
diese  ieignen  vorzugsweise  atmosphärischen  hellen  Gottheiten:  Zeus14), 
wieder  Dionysos15).  Beide  Züge  scheinen  also  auf  einen  Gott  des  Lichts 
oder  der  Helligkeit  zu  deuten:  das  immer  neue  Rätsel,  wie  aus  dem 
Dunkel  Licht  wird  und  sich  die  Schöpfung  gleichsam  täglich  wiederholt, 
reizt  zu  solchen  Mythen,   die   etwa    rein  terrestrischen  oder  chthonischen 

*)  Gylf.  cap.  27:  Gering  S.  320. 

2)  Str.  27.  46.  3)  Thrymskv.  Str.  14. 

4)  Vgl.  allgemein  Golther  S.  361. 

Fj)  a.  a.  O. 

6)  Aus  Grim.  Str.  30,  wo  die  Götterrosse  aber  nicht  verteilt  sind. 

')  Aus  Grim.  Str.  44. 

8)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  345. 

9)  Gylf.  cap.  51:  Gering  S.  350. 

10)  Kampf  um  Brisingamen;  siehe  o.  S.  215f. 
n)  Preller  1,  188;  vgl.  190. 

12)  Ebd.  661. 

13)  Ähnlich  wie  Dionysos:  durch  die  Seite,  allerdings  der  Mutter  (Mac- 
donell  S.  56).    Sekundär  dagegen  bei  Mars:  Wissowa  S.  134. 

u)  Preller  1,  133. 

T5)  Ebd.  1,  662.  —  Von  Apollon,  Hermes,  Herakles  wird  wohl  aus  der 
Jugend,  nicht  aber  von  Ernährung  und  Aufziehen  berichtet. 


360  Viertes  Kapitel. 

Gottheiten  oder  »Berufsgöttern«  *)  mangeln.  3.  Das  Amt  als  himmlischer 
Wächter.  Auch  dies  kann  nur  einem  mit  Himmel  und  Helligkeit  ver- 
bundenen Gott  gehören;  so  ist  Varuna,  der  indische  Himmelsgott,  von 
seinen  Spähern  umgeben2),  so  ist  Helios  »der  allgemeine  Späher  der 
Menschen  und  Götter,  vor  dem  nichts  verborgen  bleibt«3). 

Soweit  hätten  wir  also  nur  einen  am  Himmel  wohnenden  Lichtgott, 
Aber  Himmels-  oder  Lichtgötter  sind  Tyr  und  Balder  auch.  Was  unter- 
scheidet Heimdall  von  anderen  Helligkeitsgöttern? 

Er  wird  mit  der  Entstehung  der  Stände  in  mittelbare  Beziehung  ge- 
bracht (Rfgsthula)  —  denn  daß  das  Gedicht  von  der  Bildung  der  Kasten 
wirklich  ihm  gehört,  wird  meines  Erachtens  schon  durch  den  Parallelismus 
der  kleinen  Völuspä  unzweifelhaft.  Wie  von  Odin,  dem  Pflegevater  junger 
Fürsten  4),  berichtet  wird,  wie  er  zum  Machthaber  ward  (in  der  Erzählung 
von  der  Runenfindung),  so  wird  von  Heimdall-Rfg,  dem  Stammvater  der 
Stände  —  »der  allen  Geschlechtern  vereint  durch  Verwandtschaft5)  — 
erzählt,  wie  er  selbst  aufwuchs  und,  gleich  dem  Konungr,  zum  mächtigen 
Herrn  ward. 

Hiernach  können  wir  zu  einer  näheren  Bestimmung  Heimdalls  kommen. 
Uhland 6)  faßt  ihn  allgemein  als  den  Gott,  dem  die  Frühe  und  der  Anfang 
gehört  —  und  so  stände  er  denn  zu  seinem  Gegner  Loki,  dem  »Schließer«, 
in  natürlichstem  Gegensatz7).  Aber  eine  so  abstrakte  Konzeption  ist  mit 
den  individuellen  Zügen  des  Bildes  schwer  in  Einklang  zu  bringen ;  auch 
stimmt  die  dauernde  Funktion  des  Wächters  nicht  recht  zu  der  des  bloßen 
Anfangverkünders.  —  Nach  Müllenhoff8)  wäre  er  eher  der  Gott  der 
Morgenröte,  vielleicht  sogar  des  Regenbogens  (an  dem  seine  Burg  steht). 
Aber  seine  Beziehungen  zu  den  Menschen  werden  so  stark  betont!  an 
der  feierlichsten  Stelle  der  Edda9)  heißen  die  nach  Ständen  geordneten 
Menschen  Heimdalls  Kinder!  Er  ist  ein  »Menschengott«  wie  Frey;  was 
aber   hat10)   der  Gott  der  Frühe  mit  der  Schöpfung  der  Stände  zu  tun? 

Gewöhnlich  bezeichnet  man  ihn  als  den  Gott  des  anbrechenden 
Tages.  Er  hat  neun  Schwestern  zur  Mutter  (sonderbare  Geburtsverhältnisse 
bilden  seine  Spezialität).     Ihre  Namen  n)  helfen   uns  nur  insofern  weiter, 


x)  Wie  Mars  (Wissowa  S.   130):    von   Anfang  an   Kriegsgott;    oder  Frigg 
Göttin  der  Frauen. 

2)  Macdonell  S.  23. 

3)  Prell  er  1,  433;   »die  Sonne  bringt  es  an  den  Tag«. 

4)  Siehe  o.  S.  254.  r»)  Hyndl.  Str.  40. 

6)  Sehr.  1,  64. 

7)  Müllenhoff,  H.  Z.  30,  229;  Mogk  S.  318. 

8)  Vgl.  Golther  S.  366. 

9)  Vol.  Str.  1. 

10)  Trotz  Mogks  gekünstelter  Verbindung  S.  319. 
n)  Hyndl.  Str.  38. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  35  j 

als  sie  zeigen ,  daß  auch  der  Nomenciator  die  neun  Schwestern x)  für 
Wellen  hielt.  Übrigens  ist  es  gewiß  kein  Zufall,  daß  unter  diesen  neun 
Namen  vier  auch  sonst  vorkommen:  Gjalp,  auch  Geirröds  Tochter2), 
Greip  ebenso3),  Imd  als  Mutter  des  (gleich  Loki)  zum  Weib  verwandelten 
Gudmund  4),  Järnsaxa  5)  als  Gattin  Thors  und  Magnis  Mutter.  Nun  haben 
Ran  und  Ägir  neun  Töchter6);  die  Übereinstimmung  ist  verführerisch. 
Daß  deren  Namen  zu  Hyndl. 7)  nicht  stimmen8),  hat  nichts  zu  sagen,  da 
hier  wie  dort  nachträglich  getauft  ist.  Somit  wäre  also  Heimdall  »der 
am  Himmelsrand  übers  Meer  aufleuchtende  Tag« 9),  von  den  Meereswogen 
am  Rand  der  Erde  (wo  auch  der  Regenbogen  aufsteht)  geboren.  Das 
würde  auch  gut  zu  dem  isländischen  Ursprung  des  Gottes  stimmen:  für 
Ost-  oder  Südisland  taucht  der  Tag  wirklich  aus  den  Meereswogen  auf10); 
doch  ist  die  rein  mythische  Vorstellung  auch  anderswo  denkbar.  Und 
wenn  man  die  neun  Schwestern  als  Wolken  faßt11),  wäre  auch  diese 
Vorstellung  mit  der  des  jungen  Tages  vereinbar.  Besser  bleibt  man  doch 
bei  der  der  Wogenmädchen,  schon  wegen  der  Zahl :  die  dritte  Welle  gilt 
überall   als   die  stärkste,   so  daß  die  Neunzahl  besonders  motiviert  ist12). 

Aber  der  Gott  des  jungen  Tages  ist  immer  noch  zu  wenig  Wächter 
und  Herr  der  Stände ;  deshalb  möchte  ich  seine  Funktion  genauer  als  die 
des  hellen  Tages  nuancieren. 

Hierzu  stimmt  alles  vortrefflich.  Er  ist  der  weiseste,  hellste  der  Äsen ; 
sein  Roß  hat  goldene  Stirnhaare:  der  goldene  Glanz  des  aufleuchtenden 
Tages,  wie  ihn  die  antike  Skulptur  an  Helios  symbolisiert;  er  selbst  hat 
goldene  Zähne,  wie  Eos  Rosenfinger  hat.  Die  ganze  Gestalt  ist  auf  den 
Begriff  der  Helligkeit  gestellt:  weiße  Farbe;  Ton  des  Horns;  »helles 
aufgeweckte,  weise  Art;  strahlende,  goldene  Attribute.  Auch  die  Ent- 
wicklung der  Gestalt  stimmt  hierzu: 

In  seiner  Entwicklung  ist  Heimdall  also  zunächst  ein  Himmels- 
,£ott  —  vielleicht,  wie  man  in  der  Regel  annimmt13),  eine  Emanation 
Tyrs;  freilich  müßte  er  älter  sein,  als  wahrscheinlich  ist,  weil  von  dem 
Kriegsgott  kein  Taggott  mehr  emanieren  konnte.  Ich  halte  ihn  eher  für 
eine  jüngere  Schöpfung.    Denn  für  die  späteren  Götter  ist  es  bezeichnend, 


1)  »Die  Brausende«,   »die  Umkrallende«,     die  rasch  Dahinstürmende«,  die 
kalt  ist  wie  ein  eisernes  Messer«:  Gering  S.  124  Anm.  5. 

2)  Skäldsk.  cap.  2:   Gering  S.  363. 

3)  Ebd.  4)  Helg.  Hund.  1,  44. 
5)  Siehe  o.  S.  305.  6)  Golther  S.  478 f. 
7)  Str.  38.             8)  Heinzel-Detter  2,  630. 
9)  Golther  S.  363,  Meyer  S.  408. 

10)  Golther  a.  a.  a.  O.  u)  R.  M.  Meyer  S.  252. 

12)  Früh  verdunkelt  ist  auch  der  indische  (oder  vielmehr  indoiranische)  Gott 
les  Tagesanbruchs,  Vivasvant  (Macdonell  S.  43). 
*)  Z.  B.  Mogk,  Sammlung  Göschen  15,  76. 


131 


362  Viertes  Kapitel. 

daß  sie  mit  den  Einzelerscheinungen  des  menschlichen  Lebens  enger  befaßl 
sind  als  die  älteren  (Was,  beiläufig  bemerkt,  für  Balders  Ursprünglichkeil 
zeugt). 

Der  Tagesgott  ist  also  nicht  ein  abstrakter  »Herr  der  Helligkeit«  — 
wie  die  griechische  Hemera1),  die  deshalb  auch  ihr  Pendant  Nyx  neben 
sich  hat  — :,  sondern  der  lebensvolle  Vertreter  des  hellen,  erfüllten  Tages 
Als  solcher  erhält  er,  er  allein  unter  den  Äsen,  eine  durchaus  menschliche 
Funktion,  eine  wirkliche  Beamtenstellung;  er  wird  Wächter  der  Götter, 
worüber  der  boshafte  Loki  wohl  spotten  mag.  —  Es  ist  nicht  undenkbar 
daß  hier  eine  Verschmelzung  stattgefunden  hat.  Wir  finden  vielfach 
irdische  Wächtergottheiten:  Pushan,  an  der  Grenze  von  Himmel  und 
Erde  geboren,  überwacht  die  irdischen  Wege2);  Janus,  ebenfalls  als  »Gott 
des  Anfangs«  bezeichnet,  ist  ursprünglich  der  Gott  der  Türen  und  Grenz 
wege8);  auch  an  unsere  Syn4)  ist  zu  erinnern.  Diese  Funktion,  an  der 
Grenze  menschlicher  Gebiete  zu  wachen,  die  bei  den  Römern  noch  in 
der  Kaiserzeit  aus  dem  Fest  der  Terminalia  einen  Gott  Terminus,  Schutz- 
herrn der  Grenzsteine,  erwecken  ließ5),  wird  nun  in  den  Himmel  proji 
ziert;  und  ebenso  erhält  die  Unterwelt  in  Eggther6)  und  das  Totenreich 
in  Mödgud7)  analoge  Wächtergottheiten.  So  könnte  sich  mit  dem  hellen 
Tagesgott  ein  irdischer  Grenzgott  vereint  haben.  Dies  Bild  des  Himmels- 
wächters wird  nun  in  doppeltem  Sinn  ausgeführt:  einerseits  heroisch, 
anderseits  märchenhaft. 

Die  märchenhaften  Züge  hat  schon  J.  Grimm8)  hervorgehoben:  er 
bedarf  weniger  Schlaf  als  ein  Vogel  —  weil  er  eben  der  wache  Tag 
selbst  ist;  er  sieht  bei  Nacht  so  gut  wie  bei  Tag,  hört  das  Gras  wachsen 
Züge,  aus  der  Übertreibung  des  Wachens«  herausgesponnen  oder  an 
Märchenmotive  angelehnt. 

Weniger  hat  man  auch  hier  die  (bei  einer  relativ  jungen  Gottheit  fast 
unvermeidlichen)   Einwirkungen    der  heroischen  Sage   und  Dichtung  be- 
achtet.   Zwar  die  Analogie  mit  Wächtern  und  Markgrafen  der  Heldensag 
hat   man    hervorgehoben   und    in   dem  Eckewart   der  Nibelungenot  eine 
mythischen  Niederschlag  vermutet9).    Aber  der  »Markwart  des  Himmels  10| 
ist  umgekehrt  selbst  diesen  Wächtern  angeglichen,  die  im  Beowulf J1),  i 
Nibelungenlied12),  ja  auch    in   der  heroischen  Lyrik  des  Tageliedes  ihr 
unentbehrliche  Stellung  haben.    (Und  Eckewart  schläft  ja  gerade  an  der 
Grenze,    während    Heimdall    nie    schläft!)     Irdische    Heere    und    Burgen 


= 


*)  Preller  1,  37.  39.  440. 

2)  Macdonell  S.  35.  :{)  Vgl.  Wissowa  S.  96. 

4)  Siehe  o.  S.  276.  5)  Wissowa  S.  125. 

6)  Siehe  u.  7)  Golther  S.  371.  8)  Myth.  1,  193. 

9)  Mogk  S.  318.  10)  Golther  S.  360. 

")  v.  668f.  12)  v.  279,  6. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  353 

brauchen  einen  Wächter,  und  die  epische  Technik  braucht  eine  Ankündigung 
des  heranrückenden  Feindes;  Götter  können  auch  so  auskommen.  So 
ist  Heimdali  nach  dem  Modell  der  Hagen  und  Hildebrand  stilisiert,  wenn 
er1)  trotz  seiner  »Frische«  der  alte,  wackere,  weise  Ase  heißt;  von  hier 
stammt  sein  Hörn  (wie  die  Posaune  der  Engel  vor  dem  Jüngsten  Gericht 
von  hier  stammt)  und  sein  Amt  vor  dem  Beginn  des  Götterkampfes;  von 
hier  stammt  seine,  freilich  auch  mythologisch  deutbare,  Pflicht,  täglich  die 
Wache  an  der  Grenze  zu  beziehen.  Auch  bei  dem  Kampf  um  Freyjas 
Geschmeide2)  ist  er  mehr  der  schlaue  Götterpolizist  als  der  mit  dem 
dunklen  Dämon  ringende  Tagesgott. 

Der  Wächter  am  Himmel  wird  durch  eine  sehr  naheliegende  Aus- 
dehnung seines  Amtes  zum  Aufseher  der  menschlichen  Tätig- 
keit. Er  wird  für  die  in  ein  Zeitalter  der  Arbeitsteilung  tretende  Ge- 
meinde der  »Gott  aller  Tätigkeiten«  (wie  Goethe3)  Viktoria  die  »Göttin 
aller  Tätigkeiten«  nennt). 

Solche  Arbeitsgötter  entstehen  vielfach  in  einem  bestimmten  Stadium 
der  Kultur.  Götter  der  menschlichen  Gesellschaft  wie  Mitra,  der  »die 
Menschen  zusammenbringt«4);  Götter  der  Tätigkeit  wie  Savitri5),  von 
dem  es  im  Gebet  heißt*): 

Es  streckt  der  Gott  die  breite  Hand,  die  Arme 
Dort  oben  aus  —  und  alles  hier  gehorcht  ihm  — 

gerade  wie  Heimdalls  Hörn  über  alle  Welt  gehört  wird.  Auch  Savitri 
besitzt  das  Attribut  des  Goldglanzes:  er  hat  goldene  Arme7).  Und  wie 
nahe  sich  die  Funktionen  von  Licht-  und  Tätigkeitsgott  stehen,  wird  hier 
deutlich :  auf  Savitar  sind  Attribute  des  Sonnengottes  übertragen  worden 8), 
wie  man  umgekehrt  Fleimdall  von  Tyr  abgeleitet  hat.  Dabei  sind  Savitar 
me  Heimdall  junge  Götter,  was  bei  beiden  auch  die  zu  deutlich  klassifi- 
zierenden Namen  sagen9).  Es  kann  sich  also  nicht  etwa  um  Verwandt- 
schaft handeln,  nur  eben  um  Analogie10). 

Der  Aufseher  der  Tätigkeit  wird  zum  Ordner  der  »Gesellschaft«,  der 
edem  seinen  Platz  anweist:  zum  Patron  der  ständischen  Gliede- 
rung. Daß  Heimdall  dies  ist,  beweist  die  Eröffnung  der  Vol.,  wo  die 
Menschen  »die  heiligen  Geschlechter«  heißen,  weil  von  Heimdall-Rig  er- 


*)  Rig.  Str.  1. 

2)  Siehe  o.  S.  221;  Golther  S.  415,  Meyer  S.  409,  Mogk  S.  319. 

3)  Faust  2,  5455.  *)  Macdonell  S.  29. 
8)  Der  auch  mit  Mitra  identifiziert  wird,  ebd. 

6)  Geldner  und  Kaegi,  70  Lieder  des  Rigveda,  S.  46. 

7)  Kaegi,  Der  Rigveda,  S.  70. 

8)  Oldenberg,  Religion  des  Veda,  S.  64. 

9)  Savitar  »der  Antreiber«,  Macdonell  S.  34. 

10)  R.  M.  Meyer  a.  a.  O.  S.  253. 


364  Viertes  Kapitel. 

zeugt,  und  Heimdalls  Kinder,  die  hohen  und  niederen,  weil  von  ihrr 
gegliedert1);  beweist  auch2)  der  Parallelismus  zwischen  Heimdalls  Er 
Ziehung3)  und  der,  die  er  seinen  Kindern  gibt.  Gewiß  mit  Recht  hr 
deshalb  Meißner4)  die  Ansicht  Mogks  bestritten,  Rfg  sei  nicht  Heimdah. 
sondern  Odin.  Dieser  wehrt  ja5)  hochmütig  alle  Beziehungen  zu  der 
Knechten  ab! 

Als  Rig   also6)   stiftet  er  die  Ordnungen  der  Menschen:   die  Primo 
genitur  der  Jarle  usw. 7) ;  und  wieder  aus  den  Jarlen  geht  als  ihre  höchste 
Blüte  der  König  hervor  (kuning,  konungr  mit  patronymischem  Suffix' 
der  Sohn  des  Geschlechtes«,  wie  etwa  »phennic,   der  Sohn  der  Mün 
pfanne«).     Auf   die  Tendenz   der  Verherrlichung  des  Königtums  ist,   wi 
zuletzt  Niedner  schön  gezeigt  hat,  das  ganze  Gedicht  gestellt,  so  daß  mar 
es  danach  in  die  Zeit  des  Harald  Härfagr8)  ansetzen  kann9).    Der  Koni 
wird   zum    irdischen  Abbild  des  Gottes:   der  weise  Wächter,   der  Patro 
aller  Stände,  der  Antreiber. 

Die  Paradoxie,  daß  die  erst  zu  stiftenden  Stände  doch  schon  von  Ri£ 
angetroffen  werden,  hat  nicht  viel  zu  sagen :  erst  der  Gott  macht  aus  dei 
(gleichsam  zufälligen)  Urpaaren  die  fruchtbaren  und  sich  mehrenden,  di 
Welt   sich    unterwerfenden    Klassen.     Seine    mystische    Beiwohnung   gi1 
ihnen  dazu  Kraft  und  Samen,  wie  die  Dreiheit 10)  den  Urmenschen  Ateti 
Seele  und   Lebenswärme  verleiht.     Ist  doch   fast   in   allen   alten  Kosmo 
genien   die  »Schöpfung«  nur  eine  Beseelung  schon  vorhandener  Materie 
Das    zweite   Mal   wird   Rfg  zum   gütigen   Vater  des   Königs,    indem    ei 
ihm n)   den   eigenen  Namen   verleiht  (auch   der  König   heißt  ja  »Haupt 
ling« ,   vgl.  unten)   und   ihm   seinen  Geist  einhaucht 12).     Ähnlich   erzähl 
auch  ein  vedisches  Gedicht  den  Ursprung  der  Kasten,  und  1.  Mos.  4,  20 — 22 
nennt  die  Stammväter  der  Viehzüchter,  Spielleute  und  Schmiede. 

Diese  Stellung  zum  Königtum  mag  zu  seiner  besonderen  Verehrung 
führen,  wie  sie13)  die  in  das  genealogische  Kataloggedicht  eingelegte 
kleine  Völuspä 14)  ausdrückt  —  so  stark,  daß  der  Aufzeichner 15)  durch  einer 
Hinweis  auf  Christus  seinen  Ruhm  glaubte  einschränken  zu  müssen. 


e 


!)  Vgl   Heinzel-Detter  2,  1. 

-)  Siehe  o.  S.  358.  3)  Völ.  h.  sk.  im  Hyndl. 

*)  Jahrb.  f.  germ.  Phil.  26,  27. 

5)  Härb.  Str.  24.  6)  Rig.  passim. 

7)  Mogk  S.  319,  Golther  S.  355,  Meyer  S.  409. 

8)  890—920:  Jönsson  1,  186.  193. 

9)  Über  die  Einführung  von  »konungr«  vgl.  H  eu  sl  e  r,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  223 
10)  Völ.  Str.  18.  X1)  Rig.  Str.  36. 

12)  R.  M.  Meyer  a.  a.  O.  S.  255. 

13)  Hyndl.  Str.  39.  40.    Vgl.  über  Helios  als  spezifischen  »Imperatorengott< 
Wundt  2,  3,  412. 

u)  Str.  45.  15)  Heinzel-Detter  2,  632. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  355 

i  Gegen  die  Altertümlichkeit  der  Rigsthula  hat  allerdings  Heusler1)  höchst 
beachtenswerte  Bedenken  geäußert,  die  Neckel2)  mit  formellen  Erwägungen 
^stützt  hat.  Heusler  will  »das  mit  Rig  verbundene  Versvokabular « a)  als  ge- 
phrtes  isländisches  »Carmen  phüosophicum« 4)  ins  13.  Jahrhundert  setzen.  Mir 
wieder  scheint  dieser  einfache  Stil,  diese  Formelhaftigkeit  von  altepischem  Ge- 
3räge,  diese  Naivität  der  Voraussetzungen  für  so  späte  Zeit  schwer  glaublich, 
hiätte  ein  Grübler  jenes  mythologische  Paradoxon  geschaffen  und  nicht  vielmehr 
eden  Stand  aus  der  Verbindung  des  Gottes  mit  einem  weiblichen  Wesen  hervor- 
gehen lassen  ?  Ist  wirklich  die  Zuspitzung  auf  das  Königtum  von  Gottes  Gnaden 
iiner  Zeit  zuzutrauen,  der  der  konungr  etwas  Selbstverständliches  war?  —  Die 
Schwierigkeiten,  dieHeuslers  Scharfsinn  aufdeckt,  sind  beträchtlich:  zahlreiche 
remdworte;  gewisse  Momente  in  der  ständischen  Gliederung  selbst;  vor  allem 
ifie  Namenhaufen,  die  mit  ihrer  appellativischen  Durchsichtigkeit  nicht  alt  sein 
rönnen.  Aber  die  Fremdwörter  können  dem  Versuch  realistisch  eingehender 
Schilderung  entstammen:  man  benannte  Gebrauchsgegenstände  wohl  auch  da- 
nals  (wie  stets)  gern  mit  solchen  Ausdrücken,  wie  wir  unsere  »Möbel«,  während 
lie  Poesie  sie  vermeidet;  die  Vereinfachung  (und  Zuspitzung)  der  sozialen 
Scheidung  gibt  Heusler5)  selbst  zu;  und  die  Namenhaufen  brauchen  dem  später 
lach  ihnen  benannten  Gedicht  so  wenig  von  Anfang  an  gehört  zu  haben  wie 
[nanche  in  der  Völuspä.  Allerdings  will  ich  gerade  diesen  Einwand  damit  nicht 
ür  erledigt  halten;  auch  Dan  und  Danpr6)  sind  ein  Stein  im  Wege. 

Daß  übrigens  schematische  Charakteristik  der  Standestätigkeit  alt  ist,  be- 
weist die  sicher  alte  Strophe  Helg.  Hund.  2,  38,  die  dem  Hunding  den  Knechts- 
3eruf  zuweist;  wohl  auch  das  Bild  des  Knechts  in  Saxos  Starkather- Versen 7). 

Die  Hauptsache  bleibt  für  uns  hier,  daß  auch  Heusler8)  das  »mythologische 
Rätsel«  hereinragen  läßt.  Sollte  selbst  das  Gedicht  jung  sein  —  der  Mythus  ist 
2s  wohl  sicher  nicht  in  gleichem  Grade;  und  weder  der  zweite  Vers  der  Völuspä 
noch  die  Verse  über  Heimdalls  Aufwachsen  scheinen  mir  ohne  ihn  erklärlich. 

Olrik9)  erklärt  den  Mythus  für  entlehnt:  »der  Rig,  der  darin  auftritt,  ist  der 
uralte  Großkönig  (Rig — Mör)  der  Iren,  der  Gott  Dagde,  von  dem  die  drei  Stände 
jhren  Ursprung  haben  .  .  .  Die  doppelte  Vaterschaft  —  ein  irdischer  und  ein 
göttlicher  Vater  —  ist,  wie  andere  phantastische  Arten  der  Empfängnis,  ein 
üeblingsmotiv  im  irischen  Heldengedicht;  der  Wettkampf  im  Wissen  mit  dem 
jlazu  gehörenden  Namenwechsel  ist  so  recht  ein  Zug  aus  dem  wirklichen  Leben 
und  der  Sagenerklärung  der  Kelten.  Anderseits  ist  der  Menschenschlag  in  der 
Rigsthula  in  überraschender  Weise  rein  nordisch.«  Es  wäre  dann  also  auf 
Heimdall  —  der  übrigens  selbst  wunderbar  von  neun  Müttern  geboren  ist  — 
ein  irischer  Mythus  übertragen ;  daher  auch  die  irischen  Lehnworte l0).  Zwingend 
scheint  mir  die  Beweisführung  nicht;  und  jedenfalls  würde  die  Durchführung 
des  nordischen  Lokalkolorits  eine  ziemlich  frühe  Einwirkung  der  keltischen 
Legende  voraussetzen,  die  ja  bei  der  irischen  Benennung  des  Rig  gewiß  nicht 
absolut  abzulehnen  ist. 

1)  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  270 f. 

2)  Beitr.  zur  EdfJaforschung,  S.  104  f. 

3)  S.  272.  4)  P.  E.  Müller. 
r>)  S.  279.  6)  S.  273. 

7)  Hermann  S.  272.  363.  8)  S.  274. 

9)  Nordisches  Geistesleben  S.  85. 
,0)  Ebd.  S.  83. 


366  Viertes  Kapitel. 

Für  eine  Art  Geheimdienst  des  zum  Königsgott  gewordenen  Herrn 
der  Stände  spricht  die  geheimnisvolle  Art  der  Erwähnung  in  der  »kleinen 
Völuspä«  und  das  Pseudonym  des  Gottes  in  der  Rigsthula;  schon  die 
Geburt  von  den  neun  Riesentöchtern  am  Rand  des  Meeres  gab  dazu  einen 
stimmungsvollen  Akkord.  Diese  Geheimnistuerei  umgibt  auch  seine 
Attribute  und  anderen  Namen. 

Die  Bedeutung,  zu  der  dieser  Gott  aufwuchs  —  vermutlich  durch 
die  isländischen  Hofskalden  norwegischer  Könige  — ,  zeigt  sich  auch  in 
seinen  Attributen,  die  von  derselben  Art  sind  wie  solche  der  Haupt- 
götter. 

Das  älteste  Attribut  Heirndalls  dürfte  der  Widder  sein.  Heimdall 
und  Hallinskidi  heißt,  wie  der  Gott,  auch  der  Widder *),  d.  h.  der  Widder 
war  sein  Substitut  oder  vielmehr  wohl  das  alte  Sinnbild  des  Tagesgottes 
selbst,  oder  erst  des  Arbeitsgottes?  Der  Widder  hat  ja  auch  sonst  solche 
Bedeutung:  das  goldene  Vließ  symbolisiert  den  Reichtum,  wohl  wegen 
der  dichten  Wolle  des  Widders.  Nur  als  Ersatz  des  Widders  wird  das 
Roß  Gulltopp  anzusehen  sein,  das  die  goldenen  Haarstrahlen  des  Tages- 
gottes erbt. 

Wichtiger  ist  sein  Schwert.  Dieses  hieß  Höfud,  Haupt;  Snorri 
berichtet:  »Heirndalls  Schwert  heißt  Haupt.  So  ist  gesagt:  daß  er  von  einem 
Manneshaupt  durchbohrt  wurde.  Davon  wird  im  Heimdallargaldr  gesprochen 
und  seitdem  heißt  das  Haupt  »Heirndalls  Tod«,  da  ja  das  Schwert  des  Mannes 
Tod  ist« 2).  Dies  kann  nun  schwerlich  anders  erklärt  werden,  als  wie  es 
gewöhnlich  geschieht3):  Heimdall  fällt,  von  einem  Schwert  durchbohrt, 
das  »Haupt«  heißt;  und  zwar  war  das  sein  eigenes  Schwert  —  das  also 
dem  Loki  beim  Ragnarök  in  die  Hand  geraten  muß  (vgl.  den  Zweikampf 
zwischen  Hamlet  und  Laertes).  —  Denkbar  wäre  ja  auch,  daß  der  Zauber- 
gesang von  Heimdall  berichtet  hätte,  ein  zauberhaftes  Menschenhaupt  hätte 
ihn  getötet;  und  deshalb  wäre  der  Kopf  »Heirndalls  Schwert«  genannt 
worden  —  solche  Spiele  mit  dem  Namen  lieben  die  Skalden  allerdings4)  — , 
nämlich :  das  Schwert,  das  Heimdall  tötet.  Aber  die  übliche  Interpretation 
ist  doch  viel  ungezwungener,  und  sie  führt  auch  weiter. 

»Haupt«  wäre  ja  freilich  ein  Schwertname  von  altertümlicherer 
Prägung  als  die  meisten  Waffen-  und  Werkzeugnamen  der  Edda.  Dennoch 
bleibt  er  befremdend  und  singulär.  Aber  für  den  »Gott  des  Anfangs«, 
für  den  Tagesgott  wäre  »Haupt«  ein  sehr  geeigneter  Name,  der  nicht 
nur  dem  »Loki«  nach  Weinholds  Auffassung  entspräche,  sondern  auch 
andern   edlen,   alten    Götternamen    wie   Dyaus   »Glanz«,   Nerthus   »guter 

*)  Golther  S.  360,  1. 

aj  Vgl.  GoltherS.  364  Anm.;  zur  Stelle  selbst  Müllenhoff,  H.  Z.  30,  252f. 

3)  Golther  a.  a.  O.,  Meyer  S.  409. 

4)  Vgl.  Golther  S.  365. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  357 

Wille« l).  Das  wäre  dann  der  echte  alte  Name  des  Gottes,  ersetzt  durch 
ein  Kompositum  vom  Typus  Bäldäg  für  Balder  oder  —  übersetzt  mit 
dem  keltischen2)  Äquivalent  Rig3). 

Wie  aber  wäre  dieser  Obergang  zu  erklären? 

Wir  wiesen  schon  auf  eine  eigentümliche  Geheimniskrämerei  hin, 
die  den  Schutzgott  der  »Tyrannen«  zu  umgeben  scheint.  Undenkbar 
wäre  es  nicht,  daß  er  zu  den  Gottheiten  gehört  hätte,  deren  Namen  man 
nicht  auszusprechen  wagte  (wie  Jehova).  Deshalb  wurde  der  Name  »Haupt« 
ersetzt;  da  mögen  denn  »Gullintanni«,  »Goldzahn«  und  das  dunkle 
Hallinskidi 4)  wirklich  noch  andere  Euphemismen  gewesen  sein.  Oder 
man  wählte  das  Fremdwort;  war  ja  doch  bei  den  Kelten  die  Allein- 
herrschaft früher  und  strenger  ausgebildet  als  bei  den  Germanen. 

Nun  wird  der  »weise  Ase«  einmal  auch  »heimskastr  äsa«  ge- 
nannt5): der  törichtste,  unerfahrenste  der  Äsen.  Man  vermutet  Wortspiel 
mit  Heimdali;  aber  um  eines  Wortspiels  willen  konnte  der  weise  Gott 
nicht  dumm  genannt  werden.  Auch  die  Erklärung,  er  sei  »hetmskr«, 
weil  er  als  Wächter  immer  zu  Haus  sitzen  mußte6),  verkennt  die  Be- 
deutung des  Gottes,  der7)  sogar  die  Zukunft  so  gut  wie  die  Wanen  er- 
kennt8). Es  muß  einen  Mythus  gegeben  haben,  der  dies  Epitheton 
motiviert.  Vermutlich  gab  Heimdali  sich  durch  eigenen  Leichtsinn  in  den 
Tod;  wie  Frey  fällt,  weil  ihm  sein  Schwert  fehlt9),  hatte  er  das  seine  in 
Lokis  Hände  kommen  lassen.  Deshalb  hieß  es:  »»Höfud  ist  Höfuds 
Mörder«  10),  und  das  ward  dann  auf  sein  Schwert  gedeutet n). 

Jedenfalls  konnte  auch  Heimdall,  wie  Balder,  nur  durch  Eine  Waffe 
gefällt  werden,  die  wohl  gewiß  seine  eigene  war.  Das  »»Haupt«  aber 
wäre  durch  »mythische  Dittographie«  verdoppelt  worden,  wie  Mimir, 
das  Haupt  der  Quelle,  noch  sein  besonderes  abgetrenntes  Haupt  erhielt 12). 

Sein  Heim  ist  »Himinbjörg«.,  Himmelberg,  »»in  Norwegen  die  steil 
aber  das  Meeresufer  sich  erhebenden  Berge«13),   aus  denen  das  Frühlicht 


')  Vgl.  Golther  S.  219. 

2)  Oder  aus  byzantinisch  Rex  angepaßten:  Heinzel-Detter  2,  592. 

3)  Man  denke  auch  an  romanische  Wortentwicklungen  wie  italienisch  capo ; 
R.  M.  Meyer  S.  254. 

4)  Gylf.  cap.  27:  Gering  S.  320. 
B)  Vgl.  Golther  S.  363,  2. 

6)  Vgl.  Häv.  Str.  51.  7)  Thrymskv.  Str.  14. 

8)  Vgl.  Golther  S.  360,  1. 

9)  Lok.  Str.  42  =  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  351. 

10)  Wie  es  etwa  Häv.  Str.  73  heißt:   »die  Zunge  ist  der  Mörder  des  Hauptes  . 
u)  Anders,  wie  mir  scheint  künstlicher,  Müllenhoff;  vgl.  Golther  S.  365. 

12)  Mogk  (PBB.  7,  300)  hält  den  Kampf  mit  Loki  für  ein  Machwerk  Snorris, 
was  Kauffmann  (ebd.  18,  189)  billigt. 

13)  Mogk  S.  318. 


368  Viertes  Kapitel. 

kommt.  Dort  trinkt  er  vergnügt  seinen  Meth :  den  Morgentau *).  Aber 
Schloß  und  Trank  gehören  wohl  erst  dem  Dichter  der  Grim.  —  Eine 
sekundäre  Rolle,  die  des  klugen  Ratgebers,  hat  er2)  wegen  seiner 
Weisheit  erhalten.  —  Ober  die  Kämpfe  mit  Loki  vgl.  oben. 

So,  denke  ich,  schließen  sich  die  scheinbar  disparaten  Züge  zu  einem 
geschlossenen  Bilde  zusammen.  Heimdali  ist  kein  Wane,  sondern  nur 
zukunftskundig  wie  sie;  aber  ein  »Kulturgott«  ist  auch  er:  ein  Gott  der 
sich  verschärfenden  sozialen  Gliederung.  So  bildet  sich  die  Figur  wohl 
zuerst  bei  den  kultivierteren  Nordgermanen,  fand  eifrige  Vertreter,  die 
ihm  ein  Hohelied  sangen,  drang  aber  doch  nicht  durch  wie  die  Götter 
der  alten  Stände,  Odin  und  Thor.  Nur  die  Könige,  denen  die  Standes- 
gliederung am  meisten,  zugute  kam,  widmeten  ihm  einen  esoterischen  Kult 
und  ihre  Skalden  freuten  sich  an  einer  Gestalt,  die  ihrer  Rätselfreude  so 
viel  Anknüpfungspunkte  gewährte. 

Hönir3). 

Gleich  bei  dem  Namen  fängt  die  Dunkelheit  an.  Unland  dachte 
an  die  Wurzel  von  lat.  canere%  Hoffory  an  ein  urgermanisch  hohnijas  = 
griech.  xvxvetog  »der  Schwanengleiche«5),  eine  bedenkliche  Erklärung, 
obgleich  einiger  Zusammenhang  mit  dem  Schwan  möglich  ist;  Kauff- 
mann6)  deutet  ihn  als  »Hüter«,  was  inhaltlich  ginge,  aber  wenig  besagt.  — 
Die  Unverständlichkeit  des  Namens  spricht  für  das  Alter  des  Gottes,  das 
auch  sonst  wahrscheinlich  ist7). 

Überliefert  sind  von  Hönir  folgende  Mythen :  Zunächst  diejenigen,  in 
denen  er  als  Mitglied  der  Dreieinigkeit  Odin — Hönir — Loki  erscheint8).  Hier 
allein  tritt  Hönir  wirkend  auf.  Er  gibt  den  Leblosen  öth9)  Seele.  Odin 
gibt  önd,  Atem,  Fähigkeit  zu  leben;  Hönir  dtk,  »die  Grundbedingung 
des  geistigen  Lebens«  wiejahve10),  Loki  lo,  Lebens  wärme n).  Der  Sturm - 
gott  gibt  den  Lebenshauch ;  aber  damit  allein  kann  man  noch  leblos  und 
stumpf  sein,   wie  Helgi,  ehe  ihn  die  Walküre  begnadete12).     Hönir  gibt 


x)  Golther  S.  361.  2)  Thiymskv.  Str.  14. 

:i)  Weinhold,  H.  Z.  7,  24f.;  Hoffory,  Eddastudien,  S.  lulf.;  Kauff- 
mann,  PBB.  18,  175.  189;  Heinzel-Detter,  ebd.S.542f.;  Roediger,  Ztschr. 
f.  d.  Phil.  27,  9f.;  Golther  S.  397f.;  Mogk  S.  350;  vgl.  o.  S.  341  f. 

4)  Wogegen  Hoffory  S.  108;  ähnlich  Detter-Heinzel  S.  547. 

5)  S.  113.  6)  S.  175. 

7)  Hoffory  S.  118. 

8)  Völ.  Str.  18;  Einl.  zu  Reg.;  Skäldsk.  cap.  4:  Gering  S.  366;  vgl.  o.  S.  341  f.; 
Hoffory  S.  103f. 

9)  Vgl.  Hoffory  S.  103.  113;  Heinzel-Detter  2,  16. 

10)  1.  Mos.  2,  7.  ")  Hoffory  a.  a.  O. 

12)  Zu  Helg.  Hjörv.  Str.  6;  es  ist  das  germanisch-slawische  Motiv  des  späten 
Erwachens  aus  der  »Dumpfheit«;  vgl.  Beov.  v.  2177 f.  und  allgemein  Kauff- 
mann,  PBB.  18,  171. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  359 

Seele,  d.  h.  die  Fähigkeit  zu  denken,  zu  reden,  zu  handeln ;  aber  so  könnte 
man  noch  immer  ein  belebtes  Ding  sein,  ein  sprechendes  Totenhaupt 
(wie  das  Mimirs),  ein  zurückkehrender  Hammer  (wie  Mjölnir).  Da  gibt 
der  Feuerdämon  Lebenswärme  und  mit  ihr  »die  Fähigkeit  sich  zu  be- 
wegen« *)  und  die  blühende  Farbe  der  Gesundheit.  Nun  erst  sind  Ask 
und  Embla  unter  das  Gesetz  des  Menschen  gestellt2).  —  Immerhin  tut 
hier  Hönir  fast  das  beste.  Der  belebte  Körper  ist  ein  bloßer  »Golem«, 
ein  menschenähnliches  Gespenst  wie  die  beiden  Holzmänner  in  Kleidern3); 
erst  die  Seele  gibt  wahre  Existenz,  eigentliches  Leben.  —  Hier  haben  wir 
Hönir  als  Seelenspender.  Ist  er  ein  alter  »Seelenführer«,  aber  in  um- 
gekehrter Richtung?  der  die  Seelen  im  »Depot«  hat  und  aus  dem  un- 
ermeßlichen Vorrat  in  die  Körper  einführt4)? 

Die  Völuspä  erzählt  ferner5),  in  der  goldenen  Zeit  werde  Hönir 
sich  den  Wahrsagezweig  auswählen6).  Die  alte  schuldbedeckte  Götter- 
generation wird  durch  die  schuldlose,  junge  ersetzt.  Für  die  Kriegsgötter 
ziehen  Balder  und  Hod,  die  unschuldigen  Opfer  Lokis  (mag  auch  ur- 
sprünglich Hod  selbst  schuldig  gewesen  sein !)  in  die  Siegerburg  ein :  sie 
übernehmen  seine  Leitung  der  irdischen  Dinge.  Als  Himmelsgott,  d.  h. 
als  Leiter  der  Götter,  wird  Odin  von  den  Söhnen  Wilis  und  Wes(?)  beerbt. 
Endlich  seine  Runenkunst  übernimmt  Hönir,  zunächst  weil  auch  er  un- 
schuldig  ist7),   dann  aber  jedenfalls  auch,  weil  er  ein  Wahrsagegott  war. 

Auf  seine  Beziehung  zur  Prophetie  deutet  wohl  auch  die  seltsame 
Fabel  von  seinem  Verhältnis  zu  Mimir8),  die  Hoffory9)  allzu  natur- 
mythologisch deutet. 

Drittens  besitzen  wir  den  merkwürdigen  Bericht  von  Hönirs  Ver- 
geiselung n). 


x)  Hoffory  a.  a.  O. ;  d.  h.  sich  nach  Belieben  zu  bewegen:  handelnde 
Waffen  sind  immer  noch  »»zwangsläufig«. 

2)  In  Rig.  ist  die  Reihenfolge  anders:  das  Neugeborene  hat  natürlich  Atem ; 
dann  wird  gleich  die  Lebensfarbe  genannt  (Str.  7.  21.  34),  die  Seele  aber  zeigt 
sich  erst  nach  dein  Wachsen  und  Gedeihen. 

*)  Häv.  Str.  49. 

4T  Vgl.  Hoffory  S.  116.  5)  Str.  63. 

6)  Vgl.  Hoffory  S.  118. 

7)  Was  nach  Heinzel-Detters  schwerlich  zutreffender  Vermutung  bös- 
willig zu  der  Nachrede  seiner  Dummheit  führte,  2,  78. 

s)  Der  Wahrsagezweig  ist  wohl  einfach  ein  Runenstab;  mit  den  vielen 
Zauberzweigen  der  Edda — Hods  mistütein,  Hlebards  gambantein  (Harb.  Str.  20), 
Lopt— Lokis  laevatein  (Fjöl.  Str.  26)  hat  er  schwerlich  etwas  zu  tun.  Anders 
Kauffmann,  PBB.  18,  189. 

9)  Siehe  u.  t0)  S.  111. 

")  Hoffory  S.  103;  Weinhold,  D.  Mythus  vom  Wanenkriege,  Berl. 
Sitzungs-Ber.  29,  611f.;  der  Bericht  Gylf.  cap.  23:  Gering  S.  317  weitergeführt 
an  anderen  altnordischen  Stellen;  vgl.  Hoffory  a.  a.  O.;  Golther  S.  398. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgfeschichte  24 


370  Viertes  Kapitel. 

Zunächst  wird  uns  gemeldet,  daß  nach  dem  Wanenkrieg  die  Wanen 
Njord,  die  Äsen  Hönir  als  Geisel  schickten.  Dann  wird  das  motiviert; 
und  zwar,  wie  es  scheint,  ursprünglich  durch  eine  Parallele  zu  dem 
Mythus  von  Skadi  und  Njord.  Dort  soll  sich  die  Göttin  selbst  einen 
Äsen  aussuchen  —  sie  meint  Balder  und  bekommt  Njord,  was  unglück- 
lich ausläuft.  Hier  (was  zwar  nicht  ausdrücklich  erzählt  wird)  wollen  die 
Wanen  sich  den  schönsten  und  klügsten  holen;  man  täuschst  sie,  indem 
man  ihnen  zwar  den  schönsten  gibt  (den  Skadi  nicht  erhält),  aber  auch 
den  einfältigsten;  man  gab  ihm  deshalb  den  berufsmäßigen  Ratgeber 
Mimir  mit  (»nu  habe  du  die  gebaerde  —  diu  werc  wil  ich  be- 
gdn«)1).  Natürlich  geht  das  nicht  lange:  Hönir  soll  Häuptling  sein,  sagt 
aber  nur  immer  (wie  Schillers  Teil):  »Mögen  die  andern  raten«.  Im 
Zorn  köpfen  die  Wanen  den  Mimir  und  schicken  sein  Haupt  den  Äsen. 

So  kann  das  nicht  ursprünglich  sein.  Wenn  Mimir  mitging,  konnte 
er  Hönir  nicht  im  Stich  lassen.  Die  Sage  soll  nur  erklären,  wie  Mimirs 
bloßes  Haupt  zu  den  Äsen  kam.  Und  diese  sollten  seine  Hinrichtung 
ungerächt  gelassen  haben?  und  was  wird  aus  Hönir?  Überdies  ist  noch, 
ein  höchst  bedenkliches  Symptom,  der  Kwasir  eingemischt,  den  die  Wanen 
zum  Dank  für  Hönir  hergegeben  haben  sollen.  Dieser  Tausch  scheint 
später  Mythologenwitz,  weil  jetzt  der  Begeisterungstrank  »Seele  einhaucht«2). 

Aus  späterer  Zeit  haben  wir  jenes  färöische  Lied3),  in  dem  aller- 
dings wieder  Hönir  den  Göttern  Odin  und  Loki  gesellt  ist,  aber  mit 
zweifelhafter  Berechtigung  der  Dreiheit.  Indes  hat  grade  der  Hönir  be- 
schäftigende Mittelteil  am  ehesten  einige  Wahrscheinlichkeit  der  Echtheit. 

Ein  Bauer  hat  im  Bretspiel  seinen  Sohn  an  einen  Riesen  verspielt. 
Er  ruft  die  Götter  zur  Hilfe  an.  Sie  kommen.  Odin  läßt  ein  Ährenfeld 
auf  der  flachen  Hand  wachsen4)  und  birgt  das  Kind  in  einer  Ähre;  Hönir 
wandelt  es  in  eine  Feder  im  Gewand  eines  von  sieben  Schwänen;  aber 
beidemal  findet  der  Riese  Korn  und  Feder.  Endlich  verzaubert  Loki  den 
Knaben  in  ein  Korn  des  Rogens  einer  von  drei  frisch  gefischten  Flundern 
(auch  in  der  Andvari-Legende  fischt  Loki),  und  als  der  Riese  ihn  auch  so 
fassen  will,  wird  er  von  Loki  getötet.  —  Der  allgemeine  Märchencharakter 
steht  außer  Frage;  ebenso  daß  Odin  nichts  mit  dem  Ackerbau  zu  tun 
hat,  und  daß  in  einem  echten  alten  Mythus  nicht  Loki  der  beste  Helfer 
sein  würde.  Aber  Zusammenhang  Hönirs  mit  Schwänen  hat  Hoffory5) 
immerhin    wahrscheinlich   gemacht.     Sollte  hier  ein  echter  Kern  stecken? 

')  Nib.  N.  429,  3. 

2)  Anders  Detter-Heinzel  S.  548,  bei  denen  er  ein  Dichter  sein  soll  und 
Kwasir  auch  einer;  und  doch  zweifeln  sie  selbst  an  der  Ursprünglichkeit  des 
Kwasirtausches ! 

3)  Hoffory  S.  104f.,  Golther  S.  397;  vgl.  o.  S.  260. 
*)  Vgl.  Vol.  Str.  62.  5)  S.  106. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  37 1 

der  »Schwanengott«  hätte  ein  Kind  aus  Bedrängnis  gerettet,  etwa  indem  er 
ihm  ein  Schwanenkleid  zur  Flucht  lieh?  —  Aber  man  wagt  nicht,  auf 
dieser  entfernter  Möglichkeit  weiterzubauen  x). 

Auf  weitere  Mythen  weisen  vielleicht  die  seltsamen  Beinamen2); 
doch  sind  sie  zum  Teil  auch  so  verständlich b). 

Was  ist  nun  Hönirs  Wesen?  Über  keinen  Gott  sind  so  viele  ab- 
weichende Meinungen  geäußert  worden;  »soviel  Erklärer,  soviel  Erklärungen«, 
sagt  Golther4)  mit  Recht.  Uhland  hält  ihn  für  einen  Dichtergott,  ähnlich 
Detter  und  Heinzel;  Weinhold  für  einen  Sonnengott,  Müllenhoff  für  einen 
Wassergott,  Hoffory  für  einen  zum  Wolkengott  spezialisierten  Himmelsgott''), 
Roediger  für  einen  Wolkengott;  Bloete0)  erklärt  das  Epitheton  »aurkonung< 
als  »König  des  Frühlingsglanzes« 7)  und  Meyer  leitet  ihn  von  Henoch  ab 8) . . . 
Viel  mehr  Interpretationen  sind  in  der  Tat  kaum  denkbar9);  aber  vor- 
handen sind  sie  doch;  ein  Lichtgott  nach  Finn  Magnusen,  ist  Hönir  nach 
N.  M.  Petersen  gar  der  »Herrscher  über  den  materiellen  Stoff«!  und  nach 
Kauffmann  10)  ist  er  identisch  mit  Heimdall,  Tyr  und  Njord. 

Die  meisten  Stimmen  sind  doch  für  den  Wassergott,  und  Stimmen 
gerade  von  Meistern  der  mythologischen  Anschauung:  J.  Grimm11), 
Müllenhoff12),  Simrock13).  Dafür  spricht  ja  auch  fast  alles:  die  Stellung 
in  der  Trias  der  beweglichen  Elemente  (Odin  Wind  oder  Luft,  Loki  Feuer, 
Hönir  Wasser;  die  unbewegliche  Erde  ist  als  Stoff  in  den  Körpern  von 
Ask  und  Embla  ja  ohnedies  vertreten);  der  Wahrsagezweig  (denn  die 
Wasserdämonen  fanden  wir  überall  vorzugsweise  prophetisch):  die  Freund- 
schaft mit  dem  Wassergeist  Mimir;  endlich  eventuell  die  Herrschaft  über 
die  Schwäne. 

Ich  möchte  nur  vorschlagen,  den  Begriff  noch  weiter  zu  spezialisieren. 
Wie  Surt  das  unterirdische  Feuer,  so  vertritt  m.  E.  Hönir  das  unter- 
irdische Wasser,  das  Wasser  unter  der  Erdoberfläche,  das  sich  verbirgt 
and  nur  stellenweise  sichtbar  wird  14). 

Hierzu  passen  denn  auch  weiter  die  vielen  auffallenden  Beinamen 
des  Gottes15)  vortrefflich.  Zwar  »Odins  Gefährte,  Begleiter,  Freund« 
heißt  er  wohl  einfach  wegen  jener  alten  Dreiheitsmären.  Aber  der  schnelle 
As,  der  Langfuß,  paßt  das.  nicht  trefflich  auf  das  Wasser,  das  schnell  ent- 


*)  Vgl.  Golther  S.  398.  2)  Golther  S.  399. 

3)  Falk  (Ark.  f.  nord.  Fil.  6,  259  Anm.)  erklärt  um  dieser  Beinamen  willen 
den  Kranich  für  Hönirs  heiliges  Tier. 

4)  S.  400.  5)  Vgl.  S.  109.  6)  H.  Z.  38,  287. 

7)  Statt  v König  der  Nässe«,  Meyer  S.  411. 

8)  S.  469.  9)  Vgl.  Hoffory  S.  109,  Golther  S.  400. 
10)  S.  178.  1J)  Myth    1,  200. 
12)  D.  Alt.  1,  34.  13)  Vgl.  Hoffory  a.  a.  O. 

14)  Vgl.  Meregarto:  MSD.  XXXII.  2a. 

15)  Hoffory  S.  104.  109,  Golther  S.  399. 

24* 


372  Viertes  Kapitel. 

schwindet    und    erst    nach    einem   langen    Schritt  wieder   sichtbar   wird? 

Der  feigste  Ase«  *)   heißt   er   dann,   weil   er  sich   fortwährend   flüchtet; 

töricht«,  aber  nicht  in  Verwechslung  mit  Hod,  sondern  weil  er  immer 
im  Winkel  sitzt2).  Vor  allem  aber  paßt  dann  aurkonungr  der  > Lehm- 
könig«3) oder  Nässekönig«. 

Von  hier  erklärt  sich  denn  auch  die  Verbindung  mit  Mimir.  Das 
unter  der  Erde  rauschende  Wasser  kann  nicht  deutlich  reden  —  das  tut 
es  erst,  wenn  es  als  (weissagende)  Quelle  aus  dem  Boden  hervortritt.  Und 
die  Vergeiselung  könnte  ein  symbolischer  Ausdruck  des  langen  Ver- 
schwindens  sein,  wenn  nicht  diese  ganze  Sage  —  die  man  freilich  zu- 
meist als  Kern  des  Hönir-Mythus  behandelt  —  sekundär  ist.  Vor  allem 
aber  erkläre  ich  von  hier  Hönirs  Funktion  als  Seelenspender.  Zwar  die 
Altertümlichkeit  des  Aberglaubens  von  dem  Teich,  aus  dem  die  kleinen 
Kinder  geholt  werden4),  glauben  wir  ablehnen  zu  müssen.  Aber  daß 
gerade  aus  der  Mischung  von  Erde  und  Wasser  Leben  entsteht,  ist  eine 
verbreitete  Vorstellung  alter  Kosmogonien 5).  So  liegen  denn  auch  Ask 
und  Embla6)  am  Meeresstrande  auf  dem  Felde,  d.  h.  wo  Wasser  und 
Erde  sich  berühren  7). 

Widar8). 

Auch  Widar  ist,  wie  Wali9),  nur  nordisch1).  Auch  um  ihn  sind 
ganze  Erklärungsnetze  gewebt  worden,  ohne  daß  man  ihn  sicher  ein- 
gefangen  hätte.     Der  Name  wird   bunt   erklärt :   von  Roediger  aus  vid 


1)  Detter-Heinzel  S.  548  merkwürdig  genug  gedeutet. 

2)  Häv.  Str.  26.  3)  Golther  a.  a.  O. 

4)  Meyer  S.  432. 

5)  Die  ältesten  griechischen  Philosophen  sind  darin  noch  ganz  mythologisch ; 
vgl.  Lukas,  Kosmogonien,  S.  238. 

ö)  Völ.  Str.  17. 

7)  Besonders  wichtig  Gen.  2,  5—8:  Jahve  schafft  seine  Geschöpfe  aus 
feuchter  Erde:  »aus  feuchter  Erde  ,bildet'  er  den  Menschen  und  die  Thiere, 
wie  auch  der  Töpfer  seine  Gefäße  aus  feuchter  Erde  formt  (die  gleiche  Metapher 
vom  Töpfer  Häv.  Str.  83) ;  und  nur  auf  befeuchteter  Erde  können  Bäume  wachsen« : 
G  u  n  k  e  1 ,  Genesis,  S.  5.  Entsprechend  werden  im  Koran  die  Toten  wieder  belebt, 
indem  Regen  auf  die  Gräber  fällt  (7.  Sure;  Der  Koran,  übs.  v.  L.  Uli  mann, 
Bielefeld  und  Leipzig  1877,  S.  118);  doch  vgl.  auch  Goldziher,  Arch.  f.  Rel.- 
Wissensch.  13,  20  f.  —  Im  Gegensatz  zu  diesen  hebräischen  und  germanischen 
Anschauungen  bezeichnet  der  Veda  das  Schöpfen  als  ein  »Bauen«  (Mac- 
don eil  S.  11).  —  Den  Mythus,  daß  Belos  sich  selbst  den  Kopf  abschneidet,  um 
die  Menschen  zu  beleben  (Lukas  S.  26,  nach  Berosus)  will  ich  nicht  heran- 
ziehen, obwohl  mir  nicht  undenkbar  scheint,  daß  Hönir  wenigstens  ursprünglich 
selbst  den  Kopf  verlor. 

8)  Kauff mann,  PBB.  18,  157 f.  174;  Roediger,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  27,  5.  - 
Mogk  S.  365,  Golther  S.  394,  Meyer  S.  42,  Much  S.  222. 

9)  Siehe  u.  10)  Meyer  a.  a.  O. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  373 

Wald,  woraus  Kauffmann *)  seinen  »großen  Waldgott  der  Germanen» 
gesponnen  hat;  von  Mogk  zu  der  Ebene  Vidi,  in  der  er  wohnt:  vidi 
das  niedrige  Gestrüpp  der  Heide;  von  Meyer2)  zu  vidr,  loiederum  (wie 
Tdunz)  von  einer  Partikel  stammt). 

Das  Alter  ist  nicht  minder  umfochten.  Kauffmann  identifiziert  ihn4) 
mit  Väli  und  Büi,  mit  Heimdall,  Tyr,  Hymir  und  Hönir5)  und  gelangt 
über  diesen  Göttersalat  glücklich  zu  dem  ungenannten  Gott  im  Germanen- 
wald. Indessen  Widar  hiernach  mit  Zeus  zusammenfällt,  ist  er  nach 
E.  H.  Meyer6)  Balder-Christus;  wozu  wiederum  stimmt,  daß  er  nach 
Kauffmanns  Ansicht  mit  dem  höchsten  Richtergott7)  identisch  ist.  Man 
sieht,  es  ist  für  einen  altgermanischen  Gott  oder  Halbgott  schwer,  nicht 
für  Widar  gehalten  zu  werden8). 

In  den  Mythen  ist  Widar  fast  ganz  auf  den  Letzten  Kampf  ge- 
stellt, weshalb  ihn  auch  Mogk  unter  die  jungen  isländisch-norwegischen 
Götter  rechnet:  er  scheine  nur  erdichtet,  um  Odins  Rächer  zu  sein.  Aber 
wir  haben  Ortsnamen  wie  Vitharshof9) ;  und  wir  haben  folgende  Er- 
wähnungen in  der  Edda 10) : 

Widar  kommt  dann,  Walvaters  Sohn, 

Der  gewaltige  Held,  mit  dem  Wolf  zu  kämpfen : 

Die  Klinge  stößt  er  dem  Kinde  des  Riesen 

Durch  den  Rachen  ins  Herz  und  rächt  den  Vater11). 

Danach   wird   er   mit  Wali    im  Wohnsitz   der  Götter  schalten  (und  Odin 
vertreten,   wie  Modi    und  Magni    den  Thor)12).     Widar  und  Wali  haben 
also  hier  dieselbe  Stellung  wie  Hod  und  Balder13). 
Leer  ist  die  Angabe  Grün.  Str.  17: 

Unterholz  und  üppiges  Gras 

Füllt  Widi,  Widars  Land; 

Dort  springt  der  Recke  vom  Rücken  des  Pferdes, 

Den  Vater  zu  rächen  bereit14). 

Auch  die  Lokasenna15)  ergibt  nur,  daß  Widar  Odins  Sohn  ist;  er 
muß  Lokä  Platz   machen    und   bleibt   unbescholten         offenbar  weil   der 


!)  a.  a.  O.  168.  2)  Völuspä  S.  202.  231. 

3)  Siehe  u.  4)  S.  169.  5)  S.  173. 

6)  a.  a.  O.  7)  Vol.  Str.  58. 

8)  All  dies  wird  nach  dem  Verfahren  bewiesen,  durch  das  der  Meteorolog 
Falb  und  andere  die  Gleichheit  aller  Sprachen  dargetan  haben:  partielle  Gleichheit 
bedeutet  Identität,  und  wenn  jene  noch  so  unvermeidlich  ist. 

9)  Kauffmann  S.  157  Anm.;  vgl.  Mogk  S.  395. 
10)  Vol.  Str.  54.  n)  Ebenso  Vaf.  Str.  52. 

ia)  Vaf.  Str.  51.  ls)  Vol.  Str.  62. 

u)  Über  den  formelhaften  Charakter  der  ersten  Zeile  vgl.  nieine  Altgerm. 
Poesie  S.  401.  409;  Häv.  Str.  118. 
15)  Einl.  und  Str.  10. 


374  Viertes  Kapitel. 

Dichter  nichts  Schlimmes  von  ihm  wußte.  (Wie  Hod  der  blinde  Ase 
eigentlich  wohl  nur  der  ist,  der  nicht  gesehn  wird,  so  könnte  Widar  »der 
schweigsame  Ase«  vielleicht  nur  heißen,  weil  von  ihm  nicht  gesprochen 
wird:  die  bekannte  Verwechslung  von  Aktiv  und  Passiv,  wie  wenn  wir 
von  einer  »tauben  Nuß«  sprechen,  d.  h.  einer  Nuß,  in  der  man  beim 
Schütteln  nichts  hört,  oder  von  einem  »blinden  Schuß«,  bei  dem  keine 
Kugel  gesehen  wird) 1). 

Ferner  haben  wir  folgende  Angaben  Snorris:  »Widar  nennt  man  den 
schweigsamen  Äsen.  Er  besitzt  einen  dicken  Schuh  und  ist  beinah  so 
stark  wie  Thor.  In  allen  Gefahren  setzen  die  Götter  großes  Vertrauen 
auf  ihn2).  Nachdem  der  Wolf  Odin  verschlungen  hat,  eilt  Widar  herbei 
und  tritt  mit  einem  Fuße  dem  Wolfe  in  den  Unterkiefer.  Er  besitzt  nämlich 
den  Schuh,  zu  dem  das  Leder  allezeit  zuvor  gesammelt  ist,  und  zwar  aus 
den  Flicken,  die  die  Menschen  vor  den  Zehen  und  an  der  Ferse  aus 
ihren  Schuhen  schneiden;  und  darum  soll  ein  jeder,  der  gewillt  ist,  den 
Äsen  zu  Hilfe  zu  kommen,  diese  Flicken  fortwerfen.  Mit  der  einen  Hand 
faßt  nun  Widar  den  Oberkiefer  des  Wolfes  und  reißt  ihm  den  Rachen 
entzwei,  und  dadurch  findet  der  Wolf  seinen  Tod«3). 

Die  Mutter  Widars  des  Schweigsamen  ist  die  Riesin  Grid,  bei  der 
Thor  auf  der  Fahrt  zu  Geirröd  freundschaftlich  einkehrt,  und  die  ihn 
warnt  und  ihm  ihre  Zauberwaffen  gibt:  Kraftgürtel,  eiserne  Handschuh, 
den  Stab  Gridarvöl4).  —  Gürtel,  Handschuh,  Stab  kennzeichnen  die 
Zauberin,  vgl.  z.  B.  Thorbjörg5);  auch  deren  Schuhe  sind  von  eigner  Art. 

Von  diesen  vier  Stellen  ist  die  dritte  deutlich  und  die  zweite  leicht 
zu  erklären.  Offenbar  ist  sie  nur  Beschreibung  eines  Bildes,  das  Widars 
Kampf  mit  dem  Wolf  darstellte;  er  setzt  den  beschuhten  Fuß  in  den 
Rachen  des  Ungeheuers,  wie  Artemis  auf  dem  Gigantenfries  in  Pergamon, 
und  reißt  ihm  den  Rachen  auf,  wie  Schadows  Herkules,  oder  wie  der 
biblische  Simson  dem  Löwen:  offenbar  die  einzig  mögliche  Art,  mit 
solchen  Geschöpfen  im  Nahkampf  fertig  zu  werden6).  —  Die  Fabel  von 

x)  Vgl.  übrigens  über  diese  charakterisierenden  Epitheta  der  Götter  unten. 

*)  Gylf.  cap.  29:  Gering  S.  321. 

:s)  Gylf.  cap.  51:  Gering  S.  350.  Ebd.  53:  Gering  S.  351,  haben  wir  nur 
eine  Paraphrase  Vaf.  Str.  51. 

4)  »Stab  der  Grid«;  Skäldsk.  cap.  2:  Gering  S.  302. 

3)  Golther  S.  649. 

6)  Ich  bemerke  erst  nachträglich,  daß  solche  Darstellungen  tatsächlich  im 
Norden  existieren:  auf  dem  Gosforth-Kreuz  in  Cumberland,  vielleicht  aus  dem 
9.  Jahrhundert;  Olrik  (Om  Ragnarok  S.  161)  hat  das  Bild  auf  den  Umschlag 
seines  berühmten  Werkes  über  die  »Götterdämmerung«  gesetzt.  Ebd.  andere 
Darstellungen  des  Kampfes  mit  Wolf  und  Drachen.  —  Ganz  entsprechend  tritt 
auf  einem  christlichen  Vasengemälde  der  Held  in  das  Maul  des  Meeresungeheuers 
(H.  Schmidt,  Jona,  Göttingen  1907,  S.  9  Anm.  1). 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  375 

den  Flicken  der  menschlichen  Sandalen  (denn  die  werden  doch  be- 
schrieben) ist  der  von  den  Nägeln  für  Naglfär1)  parallel.  Ward  dem 
Gott  ein  Riesenschuh  zugeschrieben,  so  mochte  man  beim  Wegwerfen 
sagen:  »Für  Widars  Schuh!«  Ob  aber  der  Schuh2)  lediglich  einer 
ikonischen  Mythe  verdankt  wird,  ist  nicht  zu  bestimmen;  Roediger3)  hat 
ihn  feinsinnig  aus  der  dicken,  schwellenden  Gras-  und  Moosschicht  der 
Heide  gedeutet.  So  würde  Widars  Schuh  wie  Skadis  Schrittschuh  sein 
Heim  symbolisieren. 

Noch  bleiben  drei  Züge  bei  Snorri.  Die  Schweigsamkeit  erklärt 
Roediger  gleichfalls  aus  der  lastenden  Stille  der  Heide,  Mogk  aus  dem 
auf  die  Vaterrache  ausschließlich  konzentrierten  Sinne.  Riesenstark  mußte 
der  Töter  des  Wolfes  natürlich  sein.  Aber  wie  kommt  er  zu  der  Zauber- 
riesin als  Mutter?  Kauffmann4)  hält  sie  für  eine  Abzweigung  der  Erd- 
göttin Hlödyn 5) ;  aber  so  scharfsinnig  seine  Konjekturen  hier  sind,  glaube 
ich6)  den  »Sohn  der  Hlödyn«7)  nach  wie  vor  auf  Thor  beziehen  zu 
müssen,  da  sonst  die  Ökonomie  der  Kampfschilderung  zerstört  wird. 
Übrigens  bliebe  die  Ausrüstung  auch  der  Hlödyn-Grid  noch  immer  merk- 
würdig. Vielleicht  ward  das  Riesenweib  einfach  um  seiner  Attribute 
willen  dem  Gott  mit  dem  Wunderschuh  zur  Mutter  gegeben. 

Ein  Kult  ist8)  nicht  erwiesen:  die  Ortsnamen  können  ja  eventuell 
später  nach  ihm  gebildet  sein. 

Die  Edda  erzählt  von  Zügen,  die  für  das  Wesen  des  Gottes 
charakteristisch  sind,  nur  die  Vaterrache  und  (vielleicht!  aber  Hod  und 
Balder  sind  wohl  als  Reichsverweser  älter)  die  Herrschaft  im  Zukunfts- 
reich. Eigentümlich  tritt  ein  Zug  bei  Widar  hervor:  die  Stell- 
vertretung. Er  vertritt  (mit  Wali)  Odin,  wie  er  in  der  Lok.  Loki 
Platz  macht;  und  seine  Mutter  gibt  Thor  Ersatz  für  die  Attribute, 
die  der  nicht  bei  sich  hat.  Vor  allem  ist  die  Rache  ja  auch  eine  Tat 
der  Stellvertretung.  Wenn  Widar  nun  ursprünglich  der  Schutzgott  der 
Gefolgsleute  wäre9),  durch  den  schweren  Schuh  des  Kriegers  (und  das 
Roß  in  den  Grfm.)  symbolisiert  und  zur  Rache  für  den  Heeresgott  (der 
dann  sein  Vater  wird)  vor  allem  berufen?  Es  wird  gewiß  solche  Standes- 
götter gegeben  haben,  etwa  wie  Quirinus10)  der  Gott  »der  auch  im  Frieden 
stets  kampfbereiten  Bürgerschaft«  oder  Feronia11)  die  Göttin  der  Frei- 
gelassenen ist.  —  Auch  die  Schweigsamkeit  würde  dazu  stimmen. 


')  Siehe  u.  -)  Gylf.  cap.  29  und  51. 

:$)  a.  a.  O.;  vgl.  Golther  S.  395. 

*)  PBB.  18,  135.  5)  Was  Golther  S.  395,  1  billigt 

6)  Mit  Heinzel-Detter  2,  73.  7)  Vol.  Str.  55. 

8)  Mogk  S.  365  gegen  Kauffmann,   PBB.  18,  157  und  Golther  S.  395. 

9)  Vgl.  Tac.  Germ.  cap.  13. 

10)  Wissowa  S.  139.  il)  Ebd.  S.  233. 


376  Viertes  Kapitel. 

Sucht  man  doch  auch  hier  einen  alten  Naturdämon,  so  könnte  man 
an  den  Wirbelsturm  denken,  der  auf  der  Weide  sein  Roß  tummelt,  von 
der  Erde  zum  Himmel  reicht  (wie  Widar  das  vom  Himmel  zur  Erde 
reichende  Maul  des  Wolfes  ausfüllt) r)  und  mit  seinem  schweren  Tritt  die 
Dächer  abdeckt.  Freilich  paßt  dazu  die  Schweigsamkeit  schlecht!  aber 
zu  der  Vaterrache  könnte  er  als  Sohn  des  Sturmgottes  gekommen  sein. 

Wali2). 

Auch  Wali  ist  nur  als  Rächer  da. 

Von  ihm  wird  der  Mythus  erzählt3),  daß  Rind  »im  westlichen 
Saal«  den  Wali  gebiert,  der  einnächtig  mit  Balders  Mörder  -  Hod  — 
kämpft  und  ihn  nun  auch  auf  den  Brandstoß  bringt;  daß  Wali  in  dieser 
Einen  Nacht  sich  weder  das  Haupt  kämmt,  noch  die  Hände  wäscht,  ist 
mehr  formelhaft  als  auffallend4). 

Weiter  heißt  es:  »Widar  und  Wali  schalten  im  Wohnsitz  der  Götter, 
wenn  die  Lohe  Surts  erlischt«  5). 

Die  Kommentare  berichten:  »Ali  oder  Wali  heißt  ein  Sohn  des 
Odin  und  der  Rind.  Er  ist  kühn  in  den  Schlachten  und  kann  vortrefflich 
schießen« 6).  —  »Rind,  die  Mutter  des  Wali,  wird  zu  den  Äsen  gerechnet*  7). 

Den  einfachsten  Bericht  hat  die  Vol.  h.  sk. : 

Rasch  war  Wali  zur  Rache  entschlossen, 
Zu  Boden  streckt  er  des  Bruders  Mörder. 

Auch  entspricht  nur  dies  der  Situation :  alle  Götter  sind  versammelt  aus 
ihrer  Mitte  muß  sofort  die  Strafe  erfolgen  8).  Ferner  setzen  Vol.  Str.  33  und 
Veg.  Str.  11  voraus,  daß  Balder  noch  auf  dem  Holzstoß  liegt,  als  man 
Hod  zu  ihm  bringt.  Somit  wird  eine  märchenhafte  Steigerung  darin  zu 
sehen  sein,  daß  der  Rächer  erst  eben  geboren  ist;  und  in  der  Umsetzung 
des  epischen  Rachegelübdes9)  in  einen  hier  schlecht  passenden  Bericht 
—  »das  Haupt  nicht  kämmt  er,  die  Hände  nicht  wäscht  er«  —  eine 
heroische  Reminiszenz.  Ebenso  hat  Saxo  (oder  schon  seine  Quelle)  die 
Verbindung  Odins  mit  Rind,  aus  der  Balders  Rächer  hervorgeht,  zu  dem 


*)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  51. 

2)  Kauffmann,  PBB.  18,  167f.;  Golther  S.  395;  Mogk  S.  325.  327.  365; 
Meyer  S.  376.  397. 

3)  Veg.  Str.  11. 

4)  Wiederholt  aus  Vol.  Str.  33—34;  verkürzt  wiedergegeben  (doch  siehe  u.) 
Vol.  h.  sk.  (Hyndl.  Str.  30). 

5)  Vaf.  Str.  51.    Wiederholt  Gyli  cap.  53:  Gering  S.  351. 

6)  Gylf.  cap.  30:  Gering  S.  321. 

7)  Ebd.  cap.  36:  Gering  S.  32S. 

8)  Wie  Völ.  Str.  26. 

9)  Parallelen  bei  Heinzel-Detter  2,  46;  vgl.  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  87: 
kaum  geboren,  schmiedet  Väinämöinen  sich  ein  Pferd. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  377 

Roman  ausgesponnen,  der  des  Bous  Geburt  zur  Folge  hat1).  Snorr, 
bringt  nur  hinzu,  daß  Wali  kühn  war  (aber  von  seinen  Schlachten  ver- 
lautet nichts)  und  ein  guter  Schütze  —  denn  er  trifft  den  Hod  sofort,  der 
ja  selbst  ein  nur  zu  guter  Schütze  ist.  —  Es  bleiben  also:  die  Rache  für 
Balder  und  die  Zukunftsherrschaft  an  Stelle  von  Odins  Rächer. 

Detter  hat  seinen  Namen  Vali,  Ali  höchst  unwahrscheinlich  aus 
Wanilo  der  kleine  Wane  gedeutet;  der  Ase  hat  durchaus  nichts  von  den 
Wanen2).  Sievers3)  stellt  ihn  zu  altsächs.  wanom,  strahlend,  was  aus 
dem  Mythus  auch  keine  Bestätigung  findet.  —  Der  Name  kommt,  zu- 
sammen mit  Narfi,  noch  für  einen  Sohn  Lokis  vor4). 

Nichts  spricht  für  ein  hohes  Alter  Walis.  Kauffmann  findet  es5)  mit 
Recht  auffällig,  daß  der  Name  nicht  bloß  in  der  Götterversammlung  der 
Lok.  fehlt,  sondern  »auch  in  Vol.  und  in  den  an  Götternamen  so  reichen 
Grim.,  woselbst  ihm  nicht  einmal  eine  Unterkunft  angewiesen  ist«.  Die 
Vol.  erzählt  ja  allerdings  von  dem  Rächer,  dessen  Namen  sie  nur  nicht 
nennt. 

Mit  Recht  pflegt  man  das  Wesen  Widars  und  Walis li)  zu  ver- 
gleichen7). Beide  sind  auf  die  Rache  gestellt,  beide  sollen  in  dem  ent- 
sühnten Zukunftsreich  herrschen.  Dennoch  liegt  wohl  eine  gewisse 
Verschiedenheit  vor.  Widar  scheint  ein  alter  Gott;  die  merkwürdigen 
Attribute,  die  offenbar  alten  Abbildungen,  die  uns  hier  ausnahmsweise 
etwas  altnordische  »Kunstmythologie« 8)  geben,  vielleicht  auch  der  Name 
deuten  darauf9).  Aber  Wali  scheint  wirklich  nur  für  die  Rache  erfunden 
zu  sein. 

Bei  beiden  Gestalten  ist  der  heroische  Einfiuss  mächtig  gewesen,  der 
einen  alten  Dämon  zum  Rächer  des  Siegesgottes  machte  und  einen  Gott 
für  die  Rache  des  lichten  Gottes  vielleicht  erst  schuf.  Der  Begriff  der 
Rache  ist  wesentlich  der  Heldensage  eigen,  wie  der  der  Strafe  der  Götter- 
sage. In  der  Zeit  der  Helgisagen,  die  von  Vater-  und  Bruderrache  erfüllt 
sind  —  der  Sagen,  nicht  gerade  der  uns  erhaltenen  Gedichte  — ,  wird 
man  dem  heldischen  Gefühl  durch  diese  Einfügung  der  Rächer  genug 
getan  haben.  Ob  irgendwo  ein  tapferer  Sohn  Wali  hieß  und  seinen 
Namen  sowohl  auf  Balders  Bruder  als  auf  Odins  Rächer  vererbte?  — 
Snorri  hat  augenscheinlich  von  ihm  nichts  weiter  gewußt;  und  schwerlich 
gab  es  weiter  etwas  von  ihm  zu  wissen. 


l)  Siehe  o.  S.  270;  Golther  S.  306. 
J)  PBB.  19,  503.  s)  PBB.  18,  589. 

4)  Epilog  zu  Lok.  =  Gylf.  cap.  50:  Gering  S.  347;  vgl.  Kauffmann  a.  a.  O. 

5)  a.  a.  O.  S.  169.  «)  Wie  Vaf.  Str.  51. 

7)  Golther  S.  396. 

8)  Vgl.  Preller  1,  18f. 

9)  Man  könnte  sie  als   »Gegengötter  gegen  die  Gegengötter«  bezeichnen. 


378  Viertes  Kapitel. 

Ullr1). 

Auch  Ullr  gehört  zu  den  Hauptgottheiten  der  altnordischen  Mytho- 
logie des  19.  Jahrhunderts.  Kauffmann  nimmt  ihn  in  seinen  Sammelgott 
Tyr — Heimdall  — Hönir — Widar  —  Njord  auf  und  setzt  ihm  noch  ins- 
besondere die  Krone  des  allgewaltigen  Herrschers  und  Richters1)  aufs 
Haupt 2).  In  der  altnordischen  Mythologie  des  Mittelalters  scheint  er  eine 
bescheidenere  Rolle  gespielt  zu  haben. 

Sein  Name  gehört  wohl  zu  got.  vulthus,  Herrlichkeit,  wie  in  got 
Namen3):  der  Herrliche,  der  Majestätische4). 

Von  Nachrichten  finden  wir  folgendes  in  den  Eddaliedern.  Grim. 5) 
nennt  gleich  als  zweites  Heim  (nach  dem  Thors  und  vor  dem  Freyrs) 
Ydalir:  »dort  hat  Uli  sich  vormals  die  hohe  Halle  gebaut.« 

In  demselben  Lied  stehen  die  dunkeln  Verse6): 

Ullrs  Huld  und  aller  Götter 

Hat  er,  der  zuerst  ins  Feuer  faßt; 

Vor  den  Asensöhnen  liegt  offen  die  Heimstatt, 

Wenn  man  vom  Haken  den  Kessel  hebt. 

In  einem  späten  Nibelungengedicht,  der  Atlakvida,  erwähnt  Gudrun 7), 
daß  Atli  die  Eide  gebrochen  habe,  die  er  geleistet  bei  der  Sonne,  bei 
Sigtyrs  (d.  h.  Odins)  heiligem  Berge,  bei  des  Ehebetts  Pfosten,  bei  Ulis 
Ring. 

In  Snorris  Prosa  im  Götterkatalog  finden  wir:  »Uli  heißt  ein  Sohn 
der  Sif,  Thors  Stiefsohn.  Er  ist  im  Bogenschießen  und  im  Schneeschuh- 
laufen so  tüchtig,  daß  niemand  darin  mit  ihm  wetteifern  kann.  Schön  ist 
er  von  Ansehen  und  besitzt  alle  Vorzüge  eines  Kriegsmannes;  darum  ist 
es  gut,  ihn  in  Zweikämpfen  anzurufen8). 

Daß  er  auf  der?  Tischliste  Ägirs  steht9),  können  wir,  wie  wir  es  bei 
Widar,  Wali  usw.  getan  haben,  vernachlässigen. 

Saxo  erzählt:  nach  der  Verstoßung  Odins10)  wird  Ollerus  (Uller)  mit 
seiner  Macht  und  seinem  Namen  bekleidet,  König  zu  »Byzanz«;  nach 
zehn  Jahren  kehrt  Odin  wieder  und  vertreibt  Ollerus.  Dieser  sucht  sich 
wieder  auf  den  Thron  zu  erheben,  wird  aber  in  Schweden  von  den  Dänen 
erschlagen  u). 

x)  Kauffmann,  PBB.  18, 188;  Much,  ebd.  20, 35;  Schuck,  Studier  2, 214 f. 
Mogk  S.  349,  Golther  S.  307.  390,  Meyer  S.  410. 

2)  Völ.  Str.  65.  Die  fragmentarische  Strophe  ist  wohl  sicher  christliche  Inter- 
polation; vgl.  z.  B.  Heinzel-Detter  2,  88. 

8)  Golther  S.  390,  2.  *)  Kauffmann  a.  a.  O. 

5)  Str.  5.  6)  Str.  42.  7)  Str.  31. 

8)  Gylf.  cap.  31:  Gering  S.  321. 

9)  Brag.  cap.  1:  Gering  S.  352. 

10)  Siehe  o.  S.  270.  n)  Golther  S.  307. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  37g 

In  Anspielungen  bei  Skalden  heißt  er  Schneeschuh-Gott,  Bogen-Gott, 
Jagd-Gott,  Schild-Gott;  der  Schild  heißt  Ulis  Schiff1). 

In  Ortsnamen  sind  in  Norwegen  und  Schweden  zahlreiche  > Tempel, 
Heiligtümer,  Haine,  Hügel,  Gehöfte,  Äcker,  Vorgebirge,  Inseln,  Ströme 
und  Wasserfälle«  nach  Uli  benannt2). 

Ulis  Attribute  sind  der  Schneeschuh  und  der  Bogen.  Wichtig  ist 
besonders  der  erste;  da  ,skidl  auch  Brett  bedeutet,  und  der  Schild  eben- 
falls Brett  genannt  wird,  ward  erzählt,  Ulis  Fahrzeug  sei  sein  Schild3). 
Daher  heißt  es  auch  bei  Saxo,  Uli  habe  die  Zauberkunst  besessen,  auf 
einem  Knochen  wie  auf  einem  Schiff  übers  Meer  zu  fahren :  der  Knochen 
steht  für  den  primitiv  daraus  bereiteten  Schlittschuh4),  und  da  dieser  »Ulis 
Schiff«  heißt,  d.  h.  sein  Fahrzeug  (als  Gott  fährt  er  durch  Luft  und 
Wasser),  so  fährt  er  damit  eben  auch  übers  Meer. 

Ullr  ist  also  neben  Widar  und  Skadi  die  dritte  nordische  Gottheit 
die  durch  ihre  Fußbekleidung  charakterisiert  wird;  und  zwar  ist  es  bei 
ihm  wie  bei  Skadi  der  Schneeschuh.  Der  Verdacht  finnischen  Ursprungs 
liegt  deshalb  nahe5).  Aber  Bogenschießen  und  Schlittschuhlaufen  liebt 
der  Nordländer  noch  heut  im  Winter 6),  und  der  germanische  Name  sowie 
die  Verbreitung  des  Kults  sprechen  gegen  fremden  Ursprung. 

Daß  Ulis  Schützenkunst  gerühmt  wird,  hat  wohl  mehr  zu  bedeuten 
als  bei  Wali 7).  Denn  er  heißt  ja,  wie  der  Schild-  und  Schneeschuh- 
Gott,  so  auch  der  Bogen-  und  Jagd-Gott.  Weil  die  besten  Bogen  aus 
Eibenholz  gefertigt  wurden,  heißt  sein  Heim  Ydalir,  Eibentäler8)  — 
recht  bezeichnend  für  die  Namengebung  des  Dichters,  der  aus  Asgard 
eine  Villenkolonie  mit  lauter  sinnig  anmutenden  Hausnamen  macht,  etwa 
wie  sie  in  unsern  modernen  Vororten  beliebt  sind :  Monbijou,  Margareten- 
ruhe9), Waldfrieden  und  Birkenschlößchen.  Doch  beweist  der  Name  immer- 
hin, daß  der  Gott  wesentlich  als  göttlicher  Schütze  galt,  wie  bei  den 
Hellenen  Orion  10),  der  wie  Uli  durch  eine  archaische  Waffe,  die  eiserne 
Keule,  gekennzeichnet  wird. 

Bei  seinem  Kult  ist  nochmals  an  die  vielen  Ortsnamen  zu  erinnern. 
Dann  der  Schwur  in  der  Atlakvida:  Atli  hat  bei  den  heiligsten,  unantastbarsten 
Dingen  geschworen:  bei  der  Sonne,  die  alles  sieht;  bei  dem  heiligen  Berg, 


J)  Vgl.  Much  a.  a.  O. 

2)  Golther  S.  392. 

3)  Siehe  Much;   doch  könnte  die   Fahrt  eines  Kindes  im  Schild,  ähnlich 
wie  die  Sceäfs,  auch  ein  alter  oder  aus  der  Sage  entlehnter  Zug  sein. 

*)  Golther  S.  391.  5)  Golther  S.  393. 

6)  Mogk  S.  349.  7)  Siehe  o.  S.  377. 

8)  Gering  zu  Grini.  Str.  5. 

9)  Thrudheim  Grim.  Str.  5,  für  den  weiberscheuen  Thor. 

10)  Preller  1,  448. 


380  Viertes  Kapitel. 

von  dem  aus  Odin  regiert1);  bei  der  Heiligkeit  des  Ehebetts-  und  des 
Schwurrings 2).  Auf  drei  Zeugen  folgt  das  sozusagen  offizielle  Instrument 
der  Eidesleistung:  Ulis  Ring  vertritt  den  heiligen  Eidesring. 

Odins  Anrufung8)  ergibt  sicher  nur  eins:  daß  Uli  an  erster  Stelle 
angerufen  wird.  Der  Wortlaut  ist  dunkel  und  wird  durch  den  Zusammen- 
hang mit  Str.  45  nicht  aufgehellt:  Gering  sieht  darin  eine  unmittelbare 
Aufforderung,  den  Kessel  zu  beseitigen,  damit  die  Äsen  durch  das  (sonst  von 
dem  Kessel  verdeckte)  Randloch  hineinblicken  können,  und  bezieht  die 
ersten  Verse  auf  Agnar:  aber  dieser  hat  doch  nicht  ins  Feuer  gefaßt,  und 
nicht  die  andern  Äsen  bringen  Hilfe.  (Freilich  rettet  ihn  auch  nicht4) 
ein  Zufall,  sondern  durch  Odins  zauberkräftigen  Fluch5),  den  er  durch 
plötzliche  Epiphanie  unterstützt,  wird  Geirröd  geblendet  und  in  sein 
Schwert  geworfen.)  Heinzel  und  Detter  lesen  ein  allgemeines  Lob  des 
Herdfeuers  heraus. 

Ich  glaube,  es  handelt  sich  auch  hier  um  ein  Gelübde.  Der  Heilgott 
verspricht  dem,  der  das  Feuer  auseinanderwerfen  hilft,  die  Huld  aller 
Götter,  die  dann  ja  auch  dem  Agnar  zuteil  wird.  Deshalb  wird  hier  der 
Eideshelfer  Uli  zuerst  genannt  (bei  Gunnars  Marterung  vielleicht  ebenso 
nachdrücklich  zuletzt):  der  höchste  Gott  selbst  schwört  bei  Ulis  Namen, 
der  allerdings  »in  die  Konstruktion  gezogen  wird«:  statt:  »bei  Ulis  Huld! 
alle  Götter  gewähren  ihm  Huld!«  heißt  es:  »Uli  und  alle  Götter  — «. 

Auf  die  Verdrängung  Odins  durch  Uli  wird  man  ja  wohl  seine 
Nennung  an  erster  Stelle  durch  Odin  nicht  deuten  wollen. 

Wir  hätten  also  einen  Schwurgott;  was  zu  seiner  Verwandtschaft  mit 
Thor  gut  paßt. 

Über  das  Wesen  herrscht  Einstimmigkeit,  nämlich  darüber,  daß  Uli 
ein  Wintergott  ist6).  Mogk  möchte  ihn7)  feinsinnig  als  den  Gott  des  Winter- 
himmels neben  Odin,  den  Gott  des  leuchtenden  Sommerhimmels,  stellen, 
und  von  hier  beider  Kämpfe  erklären;  er  nimmt  übrigens  außerdem8) 
Beziehungen  zu  Thor  und  Loki  an.  Uli  wäre  dann  wohl  der  Gott  des 
klaren  prächtigen  Winters;  aber  wie  sollte  der  mit  Gewitter  und  Feuer 
verwandt  sein? 


')  Vgl.  allgemein  über  das  Sitzen  auf  dem  Hügel«  Olrik,  Danske  Studier 
1909,  S.  lf. 

2)  Vgl.  Wölunds  Eideszeugen  in  seiner  feierlichen  Anrufung  Vkv.  Str.  33  und 
allgemein  über  das  germanisch-nordische  Ritual  des  Eides  Olrik,  Nord.  Geistes- 
leben S.  35. 

3)  Grim.  Str.  42. 

4)  Wie  Heinzel-Detter  2,  188f.  meinen. 

5)  Str.  53. 

6)  Hübsche  Charakteristik  bei  Meyer  S.  410. 

7)  S.  346.  8)  S.  349. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  33] 

Wenn  er  nun  wirklich  der  >Jagdgott«  wäre,  der  im  Winter  auf 
Schneeschuhen  in  den  Bergen  umherfährt  und  auf  seinem  großen  Schild 
wie  in  einem  Schlitten  über  das  gefrorene  Meer  fährt? 

Daß  er  einmal  weites  Ansehen  genossen  hat,  beweisen  die  Orts- 
namen; und  wenn  Saxos  byzantinischer  Roman  auch  (wie  bei  seiner 
Balderfabel)  mit  billigen  Peripetien  arbeitet,  so  wird  dem  Bericht  von 
Odins  Verbannung  durch  Uli  doch  wohl  eine  religionsgeschichtliche  Tat- 
sache zugrunde  liegen,  zumal  er  sie  ethnologisch  stützt:  die  Schweden 
könnten  für  Uli ,  die  Dänen  für  Odin  eingetreten  sein.  Ob  wilde  Jäger- 
stämme  einen  alten  Gott  propagierten  und  vorübergehend  zur  Herrschaft 
brachten,  so  daß  er  auch  Schwurgott  wurde?  ob  er  vielleicht  deshalb 
gerade  in  der  Atlakvida  und  gerade  wo  es  sich  um  den  Barbarenkönig 
Atli  handelt,  angerufen  wird?  Vielleicht  galten  auch-  seine  Heiligtümer 
dem  Opfer  für  gute  Jagd.  Bei  alledem  bleibt  das  winterliche  Kolorit 
auffallend. 

Forseti x). 

Nur  die  Grim.  erwähnen2)  Forseti,  der  in  seiner  gold  -  silbernen 
Halle  gütlich  die  Fehden  begleicht.  Snorri  fügt3)  hinzu,  er  sei  ein  Sohn 
Balders  und  der  Nanna;  im  übrigen  umschreibt  er  nur  die  eddische 
Strophe.  Er  fügt  ihn  auch 4)  in  die  Götterliste  ein ;  auf  dem  weißen  Fleck 
der  Landkarte,  bei  den  unbekannten  Göttern  Widar,  Wali,  Uli  und  Hönir 
steht  auch  er  —  dann  macht  Loki  den  Schluß.  Doch  zeugt  ein  Hain 
Forsetalund  in  Norwegen  für  seine  Verehrung5). 

Ein  Gott  Fosite,  Fosete  oder  Foseti6)  herrscht  über  »Fosetis- 
land«  nach  dem  Bericht  der  Vita  Willibrordi  von  Karls  des  Großen 
Freund  Alcuin ;  aus  ihr  sind  zwei  andere  Berichte  abgeleitet,  insbesondere 
auch  der  des  Adam  von  Bremen  (um  1050) 7).  Wie  Siebs  erwiesen  hat, 
stammt  erst  von  Adam  die  Behauptung,  Fositesland  sei  Helgoland,  zu 
der  ihn  etymologische  Gründe8)  veranlaßten.  Helgoland  kann  es  aber 
nicht  sein;  vielleicht  lag  Fositesland  »in  Frisia  citerior,  dem  friesischen 
(seit  dem  neunten  Jahrhundert  von  den  Dani  in  Besitz  genommenen) 
Küstengebiet  westlich  der  Zuidersee«,  vielleicht  auf  der  ,insula'  Axel 9).  — 
In  diesem  heiligen  Land  Fosites  standen  Heiligtümer;  aus  einer  heiligen 
Quelle   durfte   man    nur  schweigend  schöpfen,   und  als  Sanct  Willibrord 


J)  Golther   S.   386,   Mogk    S.    327.   389,    Meyer   S.   392.   407;    Siebs, 
35,  535. 

2)  Str.  15.  3)  Gylf.  cap.  32:  Gering  S.  321. 

4)  Brag.  cap.  1:  Gering  S.  352. 
5;  Golther  S.  387,  1. 

6)  Golther  S.  387,  Mogk  a.  a.  O.,  Meyer  23f.  407. 

7)  Vgl.  Siebs  S.  539. 

8)  a.  a.  O.  S.  543.  9)  Ebd.  S.  545. 


382  Viertes  Kapitel. 

aus   ihr   Heiden   taufte,   ließ   König   Radbod   dreimal   über   ihn  das   Los 
werfen. 

Mit  diesem  »Hauptgott  der  Friesen«  stellt  man  seit  v.  Richthof en  l) 
den  Helden  einer  schönen,  aber  jungen  Sage2)  zusammen.  Karl  der  Große 
befragt  die  zwölf  Asegen  (Gesetzsprecher)  der  friesischen  Seelande  nach 
ihrem  Recht.  Als  sie  es  trotz  der  Bedrohung  mit  Todesstrafe  nicht  finden 
können,  werden  sie  in  einem  Schiff  ohne  Ruder,  Segel  und  Tau  ins  Meer 
gestoßen.  Da  sitzt  auf  ein  Gebet  an  Gott  plötzlich  der  dreizehnte  bei 
ihnen,  mit  einer  Achse  oder  Axt  auf  der  Achsel.  Er  steuert  sie  damit 
ans  Land,  weckt  eine  Quelle  am  Ufer  und  lehrt  sie  das  Recht.  Dann 
verschwindet  er  (wie  Odin  nach  seinen  irdischen  Hilfeleistungen). 

Siebs  ist  geneigt,  diese  Erzählung  für  eine  rein  christliche  Erfindung 
zu  halten:  »diese  Erzählung  der  westfriesischen  Rechtsquellen  lehrt 
uns  für  die  M  y  t  h  o  1  o  g  i  e  nichts.  Nach  Art  der  mehrfach  erscheinenden 
Traktate  und  Einleitungen  zu  den  Rechten  sind  hier  in  gelehrter  Weise 
die  verschiedenartigsten  Stücke  vereinigt« 3).  Mir  scheint  doch  wahr- 
scheinlich, daß  unter  diesen  Stücken  Oberreste  alten  Volksglaubens  stecken. 
Erklärt  man  selbst  die  goldene  Axt  mit  ihm4)  als  etymologische  Mythe 
zur  Erklärung  des  Ortsnamens  Axenshove,  so  bliebe  doch  immer  die  auf- 
fällige Nachbarschaft  von  Eswei ,  das  v.  Richthofen  ansprechend  mit 
Götterweg  erklärt  hat.  Auch  erinnert  die  Art  der  Erscheinung  und  das 
Unterrichten  auf  dem  im  Schiff  erreichten  Ufer  mehr  an  die  Epiphanie 
heidnischer  Götter5)  als  an  die  Parusien  Christi  oder  der  Heiligen.  Und 
hätte  man  diesen,  vor  allem  aber  Christus  jenes  Attribut  zugemutet? 

Ich  glaube  also,  wir  dürfen  diese  Legende  dem  Fosite  anrechnen. 

Die  Gleichheit  von  Forseti  und  Fosite  hat  zuerst  J.  Grimm 
angenommen,  dem  Mogk  folgt;  Golther6)  zweifelt,  ebenso  Siebs7);  Meyer8) 
verwirft  die  Gleichsetzung.  Gegen  die  Identität  spricht  die  Verschieden- 
heit der  Namen9).  Sie  würde  sich  erklären,  wenn  Fosete  (zu  schwedisch 
fasa,  angelsächsisch  fesian  schaudern?  nach  Siebs  zu  Jos  Nahrung?) 
der  rechte  Name,  Forseti  »der  Vorsitzer«  (nämlich  im  Gericht)  volks- 
etymologische Umdeutung 10)  wäre.  Für  die  Identität  spricht  die  Ähnlich- 
keit oder  vielmehr  die  wahrscheinlich  ursprüngliche  Gleichheit  des 
Namens  und  die  Gleichheit  der  Funktion:  Forseti  ist  in  der  Edda  der 
beste  der  Richter,  Fosite  ist  (wenigstens  nach  jener  Legende)  ver- 
kündender Gott. 


')  Vgl.  Siebs  S.  550f.  2)  Golther  S.  389. 

3)  S.  551.  4)  S.  552. 

5)  Einl.  zu  Grim.;  vgl.  auch  Rig  in  der  Rig. 

6)  S.  389.  7)  S.  546  f.  8)  S.  407. 

9)  Meyer  und  Siebs  a.  a.  O.;  Golther  S.  387,  2. 
10)  Mogk  S.  328. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  383 

Diese  Gründe  lassen  wohl  die  Wagschale  zugunsten  der  Gleichheit 
sinken.  Es  entsteht  dann  die  Frage  nach  Ursprung  und  Entwick- 
lung des  Gottes. 

Golther  sieht  in  ihm  eine  Emanation  des  Tiuz1),  wofür  schlechter- 
dings nichts  spricht.  Mogk2)  leitet  ihn  von  ßalder  ab.  Hierfür  würde 
ich  die  Ähnlichkeit  ihrer  Burgnamen  Breidablik  und  Glitnir  nicht  in  An- 
schlag bringen,  da  solche  Helligkeitsnamen  wenig  besagen  und  jung  sind. 
Aber  daß  man  ihn  zum  Sohn  des  Balder  und  der  Nanna  machte  (gewiß 
spät,  da  wir  Nanna  selbst  nicht  für  alt  halten  können  und  lebendige  An- 
schauung dem  jugendlichsten  Gott  schwerlich  einen  Sohn  gab),  spricht 
dafür,  daß  man  zwischen  beiden  eine  Verwandtschaft  zu  fühlen  glaubte.  — 
Das  Attribut  endlich,  immer  die  Verwendbarkeit  jener  Sage  voraus- 
gesetzt, könnte  für  hohes  Alter  eines  selbständigen  Gottes  zeugen.  Dies 
ließe  sich  mit  Mogks  Meinung  vereinigen,  der  friesische  Hauptgott  sei 
durch  Handelsbeziehungen  nach  Norwegen  gekommen  und  dort  in  den 
»Vorstand«  umgedeutet  worden :  die  Friesen  in  ihrem  strengen  Rechtssinn 
hätten  den  Rechtsgott  zum  Hauptgott  gemacht3). 

Es  wären  noch  mancherlei  Anknüpfungen  möglich.  Der  silber-goldene 
Saal  erinnert  an  das  silber-goldene  Grab  des  Königs  Hölgi,  des  Vaters 
von  Thorgerd  Hölgabrud4).  Die  »Axt«  würde  an  Donar  erinnern5),  die 
»Achse«  an  einen  Schiffswagen  wie  den  Ings,  wozu  die  Rettungslegende 
paßt.  (Doch  wird  solche  Rettung  aus  Seenot  auch  den  indischen  Agvins 
nachgerühmt;  christlicher  Einfluß  kommt  hinzu.) 

Mir  wäre  eine  frühe  Hypostase  Odins  noch  am  wahrscheinlichsten: 
der  Gott  der  staatlichen  Ordnung  wäre  speziell  zum  Rechtsgott  geworden ; 
die  Rettung  aus  Seegefahr  kommt  auch  ihm  zu ;  die  Achse  wäre  das  um- 
gedeutete Zepter  des  Gerichtsherrn  .  .  . 

Brag-i6). 

« 

Eine  ganz  klare,  aber  auch  ganz  junge  Gestalt:  der  Gott  der  Dicht- 
kunst.    Nur  der  Ursprung  und  die  Entwicklung  sind  unsicher. 

Sein  Name:  bragi  der  Fürst,  der  Erste  (so  ist  Thor  äsabragr)1); 
daher  auch  in  Helden-  und  Ortsnamen8). 

An  Zeugnissen  haben  wir  aus  den  Eddaliedern:  Loki  begrüßt 
alle  Götter,  verweigert  aber  dem  Bänkedrücker  Bragi  den  Gruß.  Dieser 
will  ihn  mit  Roß  und  Armring  versöhnen9),   aber  Loki  meint  höhnisch: 

*)  S.  388.  2)  S.  327.  3)  Vgl.  Mogk  S.  328. 

4)  Golther  S.  483;  siehe  u.  5)  Ebd.  S.  390. 

6)  Unland,  Sehr.  6,  277;  Mogk,  PBB.  12,  383  und  14,  81  f.  Mogk 
S.  365,  Golther  S.  400,  Meyer  S.  419,  Chantepie  S.  192.  267. 

7)  Golther  S.  404. 

8)  Ebd.  Anm.;  auch  in  der  Edda:  Bragi  (Helg.  Hund.  2,  18). 


9)  Vgl.  Heinzel-Detter  2,  252. 


384  Viertes  Kapitel. 

wer  so  feige  sei,  der  komme  nicht  zu  solchen  Ehrengaben.  Bragi  droht, 
Loki  höhnt,  Idun  mahnt  Bragi  um  aller  Kinder  und  Wunschkinder  willen 
zur  Ruhe  1).  Schließlich  gibt  Idun  selbst  den  bierberauschten  Bragi  preis  -). 
Außer  Thor  kommt  kein  Gott  Loki  gegenüber  so  ausführlich  zum  Wort.  — 
In  einem  Katalog  der  besten  Dinge  heißt  Bragi  der  beste  Skald3). 
Bragis  Zunge  wird  in  einem  andern  Denkvers4)  neben  des  Bären 
Tatze,  den  Pfoten  des  Wolfs,  des  Fischaars  Schnabel  unter  den  stärksten 
natürlichen  Waffen  genannt5). 

Snorri  schildert  ihn6)  als  weise,  klug  in  der  Rede,  am  meisten  in 
der  Dichtkunst  erfahren,  und  nennt  Idun  seine  Gattin  (was  auch  die  Lok. 
vorauszusetzen  scheint).  Außerdem  sind  die  Bragaroedur  und  Skald- 
skaparmäl  dem  trefflichen  Erzähler  und  Meister  der  Poetik  in  den  Mund 
gelegt. 

Skäldische  Belege:  >In  den  Eiriksmäl,  die  ein  begabter  Skalde 
nach  935  auf  König  Eirik  Blutaxt  dichtete,  treffen  wir  Bragi  in  Valhöli 
bei  Odin  als  dessen  Ratgeber  neben  Sigmund  und  Sinfjötli,  jenen  Ge- 
stalten der  Heldensage» 7).  Ebenso  steht  er  in  den  Häkonarmäl s)  als 
Odins  Hauptskalde  neben  dem  aus  der  Heldensage  in  den  Götterkreis 
übernommenen  Hermod5).  Kenningar  mit  Bragis  Namen  fehlen  nicht, 
auch  nicht  Anspielungen,  so  bei  dem  großen  Egill  Skallagrfmsson ,  auf 
das  Auge  des  vielschauenden  Dichters  und  seine  Verbindungen  mit  dem 
Dichtermeth  10). 

Kann  an  der  letzterwähnten  Stelle  nur  eine  späte  Anknüpfung  vor- 
liegen, so  scheint  dagegen  Lok.  Str.  17  auf  eine  weitere  Sage  zu  deuten, 
nach  der  Bragi  den  Bruder  Sduns  getötet  hätte11). 

Nach  seiner  Erscheinung  wird  er  als  alt  geschildert,  mit  langem 
weißen  Bart,  wie  Odin  selbst12),  d.  h.  als  erfahrener  Meister  der  Dicht- 
kunst. Dabei  ist  er  Gatte  der  Verjüngungsgöttin.  —  Der  Dichter  der 
Lok.  zeigt  ihn,  in  seiner  «parodistischen  Manier,  vom  Begeisterungstrank 
berauscht;  da  gebärdet  er  sich  wie  ein  reicher,  kampflustiger  Recke. 

Ein  Attribut  fehlt,  was  gegen  das  Alter  des  Gottes  um  so  mehr 
spricht,  als  irgendein  Saiteninstrument  ihm  so  leicht  hätte  in  die  Hand 
gegeben  werden  können.     Ein  Kult  ist  erst  recht  nicht  anzunehmen. 


5)  Lok.  Str.  11—16.  2)  Str.  18. 

-")  Grim.  Str.  44.  4)  Sgdr.  Str.  16. 

5)  Wiederholt  Gylf.  cap.  41 :  Gering  S.  331. 
°)  Gylf.  cap.  26:  Gering  S.  320. 
7)  Mogk  S.  366.  8)  Aus  dem  Jahr  951. 

9)  Ebd.  10)  Golther  S.  403. 

n)  Heinzel-Detter  2,  253;  vgl.  Helg.  Hjörv.,   wo  freilich  unentschieden 
bleibt,  ob  Sväva  sich  mit  Hedin  vermählt,  worauf  doch  Str.  33  deutet. 
,53)  Mogk  S.  366. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  335 

Für    den    Ursprung    stehen    zwei    Hypothesen    sich    gegenüber: 

1.  Odin,  der  eigentliche  Dichtergott,  habe  sein  Bild  bestimmt;  Bragi  sei 
eine  Emanation  Odins,  erst  sein  thulr,  sein  Spielmann,  dann  sein  Sohn l). 

2.  Bragi  sei  lediglich  das  vergöttlichte  Abbild  einer  historischen  Per- 
sönlichkeit, des  Bragi  Boddason,  der  im  9.  Jahrhundert  der  erste 
nachweisbare  Hofskalde  war2)  —  die  herrschende  Anschauung3)  Es  wäre 
also  dieser  Altmeister  der  Kunst  von  den  Skalden  als  ihr  Vertreter  in 
den  Himmel  erhoben  worden,  wie  er  denn  auch  ihr  Liebling  ist4). 

Klar  scheint  eins:  daß  auch  hier  die  heroisch  angeschaute  Wirklichkeit 
in  die  Göttersage  hineingewachsen  ist.  Der  Fürst  hat  seinen  Sänger; 
auch  Odin  muß  seinen  Demodokos,  seinen  Volker  haben.  Dieser  Stimmung 
kam  dann  das  neu  erwachte  Standesbewußtsein  der  Skalden  entgegen. 
(Die  ganze  Entwicklung  legt  für  unsere  Annahme  nordischer  Standes- 
götter Zeugnis  ab).  Aber  Bragi  konnte  doch  wohl  in  den  Olymp  erst 
gehoben  werden,  nachdem  er  selbst  schon  eine  halbmythische  Persönlich- 
keit geworden  war5). 

An  Sänger  heften  sich  rasch  Legenden,  besonders  bei  den  Germanen : 
man  denke  an  das  Proömium  des  altsächsischen  Heliand,  an  den 
Wartburgkrieg,  die  Neithartlegende,  Tanhäuser,  den  Möringer,  vor  allem 
den  Brennenberger,  der  ja  sogar  Stoff  zu  sagengeschichtlichen  Unter- 
suchungen gegeben  hat6).  Ich  glaube  aber,  daß  man  zwischen  den 
historischen  Bragi  und  den  Gott  der  Dichtkunst  Sagen  von  Bragi  wird 
einschieben  müssen,  vielleicht  auch  Lieder,  die  von  ihm  erzählten  wie  von 
den  Dichterverkörperungen  Deör  und  Widsid,  Traugemunt  usw.  Irgendein 
Loblied  auf  den  alten  Sänger  mag  nach  dem  Muster  von  König  Sveigdirs 
Eingehen  zu  Odin7)  oder  ähnlicher  Sagen  erzählt  haben,  wie  Odin  sich 
freut,  den  Skalden  bei  sich  zu  begrüßen  —  und  der  Anstoß  zur  Sagen- 
bildung war  gegeben. 

Idun8). 

Auch  sie  gehört  unzweifelhaft  zu  den  jüngsten  Gestalten  des  nordischen 
Götterglaubens.  Gerade  diese  aber  haben  es  bei  der  Neubelebung  des 
nordischen  Altertums   den  Deutschen  angetan ,   und  die  ältesten  germani- 

1)  Meyer  S.  409. 

2)  F.  Jönsson,  Ark.  f.  nord.  Fil.  6,  141  f. 

3)  Z.  B.  die  Mogks;  GoltherS.  403  vorsichtiger.  Dagegen  z.  B.  Chantepie. 

4)  Grim.  Str.  44. 

5)  Ähnlich  ist  das  wirkliche  Klagelied  in  einem  Dichter  Linos  verkörpert 
worden,  der  bei  allen  Göttern  hochgeehrt  war,  weil  es  ihm  zuerst  gegeben 
worden,  im  hellen  Laut  den  Menschen  ein  Lied  zu  singen«  (Preller  1,  462). 

6)  Kopp,  Brennenberg-Lieder,  Wien  o.  J.  (1909). 

7)  Golther  S.  289. 

8)  Uhland,  Sehr.  6,  69;  Bugge,  Ark.  f.  nord.  Fil.  5,  1  f .  -  -  Mogk  S.  375, 
Golther  S.  448,  Meyer  S.  420. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  25 


386  Viertes  Kapitel. 

sehen  Zeitschriften  hießen  »Bragi«  und  »Iduna  und  Hermode<.  Diese 
Erscheinungen  wiederholten  sich  immer;  als  Sir  William  Temple 
klassische  Meisterstücke  des  Altertums  auswählte,  nahm  er  gerade  die 
Briefe  des  Phalaris,  und  wenn  Winkelmann,  Lessing,  Goethe  das  Höchste 
der  echten  Antike  nennen  wollten,  war  es  —  der  »Laokoon«.  Die  spätesten 
Produkte  stehen  oft  dem  Charakter  späterer  Zeiten  am  nächsten  (nicht 
notwendig,  nicht  immer);  der  Stimmung,  die  dem  Ossian  entgegenkam, 
entsprach  die  sentimentale  Mache  der  absterbenden  Mythologie. 

Der  Name1)  erklärt  sich  aus  altnordisch  id,  iterum  mit  dem  Suffix 
im:  die  Erneuerung;  es  kommt  als  Frauenname  auf  Island  vor2). 

Als  Attribute  bewahrt  sie  in  ihrer  Truhe3)  die  Äpfel,  welche  die 
Götter  genießen  müssen,  wenn  sie  anfangen  zu  altern;  davon  werden  sie 
wieder  jung,  und  so  wird  es  bleiben  bis  zum  Untergang  der  Götter4). 
Dieser  Äpfel  wegen  begehrt  der  Adler  in  der  Thjäzi-Fabel 5)  ihren  Be- 
sitz, und  deshalb  muß  Loki  sie  wieder  schaffen.  —  Nun  kommen  Äpfel 
auf  Island  nicht  vor,  auf  Norwegen  höchstens  in  Klostergärten;  deshalb 
haben  Bugge  und  Golther6)  die  Äpfel  aus  christlicher  und  antiker  Saat 
(Paradies;  Hesperidenäpfel)  hergeleitet.  Mit  den  Äpfeln  des  Paradieses 
seh  ich  keine  Ähnlichkeit;  aber  mit  denen,  die  die  Hesperiden  in  ihrer 
Hut  haben7),  ist  allerdings  die  Ähnlichkeit  unverkennbar.  Dennoch  hält 
Mogk8)  den  Mythus  für  rein  nordisch,  da  die  verjüngenden  Äpfel  auch 
sonst  in  der  deutschen  Sage  vorkommen9).  Der  Apfel  vertritt  die  runde 
Frucht  an  sich  und  ist  urgermanisch10).  Auffallend  ist  auch,  daß  den 
drei  Hesperiden n)  die  Eine  Idun  entspricht.  Trotzdem  bleibt  bei  der 
Jugend   der  ganzen  Gestalt   die  Anlehnung  wahrscheinlich.  — 

Idun  bewahrt  die  Äpfel  in  der  Truhe,  wie  Fulla  Friggs  Besitz.  Dies  kann 
natürlich  kein  alter  Zug  sein  —  Göttinnen  haben  keine  Aufbewahrungsgeräte 
im  Haus,  und  Odin  hängt  seinen  Speer  nicht  über  Nacht  in  den  Waffen - 


*)  Golther  S.  448. 

2)  Schon  der  Name  ist  ganz  abstrakt:  eine  Art  nomen  actionis,  noch  ab- 
strakter als  die  griechische  Hebe  (Preller  1,  498),  die  doch  einen  bestimmten 
Beruf  hat:  Mundschenkin  der  Göttin  zu  sein  —  so  wußten  die  Griechen  die  Idee 
des  Darreichens  eines  Verjüngungstranks  plastisch  auszubilden!  —  Die  lateinische 
Juventus  ist  trotz  ihrem  abstrakten  Namen  einfach  die  Schutzgöttin  der  heran- 
wachsenden Jugend  (Wissowa  S.  125). 

3)  Vgl.  auch  allgemein  über  »Truhenmärchen«  Wundt  2,  3,  259. 

4)  Gylf.  cap.  26:  Gering  S.  328. 

5)  Brag.  cap.  2:  Gering  S.  353;  vgl.  o.  S.  344. 

6)  S.  450. 

7)  Preller  1,  563,  wo  auch  auf  Iduna  Bezug  genommen  wird. 

8)  S.  375. 

9)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  33. 
10)  Kluge,  Etymol.  Wörterbuch,  S.  15. 
n)  Preller  S.  564. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  387 

schrank — ,  aber  zu  beachten  ist  es  doch;  denn  gerade  die  rationalistische, 
allzu  gut  bürgerliche  Vorstellung  macht  auf  ein  weiteres  Bedenken  gegen 
die  Echtheit  der  Äpfel  aufmerksam,  ein  sozusagen  mythentechnisches 
Bedenken.  Echte  alte  Attribute  sind  mit  der  Erscheinung  ihrer  Träger 
untrennbar  verbunden:  sie  gehören  zur  Kleidung  (Hut,  Mantel,  Schuh), 
zur  Ausrüstung  (Speer,  Hammer,  Bogen),  zur  ständigen  Begleitung  (Roß, 
Böcke,  Raben,  Katzen).  Ablegen  kann  der  Gott  seine  Attribute  nur,  wenn 
er  sich  überhaupt  verwandelt;  wie  der  König  im  Märchen  Krone  und 
Szepter  nur  abtut,  wenn  er  sich  verkleidet1),  ja  selbst  dann  guckt  noch 
oft  der  Pferdefuß  hervor,  und  Odin  hat  auch  als  Wandersmann  noch  Hut 
und  Mantel  des  Gottes.  (Leitet  man  Hut  und  Mantel  selbst  erst  von 
dem  Wanderer  ab,  so  ändert  das  nichts  an  der  Sachlage).  —  Diese  Äpfel 
aber  sind  mit  der  Gestalt  nicht  natürlich  verbunden  —  man  kann  sie  ab- 
legen und  in  die  Truhe  legen ;  ja  man  muß  es  für  gewöhnlich  tun.  Solch 
ein  Parade-Attribut  verhält  sich  zu  dem  Lebens-Attribut  eines  alten  Gottes 
(das  oft  älter  als  er  selbst,  ein  ursprünglicher  Fetisch  ist),  wie  der  Schutz- 
engel des  christlichen  frommen  Glaubens  zu  Immermanns  berühmtem 
Engel,  den  man  auch  fortlassen  kann«  in  Platens  Romantischem  Ödipus. 
Attribute,  die  aus  der  Entwicklung  oder  der  Anschauung  heraus  erwachsen 
sind,  können  nicht  wie  Marionettensäbel  an-  und  abgehängt  werden.  — 
Ach  hätten  wir  doch  eine  zusammenhängende  Untersuchung  über  die 
Attribute  der  Götter  vom  Standpunkt  der  vergleichenden  Mythologie!  wir 
könnten  ein  paar  folkloristische  Varianten  zum  »Todaustreiben«  gern  da- 
für hergeben. 

Iduns  Funktion  ist  die  Verjüngung  der  Götter  —  ein  rationalistischer 
Gedanke. 

Im  Mythus  wird  sie  mit  Bragi  vermählt,  wohl  weil  dieser  mit  dem 
Begeisterungstrank  in  Verbindung  gebracht  war;  an  die  erneuernde  Kraft 
der  Poesie  ist  schwerlich  zu  denken.  —  Loki 2)  schilt  sie3)  die  Buhlin  des 
Mörders  ihres  Bruders,  worüber  wir  nichts  wissen.  Endlich  haben  wir 
die  Thjäzi-Geschichte4),  von  märchenhaftem  Charakter5)  —  junge  Spröß- 
linge eines  jungen  Mythenkreises. 

Loki  und  HocL 

Loki  und  Hod,  die  wir  unter  die  »Gegengötter«  eingereiht  haben, 
müssen  doch  auch  in  diesem  Zusammenhang  noch  einmal  erwähnt  werden, 
da  sie  früh   in  den  Kreis  der  Äsen  aufgenommen  worden  sind.     Ebenso 

J)  Vgl.  z.  B.  Thimme,  Lied  und  Märe,  Gütersloh  1876,  S.  96. 

2)  Lok.  Str.  17. 

3)  Siehe  o.  S.  348. 

4)  Naturmythologisch  ausgedeutet  von  Uhland;  vgl.  Golther  S.  650. 

5)  v.  d.  Leyen  S.  34. 

25* 


388  Viertes  Kapitel. 

müssen  hier  noch  einmal  jene  Götter  erwähnt  werden,  die  als  Gruppe 
eine  kleine  eigene  Welt  von  Nebengöttern  darstellen,  von  denen  freilich 
die  wichtigeren  persönlich  zu  Hauptgöttern  emporgestiegen  sind: 

Die  W  an en  r). 

Zu  den  Wanen  gehören:  Njord,  die  Geisel  der  Wanen  bei  den 
Äsen;  Frey,  sein  Sohn,  ihr  eigentlicher  Repräsentant2);  Freyja,  die  Vdnadis, 
Wanengöttin 3) ;  nach  Heinzel-Detters  Etymologie  auch  Väli,  »der  kleine 
Wane«,  was  aber  abzulehnen  ist4).  Nach  gewissen  Indizien  hat  man  auch 
Nehalennia5)  ihnen  zugesellen  wollen,  die  sich  aber  früh  von  Nerthus 
differenziert  zu  haben  scheint.  —  Nur  in  Bezug  auf  die  Kenntnis  der 
Zukunft  wird  Heimdall6)  mit  den  Wanen  verglichen.  Er  gehört  zu  den 
Äsen,  deren  am  meisten  charakteristische  Repräsentanten  Tyr,  Wodan,  Thorv 
Frigg  sind.  (Auch  Skadi,  obwohl  vermutlich  fremden  Ursprungs,  wird 
zu  den  Asinnen  gerechnet.) 

Der  Mythus  vom  Wanen  krieg7)  hat  sicher  religionsgeschichtlichen 
Hintergrund.  Die  Wanen  werden  dargestellt  als  ein  gegen  die  Äsen  ein- 
dringendes Göttergeschlecht.  Angeführt  werdeu  sie  von  Gullveig-Heid 8). 
Diese  könnte  also  eine  Wanengöttin  sein ;  aber  von  Freyja 9)  werden  nirgends 
Mythen  auch  nur  angedeutet,  die  zu  Gullveigs  Schicksalen  stimmten ;  auch 
ist  sie  viel  jünger.  Freilich  könnte  sie  von  Gullveig  Züge  angenommen 
haben:  sie  ist  zauberkundig,  sie  reitet  auf  dem  Goldeber.  Indeß  ist  doch 
wohl  wahrscheinlicher,  daß  Gullveig-Heid  keine  eigentliche  Göttin  ist, 
sondern  eine  bloße  Abstraktion:  die  Verkörperung  der  »Goldkraft«  ,  der 
neuen  Kultur.  In  diesem  Sinn  würde  sie  so  wenig  zu  den  Wanen  selbst 
gehören  wie  etwa  die  Nornen  zu  den  Asinnen. 

Der  Gegensatz  zwischen  Äsen  und  Wanen  ist  ein  doppelter:  Er  ist  zu- 
nächst regional.  Schon  ursprünglich  verrät  vielleicht  der  Name  der  Winiler 
ein  besonderes  Bekenntnis  zu  den  Wanen10).  Der  Kult  Njords  und  Freys 
ist  im  mittleren  Skandinavien  der  älteste;  Frey  steht  als  »Schwedengott« 
dem  auf  dem  Seewege  aus  Deutschland  eindringenden  Odin,  dem  »Sachsen- 


*)  Meyer  S.  451,  Mogk  S.  322,  Golther  S.  220,  Much  S.  260.  —  Über 
den  Mythus  vom  Wanenkrieg  Hoffory.  Eddastudien,  S.  1411;  Wein  hold. 
Sitzungsber.  d.  Berl.  Akad.  1890  S.  611  f.;  Mogk  S.  323. 

2)  Mogk  S.  322. 

8)  Gylf.  cap.  35:  Gering  S.  326. 

4)  Siehe  o.  S.  377. 

*)  Siehe  u.;  vgl.  Golther  S.  460. 

6)  Thrymskv.  Str.  14;  vgl.  Golther  S.  360  Anm. 

7)  Bes.  Völ.  Str.  21  f.;  Gyl.  cap.  23:  Gering  S.  317;  vgl.  Brag.  cap.  2: 
Gering  S.  354.  —  Golther  S.  220f.  3051 

8)  Vgl.  o.  S.  343.  9)  Golther  S.  221.  444. 
10)  Mogk,  Sammlung  Göschen  92  S.  82. 


§  19.    Eddische  Nebengötter.  38Q 

gort  gegenüber.  Über  Dänemark  kommt  der  Odinskult  nach  Schweden 
und  Norwegen :  den  uralten  Stätten  wie  Lund,  Ringsted,  Hleidra,  Wiborg 
traten  neue  ausschließlich  Odin  geweihte  zur  Seite,  Odinsve,  jetzt  Odense 
in  Finnen  und  Onsved  in  Seeland.  In  Schweden  sind  viele  Orte  nach 
Odin  benannt :  Odenswi,  Odensnäs,  Odensjö,  Odensberg,  Odensala  usw. 
Weniger  volkstümlich  wurde  Odin  in  Norwegen,  weshalb  verhältnismäßig 
nur  wenige  Ortsnamen  dort  für  ihn  zeugen.  Um  so  siegreicher  erhob 
er  sich  im  Skaldenlied.  Die  Zeit  der  Einwanderung  des  deutschen  Wodans- 
glaubens in  Dänemark  und  Skandinavien,  welche  in  den  halb  gelehrten 
Berichten  x)  noch  nachklingt4,  läßt  sich  nicht  bestimmen.  Nur  im  all- 
gemeinen darf  behauptet  werden,  daß  Odin  längere  Zeit  vor  den 
ältesten  Skalden,  also  etwa  um  800,  bereits  in  Norwegen  bekannt  gewesen 
sein  muß.  Das  Heldenzeitalter  des  norwegischen  Stammes  stellte  Odin, 
den  Gott  des  Krieges  und  des  Geistes,  in  den  Mittelpunkt  der  Dichtung 2).  — 
Es  liegt  also  »ein  uralter  Kultkrieg  zwischen  den  Anhängern  eines  fest- 
gewurzelten altheiligen  Glaubens  und  den  Vertretern  einer  neuen  aus  der 
Fremde  stammenden  Religion«3)  vor. 

Freilich  sind  nach  der  Edda  die  Wanen  die  Angreifer.  Man  könnte 
das  als  Entstellung  vom  Standpunkt  der  Asenverehrer  betrachten,  wenn 
die  Darstellung  den  Äsen  nicht  ziemlich  ungünstig  wäre.  Man  muß  also 
wohl  annehmen,  daß  die  anfänglich4)  im  Norden  kulturell  führenden 
Schweden  sich  zu  einer  Reaktion  erhoben  und  für  ihre  alten  Götter  gegen 
die  neuen  »Sachsengötter«  eintraten;  bis  dann  ein  gewisser  Ausgleich 
stattfand  und  die  Dreiheit  Odin,  Thor,  Frey  gleichsam  die  nordische  Union 
in  der  Götterverehrung  abbildete5). 

Es  entstand  ein  Synkretismus,  wie  in  der  ersten  Christenheit:  Thor 
neben  Christus6).  Die  Gegensätze  glichen  sich  stärker  aus  als  zwischen 
Odin  und  Thor. 

Der  Gegensatz  ist  aber  auch  ein  religiöser:  die  Vanir,  die 
»Glänzenden«  (zu  altsächsisch  wanom)1)  segnen  mit  Reichtum:  sie  sind 
Kulturgötter  gegenüber  den  kriegerischen  Äsen.  Zu  dem  Kampf  um  den 
Anteil  an  den  Opfern 8)  trat  der  um  die  ganze  Lebensanschauung  —  das 
Wort  ist  kaum  zu  meiden,  wenn  man  an  die  Hävamäl  denkt.  Es  ist 
vielleicht  bezeichnend,   daß  zwar  Odin  den  Vorrang  vor  Frey  behauptet, 

J)  Bei  Saxo  und  Snorri,  bes.  Ynglingasaga  cap.  1—5. 

-)  Golther  S.  305;  vgl.  Olrik,  Nord.  Geistesleben,  S.  36. 

8)  Golther  S.  222. 

4)  Olrik  S.  lf. 

5)  Solche  offizielle  Aufnahme  fremder  Gottheiten  begegnet  oft;  vgl.  z.  B, 
für  Rom  Wissowa  S.  239f, 

6)  Vgl.  o.  S.  291;  Golther  S.  261. 

7)  Golther  S.  220,  2.  *)  Völ.  Str.  23. 


390  Viertes  Kapitel. 

Freyja  aber   Frigg  zurückdrängt:   für   Gold    und  Schmuck   hat  die  Frau 
doch  noch  mehr  übrig1). 

§  20.    Nacheddische  Gottheiten. 

Hierher  rechne  ich  die  Gottheiten,  die  in  der  Edda  nicht  in  den 
Götterkreis  aufgenommen  sind,  mögen  sie  auch  nahe  daran  sein,  die  aber 
in  der  Prosa-Edda  eine  Darstellung  finden.  Diejenigen,  die  überhaupt  nicht 
im  Norden  vorkommen,  unterscheide  ich  von  ihnen  als  »Außereddische 
Gottheiten«2);  besonders  gehören  dazu  die  nur  lateinisch  überlieferten 
Namen. 

Hei3). 

Der  Name  ist  gleichbedeutend  mit  gotisch  halja ,  altnordisch  helr 
angelsächsisch  hell,  althochdeutsch  hella  (von  der  Wurzel  von  »hehlen«) : 
»die  Verbergende«  —  gemeingermanischer  Ausdruck  für  den  Aufenthalts- 
ort abgeschiedener  Seelen.  Der  Begriff  ist  zunächst  rein  heidnisch.  »Im 
Norden  finden  wir  denselben  räumlichen  Begriff  in  Redensarten,  die  zum 
Teil  noch  fortdauern«4). 

»Im  Norden  entwickelt  sich  aus  der  örtlichen  hei  die  persönliche 
Hei«5).  Es  ist  nicht  völlig  deutlich,  wie  diese  Entwicklung  sich  vollzog. 
Bei  den  Hellenen  scheint  das  »unerreichbare  Totenland« 6)  von  allem 
Anfang  an  das  »Haus  des  Hades«  zu  heißen7);  und  in  der  Tat  ist  der 
Totenherr  (oder  die  Totengöttin)  wohl  älter  als  die  Vorstellung  eines  be- 
stimmten »Landes  der  Seelen«.  Aber  von  einer  gemeingermanischen 
Unterweltsgöttin  wissen  wir  nichts.  Es  muß  wohl  eine  unmittelbare  Ver- 
körperung des  femininen  Appellativs  angenommen  werden,  etwa  in  der 
Epoche  der  neuen  Elementargottheiten :  zu  Surt,  dem  unterirdischen  Feuer, 
und    Hönir,   dem    unterirdischen  Wasser   (nach   meiner  Auffassung),   die 


*)  Später  wiederholt  sich  der  Gegensatz  der  Weltanschauungen,  wie  ihn 
poetisch  stilisiert  etwa  Grillparzers  Libussa  malt,  in  Starkads  Kapuziner- 
predigten; vgl.  Olrik  a.  a.  O.  S.  90 f.  —  Eine  ähnliche  Gruppe  wie  die  Wancn 
bilden  vielleicht  das  uralte  indische  Doppelpaar  der  Adityas  (Macdon eil  S.  43): 
die  Himmelsgötter  Mitra  und  Varuna  —  die  am  frühesten  genannten  arischen 
Götter  — ,  der  »Spender«  Bhaga  (S.  45)  und  der  »Genosse«  Aryaman  (ebd.). 
Zu  ihnen  wurde  später  eine  Mutter  Aditi  »die  Ungebundenheit«  erschaffen 
(vgl.  ebd.  S.  120),  die  sogar  wiederum  eine  böse  Göttin  Diti  »Gebundenheit 
(S.  123)  erzeugte.  Ursprünglich  waren  die  vier  wohl  aber  einfach  (vgl.  S.  122) 
die  Söhne  der  Freiheit«,  d.  h.  »Herren  der  Freiheit««,  die  den  Menschen  durch 
ihre  Gaben  und  Hilfe  lösten:  Spender  des  Gedeihens  wie  Frey  und  Njord. 

a)  §  21. 

8)  MogkS.  375,  GoltherS.  471,  Meyer  (der  sie  zu  den  höheren  Dämonen 
rechnet)  S.  246.  463. 

4)  Golther  S.  471.  »)  Ebd. 

ü)  Rohde  S.  34.  7)  Preller  1,  807f. 


§  20.    Nacheddische  Gottheiten.  391 

beide  nur  nordisch  sind,  würde  Hei,  das  unterirdische  Land,  wohl  stimmen. 
Doch  sind  zu  diesen  keine  Beziehungen  nachzuweisen. 

Die  Unterwelt  ist  also  zunächst  einfach.  Früh  aber  bildet  sich 
eine  Scheidung  der  Seelenländer  heraus.  Wie  bei  den  Hellenen  Elysion, 
die  Insel  der  Seligen1),  allmählich  zu  der  Vorstellung  der  » Höllen- 
strafen «  in  der  übrigen  Unterwelt  geführt  haben  muß2),  so  hat  Walhall, 
als  es  der  Sitz  der  Odinsdiener  geworden  war,  Hei  heruntergewürdigt. 
Höchst  merkwürdig  ist  es,  daß  bei  den  Hellenen3)  gerade  wie  bei  den 
Germanen4)  der  Meineid  die  erste  Untat  ist,  die  im  Jenseits  bestraft 
wird.  Es  könnte  hier  eine  indogermanische  Vorstellung  erhalten  sein : 
wer  die  Götter  bekriegt,  begibt  sich  in  die  Gewalt  der  außerhalb  der 
.Götterwelt  lebenden  Peiniger. 

Je  mehr  nun  dieser  Gegensatz  von  Hei  und  Walhall  empfunden  wird, 
desto  stärker  bildet  sich  der  Parallelismus  aus.  Der  feierliche  Empfang 
Balders5)  entspricht  dem  der  Helden  bei  Odin:  »daß  der  Orkus  vernehme: 
ein  Fürst  kommt,  drunten  von  ihren  Sitzen  sich  die  Gewaltigen  lüften«. 
Natürlich  ließ  sich  der  Gegensatz  auch  christlich  ausdeuten,  was  wohl 
früh  geschah6).  Zunächst  aber  malt  man  sich  ganz  abstrakt  eine  Um- 
gebung der  Hei  aus,  die  zu  der  glänzenden  Odins  überall  das  Gegenbild 
ergibt  (nur  daß  natürlich  auch  hier  die  Tore  weit  sein  müssen)7).  Zwar 
die  Unterweltsflüsse  scheinen  uralt8).  Sonst  aber  betont  Snorri9)  nicht 
zufällig  den  Gegensatz  von  Gimle  und  Näströnd,  dem  Heim  der  Seligen 
und  dem  Totenstrand.  Wie  dort  alles  Glanz  von  Gold  und  Edelstein, 
ist  hier  alles  (mit  Rückert  zu  reden)  »1  ei chenf arber  als  Rhabarber« :  der 
Saal  heißt  Plage,  die  Schüssel  Hunger,  das  Messer  Schwund,  Knecht  und 
Magd  (die  Walküren  der  Hei)  heißen  die  Faulen,  die  Schwelle  macht 
müde,  das  Bett  krank,  das  Bettuch  ist  aus  bleichem  Unglück  ge- 
webt10). — 

Erst  aus  diesem  Gegensatz  zwischen  Walhall  und  Hei  scheint  sich 
ihre  genealogische  Beziehung  zu  den  Gegengöttern  zu  entwickeln:  sie 
wird  Lokis  Tochter  oder  Gattin  10),  nimmt  aber  am  Ragnarök  nicht  selbst 


*)  Preller  1,  815. 

*)  Vgl.  Preller  1,  821;  Rohde  S.  59. 

3)  Rohde  a.  a.  O. 

4)  Völ.  Str.  39;  auch   >morthvarg<  bezeichnet  den  verräterischen,  meineidigen 
Mörder,  wie  etwa  Akv.  Str.  32  Atli  einer  ist. 

5)  Golther  S.  475. 

6)  Vgl.  Golther  S.  477. 

7)  Wie  auch  bei  Aidoneus;   Preller  1,  807. 

8)  Völ.  Str.  39:  Preller  1,  816. 

9)  Gylf.  cap.  52:  Gering  S.  350. 

10)  Eine  ähnliche  Sippe  bilden  Märas  Töchter  (siehe  o.  S.  350,  13  Anm)  oder 
noch  in  Kaiser  Maximilians  Theurdanck:   Unfallo,  Furwittick,  Neidelhart. 


392  Viertes  Kapitel. 

teil:  nur  »die  Leute  der  Hei«  kämpfen  mit1)   —   ein  Beweis,  wie  wenig 
die  Verkörperung  der  Unterwelt  bei  den  Nordleuten  lebendig  geworden  ist 

Auch  ihre  Erscheinung  ist  »gedacht«  wie  jene  Allegorien  im  Stil 
von  mittelhochdeutsch  Freudenstadt  und  Reuenthal :  halb  schwarzblau,  halb 
fleischfarben  wie  ein  verwesender  Leichnam2). 

Endlich  erhält  sie  auch  ein  Attribut:  wer  ihre  Äpfel  genießt,  muß 
bei  ihr  bleiben3)  —  wohl  gewiß  eine  Nachbildung  der  Proserpinasage. 
Doch  mag  auch  an  die  » Totenäpfel <  ,  die  inwendig  Asche  bergen,  ge- 
dacht sein. 

Ran4). 

Ran5):  die  »Räuberin«  ist  die  Göttin  des  Seetodes  oder  die  ver- 
derbliche Göttin  des  Meeres  neben  dem  heiteren  Meergott  Ägir.  In 
Heldenliedern  der  Edda  kommt  sie  nur  in  sprichwörtlicher  Verwendung 
vor:  Männer  zur  Ran  senden6),  das  Schiff  befreit  sich  aus  Rans  Krallen7). 
Schon  die  Hypothesis  zu  Reg.  geht  weiter  in  der  Vermenschlichung:  Ran 
hat  ein  Netz  als  Attribut,  das  Loki  sich  leiht,  um  Andvari  zu  fangen. 
Mit  diesem  Netz  geht  dann  die  Mythenbildung  weiter:  Niemand  kann 
seinen  Maschen  entschlüpfen.  —  Die  Skalden  malen  dann  ihr  Wesen,  be- 
sonders aber  die  junge  romantische  Frithjofsage ,  die  von  dem  »Weib 
ohne  Herz  im  Leibe«  spricht. 

Auch  sie  wie  Hei  ist  wohl  ursprünglich  lokal  gedacht;  möglich  wäre 
aber  auch,  daß  sie  ein  alter  Wasserdämon  von  weiblicher  und  verderb- 
licher Art  wäre.  Sie  erhält  Ägir  zum  Gatten ;  ihre  Kinder  sind  die  (älteren) 
neun  Wellen,  von  denen  Heimdall  geboren  wird.  Diese  werden  dann  ent- 
sprechend stilisiert:  sie  führen  der  Mutter  die  Schiffer  zu. 

Ägir. 

Ägir  selbst8)  ist  wohl  unzweifelhaft  der  kollektivierte  Wassergott, 
der  kindlich  frohe  Herr  des  (stillen)  Meeres;  auch  sein  Name  scheint  zu 
gotisch  ahwa,  lateinisch  aqua  zu  gehören 9).  Er  hat  lediglich  die  Funktion, 
den  Göttern  das  Mahl  zu  bereiten10);  dazu  dient  ihm  der  Kessel,  den 
Thor  von  Hymir  holt11).  Dazu  gibt  ihm  die  Prosa  der  Lok.  zwei  Diener: 
Fimafeng,  der  Behende  und  Eldir,  das  Feuer.    Nur  der  letztere  kommt 


*)  Siehe  o.  S.  350.  2)  Vol.  Str.  51. 

3)  Golther  S.  474. 

4)  Nach  einer  jungen  Sage:  Golther  S.  477. 
B)  Golther  S.  478,  Mogk  S.  303. 

6)  Helg.  Hjörv.  Str.  18. 
■)  Helg.  Hund.  1,  31. 

8)  Siehe  o.  S.  251;  Golther  S.  174f;  Mogk  S.  302,  Meyer  S.  237f. 

9)  Golther  S.  174  Anm. 

10)  Lok.;  Grim.  Str.  45. 

n)  Oder  zurückholt;  Hym.  Str.  39. 


§  20.    Nacheddische  Gottheiten.  393 

im  Text  vor;  der  erstere  ist  ein  beliebig  hinzuerfundener  Helfer.  Aber 
das  Feuer  ist  nötig,  damit  der  Kessel  seine  Schuldigkeit  tun  kann. 

Ägirs  Braukessel  (der  Gott  heißt  geradezu  »Bierkünstler  aller  Licht- 
götter«)1) wird  als  das  Meer  gedeutet;  wenn  es  gefroren  ist  (aber  friert  das 
Meer?),  ist  es  in  der  Gewalt  der  Eisriesen2).  —  Die  Deutung  des  Kessels  auf 
das  Meer  ist  fast  unvermeidlich:  wie  ein  Kessel  hängt  es  zwischen  den  Küsten; 
der  Sturm  *  braut«  in  dem  Wasser,  daß  es  überkocht.  Aber  wie  kommt 
Ägir  dazu,  der  Wirt  der  Götter  zu  sein  ?  Meerwasser  ist  doch  kein  Nektar ! 
Bei  Ran  bekommen  die  Ertrunkenen  Hummer  und  Dorsch3);  und  was 
spendet  Ägir  für  Hunger  und  Durst  der  Götter? 

Vielleicht  klingt  hier  ein  uralter  Mythus  nach.  Poseidon  wandelt4) 
zum  Mahl  zu  den  Äthiopen,  die  zwiefach  geteilt  sind,  teils  am  Untergang 
des  Helios,  teils  am  Aufgang.  Dort  also,  wo  die  Sonne  ins  Meer  ver- 
sinkt oder  aus  dem  Meer  aufsteigt,  hält  er  sein  Mahl.  Ob  es  einen  Mythus 
gab:  die  Lichtgötter  (tivar)  —  mit  denen  sich  Poseidon  im  Wesen  viel- 
fach berührt,  z.  B.  in  der  Art  seiner  Rosse  und  seiner  Fahrt 5)  —  nehmen 
im  Meer  ihr  Mahl  ein,  wenn  sie  hinabtauchen?  —  Jedenfalls  scheint  mir 
wahrscheinlicher,  daß  aus  jener  Vorstellung  die  des  Meereskessels  entstand, 
als  umgekehrt.  Man  denke  auch  an  die  alte  Formel,  wieder  griechisch 
und  germanisch,  vom    »Abendessen  in  der  Unterwelt«. 

Thorgrerd  Holgabrud6). 

Von  dieser  Halbgöttin  wissen  wir  verhältnismäßig  viel.  Wir  hören 
fast  nur  von  Einem  Diener  der  Thorgerd,  aber  dies  war  der  mächtige 
Jarl  Häkon  im  norwegischen  Halogaland  (970 — 995),  der  das  Heidentum 
wieder  aufrichtete.  Er  erbaute  ihr  mehrere  Tempel,  im  Gudbrandsdal,  im 
Gebiet  von  Drontheim ;  dort  stand  in  Lebensgröße  in  der  Mitte  Thor  auf 
seinem  Wagen,  rechts  Thorgerd,  links  ihre  Schwester  Irpa;  alle  drei  mit 
Goldringen  an  der  Hand.  In  dem  zweiten  Tempel  standen  sogar  viele 
Götzenbilder,  Thorgerd  aber  quer  vor  dem  Eingang,  prächtig  geschmückt. 
Häkon  betet  zu  ihr  auf  den  Boden  hingestreckt;  als  eine  Art  Orakel  er- 
scheint es,  daß  er  ihr  den  Ring  vom  Finger  ziehen  will:  da  es  nicht 
gelingt,  weint  er  und  versucht  es  nochmals,  diesmal  mit  Erfolg.  Vor  der 
Schlacht  aber  opfert  er  ihr  gar  einen  siebenjährigen  Sohn.  —  Doch  hat 
sie  auch  auf  Island  einen  Tempel;  diesen  verbrennt  Grimkell,  als  sie  ihn 
verlassen  will,  und  stirbt  dafür  noch  am  selben  Tage. 


\)  Vgl.  Golther  S.  174. 

2)  Hymirs;  Gering  S.  29. 

3)  Mogk  S.  303.  4)  Odyssee  1,  22  t 
B)  Preller  1,  568. 

6)  Golther  S.  482,  Meyer  S.  273,  Mogk  S.  275.        Storni,  Ark.  f.  nord- 
Fil.  2,  124;  Detter,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  32,  394. 


394  Viertes  Kapitel. 

Thorgerd  hilft  dem  Jarl,  indem  sie  ein  Hagelwetter  über  seine  Feinde 
wirft:  man  sieht  sie  hinter  ihm  stehen,  wie  von  jedem  ihrer  Finger  töd- 
liche Pfeile  auf  die  Feinde  fliegen.  Als  das  Gewitter  nachläßt,  ruft  Häkon 
nochmals  Thorgerd  und  Irpa  an;  das  Hagelwetter  erneut  sich,  und  der 
Feind  flieht  vor  den  bösen  Hexen  *). 

Sie  ist  also  wohl  eine  lokale  Elementargottheit,  der  der  rohe  Charakter 
ihrer  Verehrer  etwas  Hexenartiges  gegeben  hat;  für  eine  aus  dem  nordisch- 
finnischen Grenzgebiet  entlehnte  Zaubergöttin  braucht  man  sie  deshalb 
noch  nicht  mit  Golther2)  zu  halten;  auch  nicht  für  eine  vergöttlichte 
Hexe:  »Daß  Häkon  Trollen  anbetete,  ist  wenig  wahrscheinlich«3),  denn 
er  verehrt  auch  Odin  und  Thor,  hat  aber  zu  Thorgerd  das  meiste  Ver- 
trauen. 

Thorgerd  ist  nach  ihrem  Beinamen  und  nach  Saxos  Bericht4)  die 
Gattin,  nach  der  Sage  aber  die  Tochter  des  Königs  Hölgi,  nach  dem 
Halogaland  genannt  ist5).  Dieser  nun  genoß  augenscheinlich  selbst  gött- 
licher Ehren.  Sein  Grabhügel  soll  aus  zwei  Schichten  bestanden  haben: 
Gold  und  Silber,  dann  Erde  und  Stein.  Golther6)  verweist  auf  einen 
ähnlichen  Opferhügel  des  finnischen  Gottes  Jumala;  doch  ist  wohl  nur 
gemeint,  daß  viel  Gold  und  Silber  mit  dem  Heros  (das  Grab  im  Busento !) 
beigesetzt  wurde.  Aber  der  Speer  Hölgis  war  im  Tempel  aufbewahrt  und 
Häkon  nahm  ihn  von  da7),  gewiß  damit  er  ihm  helfe  wie  dem  Dag 
Odins  Speer8);  denn  mit  diesem  Speer  durchbohrt  ein  Holzklotz  (trentadr), 
dem  die  Zauberei  der  Göttinnen  (durch  das  Herz  eines  getöteten  Mannes) 
ein  Scheinleben  gab,  Häkons  Feind  Thorleif9).  Der  Zauber,  der  mit  den 
Attributen  (Hölgis  Speer,  Thorgerds  Ring)  verbunden  scheint,  deutet  in 
fetischistische  Verehrung  zurück.  Aber  daneben  macht  sich,  wie  bemerkt, 
die  Annäherung  an  den  Hexentypus  geltend:  für  die  Hexe  ist10)  ja  gerade 
dies  bezeichnend,  daß  sie  tote  Dinge  in  ihren  Dienst  nimmt.  — 

Irpa  oder  Yrsa  ist  eine  Doppelgängerin  der  Thorgerd.  Wahr- 
scheinlich war  ursprünglich  sie  Hölgis  Geliebte  und  der  Name  ging  auf 
seine  Tochter  Thorgerd  über.  Es  scheint  fast,  als  würde  sie  neben  ihrer 
Schwester  nur  angerufen,  wenn  diese  allein  nicht  hilft. 


x)  Gewitterzauber  in  der  Schlacht  durch  Zauberer  erregt,  von  Odin  bekämpft; 
Saxo  S.  32,  Hermann  S.  40. 

3)  S.  486. 

4)  Vgl.  Storni  S.  127. 

5)  Oder  der  nach  Halogaland   heißt:   der  Name  —  mit  Helgi  nicht  zu  ver- 
wechseln —  kommt  sonst  nicht  vor:  Storni  S.  128. 

6)  S.  483. 

7)  Golther  S.  484;  ebenso  holt  sich  David  sein  Schwert  ans  dem  Tempel 
(1.  Sam.  21,  21);  vgl.  auch  C.  F.  Meyers  Gedicht  »Das  verlorene  Schwert«. 

8)  Helg.  Hund.  2  zu  Str.  28. 

5>)  Ebd.  S.  485.  l0)  Siehe  o.  S.  132. 


§  20.    Nacheddische  Gottheiten.  395 

Diese  Gottheit,  deren  berühmtesten  Verehrer  wir  kennen,  die  in  einer 
genau  bestimmten  Schlacht 2)  eingreift  wie  etwa  die  Dioskuren  in  die  von 
Salamis,  scheint  noch  einmal  religiöse  Kämpfe  entfacht  zu  haben.  Häkons 
Feind  Sigwaldi  entflieht,  weil  er  nicht  gegen  die  Hexe  kämpfen  will; 
Grimkell  verbrennt  den  Tempel ;  ebenso  Vigatrappr,  nachdem  er  sie  ihrer 
Attribute  beraubt  hat2).  Sie  erregt  aber  auch  bei  ihren  Verehrern  Fana- 
tismus bis  zum  Sohnesopfer.  —  Später  schmückt  die  Sage  den  Tempel3) 
in  der  Weise  christlicher  Kirchen  aus:  die  frenfden  Kulte  werden  zu- 
sam  m  enge  worf  en . 

Söl4). 

Als  eine  Naturgottheit  könnte  Sunna-Söl  neben  Thorgerd  und  Ran 
stehen;  aber  sie  ist  vermutlich  nur  ein  gelehrtes  Produkt.  Eine  indo- 
germanische Sonnengöttin,  wie  die  indische  Sürjä5),  der  Freyja  nicht  ent- 
spricht, hätte  wohl  stärkere  Spuren  hinterlassen.  Freilich  behauptet  Caesar6): 
deorum  numero  eos  solos  ducunt }  quos  cernunt  et  quorum  aperte 
opibus  iuvantur,  Solem  et  Vulcanum  et  Lunam;  aber  von  einem  alten 
Kult  des  Feuers  haben  wir  kaum,  von  einem  solchen  des  Mondes  gar 
keine  Spuren.  Vielleicht  meinte  Caesar  auch  mit  Söl  den  Tyr,  mit  Luna 
Frigg  als  Söls  Gemahlin,  wenn  sie  nämlich  (nach  Müllenhoff)  ursprünglich 
Tyrs  Gemahlin  war.  Wahrscheinlicher  noch  ist,  daß  das  Opfer  ohne 
Götzenbild  und  ohne  Tempel  auf  die  Sonne  oder  den  Mond  bezogen 
wurde,  je  nachdem,  ob  es  bei  Tag  oder  bei  Nacht  stattfand,  und  daß  das 
Opferfeuer  als  Symbol  des  Vulkan  gedeutet  ward.  —  Immerhin  läßt  der 
Sonnenwagen T)  zur  Vorsicht  mahnen. 

Sunna  im  Merseburger  Spruch  ist  wohl  nur  Begleiterin  der  Himmels- 
königin8). 

Später  haben  wir9)  eine  phantastische  Legende,  die  aus  den  selbst 
schon  bedenklichen  Angaben  der  Vaf.  herausgesponnen  scheint.  Dort 
heißt  Mundilföri  »der  Beschützer«10),  der  Vater  des  Mondes  und  der 
Sonne;  zur  Verwandtschaft  gehören  auch  noch  Tag  und  Nacht  mit 
alliterierenden  Vätern11).  Die  Sonne  wiederum  hat  eine  unbenannte 
Tochter12),  die  sie  ersetzen  soll,  wenn  Fenrir  die  alte  Sonne  verschlungen 
hat.     Söl    muß   auf  dem  Sonnenwagen  rasch  fahren,   weil  die  Wölfe  sie 

1)  Häkon  gegen  die  Jömsvikinger  987  oder  988. 

2)  Golther  S.  482;  außer  dem  Ring  trägt  sie  noch  ein  Kopftuch,  wie  Fulla 
ein  Band  um  das  Haupt  trägt;  anders,  wenn  Nerthus  in  Tücher  gehüllt  wird. 

3)  Golther  S.  484.        '  4)  Golther  S.  486f. 
B)  Vgl.  Golther  S.  215.  6)  BG.  6,  2. 

7)  Vgl.  o.  S.  105,  7.  8)  Vgl.  o.  S.  276. 

9)  Gylf.  cap.  11:  Gering  S.  305;  vgl.  auch  cap.  35:  S.  328. 

10)  Mogk  S.  311. 

u)  Delling  und  Nor;  Vaf.  Str.  25. 
'')  Vaf.  Str.  47. 


396  Viertes  Kapitel. 

verfolgen  (die  Pferde  heißen  Arwakr  Frühwach  und  Alswid  Allklug), 
und  damit  diese  sich  nicht  erhitzen,  haben  sie  zwei  Blasebälge  (Järnkol 
Eisenkühle)  unter  sich ;  ebenso  steht  ein  Schild  vor  der  Sonne.  Andere, 
vielleicht  volkstümliche,  Fabeln  beziehen  sich  auf  den  »Mann  im.Mond<; x), 
während  der  Mythus  von  dem  dritten  Paar,  Sommer  und  Winter 2),  gewiß 
nur  gelehrtern  Systemzwang  entspringt.  Sind  doch  ebenso  bei  den  Griechen 
Tag  und  Nacht  in  die  verschiedensten  Kombinationen  eingegangen:  sie 
wohnen  an  den  GrenzÄi  der  Welt  zusammen  mit  Tod  und  Schlaf3)  und 
begrüßen  sich  nur  flüchtig  auf  der  Schwelle  —  haben  aber  doch  Eros 
zum  Sohn4).  Denn  Hemera  ist  gewiß5)  doch  nur  eine  gelehrte  Ersatz- 
göttin für  Eos,  gerade  wie  Dag  für  Heimdall. 

Wir  werden  also,  glaube  ich,  die  Existenz  einer  urgermanischen 
Sonnengöttin  nur  mit  Vorsicht  abstreiten  (denn  außer  dem  Zeugnis  Caesars 
hat  sie  immerhin,  samt  der  Luna,  noch  Verbote  der  Mission  für  sich6); 
aber  einen  Zusammenhang  dieser  etwaigen  Sonnengöttin  mit  der  alt- 
nordischen Söl  und  ihrer  Sippe  müssen  wir  ablehnen.  Wie  es  eine  rein 
» literarische  Kanonisation«  gibt7),  so  gibt  es  eine  rein  literarische  Deifika- 
tion,  und  ihr  verdanken  wir  diese  heidnischen  Kalendergottheiten,  während 
schon  Sunna  und  Sinthgunt  viel  eher  gegen  als  für  einen  Kultus  der 
Himmelslichter  zeugen. 

§  21.    Außereddische  Gottheiten. 

Während  für  die  niedere  Mythologie  uns  die  Quellen  außerhalb  des 
Nordens  ebenso  reichlich  fließen  wie  dort,  sind  wir  (hauptsächlich  wohl 
wegen  der  anderen  Form  der  Bekehrung)  für  die  Götterwelt  beinahe  aus- 
schließlich auf  die  skandinavischen  Quellen  angewiesen.  Was  bei  Deutschen 
und  Angelsachsen  durch  Caesar  und  Tacitus,  durch  Zaubersprüche  und 
Missionsanweisungen  bezeugt  ist,  bleibt  unschätzbar  für  das  Verständnis 
nordischer  Mythologie  (Idisi,  Balder,  Sceäf),  aber  Neues  lehrt  es  uns 
nicht  in  dem  Sinne,  daß  nur  ein  einziger  in  der  Edda  und  ihren  An- 
hängen fehlender  Gott  so  nachzuweisen  wäre  —  die  Alces  etwa  aus- 
genommen. —  Isolierte  Zeugnisse  in  lateinischer  Sprache  besitzen  wir 
allerdings,  aber  eben  so  versprengt,  daß  sie  uns  nur  Schatten  an  die  Wand 
werfen  und  fast  durchweg  die  Etymologie  unser  einziges,  ach  so  zer- 
brechliches Werkzeug  zur  Deutung  dieser  vorüberhuschenden  Bilder  bleibt 

Hauptquelle  sind  hier  lateinische  Inschriften.  Wir  versuchen  auch 
hier  von  weitem  eine  innere  Chronologie  zu  erreichen. 


1)  Vgl.  Golther  S.  524. 

2)  Vaf.  Str.  26.  3)  Prell  er  1,  37. 

4)  Prell  er  1,  501.  5)  Doch  vgl.  ebd.  S.  440. 

ti)  Vgl.  Golther  S.  487. 

7)  Delehaye,  Sanctus,  S.  1&9. 


§  21.    Außereddische  Gottheiten.  397 

Alces 1). 

Tacitus2)  berichtet,  daß  bei  den  Nahanarvalen  ein  Hain  voll  alter 
Verehrung  gezeigt  werde  (antiquae  religionis  lucus  ostenditur)  »Den 
Vorsitz  führt  ein  Priester  in  weiblicher  Tracht.  Aber  die  Götter  nennen 
sie  nach  römischer  Deutung  Castor  und  Pollux.  Diese  Bedeutung  kommt 
der  Gottheit  zu,  ihr  Name  ist  »Alcis«.  Götterbilder  sind  nicht  vorhanden 
noch  irgendeine  Spur  fremden  Aberglaubens:  wie  Brüder  und  wie  Jüng- 
linge werden  sie  verehrt.« 

Auffällig  kann  in  diesem  Bericht  scheinen  zunächst  das  »ostenditur^, 
das  im  Zusammenhang  fast  auf  ein  Abkommen  der  antiqua  religio  deuten 
könnte;  dann  die  negative  Aussage,  die  einen  Gegensatz  zu  dem  vehi- 
cnlum  in  dem  castum  nemus  der  Nerthus3)  zu  enthalten  scheint. 

Tacitus  bezeugt  im  übrigen  hier:  erstens  den  Kult  zweier  Gottheiten, 
die  den  Dioskuren  gleichen,  weil  sie  zweitens  jugendliche  Brüder  sind; 
drittens,  sie  werden  in  einem  Hain  verehrt;  viertens  mit  anikonischern 
Ritus;  fünftens,  sie  besitzen  einen  eigenen  Priester,  der  sechstens  weibliche 
Tracht  trägt,  und  siebentens  sie  heißen  Alcis. 

So  viel  wissen  wir  sonst  nur  von  den  Hauptgottheiten.  Dennoch 
ist  so  vieles  problematisch.  Ober  das  Alter  bestehen  kaum  Zweifel. 
Die  Existenz  eines  ritterlichen  Brüderpaares  in  der  indogermanischen  Götter- 
welt wird4)  kaum  zu  bezweifeln  sein.  Die  A^vins5)  und  die  Dioskuren 
stehen  zu  Himmel  und  Sonne  in  Beziehung ;  sie  sind  menschenfreundliche, 
helfende,  tapfere  Gottheiten.  An  beide  Paare  hat  sich  früh  ein  weiterer 
Legendenkreis,  besonders  betreffs  ihres  Ursprungs,  geknüpft.  —  Es  liegt 
kein  Grund  vor,  all  diese  Züge  den  Alces  abzusprechen.  Zwar  Rosse 
werden  nicht  erwähnt;  aber  da  keinerlei  simulacrum  im  Hain  steht,  ist 
eben  auch  für  kein  Attribut  Platz6). 

Fest  steht  seit  Müllenhoff :  der  Kult  der  Dioskuren  umfaßte  die  Amphi- 
ktyonie  der  Vandilier,  und  von  den  Alces  leiteten  sich7)  die  Könige  der 
Vandalen  ab:  sie  nannten  sich  deshalb  Asdingi8).  —  Ferner  begegnen 
die  Dioskuren  im  Norden  als  Haddingjar 9) ,  die  dort  auch  im  Dual  auf- 
treten, und  endlich  heroisiert  in  der  Heldensage  als  Härtungen. 


^Müllenhoff,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  12,  304f.;  30,  320f;  vgl.  o.  S.  215 f.; 
Sijmons  in  Pauls  Grundriß  2  1,  677.  —  Golther  S.  214f. ,  Meyer  S.  394, 
Mogk  S.  677. 

2)  Germ.  cap.  34.  :?)  Germ.  cap.  40. 

4)  Siehe  o.  S.  217f.  5)  Macdonell  S.  51. 

6)  Literatur  zu  den  Acvins  siehe  o. 

7)  Jord.  cap.  22. 

8)  Ebenso  heißt  bei  Dio  ein  Stamm  der  Vandilier:  älter  Hasdingos  zu  hazdi, 
I  wie  es  gotisch  heißen  würde,  altnordisch  haddr  »Haar  einer  Frau«:  also  »Männer 

mit  weiblicher  Haartracht«  —  man  denke  auch  an  die  Stammsage  der  Langobarden. 

9)  Hyndl.  Str.  23. 


398  Viertes  Kapitel. 

Die  Hasdinge  waren  » jugendliche  streitbare  roßbändigende  Helden« 
wie  Agvins  und  Dioskuren 1).  Von  ihnen  leitet  Müllenhoff  Balder  und 
Wali,  Meyer  Balder  und  Hother  ab.  Aber  das  Heldische  und  Hilfe- 
bringende ist  in  keinem  aller  dieser  Götter  sichtbar.  Dagegen  ist  durch 
das  Wesen  der  Hasdinge  die  wirkliche  Existenz  urgermanischer  Dioskuren, 
somit  die  Richtigkeit  der  Taciteischen  Angabe  sichergestellt2). 

Ein  Fortleben  der  Alces  in  der  Edda  ist  außer  in  jener  flüchtigen 
Erwähnung  der  beiden  Haddingjar  nicht  zu  erweisen.  Daß  sich  die  Un- 
zertrennlichen zu  selbständigen  Göttern  wie  Balder,  oder  etwa  Loki  und 
Heimdall  (als  Vertreter  von  Nacht  und  Tag,  Unter-  und  Oberwelt)  ent- 
wickelt hätten,  widerspricht  aller  mythologischen  Logik:  zwei  Brüder, 
deren  wesentlichstes  Kennzeichen  ihre  Zusammengehörigkeit  ist,  verlieren 
diese  Zusammengehörigkeit  nicht.  Mit  dem  symbolischen  Galgen  Dokana 
in  Sparta  und  dem  Wort  ans  Querbalken  ist  auch  nichts  anzufangen, 
zumal    eine  Zugehörigkeit   der  Alces  zu  den  Anses  nicht  beweisbar  ist3). 

Wir  bleiben  somit  für  das  Wesen  der  Alces,  soweit  es  sich  ger- 
manisch von  dem  der  indogermanischen  »Ritter«  etwa  differenziert  hat, 
auf  Tacitus  angewiesen.  Da  der  bilderlose  Kult  und  der  Hain  nichts 
Spezielles  bedeuten  4),  vielmehr  nur  ein  zeitliches  Moment  sind,  bleibt  als 
Novum  nur  der  weiblich  aufgefaßte  Priester.  Einem  solchen  begegnen 
wir  ja  öfter,  und  an  den  Priester  der  Nerthus  neben  der  Priesterin  des 
Frey5)  ist  auch  zu  erinnern.  Da  nun  für  Agvinen  und  Dioskuren  die 
Werbung  um  die  Sonne  bezeichnend  ist,  so  wird  unter  dem  »praestdet 
sacerdos  muliebri  ornatu«  (wovor  ein  Satz  ausgefallen  sein  könnte)  wohl 
die  Tätigkeit  eines  Priesters  zu  verstehen  sein,  der  bei  einer  »heiligen 
Handlung«  die  Sonne  vorstellt,  während  vermutlich  Jünglinge  die  Alces 
vertraten.  Der  »weibliche  Haarschmuck«  ist  dann  einfach  Hauptzeichen 
der  Frauentracht  für  die  »Frau  Sonne«.  —  Auch  des  Tacitus  »ostendäur<~ 
ist  dann  vielleicht  so  zu  deuten,  daß  der  Schauplatz  gezeigt  wird,  auf 
dem  das  Mysterium  stattfand  —  wie  bei  der  Nerthusfeier  auch  gewiß 
derselbe,  an  dem  die  Epiphanie  der  Götter  sich  ereignet  hatte6). 


J)  Sijmons  S.  679. 

2)  Meyer  sucht  den  Zusammenhang  zwischen  den  indogermanischen  und 
den  germanischen  Gottheiten  noch  durch  den  Hinweis  auf  die  spartanische 
Dioskurenpriesterin  zu  stärken.  —  Über  das  Brisingamen  siehe  o.  S.  215  (Golther 
S.  216). 

3)  Im  Beowulf  sucht  die  Dioskuren  Niedner  (Ztschr.  f.  d.  Alt.  42,  229) 
nachzuweisen. 

4)  Germ.  cap.  9. 

5)  Golther  S.  229;  siehe  o.  S.  207. 

6)  Bei  den  Dioskuren  wird  die  Geburtsstätte  gezeigt  (Preller  1,  93);  es 
gibt  Feste  zu  ihren  Ehren  (vgl.  S.  105).  Wie  schade,  daß  zwischen  ihrer  Be- 
nennung als  Avaxreg  (ebd.)  und  Alces  keine  Verbindung  herzustellen  ist! 


§  21.    Außereddische  Gottheiten.  399 

Tanfana l). 

Tanfana  ist  nach  Tacitus2)  die  Hauptgöttin  der  Marsen:  Germanicus 
überfiel  diese  14  n.  Chr.  beim  Opferfest,  ließ  alles  niederhauen  und  cele- 
berrimum  Ulis  gentibus  templum,  quam  Tanfanae  vocabant,  zerstören. 

Der  Name3)  gehört  nach  J.  Grimm  zu  tapas  sanskritisch  Hitze, 
nach  Müllenhoff  zu  altnordisch  tafn  Opfertier,  lateinisch  dapes,  griechisch 
d-uTivco;  nach  Kögel4)  zu  isländisch  thamb  Fülle. 

Das  Fest  im  Spätherbst,  vielleicht  auch  der  Name  deutet  auf  eine 
Göttin  der  Fruchtbarkeit,  die  Meyer5)  mit  Nerthus  und  Isis  identifiziert. 
Golther  erinnert  an  Namen  wie  Fulla,  Gefjon  und  deutet  sie  als  Mutter 
Erde6).  Undenkbar  wäre  nicht,  daß  Tanfana  gar  kein  Göttername  wäre, 
sondern  die  Bezeichnung  eines  religiösen  Bezirks,  einer  >Amphiktyonie« ; 
doch  ist  dies  weniger  wahrscheinlich. 

Nehalennia7). 

Tacitus8)  nennt  gleich  nach  der  Trias  Wodan — Donar — Tiu  die  Isis, 
aber  nur  als  lokal  anerkannte  Hauptgottheit:  pars  Sueborum  et  Isidi 
sacriflcat  unde  causa  et  origo  peregrino  sacro  partim  comperi,  nisi 
quod  Signum  ipsum  in  modum  liburnae  figuratum  docet  advectam 
religionem.  Es  handelt  sich  also  um  eine  Gottheit,  die  an  die  Isis  er- 
innert9) und  deren  Attribut  ein  Schiff  ist  (nicht,  wie  bei  Ing,  ein 
Schiffswagen).  Sie  ist  mit  Nerthus 10)  gleichzusetzen  und  der  sie  verehrende 
Teil  der  Sueben  mit  den  Semnonen  n),  die  die  Nerthus  verehren12);  auch 
der  Haarschmuck  der  Sueben  13)  konnte  durch  das  Aufbinden  des  ganzen 
Haars  in  einen  Knoten  auf  dem  Scheitel  an  die  kahlgeschorenen  Köpfe 
der  Isisdiener14)  erinnern. 

Mit  der  Nachricht  des  Tacitus  ist  früh  15)  ein  Fund  zusammengebracht 
worden:  das  Bild  der  Isis,  gefunden  in  Deutz  am  Rhein  und  auf  der 
batavischen  Insel  Walcheren  1G)  mit  der  Altarinschrift  Deae  Nehalenniae  17). 
Die  Göttin    hat   den  Fuß   auf   den  Steven   eines  Schiffs  gestützt  und  hält 


!)  MogkS.373,  GoltherS.458,  MeyerS.422;  Kögel,  Gesch.  d.  d.  Lit.  1, 19. 

2)  Ann.  1,  51. 

3)  Müllenhoff,  H.  Z.  9,  258;  23,  23. 

4)  Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  19.  5)  S.  422. 

6)  Andere  Deutungen  ebd.  S.  459  Anm. 

7)  Kauffmann,  PBB.  16,  210,  Mogk  S.  374,  Golther  S. 463,  Meyer  S.420, 
Much,  PBB.  35,  324. 

8)  Germ.  cap.  9. 

9)  Nicht  durch  das  Schiff  allein:  M.  Haupt,  Moritz  von  Craun,  S.  4. 

10)  Siehe  o.  S.  204  f.  n)  Germ.  cap.  39. 
32 )  Germ.  cap.  40.           13)  Germ.  cap.  38. 
.14j  Wissowa  S.  297  Anm.  3. 

.     15)  Kauffmann  S.  219. 

16)  a.  a.  O.  S.  219.  17)  a.  a.  O.  S.  211. 


400  Viertes  Kapitel. 

ein  Ruder1)  —  wie  Isis,  die  Beschützerin  der  Seefahrer2).  An  der 
Identität  ist  in  der  Tat  um  so  weniger  zu  zweifeln ,  als  in  den  Rhein- 
gegenden noch  spät3)  volkstümliche  Bräuche,  ein  Umzug  mit  einem  fest- 
lich geschmückten  Schiff,  Nachklänge  des  Isisdienstes  verraten4).  Auf 
Walcheren  hatte  der  heilige  Willibrord  noch  694  ein  Heiligtum,  wohl 
das  der  Nehalennia5),  zu  zerstören. 

Der  Name6)  wird  am  besten  zu  urgermanisch  nawo  Schiff  (mit 
einem  Suffix  wie  in  Baduhenna)  gestellt:  »zu  den  Schiffen  gehörig«. 
Andere  haben  es  zu  griechisch  vtxvg  gestellt,  was  Wahrscheinlichkeit  nur 
hätte,  wenn  Nerthus,  wie  man  ja  auch  vermutet  hat,  eine  chthonische  Gott- 
heit wäre.  Sie  könnte  die  »Göttin  der  Schiffstätte«  sein,  wie  Njord  in 
Noatün  wohnt;  dazu  paßt  das,  allerdings  dem  Isiskult  entlehnte,  Bild. 

Bei  ursprünglicher  Identität  mit  Isis -Nerthus  muß  man  aber  doch 
eine  Differenzierung  annehmen,  schon  wegen  des  Namens.  Die  Gottheit 
des  Verkehrs  ist  einerseits  eine  Schutzgöttin  des  Gedeihens  und  der  Frucht- 
barkeit, anderseits  der  Schiffahrt  geworden. 

Ihr  Kult  war  verbreitet:  es  opfern  ihr  die  Schiffer  von  der  Nordsee- 
küste7) und  zwar  nicht  bloß  die  germanischen:  wie  Germanen  rein 
römische  Gottheiten,  so  verehren8)  Fremde  diese  (freilich  von  antiker 
Färbung  nicht  freie)  germanische  Gottheit,  weil  sie  die  Schutzherrin  der 
Küstenschiffahrt  an  diesen  Küsten  ist.  Aber  sie  fassen  sie  eben  als  Isis 
auf:  deshalb  wird  sie  wie  diese  mit  Serapis9)  vereint,  aus  spezifischen 
Gründen  noch  mit  dem  großen  Weltreisenden  Herkules.  Wenn  aber 
Kauffmann  damit  den  Bericht  des  Tacitus10)  von  der  Ankunft  des  Herkules 
und  den  Herkulessäulen  an  der  Rheinmündung  in  Verbindung  bringt 
und  auch  noch  den  Ulixes11),  dessen  Irrfahrten  mit  denen  des  Herkules 
identifiziert  worden  seien,  kann  ich  nicht  mehr  folgen12).  Noch  weniger 
bei  dem  Versuch,  Nehalennia  mit  Mardöll 13)  zusammenzubringen  14). 

Baduhenna 15). 
Bei  Tacitus16)   heißt   es:   apud  lucum  quem  Baduhennae  vocant 
(Ausdruck  wie  bei   Tanfana)  sind  28  n.  Chr.  900  Römer  gefallen.     Der 
lucus  und  die  Analogie  der  Tanfana  lassen  auf  eine  Göttin  schließen. 

x)  Golther  S.  465.  2)  Wissowa  S.  395. 

3)  1133  Jülich,  Maestricht. 

4)  Golther  S.  467  f.    Auf  suevischem  Boden  in  Ulm  noch  1530. 
B)  Kauffmann  S.  229,  Golther  S.  476. 

6)  Kauffmann  S.  215f.  7)  Ebd.  S.  224. 

8)  Ebd.  S.  226.        9)  Ebd.  S.  221.  10)  Germ.  cap.  34. 

1V)  Germ.  cap.  3.  12)  Vgl.  o.  S.  193. 

13)  Vgl.  o.  S.  221.  ")  Kauffmannn  S.  234. 

15)  v.   Grienberger,    PBB.   19,   531;   Golther   S.  459;    Meyer   S.   268; 
Mogk  S.  374;  Much,  Himmelsgott,  S.  247. 
,6)  Ann.  4,  73. 


§  21.    Außereddische  Gottheiten.  401 

Der  Name1)  gehört  jedenfalls  zu  badu  Kampf,  komponiert  oder  mit 
demselben  Suffix  wie  Nehalennia;  nach  Grienberger  zusammengesetzt  mit 
winna  Streit,  Eifer,  also  ein  Walkürenname  wie  Baduhild.  Es  ist  wohl 
eine  zu  besonderer  Verehrung  aufgestiegene  Idis. 

Dea  Sandraudiga2). 

Ein  Stein  in  Nordbrabant,  von  den  cultores  templi  (althochdeutsch 
haragari)2)  gestiftet,  ist  der  Dea  Sandraudiga  geweiht.  Man  leitet  den 
Namen  von  sandr  »wahrhaft«  —  sehr  abstrakt  —  und  gotisch  audags, 
reich  ab:  »Göttin  des  wahren  Reichtums«  (im  Gegensatz  zu  welchem 
anderen?).  Ich  habe4)  vorgeschlagen,  vielmehr  die  Bestandteile  sand 
und  raud  anzunehmen :  die  Göttin,  die  den  Sandstein  rötet  (aus  dem  der 
Tempel  gebaut  sein  wird). 

Dea  Vercana5). 
Der  Name  stimmt  genau   zu  dem  Beinamen  iQyavrt  der  Athene  — 
die  Wirkerin,  die  Göttin  des  Spinnens  und  Webens 6).  —  Sie  könnte  aus 
Frigg  abgeleitet  sein;  doch  ist  es  vielleicht  auch  eine  selbständige  Göttin 
der  Steinarbeit  (vgl.  Sandraudiga)7). 

IAlaisiagrae8). 
Trotz  Siebs  und  v.  Amira  kann  der  von  Heinzel  aufgedeckte  Zusammen- 
hang mit  bodthing  und  fimelthing  nicht  zufällig  sein.  —  Weinhold 9) 
deutet  alaisagiis  »Gesetzsprecherinnen«  (vgl.  den  Terminus  esagö).  Anders 
Kauffmann10):  »die  Allhilfreichen«,  Siebs  »die  gewaltig  Einherstürmenden«. 
Es  sind  wohl  die  Rechtsgöttinnen  der  Heergemeinde,  für  regelmäßige 
und  außerordentliche  Thinge. 

Die  Mütter11). 

Hier  steht  es  umgekehrt  wie  bei  Nehalennia:  die  Germanen  nehmen 
den    römischen  Matronenkult  an,   zu    dem    ihre  Verehrung   der  Frau   sie 


1)  Müllenhoff,  H.  Z.  29,  240. 

2)  Much,  H.Z.35,328f.;  v.  Grienberger,  H.  Z. 35, 389. —  Golther  S.  470. 

3)  Golther  S.  614. 

4)  Ark.  f.  nord.  Fil.  19,  249. 

5)  Much,  H.  Z.  31,  357;  Golther  S.  476:  auf  dem  Rande  einer  Brunnen 
schale  und  auf  einem  Stein  bei  den  Nemetern  (Enstweiler  bei  Zweibrücken) ; 

6)  Prell  er  1,  121;  nicht  symbolisch  zu  deuten  ebd.  209,  2. 

7)  Ein  chinesischer  Gott  des  Baugewerbes:  Groot,  Kultur  der  Gegen- 
wart, S.  177.  Mexikanischer  Gott  des  Obsidianmessers:  Sei  er,  Verh.  d.  Berl. 
Anthropol.  Ges.  1898  S.  169  f. 

8)  v.  Amira  in  Pauls  Grundriß  1,  58.  207;  Siebs,  Ztschr.  f.  d.  Phil. 
24,  433.  —  Golther  S.  460;  weitere  Literatur  siehe  bei  Mars  Thingsus.  — 
Henning,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  42,  193. 

9)  Ztschr.  f.  d.  Alt.  21,  1.  10)  PBB.  16,  201. 

u)  Kauffmann,  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1892,  S.  24f.;  Golther  S.  468. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  26 


402  Viertes  Kapitel. 

hinführte.  (»Sie  glauben,  daß  die  Frau  ein  besonderes  Verhältnis  zu  den 
Göttern  und  daher  einen  Blick  in  die  Zukunft  besitze« :  messe  quin  etiam 
sanctum  quoddam  et  providum  putant) x).  Man  könnte  jene  von  ihnen 
verehrten  Seherinnen,  Veleda,  Albruna2)  geradezu  als  Obergangsstufen 
auf  dem  Wege  zum  Matronenkult  bezeichnen.  —  Heilige  Frauen  werden 
angerufen  und  mit  germanischen  Beinamen  versehen.  Golther  faßt  diese 
Beinamen  lokal  auf,  Much3)  als  spezialisierend: 

Afliae,  zu  altnordisch  afl,  afli  Kraft,  vgl.  lateinisch  Ops,  die  Ver- 
körperung des  schweren  Erntesegens4),  nach  Much5). 

Vajtviae  (Dat.  Vatvims):  zu  gotisch  vato  Wasser,  die  Bewässernden6). 

Nersitenae,  zum  Flüßchen  Neers,  einem  Nebenfluß  der  Maas7). 

Gabiae8),  Alagabiae,  die  Schenkenden,  Reichschenkenden. 

Aufaniae  (besonders  häufig),  zu  althochdeutsch  Präposition  üf(wic 
Iduna  zu  id)?  die  Emporbringenden9). 

Vapthiae,  Vaftiae,  Vahtiae  (mit  niederhochdeutsch  ht  =  hoch- 
deutsch ft)  »Hüterinnen«10). 

Suleviae  (nie  mit  dem  Zusatz  »Matronae«,  ziemlich  häufig):  mit 
su-  »gut«  wie  in  Sugambri  und  lev  gotisch  »Gelegenheit«:  »gute  Gelegen- 
heit schaffend«  (?)n). 

Alaterviae,  zu  terwa,  dru  »Holz«,  Treue12),  »die  Allkräftigen« 13). 

Arvagastis,  die  freigebig  Begastenden u). 

Annanept(i)ae  zu  neptiae  Verwandte? 

Saitchamae  zu  seidr  Zauber  und  altnordisch  hamja  »hemmen«, 
die  Zauberschwächenden  15). 

Matres  Gavadiae  zu  wadan:  Göttinnen  der  Furt16). 

Gelten  diesen  Göttinnen  die  disablöt  der  nordischen  Sagen  17 ),  die 
Opfer  an  heilige  Frauen18)? 


x)  Tac.  Germ.  cap.  8. 

2)  Ebd. 

3)  Ztschr.  f.  d.  Alt.  31,  354;  35,  315  im  Anschluß  an  Kern. 
*)  Wissowa  S.  168. 

5)  H.  Z.  31,  387;  vgl.  35,  316. 

6)  a.  a.  O.  35,  317. 

7)  Much,  Himmelsgott,  S.  262. 

8)  Meyer  S.  213  vergleicht  Gefjon. 

9)  Much  S.  317. 

10)  Ebd.  S.  318.  u)  Ebd.  S.  319. 

12)  Vgl.  Ost  hoff,  Etymologische  Parerga  I. 

13)  Much.  u)  Ebd.  S.  320. 

15)  Ebd.  S.  322;  vgl.  o.  S.  149. 

16)  Golther  S.  470. 

17)  Mogk  S.  385. 

18)  Über   die    römischen    Matronen    vgl.   Ihm,    Mütter   und   Matronenkult, 
Bonner  Jahrbuch  1887,  Heft  83,  S.  1  f. :  es  sind  spendende  Gottheiten. 


§  21.    Außereddische  Gottheiten.  403 

Requalivahanus x). 

Ein  Stein  aus  dem  zweiten  Jahrhundert,  1883  in  der  Nähe  von 
Blatzheim  bei  Cöln  gefunden,  trägt  die  Inschrift  Deo  Requalivahano 
Q.  Aprianus  fructus  ex  imperio  pro  se  et  suis  v.  s.  I.  m. 

Der  erste  Teil  des  Namens  ist  sicher  rekvas ,  gotisch  riqis ,  alt- 
nordisch rökkr  Dunkelheit 2).  Der  zweite  Teil  wird  verschieden  gedeutet : 
zu  altnordisch  Ufa  Leben3);  oder  liwa  Hinterlassenschaft;  oder  liwaz 
lividus4);  oder  liwa  Gewässer:  Gott  des  dunklen  Gewässers5). 

Eine  chthonische  Gottheit  wird  wohl  gemeint  sein;  doch  besitzen 
wir  keine  Spur  von  einem  germanischen  Pluto6).  Meyer  rät  auf  Mimir; 
Kauffmann  nimmt  ihn  in  den  Komplex  seines  großen  Waldgottes  auf. 
Haben  wir  Mimir  richtig  gedeutet,  so  könnte  der  Stein  ihm  gelten;  aber 
wir  tappen  eben  im  Ungewissen. 

Vermischte  weitere  Namen7). 

Eine  batavische  Inschrift  nennt  Haiva  im  Verein  mit  Hercules  Magu- 
sanus;  vielleicht  Sif8)? 

Dea  Garmangabis9):  »die  aus  der  immer  bereiten  Fülle  des 
Reichtums  Spendende«10)?  oder  zu  Garmani-Germani  u)? 

DeaVagdavercustis  zu  »wirken«:  »die  Lebenskraft  Wirkende« 12)? 

Dea  Hariasa13)  und  Dea  Hari  mella14),  von  Cöln  und  vom 
Hadrianswall ;  die  Namen  zu  hari  Meer  (Meyer:  »die  Verheerende«  und 
>die  Meerglänzende«)  sind  wohl  Walküren,  Göttinnen  bestimmter  sieg- 
reicher Heere) 15). 

Vihansa16)  ist  wohl  ebenfalls  eine  Kriegsgöttin. 


x)  Holthausen,  PBB.  16,  342;  Much  und  Schroeder,  H.  Z.  35,  375; 
Kauffmann,  PBB.  18,  190;  Roediger,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  27,  12;  v.  Grien- 
berger,  PBB.  19,  528.  —  Golther  S.  405,  Meyer  S.  281. 

2)  Wie  in  gotischen  Namen:  Reccared,  Recceswinth ;  Koegel,  Anz.  f.  d. 
Alt.  18,  59. 

3)  Holthausen,  Kauffmann. 

4)  Much. 

5)  Vgl.  Ortsnamen  wie  Schwarzleo,  Schwarzbach:  Grienberge r. 

6)  Golther  S.  406. 

7)  Vgl.  allgemein  Mogk  S.  374,  o.  S.  159. 

8)  Much,  H.  Z.  39,  51  ;  Siebs,  Ztschr.  f.  d.  Phil.  14,  461;  Mogk  S.  374; 
vgl.  o.  S.  306. 

9)  v.  Grienberger,  H.  Z.  38,  189;  Golther  S.  470  Anm.  3;  Kauff- 
mann, PBB.  20,  526. 

10)  Kauffmann,  der  sie  der  Nerthus  gleichsetzt. 

»)  Vgl.  Bremer  bei  Paul  1,  379. 

1>2)  v.  Grienberger,  H.  Z.  35,  393. 

13)  Golther  S.  470,  3.  14)  Meyer  S.  13.  268. 

15)  Ebd.;  Hariasa  auch  S.  289;  siehe  o.  S.  159. 

16)  Meyer  S.  13,  Mogk  S.  374. 

26 


404  Viertes  Kapitel. 

Fortuna,  neben  Donar  -  Herkules ,  Victoria,  neben  Ziu-Mars, 
Felicitas,  neben  Wodan-Mercurius  auf  den  Votivtafeln  der  batavischen 
Reiter1)  sind  wohl  einfach  die  römischen  Gottheiten  (wie  Serapis  neben 
Nehalennia) 2).  Sonst  könnte  man  auf  Sif,  Fulla  und  eine  Walküre 
raten.  — 

§  22.    Angebliche  Göttinnen3). 

J.  Grimm  erschloß  eine  Göttin  Eostra  Morgenröte  =  Auströ,  indisch 
Ushas,  Eos  Aurora  nach  Baeda  de  temporum  ratione  cap.  13.  Meyer4) 
ist  geneigt,  daran  festzuhalten;  Mogk5)  hält  sie  für  eine  aus  der  Aurora 
entwickelte  Frühlingsgottheit.  Da  aber  alle  weiteren  Spuren  fehlen,  bleibt 
wahrscheinlicher,  daß  Baeda  sein  Eostre  aus  dem  Eostarmonath  nur 
abstrahiert  hat;  auch  heißt  sonst  kein  Monat  bei  den  Germanen  nach 
einer  Göttin. 

Ebenso  sind  von  J.  Grimm6)  andere  Göttinnen  (Hrudda ,  Ricen, 
Zisa:  aus  Cisburg  Augsburg  oder  Zistag  gefolgert)7)  vermutet  worden, 
die  »aus  den  Glaubensvorstellungen  der  alten  Deutschen  zu  streichen 
sind«  8). 

Ober  die  Möglichkeit,  daß  Tanfana  ein  Bezirksname  wäre,  siehe 
oben  9). 

Mehrfach  sind  auch  bloße  Dämonen  und  Wettergeister  wie  Frau 
Holle,  Berchtha  u.  a. 10)  mit  Unrecht  für  alte  Göttinnen  erklärt  worden. 


')  Mogk  a.  a.  O.  2)  Siehe  o.  S.  159. 

3)  Golther  S.  488,  Meyer  S.  424. 

4)  S.  423;  ebenso  Kluge,  Ztschr.  f.  d.  Wortf.  2,  42 f. 

5)  S.  374.  6)  Mythol.  S.  266  f. 

7)  Vgl.  Golther  S.  489,  2.  8)  Golther  S.  489. 

9)  Siehe  o.  S.  399.  10)  Golther  S.  489f. 


Fünftes  Kapitel. 
I  Der   Kultus  . 

Kult  kommt 2)  schon  auf  den  untersten  Stufen  vor,  beim  Fetischismus 
sogar  wahrscheinlich  lebhafter  als  beim  Animismus,  die  Ahnengeister  aus- 
genommen, und  Dämonismus.  Aber  der  festorganisierte,  früher  oder 
später  Tempel  und  Priester  fordernde  Kult  ist  nahezu  ein  Rangzeichen 
der  Götterverehrung. 

Es  handelt  sich  wesentlich  um  folgende  Dinge:  zunächst  Opfer  (und 
andere  Darbringungen),  dann  Tempel  (und  Kultstätten). 

Die  allgemeine  Entwicklung  skizziert  Mogk3):  Gebet  und  Opfer  sind 
als  Bestechungsmittel  den  Oberirdischen  gegenüber  uralt;  es  entwickelt 
sich  aus  diesem  Gebrauch  ein  Stand  von  Fachmännern :  die  Priester.  (Etwa 
wie  der  Verkehr  mit  Gerichten  und  anderen  Behörden  die  Anwälte  nötig 
macht.)  Ebenso  wird  aus  dem  beliebigen  Platz  der  Anbetung  der  Tempel, 
aus  der  beliebigen  Gelegenheit  das  offiziell  bestimmte  Fest;  vor  allem  aus 
der  individuell  gefärbten  Art  der  Darbietung  der  feste  Ritus.  Diese  Dinge 
stützen  sich  gegenseitig:  die  Priester  kontrollieren  das  Ritual;  der  Tempel 
gehört  den  Priestern;  der  Tempel  und  die  Priester  halten  das  Fest  aufrecht4). 

Die  Riten  sind  je  nach  der  Natur  der  Gottheit  verschieden  gefärbt, 
doch  bleiben  unvermeidliche  Grundformen :  Anrufung  —  Opferhandlung  — 
Annäherung  an  den  Gott,  dessen  Erscheinen  vorausgesetzt  wird  —  Ent- 
lassung (yite  missa  est«,  die  Formel,  aus  der  das  Wort  »Messe«  erwachsen 
ist).  Ferner  wirkt  natürlich  jeder  frühere  Kult  auf  jeden  späteren  ein,  so 
insbesondere  auch  der  heidnische  auf  den  christlichen5). 


*)  Mogk  S.  383f.,  Golther  S.  544f.  (der  Kultus  und  die  gottesdienst- 
lichen Formen  <),  Meyer  S.  295 f.  —  Vgl.  auch  Chadwick.  The  cult  of  Odin; 
siehe  o.  S.  239 f.  —  Indogermanischer  Kultus:  O.  Schrader,  Aryan  Religion,  S.40f. 

2)  Siehe  o.  S.  35.  3)  S.  383. 

4)  Bei  den  akkuraten  Römern  ist  der  Umgang  mit  den  Göttern  rechtlich  ge- 
ordnet: das  ins  sacrum  erheischt,  bei  Verletzung  seiner  Vorschriften  eine  Buße, 
wie  das  weltliche  Recht  seine  multa  (Wissowa  S.  329).  —  Vgl.  allgemein  über 
religio  W.  Otto,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  533;  vgl.  o.  S.  64. 

5)  Über  die  Umwandlung  und  das  Fortleben  des  heidnischen  Kultus  christ- 
licher Zeit  die  berühmte  Anweisung  des  Papstes  Gregor  an  den  Erzbischof 
Augustin  (Golther  S.  544;  allgemein  Meyer  S.  4341),  die  freilich  zu  viele  christ- 
liche Umformungen  und  Mischungen  annimmt. 


406  Fünftes  Kapitel. 

§  23.    Gebet  und  Opfer1). 

Das  Gebet  ist  das  prius:  die  unmittelbare  Bitte,  an  den  gerichtet, 
von  dem  man  die  Erfüllung  eines  Wunsches  erhofft2).  Aber  auch  für 
das  Gebet  bilden  sich  feste  Formen,  mindestens  für  das  feierliche  Gebet, 
das  aber  wohl  auf  Fälle  beschränkt  ist,  in  denen  die  Ergänzung  durch 
eine  Opferhandlung  durch  vis  maior  ausgeschlossen  ist:  in  dringender 
Not,  z.  B.  in  der  Schlacht,  wie  Häkon  Jarl  die  Thorgerd  anruft;  bei 
plötzlichen  Anlässen  wie  dem  Anblick  einer  göttlichen  Erscheinung;  oder 
wenn  die  Art  des  Opfers  erst  festgestellt  werden  soll3). 

Wie  wird  das  Gebet  formuliert4)?  Die  einzige  Stelle,  in  der 
ein  wirkliches  Gebet  in  der  Edda  wiedergegeben  scheint,  ist  Sgdr.  Str.  3 — 4. 
Es  ist  das  Gebet  der  aus  dem  Schlaf  geweckten  Walküre,  ein  feierliches, 
zweiteiliges  Morgengebet5).  Die  erste  Strophe  begrüßt  wohl  nicht8)  die 
(späten)  Gottheiten  Tag  und  Nacht  samt  ihrer  Abstammung  —  die  würden 
nicht  vor  den  Äsen  genannt  werden.  Und  eine  Umstellung  der  beiden 
Strophen  ist  nicht  möglich,  da  die  Interpolation  der  Heilrunen  an  den 
Schluß  der  zweiten  anknüpft.  Vielmehr  begrüßt  die  Erwachende  ganz 
eigentlich  den  Tag,  der  sie  ins  Leben  einführt,  und  die  darauf  folgende 
Nacht  (eine  durch  die  Situation  geforderte  Umstellung  von  Tac.  Germ.: 
nox  ducere  diem  videtur).  Ihre  Kinder  (auch  nipt  pluralisch  zu  fassen) 7) 
sind  die  Stunden  und  Abschnitte  des  Tages.  Also  eine  Art  Augenblicks- 
gott: dieser  Tag  und  seine  Sippe,  zu  der  auch  die  Nacht,  gleichsam 
seine  Frau,  gehört,  sollen  segnend  herabschauen.  —  In  der  zweiten  Strophe 
folgt  dann  das  (wahrscheinlich  herkömmliche)  Gebet  an  Äsen  und  Asinnen 
und  die  ihrem  Schutz  unterworfene  Erde8). 

*)  Mogk  S.  384f.,  Golther  S.  559.  —  O.  Schrader  a.  a.  O.  S.  42. 

2)  Es  ist  möglich,  daß  sogar  der  eine  Modus  des  indogermanischen  Verbs, 
der  Konjunktiv,  unmittelbar  die  Gemütsstimmung  des  Menschen  ausdrückt,  der 
von  höheren  Mächten  eine  Gewährung  erbittet. 

3)  Wie  Helg.  Hjörv.  Str.  7.  —  Opfer  ohne  Gebet  hält  für  das  älteste 
J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  468. 

4)  Vgl.  allgemein  meine  Altgerm.  Poesie  S.  389. 

5)  Für  das  hohe  Alter  der  Form  zeugen  finnische  Parallelen;  s.  Ohrt, 
Kalewala,  S.  138,  vgl.  S.  125. 

6)  Wie  z.  B.  Gering  z.  d.  St.  oder  Heinzel-Detter  S.  425  annehmen. 

7)  Vgl.  Heinzel-Detter  a.  a.  O. 

8)  Außerhalb  der  Edda  finden  wir  ein  Gebet  bei  dem  Araber  Ibn  Fadhlan 
wiedergegeben.  Die  Nordgermanen  liegen  vor  den  Göttersymbolen  und  sprechen 
sie  an:  »Mein  Herr,  ich  bin  aus  fremden  Landen  gekommen,  führe  so  und  soviel 
Mädchen  mit  mir  usw.<  (Mogk  S.  398;  vgl.  u.);  was  aber  doch  nicht  als 
authentischer  Text  gelten  kann.  —  Eine  allgemeine  Angabe  auch  Hyndl.  2:  »Laß 
uns  Heervater  bitten,  seine  Huld  zu  gewähren  — «.  —  In  andern  alten  Dichtungen 
sind  dagegen  ausführliche  Gebete  überliefert,  so  gleich  im  Anfang  der  Ilias  die 
feierliche  Anrufung  des  Apollon  durch  Chryses. 


§  23.    Gebet  und  Opfer.  407 

Dies  Gebet  hat  die  Form,  die  wir  nach  allen  Analogien  beinahe 
a  priori  erwarten  dürften.  Man  kann  sie  definieren  als  die  Form  des 
Zauberspruchs  mit  Weglassung  derjenigen  Elemente,  die 
auf  symbolischerNachahmung  der  rituellen  Handlung  be- 
ruhen1). 

Die  feierlichen  Schmuckmittel  der  pathetischen  Rede  sind  dem  Gebet 
und  dem  Segen  gemein :  Anapher,  Parallelismus,  zeremonielle  Anordnung, 
formelhafte  Rede. 

Was  die  Haltung  beim  Gebet  betrifft2),  so  neigte  man  sich; 
daß  Häkon  sich  vor  Thorgerd  niederwirft,  scheint  Übertreibung  der  üblichen 
Art.  Die  Hände  werden  vors  Gesicht  gehalten  oder  der  Blick  zum  Himmel 
gerichtet  —  symbolische  Gebärden  der  Demut  der  Gebundenheit.  Üblich 
scheint  die  Wendung  nach  Norden  (die  der  Christen  nach  Osten)3). 

Das  Haupt  wird  wohl  entblößt,  »wenigstens  heißen  gotische  Priester 
ausdrücklich  pileati ,  mit  Hüten  versehen,  weil  sie  bedeckten  Hauptes 
opferten4)«. 

Vielfach  werden  besondere  Zurü st un gen  vor  dem  Gebet  erfordert, 
insbesondere  Waschungen,  zuweilen  auch  teilweise  Entkleidung  (Ablegen 
der  Schuhe,  der  Waffen  u.  dgl.).  Hierüber  ist  uns  bei  den  Germanen 
nichts  überliefert;  doch  kann  die  alte  Formel  beim  Rachegelöbnis:  vorher 
sich  nicht  das  Haupt  zu  kämmen,  noch  die  Hände  zu  waschen5),  hier 
angezogen  werden6). 

Ein  regelmäßiges  Gebet  ist  nicht  vorauszusetzen:  wo  regelmäßige 
Anrufung  der  Gottheit  üblich  ist,  geschieht  sie  wohl  in  der  Form  des  Opfers. 


1)  Form  der  Segens-  und  Zaubersprüche:  Eber  mann  (siehe  u.).  Besonders 
altertümlich  Gebete  um  Regen:  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  439 f. 

2)  J.  Grimm,  Mythol.  1,  28f.;  Golther  S.  559. 

3)  Vgl.  allgemein  —  für  die  Anlage  der  Tempel  —  Nissen,  Orientation, 
Berlin  1906. 

*)  Golther  a.  a.  O.  —  Die  römischen  Priester  verhüllen  das  Hinterhaupt 
durch  die  hinaufgezogene  Toga  (Wissowa  S.  331,  1),  nur  der  Flamen 
Dialis  und  die  Salier  tragen  beim  Opfern  altertümliche  Kopfbedeckungen 
(ebd.  S.  429)  —  also  die  gleiche  Verschiedenheit. 

5)  Völ.  Str.  39. 

6)  So  muß  sich  der  indische  Opferer  baden  (z.  B.  Hillebrandt  S.  105); 
Aaron  und  die  Priester  werden  bei  der  Einsetzung  gewaschen  (3.  Mos.  8,  6).  — 
Bedenkt  man  die  alte  Wichtigkeit  der  Haartracht  (Hillebrandt  S.  7,  wo  auch 
auf  die  Hazdingen  Bezug  genommen  wird;  vgl.  Germ.  cap.  38  über  die  Sueven, 
siehe  o.  S.  399),  so  wird  man  auch  ein  festliches  Zurechtmachen  des  Haares  vor 
dem  Opfer  erwarten  dürfen.  Das  Gebet  ist  aber  eben  nur  ein  kleines  Opfer. 
Jene  Formel  also  bedeutet,  daß  der  Beschimpfte  als  unrein  nicht  vor  die  Götter 
treten  will,  ehe  er  sich  »den  Fleck  von  der  Ehr«  weggewaschen  hat;  wie  die 
Chatten  (Germ.  cap.  31)  sich  erst  Haar  und  Bart  schneiden,  wenn  sie  sich  mit 
Feindesblut  gereinigt  haben.  Man  denke  noch  an  das  »Decrassieren  der  studen- 
tischen Füchse. 


408  Fünftes  Kapitel. 

Eine  spezifische  Form  des  Gebets,  d.  h.  der  Anrufung  der  Götter 
stellen  Eid  und  Gelübde  gar,  in  der  Edda  nicht  selten  erwähnt1).  Es 
sind  dafür  auch  symbolische  Riten  aufgekommen,  die  man  als  Eventual- 
Opfer  bezeichnen  kann.  »Der  Krieger  geht  hinaus  aufs  freie  Feld,  er 
legt  Schwert  und  Schild  vor  sich  nieder  und  wünscht,  daß,  wenn  er 
seinen  Eid  breche,  seine  Waffen  ihm  nicht  hilfreich  sein,  sondern  sein 
Verderben  werden  möchten«2).  Also:  falls  der  Schwörende  lügt,  sollen 
seine  Waffen  nicht  mehr  ihm  gehören,  sondern  seinen  Feinden3). 

Feierliches  Aussprechen  von  Segen  und  Fluch,  an  sich  4)  zaubermäßig, 
kann  durch  begleitende  Anrufung  von  Göttern  Gebetscharakter  erhalten5). 

Das  Opfer6),  obgleich  rein  psychologisch  aus  der  Anrufung  erst 
entwickelt,  die  es  voraussetzt,  ist  doch  in  dem  Leben  aller  Primitiven  so 
durchaus  herrschend  geworden,  daß  eben  schließlich  das  Gebet  nur  als 
verkürztes  Opfer  erscheint.  (Es  ist  etwa  ein  Verhältnis  wie  zwischen 
Metapher  und  Gleichnis:  das  ausgeführte  Gleichnis  ist  uns  jetzt  so  un- 
bedingt die  natürliche  Form  der  Vergleichung  geworden,  daß  die  Stilistik 
die  Metapher  schlechtweg  als  »verkürztes  Gleichnis«  erklärt,  obwohl  die 
unmittelbare  Metapher,  auf  die  Scherer  zuerst  hinwies,  gewiß  ursprüng- 
licher ist.)  Mindestens  haben  wir  aus  den  alten  Oberlieferungen  diesen 
Eindruck.  Auch  wird  er  schwerlich  täuschen;  denn  es  ist  dem  Wilden 
undenkbar,  eine  Gabe  zu  erwarten,  wo  dem  Gebenden  nichts  geboten 
wird7).     >Gabe«  und  »Hoffnung«  sind  ein  Paar  Runennamen8). 

Da  aber  die  Götter  schenken  sollen,  muß  der  Mensch  spenden 9) : 

Mann  mit  zugeknöpften  Taschen, 

Dir  tut  keiner  was  zu  lieb; 

Hand  wird  nur  von  Hand  gewaschen  — 

Wenn  du  nehmen  willst,  so  gieb.  i  Goethe.) 


x)  Meine  Altgerm.  Poesie  S.  51. 

2)  Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  35;  daher  auch  der  Eid  erschüttert  mit 
alten  Götterglauben,  ebd.  S.  111. 

3)  Saxo  läßt  bei  Licht  und  Luft  schwören  (S.  142:  Herrmann  S.  189). 
Vgl.  allgemein  R.  Hirzel,  Der  Eid,  Leipzig  1902;  besonders:  Der  Eid  als 
Bürgenstellung  S.  23,  Der  Eid  ein  Fluch  S.  137,  Der  ogxog  als  Dämon  S.  142, 
Zur  Entstehung  des  Gelöbniseides  S.  214  f. 

4)  Siehe  o.  S.  138. 

r>)  Über  die  Form  meine  Altgerm.  Poesie  S.  384. 

6)  Mogk  S.  3851,  Hillebrandt  S.  14:  Wissowa  S.  28 f.  344f. 

7)  Vgl.  meinen  Aufsatz  Zur  Geschichte  des  Schenkens,  Aren.  f.  Kultur- 
gesch.  (1897)  5,  17  f. 

8)  Vgl.  über  die  Natur  des  Opfers  o.  S.  11.  Die  Behauptung,  das  Opfer 
sei  zuerst  Zauber  (Mogk,  Menschenopfer,  S.  694)  muß  ich  für  einen  Einzelfall 
der  augenblicklich  herrschenden  Unterschätzung  des  Zaubers  halten;  vgl.  Arch. 
f.  Rel.-Wissensch.  9,  10  f.   10,  88  f. 

9)  Vgl.  J.  Grimm,  Über  Schenken  und  Geben,  Kl.  Sehr.  2,  174. 


§  23.    Gebet  und  Opfer.  409 

Demnach  ist  auch  Maß  und  Art  des  Opfers  wichtig,  wie  bei  jeder 
Bestechung: 

Im  Unmaß  opfern  ist  ärger  als  gar  nicht  beten. 
Gabe  schielt  stets  nach  Entgelt1). 

Wer  zu  viel  gibt,  fordert  zu  viel;  wer  zu  wenig  spendet,  beleidigt,  wie 
König  Olaf,  der  dadurch  seinem  Volk  ein  Mißjahr  zuzieht2),  während  dem 
fleißigen  Opferer  Ottar3)  die  Göttinnen  verpflichtet  sind.  —  Jünger 
scheint  die  Verwendung  des  Opfers  als  reine  Dankesgabe.  —  Die  Wichtig- 
keit der  richtigen  Form  beim  Opfer  versteht  sich  von  selbst4). 

Gemeingermanischer  Terminus  gotisch,  angelsächsisch  blötan,  alt- 
nordisch blöta,  althochdeutsch  pluozan,  opfern,  »einen  mit  Opfer 
ehren«5).  Daneben  früh  das  Fremdwort  Opfer ön  zu  lateinisch  operäri 
Almosen  spenden,  altsächsisch  qffrön,  angelsächsisch  offrian  zu  lateinisch 
qfferre6)  —  sonderbar,  daß  zwei  ganz  verschiedene  lateinische  Worte 
germanisch  in  so  ähnlich  aussehende  Worte  von  gleicher  Bedeutung 
münden  sollen!  —  Für  »Opfer«  ist  ein  gemeingermanischer  Ausdruck  alt- 
hochdeutsch kelt,  angelsächsisch  gield,  neuhochdeutsch  »Geld«,  eigentlich 
etwa  »Tribut«.  Gewisse  Arten  des  Opfers  werden  gotisch  mit  hunsl 
und  sauths ,  altnordisch  hüsl ,  altnordisch  forn,  angelsächsisch  läc1) 
bezeichnet. 

Es  ist  zu  fragen:  wem  opfert  man?  weshalb?  wer  opfert?  was  wird 
geopfert?  wo?  wie?  wann? 

Wem  wird  geopfert?  Allen  übermenschlichen  Wesen s):  dem 
Fetisch,  den  freigewordenen  Seelen,  den  Dämonen  (und  zwar  besonders 
den  Elfen  im  Norden,  überall  den  Quellen-,  Wald-,  Berg-,  Hausgeistern, 
sowie  den  Fruchtbarkeitsdämonen)9).  So  reicht  noch  heute  das  erz- 
gebirgische  Mädchen  den  Wassergeistern  die  erste  von  ihr  gearbeitete 
Spitze,  der  österreichische  Bauer  spendet  noch  jetzt  den  Winddämonen; 
Spuren  von  Berg-  und  Hügelkult10)  leben  vielleicht  noch  in  den  Höhen- 
feuern fort,  Sonnensymbole  vielleicht  in  den  Rädern  der  Festfeuer11). 
Ebenso  bedeutet  das  Feuer  von  vornherein  etwas  Festliches,  wie  man  zum 

')  Häv.  Str.  144. 

2)  Golther  S.  564.  8)  HyndL  Str.  10. 

*)  Vgl.  o.  S.  134f.;  vgl.  Hillebrandt  S.  18f. 

5)  Golther  S.  559. 

6)  Kluge,  Etymol.  Wörterbuch5,  S.  276. 

T)  Eigentlich  wegen  der  damit  verbundenen  Bewegung?    Mogk  S.  384. 
*)  Siehe  o.  S.  30  f. 
9)  Vgl.  Mogk  S.  385. 
10)  Meyer  S.  387. 

u)  Dagegen  muß  man  sich  nach  Höflers  berechtigter  Warnung  (Arcli.  i. 
Rel.-Wissensch.  12,  345)  hüten,  in  jedem  runden  Kringel  ein  Sonnensymbol  zu 
erblicken. 


410  Fünftes  Kapitel. 

Gruß  für  den  Gast  das  Herdfeuer  auflodern  läßt.  Doch  weil  das  Feuer  bei 
vielen  Opfern  als  reinlichste  Form  der  Zurichtung  benutzt  wird,  gilt  es 
an  sich  als  gottesdienstlich,  so  daß  jede  auffallende  Verwendung  des 
Feuers  mindestens  die  Frage  legitimiert,  ob  nicht  ein  alter  Opfergebrauch 
vorliegt1).  —  Vor  allem  aber  wird  den  Göttern  geopfert. 

Oft  steht  die  Auswahl  frei;  in  anderen  Fällen  ist  nur  Ein  Gott 
kompetent,  sei  es  nach  sachlicher  Beschränkung  (Odin  für  Sieg,  Frigg  für 
eheliches  Glück),  sei  es  nach  lokaler  Begrenzung  (Gefjon,  Forseti)  oder 
regionaler  Vorliebe  (Frey  in  Schweden,  Thor  auf  Island).  Wo  mehrere 
Götter  zur  Verfügung  stehen,  liegt  die  Gefahr  nahe,  daß  man  den  be- 
leidigt, den  man  nicht  lädt,   was  besonders  griechische  Mythen  zeigen2). 

Man  kann  sich  besonders  auch  einen  Patron  für  das  Leben  wählen, 
wie  Thors  Verehrer  Thorolf  in  Norwegen  und  Island,  Thorhall  in  Grön- 
land, oder  wie  Hrafnkell  und  Thorkell  den  Frey  wählen3);  das  Patronat 
ersetzt  dann,  wie  bei  katholischen  Heiligen,  alle  speziellen  Kompetenzen. 
Solche  Verehrer  weihen  dann  auch  ihre  Kinder,  namentlich  die  Söhne, 
dem  Schutzpatron :  Thorolfs  Sohn  heißt  Thorstein ,  dessen  Sohn  Thor- 
grirh4).  Ebenso  benennt  man  Orte  nach  den  Lieblingsgöttern:  Thorolf 
nennt  ein  Vorgebirge  Thorsnes,  wie  die  spanischen  Conquistadoren  Trinidad 
oder  Vera  Cruz  auf  die  Landkarte  brachten.  —  Für  die  Könige  ist  Odin 
fast  selbstverständlich  Patron.  Eine  besonders  persönliche  Wahl  scheint 
in  Häkons  Verhältnis  zu  Thorgerd  vorzuliegen.  —  Für  die  Mädchen  und 
Frauen  ist  Freyja  da,  zu  der  Thorgerd  Egills  Tochter  fahren  will5). 

Dies  persönliche  Verhältnis  kann  einen  fast  fetischistischen  Charakter 
annehmen,  wie  bei  Häkon,  und  kann  deshalb  auch  umschlagen:  Grindell 
legt  Feuer  an  Thorgerds  Tempel,  weil  sie  ihn  verläßt6);  Hjalli  Skeggjason 
schilt  als  Christ  seine  früheren  Hauptgottheiten7). 

Natürlich  gibt  es  auch  hier  Moden :  Gottheiten  kommen  in  Vergessen- 
heit wie  Hönir,  treten  in  den  Hintergrund  wie  Tyr,  gewinnen  neue  Be- 
deutung wie  Frey  (wie  etwa  St.  Expeditus  ein  ganz  moderner  Lieblings- 
heiliger ist-8).  Religiöse  Parteiungen  bilden  sich ;  man  versucht  es  dann 
wohl  auch  mit  verschiedenen  Patronen  oder  begnügt  sich  mit  den  Drei 
heiten,   die   einen    offiziellen  Kompromiß  darstellen  (Odin,  Thor,  Frey)9) 

1)  Vgl.  allgemein  Golther  S.  560. 

2)  Streit  um  den  Opfergenuß  zwischen  Zeus  und  Poseidon  (Prell er  1, 94— 95) 
vgl.  Äsen  und  Wanen  Völ.  Str.  23. 

*)  Golther  S.  557. 
4)  Ebd.;   über  solche     theophore   Namen     überhaupt  Golther  S.  247,  3 
Mogk  S.  356. 

")  Golther  S.  440.  6)  Golther  S.  484.  7)  Ebd..S.  439. 

8)  Vgl.  Delehaye,  La  legende  hagiographique ,  S.  54;  vgl.  Vossischt 
Zeitung  24.  Okt.  1908. 

9)  Vgl.  z.  B.  die  attische  Kompromiß'-Zweiheit  Athena-Poseidon  Prell  er  1,203 


§  23.    Gebet  und  Opfer.  411 

Wer  opfert?  Von  vornherein:  Jeder,  der  göttlichen  Beistand  braucht. 
Für  die  Familie  tritt  ihr  natürlicher  Vertreter,  der  Vater,  ein1),  wie  bei 
den  Römern2)  und  überall.  Dies  dauert  bei  den  Germanen  bei  den 
privaten  Opfern  fort;  daneben  aber  treten  öffentliche  ein3):  schon 
auf  der  dämonistischen  Stufe  beim  Ahnenkult,  später  bei  Stammgottheiten 
und  Patronen  gemeinschaftlicher  Angelegenheiten  (Ernte,  Krieg).  Für  die 
Germanen  scheinen  in  dieser  Verstaatlichung  des  Gottesdienstes  Epoche 
zu  machen:  erstens  altgermanische  Gottheiten  verschiedener  Art,  von  den 
Amphiktyonien  frei  gewählt  (Ing,  Isto,  Irmin).  Zweitens  ebenfalls  noch  in 
altgermanischer  Zeit  Gottheiten ,  deren  Feste  werbende  Kraft  besaßen : 
Nerthus,  die  Alces.  Es  sind  wahrscheinlich  —  bei  Nerthus  beinahe  sicher  — 
Stätten  lokaler  Epiphanie,  gerade  wie  an  solchen  auch  heute  noch  Wall- 
fahrtskirchen entstehen.  Hier  bilden  sich  zuerst  Tempel  und  an  diesen 
ein  Priesterstand.  Drittens  in  dialektischer  Zeit  in  Deutschland  Wodan  und 
Tyr-Saxnot,  im  Norden  Frey,  auch  Thor,  —  Kriegs-,  Staats-  und 
Landgötter.  —  Sobald  der  Kult  zentralisiert  ist,  opfert  der  Priester,  in 
Staatsangelegenheiten  auch  der  Fürst. 

Priesterinnen  kommen  schon  früh  vor  (im  Dienst  des  Frey);  auch  in 
Island  gibt  es  neben  dem  godi  die  gydja.  Als  der  Missionär  Thorvald 
in  Hvanum  predigte  (um  984,  im  Westen  von  Island),  war  Fridgerd  im 
Tempel  und  brachte  ein  Opfer  dar  —  Priester  und  Priesterin  konnten 
sich  gegenseitig  hören4). 

Craigie  schließt  aus  dem  lang  andauernden  Fehlen  eines  eigenen 
Priesterstandes  auf  eine  große  Religiosität  des  ganzen  Volkes5);  es  ist 
auch  der  umgekehrte  Schluß  zulässig.  Doch  läßt  die  Existenz  einer  starken 
Priesterschaft  (wie  bei  Ägyptern  und  Kelten)  wohl  eher  auf  die  Art  als 
auf  die  Intensität  der  religiösen  Empfindungen  im  Volk  schließen.  Die 
Völker  mit  der  größten  Leidenschaftlichkeit  religiöser  Empfindung  scheinen 
sich  übrigens  fast  überall  an  St.  Bernhards  nn  ecclesia  taceat  mulier«, 
im  Tempel  hat  die  Frau  nichts  zu  sprechen,  gehalten  zu  haben6). 

')  Mogk  S.  388. 

2)  Wissowa  S.  345. 

3)  Golther  S.  560.  573,  vgl.  610;  Meyer  S.  296;  Mogk  a.  a.  O. 

4)  Craigie  S.  66. 

5)  S.  67. 

6)  Bei  den  Indern  sind  vom  Opfern  ausgeschlossen  eine  Frau,  außer  in  be- 
stimmten Fällen,  wo  sie  ihren  Gatten  vertritt,  und  ein  nicht  geweihter  Opferer; 
aber  auch  statt  des  Hausherrn  wird  öfters  ein  Brahmane,  wenigstens  im  Symbol 
gefordert  (Hillebrandt  S.  70).  Auch  das  Judentum  schließt  die  Frau  vom  Opfer- 
dienst aus  (Löhr,  D.Stellung  des  Weibes  zu  Jahves  Religion  und  Kult,  Leipzig 
1908,  S.  51,  nach  Berthoiet,  D.  Lit-Zeitg.  1909  S.  1939).  -  Während  die 
Feierlichkeit  der  Opferhandlung  bei  den  Indern  weitaus  am  weitesten  getrieben 
ist,   nähert  sie  sich  bei  den  Römern   nüchterner  Alltäglichkeit  (vgl.  Wissowa 


412  Fünftes  Kapitel. 

Weshalb  wird  geopfert?  Vor  allem,  wie  schon  ausgeführt, 
zum  Zweck  einer  Einwirkung  auf  die  höheren  Mächte:  Bittopfer;  selten 
sind  Dankopfer,  dagegen  begegnen  später  auch  Sühneopfer1),  die  eine 
göttliche  Strafe  abkaufen  sollen  und  also  eigentlich  nur  einen  Einzelfall 
der  Bittopfer  darstellen2). 

Am  häufigsten  sind  Opfer  für  Fruchtbarkeit  und  Sieg;  daneben  wird 
für  andere  Zwecke  in  entscheidenden  Momenten  geopfert:  bei  gebärenden 
Frauen,  bei  schwerer  Krankheit  oder  Seuche,  für  Vaterrache,  für  glück- 
liche Fahrt,  Reise,  Unternehmung3). 

Was  opfert  man?  die  Hauptfrage.  Man  bringt  dar:  Menschen- 
opfer, Tieropfer,  Naturalien,  symbolische  Opfer.  Das  Menschen- 
opfer4) ist  überall  in  der  Welt  das  vornehmste  Opfer5).  Menschen- 
opfer sind  germanisch  bezeugt  für  Nerthus,  Tiuz,  Wodan,  Donar,  Frey, 
Fosite,  Thorgerd  Hölgabrud6)  —  also  merkwürdigerweise  für  keine 
chthonische  oder  verderbliche  Gottheit.  Hauptgott  ist  auch  hier  Odin  mit 
Opfern  auf  dem  Schlachtfeld7).  Statt  der  vornehmen  Krieger  werden 
Kriegsgefangene,  Sklaven  und  Verbrecher  geopfert8).  Die  Opferung  ge- 
schieht9) vielfach  in  grausamer  Weise,  worin  mehr  eine  kannibalische  Lust 
als  ein  mythologischer  Gedanke  zu  sehen  ist  (vgl.  z.  B.  die  martervollen 
Opferungen  im  alten  Mexiko);  nur  wird  manchmal  eine  Anähnlichung 
an  das  heilige  oder  Opfertier  erstrebt  (»den  Blutaar  schneiden«).  —  Für 
das  ganze  Volk  tritt  im  Notfall  der  König  als  Opfertier  ein  (Olaf  Tretelgja, 
König  der  Schweden,  in  seinem  Haus  verbrannt;  Vikar)10). 


S.  345;  doch  vgl.  auch  Hillebrandt  S.  74);  für  die  Germanen  wird  man  eine 
mittlere  Region«  voraussetzen  dürfen.  —  Bei  den  Indern  hat  sich  nie  ein  eigent- 
liches Gemeinschaftsopfer  entwickelt  (Hillebrandt  S.  14). 

T)  Mogk  S.  388. 

2)  Sühnopfer  im  Alten  Testament  3.  Mos.  Kap.  16  u.  o. ;  im  Kult  des 
Apollon  Preller  1,  286,  des  Zeus  ebd.  143;  allgemein  vgl.  auch  Frazer2,  1821 

8)  Aufzählung  der  indischen  Opferanlässe  in  Hillebrandts  Ritual- 
literatur, der  römischen  Wissowa  S.  344 f.  Indogermanische  Bräuche  (?) 
Leist,  Alt-Arisches  Jus  gentium,  Jena  1889,  S.  177  f. 

4)  Golther  S.  561,  M o g k  S.  388.  390,  Meyer  S.  395.  —  Mogk,  Menschen- 
opfer siehe  Anm.  5. 

5)  Vgl.  ursprüngliche  Menschenopfer  bei  den  Semiten  Greßmann,  Die 
Ausgrabungen  in  Palästina  und  das  Alte  Testament,  Tübingen  1908,  S.  36.  Auch 
bei  den  Römern  ist  trotz  gegenteiliger  Tradition  der  Gebrauch  vorauszusetzen 
(Wissowa  S.  345).  —  Für  das  Menschenopfer  bei  den  Germanen  speziell 
Mogk,  Abh.  Sachs.  Ges.  d.  Wissensch.  XXVII.  17  (Leipzig  1909). 

6)  Golther  S.  561. 

7)  Zahlreiche  Beispiele  bei  Mogk  S.  389;   über  den  Ritus  siehe  o.  S.  233 f. 

8)  Golther  S.  562. 

9)  Ebd.  S.  564. 

J0)  Vgl.  die  Kodrussage;  siehe  o.  S.  238. 


§  23.    Gebet  und  Opfer.  413 

Zuweilen  ist  das  Opfer  zugleich  Strafe.  Der  Fall  der  Königsopfer 
kommt  dem  schon  nahe.  Tempelschänder  werden  nach  friesischem  Gesetz 
entmannt  (der  Menschenrechte  beraubt)  und  dann  getötet  (während  das 
Alte  Testament  fordert,  daß  ein  Opfer  hier  ganz  sein  soll)1).  Allerdings 
leugnet  Mogk2)  mit  beachtenswerten  Gründen  das  Bestehen  der  sakralen 
Todesstrafe,  und  dieser  überhaupt,  bei  den  alten  Germanen;  aber  »in  der 
Sache  kommt  es  auf  dasselbe  heraus« ! 

Zuweilen  bringt  eine  bestimmte  Absicht  eine  bestimmte  Form  des 
Opferns  mit  sich.  Um  ein  Schiff  mit  Blut  zu  weihen,  läßt  man  es 
über  einen  Menschen  rollen  3) :  man  vergleiche  die  Sagen  vom  Einmauern 
unter  Gebäude4).  Das  Schiff  wird  als  ein  Ungeheuer  behandelt  (es  ist 
ein  »Drache«)  und  durch  einen  Tribut  abgefunden.  —  Oder  man  läßt  den 
Gott  selbst  das  Opfer  vollziehen,  indem  an  seinem  Stein  auf  Island  den 
Opfern  der  Rücken  gebrochen  wird5). 

Am  häufigsten  steht  das  Menschenopfer  mit  dem  Krieg  in  Zusammen- 
hang, als  Gelübde  vor  dem  Kampf,  als  Erfüllung  nach  dem  Sieg6).  Diese 
Opfer  sind  oft  mit  völliger  Zerstörung  der  spolia  opima  verbunden:  »die 
Kleidung  wurde  zerrissen,  Gold  und  Silber  in  den  Fluß  geworfen,  die 
Brunnen  zerhauen,  die  Pferdegeschirre  zerbrochen,  die  Pferde  selbst  ins 
Wasser  versenkt«  7).  So  geschieht  es  auch  nach  dem  Sieg  im  Teutoburger 
Walde.  —  Selten  wird  schon  vor  der  Schlacht  das  Opfer  vollzogen 8).  — 
Aber  auch  vor  der  Seefahrt9)  finden  Menschenopfer  statt,  um  Ran  ab- 
zufinden (?).  Die  Friesen  opfern  deshalb  am  Meer10).  »Die  Menschen- 
Dpfer  bei  Mißwachs  werden  später  durch  Aussetzen  von  Greisen  und 
Kindern  ersetzt«11).  Früher  sind  diese  die  vornehmsten:  hier  werden 
Könige  geopfert12).  Mogk 13)  weist  hübsch  auf  Worte  Gustav  Wasas  (1527) 
ain:  »Bekommen  sie  keinen  Regen,  so  geben  sie  dem  Könige  die  Schuld.« 
|k)  sagt  das  italienische  Sprichwort:   »Es  regnet  —  schlechte  Regierung«. 

Bei  Seuchen:  noch  1350  sollen  die  Bewohner  von  Westgotland 
rwei  Bettelkinder  beim  Schwarzen  Sterben  geopfert  haben 14).  —  Aus 
aiesen    Notopfern    leitet    Mogk15)    erst    die    periodischen    Menschenopfer 

x)  3.  Mos.  9,  1  u.  o. 

2)  Menschenopfer  S.  638f.  Dagegen  Bethge  -  Loewe,  Handbuch  der 
leutschen  Geschichte,  4.  Aufl.;  1,  40. 

3)  hlunrod,  Rollenrötung;  Gojlther  S.  562,  Meyer  S.  337. 

4)  Ebd.;  häufig  in  Sagen. 

5)  Über  die  Selbstopferungen  im  Odinsdienst  vgl.  o.  S.  245  f. 

6)  Mogk  S.  607. 

7)  Ebd.  S.  608:  der  Sieger  gibt  dem  Opfer  alles  mit,  er  darf  nichts  be- 
lalten,  was  geweiht  ist  (vgl.  Saul  und  Samuel). 

8)  S.  610.  9)  S.  618.  10)  Ebd.  S.  620. 
u)  Vgl.  ebd.  S.  626;  Mogk  S.  628. 

12)  S.  623.  13)  S.  625.  14)  S.  629.  15)  S.  632. 


414  Fünftes  Kapitel. 

ab.  Auch  das  für  Nerthus  sei *)  jährlicher  Regenzauber ,  also  prophy- 
laktisch gegen  Mißwachs,  was  mir  doch  durch  das  Abwaschen  der  Gott- 
heit nicht  genügend  verbürgt  scheint:  ich  glaube,  daß  man  die  Zeremonie 
vielmehr  als  die  einer  »heiligen  Hochzeit«  und  Reinigung  auffassen 
muß2).  — 

Im  allgemeinen  opfert  man  jedem  Gott  die  ihm  heiligen  Tiere. 
Es  ist  nicht  ohne  weiteres  klar,  wie  dieser  allgemein  als  selbstverständlich 
angenommene  Brauch  zu  erklären  ist.  Vielfach  scheinen  ja  die  heiligen 
Tiere  ursprünglich  den  Gott  selbst  in  Tiergestalt  vorgestellt  zu  haben,  was 
innerhalb  der  germanischen  Mythologie  höchstens  für  Thors  Böcke  und 
Balders  Hirsch  (?)  wahrscheinlich  ist.  Was  bedeutet  es  nun,  wenn  man 
dem  Gott  sein  Ebenbild  opfert?  Es  unverletzlich  zu  machen  wie  in 
Ägypten  scheint  doch  viel  natürlicher.  Und  wenn  es  das  Lieblingstier 
des  Gottes  ist,  begreift  man  auch  ein  Pflegen  und  Züchten3)  weit  besser 
als  dies  »Zuschicken«;  denn  der  Gott  liebt  doch  das  Roß  und  nicht  das 
Pferdefleisch!  Es  wird  sich  um  eine  Art  von  Übertragung  handeln,  etwa 
etwa  um  jenen  Akt,  den  man  in  der  Syntax  «Attraktion«  nennt:  da  nun 
einmal  Tiere  geopfert  wurden,  gab  man  dem  Gott  mit  den  Rossen  gerade 
Rosse  usw.  Viel  weniger  wahrscheinlich  ist  es,  daß  die  Zuweisung  der 
Tiere  an  die  Götter  umgekehrt  erst  aus  dem  Opfergebrauch  stammen 
würde:  es  hätte  sich  eine  gewisse  Verteilung  herausgebildet  (aber  wie?), 
die  dann  aus  dem  mit  Pferdeopfern  geehrten  Gott  den  rossezügelnden 
gemacht  hätte  usw. 

Die  Tieropfer  vertreten  überall  außerdem  ursprüngliche  Menschen- 
opfer. So  schon  in  der  Zeit  des  Tacitus:  »Martern  et  Herculem  con- 
cessis  animalihus  placant« 4). 

Es  werden  also  vor  allem  Rosse  dem  Odin,  Stiere  und  Ochsen  (be- 
sonders der  Haupteber,  der  sonargölt)5)  dem  Frey  geopfert;  der  Freyja  Eber 
und  Katzen  (vgl.  im  übrigen  oben  jedesmal  unter  »Kult«).  Das  beliebteste 
Opfertier   ist,   wie   überall,   das  Schwein    »als  das  häufigste  und  billigste 

*)  In  Fällen  großer  Not  griff  man  überall  zum  Menschenopfer,  bei  Römern 
und  Griechen  wie  bei  Kelten  und  Germanen  (Di eis,  Sibyllinische  Blätter,  S.  85f.). 

2)  Golther  S.  565,  Mogk  S.  390. 

3)  Wieder  Rosse  Germ.  cap.  10,  der  heiligen  Herdendes  Helios  Preller  1,432. 

4)  Germ.  cap.  9.  —  Die  Römer  behaupteten,  der  älteste  römische  Gottesdienst 
sei  durchaus  unblutig  gewesen  und  habe  das  Tieropfer  verschmäht,  was  unglaub- 
haft ist  (Wissowa  S.  345);  es  gehört  wohl  zu  den  Ausschmückungen  der 
»goldenen  Zeit«,  wie  vielleicht  auch  die  altnordische  Mythologie  für  die  Altäre 
der  reinen  Götterzeit  nur  symbolische  goldene  Opfer  voraussetzt  (Vol.  Str.  7).  - 
Die  römische  Regel,  daß  männlichen  Gottheiten  männliche,  weiblichen  weibliche 
Opfertiere  geschlachtet  werden  (Wissowa  S.  348,  7),  scheint  anderwärts  nicht 
zu  gelten  (für  die  Inder  vgl.  Hillebrandt  S.  73). 

F)  Helg.  Hjörv.  zu  Str.  31;  Sievers,  PBB.  16,  540;  vgl.  o.  S.  201. 


§  23.    Gebet  und  Opfer.  415 

Schlachttier«1).  » Ferkel <  wird  geradezu  im  Sinne  von  lateinisch  hostia, 
holocaustum  gebraucht 2). 

Die  mannigfaltigsten  Opfer  erhält  Odin :  neben  den  Menschenopfern 
auch  Rosse  und  Hunde3). 

Ein  weiterer  Gesichtspunkt  ist  die  Eßbarkeit4).  Die  Opfer  sollen 
Speise  für  die  Götter  sein5).  Auch  deshalb  ist  das  Roßfleisch  besonders 
beliebt;  so  beliebt,  daß  die  Kirche  gegen  seinen  Genuß  überhaupt  eifert6); 
die  Isländer  behalten  sich  bei  der  Annahme  des  Christentums  das  Pferde- 
fleischessen ausdrücklich  vor. 

Concessa  animalia ,  erlaubte  Opfertiere,  haben  ihren  eigenen  Ter- 
minus: althochdeutsch  gebar,  angelsächsisch  Ufer  (negativ:  »Ungeziefer«, 
unreines  Getier).  Dafür  altnordisch  tafn ,  zu  lateinisch  dapes  Opfermahl 
(vgl.  den  Namen  Tanfana?).  Der  Ausdruck  scheint  jedoch7)  auf  die  Tiere 
beschränkt,  die  von  den  Göttern  genossen  werden;  Hunde  und  Wölfe  Odins, 
obwohl  Opfertiere,  wären  also  nicht  damit  zu  bezeichnen,  ebensowenig 
die  Menschenopfer. 

Im  Ganzen  scheint  das  Opfer  auf  vierfüßige  Haustiere  be- 
schränkt (Roß,  Stier  und  Kuh,  Schwein,  Ziege,  Hund;  bei  den  Römern 
gern  auch  Schafe,  bei  den  Indern  vereinzelt  Esel)8),  wozu  noch  Odins 
Wolf  kommt;  eine  Beschränkung  aus  der  Nomadenzeit.  Vereinzelt 
kommt  auch  Geflügel  vor:  Hahn  und  Habicht  in  Hleidra  nach  Dietmar 
von  Merseburg 9).  Die  Götter  schmausen  dann  behaglich,  wie  bei  Homer 
und  im  Veda10):  der  Eber  der  Einherier,  die  Böcke  als  Thors  Nahrung11) 
entsprechen  natürlich  dem  Opfergebrauch  12).  — 


J)  Wissowa  S.  346;  deshalb  verschmäht  es  der  Staat  für  seine  feierlichen 
Opfer  (S.  347).  Natürlich  wird  es  nirgends  geopfert,  wo  es  für  unrein  gilt,  wie 
besonders  bei  den  Hebräern,  den  Indern  (Hillebrandt  S.  73). 

2)  Golther  S.  566.  —  Die  Häufigkeit  des  Schweineopfers  schließt  Negeleins 
geistreichen  Versuch  aus,  nach  Analogie  indischer  Sakralgebräuche  das  Pferde- 
ypfer  deshalb  für  besonders  heilig  zu  erklären,  weil  für  profanen  Brauch  das 
Roßfleisch  verboten  gewesen  sei  (Germ.  Mythol.  S.  90).  Gar  von  hier  totemistische 
Vorstellungen  abzuleiten,  scheint  völlig  untunlich. 

3)  Bei  den  Römern  ist  die  Verbindung  von  Schwein,  Schaf  und  Rind  offiziell 
geworden :  Suovetaurilia  (  W  i  s  s  o  w  a  S.  349  f.) ;  über  die  schwierige  Auswahl  der 
jeweiligen  Opfertiere  ebd.  S.  348.  —  Zusammengesetzte  Thieropf er  auch  bei  den 
Indern  und  sonst. 

4)  Golther  S.  565. 

5)  Was  nach  Robertson  Smith  ja  ihr  erster  Begriff  ist;  lebhaft  aus- 
geführt in  den  römischen  lectisternia,     Götterbewirtungen«  (Wissowa  S.  355). 

6)  Golther  S.  359.  7)  Golther  S.  566. 
8)  Hillebrandt  a.  a.  O.  9)  Golther  S.  566. 

10)  Grim.  Str.  18:  Gering  S.  329. 
")  Gylf.  cap.  44:  Gering  S.  334. 
12)  Über  Odins  Verweigerung  der  Fleischnahrung  vgl.  o.  S.  175. 


416  Fünftes  Kapitel. 

Das  Opfertier  wird  geschmückt x),  in  die  Versammlung 2)  geführt  und 
nach  uralter  Sitte3)  von  den  Opfergästen  feierlich  berührt4),  damit  seine 
Weihe  auf  die  Spender  übergehe5). 

Besprengen  des  Opfertiers6)  ist  wahrscheinlich7).  Das  Tier  wird 
getötet8),  ausgeweidet,  das  Fleisch  verzehrt,  das  Blut9)  oft  in  einem 
Kessel  gesammelt,  das  Haupt  angenagelt.  Zuweilen  wird  auch  bloß  dies 
geopfert,  so  von  den  Langobarden  ein  Ziegenhaupt. 

Odins  Weingenuß  könnte  auf  die  Trankopfer10)  deuten.  Die 
Alemannen  sitzen  am  Bodensee  um  die  Bierkufe  (6.  Jahrhundert),  wie 
früher  die  Cimbern  am  Blutkessel11),  aus  dem  geweissagt  —  aber  wohl 
auch  getrunken  wird12). 

Das  Blut  des  Opfertiers  gibt  Kraft;  daher  das  Bluttrinken.  Ander- 
seits ist  überall  der  »Zehnten«  des  Genusses  an  die  Götter  üblich13);  dies 
schwächt  sich  ab  zu  dem  beliebten  »Zutrinken«,  das  wir  fast  bei  allen 
Hauptgottheiten  zu  erwähnen  hatten:  der  Gott  wird  als  Trinkgenosse 
begrüßt.  Besonders  feierlich  geschieht  das  beim  Gebrauch  des  »geweihten 
Bechers«  14). 

Die  gleiche  Abschwächung  führt  dazu,  statt  der  Opfertiere  Symbole 
zu  spenden :  Teigfiguren  15). 


x)  Goldgehörnte  Kühe  Helg.  Hjörv.;  Golther  S.  565. 
2)  Siehe  u.  :})  Hillebrandt  S.  73. 

4)  Hedin:  Helg.  Hjörv.  zu  Str.  31. 

5)  Die  sonderbaren  beiden  Blasebälge  unter  dem  Bauch  der  Sonnenrosse 
(Gylf.  cap.  21:  Gering  S.  305)  könnten  auf  besonders  vorgeschriebene  Werk- 
zeuge beim  großen  Tieropfer  gehen;  wahrscheinlicher  ist  indes  die  falsche  Aus. 
legung  der  »Stützen«  bei  irgend  welchen  etwa  antiken  Skulpturen  (vgl.  die  Kolosse 
von  Monte  Cavallo). 

6)  Wissowa  S.  352. 

7)  Vgl.  Helg.  Hjörv.  a.  a.  O.  Für  die  Hebräer  vgl.  z.  B.  Gressmann, 
Schriften  des  Alten  Testaments  in  Auswahl,  Göttingen  1910,  S.  43. 

8)  Durch  wen?    Vgl.  Wissowa  a.  a.  O. 

9)  Siehe  u.  10)  Meyer  S.  321.  11)  Strabo  7,  2. 

12)  Golther  S.  567.  —  Di  eis  bringt  das  Trankopfer  in  unmittelbare  Ver- 
bindung mit  dem  Blutopfer  (Sibyllinische  Blätter,  Berlin  1890,  S.  72).  Vielleicht 
ist  es  auch  eine  Milderung  des  alten,  z.  B.  bei  den  Cimbern  bezeugten  Trinkens 
von  Opferblut. 

13)  Wissowa  S.  345. 

14)  Gering  S.  156,  5;  vgl.  Uhlands   »Glück  von  Edenhall«. 

15)  Indiculus  superstitionum  N.  26  im  8.  Jahrhundert;  Meyer  S.  322:  simu- 
lacra  de  consparsa  farina.  So  erwähnten  wir  schon  die  Jul — Eber,  die  in  unseren 
Weihnachts- ,  Lichtmeß-  und  anderem  Festgebäck  fortleben  (vgl.  H  ö  f  1  e  r  s 
Forschungen  z.  B.  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  15  [1905]  S.  312 f.;  über  Nachbildung 
von  Körperteilen  u.dgl.  im  Gebäck  auch  Kleinpaul,  Gastronomische  Märchen, 
Leipzig  o.  J.,  S.  1231).  —  Die  psychologische  Entwicklung  ist  wieder  nicht  einfach  er- 
sichtlich.   Ein  Versuch,  die  Götter  zu  betrügen,  liegt  gewiß  nicht  vor;  auch  schwer- 


§  23.    Gebet  und  Opfer.  417 

Kuchen,  Früchte  u.  dgl.  werden  den  Dämonen,  besonders  den 
Hausgeistern,  von  vornherein  (und  nicht  erst  als  Ersatz  für  andere  Opfer) 
dargebracht:  diese  sind  eben  Genossen  des  täglichen  Mahls1).  —  Getreide- 
opfer werden  ebenfalls  anzunehmen  sein,  wie  die  letzte  Ähre  dem  Acker- 
geist bleibt.     Doch  gehört  das  schon  zu  den 

Zehnten,  d.  h.  Anteil  an  dem  Ertrag  der  Ernte,  in  Naturalien 
geopfert:  Wode  erhält  eine  mit  kleinen  Steinen  bedeckte  Garbe2)  als 
seinen  symbolischen  Anteil  an  der  Ernte,  an  der  er  mit  geholfen  hat. 

Rein  symbolische  Opfer  sind  die  Notfeuer8).  Sie  werden  nach 
altertümlicher  Sitte4)  durch  Reiben  entzündet5),  zuweilen  durch  zwei  reine 
Jünglinge  unter  gebotenem  Schweigen.  Dann  wird  das  Vieh  durch- 
getrieben, Burschen  und  Mädchen  springen  durch:  Tier-  und  Menschen- 
opfer symbolisch  angedeutet.  Später  wird  es  rationalistisch  umgedeutet: 
das  Feuer  solle  bei  drohender  Seuche  die  Luft  reinigen*  aber  das  Not- 
feuer findet,  wie  große  Opfer,  auch  bei  Viehseuche  und  Dürre  statt.  Die 
Asche  soll  gegen  Raupenfeuer  und  Mißwachs  auf  den  Feldern  schützen; 
sie  wird  auch  mit  Viehfutter  gegeben. 

Der  Brand  lebt  fort  im  Johannisfetier6).  Eigentliches  Notfeuer  ward 
noch  1855  im  Braunschweigischen  angezündet.  — 

Wo  opfert  man?  Während  für  den  Zauber  fast  stets  eine  be- 
stimmte Stätte  erfordert  wird 7),  kennt  das  gottesdienstliche  Opfer  zunächst 
keine  solche:  die  Götter  lassen  sich  da  nieder,  wo  ihnen  der  Platz  be- 
reitet wird 8).  Doch  sind  zweierlei  Stätten  besonders  geeignet,  unter  Um- 
ständen sogar  allein  geeignet :  die,  an  denen  die  Götter  entweder  wohnen 
oder  wirken9): 

1.  Den  Göttern  opfert  man  an  »heiliger  Stelle«,  d.  h.  an  einer  Stätte, 
die  sie  durch  Erscheinungen  geheiligt  haben :  am  Fetisch,  im  Hain,  später 


'ich  die  rationalistische  Erwägung,  daß  blutiges  Opfer  den  Göttern  nicht  angenehm 
sei  (die  nicht  einmal  bei  den  Propheten  des  Alten  Bundes  durchgedrungen  ist). 
Vlan  könnte  an  einen  Sympathiezauber  denken,  an  eine  Aufforderung  an  den  Gott, 
die  Eber  aus  Mehl  in  solche  aus  Fleisch  und  Blut  zu  verwandeln  (vgl.  Christi 
Versuchung  durch  den  Teufel),  wie  Vikar  durch  das  in  einen  Speer  gewandelte 
Rohr  durchbohrt  wird. 

»)  Vgl.  Wissowa  S.  345;   Butteropfer  Hillebrandt  S.  72;  auch  in  Nor- 
wegen der  Sonne  dargebracht  (Mortenssen  und  Olrik,  Danske  Studier 2, 115f.). 

2)  Meyer  S.  399. 

3)  Mogk  S.  359,  Golther  S.  570,  Meyer  S.  334. 

4)  Vgl.  z.  B.  Hillebrandt  S.  69  u.  bes.  S.  14. 

5)  Daher  schwedisch   Vrideld  Drehfeuer;  Meyer  a.  a.  O. 

«)  E.  H.  Meyer,  Deutsche  Volkskunde,  S,  139.  259;  Badisches  Volksleben, 
S.  103  f.  225  f. 

7)  Hillebrandt  S.  174.  *)  Ebd.  S.  14. 

9)  Vgl.  auch  Wissowa  S.  29. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  27 


418  Fünftes  Kapitel. 

im  Tempel  *).    Historische  Epiphanien  heiligen  eine  Stelle  zum  National 
heiligtum2);  ebenso  die  Stätte  ihres  Verschwindens 3). 

2.  Eine  »unsichtbare  Theophanie«  heiligt  die  Stelle  ihrer  Wirksamkeit: 
das  Schlachtfeld,  den  Acker,  die  Meeresküste,  das  Schiff,  wo  sie  anwesend 
gedacht  werden;  das  Bett  des  Kranken,  wo  sie  erwünscht  werden. 

Es   kann  aber  jede  Stätte  geheiligt  werden:    die  Weihe4)   ersetzt    die 
Göttererscheinung.     Die  Zauberin   bereitet  sich  den  Platz;   der  geweihte 
Eber   wird5)   in  den  Saal  getrieben  und  macht  diesen  vorübergehend  zu 
einer  heiligen  Stätte.  —  Oder  die  Einsetzung  vervollständigt  die  Epiphaniel 
wie  bei  dem  Vorgebirge  Thorsnes6). 

Verboten  wird  wohl  jede  verunreinigte  Stätte  sein;  sicherheitshalber 
geht  oft  eine  wirkliche  oder  symbolische  Reinigung  vorher7).  Natürlich | 
bringt  die  Einrichtung  der  Tempel  genauere  Vorschriften  über  den  Ort 
des  Opfers  mit  sich:  Altar,  Steine  Thors  usw.  Ebenso  wird  nach  Ein- 
führung der  Götterbilder  die  Stelle  vor  ihnen  in  der  ganzen  Welt  natur- 
gemäß zu  einer  für  Gebet  und  Opfer  besonders  geeigneten  Stätte  (Häkon 
vor  Thorgerd):  man  steht  dem  Gott  unmittelbar  gegenüber.  Ein  Götter- 
bild ist  nichts  anderes  als  eine  versteinerte  Epiphanie.)  — 

Wie  wird  geopfert?  Ziemlich  früh  bildet  sich  nicht  bloß  Ein 
festes  Ritual,  sondern  deren  viele8).  Jeder  Gott  hat  seine  eigenen  Um- 
gangsformen. Von  diesen  spezifischen  Riten  kennen  wir  nur  den  Odins 
genauer 9).  Es  ist  auch  wohl  möglich,  daß  dieser  (wegen  seines  mysterien- 
haften  Beigeschmacks)  sich  von  den  Grundformen  des  urgermanischen 
Ritus10)  stärker  abhob,  als  diese  Riten  Tyrs,  Freys,  Freyjas  usw.  unter- 
einander differierten. 

Der  erste  Schritt  ist  die  Versammlung,  die  den  Gott  empfangen 
soll.      Es    wird    dann    in    irgend    einem    Vor-    oder    Außenraum    (dem 

x)  Siehe  u. 

a)  Nerthus;  Erechtheus:  Preller  1,  198. 

3)  Grab  der  Sarenta  (Wissowa  a.  a.  O.),  Grab  des  Balder,  wohl  auch  die 
Stelle,  au  der  Ing  Abschied  nahm. 

4)  Siehe  o.  S.  53. 

5)  Helg.  Hjörv.  zu  Str.  31.  ö)  Siehe  o.  S.  66. 

7)  Bei  den  Indern  wird  die  Gottheit  durch  gesalbtes  Opfergras  vom  Boden 
isoliert  (Hillebrandt  S.  14),  ebenso  bei  Griechen  und  Lateinern  durch  ein 
heiliges  Lager,  xlivr\,  pulvinar  (Wissowa  S.  356).  Da  von  einem  Thron  oder 
Lager  der  germanischen  Götter  nirgends  die  Rede  ist  -  sie  sitzen  wie  alle 
Menschen  —  wird  dies  bei  uns  gefehlt  haben. 

8)  Hillebrandt  S.  14  nach  Bergaigne. 

9)  Chadwick,  The  cult  of  Odin;  vgl.  o.  S.  239  f.;  phantastisch  Kauft  - 
mann  über  den  Kult  des  Balder,  Schuck  über  den  des  Frey,  siehe  o.  S.  201, 
allgemein  vgl.  U.Jahn,  D.  deutschen  Opfergebräuche,  Breslau  1889;  auch  Pfann- 
schmidt,  Deutsche  Erntegebräuche,  Hannover  1878. 

10)  Mogk  S.  393,  Golther  S.  562.  566,  Meyer  S.  337. 


§  23.    Gebet  und  Opfer.  419 

sact avium ,  »Sakristei«  des  spätem  Tempels)1)  das  Opfertier  (altnordisch 
hlaut)  angerichtet,  geschmückt  usw.  (wie  bei  den  spanischen  Stier- 
gefechten). Bei  vielen  Opfern,  besonders  den  Menschenopfern,  bildet  das 
aber  schon  einen  Teil  der  eigentlichen  Opferhandlung,  besonders  wenn 
es  mit  Weissagung  verbunden  ist2);  namentlich  bei  Odinsopfern3). 
Das  Schlachten  findet  jedenfalls  erst  im  heiligen  Raum  statt,  gewiß 
unter  Hersagen  bestimmter  Formeln  (die  die  Wendung  enthalten:  »ich 
weihe  dich  — «).  So  werden  auch  Menschenopfer  am  Altar  vollzogen4). 
Hieran  schließt  sich  noch  öfter  Orakelbefragung.  Das  Blut  wird  in 
einem  Kessel  gesammelt  und  mit  dem  hlautteinn,  Opferwedel5)  auf  die 
Menge  gesprengt6).  Für  die  Wichtigkeit  dieser  Opferhandlung  sprechen 
häufige  altnordische  Namen  wie  Thorketill  u.  dgl. 7).  Ebenso  werden 
die  Götterbilder,  Altäre  oder  Opfersteine  und  Säulen  besprengt8).  Die 
geschlachteten  Menschenleiber  werden  aufgehängt  oder  versenkt,  die  Tier- 
leiber ganz9)  oder  symbolisch,  durch  den  Kopf  vertreten,  angenagelt. 
Das  Opferfleisch  der  Tiere  wird  gesotten  (weil  das  altertümlicher  ist) 
nie  gebraten  10),  daher  heißen  die  Opferteilnehmer  schwedisch  sudnautar. 
Ein  Opferpriester,  der  diese  Handlung  vollzog,  wird  zum  Modell  des 
Andhrimnir  (des  »Rußgesichtes«)  in  Walhöll 11)  gedient  haben.  —  Auch 
Fremde  werden  genötigt,  mitzuessen:  so  40  Christen  von  den  Lango- 
barden 12).  Die  Wichtigkeit  der  Opfergemeinschaft  bezeugen  auch  Namen 
wie  Steinn,  Thorsteinn,  Freystein n  13);  solche  Opfergerätnamen  mit  ketill 
und  steinn  scheinen  spezifisch  isländisch.  Ehrlose  sind  vom  Opfermahl 
ausgeschlossen  u).  An  das  Opfermahl 15),  bei  dem  Fleisch,  Brühe  und  Fett 
genossen  und  Bier  getrunken  wurde,  schließt  sich  ein  allgemeines  Gelage. 
Der  Opferschmaus  findet  in  einem  besonders  festlich  geschmückten 
Haus  statt16):  ohne  Zweifel  dem  alten  Festhaus  der  Jugend17),  das  dem 
(jüngeren)  Tempel  angegliedert  wurde.  Zuweilen  wurde  eine  eigene  Fest- 
iracht  angelegt:  es  wird  erwähnt,  daß  der  Isländer  Thorstein  im  Tempel 
vor  Thor  im  Leinenkleid  —  Sinnbild  der  Reinheit  —  trat.  Das  Mahl 
wird  von  dem  Leiter  des  Opfers,   König,  Jarl,  Gode  auf  Island  geleitet, 

x)  Wissowa  S.  29.  J)  Golther  S.  562. 

a)  Ebd.  S.  313;  vgl.  Wissowa  S.  353. 
4)  Golther  S.  562.  5)  Mogk  S.  394. 

tt)  Golther  S.  567.  7)  Vgl.  etwa  »Johannes  a  Cruee  . 

8)  Vgl.  Hyndl.  Str.  1G\  9)  Grim.  Str.  10. 

10)  Vgl.  Grim.  Str.  18;  Gylf.  cap.  44:  Gering  S.  334. 
n)  Grim.  a.  a.  O. 

12)  Golther  S.  567;  man  denke  an   König  Antiochus   und  die  Makkabäer, 
oder  auch  an  die  Urchristen. 

13)  Golther  S.  568.  14)  Meyer  S.  319. 

15)  blotveizla;  Mogk  S.  394.  16)  Mogk  a.  a.  O. 

17)  Schurtz,  Altersklassen  und  Männerverbände,  S.  202 f. 

27* 


420  Fünftes  Kapitel. 

das  Hörn  zum  Preise  der  Götter  geleert  (füll  Signa)  und  dann  zum 
Gedächtnis  Verstorbener  getrunken  (minni  signa) :  Aufnahme  des  Seelen- 
kults. Wie  nah  aber  beides  zusammenhängt,  beweist  das  Schmausen  der 
Einherier  in  Walhall,  wobei  der  König,  Odin,  nur  das  Hörn  leeren  soll.  - 
Zuweilen  schließt  sich  das  Opfergelübde  an:  bragarfull ,  ursprünglich 
wohl  das  Fürstengelübde  beim  Totenopfer  für  den  verstorbenen  König1). 
Gesang  und  Tanz  fehlen  nicht,  zum  Ärger  des  heroischen  Pedanten 
Starkad2).  All  dies  dauert  in  den  Kirmesessen  fort,  auch  das  Eifern  der 
Geistlichkeit3). 

Im  ganzen  scheint  man  es4)  mit  dem  Opfern  bei  den  alten 
Germanen  nicht  gar  so  ängstlich  genommen  zu  haben.  Legenden 
von  der  Rache  der  Götter  für  falsches  oder  zu  geringes  Opfern  (v/ie  bei 
den  Griechen)  scheinen  nur  im  märchenhaften  Nachklang  (die  böse  Fee 
im  Dornröschenmärchen)  erhalten.  — 

Wann  opfert  man?  Damit  stehts  wie  mit  der  Stätte:  erst  ge- 
schieht es  jederzeit  bei  drängender  Gelegenheit,  und  das  dauert  fort;  da- 
neben aber  wird  das  Einhalten  bestimmter  Opferzeiten  üblich5). 

Dazu  gehören  vorab  die  großen  Zeiten:  der  Krieg6)  mit  fort- 
währenden Opfern  und  Weissagungen.  Bei  ihm  werden  die  Lieder7) 
besonders  erwähnt,  die  wir  aber  auch  beim  Totenfest  bezeugt  finden,  beim 
Erntefest  voraussetzen  müssen  usw.  Tacitus  berichtet,  die  Germanen 
gingen  mit  Anruf  des  Hercules  Thonar  in  die  Schlacht:  dem  Odin  wird 
der  Barditus8)  gegolten  haben,   da  sein  Klang  zugleich  Orakel  ist.  — 

1.  Dazu  gehören  ferner  die  feierlichen  Momente  im  Leben  des 
Stammes:  vor  allem  die  Volksversammlung9),  an  Dienstagen  oder 
Donnerstagen  (zu  Ehren  des  Tyr  oder  Thonar)  gehalten,  durch  Menschen- 
opfer, Mahl  und  Trunk  eingeweiht,  worauf  die  Heiligung  des  Things  durch 
die  Priester  folgt10).  Es  herrscht  dann  Tempelfrieden,  den  die  Schnüre 
um  die  Dingstätte  (vebond)  markieren.  Auch  das  Gebot  der  Stille11) 
ist  geistlich. 

Wie  vor  der  Schlacht  werden  die  Götter  beim  Eid  angerufen.  Ein 
Eid  ist  eine  Aussage  mit  einem  Gott  als  Bürgen;  sie  verlangt  Zeugen. 
Der  Eid   wird   zumeist  auf  das  Schwert,   das  Evangelium  des  alten  Ger- 


*)  Mogk  S.  394.  '-•)  Golther  S.  509. 

3)  Beispiel  eines  freigebigen  Gastgebers  beim  Opfermahl  Sigurd  jarl ;  siehe 
Golther  S.  600. 

4)  Trotz  Häv.  Str.  143—144. 

5)  Mogk  S.  390,  Golther  S.  580,  Meyer  S.  322.        Allgemein  vgl.  über 
die  Ordnung  des  Festjahrs  Wundi  3,  6  30. 

6)  Golther  S.  550.  7)  Ebd.  S.  553. 
8)  Siehe  o.  S.  34.           9)  Golther  S.  547. 

70)  Vgl.  Tac.  Germ.  11.  »)  Vol.  Str.  1. 


§  23.    Gebet  und  Opfer,  421 

manen,  geleistet.  Goten  und  Nordgermanen  schwören  auf  Ringe,  die  das 
Opferblut  heiligt,  Odin  selbst  vielleicht1)  auf  Ulis  Ring.  Eine  nordische 
Eidformel  ist  überliefert2):  »Ich  schwöre  auf  den  Ring  einen  gesetzlichen 
Eid,  so  wahr  mir  Frey,  Njörd  und  der  allmächtige  Ase  (Thor)  helfen,  zu 
klagen,  zu  verteidigen,  zu  zeugen,  Wahrspruch  oder  Urteil  zu  fällen  nach 
bestem  Wissen  und  Gewissen  und  nach  Rechtsbrauch.«  (Sollte  das  wirk- 
lich eine  ursprüngliche  Formel  sein?) 

Loos  und  Gottesurteil  stehen  ebenfalls  unter  göttlicher  Bürg- 
schaft. Deshalb  werden  Tempelschänder  und  andere  Verbrecher,  die 
Neidingswerke  getan,  unmittelbar  den  Göttern  überliefert3):  ein  Gesetz 
zum  Schutze  des  Kults4).  Wer  die  Heiligkeit  der  Götterbefragung 
schädigt,  wird  geopfert. 

2.  Dazu  gehören  ferner  die  feierlichen  Momente  im  Leben  des  Einzelnen : 
vollständige  Aufzählung  nach  indischem  Ritus  bei  Hillebrandt.  Wichtig 
ist  auch  bei  den  Germanen  die  Namengebung5),  mit  Geschenken 
(Patengeschenken)  verbunden0).  Regeln  über  die  rituelle  Beschaffenheit 
der  Namen,  wie  die  indische  Pedanterie  sie  erschaffen  hat7),  fehlen  natür- 
lich. —  Die  Namengebung  ist  die  offizielle  Rezeption  des  Kindes8).  Das 
Begießen  mit  Wasser  braucht  nicht  dem  christlichen  Ritus  zu  entstammen : 
es  ist  nur  eine  symbolische  Andeutung  des  feierlichen  ersten  Bades9). 

Wichtig  ist  die  Jüngl in gs weihe10);  sie  ist  die  zweite  Rezeption; 
wie  das  erste  Mal  in  die  Sippe,  wird  der  Knabe  nun  in  das  Heer  auf- 
genommen. Christliche  Fortsetzungen  in  der  Konfirmation  oder  Firmelung, 
der  Ritterweihe  usw.  Bedeutungsvoll  sind  natürlich  auch  die  Hochzeit11) 
mit  feierlichen  Zeremonien  und  Opfern  an  den  Fruchtbarkeitsgott12),  und 
der  Hausbau13),  zum  Teil  mit  Menschenopfern14);  entsprechend15)  die 
Weihe  eines  neuen  Schiffs. 


J)  Grim.  Str.  42;  vgl.  Akv.  Str.  31;  siehe  o.  S.  380. 

2)  Golther  S.  548.  :;)  Ebd. 

4)  Golther  S.  550. 

6)  Hillebrandt  S.  46f.;  allgemein  vonGennep,  Rites  de  passage,  S.  88. 

6)  Vgl.  Helg.  Hjörv.  Str.  6-7. 

7)  Hillebrandt  S.  47. 

H)  Vgl.  zum  Zeremoniell  Maurer,  Über  d.  Wasserweihe  d.  germ.  Heiden- 
tums, Sitzungsber.  München  1880,  und  dagegen  Müllenhoff,  Anz.  f.  d.  Alt. 
7,404;  ferner  Bug ge,  Studien,  S.  399;  Golther  S.  455;  allgemein  van  Gen nep 
S.  109  f. 

9)  Vgl.  Hillebrandt  S.  46. 

10)  Vgl.  Schade,  Weim.  Jahrb.  6,  241;  allgemein  Schurtz,  Altersklassen 
und  Männerbünde,  S.  95 ff.;  van  Gennep  S.  93 f. 

")  Hillebrandt  S.  63,  van  Qennep  S.  165f. 

12)  Golther  S.  556. 

in)  Hillebrandt  S.  80. 

14)  Ebd.  S.  8.  l5)  Siehe  o.  S.  413. 


422  Fünftes  Kapitel. 

Hierher  gehört  weiter  die  Landnahme  mit  Weihen  durch  Feuer  und 
Umzug  (wie  Nerthus  von  dem  Land  Besitz  nimmt,  das  sie  umzieht)  und 
endlich  Tod  und  Begräbnis1).  Öfter  haben  sich  alte  Opfergebräuche 
in  Rechtsgebräuche  verwandelt,  für  die  auf  J.  Grimms  Rechtsaltertümer2)  zu 
verweisen  ist;  so  könnte  das  bekannte  »Pfetzen«  oder  Schlagen  der  Kinder 
bei  der  Grenzbefestigung3),  rationalistisch  im  Sinne  der  berühmten 
Jahnschen  »Dachtel«4)  ausgedeutet,  eine  letzte  Abschwächung  ursprüng- 
lichen Kinderopfers  (wie  beim  Einmauern  in  den  Grundstein)  sein. 

Neben  diesen  »beweglichen  Festen«  gibt  es  unbewegliche:  ein  für 
allemal  gesetzte  Opferzeiten,  die  allerdings  auch  an  die  großen 
Momente  des  Jahreslaufs  anknüpfen.  Sie  bezeichnen  den  uralten  Anfang 
einer  Entwicklung,  die  schließlich  zu  einem  vollständigen  Festkalender 
führt5). 

Bei  den  Skandinaviern  gibt  es  drei  große  Opfer6):  zu  Winters- 
anfang (gegen  Mitte  Oktober)  für  ein  gutes  Jahr,  mit  Opfer  für  Frey; 
Mittwinter  (Mitte  Januar)  für  Wachsen  und  Gedeihen  (Thor),  Sommer- 
anfang (Mitte  April)  für  Sieg  (Odin). 

Mogk7)  hat  in  scharfsinniger  Weise  die  großen  Opferfeste  zu 
Lethra  auf  Seeland  und  zu  Uppsala  als  Fortsetzungen  des  uralten 
Nerthusfestes  zu  erklären  versucht,  bei  denen  nur  die  Periode  von  einem 
auf  neun  Jahre  verschoben  und  der  Umzug  zurückgetreten  sei8).  Aber 
da  dieser  eben  den  eigentlichen  »clou«  der  Feier  bildet,  auch  später  noch 
bezeugt  ist,  hat  das  Bedenken9).  Das  Hauptfest  scheint  das  Mittwinter- 
fest: jul  englisch  yule ,  gewesen  zu  sein,  nach  dem  Monate  (gotisch 
November  und  Dezember,  angelsächsisch  Januar  und  Februar)  benannt 
werden.  In  Deutschland  haben  wir  kein  echtes  altes  Zeugnis10).  Der 
Name  Jul   ist  unklar11);   das  Fest  ist  später   in    das  Weihnachtsfest  auf- 


x)  Hillebrandt  S.  87f.;  vgl.  o.  S.  86f. 

2)  4.  Aufl.;  bes.  v.  Andr.  Heusler  und  R.  Hübner,  Berlin  1899. 
'»)  2,  79. 
*)  Vgl.  dazu  z.  B.  C.  v.  Wurzbach,  Historische  Redensarten,  Prag  1863,  S.  70. 

5)  Indogermanische  Ansätze  zu  zwei  großen  Festen  O.  Schrader,  Sprach- 
vergleichung und  Urgeschichte,  S.  453 f.  —  Vgl.  bes.  Chantepie  S.  379 f. 

6)  Mogk  S.  390,  Golther  S.  581. 

7)  Menschenopfer  S.  632  f. 

8)  S.  633. 

9)  Mogk  (a.  a.  O.  S.  637)  sucht  sie  zu  lösen,  setzt  dabei  aber  das  Paar 
Erde— Himmel  oder  Nerthus — Tiwaz  voraus,  an  das  ich  nicht  zu  glauben  ver- 
mag. —  Über  das  Festwesen  sonst  vgl.  Golther  S.  580,  Meyer  S.  323. 

10)  Tille,  Yule  and  Christmas,  London  1899;  ders.,  Geschichte  der  Deutschen 
Weihnacht,  Leipzig  1893;  vgl.  ferner  Weinhold,  Über  die  deutsche  Jahrteilung, 
Kiel  1862;  Pfannenschmidt,  Erntegebräuche,  S.  326 f.,  die  für  Zwei-  und 
Vierteilung  des  Jahres  gegen  die  Dreiteilung  sind. 

")  Vgl.  Golther  S.  582  Anm.,  Mogk  S.  391. 


§  24.    Tempel  und  Kultstätten.  423 

gegangen  (schon  seit  König  Hakon  im  Norden)1),  das  seinerseits  antike 
Festzeiten  erneuert2). 

Andere  Stämme  mögen  ihre  großen  Feste  zu  anderer  Zeit  gehabt 
haben:  ein  Sachsenfest  am  1.  Oktober3);  zu  unbekannter  Zeit  das  große 
Opfer  der  Semnonen  usw. 

Auch  Feste  mit  längerer  Frist  (im  »großen  Jahr«)  kennen  wir: 
in  Hleidra  alle  neun  Jahre  im  Januar  nach  Dietmar  von  Merseburg,  ebenso 
in  Uppsala  nach  Adam  von  Bremen4).  —  Diese  Feste  setzen  also  schon 
eine  Art  geregelter  Kalenderführung  (durch  die  Priester)  voraus.  Über  den 
Modus  der  Ladung  ist  uns  nichts  bekannt. 

An  die  Einführung  des  christlichen  Kalenders  haben  sich  noch  alt- 
germanische Erinnerungen  geheftet:  die  Namen  der  Wochentage  und  die 
alten  Monatsnamen5).  Auch  in  den  Festgebräuchen  herrscht  vielfach  ein 
naiver  Synkretismus6). 

§  24.    Tempel  und  Kultstätten'). 

Die  Indogermanen  haben  die  Stufe  des  Tempelbaus  noch  nicht  er- 
reicht8), sind  aber  fast  durchweg  ihr  schon  nahe:  die  Neigung,  der  Gottheit 
ein  künstliches  Haus  zu  bauen,  zeigt  sich  vielfach.  Wie  die  Römer9)  sind 
auch  die  Germanen  in  ältester  historischer  Zeit  im  Übergang  begriffen. 
Tacitus  bestreitet  zwar10)  mit  Argumenten,  die  aus  den  alten  Germanen 
Rousseausche  Urmenschen  machen  ll),  daß  sie  die  Götter  in  Häuser  bannen; 
aber  schon  der  Nerthus-Kult 12)  scheint  ein  Haus  vorauszusetzen ,  und  in 
den  Annalen  (1,  81)  erwähnt  er  selbst  den  Tanfana-Tempel.  Jedenfalls 
sind  beim  Anzug  des  Christentums  die  Deutschen  wie  die  Nordleute  im 
Besitz   von  Tempeln    und  Bildsäulen 13).     Thümmel 14)   unterscheidet   drei 


»)  Golther  a.  a.  O. 

2)  Usener,  Das  Weihnachtsfest,  Bonn  1889;  P.  de  Lagard e,  Altes  und 
Neues  zum  Weihnachtsfest,  Göttingen  1891. 

3)  Golther  S.  585 f. 

4)  Golther  S.  587;  für  die  Abstände  vgl.  die  hebräischen  Jobeljahre,  all- 
gemein die  katholischen  Jubiläen. 

B)  Weinhold,  D.  deutschen  Monatsnamen,  Halle  1869;  Kluge,  D.  deutschen 
Namen  der  Wochentage,  Beiheft  8  des  D.  Sprachvereins  1898;  Golther  S.  589. 

6)  Vgl.  z.  B.  o.  zum  Johannisfeuer. 

7)  Mogk  S.  394,  Golther  S.  540,  Meyer  S.  313.  —  A.  Thümmel,  Der 
altgermanische  Tempel,  PBB.  35,  1.  Über  die  allgemeine  Entwicklung  siehe  o. 
S.  53;  Schrader,  Aryan  Religion,  S.  44 f. 

8)  Vgl.  Schrader,  Reallexikon  2,  861. 

9)  Wissowa  S.  29.  10j  Germ.  cap.  9. 

n)  Vgl.  O.  Schrader  S.  856.  12)  Germ.  cap.  40. 

13)  Für  die  Altertümlichkeit  der  Tempel  spricht  auch  der  Mythus  von  der 
I  Erbauung  der  ersten  durch  die  Götter  (Vol.  Str.  7). 
M)  S.  118. 


424  Fünftes  Kapitel. 

Perioden:  »1.  in  den  letzten  Jahrhunderten  des  südgermanischen  Heiden- 
tums  (400 — 800)  hat  es  zwar  schon  Tempelhäuser  gegeben,  doch  ist  diese 
Form  des  Kultes  allem  Anschein  nach  zu  jener  Zeit  durchaus  nicht  all- 
gemein; 2.  im  Norden  (auf  Island)  begegnen  noch  um  900  relativ  ein- 
fache Formen  des  Heiligtums:  dachloser  Steinbau  und  Steinhegung  mit 
einem  großen  Stein  innerhalb,  der  vermutlich  als  Altar  gedient  hat ;  3.  der 
junge  nordgermanische  Tempelbau  seit  dem  Ende  des  9.  Jahrhunderts 
bis  1000.«  Daneben  haben  sie  vielfach  noch  1.  heilige  Stätten,  d.h. 
Orte,  die  lediglich  durch  die  Götter  selbst  ohne  menschliches  Zutun  ge- 
weiht sind.  Dahin  gehören  *)  die  heiligen  Berge,  Quellen ,  Fußspuren, 
vor  allem  aber  heilige  Bäume  wie  vor  dem  (späteren)  Tempel  in  Uppsala. 

2.  heilige  Haine,  um  den  Ort  der  Epiphanie  eingezäunte  (?) 
Waldbezirke,  die  »heilig«,  d.  h.  unverletzlich  erklärt  sind2). 

Gemeingermanisch  ist  der  Ausdruck  altnordisch  ve,  angelsächsisch 
weoh,  altsächsisch  ivih  »Kultstätte«3).  Daneben  altnordisch  hörgy  angel- 
sächsisch hearh,  althochdeutsch  haruc  »Steinhaufen«,  geschichteter  Altar (?)4), 
woneben  altnordisch  mit  unklarer  Scheidung  hof  Tempel  steht5);  alt- 
hochdeutsch loh  lucus,  oft  in  Namen  (Heiligenloh)  Hain;  ebenso  alt- 
nordisch lundr.  —  Die  Umzäunung  der  geweihten  Stätte  scheint  ur- 
sprünglich zu  bezeichnen  gotisch  alhs,  althochdeutsch  alach  »Ringwall«6). 
Den  heiligen  Hain  der  Nahanarvalen,  in  dem  die  Alces  verehrt  werden 7), 
den  der  Semnonen,  den  man  nur  gebunden  betreten  darf8),  und  das 
castum  nemus  der  Nerthus9)  erwähnt  schon  Tacitus. 

Daß  unter  Umständen  auch  geweihte  Wiesen  die  Stätte  bezeichnen 
können,  auf  der  ein  göttliches  Wesen  waltet,  macht  der  Name  Idisiaviso 10) 
wahrscheinlich;  die  Mattiaci,  die11)  von  denselben  Matten  den  Namen 
haben,  nach  denen  noch  heut  Wiesbaden  heißt,  könnten  von  einer  solchen 
heiligen  Wiese  (etwa  der  wiesenliebenden  Elfen)  ihren  Namen  haben. 

Häufig  werden  die  heiligen  Haine  durch  die  Missionäre  zerstört; 
Unwan  von  Bremen  hat  noch  im  11.  Jahrhundert  solche  Kultstätten  aus- 
zurotten12). Spuren  des  Hainkultes  sucht  Mogk13)  noch  weithin  nach- 
zuweisen. 


1)  Vgl.  Sehr  ad  er  a.  a.  O. 

2)  Golther  S.  590,  Meyer  S.  310. 

3)  Golther  S.  591,  6. 

4)  Ebd.;  Meyer  S.  30. 

5)  Vgl.  Thümmel  S.  lOOf. 

6)  Meyer  S.  912.    Über  die  nordischen  Termini  vgl.  Thümmel  S.  100. 

7)  Germ.  cap.  43.  8)  Germ.  cap.  39. 
9)  Germ.  cap.  40.  10)  Siehe  o.  S.  159. 

!1)  Nach  Müllenhoffs  Wort. 

12)  Golther  S.  593.  13)  S.  396. 


§  24.    Tempel  und  Kultstätten.  425 

3.  Von  Tempeln1)  werden  am  frühesten  kleine  Schutztempeichen  um 
Fetisch,  heiligen  Baum,  heiligen  Stein  vorhanden  gewesen  sein2).  Dieser 
umkleidete  Baum  lebt  vielleicht  in  den  Hauptsäulen  der  Tempel  wie 
in  den  freistehenden  Säulen3)  fort  (altnordisch  öndvegissülur) ,  an 
denen  die  Götterbilder  eingeschnitzt  werden.  Eigentliche  Tempel,  d.  h. 
Gebäude  zur  Beherbergung  erst  des  Gottes  selbst,  dann  seiner  Bilder, 
sind4)  aber  auch  schon  früh  nachzuweisen  und  haben  sich  lange5) 
gegen  die  Missionen  gehalten.  Sie  setzen  Priester  schon  beinahe  voraus, 
wenn  auch  noch  nicht  einen  Priesterstand.  —  Zu  fragen  ist:  1.  wer 
errichtet  den  Tempel?  2.  wem  gehört  er?  3.  wie  sieht  er  aus?  a)  Anlage, 
b)  Schmuck;  4.  welche  Eigenschaften  besitzt  er?  5.  v/ie  wird  er  benutzt? 
6.  was  gehört  ihm?    7.  wie  wird  er  unterhalten? 

Wer  errichtet  den  Tempel6)?  In  der  Regel  ein  Einzelner 
wie  Hrafnkell,  Thorolf,  Häkon  7).  Aber  schon  der  Tempelbau  der  Äsen  8) 
setzt  eine  gemeinschaftliche  Tätigkeit  voraus9).  Ein  Nationalheiligtum 
wie  der  Tanfana-Tempel  wird  von  Vielen  errichtet  sein.  Dann  gehört 
der  Tempel  dem  oder  den  Erbauern.  Doch  hat  das  Eigentumsrecht 
Grenzen:  er  muß  die  Heiligkeit  des  Baues  auch  selbst  respektieren.  Er 
darf  ihn  abbrechen ,  wenn  er  ihn  verpflanzen  will 10) ;  sonst  wird  es 
Tempelschändung  sein.  —  Zwischen  dem  Tempel  und  seinen  Pflegern 
bestehen  bei  frommen  Leuten  dauernde  Beziehungen.  Loft  der  Alte  fuhr 
jeden  dritten  Sommer  von  Island  nach  Norwegen ,  zugleich  in  seines 
Oheims  Flosi  Namen,  um  dort  in  dem  Tempel  zu  opfern,  dessen  Pfleger 
sein  Muttervater  Thorbjörn  gewesen  war11). 

Die  Zentralheiligtümer  gehören  dem  Stamm;  ihr  Bezirk  bildet  den 
Anfang  eines  Nationalvermögens  12).  Die  großen  Opfer  können  nicht  in 
Privattempeln  stattfinden.  Übrigens  bringt  das  Wesen  der  Gottheit 
Scheidungen  mit  sich :  Odin,  der  Staatsgott,  scheint  keine  Privattempel  zu 
besitzen  wie  Thor.  —  Auf  Island  bleibt  der  Gode13)  in  seiner  halb 
privaten,   halb   öffentlichen   Stellung  erblicher  Herr  des  Tempels14);   hier 


x)  Thümmel  a.  a.  O.,  Golther  S.  593,  Meyer  S.  313,  Mogk  S.  3%; 
über  die  Beziehungen  zum  Baumkult  und  Hainkult  Schrader,  Reallexikon, 
S.  856f.;  Aryan  Religion,  S.  44 f. 

-)  Indic.  supertit.  N.  4:  de  casulis  id  est  fanis;  Golther  S.  593. 

3)  Irminsul;  doch  vgl.  o.  S.  69. 

4)  Mogk  S.  396.  5)  Golther  S.  595f. 

6)  Golther  S.  610;  vgl.  Thümmmel  S.  622. 

7)  Siehe  o.  S.  393.  8)  Vol.  Str.  7. 

9)  Vgl.  die  Sage  vom  Riesenbaumeister  z.  B.  Golther  S.  413. 
x0)  Golther  S.  599.  ll)  Craigie  S.  55. 

12)  Vgl.  allgemein  Golther  S.  6101  —  Man  denke  an  Mekka   und   seinen 
Schatz. 

18)  Siehe  u.  u)  Mogk  S.  400. 


426  Fünftes  Kapitel. 

und  auch  auf  Gotland  scheint  es  eigentliche  Sprengel  mit  je  einer  »Pfarr- 
kirche gegeben  zu  haben1).  —  Vielfach  dauert  der  >  Eigentempel«  auch 
in  Deutschland  bis  in  die  Missionszeiten  fort2). 

Wie  sieht  der  Tempel  aus3)?  Die  Lage:  vorzugsweise  auf 
Bergen  4)  —  was  auch  Thümmel  mit  der  Nebenabsicht  der  schönen  Lage 
und  Fernsicht  motiviert.  Wir  haben  kein  Recht,  den  alten  Völkern  (oder 
auch  nur  unsern  Erbauern  mittelalterlicher  Wallfahrtskirchen)  so  viel 
Landschaftsromantik  zuzuschreiben;  vielmehr  ist  es  umgekehrt:  die  heilige 
Stätte  soll  von  weither  sichtbar  sein  (gewiß,  neben  einem  begreiflichen 
Ehrgeiz  auch  ein  Hauptgrund  für  die  Höhe  der  Kirchtürme  und  Kuppeln !). 
»Es  mag  die  Stadt,  die  auf  dem  Berge  liegt,  nicht  verborgen  sein5).« 

Die  Orientierung6)  scheint  besonders  häufig  von  Osten  nach 
Westen 7)  zu  gehn.  Bedenke  ich  die  starke  Betonung  der  Himmelsrichtungen 
in  der  Völuspä,  besonders  bei  der  »Götterdämmerung«,  so  möchte  ich 
eine  bestimmte  Absicht  doch  nicht  mit  Thümmel  in  Abrede  stellen. 

Der  Tempel 8)  selbst  besteht  aus  zwei  Teilen,  dem  afhüs 9)  und  dem 
Langraum  für  den  Opferschmaus.  Der  Tempel  von  Ljärskogar  hatte 
folgenden  Grundriß: 


c 


Das  Allerheiligste  und  der  Festsaal  sind10)  durch  einen  Querwall  getrennt, 
der  immer  ohne  Tür  ist.  Im  übrigen  ist  die  Lage  der  beiden  Teile  nicht 
allgemein  zu  bestimmen  n).  Die  typische  Grundform  ist  bei  beiden  die 
länglich-viereckige 12).  Das  afhüs13)  ist  immer  kleiner,  etwas  über  ein  Drittel 
der  Gesamtanlage.   Der  L  a  n  g  r  a  u  m  hat  seine  Eingänge  nie  gegenüber  dem 


x)  Vgl.  Golther  S.  610.  —  Der  Gode  wird  dann  nach  seiner  Residenz 
(Tungugodi)  oder  seinem  Kirchspiel  (Ljodsvetningagodi)  benannt  (Craigie  6,  85). 

2)  Vgl.  allgemein  Stutz,  Internat.  Wochenschr.  3,  1569 f.;  ein  lehrreiches 
Beispiel  bei  Schnürer,  Bonifatius,  Kempten  1909,  S.  86. 

3)  Genaue  Beschreibungen  (nach  Quellen  und  Ausgrabungen)  Meyer  S.  397, 
Golther  S.  599  und  besonders  Thümmel  (für  den  isländischen  Tempel  speziell 
S.  88). 

4)  S.  21.  88.  114.    (Die  Berge  sind  häufig  nach  ihm  benannt.)  —  S.  23. 
8)  Matth.  5,  14. 

6)  Vgl.  allgemein  Nissen,  Orientation,  Berlin  1906;  Greßmann,  Aus- 
grabungen in  Palästina,  S.  30. 

7)  Thümmel  S.  27. 

8)  Mogk  S.  397,  Golther  S.  601. 

9)  Thümmel  S.  49. 

10)  S.  50.  —  Ähnlich  hebräisch:  Greßmann,  Schriften  d.  A.  T.  in  Aus- 
wahl, S.  6  f. 

»)  a.  a.  O.  S.  37.  x2)  S.  43. 

18)  S.  35.  Über  die  Größenverhältnisse  vgl.  Thümmel  S.  44 f.,  Golther 
S.  599. 


§  24.    Tempel  und  Kultstätten.  427 

des  All  erheiligsten ;  jeder  Teil  hat  seine  besondere  Tür  (da  der  Querwall 
ja  geschlossen  ist1).  Das  Material2)  ist  auf  dem  skandinavischen  Fest- 
land Holz,  auf  Island  Gras-  und  Erdtorf,  zuweilen  mit  Feldsteinen  kom- 
biniert. »Der  Tempelbau  (auf  Island)  folgt  in  seiner  äußeren  Form  der 
völlig  analogen  Entwicklung,  die  an  den  isländischen  wie  nordischen 
Häusern  überhaupt  stattfindet«  3).  Dies  gilt  auch  insbesondere  für  die 
Form  des  Daches4)  und  die  Dachdeckung5).  Irgendeine  spezifische 
Gestaltung  ist  nur  an  Häkons  Tempel  im  Drontheimschen  zu  beobachten : 
viele  Glasfenster;  man  hat  deshalb  hier  auch  eine  Nachahmung  christ- 
licher Kirchen  (in  der  Erzählung)  vermutet6).  Die  einfachen  Tempel- 
bauten eignen  sich  deshalb  auch  nicht  zum  Umbau  in  christliche  Kirchen 7). 

Der  Tempel  liegt  (auf  Island)  zumeist  innerhalb  des  gedüngten  Wiesen- 
landes, das  zu  jedem  Gehöft  gehört,  auf  dem  tüns)y  selten  entfernt  von 
dem  Gehöft  des  Erbauers  —  also  wie  heute  die  katholischen  Kapellen 
auf  dem  Lande.  Der  unmittelbar  umgebende  Rasen  ist  durch  einen  Zaun 
umhegt,  der  in  derselben  Weise  wie  die  Mauern  ausgeführt  äst 9)  und  etwa 
von  gleicher  Höhe;  vielleicht  verschließbar10). 

Der  eingeschlossene  Bezirk  ist  heilig:  wer  um  700  den  Fosite-Tempel 
oder  sein  geweihtes  Land  ohne  Verehrung  betritt,  verfällt  in  Raserei11), 
wer  in  dem  Bezirk  des  Semnonen-Heiligtums  fällt  (ihn  durch  Berührung 
verunreinigt?),  gehört  dem  Gott.  —  Dies  sind  die  angelsächsischen  fana 
cum  septis,  Tempel  mit  Einhegungen  12). 

Der  ursprüngliche  Wasser-  und  Waldkult  bringt  es  mit  sich,  daß 
Quellen  und  Bäume  oft  in  der  Nähe  des  Tempels  zu  finden  sind  13),  (die 
»Weltesche«  zu  Uppsala);  doch  schränkt  der  dürftige  Baumbestand  der  Insel 
dies  auf  Island  ein 14). 

Die  notwendige  Einrichtung  besteht  natürlich  aus  den  rituell  erforder- 
lichen Gegenständen15).  1.  Im  afhüs:  zwei  »nach  Art  der  Außenwände 
aufgeführte«,  aber  nicht  so  hohe  Querwälle  (stallar),  auf  deren  höherem 
die  Götterbilder 16)  stehen,  während  auf  dem  niedrigeren  Ring  und  Opfer- 


l)  Thümmel  S.  51.  -J  Thümmel  S.  28.  89. 

:?)  Thümmel  S.  89.  4)  S.  68f.  5)  S.  90. 

«)  Golther  S.  484.  7)  Vgl.  Thümmel  S.  27. 

8)  Thümmel  S.  74.  9)  S.  52. 

10)  S.  74.  Über  die  rituelle  Bedeutung  der  Pforte  vgl.  van  Gennep,  Rites 
de  passage,  S.  26. 

u)  Golther  S.  587. 

12)  Golther  S.  595.  —  Man  kann  zu  dem  Semnonenhain  vielleicht  daran  er- 
innern, daß  der  Abtei  St.  Claude  in  der  Bourgogne  jeder  Mann,  der  auf  ihrem 
Gebiet  schlief,  als  Leibeigener  gehörte,  bis  Voltaire  die  Aufhebung  des  bösen 
Privilegs  bewirkte. 

18)  Meyer  S.  315.  u)  Thümmel  S.  23. 

15)  Thümmel  S.  79f.  16)  Siehe  u. 


428  Fünftes  Kapitel. 

schale  liegen,  in  der  Mitte  aber1)  der  Altar  sich  befindet:  eine  Feuer- 
stätte für  das  heilige  Feuer2).  Der  höhere  Wall  scheidet  zugleich,  wie 
die  Ikonostase  in  griechisch-katholischen  Kirchen,  den  Priesterraum  vom 
Gemeinderaum.  —  Die  Feuerstätte  steht  auf  Stein.  Der  Eidring,  »ein 
nicht  völlig  geschlossener  Ring  von  538  gr  Gewicht,  war  zweifellos  aus 
Gold«.  Die  Opferblutschale  (hlautbolli)  war  10—20  cm  weit,  6 — 12  cm 
tief3)  und  wohl  auch  aus  Stein.  Außerhalb  des  Opferraums  scheint  sich 
dagegen  zuweilen  die  Stätte  für  Menschenopfer  befunden  zu  haben:  der 
Opferstein  mit  dem  Opfersumpf  (blötkelda)  4)  für  die  Leichen  (die  ja  anders 
als  die  zu  verzehrenden  Tierkörper  behandelt  werden  müssen)5).  Daß  in 
ältester  Zeit  die  Menschenopfer  im  Tempel  stattfanden,  machen  Strabos 
Nachrichten  von  den  Cimbern 6)  wahrscheinlich.  2.  Im  Langraum:  Ein- 
richtung und  Schmuck  der  weltlichen  Festsäle  (Heorot  im  Beowulf);  Ge- 
täfel und  inneres  Dachwerk  gern  mit  gemalten  oder  geschnitzten  Bildern 
mythologischen  und  heroischen  Inhalts  geschmückt  (Balders  Beerdigung 
in  der  Hüsdrapa).  Pfosten  teilen  ihn  in  einen  Hauptraum  (gölf)  und 
zwei  kleinere  Seitenschiffe.  In  der  Mitte  grenzen  vier  Säulen  (öndve- 
gissülur)  ein  mittleres  Querfeld  ab ;  sie  sind  mit  Bildern  (besonders  von 
Thor)  geschmückt,  deren  Zweck  es  ist,  Götter  und  Helden  beim  Gastmahl 
(und  Zutrinken)  gegenwärtig  sein  zu  lassen.  —  Im  gölf  steht  der  Herd, 
unter  dessen  Feuer  Trinkhorn  und  Becher  geweiht  werden.  An  den 
Wänden  stehen  Bänke  mit  je  einem  Hochsitz7). 

Einen  solchen  Festsaal  haben  auch  die  Götter:  Wingolf  die  Wein- 
halle8); ebenso  der  Riese  Brimir  die  »Wärmehalle«  Okölnir9). 

Reiches  Holzschnitzwerk  hatten  wir  schon  zu  erwähnen.  Tücher  und 
Teppiche  für  die  Feste10)  und  Goldplatten  verkleiden  die  Wände:  der 
Tempel  in  Uppsala  soll  ganz  »aus  Gold«  gewesen  sein,  was  in  den 
Götterhainen  der  Grimnismäl n)  und  vielleicht  in  der  »Edelsteinhalle« 
Gimle12)  nachgebildet  wird.  Wie  der  Eidring13),  ist  auch  der  Türring 
als  Symbol  des  Eingangs  (Legende  von  dem  Türring  des  heiligen  Wenzel 
am  Prager  Dom)  von  Gold.  -  Eine  Reihe  Nägel  (reginnaglar  »Nagel- 
reihe«)14) zieren  die  Hochsitzpfeiler,  von  Verehrern  eingeschlagen,  wie 
unsere  Fahnennägel?     (Stock  im  Eisen  in  Wien,  in  den  die  Handwerks- 


1)  Gegen  Müllenhoffs  Zweifel  bei  Golther  S.  596,  1. 

8)  Thümmel  S.  83,  vgl.  86.  •)  S.  87. 

*)  Vgl.  Thümmel  S.  55. 

r)  Über  die  Glaubwürdigkeit  der  betreffenden  Berichte  vgl.  Thümmel  S.  74 f. 

«)  Golther  S.  567. 

7)  Thümmel  S.  79f. 

8)  Gylf.  cap.  14:  Gering  S.  307.  9)  Vol.  Str  37. 
,0)  Golther  S.  606.           n)  Str.  8.  15,  vgl.  6. 

12)  Vol.  Str.  64:  mit  Gold  gedeckter  Saal. 
•)  Vgl.  Meyer  S.  14.  u)  Golther  S.  535. 


§  24.    Tempel  und  Kultstätten.  429 

burschen  Nägel  einschlagen.)  In  Uppsala  soll x)  gar  auch  die  einhegende 
Schnur  eine  goldene  Kette  sein.  Dazu  kommt  die  Ausschmückung  der 
Götterbilder  mit  Gewändern  und  Schmuck2). 

Neben  diesen  allgemeinen  Zügen  sind  spezifische  der  einzelnen  Kulte 
vorauszusetzen;  ein  genaueres  Bild  dieser  individuellen  Ausrüstung  geben 
uns3)  die  Haine  der  Götter: 

Grim.  Str.  9 :  Odins  Saal  mit  Speeren  und  Schilden  und  Brünnen  be- 
hangen: Weihgaben  siegreicher  Helden  oder  Trophäen  von  gefallenen4). 
Über  dem  Eingang  Wolf  und  Aar:  geschnitzte  Signa,  Wappen  des  Gottes 
(kein  Totem!). 

Grim.  Str.  15:  der  Palast  des  Forseti5)  auf  Goldsäulen  und  mit 
Silber  gedeckt. 

Auch  die  Umgebung  wird  entsprechend  gezeichnet:  Odins  Halle 
liegt  an  der  Quelle6);  Widars  an  der  Wiese7).  —  Der  Festsaal  in  Heim- 
dalls  Haus8)  fordert  besondere  Beachtung.  — 

Eine  Verbindung  zwischen  Tempel  und  Umgebung 
stellen  die  festlichen  Umzüge  (pompae)  her9):  die  Götter- 
bilder werden  umhergetragen  (Nerthus),  umschreiten  erst  den  Tempelbezirk 
und  gehen  dann  übers  Land  oder  das  zu  weihende  Feld  (Indiculus 
superstit).  Auch  der  Kriegszug  ist  eine  Prozession10),  der  barditus  eine 
Art  Litanei.  —  Auch  Dank-  und  Bittprozessionen n)  wird  man  voraus 
setzen  dürfen. 

Ober  die  Entwicklung  des  Tempelbaues  im  Einzelnen  vergleiche  man 
Thümmels  Studie12).  Er  hält  römischen  Einfluß13)  für  wahrscheinlich  und 
»die  volle  Ausbildung  des  Tempelkultes  für  eine  spezifisch  nordgermanische 
Entwicklung«.  (Daß  aber  der  Privattempel,  weil  im  Süden  nicht  nach- 
zuweisen, jünger  als  das  Stammesheiligtum  sei,  ist  mir  recht  unwahr- 
scheinlich.) — 

Welche  Eigenschaften  besitzt  der  Tempel?  Er  ist  un- 
verletzlich 14)  und  deshalb  soll  man  ihn  unbewaffnet  betreten  (Extrem :  die 
gebundenen  Semnonen).  Tempelschänder15)  werden  schwer  gestraft:  mit 
Rechtlosigkeit 16).   Dennoch  kommen  merkwürdig  oft  Tempelverbrennungen 


*)  Golther  S.  598. 

2)  Ebenso  bei  den  Finnen:  Castren  S.  221. 

5)  Ztschr.  f.  d.  Phil.  38,  1741 

4)  Bei  den  Römern  gibt  es  nur  drei  Gottheiten  quibus  spolia  hostium  dicare 
ius  et  fas  est,  denen  man  Trophäen  weihen  darf  (Wissowa  S.  171). 

5)  Vgl.  Fosetis  Tempel  auf  Haligoland  Golther  S.  558. 

6)  Grim.  Str.  7.  7)  Ebd.  Str.  17.  8)  Ebd.  Str.  13. 
9)  Golther  S.  578.            10)  Ebd.  S.  579,  2. 

")  Vgl.  Wissowa  S.  358 f.  12)  S.  118 f.  13)  S.  122. 

14)  Mogk  S.  398.  15)  Golther  S.  562. 

lö)  vargr  i  veum;  vgl.  Meyer  S.  315;  Kau  ff  mann,  PBB.  18,  166. 


430  Fünftes  Kapitel. 

auf  Island  vor l).  —  Er  macht  unverletzlich :  er  hat  Tempelfrieden  (hofs 
helgi,  Tempelheiligkeit) 2).    Daß  er  als  asylum  gedient  hätte,  wie  christ- 
liche Kirchen,  ist  aber  nicht  bezeugt. 

Wie  wird  der  Tempel  benutzt?  Er  ist  um  der  Opferfeste 
willen  da;  Privattempel  dienen  auch  stillem  Gebet  (Häkon  vor  Thorgerd). 
Als  eine  Art  ritueller  Handlung  findet  auch  die  Eidabnahme  auf  den  ge- 
weihten Ring  hier  statt;  ob  auch  Sühnehandlungen?  Er  dient  auch  als 
Dingstätte3),  aber  nicht  zu  Privatfesten  (Hochzeit,  Totenfeier),  die  nach 
uralter  Sitte  dem  Haus  verblieben. 

Was  gehört  dem  Tempel4)?  Zunächst  der  unmittelbare  Tempel- 
bezirk, der  sehr  weit  ausgedehnt  werden  kann:  dem  Fosite  gehört5)  ganz 
»Helgoland^.  Weihgeschenke6)  machen  den  Anfang  des  Besitzes,  besonders 
wohl  eroberte  Feldzeichen,  Waffen,  Tempelsilber  der  Römer.  Dazu  kommen 
Stiftungen  an  Gold  und  Silber  von  Einzelnen  und  Gemeinden 7).  Doch 
ist  Besitz  und  Deponierung  zu  scheiden;  was  dem  Volk  gehört,  wird 
wohl  im  Tempel  aufgehoben  wie  der  berühmte  Armring  von  Pietroassa 
mit  der  Aufschrift  »Unverletzliches  Tempeleigen  der  Goten«. 

Wie  wird  der  Tempel  unterhalten?  Im  allgemeinen  gewiß 
durch  freiwillige  Gaben.  Auf  Island,  wo  staatliche  Kirchspiele  bestehen, 
hat  der  Gode  Tempelzoll  zu  erhalten  und  muß  damit  als  eine  Art  Kirchen- 
vogt für  den  Tempel  sorgen.  —  Im  übrigen  liegt  die  Pflege  natürlich 
bei  den  Priestern8).  — 

Der  eigentliche  Mittelpunkt  des  Kultus  werden  mit  der  Zeit  die  Götter  - 
bilder9).  Die  älteste  Religion,  hierin  wie  in  vielem  den  jüngsten  Phasen 
verwandt,  kennt  keine  festen  Götterbilder,  wie  sie  keine  Tempel  kennt;  die 
Götter  sind  noch  unpersönlich,  und  heilige  Haine  oder  andere  Naturgegen- 
stände werden  nur  als  Sitz  der  göttlichen  Kräfte  gedacht.  Dies  ist  der  Stand 
der  Religion  im  nordischen  Broncealter10),  wie  es  überall  der  primitive  Stand 
ist:  der  anikonische  Kult,  den  wir  für  alle  Indogermanen  teils  erweisen  können, 
teils  voraussetzen  müssen11),  finden  wir  z.  B.  auf  griechischem  Gebiet12) 
noch  spät  vor. 


*)  Thümmel  S.  671  a)  Golther  S.  607,  vgl.  567. 

3)  Meyer  S.  316.  4)  Golther  S.  608. 

5)  Golther  S.  597.  t;)  Meyer  S.  316. 

7)  Golther  S.  608. 

8)  Tempelsteuern  in  Israel:  Giesebrecht,  Israel.  Rel.-Gesch.,  S.  117 f. 

9)  Thümmel  S.  99.   122;  O.  Schrader,  Reallexikon  2,  859.         Golther 
S.  602,  Mogk  S.  396,  Meyer  S.  317,  Chantepie  S.  360f. 

u)  Olrik,  Danske  Studier  1905,  S.  39 f. 

n)  Schrader,  Reallexikon  2,  860. 

12)  Karo,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  374.  —  Der  Parallelismus  zwischeu 
religiöser  und  künstlerischer  Entwicklung  interessierte  schon  Gutzkow,  als  er 
seinen  Jugendroman    Maha  Gurn«  schrieb. 


§  24.    Tempel  nnd  Kultstätten.  431 

Die  Entwicklung  des  Götterbildes  hat  sich  auf  zwei  Wegen 
vollzogen,  von  denen  nur  der  eine  Beachtung  zu  finden  pflegt:  erstens 
durch  die  Dichtkunst,  zweitens  durch  die  Plastik. 

Der  Anteil  der  Poesie  an  der  Ausbildung  eigentlicher  Götterbilder 
muß  sehr  hoch  angeschlagen  werden.  Was  Gustav  Freytag  in  seinem 
berühmten  Aufsatze  über  Otto  Ludwig  über  das  Verhältnis  der  poetischen 
Phantasie  zur  tatsächlichen  Darstellung  allgemein  ausführt,  das  gilt  hier 
insbesondere:  daß  die  Dichter  sich  Kunstwerke  bereits  realisiert  denken, 
denen  die  Technik  noch  nicht  entfernt  die  Wirklichkeit  verleihen  kann. 
Wie  der  Schild  des  Achilleus  leichter  zu  beschreiben  als  zu  schmieden 
war,  so  hat  man  Luftschiffe  lange  geträumt,  als  noch  dieser  Traum  (bis 
zu  Helmholtz  hin)  rein  phantastisch  schien  *).  Der  plastischen  Darstellung 
der  Götter  geht  die  dichterische  Darstellung  voraus.  \j/\r  werden 
für  sie  etwa  dieselben  drei  Stufen  voraussetzen  dürfen 2)  wie  für  die 
plastische: 

1.  Die  Darstellung  ist  rein  symbolisch:  es  wird  nur  von  denjenigen 
Gliedern  gesprochen,  die  für  die  Bewegungs-  und  Handlungsfähigkeit  der 
Götter  unentbehrlich  sind  —  gerade  so,  wie  jetzt  wieder  der  Fromme 
nur  vom  Auge  Gottes,  von  Gottes  Hand,  von  dem  Schemel  seiner  Füße 
spricht.  Eine  solche  Annäherung  an  die  Menschengestalt  ist  nicht  etwa 
»Metapher«,  sondern  selbstverständlicher  Analogieschluß.  Wenn  der  Dämon 
Opferspeise  verzehrt,  so  muß  er  einen  Mund  haben  usw.,  was  Goethe  in 
einem  bekannten  Spruch3)  höchst  drastisch  ausgedrückt  hat.  Eine  deut- 
liche Vorstellung  ist  mit  solchen  Ausdrücken  noch  nicht  verbunden.  — 
Auf  dieser  Stufe  finden  wir  uralte,  in  Eddalieder  verarbeitete  Verse  wie 
Vol.  Str.  5  (die  Rechte  der  Sonne)  oder  alte  Beinamen  der  Götter  wie  für 
Odin  der  Rufer,  der  Weggewohnte,  der  Schnellreitende4)  —  natürlich 
aber  können  auch  später  (erst  recht!)  solche  Namen  entstehen.  Es  ist 
die  Stufe,  auf  der  der  Jahve  des  Pentateuchs  steht;  bis  die  Propheten  gegen 
den  natürlichen  Anthropomorphismus  auftreten  (schon  Elia  1.  Könige  18, 27 5). 

2.  Sie  wird  typisch:  allmählich  erwächst  den  Priestern  und  Gläubigen 
ein  Bedürfnis,  ihren  Gott  »zu  schauen«,  vor  allem:  ihn   von  anderen  zu 


5)  Vgl.   Minor,    Die    Luftschiffahrt   in    d.   d.   Literatur;    Ztschr.  f.    Bücher- 
freunde 1909. 
2)  Siehe  u. 
8)  »Totalität <  ;  Weim.  Ausg.  2,  263. 

4)  Golther  S.  356. 

5)  Die  Erwähnung  von  Hand  und  Arm  der  Sonne  bei  Kelten  oder  Germanen 
t(v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  84)  ist  also  nichts  spezifisches.  Auch  bei  den 
(Griechen  tut  vor  allem  die  »Hand  Gottes«  Wunder  (O.  Weinreich,  Antike 
I  Heilungswunder,  Gießen  1909,  S.  lf.).    Noch  die  alexandrinischen  Anachoreten 

glauben,  man  wolle  ihnen  Gott  rauben,  als  der  Patriarch  Theophilos  ihm  Füße, 
I Hände,  Augen  und  Ohren  abspricht  (Prat,  Origene,  Paris  1907,  S.  XLVIII). 


432  Fünftes  Kapitel. 

unterscheiden.  Als  Leitmotiv  dient  dabei  natürlich  die  Betonung  derjenigen 
Eigenschaft,  um  derentwillen  gerade  er  verehrt  wird:  Stärke,  Weisheit, 
Freigebigkeit.  Eine  große  Rolle  spielt  dabei  das  Attribut,  das  als  Ex- 
ponent des  Charakters  dient:  Thors  Hammer  symbolisiert  seine  Stärke, 
Apollons  Pfeil  oder  Odins  Speer  die  Herrschergewalt  des  weithintreffenden 
Gottes.  Damit  hängt  ein  wirkliches  Ausmalen  jener  wichtigsten  Glieder 
zusammen:  ein  Gott  erhält  nun  viele  Hände,  ein  anderer  ein  leuchtendes 
Gesicht,  ein  dritter  riesenschnelle  Füße.  —  Es  ist  der  Standpunkt,  auf 
dem  der  Rigveda  sich  fast  durchweg  befindet:  die  Götter  werden  durch 
Attribute  und  Epitheta  individualisiert,  ohne  daß  doch  ein  anschau- 
liches Gesamtbild  entstände;  denn  die  Glieder,  die  der  Gott  sozusagen 
für  seinen  Beruf  nicht  braucht,  werden  gänzlich  ignoriert.  Wer  wird 
etwa  von  Freys  Augen  sprechen?  wohl  aber  spricht  man  von  denen 
Odins. 

Diese  zweite  Stufe  der  dichterischen  Darstellung  wird  zeitlich  etwa 
mit  der  ersten  plastischen  zusammenfallen,  die  ebenfalls  an  den  » Götzen  < 
lediglich  betont,  was  ihr  Wesen  unmittelbar  ausspricht:  den  Phallus  des 
Fruchtbarkeitsgottes,  die  Brüste  der  Erdgöttin. 

3.  Die  Darstellung  wird  endlich  i konisch:  man  bildet  sich  eine 
wirkliche  Gesamtanschauung  von  der  Erscheinung,  wobei  die  bereits  vor- 
handenen symbolischen  Götterfiguren  als  Anhalt  dienen,  gewiß  aber  auch 
Visionen  eifriger  Beter  mitgewirkt  haben.  In  diesem  Sinn  durfte  man 
sagen,  daß  Homer  die  griechischen  Götter  geschaffen  habe  — -  nämlich 
die  des  Phidias.  Ein  Homervers  war  ja  die  Vorzeichnung  für  den  olym- 
pischen Zeus. 

Die  Götter  der  Edda  zeigen  die  Entwicklung  von  der  zweiten  zur 
dritten  Stufe ;  doch  halten  sie  sich  überwiegend  auf  der  ersten.  Je  stärker 
der  Kult,  desto  eher  wird  volle  Verpersönlichung  erreicht.  Balder  bleibt 
äußerlich  eine  blasse  Idealgestalt,  Frey  ist  schon  etwas  deutlicher;  Odin, 
Thor,  auch  Heimdall  aber  haben  den  Dichtern  völlig  greifbar  vor  Augen 
gestanden  mit  ihrer  Ausrüstung,  mit  dem  gütigen  oder  grollenden  Blick 
des  Gesichts,  mit  Gesten  und  Stimmklang.  Eine  Plastik  und  Individualität 
der  Darstellung  wie  die  Thrymskvida,  ja  wie  die  Skirnisför  sie  zeigt,  hat 
die  altgermanische  Kunst  nicht  von  ferne  erreicht.  So  finden  wir  denn 
auch  eine  Einwirkung  der  Plastik  auf  die  Mythendichtung  nur  in  späten, 
nacheddischen  Legenden  *).  —  Wichtig  für  die  Ausbildung  dieser  Stufe 
war  die  Mitwirkung  der  Heldendichtung  (Völundarkvida!),  bei  der  wiederum 
die  reale  Beobachtung  von  tapferen  Helden,  treulosen  Ratgebern,  edlen 
Königen  die  Evolution  erleichterte.  — 


*)  Widar  und   der   Fenriswolf,    auch   noch   anders   gedeutet   von   Olrik, 
H.  Z.  51,  9;  Sifs  Haare;  Einzelheiten  in  Skadis  Erscheinung;  Yggdrasill. 


§  24.    Tempel  und  Kultstätten.  433 

Von  unmittelbarer  Wichtigkeit  aber  ist  für  die  Entwicklung  der  Götter- 
bilder natürlich  die  der  hieratischen  Plastik1).  Wir  unterscheiden  die 
gleichen  drei  Stufen,  die  durch  die  psychologische  Entwicklung  gefordert 
scheinen:  symbolisch  sind  die  fetischartigen  »Götzen«  der  fetischistischen 
und  dämonistischen  Stufe:  Wodans  Speer,  Thors  Hammer,  Tius  Schwert2); 
die  effigies  und  Signa  des  Tacitus3):  Tierbilder.  Sie  scheinen  nach 
Einführung  der  Bilder  nur  noch  dann  eine  wirkliche  Verehrung  zu  ge- 
nießen, wenn  sie  (wie  die  Lanze  des  Mars  auf  dem  Kapitol)  durch  un- 
mittelbare Epiphanie  historisch  beglaubigt  sind.  —  In  die  gleiche  Kategorie 
gehört  wohl  auch  das  älteste  erhaltene  Kultbild:  der  Sonnenwagen  von 
Trundholm4),  der  bereits  fremden  Import  bezeugt.  Es  ist  ein  »leerer 
Thron«:    der  Phantasie  bleibt  es  überlassen,    die  Gottheit  hinzuzudenken. 

Typisch  sind  Stein-  und  Holzpfähle,  zum  Teil  ursprüngliche  Fetische; 
sie  werden  leicht  angeschmückt  und  mit  Attributen  versehen.  So  fährt 
in  der  zweiten  Hälfte  des  4.  Jahrhunderts  Athanarich  eine  Bildsäule  (tri- 
madr)  bei  den  Goten  umher,  vor  der  geopfert  werden  soll 5),  und  diesen 
Bericht  ergänzt  der  des  Arabers  Ibn  Fadhlan,  der  921  von  den  Nord- 
Germanen  erzählt:  sobald  sie  ans  Land  kommen,  begeben  sie  sich  »zu 
einem  aufgerichteten  hohen  Holze,  das  wie  ein  menschliches  Gesicht  hat 
und  von  kleinen  Statuen  umgeben  ist  (wie  die  Figur  der  Thorgerd  im 
Drontheimischen  Tempel),  hinter  welchen  sich  noch  andere  hohe  Hölzer 
aufgerichtet  finden«.  Vor  den  »Hölzern«  werfen  sie  sich  nieder  und 
begrüßen  »ihren  Herrn«6).  —  Eine  solche  Figur  ist  bei  Viborg  auf- 
gefunden worden:  »eine  hohe,  stark  phallische  Holzfigur,  die  zweifellos 
ein  Götterbild  (des  Frey)  gewesen  ist.  Sie  hat  einen  sorgfältig  geschnitzten 
Kopf,  aber  keine  Arme  und  endet  unten  in  zwei  zugespitzten  Stücken«  7).  — 
Das  ist  also  die  Stufe  auch  der  ältesten  hellenischen  Kultbilder,  aus  denen 
Jie  Form  der  Herme  entwickelt  wurde8). 

I  k  o  n  i  s  c  h  e  Statuen  hätten  die  Germanen  unter  Anleitung  ihrer  Dichter 
wohl  auch  von  sich  aus  erreicht,  so  gut  wie  etwa  die  Azteken ;  tatsächlich 
hat  man  aber  in  den  nordischen  Mooren  römische  Bronzestatuetten  von 
Mars,  Jupiter  und  Venus  gefunden  9)  und  nimmt  deshalb  an,  die  Germanen 


1)  Vgl.  allgemein  Wein  hold,  Altn.  Leben,  S.  421. 

2)  Golther  S.  602. 

s)  Germ.  cap.  7;  siehe  o.  S.  70. 

4)  Siehe  o.  S.  105;  vgl.  Areh.  f.  Rel.-Wissensch.  8,  120. 

5)  Golther  S.  604. 

6)  Mogk  S.  398,  O.  Schrader  a.  a.  O. 

7)  Thümmel  S.  99. 

8)  Vgl.  o.  S.  50.  69.  Solch  ein  Götzenbild  ist  wohl  der  tremadr,  die  moos- 
bewachsene Rolandfigur,  die  der  alte  Dichter  eine  Ansprache  halten  läßt  (Eddica 
tninora  S.  LXXXII). 

9)  Meyer  S.  318. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  28 


434  Fünftes  Kapitel. 

hätten  erst  von  den  Römern  die  >Sitte  der  eigentlichen  Götter  in  Menschen- 
gestalt« erhalten  *). 

Solche  ikonischen  Bilder,  d.  h.  Statuen,  die  ein  Götterporträt  zu  geben 
suchen,  sind  vielfach  bezeugt2)  und  von  uns  für  die  »Erscheinung«  der 
Götter  regelmäßig  benutzt:  in  Uppsala  Thor  zwischen  Odin  und  Frey, 
in  Hof  und  Hofstadir  (Island)  Thor  mit  anderen  Göttern,  auf  dem  Tempel 
in  Gudbrandsdal  Thor  auf  seinem  Wagen  zwischen  Thorgerd  und  Irpa, 
in  Hrafnkells  Tempel  Frey  und  andere  Götter  —  oft,  wie  in  den  santi 
conversagioni  der  katholischen  Kirchen,  in  jener  typischen  Anordnung 
einer  Hauptfigur  mit  zwei  kleineren  Begleitern3). 

Über  die  Herstellung  der  Götterbilder  wissen  wir  nichts.  (Bei  den 
Finnen  werden  sie  durch  die  Schamanen  auf  göttlichen  Befehl  angefertigt)4). 
Man  wird  sie  erst  bezogen  haben  (wie  vielleicht  die  Bildsäule  der  Skadi); 
dann  haben  die  einheimischen  Schmiede  sie  hergestellt.  Die  Anfertigung 
eines  Tonmodells  schildert  Snorri5),  wenn  er  die  Herstellung  des  Lehm- 
riesen Mökkurkalfi  beschreibt;  neben  ihm  steht  Hrungnir  wie  eine  fertige 
Bildsäule  mit  hartem  Kern,  steinernem  Kopf  und  vorgehaltenem  Schild  — 
etwa  wie  unsere  Rolandsfiguren.  Auch  bei  der  in  Stein  als  Hafenzeichenj 
verwandelten  Hrimgerd6)  haben  wohl  Statuen  wie  die  der  Wetterhexe 
Thorgerd  der  Anschauung  nachgeholfen.  — 

Über  das  Verhältnis  von  Tempel  und  Götterbild  ist  wohl 
im  allgemeinen7)  zu  sagen,  daß  der  Tempelbau  voranging.  Die  freistehende 
Götterstatue  wird  sich  erst  im  Anschluß  an  die  Götterbilder  entwickelt 
haben,  die  gleichsam  als  Hausmarke  in  die  Säulen  geschnitzt  waren.  Doch 
kann  auch  hin  und  wieder  eine  Statue  unter  Dach  und  Fach  gebracht  sein. 

Sobald  sich  die  Gewohnheit  des  Kultbildes  herausgebildet  hat,  wird 
das  Götterbild  die  Seele  des  Tempels.  Eh  Vigahrappr  den  Tempel  der 
Thorgerd  in  Brand  steckt,  beraubt  er  die  Götterbilder  ihrer  Attribute 8)  — 
wohl  nicht  bloßer  Tempelraub ,  sondern  zunächst  der  Versuch,  die  Kult- 
figur ihrer  Heiligkeit  zu  entkleiden  und  dadurch  die  Weihe  auch  des  Hauses 
aufzuheben.  —  Ursprünglich  repräsentiert  das  Götterbild  natürlich  den 
Gott,  der  nunmehr  in  seinem  Hause  dauernd  anwesend  ist.  Das  Tempel- 
bild wiederum  wird9)  durch  kleinere  Nachbildungen  vertreten,  wie  ein 
wundertätiges  Marienbild;  und  solche  symbolischen  Götterbilder  werden 
auch  auf  den  Säulen  des  Privathauses,  der  Stuhllehne,  dem  Vordersteven 
des  Schiffes  angebracht.    Kleine  Bilder  von  Ton  und  Teig  trägt  man  als 


!)  Thümmel  S.  122.  -)  Golther  S.  604. 

3)  Vgl.  Dibelius,    Lade  Jehovas,   S.  84:    »glorifizierendes    symmetrisches 
Schema«. 

4)  Castren  S.  229.  5)  Skäldsk.  cap.  1:  Gering  S.  359. 
6)  Helg.  Hjörv.  Str.  30.  7)  Mit  Thümmel  S.  122. 

8)  Golther  S.  483.  9)  Mogk  S.  398. 


§  25.    Priester  und  Priestertum.  435 

Amulette  und  »Reisealtäre<  in  der  Tasche.  Es  ist  nicht  undenkbar,  daß 
n  einigen  der  vielen  Götterbeinamen  alte  lokale  Bezeichnungen  stecken, 
io  daß  man  ein  besonders  wundertätiges  Götterbild  nachformte.  —  Wie  die 
symbolischen  Opfer  werden  auch  diese  Göttersymbole  aus  Teig  und  Thon 
gefertigt.  Schließlich  werden  ganze  Darstellungen  der  Göttersage,  wie 
ichon  früher  aus  der  Heldensage1),  geformt:  Ulf  Uggason  dichtet  nach 
)50  seine  Hüsdrapa  auf  den  Fries  im  Hause  des  Olafr  pä,  das  Balders 
Beerdigung  darstellte.  Eine  andere  Kollektivdarstellung  hat  vermutlich 
das  Vorbild  für  Yggdrasil  mit  Zubehör  gegeben. 

Die  Götterbilder  werden  gekleidet  und  geschmückt2).  Zuletzt  ent- 
irtet  der  Bilderdienst:  die  Götzen  tun  Wunder3).  »Dem  Thorsbilde  zu 
fiunthorp  in  Norwegen  setzte  man  Speise  vor  und  meinte,  daß  es  sie 
/erzehre.  Vom  Thorsbild  zu  Raudsey  meinte  man,  es  gehe  spazieren4) 
md  lasse  sich  auf  einen  Kampf  mit  dem  christlichen  König  ein.«  Solche 
Verwechselung  von  Gott  und  Götterbild  macht  es  dann  (wie  bei  den 
Baalspriestern  vor  Elisa)  begreiflich,  daß  die  straflose  Zerstörung  von  Götter- 
bildern durch  die  christlichen  Ikonoklasten  sofort  von  der  Schwäche  der 
Götter  überzeugte. 

§  25.    Priester  und  Priestertum5). 

Gab  es  schon  bei  den  Indogermanen  Priester?  O.  Schrader6) 
(ommt  mit  Entschiedenheit  zu  dem  Schluß,  daß  sie  in  der  Urzeit  »noch 
(eine  gottesdienstlichen  Personen«  kannten;  ja  auch  in  historischer  Zeit 
loch  weder  die  Slaven ,  noch  die  Germanen 7).  Diese  haben  aber  zur 
£eit  des  Tacitus  schon  Priester  und  Priesterinnen. 

Ein  Priesterstand  scheint  sich  auf  zwei  Wege  zu  entwickeln:  erstens 
ms  den  Zauberern,  worauf  die  Verwandtschaft  vom  altindischen 
wahman  und  lateinisch  flamen  gedeutet  wird8);  zweitens  durch  Erblich- 
weit   in    »heiligen    Familien«,   wie  in  Indien,    Hellas,   Israel9).     In   beiden 

r)  Vgl.  Säve,  Siegfriedsbilder  im  Norden,  Hamburg  1870. 

2)  Golther  S.  606.  Vgl.  allgemein  z.  B.  Weinreich  a.  a.  O.  S.  45.  — 
Chinesische  Götterbilder  von  deren  Seelen  bewohnt:  de  Groot,  Kultur  der 
jegenwart,  S.  168.  175. 

:?)  Ebd. 

4)  Wie  die  des  Petichos;  vgl.  Wein  reich  a.  a.  O.  S.  138. 

5)  Ritterling,  Historisches  Taschenbuch  7,  195.  —  Mogk  S.  399,  Golther 
I  612,  Meyer  S.  295. 

6)  Reallexikon  2,  639;  vgl.  Aryan  Religion  S.  42  f. 

7)  Nach  Caesar  B.  Gall.  6,  21 :  neque  druidos  habent ,  qui  rebus  divinis 
braesint ,  neque  sacrificiis  student,  »sie  haben  keine  Druiden  zur  Leitung  des 
Gottesdienstes  und  legen  keinen  sonderlichen  Wert  auf  Opfer  ,  was  aber  im 
Gegensatz  zu  den  keltischen  Zuständen  gesagt  ist  (Ebd.). 

8)  Schrader  S.  637. 

9)  Die  Leviten;  vgl.  ebd.  S.  640;  Schrader,  Aryan  Religion,  a.  a.  O. 

28* 


436  .      Fünftes  Kapitel. 

Fällen  ist  ein  intimes  Verhältnis  zu  bestimmten  Gottheiten  vorauszusetzen. 
Der  Patron,  der  Hausgeist  wird  Stammgott  und  seine  Verehrer  bleiben  die 
geeignetsten  Persönlichkeiten  für  den  Verkehr  zwischen  ihm  und  den 
Menschen.  So  hätte  etwa  Thorgerd  eine  Lokalgottheit  werden  und  dei 
Kult  der  Familie  Häkons  anvertraut  werden  können. 

In  der  Regel  gilt  wohl  beides  nebeneinander;  so  bei  den  Israeliten 
die  erblichen  Leviten,  Nachkommen  des  runenkundigen  Urzauberers  Mose, 
im  Besitz  der  Tora  und  daher  im  Amt  des  öwarto,  des  äsega1),  und 
die  Kohanim,  besoldete  Priester  im  Besitz  der  Wahrsagekunst  der  Loos- 
orakel2).  Die  Druiden  sind  wesentlich  Zauberer;  die  ägyptischen  Priester, 
zuerst  nur  Beamte  des  Königs3)  bilden  später  einen  erblichen  Stand4). 

Urgermanisch  haben  wir  bereits  sowohl  Wahl-  als  Berufspriester. 
Die  Könige,  Häuptlinge,  Familienväter  opfern ;  oder  die  Besitzer  der  Tempel- 
stätte (althochdeutsch  hartigari).  Solange  sie  ein  heiliges  Werk  vollziehen, 
sind  sie  geweihte  Personen.  —  Daß  der  «Priesterkönig«  als  Inkarnation 
der  Gottheit  gegolten  habe5),  scheint  nicht  beweisbar.  Tempelpriester  sind 
bei  Nerthus  bezeugt,  eine  Priesterin  bei  den  Cimbern6).  Es  gibt  aber 
auch  Staatspriester  (oder  sind  einfach  die  Tempel priester  hierfür  verwandt?): 
sacerdotes  civitatis,  die  den  öffentlichen  Gottesdienst  leiten,  das  Losen 
in  die  Hand  nehmen,  Schweigen  gebieten  und  während  des  Things  (und 
wohl  auch  während  des  Gottesdienstes)  Strafgewalt  (im  Namen  der  Götter) 
haben 7). 

Was  die  Benennung  betrifft8),  so  heißt  der  burgundische  Opfer- 
priester sinisto ,  n^ecß^Tegog  »der  Älteste«.  Gotisch  gudja ,  altnordisch 
godi bedeutet  »Gottesdiener«;  gotisch  blostreis,  althochdeutsch pluostrari 
»Opferer«;  althochdeutsch  harugari,  parawari  Tempelhüter9);  als  Ver- 
kündiger der  heiligen  Gesetze  ewarto,  esago.  Auch  der  isländische  Gode 
hat  ganz  spezielle  Funktion:  aus  dem  dänisch-norwegischen  Priester  ist 
der  opfernde  Tempelbesitzer  auf  Island  geworden. 

Der  Stand  ist  lange  dem  Adel  reserviert10),  wie  bei  Athenern  und 
Römern  vielfach.  Im  Norden  leiten  wohl  die  Herrscher  selbst  das  Opfer11) 
und  degradieren  den  Priester  zum  Küster. 


1)  Ed.  Meyer,  Berl.  Sitzungsber.  1905  XXXI.  S.  10. 

2)  Ebd.  S.  9;  anders  Giesebrecht,  Israel.  Rel.-Gesch.,  S.  116. 

3)  Erman,  Kultur  d.  Gegenwart,  S.  32. 

4)  Erman,  Ägypt.  Rel.,  S.  181.    —   Indische  mythische  Priestergeschlechter 
vgl.  Macdon  eil  S.  143  f.,  allgemein  vgl.  O.  Seh  ra  der. 

5)  Mogk,  Sammlung  Göschen  15,  110. 

ti)  Siehe  o.  S.  411.  7)  Germ.  cap.  11. 

8)  Golther  S.  614. 

9)  Vgl.  die  eultores  templ)  der  Sandraudiga;  siehe  o.  S.  401. 
J0)  Golther  S.  617f. 

ll)  Ebd.  S.  619. 


§  25.    Priester  und  Priestertum.  437 

Während  bei  den  Indern J)  eine  Frau  nicht  opfern  darf,  treffen  wir 
ei  den  Germanen  früh  Priesterinnen2):  eine  Opferpriesterin  bei  den 
Kimbern;  später  hat  Frey  nur  Priesterinnen3).  Das  ursprüngliche  Ver- 
ältnis  war  wohl  dies,  daß  den  Göttern  Priester,  den  Göttinnen  Prieste- 
nnen (wie  die  Vestalinnen)  dienten.  —  Die  Frau  gilt  ja  bei  den  Ger- 
lanen  von  Haus  aus  für  geweiht4).  Sie  erlosen  den  Schlachtausgang5) 
nd  entarten  leicht  zu  Zauberinnen6).  Ihre  Hauptaufgabe  ist  die  Wahr- 
igung,  wie  sie  unter  den  Brukteren  zu  Vespasians  Zeit  Veleda  übt. 
acitus  nennt7)  noch  die  Albrüna,  was  leicht  ein  Amtsname  (wie  Pharao) 
sin  könnte8).  Die  Priesterin  hat  wohl  gewöhnlich  nur  das  Amt  ohne 
ie  Gewalt.  Im  Norden  gibt  es  aber  auch  weibliche  Goden,  Tempel- 
flegerinnen 9). 

Als  Tracht10)  ist  für  die  Priesterin  der  Cimbern  wie  für  den 
otischen  Priester  ein  weißes  Gewand  bezeugt.  Der  Priester  der  Nahanar- 
alen  trägt  weibliche  Haartracht.  Die  gotischen  Priester  sind  pileati11): 
ie  tragen  wenigstens  während  der  Opferhandlung  den  spitzen  Hut  —  in 
Jachahmung  Odins?  Eine  Annäherung  der  priesterlichen  Tracht  an  die 
.usrüstung  der  Götter  läßt  sich  öfters  beobachten  (Brustschild  des 
ebräischen  Hohepriesters  und  Ägis,  Sonnenschild?).  Als  Abzeichen  oder 
mitszeichen  tragen  sie 12)  vielleicht  den  Eidring  am  Arm  13). 

Den  angelsächsischen  Priestern  war  es  verboten,  Waffen  zu  tragen 
nd  anders  als  auf  einer  Stute  zu  reiten 14).  Ähnliche  sondernde  Verbote 
•effen  wir  vielfach,  so  bei  den  Ägyptern  (sie  dürfen  keine  Fische  essen, 
lohnen  nicht  einmal  sehen)15),  bei  den  Hebräern  (sie  müssen  die  Sitte 
er  Nomaden  archaisierend  nachahmen) 16).  Der  spezielle  Sinn  des  angel- 
achsischen  Verbotes  ist  offenbar,  die  Entfernung  des  Priesters  vom  Kriegs- 

!)  Siehe  o.  S.  411,  6. 

2)  Mogk  S.  900,  Golther  S.  620,  Meyer  S.  307. 

3)  Vgl.  o.  S.  207.  4)  Germ.  cap.  8. 

5)  Bell.  Gall.  1,  57.  G)  Golther  S.  620. 

7)  Germ.  cap.  8.  —  S.  Cassel,  Prophetinnen  und  Zauberinnen  mit  Be- 
nennung auf  d.  deutsche  Altertum,  Weimar.  Jb.  2,  357  f. 

8)  Andere  Beispiele  bei  Golther  S.  621. 

9)  Ebd.  S.  622. 

10)  Golther  S.  617,  Meyer  S.  301. 
n)  Vgl.  o.  S.  407. 

12)  Golther  S.  618,  Meyer  S.  302. 

13)  Die  ägyptischen  Priester,  im  Altertum  die  Priester  par  excellence,  tragen 
iinenes  Kleid  und  geschorenen  Kopf  (Erman,  Ägypt.  Rel. ,  S.  74.  222);  ihr 
)rnat  ist  durch  zwei  charakteristische  Tendenzen  bestimmt:  Reinlichkeit  und 
Jtertümlichkeit  (ebd.  S.  181). 

14)  Beda;  vgl.  Golther  S.  618. 

15)  Erman,  Ägypt.  Rel.,  S.  181. 

16)  Vgl.  Ed.  Meyer  a.  a.  O. 


438  Fünftes  Kapitel. 

handwerk  zu  illustrieren,  die  allerdings  den  früheren  Germanen  und  der 
nordischen  auch  später  noch  fern  lag.  Nur  um  die  Ohnmacht  der  Heiden 
götter  seinem  König  Edwin  recht  augenscheinlich  zu  beweisen,  sprengt« 
der  schon  für  das  Christentum  gewonnene  Oberpriester  auf  dem  Streit 
hengst  des  Königs  gegen  den  heidnischen  Tempel  und  schleuderte  einer 
Speer  durch  den  Zaun  ins  Heiligtum1). 

Die  Priester  haben  auch  ihre  Nebentätigkeit:  sie  haben  amtlicl 
die  Weissagung  beim  öffentlichen  Opfer  sowie  das  feierliche  Losen  zi 
leiten 2).  Ebenso  liegt  das  Gottesurteil  in  ihrer  Hand ;  doch  kann  eir 
Fürst  auch  hier  priesterliche  Funktion  ausüben3).  Natürlich  üben  si< 
privatim  gern  Weissagerei  und  Zauber,  vorab  Beschwörung4). 

Sie  haben  die  kultische  Tradition  zu  erhalten.  Diesem  Zwecl 
dient  natürlich  vor  allem  die  mündliche  Unterweisung;  aber  auch  di< 
Herstellung  und  Überlieferung  von  Denkversen  (mit  Götternamen,  Götter 
beschreibungen  u.  dgl.),  von  ritualen  Sprüchen  und  Gesängen.  Wie  be 
vielen  Völkern  geschieht  dieser  Unterricht  gern  in  katechetischer  Form 
d.  h.  durch  Abfragen5);  Nachbildungen  dieser  Übung  sind  Gedichte  wi< 
Vaf.  und  Alv.  (Die  Heldensage  mit  einem  Lied  wie  der  Gripisspä  is 
hier  sekundär.) 

Aus  dieser  Tätigkeit  wie  ihrer  sonstigen  Praxis  werden  sie  aber  aucl 
die  ersten  Pfleger  der  Wissenschaft0),  wie  bei  den  Indogermanen  über 
haupt7).  Insbesondere  die  poetische  Form  schult  sich  an  der  festen  Forn 
des  Ritus ;  heroische  Denkverse  folgen  den  mythologischen 8).  Das  Zauber 
lied9)  gehört  aber  wohl  mehr  den  eigentlichen  Zauberern,  Gnomik  unc 
Rätsellied10),  Sprüche11)  den  Erfahrenen  überhaupt.  Spezifisch  eigne 
ihnen  dagegen12)  die  Rechtsüberlieferung13).  — 

Bei  Völkern,  die  auf  Opfer  mehr  Wert  legen  als  die  Germanen  14),  pfleg 
auch  der  Ritus  selbst  Gegenstand  der  Mythologie  zu  werden 
Götter  haben  ein  Opfer  eingesetzt,  eine  Ritualhandlung  vorgeschrieben  usw 


x)  E.  H.  Meyer  S.  302;  vgl.  Vol.  Str.  24. 

2)  Schon  in  Taciteischer  Zeit;  Mogk  S.  400,  Golther  S.  631,  Meyei 
S.  303.  306.  Über  das  Verfahren  im  einzelnen  vgl.  Müllenhoff  und  v.  Lilien 
cron,  Zur  Runenlehre,  Braunschweig  1852. 

3)  Gud.  3,  7,  spät;  christliche  Einführung  des  Gottesurteils  durch  Olaf  der 
Heiligen,  gest.  1030  (Gering  z.  St.). 

4)  Mogk  S.  405,  Golther  S.  641. 

5)  Vgl.  allgemein  Meyer  S.  303. 

6)  Golther  S.  622. 

7)  Ed.  Meyer,  Gesch.  d.  Altertums  1,  2  S.  779 f. 

8)  Vgl.  allgemein  Golther  S.  623. 

9)  Ebd.  S.  621.  10)  S.  626.  ")  S.  628. 

12)  Wie  den  Leviten;  siehe  o. 

13)  Golther  S.  624. 

14)  Nach  dem  römischen  Zeugnis  S.  435,  7;  vgl.  auch  o.  S.  411. 


§  25.    Priester  und  Priestertum.  439 

Wie  die  Kulthandlung  einer  einmaligen  Gelegenheit  entspringen  kann,  so 
wird  sie  von  der  Sage1)  gern  wieder  in  einen  einmaligen  Vorgang  um- 
gesetzt2). Die  göttliche  Handlung  (z.  B.  die  Heilung  von  Balders  Roß 
durch  Odin)  wird  wiederholt,  das  Götterbild  episch  in  Bewegung  gesetzt 
YAnkunft  und  Umzug  der  Nerthus;  Werbung  der  Alces?)  unter  be- 
gleitendem Gesang  und  ritueller  Handlung3). 

Solche  Umwandlungen,  Mythisierungen  des  Ritus,  haben  wir 
also  auch  bei  den  Germanen ;  hat  doch  Kauffmann  die  ganze  Baidersage 
so  zu  deuten  versucht  und  wir  wenigstens  die  Sagen  von  Skadis  Bräutigam- 
schau und  erstem  Lachen.  Die  höhere  Stufe  der  Kultsage  aber,  die 
Mythisierung  von  Opfer  und  Priester,  haben  die  Germanen 
nicht  erreicht.  Sie  haben  keine  göttliche  Einsetzung  von  Opfern  oder 
Kultstätten,  wie  etwa  die  des  Delphischen  Orakels  durch  Apollon  selbst4); 
unter  den  Göttern  gibt  es  einen  Wächter  (Heimdall)  und  spät  auch  einen 
Sänger  (Bragi),  aber  keinen  Priester  wie  Brihaspati 5).  Die  Götter  schaffen 
Altäre  und  bauen  Tempel 6)  —  aber  sie  setzen  keinen  Priester  ein ,  und 
an  einen  bestimmten  irdischen  Tempel  ist  nicht  zu  denken.  Schon  des- 
halb ist  Kauffmanns  geistreicher  Einfall,  daß  die  Götter  selbst  den  Balder 
opfern,  zu  verwerfen:  nirgends  vollziehen  die  germanischen  Götter  selbst 
rituelle  Handlungen  wie  etwa  der  büßende  Apollo7)  oder  der  im  Opfer- 
dienst und  den  Riten  erfahrene  Agni8).  Im  Veda  sind  Priester-  und 
Kultsagen  sehr  häufig9). 

Die  Stellung  der  Priester  in  der  alten  Dichtung  ist  ja  überhaupt  be- 
sonders wichtig.  In  den  Runen  des  Kalewala  begegnen  nur  Schamanen ;  in 
der  altgermanischen  Poeise  nicht  ganz  selten  Zauberer10)  und  Hexen  (wie 


*)  Vgl.  o.  S.  45. 

3)  Vgl.  allgemein  Usener,  Heilige  Handlung,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  7,  281. 

3)  So  bei  der  Wasserweihe  Usener  S.  197.  Die  caterva  führt  den  Kampf 
zwischen  Sommer  und  Winter  auf  S.  313;  Ilions  Fall  als  Brechen  der  Regen- 
burgen S.  338;  die  Aegisdrecka  als  dramatische  Vorführung  von  Lokis  letzter 
Herausforderung.  Oder  der  (vermeinte)  einmalige  Vorgang  wird  als  Ursache 
eines  Gedenkfestes  aufgefaßt  (Purimfest  und  Buch  Esther). 

4)  Preller  1,  285;  allgemein  vgl.  Wundt  S.  297. 
B)  Macdonell  S.  101. 

6)  Völ.  Str.  7.  Ebs.  Jesaia  28,  16  (vgl.  H.  Schmidt,  Jona,  Göttingen 
1907,  S.  88). 

7)  Preller  1,  287.  9)  Macdonell  S.  97. 

9)  Ebd.  S.  138 f.  —  Es  ist  Zeit,  daß  man  den  überreich  fließenden  Ver- 
gleichungen  auch  solche  Kontraste  gegenüberstellt.  Wie  für  die  Lexikologie  ein 
»negatives  Wörterbuch«  gefordert  wird  (vgl.  z.  B.  Teuchert,  Anz.  f.  d.  Alt. 
1909;  26, 36),  d.  h.  ein  Verzeichnis  der  fehlenden  Ausdrücke,  so  muß  die  Mythologie 
einen  Fehlkatalog  haben;  wir  haben  auf  seine  erstmalige  Aufstellung  besondere 
Aufmerksamkeit  verwandt. 

10)  Wie  Jarl  Franmar  Helg.  Hjörv.  zu  Str.  5. 


440  Fünftes  Kapitel. 

Hrfmgerd) x),  aber  nirgends  Priester,  nicht  einmal  bei  dem  Gottesurteil  der 
Gud.  III;  in  der  homerischen  Dichtung  opfernde,  wahrsagende  Priester| 
(Kalchas),  beschwörende  Priester  (Chryses),  aber  keine  Zauberer. 

Neben  den  Priestern  und  Zauberern  gibt  es  vielfach  noch  eine  drittel 
Klasse  von  Menschen,  die  zu  den  Göttern  in  näherer  Beziehung  stehen: 
die  »Heiligen«,  d.  h.  Persönlichkeiten,  die  um  ihrer  Vortrefflichkeit 
willen  Lieblinge  der  Götter  oder  zumeist  Einer  Gottheit  sind,  die  ihnen 
gern  etwas  zu  liebe  tut2).  Dieser  Art  nähern  sich  nach  Tacitus  Zeugnis 
die  Frauen  bei  den  Germanen  überhaupt;  aber  mit  auszeichnender,  in- 
dividueller Begabung,  wie  sie  etwa  Tantalus  vor  dem  Sturz  genoß, 
scheinen  solche  Persönlichkeiten  bei  den  Germanen  so  wenig  wie  im 
Alten  Testament3)  bekannt  zu  sein.  Doch  ist  immerhin,  wie  für  dies 
an  die  Himmelfahrt  des  Henoch,  an  die  angebliche  Apotheose  von  König 
Erich  in  Schweden  und  an  Thorolf  auf  Island4)  zu  erinnern.  Die  Kanoni- 
sation  wird  nur  bei  Lebenden  vermieden.  —  Zu  den  analogen  Gestalten,  die 
Preller5)  »Heroen  der  Kunst«  nennt,  Träger  von  den  Kultsagen  vergleich- 
baren Legenden  über  die  Anfänge  von  Wahrsagekunst,  Gesang,  bildender 
Kunst  kann  ebenfalls  nur  auf  den  späten  Bragi  verwiesen  werden. 


*)  Ebd.  Str.  121 

2)  Die  Vorstellung  ist  gewiß  schon  ethisch  angefärbt;  doch  nicht  so,  daß 
jeder  Götterliebling  ein  Mustermensch  im  Sinne  jüdischer  oder  christlicher  Heilig- 
keit sein  müßte;  vgl.  Duhm,  Die  Gottgeweihten  in  d.  Alttestamentlichen  Religion, 
Tübingen  1905.  Es  genügt  eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  dem  Wesen  des 
Gottes,  die  etwas  von  seiner  Art  mitteilt.  —  Etwas  ganz  anderes  ist  jene 
Günstlingschaft,  bei  der  der  Gott  unmittelbar  selbst  hilfreich  erscheint,  wie  Odin 
bei  seinen  Lieblingen. 

3)  Delehaye,  Sanctus,  S.  162. 

4)  Golther  S.  94;  vgl.  o.  S.  91.  5)  2,  470f. 


Sechstes  Kapitel. 

Weltanschauung. 

Das  Leben  im  Tempel  vertritt  überall  (wie  für  den  Katholiken  das 
Leben  im  Kloster)  das  Ideal,  ja  es  stellt  dessen  Realisierung  dar:  ein  ge- 
sicherter Frieden,  unmittelbarer  Verkehr  mit  Gott,  Zusammenschluß  der 
Gemeinde,  Fernhalten  aller  Störung.  Aber  jede  Opferhandlung,  ja  jeder 
mythologische  Gedanke  erinnert  an  die  Realität,  an  persönliche  Forderungen, 
menschliche  Leiden,  Gegensätze,  Freundschaften.  Das  Bewußtsein  dieser 
nie  endenden  Bedürfnisse,  Nöte  und  Hoffnungen  liegt  hinter  aller  Mytho- 
logie; es  bewirkt  so  gut  die  Vorstellung  von  bösen  und  guten  Mächten 
wie  den  phantastischen  Wahn  eines  letzten  durch  Kampf  zum  Sieg,  per 
asper a  ad  astra  führenden  Krieges  —  ein  Gedanke,  der  sich  in  dem 
Namen    »Siegfried«  kondensiert. 

Aus  der  steten  Berührung  zwischen  diesem  Bewußtsein  und  diesen 
Wünschen  erwächst  schließlich  die  ganze  Mythologie.  Sie  setzt  höhere 
Mächte  voraus,  die  große  Kraft  und  starken  Eigenwillen  besitzen ;  auf  die 
man  einwirken  kann,  und  zwar  durch  bestimmte  Mittel;  die  aber  sonst 
nach  eigenem  Belieben  regieren.  Die  Mythologie,  jede  Mythologie  ist 
Ausdruck  einer  Weltanschauung  so  gut  wie  irgendeine  spätere 
Religion  oder  Philosophie. 

Wir  müssen  aber  auch  nach  dem  selbständigen  Gehalt  dieser  An- 
schauung fragen,  der  unkontrolliert  von  jedem  übernommen  wird  oder 
in  ihren  Veränderungen  Veränderungen  auch  der  Riten  (z.  B.  Abschaffung 
der  Menschenopfer)  und  Mythen  (z.  B.  Humanisierung  der  Götter)  bewirkte. 

Die  Weltanschauung  der  alten  Germanen  können  wir  nur  für  die 
Nordleute  einigermaßen  rekonstruieren,  da  anderweitig  das  Material  zu 
spärlich  oder  zu  zweifelhaft  ist.  Sie  zeigt  sich  in  zwei  Hauptformen: 
1.  historisch,  vertikal  in  der  Geschichte  der  Welt  (Kosmogenie  und 
Eschatologie),  2.  empirisch,  horizontal  in  der  Kosmologie l). 


x)  Von  den  isländischen  Sagas  aus  hat  V.  Grönbech  (Lykkemand  og  Niding 
Köbenhavn  1909 ;  etwa:  »Liebling  und  Feind  der  Götter« :  man  denke  an  Ibsens 
Kronprätendenten)   die  Weltanschauung  der  alten  Germanen  aufzubauen  unter- 


442  Sechstes  Kapitel. 

§  26.    Geschichte  der  Welt. 

Was  wir  »Weltgeschichte«  nennen,  ist  auch  bei  der  umfassendsten  Inter 
pretation  höchstens  eine  Geschichte  der  Menschheit;   eine  Geschichte  der 
Welt  aber,  wie  sie  etwa  Bossuet  oder  gar  Görres  geben  wollte,  eine  Ge- 
schichte   der   großen    Momente   im    Leben    der   Welt  (wobei   gerade   die 
historischen  Zeiten  zurücktreten)  entwirft  die  altnordische  Völuspä1). 

Vor  allem  um  dies  Gedicht  handelt  es  sich  bei  dem  Kampf  um  die 
>  Echtheit  der  Eddalieder«,  der  seinerzeit  besonders  zwischen  dem  Dänen 
Bang  und  dem  Norweger  Bugge  auf  der  einen,  Müllenhoff  auf  der  andern 
Seite  mit  der  Heftigkeit  einer  Götterschlacht  durchgefochten  wurde,  wo- 
bei freilich  Müllenhoffs  »Asenzorn«  allzu  leicht  von  wissenschaftlicher  in 
moralische  Verwerfung  überschlug  und  der  Bedeutung  eines  Sophus  Bugge 
mit  einem  an  kleinen  Nibelungen-Gegnern  geübten  Überlegenheitsgefühl 
verletzend  begegnete.  Im  wesentlichen  hat  Müllenhoffs  Anschauung  wohl 
unbedingt  gesiegt.  Die  schönste  Charakteristik  vom  heutigen  Standpunkt 
gibt  Olrik2). 

Der  Dichter  der  Völuspa  war  ein  grübelnder  und  suchender  Geist, 
der  seine  Entwicklung  der  gärenden  Wikingerzeit  verdankt.  Er  hat  ver- 
sucht, das  Problem  zu  lösen,  wie  die  ererbte  Mythenwelt  mit  den  neuen 
Gedanken  sich  vereinen  ließe.  Er  schuf  ein  Werk  voll  Schönheit,  Be- 
geisterung, Tiefsinn.  Es  ist  nicht  ein  Versuch,  die  Asenlehre  zu  ver- 
teidigen, und  auch  nicht  ein  Versuch,  christliche  Wahrheiten  in  heidnische 
Tracht  zu  kleiden.  Es  ist  die  selbständige  Arbeit  einer  ernsten  Natur, 
die  den  innersten  Zusammenhang  des  Daseins  erfassen  wollte. 

>Der  Dichter  der  Völuspä«,  sagt  Olrik  an  anderer  Stelle3),  »hat 
wirklich  auf  dem  Standpunkt  gestanden,  von  dem  er  die  Welt  der  Äsen 
überschauen  konnte4).« 

nommen.  (Edv.  Lehmann  hatte  die  Freundlichkeit,  mich  auf  das  Werk  auf- 
merksam zu  machen).  Es  handelt  sich  in  Band  I.  besonders  um  das  Verhältnis  des 
Einzelnen  zur  Gesellschaft  (Frieden  und  Ehre)  und  zum  Schicksal  (Glück,  d.  h. 
Übereinstimmung  zwischen  Charakter  und  Leben);  vgl.  bes.  S.  123 f.  über  die  fast 
Schopenhauerische  Lehre  von  der  Bedingtheit  des  Schicksals. 

r)  Andreas  Heusler,  Völo  spö,  übersetzt  und  erläutert  Berlin  1887; 
E.  H.  Meyer,  Die  Völuspä,  Berlin  1889;  F.  Detter,  Völuspä,  her.  und  erklärt 
Wiener  Sitzungsber.  CXL,  V,  Wien  1899.  —  Man  setzt  sie  zumeist  .ins  10.  Jahr- 
hundert: H off  ory  nach  950,  Finnur  J  önsson  ins  9— 10.  Jahrhundert:  Oldnord. 
Lit.  Hist.  S.  133.  —  Für  die  Analyse  des  großen  Gedichts  tat  das  Wichtigste 
Müllenhoff,  D.  Altertumskunde  5, 4f;  ergänzend  Hoff  ory,  Eddastudien,  S.  17  f. 

2)  Nord.  Geistesleben  S.  102. 

»)  a.  a.  O.  S.  98. 

4)  Boer  (Ztschr.  f.  d.  Phil.  36,  289)  hat  den  Dichter  natürlich  in  zwei  Teile 
gespalten  (vgl.  S.  357);  aber  seine  hiermit  nicht  zusammenfallende  —  Ein- 
teilung nach  Strophen,  in  denen  in  erster  oder  dritter  Person  erzählt  wird  (S.  325)» 
ist  ein  rechtes  Beispiel  äußerlicher  »höherer  Kritik«. 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  443 

Das  Gedicht  genoß  bei  der  Nachwelt  kanonisches  Ansehen *)  und 
wurde  in  der  Edda  an  den  ersten  Platz  gestellt.  Eben  deshalb  ist  ihm,  wie 
ich  mit  Vielen  2)  annehme,  eine  eigentümliche  Auszeichnung  widerfahren : 
der  christliche  Sammler  empfand  die  Macht  dieses  heidnischen  Bekennt- 
nisses so  stark,  daß  er  durch  einen  christlichen  Schluß  ihm  die  Spitze 
abbrechen  zu  müssen  glaubte.  Bei  einem  kryptochristlichen  Gedicht,  wie 
Bugge  und  E.  H.  Meyer  es  aus  Reminiszensen  aufbauen,  die  ein  so  einheit- 
liches Werk  nie  hätten  ergeben  können,  wäre  diese  Verwahrung  über- 
flüssig gewesen. 

Das  Gedicht  ist  also  die  Tat  eines  Einzelnen,  und  wir  dürfen  es 
nicht  ohne  weiteres  als  nationales  Zeugnis  in  Anspruch  nehmen.  Aber 
nur  die  Durchdringung  der  gesamten  Weltentwicklung,  die  individuelle 
Bearbeitung  der  WelU  (im  Sinn  der  deutschen  Naturphilosophen)  gehört 
dem  Dichter  allein.  Der  allgemeine  Glaube  kannte  schwerlich  die  Ver- 
knüpfung von  Anfang  und  Ende,  sondern  nur  beides  für  sich.  Zwischen 
den  beiden  Polen  stand  ohne  besondere  Würdigung  die  Gegenwart, 
d.  h.  die  ganze  Weltgeschichte  in  unserem  Sinne:  fängt  doch  jenseits 
der  dritten  Generation  für  den  Primitiven  die  mythische  Zeit  an3). 

Wir  werden  also  annehmen  müssen,  daß  in  bezug  auf  jene  beiden 
Hauptmomente;  Schöpfung  und  Weltuntergang  (oder,  vom  Standpunkte 
mindestens  des  Gedichtes,  besser:  Schöpfung  der  ersten  und  der  zweiten 
Welt)  der  Dichter  sich  wesentlich  rezeptiv  verhält.  Dies  bestätigt  sich 
auch  bei  näherer  Prüfung;  doch  nur  in  dem  Sinne,  daß  er  unter  ver- 
schiedenen vorhandenen  Mythen  teils  die  ihm  am  meisten  zusagende 
wählt  (bei  der  Kosmogonie),  teils  einen  Zusammenhang  kombinatorisch 
herstellt  (bei  der  Eschatologie).  In  beiden  Fällen  aber  hat  er  wirklich 
ältestes  Gut  geborgen,  zum  Teil  direkt  eingearbeitet  (wie  die  vielleicht 
schon  in  indogermanischer  Zeit  geformten  Verse  vom  Chaos),  zum  Teil 
eigenartig  verwandt  (wie  vermutlich  den  als  Kehrreim  benutzten  Vers 
von  dem  bellenden  Hunde  Garm).  —  Die  Frage  endlich,  wie  weit  er 
auch  bei  seiner  eigentlichen  Tat,  der  Zusammenfügung  beider  Mythen  zu 
einer  pragmatischen  Biographie  der  Welt,  sich  auf  ältere  Anschauungen 
oder  Vorarbeiten  stützen  konnte,  werden  wir  am  Schluß  dieser  Darstellung 
zu  erörtern  haben. 

Es  ist  hier  noch  besonders  daran  zu  erinnern,  daß  wir  vom  mytho- 
logischen Standpunkt  zu  interpretieren  haben,  nicht  vom  literarhistorischen. 
Sichere  Interpolationen  haben  wir  natürlich  auszuscheiden,  im  übrigen 
aber  das  Gedicht  im  Wesentlichen  als  Einheit  zu  behandeln. 


1)  Vgl.  Olrik  S.  102. 

2)  Gegen  Hoffory  S.  119. 

3)  Wie  erinnern  an  die  jungen  Gebilde  der  drei  Nornen:  siehe  o.  S.  154. 


444  Sechstes  Kapitel. 

Von  jenen  beiden  Motiven  oder  Motivkreisen  nun  ist  der  Welt- 
untergang das  prius:  was  aus  ihnen  werden  wird,  interessiert  die  Leute 
immer  mehr,  als  wie  sie  geworden  sind.  Die  rückwärts  schauende  Pro- 
phetie  ist  erst  ein  später  Urenkel  der  vorausschauenden.  Dies  gilt  überall 
in  so  starkem  Maße,  daß  vielfach  die  Weltschöpfung  nach  dem  Muster 
des  Weltuntergangs  geformt  ist x) ;  doch  kommt  vereinzelt  auch  das  Gegen- 
teil vor.  —  Allerdings  kennen  viele  Mythologien  und  Religionen  (z.  B. 
die  der  Bibel)  wohl  die  Schöpfung,  aber  nicht  den  Weltuntergang;  aber 
das  liegt,  glaube  ich,  daran,  daß  sie  den  ursprünglichen  Weltuntergangs- 
bericht, die  Sintflut,  schon  historisiert  und  sozusagen  in  den  geschichtlichen 
Verlauf  eingeschluckt  haben.     Dies  aber  ist  eine  persönliche  Ketzerei. 

Die  Lehre  vom  Weltuntergang2). 

Es  gab  eine  urgermanische  Lehre  vom  einstmaligen  Untergang  der 
Welt,  wie  in  vielen  primitiven  Mythologien  (wenn  nicht  in  allen).  Ihre 
Urform  war  wahrscheinlich  die  vom  Verbrennen  der  Erde  (wie  im 
entscheidenden  Augenblick  der  Gigantomachie) 3),  jedenfalls  aber  irgendeiner 
elementaren  Zerstörung  der  Erde.  Eben  das  bedeutet  wohl  doch  mudspello, 
muspilli  —  nach  Olrik  ein  ursprünglich  christlicher  Ausdruck,  der  aus 
Deutschland  in  den  Norden  (muspell)  übernommen  sei.  —  Wärme  er- 
scheint als  Bedingung  des  Lebens 4) ;  der  Untergang  des  Lebens  wird  also 
entweder  durch  Überhitze  oder  durch  Kälte  herbeigeführt  —  zwei  Möglich- 
keiten, die  noch  die  physikalische  Eschatologie  unserer  Tage  erwägt5). 


*)  Frobenius,   Weltanschauung  der  Naturvölker,   Weimar  1898,  S.  358: 
eine  primitive  Schöpfungsmythe  (sie.)  gibt  es  nicht«. 

2)  Mogk  S.  381,  Golther  S.  531,  Meyer  S.  456f.  (der  alles  für  Nach- 
bildung christlicher  Mythen  hält,  wie  gemäßigter  auch  Chantepie  S.  202.353); 
vgl.  Meyer  S.  501.  Epochemachend  für  unser  Verständnis  der  eddischen  Be- 
richte Olrik,  Om  Ragnarok,  Kopenhagen  1902  (kritische  Referate  von  Rani  seh. 
Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1904  S.  457;  Golther,  Lit.-Bl.  f.  germ.-rom.  Phil.  1904 
S.  59;  Much,  Anz.  f.  d.  Alt.  49  (1908)  S.  153 f.;  Kahle,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch. 
8,  431  f.  9,  61  f.).  —  Zeugnisse :  zweifelhaft  das  althochdeutsche  Gedicht  Muspilli 
(MSD.  N.  I.  III.)  i  reinchristlich  auch  nach  der  sorgfältigen  Untersuchung  von 
G.  Grau,  Quellen  u.  Verwandtschaften  d.  älteren  germ.  Darstellungen  d.  Jüngsten 
Gerichts,  Halle  1908,  S.  2191,  vgl.  Lit.  S.  2801;  in  der  Edda  (Golther  S.  531) 
Vol.,  dazu  Val  und  Vol.  h.  sk.  (in  den  Hyndl.);  Gyll  cap.  35—51  (Gering 
S.  348 f)  ist  ganz  unselbständig.  —  Ich  folge  hier  nach  Möglichkeit  Olrik,  dem 
unerreichten  Meister  der  Quellenscheidung;  in  der  mythologischen  Interpretation 
müssen  wir  ihm  allerdings  öfters  widersprechen.  —  Für  die  Theogonie  und 
Eschatologie  allgemein  vgl.  Wundt  S.  4321  4531;  Leo  Frobenius,  Aus  d. 
Flegeljahren  d.  Menschheit,  Hannover  1901,  S.  300f;  für  die  Inder  noch  bes. 
Deussen,  Allg.  Gesch.  d.  Philologie,  Leipzig  1909;  2,  2821 

3)  Prell  er  1,  58.  4)  Vol.  Str.  18. 

5)  Svante  Arrhenius,  Die  Vorstellungen  vom  Weltgebäude  im  Wandel 
der  Zeiten,  Leipzig  1908. 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  445 

Im  Einzelnen  sind  drei  Varianten  vorhanden:  1.  Der  Weltbrand 
wird  von  Olrik *)  wohl  mit  Unrecht 2)  geleugnet.  Für  ihn  sprechen  nicht 
nur  die  —  von  Olrik  wohlbeachteten  —  Analogien  anderer  Mythologien, 
sondern  auch  —  trotz  seinen  scharfsinnigen  Ausführungen  —  die  ein- 
fachste Deutung  des  Unholdes  Surt,  der  freilich  auf  die  Völ.  beschränkt 
ist.  Aber  er  kommt  dort  in  einer  Weise  vor,  die  bei  einer  neuen  Er- 
findung so  schwer  erklärlich  wäre,  wie  sie  bei  Verwendung  einer  alten 
Figur  leicht  verständlich  ist. 

2.  Die  zweite  Variante  ist  der  Fimbulvetr,  Schreckenswinter3),, 
eine  spezifisch  nordische  Sage4).  Es  entsteht  unter  lokalen  Bedingungen  eine 
Art  nordischer  Sintflutsage,  wobei  zwei  Menschen,  Lif  und  Lifthrasir5) 
(zu  Ufa  leben)  sich  im  Gehölz  verbergen  (wie  das  Feuer  im  Rohr)  und 
Ahnherren  des  Menschengeschlechts  werden,  nach  der  Vergletscherung 
wie  Deukalion  und  Pyrrha  nach  der  großen  Flut. 

Die  »Rettung«  der  beiden  ersten  Menschen  unserer  Urgeneration  ist,  mytho- 
logisch betrachtet,  nichts  anderes,  als  eine  wiederholte  Schöpfung  der  Menschen. 
Eine  rationalistische  Kombination  verschiedener  Schöpfungssagen  ist  bei  dem 
typischen  Vorkommen  der  »zweiten  ersten  Menschen«  nicht  wahrscheinlich.  Viel- 
mehr brachte  wohl  ursprünglich  die  Erde  nach  der  Zerstörung  die  neuen  Menschen 
selbst  hervor,  etwa  wie  dem  Wölund  die  Flügel  wieder  zu  wachsen  scheinen. 
Und  nur  hierauf,  glaube  ich,  bezieht  sich  die  vielverbreitete  Sage  vom  Ursprung 
der  Menschen  aus  Baum  oder  Stein6).  In  primären  Schöpfungssagen  kommt 
der  Baum  nur  bei  den  Ariern  vor7)  und  wohl  auch  nur  bildlich8).  Die  alte 
Frage  aber:  ov  ya.Q  dnb  figubg  iaai  ovd*  dnb  7Z£tqt)s,  von  Baum  oder  Stein  stammst 
du  doch  wohl  nicht  ab?,  bezieht  sich  auf  die  neue  Entstehung.  Spuren  der 
gleichen  Sage  bei  den  Juden:  »die  Israeliten  sagen  zum  Holz  ,du  bist  mein 
Vater'  und  zum  Stein  ,du  hast  mich  gezeugt'9).  Überall  diese  Doppelung:  Holz 
und  Stein;  vielleicht  auch,  weil  beide  Feuer  hegen  können?  —  Kleine  Variante 
in  Indien:  tsybg  yd/uog  zwischen  Stein  und  Staude,  eines  (donnerkeilartigen)  runden 
Kiesels  und  einer  heiligen  Staude  (deren  Form  vielleicht  an  Genitalien  er- 
innert?)10). 

Deshalb  nennen  sich  altersstolze  Völker  Kinder  der  Bäume  und  Gesteine11): 
nur  Baum  und  Stein  bleiben  nach  der  Flut  übrig;  aus  ihnen  bringt  die  Schöpfungs- 
kraft Menschen  hervor.  —  Wenn  also  Usener12)  mit  vollem  Recht  sich  selbst  ver- 


3)  S.  195 f.  -)  Vgl.  Ranisch  S.  458.  3)  Olrik  S.  J'67f. 

4)  Much  (a.  a.  O.  S.  156)   sieht  gewiß  mit  Unrecht  in  dem  Gott  Uli  eine 
Verkörperung  dieser  götterfeindlichen  Macht. 

6)  Vaf.  Str.  45.    Die  Namen  sind  gewiß  jung. 

6)  Vgl.  z.  B.  Golther  S.  526  und  bes.  Müllenhoff,  D.  Alt.  5,  15. 

7)  Lukas,  Die  Kosmogonien,  S.  253. 
s)  Ebd.  S.  91. 

9)  Jer.  2,  27;  anders  gedeutet  Giesebrecht,  Israel.  Rel.-Gesch.,  S.  31. 
10)  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  377;   vgl.  Eißler,  Südd.  Monatshefte,  Dez.  1909, 
S.  646,  und  bes.  Kuhn,  Mytholog.  Studien  1,  92. 

n)  Vgl.  J.  A.  Frantzen  in  Kuhns  Ztschr.  42,  330. 
12)  Sintflutsagen  S.  245. 


446  Sechstes  Kapitel. 

bessert:  das  Menschengeschlecht  zu  erneuern  oder  vielmehr  zu  erschaffen  ,  so 
hat  er  dabei  mit  Recht  gerade  auf  die  uralte  Sage  von  Deukalon  und  Pyrrha  ver- 
wiesen (man  denke  auch  an  die  Drachensaat  des  Kadmus).  Wohl  melden  auch 
Indianermythen  die  Neuschöpfung  durch  Werfen  von  Steinen1);  ursprünglich  aber 
warfen  wohl  die  Steine  den  neuen  Adam  und  die  neue  Eva  aus.  Und  ebenso, 
um  zum  Schluß  zu  kommen,  bedeutet  das  >  Verbergen  im  Gehölz«  nichts  anderes 
als  ein  Wachsen  an  den  Bäumen.  Du,  Erde,  warst  auch  diesesmal  beständig« : 
die  gerettete  Erde  schafft  weiter.  (»Allah  braucht  nicht  mehr  zu  schaffen  —  wir 
erschaffen  seine  Welt« 2). 

3.  Das  Chaos  kehrt  wieder.  Zwei  Urformen  sind  zu  scheiden: 
"die  Erde  sinkt  ins  Meer  —  nachdem  die  Götter  sie  im  Anfang,  wie  auch 
die  Sonne3),  befestigt  hatten4)  oder  die  Sonne  wird  verschlungen5).  Dies 
ist  ein  häufiger  Zug  am  Atlantischen  Ozean  und  bei  vielen  Inselvölkern, 
auch  Kelten.  Die  Sonne  sinkt  ja  täglich  ins  Dunkel:  am  Ende  der  Tage 
versinkt  sie  dabei  endgiltig. 

Diese  drei  Mythen:  Untergang  der  Welt  durch  Feuer  —  Kälte  — 
Rückkehr  ins  dunkle  Chaos  (denn  das  ist  doch  gemeint)6)  können  neben- 
einander laufen;  gerade  in  solchen  Gebieten  sind  Doubletten  häufig  (wie 
bei  der  Schöpfung:  Genesis!).  Jede  von  ihnen  läßt  die  Möglichkeit  einer 
Neubildung  der  Welt  zu.  Jede  ist  weiterer  mythologischer  Einkleidung 
fähig.  Das  Feuer  verkörpert  sich  in  einem  (feuerspeienden)  Drachen,  die 
Auflösung  des  Himmelsgewölbes  und  der  sie  tragenden  Erde  in  Sonnen- 
wölfen und  Midgardsschlange ;  oder  die  Dämonen  des  verzehrenden  Feuers 
und  der  erschöpfenden  Kälte  erhalten  ihre  Kollektivdämonen  in  Surt  (später 
zum  Teil  durch  Loki  verdrängt)  und  Hrym.  In  jedem  Fall  müssen  die 
erhaltenden  und  zerstörenden  Mächte  sich  in  einer  letzten  großen  Schlacht 
messen,  wie  in  der  hellenischen  Gigantomachie  oder  dem  letzten  Krieg 
der  Ormuz-Religion.  Das  fordert  die  mythologische  Logik,  so  gut  wie 
die  heroische  einen  letzten  Entscheidungskampf  verlangt,  eine  Bravalla- 
schlacht  oder  eine  Nibelungennot. 

Im  Einzelnen  bleibt  also  noch  Raum  genug  zur  Gestaltung;  und  so 
wird  es  wohl  zutreffen,  was  Olrik7)  ausführt:  daß  die  entsprechende  keltische 
Mythe  von  der  Götterschlacht  auf  die  germanische  eingewirkt  hat 8). 
Ebenso  oder  noch  bestimmter  wird  man  jedoch  einen  Einfluß  der  Helden- 
sage annehmen  müssen ;  so  vor  allem  in  jener  Auflösung  der  Schlacht  in 
Zweikämpfe,    auf    die    Roethe    in    seiner   geistreichen    Erschließung    des 


x)  Usener  a.  a.  O.;  Andree,  Die  Flutsagen,  S.  182.  183. 

3)  Olrik  führt  die  Erneuerung  auf  Wiedergeburt  zurück ;  vgl.  R  a  n  i  s  c  h  S.  460. 

3)  Vol.  Str.  4—5.  4)  Vol.  Str.  57. 

5)  Völ.  Str.  40;  vgl.  Vaf.  Str.  56. 

6)  Vgl.  Saxo  S.  262,  Hermann  S.  350. 

7)  S.  212. 

8)  Einschränkungen  im  einzelnen  bei  Much  S.  155. 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  447 

lateinischen  Nibelungenliedes1)  so  großes  Gewicht  legt,  die  aber  typisch 
zu  sein  scheint2).  Wenn  die  letzte  Entscheidung3)  durch  das  Feuer 
gegeben  wird,  die  Lohe  zum  Gewölbe  aufschlägt  und  die  Götter  (muß 
man  annehmen)  ersticken,  so  mag  hier  das  im  Epos  (und  der  isländischen 
Saga)  beliebte  Motiv  des  Saalbrandes  einwirken4).  Wenn  ferner  außer 
Hönir  (mit  dem  es  seine  eigene  mythologische  Bewandtnis  hat)  nur  zwei 
junge,  bisher  unbekannte  Götter  Ragnarok  überleben  (denn  Balder  und 
Hod  kommen  ja  aus  Hei  zurück),  so  erinnert  das  an  den  typischen  Zug 
der  Heldensage,  daß  bei  der  Ausrottung  des  ganzen  Geschlechts  Ein 
Knabe  am  Leben  bleibt5):  so  bei  den  Völsungen,  den  Fabiern,  bei  dem 
vornehmen  venetianischen  Patriziergeschlecht  der  Giustiniani 6). 

Diesen  Stand:  Kombination  der  Mythen  (Surt  und  das  Feuer,  Fenris- 
wolf  und  die  Sonne)  in  gleichsam  annalistischer  Aufzählung  zeigt  etwa 
das  Gedicht  Vafthrudnismäl7),  das  sehr  alte  Überlieferung  mit  jedenfalls 
junger  Sage  vereint  zeigt8).  Die  Völ.  aber  ersetzt  nicht  nur  das  Staccato 
durch  ein  Legato,  sie  bringt  auch  Neues  hinzu. 

Mit  Wahrscheinlichkeit  können  wir  dem  Dichter  der  Völ.  zuschreiben: 
erstens  die  Ausmalung  der  Götter  seh  Facht;  insbesondere  die  Aus- 
führung der  —  an  sich  wohl  größtenteils  alten  —  Vorzeichen.  Das 
Ungeheuerste  geschieht:  die  Sippe  löst  sich9),  der  Weltbaum  bebt10). 
Dazu  akustische  Signale:  außer  Heimdalls  Hörn  noch  die  Harfe  seines 
Gegenbildes,  des  Unterweltwächters  Eggther  —  wobei  die  Absicht,  die 
Musik   zu   vervielfältigen,   recht  deutlich  wird;    die  beiden  Hähne  krähen 


*)  Nibelungias  und  Waltharias,  Berl.  Sitzungsber.  1909  S.  673. 

-)  Man  vgl.  z.  B.  in  der  Ilias  den  entscheidenden  Kampf  an  den  Schiffen, 
auf  den  übrigens  auch  wie  im  Nibelungenlied  der  Brand  folgt.  —  Olriks  Meinung, 
die  Kämpfe  zwischen  Loki  und  Heimdall,  Frey  und  Surt  seien  Erdichtungen 
Snorris,  hat  trotz  Muchs  Widerspruch  (S.  160)  viel  für  sich:  die  pointierte  Gegen- 
überstellung des  Schließers  und  Eröffners  (die  freilich  schon  in  der  Volkssage 
persönliche  Gegner  geworden  waren),  der  milden  Wärme  und  der  versengenden 
lHitze  schmeckt  nach  gelehrter  Theologie.  Aber  Snorri  vervollständigt  damit  nur 
die  Völ.  Str.  53 — 55  gegebene  Tendenz  —  gerade  wie  in  Ilias  oder  Nibelungen- 
lied solche  Anregungen  pedantisch  fortgeführt  werden. 

8)  Völ.  Str.  67. 

4)  Vielleicht  deutet  der  Endreim  in  der  hierher  gehörigen  Str.  52  (vgl 
Heinzel-Detter  2,  70)  auf  Benutzung  volkstümlicher  Dichtung;  vgl.  auch 
ebd.  S.  76  zu  Str.  57. 

5)  Das  Schema    alle  außer  — «  vgl.  o.  S.  18. 

6)  Kretschmayr,  Geschichte  Venedigs  I,  Gotha  1905,  S.  257. 

7)  Ranisch  S.  461. 

9)  Daher  auch  das  Schwanken  der  Datierung:  930 — 950  Sijmons,  10.  Jahr- 
hundert FinnurjönssonS.  141,  1030—1050  Heusler,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  270. 
Alle  gute  Tradition  aus  der  Völ.  abzuleiten,  geht  meines  Erachtens  durchaus 
nicht  an. 

9)  Völ.  Str.  45.  10)  Völ.  Str.  47. 


448  Sechstes  Kapitel. 

sich  im  Kampf  an ;  und  all  dies  übertönt  in  kunstreicher  Fuge x)  der 
Hund  der  Hei.  Zweitens  die  Auflösung  des  Einen  dämo- 
nischen Heeres  in  drei  Haufen  unter  Surt,  Hrym,  Loki  mit  Ver- 
teilung auf  drei  Weltrichtungen 2).  Drittens  die  Verknüpfung  der  Vor- 
bereitungen auf  den  Weltuntergang  mit  Balders  Tod.  Wir  vermuteten 
wenigstens,  daß  ursprünglich  eine  dämonische  Provokation  unmittelbar! 
zu  diesem  Kampf  geführt  hatte3),  was  wohl  auch  mehr  dem  Geist  alter 
Mythologie  entspricht:  Balder  wird  ja  gerächt,  was  brauchts  da  mehr? 
Nun  aber  wird  Balders  Tod  zum  Angelpunkt  der  Entwicklung  gemacht, 
wie  etwa  in  der  Ilias  der  Zorn  des  Achilleus.  Gleichzeitig  wird  damit 
zu  der  ersten  Provokation,  der  der  Wanen  durch  Thor4),  ein  wirksames 
Gegenbild  geliefert. 

4.  Was  das  Wichtigste  ist:  die  ethische  Motivierung.  Ganz 
braucht  sie  nicht  von  ihnm  zu  stammen;  denn  fast  bei  allen  Sintflutsagen  hat 
sie  sich  eingestellt5).  Aber  die  strenge  Verbindung  von  Schuld  und  Strafe 
gehört  wohl  erst  diesem  Denker;  früheren  genügte  eine  Provokation  der 
Bösen.  Die  Völ.  erst  gibt  wie  die  biblische  Schöpfungsgeschichte6)  »die 
Durchdringung  eines  gegebenen  Stoffes  mit  theologischen  Gedanken«.  — 
Wie  der  Dichter  überhaupt  gern  nach  der  Dreizahl  gliedert7),  was 
besonders  der  Garm-Gegenrefrain 8)  markiert,  so  gibt  er  auch  den  Sünden - 
fall  der  Götter  in  drei  Abteilungen: 

1.  Die  Götter  verletzen  das  Recht  im  Wanenkrieg,  und  zwar  wiederum 
dreimal :  erstens  durch  die  Tötung  der  —  freilich  verderblichen  —  Gullveig- 
Heid;  alle  Äsen  beteiligt.  Zweitens  Odin  schleudert  voreilig  den  Speer; 
drittens  Thor  schlägt  voreilig  zu:  beide  Hauptgötter  unterbrechen  eigen- 
willig die  Verhandlungen  der  Götter.  —  Hier  ist  zweierlei  kaum  zu  ver- 
kennen :  zunächst  der  Versuch,  den  Wanenkrieg  überhaupt  auf  ein  höheres 
Niveau   zu  heben.     Ursprünglich  war  es9)  ein  Konkurrenzkampf  um  den 


r)  Vgl.  die  Refrainzeilen  in  den  Rig. 

2)  Olrik  S.  278;  vgl.  Ranisch  S.  462.  Philpotts  (Ark.  f.  nord.  Fil.  21,  29) 
will  Surts  Kommen  von  Süden  geographisch  deuten:  im  Süden  Islands  liegen  die 
Hauptvulkane. 

3)  Lok.;  vgl.  o.  S.  295. 

4)  Völ.  Str.  26,  vgl.  Str.  24.  Ebenso  dient  der  Schuß  des  Pandaros  lediglich 
der  epischen  Entwicklung  (Bethe,  Hektors  Abschied,  Leipzig  1909,  S.  415 f.); 
wobei  auch  an  wirkliche  Erfahrungen  zu  denken  ist,  wie  etwa  an  die  Schüsse 
vom  18.  März  1848  und  ihre  Wirkung.  Noch  Bismarck  weist  (bei  M.  Busch) 
darauf  hin,  wie  aus  den  Schüssen  von  ein  paar  Vorposten  eine  große  Schlacht 
entsteht. 

5)  Vgl.  Usener  a.  a.  O.  S.  201  f. 

6)  Holzinger,  Genesis,  S.  17. 

7)  Vgl.  Olriks  Gesetz  Zschr.  f.  d.  Alt.  51,  4. 
s)  Str.  44.  49.  58. 

9)  Wie  Str.  23  noch  verrät. 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  449 

Opfergenuß:  der  Dichter  verbindet  den  Krieg  mit  der  uralten  Legende 
wm  Fluch  des  Goldes  *)  und  macht  aus  den  Äsen  berechtigte  Vertreter 
einer  nur  in  den  Mitteln  sich  vergreifenden  Abwehr.  Ferner:  die  Schuld 
»oll  auf  möglichst  viele  Schultern  verteilt  werden;  es  ist  denkbar,  daß 
ursprünglich  nur  Thors  Heftigkeit  den  Vertrag  hinderte  —  er  mag  den 
Wanen  wie  in  der  Lok.  dem  Loki  gedroht  haben. 

Dies  ist  die  erste  Sünde:  der  Vertragsbruch,  der  Meineid  —  schon 
in  der  Urzeit 2)  die  schwerste  Schuld  —  und  nun  von  den  Gesetzeshütern, 
den  Göttern,  begangen3)! 

2.  Die  Götter  verletzen  das  Recht  bei  Balders  Ermordung:  Brüder  fällen 
inander,  denn  mindestens  als  Äsen  sind  Hod  und  Balder  versippt.    Dies 

ist  die  zweite  Sünde:  die  Zerstörung  der  Sippe.  Die  erste  Schuld  wird 
durch  Frieden  beglichen ;  kein  böser  Dämon  ist  unmittelbar  beteiligt,  denn 
Gullveig  ist  nur  Opfer.  Die  zweite  wird  durch  Rache  getilgt;  aber  die 
bösen  Dämonen  haben  schon  ihren  Weg  ins  Innerste  der  Ordnung  ge- 
funden und  Loki  muß  gefesselt  werden4). 

3.  Die  Götter  verletzen  endlich  das  Recht  bei  Beginn  der  Wolfzeit: 
sie  hüten  nicht  mehr  die  ihnen  anvertraute  Menschheit,  lassen  als 
»schlechte  Hirten  Unzucht,  Verwandten mord,  Lösung  aller  Bande  frommer 
Zucht  zu5). 

Das  ist  die  dritte  Sünde:  der  Gefolgsherr  läßt  seinen  comitatus*) 
im  Stich.  Die  Schlechtigkeit  ist  in  das  Herz  der  Welt,  in  die  Götter- 
gemeinschaft, eingedrungen.  Da  gibt  es  weder  Vertrag  mehr  noch  Rache : 
jetzt  gilt  es  den  endgültigen  Kampf  zwischen  Gut  und  Böse;  und  nur 
die  Austilgung  aller  Beteiligten  kann  eine  neue  Welt  ermöglichen.  Die 
alten  Götter  leben  dann  fern  von  unserer  Welt  in  den  Elysischen  Feldern 

*)  Vgl.  o.  S.  343.     Man  denke  auch  an  Pandora. 
-')  Vgl.  Str.  39. 

3)  Die  seltsame  Nachricht  Saxos,  daß  Tosto  als  Erster  beim  Würfelspiel 
-dnen  Gegner  erschlug  (S.  35,  Herrmann  S.  43;  vgl.  allgemein  Tacitus 
perm.  cap.  22),  mit  Vol.  Str.  8  kombiniert,  ergibt  vielleicht  einen  alten  Mythus 
olaß  Gullveig  die  Götter  zum  Spiel  um  Gold  reizte  und  hierbei  der  erste  Mord 
geschah  (Sigtrygg  kann  nur  mit  Gold  getötet  werden:  Saxo  S.  17,  Herr- 
mann S.  21. 

4)  In  der  Schilderung  der  Fesselung  Lokis  (Völ.  Str.  35)  hat  der  Dichter 
bewußt  vereinfacht,  denn  die  Gestalt  der  Sigyn  setzt  jene  märchenhafte  Aus- 
malung der  Gefangenlegung  wohl  schon  voraus,  die  wir  bei  Snorri  (Gylf.  cap.  50: 
Gering  S.  347;  vgl.  Golther  S.  351.  421;  Meyer  S.  399.  454;  v.  d.  Leyen, 
Festschr.  f.  Kelle,  S.  lf.;  Kaarle  Krohn,  Finnisch-ugrische  Forschungen  7,  129) 
finden.  —  Merkwürdig,  daß  bei  Sigyn  noch  niemand  an  christlichen  Einfluß  ge- 
ldacht hat,  den  wir  allerdings  (vgl.  o.  S.  349)  auch  hier  ablehnen  müßten.  — 
Über  das  Erdbeben  als  Folge  der  schmerzhaften  Umwälzungen  Lokis  vgl.  o.  S.  337. 

5)  Str.  45. 

»6)  Germ.  cap.  13—14. 
Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  29 


450  Sechstes  Kapitel. 

und  träumen  ihre  Jugend  noch  einmal  x) ;  die  Menschenwelt  aber  ge 
hört  den  Opfern  der  zweiten  Katastrophe 2)  und  der  reinen  Göttet 
jugend. 

Dieser  tiefgreifend  durchdachte  Aufbau  kann  nur  Einem  gehören 
aber  Vorstufen  zu  seinem  Tempel  liegen  überall :  in  der  moralischen  Ent 
rüstung  über  Geld  und  Habsucht  —  zu  der  in  der  Zeit  der  nach  Schat 
gierigen  Wikinger  Anlaß  mehr  als  genug  war3);  in  der  ethischen  Aus 
bildung  des  Baidermythus;  in  dem  wachsenden  sozialen  Verantwortlichkeits 
gefühl,  das4)  Odins  Ungerechtigkeit  schilt  und  die  Könige  zu  Odin  un< 
Heimdall  in  die  Lehre  gibt. 

Die  wichtigste  Frage  freilich  ist  die,  wie  weit  überhaupt  die  dno 
xardoraoig,  die  Wiederbringung  der  verlorenen  Güter,  volkstümliche  An 
schauung  war.  Doch  läßt  sich  kaum  bezweifeln,  daß  sie  es  war 
Vaf.  Str.  39  läßt  Njord  zu  den  Wanen  heimkehren ;  Vaf.  Str.  54  läßt  Odii 
das  Wort  in  Balders  Ohr  raunen,  was  nur  bei  seiner  dereinstigen  Wieder 
kehr  einen  Sinn  hat;  und  beides  kann  kaum  Erfindung  der  Vaf.  sein 
Ferner  spricht  die  Analogie  der  zahllosen  Sintflutsagen  dafür,  die  all 
nach  der  Weltzerstörung  ein  neues  Geschlecht  beginnen  lassen ;  schließlic! 
das  psychologische  Bedürfnis  der  Menschen  nach  Versöhnung  und  di 
Erwartung  besserer  Zeiten  überall5). 

Eine  Reihe  weiterer  Eigenheiten  der  Vol.,  besonders  auch  in  Bezu^ 
auf  die  Kampfschilderung,  deckt  Olrik6)  auf;  insbesondere  rechnet  er7 
Heimdalls  Hörn  hierher,  dessen  Ton  er  für  Nachahmung  des  christlicher 
Posaunenstoßes  vor  dem  jüngsten  Gericht  erklärt  —  schwerlich  mit  Recht 
wie  Ranisch8)  gut  zeigt. 

Schließlich  bleibt  noch  das  Problem,  wodurch  der  Dichter  der  Völ 
in  seinen  Neuerungen  beeinflußt  wurde?  Olrik  stellt9)  eine  etwas  be 
ängstigende  Liste  der  heidnischen  (zum  Teil  persischen,  keltischen),  heidnisch 
christlichen  und  christlichen  Bestandteile  auf  und  unterschätzt,  wie  ich 
glaube,  überall  die  Möglichkeit  ursprünglicher  Übereinstimmungen.  Den1 
Dichter  der  Völ.  insbesondere  schreibt  er  christliche  Gedanken  zu  be 
dem  Verderbnis  der  Menschheit,  dem  Hornstoß  Heimdalls,  dem  Ver 
löschen  der  Gestirne,  dem  Weltbrand  —  alles  Punkte,  in  denen  wir  ihm  10 
nicht  folgen  können         und  endlich  in  zwei  Momenten,   die  sich  auf  di< 


*)  Str.  60. 

2)  Denn  seit  Loki  der  Urheber  der  Tat  ward,  ist  auch  Hod  ein  Opfer. 

8)  Olrik  (Altnord.  Leben,  S.  74)  erinnert  an  San  Francisco  oder  Klondyke 

4)  Lok.  Str.  22. 

5)  Scholl,  Die  Messiassagen,  Hamburg  1852,  bes.  S.  47. 

6)  S.  267  f.,  bes.  S.  271  f.  7)  S.  274. 
8)  a.  a.  O.  S.  462.           9)  S.  289. 

10)  Zum  Teil  gegen  Golther;  Ranisch  S.  463. 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  45 1 

neue  Welt  beziehen :  die  Halle  der  Seligen  und  die  Ankunft  des  Mächtigen. 
Und  damit  stehts  wohl  anders  als  mit  den  anderen  Punkten. 

Die  Lehre  von  der  neuen  Welt. 

Die  Lehre  vom  Weltuntergang  scheint  also  urgermanisch,  ist  jeden- 
falls urnordischer  Besitz.  Das  alte  Wort  dafür,  ragnarök ,  Schicksale 
der  Götter1)  wird  früh  in  ragna  rökkr2)  Finsternis  der  Götter 
(»Götterdämmerung«  nach  Simrocks  verhängnisvoller  Übersetzung)  ver- 
drängt8): die  Paradoxie,  daß  die  hellen  Götter  in  die  Finsternis  stürzen, 
war  verlockend. 

Die  Lehre  vom  Auftauchen  einer  neuen  Welt  haben  wir  für  alt 
gleichfalls  erklären  zu  müssen  geglaubt  —  nicht  wegen  des  Glaubens  an 
die  Wiedergeburt4),  die  hier  übrigens  schon  deshalb  ausgeschlossen  scheint, 
weil  die  alten  Götter  ja  noch  leben,  wenn  auch  »emeritiert«  auf  Idafeld. 
1  Auffallend,  wenn  auch  motiviert,  bleibt  immerhin,  daß  gerade  die  Lieblings- 
götter —  außer  Balder  —  in  der  künftigen  Welt  verschwinden.  Aber 
Balders  Wiedergeburt  war  durch  seinen  Mythus  (wie  durch  den  des 
Osiris,  Adonis  usw.)  gefordert;  sonst  käme  wohl  überhaupt  eine  neue 
Götterwelt. 

Daß  aber  diese  neue  Götterwelt  selbst  von  Einem  allgewaltigen 
höchsten  Herrscher  und  Gerichtsherrn  regiert  werden  soll,  folgt  so  wenig 
aus  den  mythologischen  Voraussetzungen  der  Vol.,  daß  es  ihnen  vielmehr 
widerspricht.  Wir  müssen  hier5)  an  den  christlichen  Gott  denken.  Er 
tritt  die  Herrschaft  an  —  Nidhögg,  der  alte  Drache6),  vertilgt  die  Leichen 
des  Kampffeldes,   und   auf   reiner  Erde  wird  ein  anderer  Gott  herrschen. 

Christlicher  Einfluß  ist  wohl  auch  in  der  Halle  der  Seligen  GimU 
(»Edelsteindach«)  zuzugeben.  Es  ist  gewiß  ein  Gegenbild  zu  Walhöll, 
aber7)  in  christlicher  Auffassung  als  Belohnung  für  die  Guten8). 

Diese  Strophe  spricht  man9)  dem  Dichter  ab;  mit  gutem  Recht,  nur 
muß  man  dann  auch  die  anderen  christianisierten  Strophen  für  Zusatz 
eines  vorsichtigen  Sammlers  halten  10).    Olrik  war  früher  geneigt,  sie  dem 

1)  Vol.  Str.  44,  Veg.  Str.  14  u.  ö. 

2)  Lok.  Str.  39;  Snorra  Edda. 

3)  Vgl.  Müllenhoff,  H.  Z.  16,  146;  Golther  S.  537,  1. 

4)  Vgl.  Rani  seh  S.  461  gegen  Olrik. 

5)  Wie  Hyndl.  Str.  45;  vgl.  Heinzel-Detter  2,  80. 

6)  Str.  66-39. 

7)  Vgl.  Heinzel-Detter  2,  81. 

")  Vgl.  Gylf.  cap.  3:  Gering  S.  300.  Immerhin  ist  darauf  hinzuweisen,  daß 
auch  die  vedische  Mythologie  einen  Himmel  für  die  Guten  und  eine  Hölle  für 
die  Bösen  entwickelt  hat  (Macdon eil  S.  167),  unter  priesterlichem  Einfluß,  der 
das  schließlich  auch  bei  den  Germanen  bewirken  konnte. 

9)  Heinzel-Detter  a.  a.  O. 

10)  Bedenken  äußert  Heusler,  Ztschr.  d.  V.  f.  Volksk.  1902  S.  237. 

29* 


452  Sechstes  Kapitel. 

Dichter    zu   belassen ,    spricht    sich    jetzt  aber   auch    für    dessen    Heiden- 
tum aus. 

Endlich  ist  noch  die  viertletzte  Strophe  zu  bedenken.  Über  die  jungen 
Götter  der  Zukunft  herrscht  Unsicherheit;  nach  Vaf.  Str.  51  sind  es  die 
Rächer  Widar  und  Wali  neben  Thors  Söhnen  Modi  und  Magni1);  aber 
Widar  und  Wali  sollen  Söhne  Odins  sein,  und  Thor  ist  kein  Bruder 
Odins.  Daß  die  beiden  Hauptgötter,  obendrein  die  Hauptschuldigen 
am  Wanenkrieg,  durch  ihre  Söhne  ersetzt  werden2),  leuchtet  ein;  was 
aber  bedeutet  Völ.  Str.  63:  die  Söhne  von  Tveggis  (d.  h.  Odins) 
Brüdern«? 

Brüder  Odins  gibt  es  nur  nach  Snorri3),  denn  in  der  offenbar  von 
ihm  benutzten  Strophe  Lok.  26  steht  kein  Wort  von  ihrer  Brüderschaft; 
da  stehen  beliebige  Buhler,  und  gleich  zwei,  um  die  Schmach  zu 
häufen  —  wie  Freyja  mit  ihrem  Bruder  und  Njord  mit  seiner  Schwester 
gebuhlt  haben  soll.  (Die  Namengruppe  Frey-Freyja  half;  und  sollte  zu 
Njord  das  alte  Feminium  nicht  auch  noch  gelebt  haben?).  —  Aber  der  Dichter 
von  Völ.  Str.  63  hat  wohl  sicher  an  Wili  und  We  gedacht,  die  er  um  des 
Gleichklangs  willen  zu  Eltern  Walis  und  Widars  machte,  während  von 
Neffen  Odins  nichts  bekannt  ist.  Und  somit  dürften  auch  diese  Verse 
ein  Zusatz  Snorris  sein,  der  mit  der  Dreiheit  Odin — Wili — We  zu  dem 
christlichen  Gott  überleitet  und  vielleicht  schon  den  Namen  Tveggi  für  Odin 
absichtlich  wählte,  um  auf  den  Einen  Gott  in  drei  Personen  vorzu- 
bereiten. 

Die  Lehre  von  der  Weltschöpfung4). 

Tacitus  berichtet:  >die  Germanen  feiern  in  alten  Liedern  .  .  .  den 
Tuisto,  einen  aus  der  Erde  hervorgewachsenen  Gott  (deum  terra  editum) 
und  seinen  Sohn  Mannus  als  Ursprung  und  Begründer  ihres  Volkes*. 
Manno  hat  dann  weiter  drei  Söhne,  Ing,  Irmin,  Isto5).  —  Daß  der  erd- 
geborene  Begründer  und  Ahnherr  der  Germanen  zugleich  als  der  erste 
Mensch  galt,  hat  man  mit  Recht  bezweifelt. 


1)  Vgl.  Gylf.  cap.  53:  Gering  S.  351. 

2)  Mit  »Zwillingsbildung«,  vgl.  Olrik,  H.  Z.  51,  6. 

3)  Gylf.  cap.  6:  Gering  S.  302;  Ynglingas  cap.  3  vgl.  Golther  S.  306.  355 ; 
Heimskr.  S.  5  vgl.  Heinzel-Detter  2,  256. 

*)  Mogk  S.  376 f.,  Golther  S.  509,  Meyer  S.  441  f.,  Chantepie  S.  338 f. 
Allgemein  vgl.  Lukas,  Die  Grundbegriffe  in  den  Kosmogonien  aller  Völker, 
Leipzig  1893;  Gunkel,  Genesis,  S.  1131;  Holzinger,  Genesis,  S.  19f.  — 
Für  wesentlich  verfehlt  halte  ich  E.  H.  Meyer.  Die  eddische  Kosmogonie;  vgl. 
auch  Bugge.  Ark.  f.  nord.  Fil.  19,  9 f.  —  Zeugnisse:  die  wichtigsten  sind  der 
Bericht  des  Tacitus  (Germ.  cap.  2);  eddische  Berichte  und  zwar  in  der  Lieder- 
Edda  (Vol.,  Vaf.  Str.  20f.,  Grim.  Str.  40 f.)  und  der  Prosa-Edda  (Gylf.  cap.  41: 
Gering  S.  3001;  cap.  14:  S.  308). 

8)  Vgl.  o.  S.  189. 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  453 

In  den  Eddaliedern  finden  wir,  und  zwar  in  der  Völuspä  folgendes: 
Auf  die  Schilderung  des  Chaos  —  »als  Ymir  lebte«  —  folgt  die  Schöpfung 
durch  »Burs  Söhne«.  Wer  ist  das?  Snorri  antwortet1):  Odin,  Wili  und  We; 
und  er  hat  für  Bur  noch  einen  Vater  Buri,  den  Sohn  der  Kuh  Audumla. 
Außerdem  wird  noch  in  der  Völ.  h.  sk.2)  Odin  »Burs  Erbe«  genannt. 
Aber  »Bur«,  der  Erzeugte,  hat  nach  Golthers  treffender  Bemerkung3)  »gar 
nicht  den  Wert  eines  Eigennamens«.  Bur  ist  der  Erzeugte  xut*  #?o;$r, 
primigenitus\  wer  das  ist,  bleibt  noch  zu  untersuchen.  Die  drei  aber 
sind  offenbar  jene  drei,  die  Str.  18  als  bekannt  vorausgesetzt  werden:  Odin, 
Hönir,  Lödur.  Von  Snorris  Dreieinigkeit  können  wir  ruhig  absehen.  — 
Burs  Söhne  also  heben  die  Erde  empor  —  gewiß  eine  spätere  Nach- 
bildung, ihrem  schließlichen  Versinken  korrelat  —  und  befestigen  die 
Gestirne,  eine  Schilderung,  bei  der  auf  urindogermanischer  Grundlage4) 
spezifisch  nordische  Einwirkungen  5)  folgen ;  christliche  sind  dagegen  nach 
Lukas'  einsichtiger  Auseinandersetzung6)  abzulehnen.  —  Die  »Götter  alle« 
sind  nun  auf  einmal  da;  beraten,  bauen,  erschaffen7)  die  Menschen,  indem 
sie  die  aus  Meer  und  Erde  gewordenen  (»»am  Meerstrand  auf  freiem 
Felde  gefundenen«)  noch  leblosen  Vormenschen  Ask  und  Embla  be- 
seelen). 

Die  Vafthrüdnismäl  Str.  20 f.  erzählen:  aus  dem  Fleisch  des  Urriesen 
Ymir  wird  die  Erde  geschaffen,  die  Berge  aus  seinem  Gebein,  der  Himmel 
aus  dem  Schädel,  das  Meer  aus  seinem  Blut.  Ausführlicher  noch  Grfmnis- 
mäl  Str.  40: 

Aus  Ymis  Fleisch  ward  die  Erde  geschaffen, 

Aus  dem  Blute  das  brausende  Meer, 

Die  Berge  aus  dem  Gebein,  die  Bäume  aus  den  Haaren. 

Aus  dem  Schädel  das  schimmernde  Himmelsdach. 

Doch  aus  seinen  Wimpern  schufen  weise  Götter 

Midgard  dem  Menschengeschlecht, 

Aus  dem  Hirn  endlich  sind  all  die  hartgesinnten 

Wetterwolken  gemacht. 

'*Jeu    ist  also    in  Grim.  gegen  Vaf.  die  Schöpfung   der  Bäume  sowie  der 
ganze  Inhalt  der  zweiten  Strophe  (mit  unzweifelhafter  Verderbnis  mindestens 


J)  Gylf.  cap.  6:  Gering  S.  302. 

2)  Hyndl.  Str.  31.  3)  S.  355.  4)  Vgl.  o.  S.  56. 

5)  Str.  5;  vgl.  Hoffory,  Eddastudien,  S.  73f, :  Schilderung  der  Mitternachts- 
sonne, wo  Sonne  und  Mond  sich  berühren. 

6)  a.  a.  O.  S.  234  f. 

7)  Erst  die  Zwerge,  einer  Interpolation  Str.  9—16  zufolge,  und  dann  die 
Menschen,  »»Esche  und  Ulme«;  ob  zufällig  Ask  und  Embla  mit  dem  Anlaut  von 
Adam  und  Eva?  Christlicher  Einfluß  wird  vielfach  behauptet.  Aber  ähnlich 
wird  auch  Pandora  aus  Erde  und  Wasser  von  mehreren  Gottheiten  gebildet 
(Weizsäcker  in  Roschers  Lexikon  3,  1,  152. 


454  Sechstes  Kapitel. 

in  dem  unsinnigen  Epitheton  der  Wolken)1).  —  Dagegen  nennt  das 
Hyndlalied  Str.  34  Ymir  nur  als  Stammvater  der  Riesen  neben  den  (er- 
fundenen) Ahnherren  der  Wahrsager,  Wahrsagerinnen,  Zauberer. 

Der  Bericht  Snorris  lautet:  Im  Anfang  war  Nifl heim,  das  Reich 
des  Unbestimmten;  in  seiner  Mitte  liegt  der  Brunnen  Hvergelmir,  »der  in 
kesseiförmiger  Vertiefung  rauscht« 2).  Aus  ihm  ergießen  sich  10+1  Flüsse 
(deren  Namen  von  überall  zusammengesucht  sind;  es  handelt  sich  wohl 
um  eine  überbietende  Nachahmung  der  vier  Paradiesesströme).  Daneben, 
oder  noch  früher,  war  die  Welt  der  strahlenden  Hitze,  die  Welt  Surts.  - 
Nun  strömen  die  Flüsse,  die  Eliwagar  heißen3),  weit  von  Muspelheim 
fort;  sie  wälzen  Gift4).  Dies  Gift  aus  Muspelheim  gefriert  (und  daraus 
entsteht5)  der  erste  Riese);  das  Eis  aus  Niflheim  seinerseits  schmilzt  und 
so  füllt  sich  Ginnungagap,  die  gähnende  Kluft.  Wie  nun  das  Rauhe  aus 
Niflheim  und  das  Heiße  aus  Muspelheim  sich  begegnen,  entsteht  in  stiller 
lauer  Leere  das  erste  lebende  Wesen  (außer  den  Göttern) :  Ymir,  der  Vater 
der  Reifriesen 6).  Im  Schlaf  gerät  er  in  Schweiß 7).  Unter  der  Wirkung 
dieses  Schweißes  wachsen  ihm  unter  dem  linken  Arm  Mann  und  Weib8). 
Sein  Fuß  zeugt  ebenso  mit  dem  anderen  einen  Sohn  »und  so  erwachsen 
ihm  Nachkommen«.  Weiter  nun  schmolz  der  Reif  in  Ginnungagap  und 
es  entstand  die  Kuh  Audumla,  »die  Saftreiche«9). 

»Vier  Milchströme   rannten   aus   ihren  Zitzen,   und    damit  nährte  sie 
den  Ymir;  die  Kuh  aber  fristete  dadurch  ihr  Leben,  daß  sie  die  Reifsteine 


')  Vgl.  Heinzel-Detter  z.  St. 

2)  Auch  Apollons  Dreifuß  ist  ursprünglich  ein  Kessel  (Prell er  1,  291),  der 
in  Delphi  im  Nabel  der  Welt  (ebd.  S.  266)  steht.  Auch  hier  vielleicht  ursprüng- 
lich die  Vorstellung  eines  zentralen  Weltwirbels,  in  dem  es  wie  im  Kessel  brodelt, 
aus  dem  die  Nebel  aufsteigen  und  das  Wasser  überfließt?  —  Man  denke  auch 
an  die  altnordischen  Namen  mit  -ketillf 

8)  »Stürmische  Wogen«;  erwähnt  als  Grenzen  der  Welt  Hyrn.  Str.  5. 

4)  Wie  die  Unterweltflüsse;  vgl.  auch  Vol.  Str.  38. 

5)  Nach  Vaf.  Str.  31. 

6)  Vgl.  Hyndl.  Str.  34. 

7)  Nach  slowenischer  Sage  gerät  Gott  in  Schweiß;  ein  Schweißtropfen  fällt 
auf  die  Erde:  der  erste  Mensch  (Dähnhardt,  Natursagen,  Leipzig  1907,  S.  113, 
mit  Parallelen).  Auch  Adam  wird  in  »einen  wunderbaren  Schlaf«  versenkt,  als 
ihm  Gott  die  Eva  geben  will  (Gen.  2,  21),  die  er  vielleicht  ursprünglich  selbst 
erzeugte.  Allegorisch  erklärt  von  Gunkel  S.  9:  Gottes  Schaffen  und  Wirken 
bleibt  stets  Geheimnis«. 

8)  Ebenso  wird  bei  den  Irokesen  ein  Zwilling  unterhalb  der  Armhöhle  ge- 
boren (Breysig  S.  36).  Ist  nicht  vielleicht  auch  des  Dionysos  Geburt  aus  Zeus' 
Hüfte  ähnlich  zu  erklären? 

9)  Gering  z.  d.  St.,  der  sie  nach  indischer  Analogie  für  eine  Verkörperung 
der  Regenwolke  erklärt.  Indra  mit  einem  von  der  Kuh  beleckten  Kalb  ver- 
glichen: Geldner-Kaegi,  70  Lieder  des  Rigveda,  S.  63,  Str.  9.  —  Über  Un- 
getüme des  Chaos  Wundt  S.  441. 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  455 

beleckte,  welche  salzig  waren.  Am  ersten  Tage  nun,  als  sie  leckte,  kam 
dnes  Mannes  Haar  zum  Vorschein,  am  zweiten  Tage  der  Kopf  und  am 
Iritten  der  ganze  Mann«.  Sein  Name  war  Buri,  der  Geborene;  er  war 
der  Vater  des  Bur,  gleicher  Bedeutung,  der  Bestlal\  die  Tochter  des 
Riesen  Bölthorn2),  zur  Frau  nahm.  Deren  Kinder  waren  Odin,  Wili, 
We.  Sie  töten  Ymir  und  in  seinem  Blut  ertrinken  alle  Reifriesen  außer 
Bergelmir  (der  anderwärts3)  als  Urriese  genannt  wird).  Wir  haben  da 
drei  Brüller«:  Bergelmir  brüllt  wie  ein  Bär,  sein  Vater  Thrudgelmir 
brüllt  mit  Kraft,  der  Ahn  Hvergelmir,  der  mit  Macht  brüllt,  ist  ent- 
weder4) Ymir  selbst,  oder5)  wahrscheinlich  Ymirs  Sohn.  Bergelmir 
-ettet  sich  im  Boot  (gewiß  eine  Variante  der  urgermanischen,  sonst  nicht 
überlieferten  Sintflutsage).  Nun  schaffen  die  (drei)  Götter  aus  Ymirs 
Körper  Erde,  Meer,  Berge,  Gestein  und  Himmel6).  —  Hiermit  ist  also 
der  Anschluß  an  den  Bericht  der  beiden  anderen  Eddalieder  (außer  der 
Vol.)  erreicht. 

Es  ließe  sich  mit  Leichtigkeit  über  diese  Kosmogonien  ein  dickes 
Buch  schreiben;  man  brauchte  nur  von  überall  Analogien  anzuschleppen 
und  könnte  mit  einem  der  jetzt  so  beliebten  Kreuz-  und  Quer-Stammbäume 
triumphierend  schließen,  die  mich  wenigstens  immer  an  den  famosen 
Reiseplan  im  zweiten  Buch  derjobsiade  erinnern.  Da  ich  mich  hier  kurz 
fassen  muß,  bitte  ich  für  den  dadurch  erzwungenen  apodiktischen  Ton 
nochmals  um  Entschuldigung. 

Zunächst  behandeln  wir  die  Frage  der  Echtheit.  Der  Bericht  des 
Tacitus  ist  im  Ganzen  nie  verdächtigt  worden.  Einen  deus  terra  editus 
kennt  die  germanische  Mythologie  zwar  nicht7),  und  auch  sonst  bleiben 
kleine  Bedenken.  Aber  Tuisto  als  Erster  Mensch,  daran  ist  nicht  zu 
rütteln;  auch  schwerlich  an  der  Bedeutung  des  Namens:  er  ist8)  »gleich 
dem  Ymir  von  zweifachem  Geschlecht«,  der  Zwitter,  so  daß  er  einer 
männlichen  Parthenogenese  fähig  ist. 

Der  Bericht  der  Völuspä  ist 9)  von  antiken,  öfter  noch  von  biblischen 
Berichten  hergeleitet  worden ;  wir  glauben  mit  Mogk  u.  a.  ihn  für  gemein- 
gordisch  halten  zu  sollen,  schon  weil  gegen  den  Schöpfungsbericht  der 
Genesis  Welt   und  Menschen  in  weit  getrennten  Zeiträumen  entstehen  10). 


T)  Die  »Bastflechterin«?    Gering  z.  d.  St. 

2)  »Unglückshorn« ;  beide  noch  genannt  Häv.  Str.  140. 

8)  Vaf.  Str.  19.  4)  Nach  Gylf.  cap.  5. 

5)  Nach  Vaf.  Str.  19. 

ö)  Vgl.  o.  Vaf.  Str.  20  und  Grim.  Str.  40. 

7)  Wohl  z.  B.  die  griechische:  den  Erichthonios  (Preller  1,  298). 

8)  Mogk  S.  376  9)  Vgl.  Mogk  S.  378. 

10)  Eine  interessante  Parallele  zu  Vol.  Str.  17.  18  bei  Dähnhardt  S.  89: 
»die  jüdische  Tradition  sagt,  daß  Adam  zuerst  als  lebloser  Körper  erschaffen 
wurde,  daß  Gott  erst  später  ihm  die  Seele  einhauchte.« 


456  Sechstes  Kapitel. 


Über  den  Ymirmythus  gibt  es  eine  ganze  Literatur.  Nachdem  zuletz 
ich1)  und  Schütte2)  den  echt  heidnisch-volkstümlichen  Ursprung  behaupte 
hatten,  ist  Max  Förster3)  in  lehrreicher  Untersuchung  dafür  eingetreten 
daß  der  weit  verbreitete  Text  von  der  (umgekehrt  verlaufenden)  Erschaffung 
Adams  aus  acht  Teilen4)  in  die  eddische  Kosmogonie  eingetreten  sei5) 
Ich  möchte  doch  mit  Mogk6)  wiederholen:  »Wie  die  Wilden  auf  solche 
Gedanken  kommen  konnten 7) ,  so  konnten  es  unstreitig  auch  die  alten 
Germanen,  ohne  daß  sie  von  außen  dazu  angeregt  wurden.<  Der  Ver 
gleich  von  Mikrokosmos  und  Makrokosmos  liegt  dem  Menschen  im  Blut 
und  die  Etymologie8)  hilft  nach. 

Daß  Snorris  Bericht  nicht  authentisch  ist,  bezweifelt  wohl  niemand  9):| 
daß  er  echte  Elemente  enthält,  ist  noch  sicherer.  Diese  wilden  pha 
tastischen  Umrisse  konnte  kein  später  christlicher  Theolog  zeichnen;  da- 
gegen stimmen  sie  im  Charakter  durchaus  zu  vielen  anderen  primitiven 
Kosmogonien  10).  Ich  habe  schon  meinem  Referate  gelegentliche  Verweise 
auf  vermutliche  Quellen  und  Vorstufen  Snorris  beigefügt  und  halte  seinen 
Luxus  an  Eigennamen  (die  Flüsse!)  für  sein  persönliches  Verdienst.  Ich 
glaube  etwa  folgende  Urform  seines  reichlich  ausgemalten  Berichtes 
herausschälen  zu  können: 

1.  Im  Anfang  war  das  Chaos,  erfüllt  von  Nebel  und  Feuer.  Aus  der 
brodelnden  Bewegung  der  Massen  (Hvergelmir,  der  zentrale  »Wirbel«?) 
entsteht  der  Urriese11).  Von  Ymi  werden,  wo  er  als  Ganzes  zeugt,  die 
Riesen,  von  seinen  gepaarten  Gliedern  die  Menschen  geboren  12). 

2.  Einen  anderen  Ursprung  haben  die  Götter 18).  Sie  stammen  von  einem 
anderen  Urwesen,  der  Weltkuh  Audumla.    Sie  entspricht  der  hellenischen 


!)  H.  Z.  37,  lf.  2)  I.  F.  17,  444. 

3}  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  477 f.;  vgl.  bes.  auch  S.  492. 

4)  Vgl.  auch  Dähnhardt  S.  Ulf. 

5)  a.  a.  O.  S.  493  Anm.  2. 
«)  S.  377. 

T)  Nach  J.  Grimm  von  mir  u.  a.  nachgewiesen. 
s)  Vgl.  meinen  Aufsatz  für  Schädel  und  Himmelsgewölbe. 
9)  Vgl.  z.  B.  Mogk  a.  a.  O. 

10)  Vgl.  Lukas  a.  a.  O. 

31)  Vaf.  Str.  31 ;  Snorri  schiebt  noch  eine  atmosphärische  Bedingung  ein. 
Ebenso  entsteht  bei  den  Indern  nach  einem  späten  Lied,  aber  mit  primitiver 
Anschauung  (Macdon eil  S.  12)  das  Urwesen  Purusha,  aus  dessen  Körper  Sonnje 
und  Mond,  Wälder  und  Dörfer,  außerdem  auch  die  vier  Kasten  gebildet  wurden 
(Lukas  S.  80).  Riesen  setzt  auch  die  Bibel  Gen.  6,  4  als  Vermittlung  zwischen 
den  ersten  Menschen  und  der  Menschheit  ein  (vgl.  Gunkel  S.  54). 

12)  Vielleicht  auch   bei  Ymi  eine  Scheidung   der   abstammenden  Völker   in 
höhere  und  niedere;  Ark.  f.  nord.  Fil.  23,  248. 

13)  Die  Zwerge  läßt  Snorri  eigenhändig  aus  Maden  in  Ymirs  Fleisch  hervor- 
gehen (Gylf.  cap.  14:  Gering  S.  308). 


§  26.    Geschichte  der  Welt.  457 

Wunderziege  Amaltheia,  dem  Sinnbild  der  überfließenden  Fruchtbarkeit J), 
die  den  Zeus  mit  ihrer  Milch  nährt  wie  Audmula  den  Ymi 2).  Identität 
nehme  ich  nur  in  der  Wurzel  an :  die  ursprüngliche  Lebenskraft  unter  dem 
Sinnbild  eines  nährenden  Tieres  vorgestellt3).  Audumla  ruft  den  ersten  in  der 
Materie  noch  schlafenden  »Erzeugten«  hervor;  oder,  wenn  das  zu  philo- 
sophisch klingt,  sie  macht  den  noch  eingefrorenen  Menschengott  lose- 
Von  ihm  stammen  die  drei  Urgötter,  die  nun  aus  Ymirs  Körper,  der 
ungeformten  Materie,  die  Dinge  der  Welt  schaffen. 
Offenbar  liegen  hier  zwei  Parallelmythen  vor: 

1.  Chaos  —  Urriese  —  Riesen  und  Menschen; 

2.  Audumla  —  Buri  —  Odin,  Hönir,  Loki-Lödur. 

Hierzu  aber  kommt  noch  drittens  der  Bericht  des  Tacitus.  Denn 
wenn  Mogk4)  den  Mythus  von  der  Menschenschöpfung  für  rein  nordisch 
erklärte,  habe  ich  •')  die  Identität  von  Tuisto  und  Ymi 6)  zu  erweisen  ver- 
sucht.    Dann  haben  wir  also: 

3.  Terra  —  Tuisto  —  Isto-Odin  mit  zwei  (abweichenden)  Brüdern. 
Mannus,  der  Urmensch  (=  indisch  Purusha)   entspräche   dann    dem 

zwischen    Buri    und    der   Trias   einzuschiebenden  Bur.     Nehmen    wir   die 
Doppelung  Buri-Bur  als  alt,   so  hätten  wir  demnach  folgende  Parallelen : 

1.  Chaos  —  Ymir  —  Mann  und  Weib  —  Menschen; 

2.  Audumla         Buri  —  Bur  —  drei  Götter; 

3.  Terra         Tuisto  —  Mannus  —  drei  Götter7). 

Mag  nun  das  terra  editus  des  Tacitus  auf  einem  Mißverständnis 
beruhen  (die  Erde  ist  ja  aus  Ymirs  Fleisch  geschaffen;  Umkehr  wie  im 
Adams-Mythus!),  mag  es  einfach  die  Entstehung  aus  dem  ungeformten 
Stoff  bedeuten  —  die  Übereinstimmung,  gestützt  noch  dadurch,  daß  Odin 
den  vom  Vater  ererbten  Namen  Tveggi  Tuisto  führt,  genügt  wohl,  um 
den  Kern  des  Mythus  als  urgermanisch  zu  erweisen. 

Welche  Grundlage  der  so  rekonstruierten  Berichte  dürfen  wir  danach 
annehmen?  Die  Sagenform  der  Völ.  läßt  sich  mit  den  anderen  nicht 
kombinieren.  Vielmehr  bleiben8)  zwei  verschiedene  Berichte  über  die 
Schöpfung   des  Menschen9):    1.   es  werden  Embryonen  von  den  Göttern 


!)  Preller  1,  35.  -)  Prelier  1,  133. 

•)  Hierher  auch  die  Wölfin  des  Romulus;  doch  vgl.  die  Heldensage.  Über 
Odins  Ziege  Heidrun  Grim.  Str.  25;  vgl.  u. 

*)  S.  378.  5)  Ark.  f.  nord.  Fil.  23,  246. 

6)  Die  schon  Mogk  verglich. 

7)  Meine  zwecklose  Vermutung,  Tuisto  sei  zum  Sohn  des  Mannus  zu  machen 
(Ark  f.  nord.  Fil.  25,  333),  nehme  ich  natürlich  zurück.  —  Unhaltbar  scheint 
mir  auch  Kögeis  Versuch  (Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  14f.),  die  drei  Götter  von  Mannus' 
Vaterschaft  loszulösen. 

8)  Wie  in  der  Genesis;  viel  mehr  Varianten  z.  B.  griechisch  (Preller  1,  23 f.). 

9)  Vgl.  Mogk  S.  377,  Golther  S.  526. 


458  Sechstes  Kapitel. 

belebt1);  2.  der  Urmensch  stammt  direkt  vom  Chaos  ab.  Im  ersten 
Falle  werden  die  Götter,  wie  oft,  vorausgesetzt,  im  zweiten  sindl 
sie  ebenfalls  Sprößlinge  des  Urriesen 2).  Die  ursprünglichste  Alternative 
drängt  sich  eben  schon  dem  primitiven  Denken  auf:  wie  die  Sprache,  so 
ist  der  Mensch  selbst  im  eigentlichsten  Sinne  qwaet  oder  &taet,  durch  11 
natürliche  Entwicklung  oder  durch  äußere  Einsetzung,  entstanden3).  — \ 
Aber  auch  die  Varianten  der  Ymir- Version  sind  nicht  schlankweg 
unter  Einen  Hut  zu  bringen.  Audumla  ist  nicht  der  Urzustand,  sondern 
eine  Verkörperung  der  ersten  Lebenswärme  und  Lebenskraft,  soweit  solche 
primitive  Urgebilde  überhaupt  mit  modernen  Zungen  gedeutet  werden 
können  4). 

Dazu  kommt  die  zweite  Abweichung:  einmal  stehen  die  Menschen 
(und  Riesen),  das  andere  Mal  die  schaffenden  Götter  am  Ende  des  Stamm- 
baums, und  zwar  so,  daß  diese  Verschiedenheit  mit  der  anderen  nicht 
zusammenfällt5).  Den  primitivsten  Eindruck  macht  der  Audumla-Bericht 
(und,  wie  bei  dem  Furusha-Lied,  kann  ja  sehr  alte  Oberlieferung  in  junger 
Form  geborgen  sein).  Doch  direkt  aus  ihm  lassen  sich  auch  die  anderen 
Lesarten  nicht  ableiten. 

Die  weiteren    Einzelheiten,   z.  B.   die   merkwürdigen   Giftfluten   (die 

wohl  ursprünglich  Feuerfluten  waren)   und  den  Kessel  Hvergelmir  lassen 

wir  billig  ungedeutet.    Nur  das  ist  noch  anzumerken,  wie  die  ganze  Namen - 

gebung   mit  den  Brüllern,  vier  -gelmir6),   ganz   auf  den  Grundton   des 

>Rauschers«  Ymir  gestellt  sind:   alles  braust,   rauscht,  brüllt  da. 

Von  hier  geht  Snorris  Bericht  zur  Darstellung  der  gegenwärtigen 
Welt7)  über.  Sie  zerfällt  in  folgende  Akte3):  erstens:  Orientierung  des 
Himmels  durch  Einsetzen  der  vier  Zwerge  Austri,  Westri,  Nordri,  Sudri 9). 


*)  Vgl.  z.  B.  die  Prometheussage,  die  Genesis. 

2)  Die  Schöpfung  der  Zwerge  wird  Vol.  Str.  9  wie  Gylf.  cap.  14  nachgeholt 
(vgl.  Golther  S.  525,  Mogk  S.  577);  die  Elfen  bleiben  unberücksichtigt,  wie  bei 
Snorri  neben  Niflheim  und  Muspellheim  und  allenfalls  Midgard  die  andern  »Welten«. 

3)  Über  die  Beschränktheit  der  kosmogonischen  Phantasie,  die  selbst  bei 
neueren  Gelehrten  die  ältesten  Mythen  erneuen  läßt,  vgl.  meinen  Aufsatz  Arch. 
f.  Rel.-Wissensch.  1910. 

4)  Zu  dem  Herauslecken  Buris  ist  an  die  Sage  zu  erinnern,  daß  der  Bär 
unförmlich  auf  die  Welt  komme  und  von  seiner  Mutter  erst  in  Form  geleckt 
werde.  —  Vor  der  rationalistischen  Interpretation,  es  seien  eingefrorene  Leichen 
herausgeschmolzen,  möchte  ich  warnen. 

5)  Chaos  am  Anfang:  1  und  3;  Götter  am  Ende:  2  und  3. 

6)  Vgl.  die  drei  -hrimnir  Grim.  Str.  18. 

7)  Siehe  u. 

8)  Gylf.  cap.  9:  Gering  S.  303. 

9)  Alle  auch  im  Zwergenkatalog  Völ.  Str.  4.  Merkwürdigerweise  erscheinen 
die  »vier  Punkte  des  Kompasses«  auch  im  Rig-Veda  schon  sehr  früh  (Mac- 
donell  S.  9). 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  459 

Zweitens :  Die  Götter  machen  die  Gestirne  aus  Funken  von  Muspelheim 1). 
(Dieser  ganze  Abschnitt  der  Kosmogonie  entspricht  einigermaßen  der  Kant- 
Laplaceschen  Hypothese:  Nebel  —  abgesprengte  Teile  der  heißglühenden 
Erdkörper  werden  Planeten.)  Drittens :  Sie  festigen  jedes  Gestirn  an  seiner 
Stelle  —  abgeleitet  aus  der  zitierten  Strophe  Vol.  4,  die  selbst  vielleicht 
aus  dem  schließlich  erfolgenden  Loswerden  der  Gestirne  abzuleiten  ist.  — 
ich  zweifle,  ob  man  hier  viel  altes  Gut  vermuten  darf2). 

§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt3). 

Es  handelt  sich  erstens  um  den  Kosmos  selbst :  die  »Welten«,  die  die. 
Welt  bilden  (»Heime«)   und    ihre  Anordnung,   die  Gestirne   und  die  Be- 
wegung; zweitens  um  die  innere  Einrichtung  der  Welt. 

Äufsere  Ordnung*  der  Welt. 

Die  Vorstellung  eines  geordneten  Kosmos  ist  gewiß  jung.  Ur- 
sprünglich lagen  die  Welten  ohne  topographische  Übersicht  nebeneinander: 
nach  dem  Wo  ward  nur  bei  Himmel  und  Erde  gefragt,  wo  die  Antwort 
gegeben  war  (indogermanische  Formel :  »Erde  und  Himmel  darüber«;  im 
christlichen  Teil  des  Muspilli  charakteristisch  erweise  umgestellt).  So  ist 
ja  z.  B.  auch  die  Lokalisierung  der  Unterwelt  bei  den  Hellenen  jung  und 
unsicher4),  bei  den  Germanen  gar  nicht  näher  versucht  worden.  Die 
Unterwelt  tritt  einfach,  sehr  früh,  zu  den  beiden  anderen,  und  so  ist  die 
große  Mysterienbühne  fertig,  die  in  indogermanischer  Zeit  mindestens 
schon  präformiert  war.  Sie  genügt  späterer  Zeit  von  neuem:  Dante  hat 
wieder  nur  die  drei  Welten ;  dazwischen  hat  man  stärkeren  Bedarf :  man 
könnte  von  einer  primitiven  »Mehrheit  der  Welten«  reden,  die  in  uralter 
Zeit  Giordano  Bruno  und  Fontenelle  vorausnimmt. 

1.  Zunächst  erhält  jedes  »Geschlecht«  seine  eigene  Welt.  Man  wird 
zuerst  ganz  anspruchslos  von  der  Elfenwelt,  dem  Riesenheim  gesprochen 
haben,  etwa  wie  wir  wieder  von  einer  »Zauberwelt«  sprechen,  ohne  sie  lokali- 
sieren zu  wollen.  Dann  kommt  die  Zählung  und  Systembildung,  die  aber 
nicht  ausgeglichen  werden.  Denn  man  spricht  mit  einer  heiligen  Zahl  von 
den   neun  Welten5),  die  aber  nicht  aufzufinden  sind6).    Gemeint  sind 


x)  Caeculus  aus  einer  vom  Herdfeuer  gesprungenen  Kohle  gebildet  (Wissowa 
S.  186). 

2)  Vgl.  Mogk  S.  380. 

3)  Mogk  S.  378,  Golther  S.  519 f.  —  »Kosmologie«  im  Gegensatz  zur  »Kosmo- 
gonie«; vgl.  z.  B.  Macdonell  S.  8.  —  Vgl.  für  die  Hebräer  G.  We st phal,Jahves 
Wohnstätten  (Gießen  1908,  Töpelmann;  Rez.  Weinhold,  D.  L.-Z.  1910,  465); 
für  Griechen  und  Römer  Bergers  Ergänzungsband  zu  Roschers  Lexikon. 

4)  Preller  1,  812. 

5)  niu  heimar:  Völ.  Str.  2,  Vaf.  Str.  43. 

6)  Mogk  S.  378,  Golther  S.  519. 


460  Sechstes  Kapitel. 

natürlich  jene  Welten,  die  die  —  junge  —  Dichtung  Alvfssmäl  sondert 
die  Heime  der  Götter,  Wanen,  Riesen,  Elfen,  Zwerge,  Menschen,  Unter 
irdischen  —  was  aber  nur  sieben  ergibt.  Zudem  wohnen  für  die  naivt 
Vorstellung  die  Zwerge  unter  der  Erde  in  den  Bergen,  die  Elfen  ir 
Bäumen  usw.,  also  inmitten  anderer  Welten;  die  Zusammenballung  is 
also  jung.  In  geschlossenen  Welten  wohnen  nach  der  Vorstellung  dei 
Eddalieder  nur  Götter,  Wanen  (denn  es  werden  Geiseln  hin  und  hei 
geschickt;  Njord  soll  wiederkehren;  aber  im  Ganzen  hat  man  sich  doch 
Frey  und  Freyja  einfach  in  Asgard  zu  denken),  Riesen  (vgl.  die  Fahrter 
Thors  und  die  Thrymskvida  insbesondere),  Menschen  (Midgard,  wohir 
die  Götter  sehen  und  gehen),  Unterirdische.  Faßt  man  also,  wie  es  dei 
eddischen  Anschauung  entsprächt,  die  Götterwelt  als  einheitlich  (mit  Einem 
Wächter  usw.),  so  bleiben  vier  Welten,  von  denen  die  der  Riesen  in  ihret 
Lage  zu  den  anderen  unbestimmt  bleibt. 

2.  Man  geht  weiter  zu  einer  speziellen  Einteilung  der  beiden  Nachbar 
weiten. 

Asgard. 

Von  Asgard    baut   der  Dichter   der  Grim.   eine  vollständige  Topo 
graphie  auf,   in   der   zwölf  Burgen   von  Göttern   aufgezählt  und  im  An- 
schluß  an  das  Wesen  der  Göttlichen   und  das  Aussehen    ihrer  Tempel *) 
charakterisiert  werden. 

In  dem  heiligen  Lande 2)  liegen  die  Hallen  folgender  Gottheiten : 
1.  Thor  (Thrudheim),  2.  Uli  (Ydalir),  3.  Frey  (Alfheim;  der  Wane  wohnt) 
unter  den  Äsen,  obwohl  nicht,  wie  Njord,  Geisel),  4.  Odin  (Walaskjälf, 
mit  Hlidskjälf  nach  Gylf.  c.  17;  nach  anderen  — -  Walhall);  ferner  Sök- 
kvabekk,  wenn  dies  nicht  Saga  gehört,  und  endlich  Gladsheim  mit  Walhall); 
5.  Skadi  (Thrymheim);  6.  Balder  (Breidablik) ;  7.  Heimdali  (Himinbjörg); 
8.  Freyja  (Folkwang);  9.  Forseti  (Glitnir);  10.  Njord  (Noatün) ;  11.  Widar 
(scheint  kein  Haus  sein  eigen  zu  nennen,  sondern  nur  ein  Wiesengrund- 
stück). Also  elf  oder  (mit  Saga-Frigg)  zwölf  Gottheiten  mit  vierzehn 
Heimen  (Odin  hat  drei,  Widar  keins). 

Diese  Partie  der  Grim.  ist  in  den  Mythologien  sehr  beliebt;  es  ist 
so  angenehm  zu  sagen :  der  Gott  X  wohnt  in  — ;  seine  Halle  ist  — .  Ich 
fürchte  aber,  wir  müssen  auf  den  Gebrauch  dieses  himmlischen  Baedeker 
verzichten.    Von  den  sämtlichen  Heimen  ist  nur  eins  auch  sonst  bezeugt3). 


*)  Vgl.  o.  S.  429;  Mogk  S.  378. 

3)  Grim.  Str.  4. 

3)  Wenn  man  natürlich  von  Snorris  abgeleiteten  Belegen  in  seinem  ganz 
analogen  Götterkatalog  (Gylf.  cap.  21  f.:  Gering  S.  316f.)  absieht.  Übrigens 
verändert  er  Thrudheim  in  Thrudwang  und  gibt  die  Halle  Bilskirnir  (vgl.  die 
Interpolation  Grim.  Str.  24)  hinzu. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  461 

Dies  eine  aber ,  Noatün *) ,  liegt  gar  nicht  im  Heiligen  Lande ,  sondern, 
me  schon  der  Name  sagt,  am  Meer2).  —  Ebenso  ist  von  den  > Hallen« 
mr  Eine  sonst  bezeugt:  Valhöll8);  nicht  aber  Bilskirnir  (und  das  nur  bei 
Snorri  nach  Walaskjälf  verlegte  Hlidskjälf). 

Es  bleiben  13  Heime  mit  nichtssagenden  oder  zu  deutlich  sprechenden 
tarnen,  deren  Ableitung  wir  fast  jedesmal  nachweisen  konnten ;  die  meisten 
einfach  mit  -heim  schematisch  gebildet:  Thrud-,  Alf-,  Glads-,  Thrym- 
heim;  dann  eine  Gruppe  von  drei  anderen  Kompositis:  »Breitglanz«, 
>  Himmelsburg«,  »Volksgefilde«  und  an  anderer  Stelle,  ebenso  gebildet, 
> Eibentäler«.  Als  einigermaßen  wahrscheinliche  Namen  bleiben  nur 
Walaskjälf  und  Sökkvabekk,  die  man  gerade  beseitigt,  wenn  man  die 
Strophen  6 — 7  mit  11 — 20  ausscheidet;  mir  scheint  die  Athetese  nicht, 
wie  die  von  Strophe  24,  begründet. 

Sprechen  schon  die  Namen  eine  bedenkliche  Sprache  —  auch  Glitnir 
/on  dem  beliebten  Typus  Sleipnir  usw.,  der  freilich  das  ältere  Mjölnir 
mm  Ausgangspunkt  hat  — ,  so  entsprechen  dem  die  »Schilderungen*. 
Eine  ist  individuell :  die  von  Odins  Saal  4) ,  und  eine  hat  vielleicht  noch 
*ine  motivierte  Eigenart:  Forsetis  Halle5);  auch  das  Heim  Widi  ist  an- 
schaulich gezeichnet.  Sonst  aber  nur  leere  Lobpreisung,  die  in  einen 
leiteren  Trunk6)  oder  eine  leere  Phrase7)  ausläuft. 

Endlich  die  Auswahl  der  Götter!  Sehr  verdächtig  ist  schon  die  Zwölf- 
||lhl;  aber  die  könnte  durch  Interpolationen  erreicht  werden.  Selbst- 
verständlich sind  Odin,  Thor,  Frey,  Njord,  Freya,  allenfalls  auch  Balder. 
Frigg  mag  in  Saga  stecken.  Skadi  und  Heimdall  sind  wohl  weniger 
wichtig  als  Tyr,  doch  noch  begreiflich.  Aber  Forseti,  der  sonst  gar  keine 
Rolle  spielt?  und  gar  der  für  die  nächste  Welt  aufgesparte  Widar!  Und 
wenn  er  da  ist,  wo  bleibt  Wali? 

*)  Str.  16. 

2)  Vgl.  Gyli.  cap.  23:  Gering  S.  318. 

3)  Str.  8. 

4)  Str.  9—10.  —  Freilich  werden  auch  andere  Tempel  mit  Schilden  behängt 
sein,  so  daß  der  angelsächsische  Dichter  den  Himmel  geradezu  »Schildburg« 
nennt  (Myth.  S.  583).  Merkwürdigerweise  hat  Kralik  (Neue  Kulturstudien, 
Münster  1903,  S.  232),  während  er  dies  zitiert,  sich  gleichzeitig  zu  seiner  allzu 
geistreichen  Kombination  von  Odins  >Schildburg<  mit  den  —  Schildbürgern  ver- 
leiten lassen!  —  Hlidskjälf  ist  hierher  gesetzt,  weil  Odin  der  Königsgott  ge- 
worden ist;  früher  konnte  ebensogut  Frey  dort  sitzen  (Einl.  zu  Skirn.).  Es  war 
ein  Hügel  im  Götterland,  irgendwo,  ein  Hügel  in  der  Mitte  des  Reiches«,  von 
wo  man  das  ganze  Land  überschaut«  (so  bei  Martin  Buber,  Die  Geschichten 
des  Rabbi  Nachmaun,  Frankfurt  a.  M.  1906,  S.  98).  —  Allgemein  über  die  Lokali- 
sierung des  Himmelsherrn  Ehrenreich,  Ztschr.  f.  Ethnol.  38,  589. 

8)  Str.  15;  vgl.  o.  S.  383. 
6)  Str.  7.  13.  7)  Str.  16. 


462  Sechstes  Kapitel. 

Man  darf  wohl  also  in  dieser  Teichoskopie  von  unten  herauf  nichts 
weiter  sehen,  als  einen  an  die  organisch  im  Gedicht  begründete  Schilderung 
Walhalls J)  unorganisch  und  mühsam  angestückelten  Katalog  von  später  Er- 
findung, wie  etwa  der  Zwergkatalog  der  Vol. 

Außer  den  zwölf  Burgen  enthielt  aber  diese  Schilderung  der  Götter- 
welt noch  einige  Einzelheiten.  Die  Entfernung  von  Midgard  wird2)  durch 
den  Flug  der  Raben  gut  gezeichnet.  Wie  steht  es  aber  mit  den  andern 
topographischen  Anmerkungen  über  Walhall:  dem  Fluß  Tkund,  den  die 
Einherier  durchwaten  müssen3)  und  der  Pforte  der  Toten  Walgrind? 
Sollte  all  dies  nicht  sehr  der  späten  topographischen  Detailmalerei  an- 
gehören, die  Yggdrasils  Bild   ausführte  wie  einen  Atlas?4) 

Aber  auch  die  weiteren  Einzelheiten  zu  Walhall  stehen  auf  demselben 
Blatte.  An  die  beiden  Wölfe  —  als  Attribute  alt,  aber  wohl  neu  benannt5) 
und  die  beiden  Raben,  von  denen  das  Gleiche  mit  noch  größerer  Wahr- 
scheinlichkeit gilt6)  — ,  ist  noch  der  Eber  angeschlossen,  den  die  Einherier 
verzehren.  Es  kann  wohl  volkstümliche  Erfindung  sein,  wie  die  tägliche 
Erneuerung  von  Thors  Böcken7);  aber  die  drei  Namen  auf  —  hrimnir? 

Andhrimnir  siedet  in  Eldhrimnir 
Des  feisten  Sätrimnir  Fleisch. 

Etwa:  »der  mit  dem  Ruß  im  Gesicht  siedet  in  dem  von  dem  Feuer 
Berußten,  den,  der  von  Ruß  schwarz  ist« 8).  Sicher  hat  das  der  Dichter 
so  verstanden  wissen  wollen,  wie  wir  es  zu  verstehen  pflegen :  Andhrimnir 
Name  des  Kochs,  Eldhrimnir  des  Kessels,  Sährimnir  des  Ebers.  Aber 
ursprünglich  dürfte  der  Malbvers  ein  Volksrätsel  gewesen  sein ,  von  dem 
Typus  wie  das  über  die  ganze  Welt  und  besonders  auch  im  Norden  ver- 
breitete: »Es  flog  ein  Vogel  Federlos  auf  einen  Baum  Blattlos,  da  nahm 
ihn  Fräulein  Handlos  — « 9).  Ebenso  verbreitet  ist  das  Sprichwort:  »Der 
Kessel  straft  den  Ofentopf,  und  sind  doch  beide  schwarz«  10).  Ein  solches 
Rätsel,  ganz  allgemein  gehalten,  lag  wohl   vor:    »Schwarzgesicht   brät  in 


J)  Str.  4—10.  18—25,  soweit  hier  nicht  jüngere  Zusätze  vorliegen. 

2)  Vgl.  u. 

8)  Pendant  zu  dem  Unterweltsfluß  Völ.  Str.  39? 

4)  Heinzel-Detter  (S.  180)  vergleichen  Thund  mit  dem  Fluß  Ifing,  der 
nach  Vaf.  Str.  16  die  Reiche  der  Götter  und  Riesen  trennt;  aber  die  Einherier 
kommen  doch  nicht  vom  Riesenland  her! 

B)  Str.  19;  vgl.  o.  S.  236. 

6)  Wegen  der  abstrakten  Namen  Gedächtnis«  und  »Gedanke« ;  vgl.  den  mit 
Thjälfi  in  Utgard  um  die  Wette  laufenden  Gedanken  Gylf.  cap.  46:  Gering  S.  341. 

7)  Vgl.  o.  S.  285. 

8)  Vgl.  dazu  Heinzel-Detter  2,  176. 

9)  Vgl.  MSD.  VII,  4;  Anmerkungen  S.  59. 

10)  Wand  er,   Deutsches  Sprichwörterlexikon  2,  1256  mit  zahlreichen,  auch 
skandinavischen  Varianten. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  463 

j Schwarzgesäß  (oder  dergl.)  den  Schwarzkittel«  —  Auflösung:  der  Koch 
siedet  den  Eber  im  Kessel.  Und  das  hatte  der  Dichter ,  seiner  Neigung 
zu  parallelen  Namen  gehorchend,  individuell  gemacht,  wie  etwa  Walthers 
von  der  Vogelweide  »her  stoc«  (der  Opferstock)  von  Gleim  zu  einem 
Peterspfennige  sammelnden  Legaten  »Herr  Stock«  gemacht  wurde.1) 

Den  Eber  selbst  hält  Meyer2)  für  entlehnt:  »die  nordische  Vorstellung 
vom  Kriegerparadies  scheint  zu  einem  guten  Teil  irische  Wikingerbeute 
zu  sein«.  »Der  Ire  Kormak  tritt  im  Lande  der  Verheißung  in  eine  schöne 
Burg,  wo  ein  in  einem  Kessel  gekochtes  Schwein  am  andern  Morgen 
wieder  lebendig  wird;  und  zum  frischen  Schwein  gibt  es  dort  Bier  und 
Milch  .  .  .«  (Schon  8.  oder  9.  Jahrhundert,  also  vor  Grfm.;  freilich  des- 
halb nicht  notwendig  älter  als  deren  Quellen.) 

Endlich  haben  wir  noch  den  Hahn  Gullmkambdi,  »Goldkamm«3), 
auch  Salgofnir4)  genannt,  der  die  Einherier  des  Morgens  weckt  —  die 
älteste  Form  vielleicht  des  »Wächters« ,  und  möglicherweise  mit  einem 
alten  Mythus  von  der  Erstürmung  Asgards5)  verknüpft;  die  durchsichtigen 
Namen  sind  jung. 

An  eine  andere  Stelle  der  himmlischen  Arche  Noaeh  sind  die  immer 
Met  spendende  Ziege  Heidrün6)  und  der  Sonnenhirsch  Eikthyrnir,  von 
dessen  Hörnern  die  Ströme  quellen 7),  zu  setzen.  Beide  nähren  sich  von  den 
Zweigen  des  »Schattenspenders«  Lärad,  womit  gewiß  Yggdrasil  (s.  u.) 
gemeint  sein  soll*).  Heidrün  heißt  etwa  »Gattungszauber«  und  ist  von 
Müllenhoff  so  gedeutet  worden,  daß  die  Ziege  durch  den  Meth  den  Einheriern 
ihre  Art  und  ihr  eigentümliches  Wesen  erhielt  und  nährte«  —  bedenklich 
abstrakt.  »Eikthyrnir«,  Eichendorn,  »dessen  dorniges  Geweih  wie  eine 
Eiche  sich  verästet«,  wäre  die  Wolke,  die  die  Ströme  nährt9). 

Ich  denke:  der  Dichter  hat  auch  hier  altes  Gut  zusammengesucht, 
wie  in  dem  ganzen  Gedicht.  Der  Hirsch  hat  zwar  einen  bedenklich 
»verständlichen«  Namen;  aber  für  ihn  und  die  Ziege  spricht  —  daß   sie 


J)  Andere  Beispiele  ähnlicher  Art  für  das  »Gebrechen«,   »aus  denen  Büchern 

und  Schriften  Menschen  zu  machen«  in  des  alten  Jacob  Friedrich  Reimmann 

köstlichem   »Versuch    einer  Einleitung  in  die   Historiam  litterariam  insgemein«, 

Magdeburg  1708,  S.  133 f.,  ebenso  »aus  denen  Sachen  Personen  zu  machen,  aus 

denen  Nominibus  appellativis  propria«   (ebd.  S.  136 f.),  was  besonders  in  der 

!  Hagiographie  geschehen :  Undecimilla  Virgo;  vgl.  Delehaye,  La  legende  hagio- 

;graphiqur,  S.  53  über  Fasciola.    —  Vgl.  über  Karls  des  Großen  angebliche  Ge- 

« mahlin  Desiderata  Hell  mann,  N.  Arch.  f.  alt.  Gesch.  34,  208  f. 

2)  S.  293.  3)  Vol.  Str.  43. 

4)  »Der  geduckt  im  Saal  sitzende?«  (Gering  S.  182). 

5)  Vgl.  o.  S.  295;  man  denke  an  die  Gänse  des  Kapitols. 

6)  Str.  25.  0  Str.  26. 

8)  Gering  z.  d.  St.;  anders  Heinzel-Detter  2,  181. 

9)  Gering  a.  a.  O. 


464  Sechstes  Kapitel. 

augenscheinlich  Doubletten  sind.  Wie  aber  hätte  ein  Mytholog  zweimal 
hintereinander  das  Gleiche  gesetzt?  Die  beiden  Tiere  nähren  sich  von 
den  Zweigen  des  gleichen  Baumes;  sie  strömen  beide  unversieglich  Naß 
aus1);  sie  stehen  beide  »auf  Heervaters  Halle«,  wobei  eine  kleine  Variante i 
des  Textes  direkt  für  getreue  Benutzung  umlaufender  Halbstrophen  Zeugnis 
ablegen  könnte.  —  Ich  muß  doch  noch  einmal  an  Amalthea2)  erinnern, 
deren  Wunderhorn  überquellende  Fülle  symbolisiert  —  wie  die  Hörner 
Eikthyrnirs  altertümlich  genug  überquellen;  allerdings  wird  sie  von  Preller- 
Robert3)  als  die  »Quelle  als  nährende  Mutter«  gedeutet.  Sollten  es  nicht 
uralte  Symbole  des  fruchtbaren  Lebens  sein,  wie  Audumla,  die  sich  ähnlich 
nährt,  um  ähnlich  zu  nähren? 

Hvergefmir  und  die  Flüsse  all4)  sind  ja  gewiß  jung.  Aber  zwei 
Denkverse  können  alt  sein,  die  in  der  Art  der  Antworten  in  Vaf.  beide 
entschieden,  wo  der  Urquell  alles  Wassers  sei.  Dafür  gab  es  zwei  Ant- 
worten :  entweder  war  es  ein  uraltes  mythisches  Gebilde  von  der  Art  der  I 
Audumla  und  Amalthea,  in  Snorris  Bericht  (zufällig  oder  wegen  dieser 
Stelle)   nicht  aufgenommen  oder    der    Sonnenhirsch,    der  ja   überall 

Quellen  erweckt.  Und  wieder:  wenn  Eikthyrnir  das  Gestirn  ist  (man 
weiß,  daß  ich  nicht  dazu  neige,  die  Elementarmythen  unendlich  zu  ver- 
mehren) —  kann  nicht  auch  Heidrün  ein  Gestirn  sein,  an  den  Himmel 
versetzt  wie  Amalthea 5)  ?  d.  h.  eine  alte  Gestirngottheit,  vielleicht  identisch 
mit  der  »Einfüßigen  Ziege«  der  Inder,  die  auch  ein  Sonnendämon 
scheint6)?  oder  doch  jedenfalls7)  zu  den  Himmelsgottheiten  gehört?  — 
Dann  hätten  zwei  verschiedene  uralte  Hypothesen  des  Sonnengottes  fort- 
gelebt, beide  noch  aus  der  »tiergestaltigen  Epoche»  des  Dämonismus,  beide 
noch  immer  als  Gestirne  aufgefaßt,  die  »auf  Odins  Haus  stehen«,  was 
freilich  ursprünglich  nicht  Walhall  meinte,  sondern  das  Himmelsgewölbe.  — 

Hei. 

Aelter  ist  sicher  die  Schilderung  der  Unterwelt,  die  zum  Teil  auf 
indogermanischen  Ansätzen  beruht.  (Der  Höllenfluß;  vielleicht  auch  der 
Höllenhund?8)  Die  Topographie  der  Unterwelt  entwickelt  sich  von 
unsern  Augen  9). 


r)  Wie  das  Olkrüglein  der  Witwe,  wie  die  Züge  im  Märchen  (vgl.  H  e  i  n  z  e  1  - 
Detter  z.  St.),  wie  der  Äpfel  des  Condla  (Thurneysen,  Sagen  aus  dem  alten 
Irland,  Berlin  1901,  S.  75. 

2)  Preller  1,  35.  s)  1,  36. 

4)  Str.  27 f.;  abgekürzt  Gylf.  cap.  4:  Gering  S.  300;  vgl.  o.  S.  454. 

5)  Preller  1,  133. 

,     6)  Macdonell  S.  75.  7)  Ebd. 

8)  Vgl.  allgemein  Rohde,  Psyche;  A.  Dieterich,  Nekynia, 

9)  Vgl.  allgemein  Golther  S.  473,  Meyer  S.  456 f.  463 f.  u.  ö.  Für  die 
Griechen  Prell  er  1,  807  f.  Auch  M.  Landau,  Hölle  und  Fegefeuer,  Heidel- 
berg 1900. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  465 

Eddalieder.  Die  Vol.  gibt  (Vol.  Str.  38—39)  eine  Schilderung  des 
ieims  der  unter  die  Erde  gebannten  Ungeheuer.  Ein  Saal,  fern  von  der 
onne,  die  Pforten  nach  Norden,  auf  Nästrand  (Totenstrand) ;  durch  die 
)ffnung  nach  oben,  das  Rauchloch,  strömt  ein  Giftregen  *),  die  Wände  sind 
on  Schlangen  umwunden ;  durch  reißende  Ströme  waten  Meineidige  und 
erräterische  Mörder.  Dort  weilen  der  Drache  Nidhögg  und  der  Fenriswolf 
nd  nähren  sich  von  den  Leichen.  —  Also:  unter  der  Erde  ein  Ort  des 
chreckens,  dunkel,  kalt;  dort  nur  Leichen  und  Ungeheuer  und,  zwischen 
eiden,  bestimmte  Verbrecherkategorien.  Die  Strafflüsse  sind  wohl  durch 
en  sich  ansammelnden  Giftregen  gebildet.  —  Typische  Schilderung 
ines  grauenvollen  unterirdischen  Gefängnisses  mit  den  dafür  sprich- 
wörtlichen Schlangen,  der  Dunkelheit  und  Kälte2). 

Für  unecht  halte  ich  die  vorhergehenden  Strophen.     Str.  36: 

Es  ergießt  sich  von  Osten  durch  giftige  Täler 
Mit  Schwerten  und  Dolchen  die  schäumende  Slidr. 

>as  scheint  nur  eine  Doublette  der  zweiten  Halbstrophe  von  Str.  38,  wo  aber 
esser  der  Giftregen  von  oben  hereinströmt.  Verdächtig  ist  ferner  der 
lame,  Slidr,  mit  seiner  Schreckensbedeutung  gewiß  eine  Neuerung  wie 
er  Pyriphlegethon  »Feuerstrom«  und  der  Kokytos  »Heulstrom«3),  ja  wie 
er  Name  der  (an  sich  uralten)  Styx  selbst.  Gerade  deshalb  wird  der  Name 
esonders  betont:  »Slidr  heißt  er«,  wie  nur  noch  ein  einziges  Mal  in 
er  Edda,  in  der  Rigsthula4).  —  Endlich  ist  die  Charakteristik  des  Feuer- 
iftstroms,  daß  er  kleine  und  große  Schwerter  wälzt,  auffallend ;  mag  das 
un5)  die  schneidende  Kälte  bezeichnen  sollen,  oder  die  Schärfe  des 
jiftes  —  was  mir  wahrscheinlicher  ist6).  Der  Vergleich  mit  Artefakten  ist 
er  alten  Poesie  fremd,  die  nur  den  Vergleich  mit  der  künstlichen  Her- 
teilung kennt7).  Es  klingt  durchaus  christlich  (die  sieben  Schwerter  im 
Jerzen  der  Mater  dolorosa!)  —  Sind  hier  Zweifel  möglich,  so  scheinen 
\&  mir  bei  Str.  37  ausgeschlossen: 

Im  Norden  erhob  sich  auf  dem  Nidagefilde 
Ein  Saal  von  Gold  für  Sindris  Geschlecht; 
Auf  Okölnir  stand  ein  andrer 
Biersaal  des  Riesen,  der  Brimir  heißt. 


!)  Die  Eliwdgar  des  Chaos;  vgl.  o.  S.  454. 

8)  Die  »aus  Schlangen  geflochtene  Wand«  ist  von  der  finnischen  Kalewala- 
ichtung  übernommen  worden  (Heinzel-Detter  2.  53). 

*)  Preller  1,  817. 

4)  Str.  28;  über  altgermanische  Einführung  von  Namen  vgl.  m  e  i  n  e  Altgerm, 
oesie  S.  372. 

6)  Gering  z.  St.;  Heinzel-Detter  2,  50. 

6)  Vgl.  Lokis  Schmerz  Gylf.  cap   50:  Gering  S.  347. 

7)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  440,  wo  aber  dieser  wichtige  Unterschied 
och  nicht  erkannt  ist. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte  30 


466  Sechstes  Kapitel. 

Sindri  kommt1)  als  Zwergname  vor;  Brimir  nur  noch  in  einer  inte 
polierten  Strophe 2).    Unzweifelhaft  sollen  sie  Zwerge  und  Riesen  bedeutei  le 
wie   kommen    die  aber  nach  Nästrand?     Es  sind  die  Schwarzeiben,   an 
wortet   Gering3);    aber    sie   werden   bei    dem   Generalappell   der   Götteii 
feinde4)   nicht   erwähnt5).  —   Ferner:   ein  Goldsaal    und   ein  Biersaal   z\i 
diesem  Ort  des  Schreckens!    Sie  müssen  von  wo  anders  her  versetzt  sei 
wie   Aladdins  Palast6).     Und   man   ahnt  auch,   weshalb.     Das  Haus  d;t 
Hei   steht   nach  Norden   gerichtet,   also    im  Süden;    die  Alte7)  sitzt  nacv 
Osten   zu.     Die   Pedanterie  holt   die  anderen    Himmelsrichtungen   nach 
Slidr  kommt  von  Osten  —  dem  Eisenwald,   der  nach  Osten  schaut,  enl< 
sprechend:   dem  Südsaal    werden  Nordsäle  gegenübergebaut.     So   ist  eji 
unterirdisches  Asgard  fertig8). 

In  der  Unterwelt  leben  noch  weitere  »Leute  der  Hei«9);  oder  sirn 
es  (wie  in  der  Zoroastrischen  Religion)  die  in  die  Unterwelt  gebannt* ) 
Verbrecher  selbst10)?  J 

Veg.  Str.  2—3:  Odin  reitet  nach  Niflhel  (»Nebelhölle«).  Als  Wacht : 
ein  (namenloser)  Hund  mit  blutiger  Brust.  Hei  wohnt  in  einer  Burg  ti'f 
Toren  auch  nach  Osten.  ii 

Str.  6 — 7:  Zum  Empfang  Balders  steht  der  Meth  bereit,  von  eine-' 
Schild  bedeckt;  die  Bänke  sind  mit  blitzenden  Ringen,  die  glänzendes 
Dielen  mit  Gold  belegt.  —  Offenbar  ist  diese  Schilderung  den  Walhall 
Schilderungen  nachgebildet;  wiederholt  wird  ja  dort  die  Vorbereitung  di 
Empfanges  geschildert,  die  Walküren  kredenzen  Meth  —  und  zu  dei 
Schildjungfrauen  paßt  der  Schild,  nicht  zu  Hei  oder  dem  unkriegerische u 
Balder  — ;  die  Wände  sind  mit  Gold  bedeckt.  Also  eine  Art  Walha 
in  Niflheim  —  offenbar  eine  Erfindung  erst  des  Dichters  von  Baldii 
Draumar.  Aber  sie  kann  weiter  gewirkt  haben :  von  hier  wird  die  sei 
same  goldbedeckte  Brücke  zur  Unterwelt11)  stammen  und  vielleicht  aucd 
noch  der  abgeschmackte  unterirdische  Trinksaal12).  X 


x)  Skäldsk.  3:  Gering  S.  364;  als  zugeschriebene  Randnotiz? 
a)  Vgl.  zu  dem  Namen  Heinzel-Detter  2,  51. 
3)  Z.  d.  St.  4)  Str.  50  f. 

5)  Später  nennt  Snorri  den  Saal  selbst  Lindri;  vgl.  Heinzel-Detter  z.  S|S 

6)  Vgl.  Meyer  S.  458.  7)  Str.  40. 

8)  Besonders  gut  gewählt  ist  noch  der  Name  des  Biersaals :  »Okölnir«,  »d 
nicht  kalte«  —  »ein  seltsamer  Name  für  einen  Berg  in  dem  eisigen  Riesenland« 
(Gering  z.  St.,  der  also  die  beiden  Säle  an  die  Grenzen  von  Niflheim  verleg 
sie  müssen  wohl  aber  nach  dem  Zusammenhang  innerhalb  des  Reiches  der  H 
gedacht  werden).    Vermutlich,  damit  das  Bier  schön  warm  bleibt! 

9)  Str.  47.  51. 

10)  In  Str.  44.  49.  58  vgl.  u. 
n)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  349;  siehe  u. 
12)  Völ.  Str.  37. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  467 

Vaf.  Str.  43:  die  letzte  Welt  ist  Niflheim,    »die  Tiefe,  die  die  Scharen 
er  Toten  verschlingt«. 

Helr.  Str.  1  (und  Einleitung):  ein  Weg,  der  durch  felsige  Pforten 
lines  von  einer  Riesin  (als  Wächterin?)  bewohnten  Hauses  führt.  Doch 
as   interessante  Lied   (ein  Parricida-Dialog)   ist  jung  und  ohne  Autorität. 

Für  eine  Nachbildung  der  Höllenschilderung,  die  an  eine  falsche 
•itelle  geraten  ist,  halte  ich  auch  Grim.  Str.  39 :  Thor  hat  Flüsse  zu  durch- 
Vaten  (vgl.  Härb.  und  Thor  auf  der  Fahrt  zu  Geirröd)  *)  und  die  Brücke 
'»rennt.  —  Allerdings  sind  tiefe  Flüsse  wohl  überall  als  Grenzen  zu 
lenken;  aber  die  Vereinigung  des  Durchwatens  und  Feuers  mit  heiligen 
trennenden  Wassern  2)  riecht  verteufelt  chthonisch !  — 

Fassen  wir  all  dies  zusammen.  In  einem  Lande  Niflheim  oder  Niflhel, 
m  Strand  der  Toten,  ein  unterirdisches  Verließ  mit  Feuerfluten  (auf  die 
Berührungen  von  »Gift«  und  »Feuer«  war  schon  öfters  hinzuweisen), 
ichlangen  und  Ungeheuern  —  ein  fortlebendes  Stück  Chaos,  von  den 
feinden  der  Menschen  bewohnt.  Umgrenzt  wohl  eben  durch  jene  Flüsse, 
ron  einem  Höllenhund  bewacht,  der  mit  Kerberos  so  gut  wurzelverwandt 
ein  kann  wie  die  germanischen  und  griechischen  Höllenflüsse  unter- 
einander3). — 

Snorri  berichtet:  Nach  Balders  Tod  reitet4)  Hermod  neun  Nächte; 
llann  kommt  er  zu  dem  Flusse  Gjöll%  über  den  eine  goldbelegte  Brücke  (?) 
ührte.  Mödgitd,  die  mutige  Kriegerin,  bewachte  die  Brücke  .  .  .  Darauf 
itt  er  zu  dem  Höllentor  . .  .  Beibehalten  ist  hier  der  Grenzfluß,  das  Tor; 
umgewandelt  der  Wächter:  statt  des  Hundes  eine  Kriegerin  —  gemeint 
Ist  wohl  die  Riesin  der  Helreid.  Neu  die  goldene  Brücke,  die  ganz  aus 
lern  Stil  fällt,  und  der  Name  des  Flusses6). 

Selbständige  Schilderung  von  Hels  Reich  Gylf.  cap.  37):  Odin  hat 
ilie  Hei  nach  Niflheim  geschleudert;  dort  herrscht  sie  und  hat  eine  große 
<tVohnstätte,   die  Wälle  sind   hoch    und   die  Türe  weit.     (Folgt   die  alle- 


5)  Skäldsk.  cap.  2:  Gering  S.  363. 

2)  Vgl.  die  Styx,  bei  der  geschworen  wird;  anders  Heinzel-Detter2,  183. 

3)  v.  d.  Leyen  (S.  87)  hält  den  Höllenhund  für  eine  alte  Doublette  des 
Sonnenwolfs.  Aber  der  Hund,  das  gezähmte  Haustier,  eignet  sich  mehr  zum 
Pächter  als  zum  Räuber.  —  Herakles  holt  den  Kerberos  (Preller  1,  809)  wie 
Hior  (Hym.  Str.  22 f.)  die  Midgardsschlange. 

4)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  345. 

5)  Aus  dem  Katalog  Grim.  Str.  28. 

6)  Dieser  bezeichnet  ein  andermal  (Gylf.  cap.  34:  Gering  S.  325)  den  Fels- 
stein, mit  dem  die  Loki  fesselnde  Schnur  verankert  wird.  —  Die  Riesin  Hyrrokin, 
äie  vom  Feuer  Verrunzelte,  die  mit  Leichentieren  —  ein  Wolf  mit  Schlangen 
aufgezäumt  —  Balders  Leichenschiff  ins  Wasser  zieht,  mag  eine  Doublette  der 
späten  riesischen  Unterweltswächterin  sein  (Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  344). 

7)  Gering  S.  323. 

30* 


g 


Hi 


468  Sechstes  Kapitel. 

gorische  Ausmalung    ihres  Gesindes)  ').  —  Hierher  kommen  nach  Snorri 
alle  Bösen2)  —  was  gewiß  christlich  gedacht  ist3). 

Man  sieht  also  deutlich  die  Zunahme  von  typischer  zu  »ikonischer 
Haltung:   Nomina   propria,    Epitheta   (die  goldbelegte  Brücke;   oder  war 
sie   etwa   nur  zu  Balders  Empfang  vergoldet  worden?),    schließlich   dasm 
Hausgesinde.  —  Diese  selbe  Richtung  zeigt  sich  aber  auch  schon  in  dem 
berühmten  Refrain  der  Völ.4),  wo  der  Hund  seinen  Namen  hat,    Garm, 
und  seine  eigene  Höhle,  Gnipahellir ;  wie  denn  hier  auch  die  Ersetzung  n 
des  Wächterhundes  oder  vielmehr  seine  Verdoppelung  vorgenommen  ist 
wie   dort  Mödgud,   ist  hier5)  Eggther   der   > Hüter  der  Riesin <  ,   der  Helfe 
(oder  sollte  er  Mödguds  Diener  sein?)6). 

Die  Topographie  schlägt  also  hier  ganz  dieselben  Wege  für  He!  ein 
wie  (in  Grim.)   für   das  Heilige  Land;   Anhäufung   von  Namen  und  fast 
philologische   Ausnutzung   von    Andeutungen  (Helreid);   uraltes  Gut   (die^ 
Höllenflüsse)  mit  jüngster  Allegorie  verbrämt.    Was  für  unsere  Auffassung 
und  Bewertung  der  Grim.  spricht7). 

M  i  d  g  a  r  d. 
Über  Midgard  besitzen  wir  lediglich  eine  späte  Angabe8),  im  rein 
geographischen  Stil:  »Die  Erde  ist  kreisrund,  und  um  sie  herum  liegt  das 
tiefe  Meer  (die  antike  Erdscheibe  mit  dem  Okeanos),  an  dessen  Küsten  die 
Götter  den  Riesen  Wohnplätze  anwiesen.  (Wohl  weil  Snorri  den  Okeanos 
mit  Wimur,  dem  mächtigsten  aller  Ströme,  gleichsetzt,  der  Geirröds  Reich 
abschließt)9).  Weiter  rückwärts  auf  der  Erde  aber  errichteten  sie  wegen 
der  feindlichen  Gesinnung  der  Riesen  einen  Burgwall  rund  um  die  Erde 
und  benutzten  dazu  die  Wimpern  Ymirs  und  nannten  den  Burgwall  Mid- 
gard. (Falsche  Auslegung  von  Völ.  Str.  4  und  besonders  Grim.  Str.  41 
Midgard  ist  vielmehr  die  von  dem  angeblichen  Wall  umschlossene  Erde 
selbst,  wie  althochdeutsch  Meregarto.)  —  Somit  wäre  aus  dieser  Erd- 
beschreibung nichts  weiter  zu  gewinnen  10). 


I 


i 


*)  Siehe  o.  S.  391.  a)  Gylf.  cap.  3:  Gering  S.  300. 

3)  Golther  S.  474,  vgl.  472.  —  Systematisierte  Schilderung  bei  Saxo  (S.  31, 
Herrmann  S.  38),  christianisierte  in  Gottschalks  Vision  (Müllenhoff, 
D.  Alt.  5,  113. 

4)  Str.  44.  49.  58.  5)  Str.  42. 

6)  Der  Name  Garm  findet  sich  auch  in  dem  Katalog  der  besten  Dinge  Grim. 
Str.  44,  was  bei  der  Nachbarschaft  Bragis  nichts  für  hohes  Alter  beweißt. 

7)  Schoning  Dödsriger  sucht  nachzuweisen,  daß  auch  das  Riesenreich 
Jötunheim  (S.  9f )  ein  ursprüngliches  Totenreich  ist,  was  wir  mit  seiner  ganzen 
Auffassung  der  Riesen  (vgl.  o.  S.  121)  ablehnen  müssen. 

8)  Gylf.  cap.  8:  Gering  S.  303. 

9)  Skäldsk.  cap.  2:  Gering  S.  362. 

10)  Ihr  Ergebnis,  das  altnordische  Weltbild,  bei  Wein  hold,  Altnord.  Leben, 
S.  358. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  469 

3.  Der  dritte  Schritt  ist  der  Versuch,  die  einzelnen  Welten  zueinander 
eographisch  in  Beziehung  zu  bringen.  Dazu  gibt  es  zwei  Wege:  Be- 
timmung  der  Entfernung  und  Bestimmung  der  Lage. 

a)  Das  Messen  der  Entfernung  bezieht  sich  auf  den  Weg  von  Mittel- 
unkt zu  Mittelpunkt,  da  im  übrigen  alle  Welten  einander  benachbart 
zheinen  oder  wenigstens  dazwischen  liegender  Welten  nie  gedacht  wird. 

Zunächst  fehlt  jede  Angabe  über  den  Abstand:  von  Asgard  zu  Niflheim x), 
on  Asgard  zu  Thrymheim 2)  und  in  umgekehrter  Richtung3),  wo  bei 
Irungnirs  und  Odins  Ritt  nur  gesagt  wird,  daß  die  Rosse  schnell  liefen, 
besonders  charakteristisch  scheint  mir  die  eine  Stelle  bei  Snorri4),  wo  es 
infach  heißt:  »die  Hei  schleuderte  er  nach  Niflheim  herab<  —  doch 
/ohl  aus  Asgard,  da  man  die  Teufelsbrut  ja  erst  aus  Jötunheim  hatte 
lolen  lassen.  Dagegen  fällt  Hephaistos  vom  Olymp  nur  bis  zur  Erde5) 
inen  vollen  Tag  lang  —  ein  episches  Zeitmaß,  das  auch  in  der  Hym.6) 
»egegnet.  —  Die  andere  Stelle  in  der  Prosa7)  geht8)  wohl  auf  sehr  alte 
jrundlage  zurück. 

b)  Die  Entfernung  wird  durch  gewisse  symbolische  Züge  verdeutlicht. 
:s  wird  auf  die  Schwierigkeiten  der  Fahrt  hingewiesen9).  Es  ist  die 
gleiche  Methode,  die  außerhalb  der  Reisen  von  Götterwelt  zu  Götterwelt 
ypisch  dadurch  ausgedrückt  wird,  daß  die  Gestalten  »durch  den  dunklen 
~ann« 10)  reiten.  Es  ist  die  lediglich  symbolische  Andeutung  eines  langen, 
chweren  Weges11).  In  höhnischer  Form  findet  man  dasselbe  in  Odins 
J^egbeschreibung  für  Thor ]  2).  —  Oder  die  Länge  des  Weges  wird  durch 
Urfenthaltsstationen  bemerkbar  gemacht :  Thor  hält  Rast  bei  der  Grid 13), 
vas  freilich  (wie  die  Unterbrechung  von  Brynhilds  Fahrt  bei  der  Riesin 
n  Helr.)  auch  durch  die  Handlung  motiviert  ist.  —  Anders  ist  es,  wenn 
He  Station  erst  unmittelbar  vor  dem  Ziel  gemacht  wird  wie  Skirn.  Str.  11  14). 


x)  Veg.  Str.  2;  auch  Gylf.  cap.  34:  Gering  S.  322;  vgl.  u. 

■)  Thrymskv.  Str.  4,  denn  »bald  erreicht  er  der  Riesen  Heimat  <,  gehöhrt  wie 
jjas  »fern  im  Osten«  Härb.  Str.  29  nur  Ge rings  Übersetzung  an;  Str.  8.  21  — 
seiläufig  bemerkt,  spricht  auch  dies  für  die  Altertümlichkeit  der  Hamarsheimt; 
erner  Skirn.  Str.  10,  Vaf.  Str.  4. 

»)  Skäldsk.  cap.  1:  Gering  S.  357. 

4)  Gylf.  cap.  34.  5)  Preller  1,  174.  ö)  Str.  7. 

7)  Skäldsk.  cap.  1.  s)  Siehe  o.  S.  299. 

9)  Skirn.  Str.  20,  mit  Verstärkung  durch  metrische  Hilfsmittel:  das  »feuchte 
jestein«  auf  dem  Wege  von  den  Göttern  zu  den  Riesen. 

10)  Myrkwid  Lok.  Str.  37  —  wo  es  Gering  aber  als  Grenze  gegen  Muspell- 
leim  faßt  — ;  Vkv.  Str.  1 ;  auch  in  der  Heldensage:  Helg.  Hund.  1,  52;  Akv.  3—5; 
gesteigert  Str.  13:  »auf  wüsten  Felsenpfaden  durch  den  wilden  Forst  von  Myrk- 
vid«.    Vgl.  auch  Helg.  Hund.  1,  17. 

")  Vgl.  Grögaldr  Str.  4.  12)  Härb.  Str.  55. 

13)  Skäldsk.  cap.  2:  Gering  S.  362. 

14)  Vgl.  u. 


470  Sechstes  Kapitel. 

c)  Endlich  folgt  auch  hier  die  »ikonische«  Stufe:  genaue  Angaben.  De 
Übergang  bildet  es,  wenn  Thor  einen  vollen  Tag  lang  scharf  fahren  mu 
um  zu  Hymir  zu  gelangen x).  Volle  Genauigkeit  (immer  natürlich  er 
mit  heiligen  Zahlen!)  haben  wir  erst  bei  Snorri,  wo  Hermod3)  neu 
Nächte2)  bis  zur  Unterwelt  reitet. 

1.  Zur  Bestimmung  der  gegenseitigen  Lage  der  Welten  ist  das  ers" 
Mittel  das  uralte  Betonen  einer  Grenze  zwischen  beiden  Welten4 
Zuerst  ganz  allgemein:  »den  Fluß  verteidigte  ich,  als  Svarangs  Söhne  de 
Angriff  versuchten«5).  Also:  ein  Fluß  als  Grenze.  In  der  Regel  ist  t 
ein  Wald6);  sogar  der  Begriff  ist  von  hier  entlehnt7).  So  bei  Taciti 
die  silva  Hercynia8).  —  Die  deutlichste  Unterbrechung  wäre  freilicl 
wie  zwischen  den  Häusern  y),   so  zwischen  den  Welten  ein  leerer  Raun 

Der  Begriff  der  Grenze  wird  nun  weiter  durch  Staffage  belebt.  So  habe 
wir  schon  in  der  alten  Skfrnisför10)  den  Hirten,  der  wachsam  auf  der 
Hügel  sitzt  (ins  Heroische  übertragen  mit  Eggther,  dem  Hirten  der  Rieser 
der  auf  dem  Hügel  die  Harfe  schlägt)11).  Dann  ist  es12)  der  Herrsche 
Surtr  selbst,  der  mit  dem  Schwert  in  der  Hand  an  der  Grenze  seine 
Reiches  sitzt13).  —  Der  nächste  Schritt  ist  wieder  die  geographisch 
Namengebung.  Der  Fluß,  der  Härb.  Str.  29  noch  einfach  der  anonym 
Grenzfluß  war,  heißt  nun14)  Ifing ;  und  man  weiß  von  ihm  ein  Natur 
wunder  im  Stil  des  althochdeutschen  Meregarto:  er  friert  nie  zu  —  wei 
er  dann  aufhören  würde,  eine  Grenze  zu  bilden.  —  Endlich  hat  mar 
sogar  für  das  ganze  Grenzgebiet  einen  Namen  entdeckt:  bei  Grjötunagara 
dem  Bezirk  der  Steingehege  15),  ist  die  Länderscheide  zwischen  dem  Götter 
und  dem  Riesenland  16). 

»)  Hym.  Str.  7. 

2)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  345. 

3)  Die  alte  Zählung,  nicht  nach  Tagen,  die  schon  Tacitus  Germ.  cap.  li 
auffiel;  bei  der  Fahrt  ins  Nachtreich  besonders  motiviert! 

*)  Vgl.  allgemein  J.  Grimm,  Deutsche  Grenzaltertümer,  Kl.  Sehr.  2,  30 f. 
B)  Härb.  Str.  29;  mit  Angabe  der  Weltrichtung  (s.  u.)  kombiniert. 

6)  Wie  Gering  (S.  37)  auch  hier  voraussetzt. 

7)  J.  Grimm  S.  33. 

8)  cap.  28.  30;  vgl.  bes.  cap.  43. 

9)  Nach  Tacitus  Germ.  cap.  10.  10)  Str.  11. 
n)  Vol.  Str.  42;  vgl.  Heinzel-Detter  2,  58. 
12)  Gylf.  cap.  4:  Gering  S.  300. 

J3)  Über  die  Wächter  der  Unterwelt,  Garm,  Mödgud,  Eggther,  vgl.  weiter 
o.  S.  S.  468. 

**)  Vaf.  Str.  16. 

1B)  Vgl.  die  feuchten  Steine  Skirn.  Str.  10. 

16)  Charakteristisch  für  die  zunehmende  Detailmalerei  ist,  daß  die  Prosa  zu 
Skirn.  Str.  10  dem  Grenzzaun  böse  Hunde  —  im  Stil  Garms  —  zu  Wächtern  ge- 
geben hat.    Ebensolche  bellende  Hunde  auch   Fjöl.   Str.  19-20.  —   Heinzel- 


§  27.    Einteiluug  und  Ordnung  der  Welt.  471 

)e        Eine  weitere  Verdeutlichung  der  Grenze  ist  das  Erbauen  einer  Grenz- 
upurg1),   recht  aus  dem  Leben   genommen,   wie   in   dem  Märchen   vom 
;rstfesenbaumeister2),    während  früherer  Anschauung    der    »Grenzwall    der 
i\sen« 3)  genügte.     Dies   heroische  Detail   wird   erweitert   durch   die  vom 
-limmel  zur  Erde  geschlagene  Brücke4).    Allerdings  führt  sie  nach  Mid- 
s^ard,   wo   die  Götter  täglich    in  Geschäften   zu   tun  haben;   aber  einmal 
iverden  doch  die  aus  der  Unterwelt  über  sie  hinwegstürmen,   so  daß  sie 
jricht 5).    Dennoch  ist  sie  die  beste  der  Brücken 6),  denn  wenn  die  Feinde 
rammen,    soll    sie    brechen.     Also    eine   Art    automatischer   Zugbrücke, 
närchenhaft,  aber  doch  noch  ganz  realistisch  von  dem  Wächter  Heimdali 7) 
um  Brückenkopf  bewacht.  —  Natürlich  wird  die  Vorstellung  des  Regen- 
Rogens   als   einer  Brücke  zwischen  Himmel  und  Erde  volkstümlich  sein; 
;ie  festzulegen  und  zu  benennen  (»Bifröst« ,    »der  schwankende  Weg«), 
)lieb    wohl    den    späteren    Göttertopographen    vorbehalten.  Dagegen 

ragen  wir  Bedenken,  der  Zaunpforte  vor  Walhall  ein  »Vexierschloß«  zu- 
zuschreiben, »wie  das  Tor  in  Fjölsv.  Str.  9 — 10  eine  Art  Selbstschloß  ist«8). 
2.  Man  schreitet  von  da  zu  einer  genaueren  Orientierung  nach  der  Wind- 
ose  fort.  Das  Land  der  Riesen  liegt  im  Osten9);  aber  wo  spielt  sich  eigent- 
lich der  Dialog  der  Härb.  ab?  Doch  wohl  zwischen  Asgard  und  Jötunheim 10). 
Nach  Osten  zu  liegt  auch11)  das  Land  der  Ungeheuer,  also  Niflheim12). 
Endlich  die  Götterfeinde  kommen  von  Osten13),  Norden14),  Süden15). 
Da  die  Dreiteilung  der  Scharen  wohl  erst  dem  Dichter  der  Völ.  gehört 16), 
ist  wohl  nur  die  erste  Angabe  als  echt  anzusehen ;  Surt,  der  Dämon  der 
Hitze,  kommt  von  Mittag  her,  und  für  Loki  bleibt  dann  der  Norden. 
Westen    ist   also  die  gute  Gegend.     Die  germanischen  Tempel  sind  auch 


Detter  (2,  196)  vermissen  das  Durchreiten  der  Waberlohe;  aber  eine  solche 
scheint  nur  zauberisch  Gebannte  zu  umzirkeln:  Svipdagsmäl,  Sigdrif umäl ;  auch 
Qerd,  die  Skirnir  nur  nach  Durchreiten  der  Waberlohe  (Skirn.  8.  9.  17.  18)  er- 
i  eichen  kann,  scheint  durch  einen  Zauber  geschützt  (vgl.  Str.  7). 

*)  Himinbjörg,  Heimdalls  Berg,  Grim.  Str.  13. 

'2)  Gylf.  cap.  42:  Gering  S.  332. 

3)  Völ.  Str.  24. 

4)  Ausführlich  über  die  Gylf.  cap.  13:  Gering  S.  308. 

5)  Faf.  Str.  15. 

<*)  Grim.  Str.  44;  vgl.  Gylf.  cap.  13. 

7)  Gylf.  cap.  27:  Gering  S.  320. 

8)  Heinzel-Detter  2,  180. 

9)  Härb.  Str.  29. 

10)  Vgl.  auch  Grim.  Str.  29,  welche  Angaben   wir  aber  (siehe  o.  S.  469)  für 
unecht  halten. 

")  Völ.  Str.  40. 

12)  Vgl.  Str.  36  und  über  die  Säle  im  Norden  Str.  37  o.  S.  466. 

18)  Hrym:  Völ.  Str.  50.  14)  Loki:  Str.  51. 

1B)  Surt  Str.  52.  16)  Siehe  o.  S.  448. 


472  Sechstes  Kapitel. 

überwiegend  von  Osten  nach  Westen  schauend  orientiert1),  während  in 
Alten  Reich  Ägyptens,  in  den  römischen  Lagern,  in  den  Straßen  voi 
Peking  die  Richtung  auf  Sonnenaufgang  genommen  ist2).  Ob  auch  da 
jener  alten  Anschauung3)  entspricht,  daß  die  Nacht  den  Tag  herbei 
führe4)? 

J.  Grimm5)  spricht  von  »mehrfachen,  freilich  verdunkelten  Vor 
Stellungen  von  drei  oder  vier  Wegen,  welche,  den  Himmelsgegender 
nach,  von  bestimmter  Mittelsäule  aus  .  .  .  das  gesamte  Land  zu  teuer 
scheinen«.  Diese  wären  dann  hier  einzuschalten,  wenn  sie  nicht  schor 
urgermanisch  sein  sollten.  —  Schoning  verlegt  das  ursprüngliche  »Toten 
reich«  Jötunheim  in  den  Norden,  weil  er  die  »Reifriesen«6)  einfach  mi 
den  »Riesen«  schlechtweg  identifiziert;  dabei  führt  er  die  nach  Oster 
führenden  Stellen  selbst7)  an.  Damit  soll  nicht  geleugnet  werden,  daC 
manches  für  den  Norden .  spricht ,  soweit  eben  überhaupt  eine  bestimmte 
Orientierung  anzunehmen  ist8). 

3.  Snorri  gibt  schon  kleine  Atlanten  mit  partieller  Aufzeichnung  der 
ganzen  Lagerung.  Wie  ausführlich  ist  schon  die  Reiseroute  nach  Utgard 9^ 
beschrieben!  Zunächst  hat  Thor  einen  ganzen  Tag  zu  fahren,  wie  zu 
Hymir.  Dann  folgt  die  Fahrtunterbrechung  bei  dem  Bauern,  mit  Abend- 
mahlzeit und  Morgentoilette;  wie  ein  reisender  Grandseigneur  nimmt  der 
Gott  sich  ein  paar  Einheimische  zur  Bedienung  mit.  Nun  kommt  als 
Grenze  statt  des  Flusses  das  Meer,  denn  Utgard  liegt  ja  jenseits  aller 
Welt,  also  auch  jenseits  des  Meeres.  (Ginge  es  wirklich  10)  nur  nach  Jötun 
heim,  so  käme  er  rascher  an!)  Neues  Nachtquartier;  Mahlzeit  mit  der 
unheimlichen  Reisebekanntschaft  Skrymir;  dritte  Nachtruhe;  Weg  nach 
Osten  zu  der  Burg.  —  Die  Absicht,  durch  eine  ausführliche  Schilderung 
im  Reisestil  die  Entfernung  Utgards  anschaulich  zu  machen,  liegt  hier 
klar  zutage.  Um  den  Rückweg  auszufüllen,  wird  die  Begegnung  mit 
Hymir  eingeschoben. 

Noch  mehr  ins  Einzelne  gehen  andere  Angaben.  Snorri  weiß11),  daß 
Idafeld  auf  der  Stätte  des  ehemaligen  Asgard  liegt,  wovon  in  der  Völ. 12) 
nichts   gesagt   ist.     (Vielmehr  ist  Idafeld  nach  Völ.  Str.  7  ja  schon  früher 


x)  Was  zwar  Thümmel  (PBB.  35,  27)  für  Zufall  hält;  siehe  o.  S.  426. 
-)  Nissen,  Orientation,  Berlin  1906,  I,  S.  59.  90. 

3)  Tac.  Germ.  cap.  11. 

4)  Diese  Anschauung  ist  noch  in  der  späten  Mythenmache  (Gylf.  cap.  10: 
Gering  S.  304)  gewahrt. 

5)  Kl.  Sehr.  2,  57.  6)  a.  a.  O.  S.  10.  7)  Ebd. 

8)  Persische  Analogie:  Ebd.  21  Anm.  nach  Edv.  Lehmann. 

9)  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  334. 
,0)  Vgl.  cap.  45. 

X1)  Gylf.  cap.  53:  Gering  S.  351. 
12)  Str.  60. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  473 

dagewesen!)  Und  er  weiß,  daß  dies  Asgard  in  der  Mitte  der  Welt  lag1); 
daß  die  Weltwarte  Hlidskjälf  (in  keinem  Gedicht  benannt)  dort  liegt,  ver- 
isteht  sich  allerdings  von  selbst.  —  Endlich  ist  die  Reihenfolge  der  Heime2) 
wohl  gewiß  als  eine  geographische  Folge  zu  denken.  —  Als  ein  ge- 
trenntes Gebiet  wird  mit  besonderem  Nachdruck  mehrmals3)  das  Gebiet 
der  Schwarzelfen  hervorgehoben 4) :  der  Topograph  ist  hier  in  Ver- 
legenheit, ob  er  sie  bei  den  Elfen  oder  bei  den  Unterirdischen  ein- 
logieren soll. 

Wir  haben  uns  die  Arbeiten  zur  Topographie  des  altheidnischen 
Kosmos  als  ernst  wissenschaftlich  gemeinte  vorzustellen,  etwa  wie  die 
Karten,  die  man  zu  Dantes  Commedia  entworfen  hat  (wo  denn  freilich 
wirklich  lokale  Anschauung  des  Dichters  zugrunde  liegt).  Snorri  hat  hier 
nicht,  wie  gewiß  oft  bei  der  Namengebung,  willkürlich  erfunden,  sondern 
nur  kombiniert  und  ausgeführt.  Daß  man  sich  lange  vor  ihm  schon  auf 
diesem  Wege  befand,  zeigt  die  Angabe  über  das  Schlachtfeld  des  Götter- 
kampfes (eigentlich  hieß  es  wahrscheinlich  Völlr)5): 

Das  Feld  heißt  -Kampfesfeld«,  wo  sich  finden  zum  Kampfe 

Die  seligen  Götter  und  Surt, 

Der  Meilen  hundert  mißts  im  Gevierte  — 

Die  Stätte  ist  ihnen  bestimmt6). 

Das  kann  nicht  alt  sein,  schon  weil  hundert  keine  altgermanische  Zahl 
ist7),  sondern  beinahe  ein  Exponent  jüngerer  Entstehung8);  und  auch 
das  quadratische  Feld  wird  schwerlich  volkstümlicher  Phantasie  verdankt9). 
Und  wenn  bei  den  Hellenen  Phlegra,  die  Stätte  der  Gigantomachie,  an 
vielen  Stellen  lokalisiert  wurde10),  ist  uns  von  solcher  Lokalisierung  von 
Wigrid  nichts  bekannt,  während  doch  Balders  Grab,  die  von  ihm  erweckte 
Quelle  (und  vermutlich  die  Ankunftsstelle  der  Nerthus)  gezeigt  werden. 
(Anderswo  wird  denn  auch  die  Benennung  abgelehnt:  auf  Sigurds  Frage 
antwortet11)  die  Fafnir-Interpolation :  >das  Feld  heißt  ,Noch  gar  nicht  ge- 
schaffen*, wo  alle  Äsen  kämpfen  werden«!) 

Hier  ist  freilich  überhaupt  auf  einen  charakteristischen  Unterschied 
germanischer  und  hellenischer  Mythologie  hinzuweisen.    Wie  lebendig  ist 

l)  Gylf.  cap.  10:  Gering  S.  304. 

*)  Gylf.  cap.  14:  Gering  S.  307;  cap.  17:  S.  312. 

*)  Gylf.  cap.  17:  Gering  S.  312;  Skäldsk.  cap.  4:  Gering  S.  367. 

4)  Das  Gering  Vol.  Str.  37  finden  wollte. 

5)  Siehe  u. 

6)  Vaf.  Str.  18 —  Gylf.  cap.  51 :  Gering  S.  349. 

7)  Meine  Altgerm.  Poesie  S.  84. 

8)  Vgl.  die  Belege  ebd.  S.  81. 

■)  Der  spätere  Comment  steckt  solche  Felder  zum  Duell  ab:  Saxo  S.  118 
i,(Herrmann  S.  157). 

10)  Preller  1,  75.  n)  Fat.  Str.  15. 


474  Sechstes  Kapitel. 

bei  den  Hellenen  das  ganze  Götterleben  mit  bestimmten  irdischen  Stätten 
verbunden !  Wie  ungreifbar  schwebt  es  bei  uns  (wie  bei  den  Indern)  fast 
in  der  Luft!  Wie  höchst  merkwürdig  ist  es,  daß  bei  den  Germanen  die 
lokale  Gebundenheit  vieler  Kulte,  die  sich  schon  in  zahllosen  Beinamen 
verrät1),  ganz  zu  fehlen  scheint  oder  doch  gar  keine  erkennbaren  Spuren 
hinterlassen  hat!  Solche  Beinamen  sind  in  der  Prosa  zur  Kennzeichnung  von 
Personen  sehr  beliebt2)  und  kommen  so  auch  in  der  Heldendichtung  vor3). 
Die  Mythologie  aber  bot  dazu  keine  Gelegenheit.  Nicht  einmal  Njord 
und  Skadi,  bei  denen  so  nachdrücklich  auf  die  Heimat  hingewiesen  wird, 
werden  danach  benannt.  (Eine  Ausnahme  macht  nur  vielleicht  der  Staats- 
gott Odin  als  Gaut ,  Gotengott)4).  Eine  volkstümliche,  primitive  Orts- 
gebundenheit fehlte;  so  blieb  nur  übrig,  sie  statt  auf  Erden  im  Himmel 
zu  schaffen.  Dies  Fehlen  der  Lokalbezeichnungen  spricht  aber  kräftig 
gegen  die  Annahme,  die  ältere  germanische  Mythologie  habe  nur  lokale 
Kulte  gekannt,  die  jetzt  vielfach  vertreten  wird5). 

4.  Nur  im  Licht  dieser  gelehrten  Himmelskarten  scheint  mir  die  höchste 
(und  schlimmste)  Leistung  dieser  kosmischen  Geographie  völlig  verständ- 
lich :  Yggdrasil,  der  gewaltige  Baum. 

Yggdrasil. 

Die  Weltesche6)  ist,  wie  ich  glaube,  wenigstens  in  ihrer  ausgebildeten 
Form  nichts  als  der  Gipfel  dieses  Versuchs,  die  äussere  Einrichtung  der 
Welt  anschaulich  zu  machen.  Der  Ursprung  dieses  Mythus  scheint  in  den 
großen  Bäumen  zu  liegen,  die  sich  vor  den  Göttertempeln  befanden  und 
oft  ihnen  erst  ihre  Entstehung  verschafft  hatten.  Nach  Mannhardt  hat 
besonders  Chadwick  erwiesen,  daß  die  Folge  so  zu  denken  ist  und  nicht 
umgekehrt  diese  Bäume  den  Weltbaum  abbildeten.  So  wird  auch  Walhall 
als  Tempel  Odins  mit  solchem  heiligen  Baum  geschmückt:  Laerad,  von 
dem  Heidrün  und  Eikthyrnir  sich  nähern 7)  muß  dort  gedacht  werden ; 
durch    einen    isolierten    Vers8)    ist    uns    weiter   ein    Hain    Glasir   (»der 


J)  Artemis  Kynthia,  Hephaistos  Aeitnaios,  Aphrodite  Amathusia  usw.;  vgl.  . 
das  Register  bei  Prell  er  1,  941  f. 

2)  Vgl.  F.  Jonsson,  Tilnavne  i  den  islandske  oldliteratur,  Kobenhavn  1908,. 
S.  173  f. 

3)  Sigurd  der  hunnische  Held:  Sig.  sk.  Str.  4,  Atlm.  Str.  97;  Sigrun  von 
Sewafjöll:  Helg.  Hund.  2,  44,  vgl.  35,  110;  die  Helg.  Hjörv.  hat  eine  besondere 
Vorliebe  für  Ortsnamen. 

4)  Vgl.  Golther  S.  301 ;  doch  vgl.  auch  Tyr  als  Saxnöt:  immerhin  Benennung 
nach  Stämmen,  nicht  nach  Orten;  vgl.  n.  S.  106. 

5)  Z.  B.  von  Bethge-Loewe  in  Gebhards  Handbuch  der  deutschen 
Geschichte,  4.  Aufl.,  Berlin  1910;  1,  53. 

6)  Chadwick  S.  72f.,  Golther  S.  527,  Mogk  S.  376,  Meyer  S.  453. 

7)  Grim.  Str.  25-26;  vgl.  o.  S.  463. 

8)  Skäldsk.  cap.  36;  vgl.  Gering  S.  150. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  475 

Glänzende«)  bezeugt,  der  mit  goldenem  Laub  vor  Odins  Palast  steht1).  Wir 
sahen  schon,  daß  die  Göttersitze  durch  solche  Obereinstimmungen  mit 
den  irdischen  Stätten  des  Gottes  gekennzeichnet  werden.  Ein  solcher 
Baum  wird  als  die  eigentliche  alte  Wohnung  Odins  vorgestellt 2) ;  deshalb 
kann  er,  weil  Odin  in  seiner  Krone  wohnt,  Yggdrasil ,  Odins  Roß 
heißen,  —  Daß  der  Baum,  an  dem  Odin  die  Runen  fand,  damit  be- 
zeichnet wurde,  ist3)  nirgends  gesagt. 

1.  Dieser  Baum,  der  vor  Walhall  steht,  weil  er  vor  irdischen  Odins- 
tempeln stand,  wird,  wie  es  scheint,  der  Ausgangspunkt  des  Mythus- 
Schön  früh,  schon  gemeingermanisch  knüpfen  Mythen  an  Odins  Baum: 
er  ist  immer  grün  4) ;  denn  er  steht  unter  dem  Schicksalsbrunnen.  Niemand 
kennt  seine  Wurzeln5)  und  ihre  Äste  breiten  sich  über  die  ganze  Welt6). 
Yggdrasil  war  nur  sein  einer  Name;  er  hieß  auch  Mimameid1),  nach  der 
Anschauung  (die  wohl  die  ältere  ist),  daß  die  Quelle,  an  der  er  steht,  die  des 
Mimi  (Mimir),  nicht  die  der  Urd  sei.  Dagegen  klingt  die  Angabe,  Feuer 
und  Stahl  können  ihm  nichts  anhaben 8),  bedenklich,  wie  eine  Abwehr  der 
beliebten  Fällungen  heiliger  Bäume  durch  Missionare.  —  So  mögen  denn 
auch  Laerad  und  Giasir  Synonyma  des  heiligen  Baumes  sein;  obwohl 
solche  Polyonymie  für  Gegenstände  vereinzelt  wäre.  Aber  es  ist  zu  be- 
achten, daß  Laerad  mit  (wahrscheinlich  alten)  mythologischen  Tieren 
zusammenhängt,  und  Giasir,  wenigstens  nach  unserer  Vermutung,  mit 
göttlichen  Frauen 9). 

Also :  es  bildet  sich  die  Vorstellung,  wie  vor  den  Tempeln  stehe  vor 
Odins  Halle  ein  wunderbarer  Baum  an  einer  rauschenden  Quelle,  die 
wohl  ursprünglich  die  Mimirs  war. 

2.  Die  Völuspä  ist  schon  weiter  fortgeschritten:  erstens  hat  sich  die 
(vermutliche)  Quelle  Mimirs  in  die  Urds  verwandelt.  Daß  die  Schicksals- 
göttin eine  Quelle  besitzt,  ist  schwerlich  alt,  da  diese  nur  Sonnengottheiten 
und  natürlich  Wassergottheiten  gehören.  —  Zweitens  am  Stamm  des 
Baumes  steht  ein  Saal  —  aber  nicht,  wie  an  Giasir  oder  Laerad,  der  Odins, 


r)  Darauf  scheint  sich  auch  Helg.  Hjörv.  Str.  1  zu  beziehen:  Hjörvards 
schöne  Frauen  werden  den  Walküren  verglichen;  vgl.  auch  Heinzel-Detter2, 346« 

2)  Siehe  o.  S.  249. 

3)  Chadwick  S.  74f. 

4)  Vol.  Str.  19  =  Adarn  von  Bremen  über  den  Baum  von  Uppsala  aestate 
et  hieme  semper  virens;  Chadwick  S.  75. 

5)  Fjöl.  Str.  14  =  cuius  illa  generis  sit  nemo  seit  bei  Adam  von  Bremen. 

6)  Fjöl.  Str.  13;  bei  Adam  von  Bremen  nur  late  ramos  extendens. 

7)  Fjöl.  Str.  14.  8)  Fjol.  Str.  14. 

9)  Es  ist  auch  zu  beachten,  daß  von  den  Mähnen  der  \v[alkürenrosse  (Helg. 
Hjörv.  Str.  28)  wie  von  der  Weltesche  (Völ.  Str.  19)  ausgesagt  wird,  von  dort 
komme  der  Tau  in  die  tiefen  Täler.  In  dem  göttlichen  Hain  ist  der  Urquell  des 
geheimnisvollen  Naß. 


476  Sechstes  Kapitel. 

sondern  der  der  drei  Nornen  x).  (Die  beiden  Strophen  Vol.  19  und  20 2) 
stimmen  nicht  ganz  zueinander  und  könnten  wohl  Doubletten  sein.  Die 
erste  scheint  älter,  setzt  wohl  nur  Eine  Schicksalsgöttin  voraus  und  weiht 
dieser  die  Quelle,  ohne  übrigens  über  die  Wohnung  der  Urd  Näheres 
auszusagen.  Die  zweite  setzt3)  drei  Nornen  voraus;  und  sie  hat  bereits 
an  der  Quelle  im  Saal  das  Weltschicksalregulierungsamt,  das  wenigstens 
ich  mich  nicht  entschließen  kann  für  alt  zu  halten). 

Ist  unser  Vorschlag,  den  goldenen  Hain  Glasir  für  den  (schon  immer 
relativ  jungen)  Sitz  der  Walküren  zu  halten,  berechtigt,  so  wäre  alles  leicht 
erklärt.  Die  Verwandtschaft  von  Nornen  und  Walküren 4)  hätte  die 
Schicksalsschwestern  von  Odins  Gnaden  in  die  selbst  ihm  überlegenen 
verwandelt,  und  so  wäre  erst  Urd ,  dann  in  anderer  Lesung  die  Dreiheit 
an  dem  Baum  gekommen.  —  Sonst  wird  in  den  alten  Liedern  nur  noch 
ausgesagt,  daß  (der  Baum  vor  Odins  Halle)  Yggdrasil  bebt,  als  die  An- 
zeichen des  Kampfes  nahen5)  —  wie  aus  dem  Rauschen  der  Bäume 
prophezeit  wurde;  und  daß  es6)  der  beste  (d.  h.  merkwürdigste)  der 
Bäume  ist. 

3.  Endlich  aber  erreicht  der  Weltenbaumeister  der  Grim.  das  Letzte; 
wahrscheinlich  von  Schnitzwerk  mit  phantastischen  Einzelheiten  im  irischen 
Stil7)  mit  bestimmt8).  Nun  wird  der  Weltbaum  zu  einer  Art  »Globus«, 
einer  plastischen  Darstellung  der  Weltlage.  Man  kann  sich  diese  mytho- 
logische Weltkarte  leicht  nachzeichnen.  Zunächst  werden  die  drei  unter- 
göttlichen Hauptwelten  untergebracht:  unter  einer  Wurzel  die  Unterwelt, 
unter  der  anderen  die  Riesen,  unter  der  dritten  die  Menschen  —  also 
Hei  auf  gleichem  Niveau  mit  ihnen!  Die  Götter  halten  an  der  Erde  nur 
Gericht;  Thor  hat  dazu  einen  weiten  Weg  durch  Flüsse  hindurch9).  — 
Nachdem  so  die  Hauptsache  geschehen  ist,  folgt  die  dekorative  Ver- 
schönerung, wie  auf  alten  Atlanten,  wo  allerlei  Landesprodukte  den  Ernst 
der  Geographie  aufheitern.  Oben  sitzt  ein  Adler10)  oder  ein  goldener 
Hahn11);   Snorri  hat  beide  lustig  kombiniert,   indem   er  statt   des  Hahns 


!)  Vgl.  Vol.  Str.  29.  46,  die  die  Nähe  von  Mimirs  Quelle  voraussetzen. 
-)  Vgl.  Vol.  Str.  8. 

3)  Wie  allerdings  die  Völ.  überhaupt:  Str.  8  (ist  es  aber  sicher,  daß  die  drei 
Riesentöchter  die  Nornen  sind?). 

4)  Vgl.  o.  S.  161.  5)  Völ.  Str.  47. 

6)  Grim.  Str.  44. 

7)  Vgl.  allgemein  Olrik,  Nord.  Geistesleben,  S.  86—87. 

8)  Ztschr.  f.  d.  Phil.  38,  172. 

9)  Grim.  Str.  29.  —  Vgl.  allgemein  über  die   »Anfänge  der  Kartographie« 
Andree,  Ethnograph.  Parallelen  1,  197  f. 

10)  Grim.  Str.  32;  vgl.  Heinzel-Detter  z.  St. 

lxj  Vidofnir,  Baumschlange;  Fjol.  Str.  17—18.  —  Dazu  phantastische  Arabesken 
bei  Schuck,  Studier  2,  106 f. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  477 

sinen  Habicht  Vedrfolnir  dem  Adler  noch  zwischen  die  Augen  setzte1)! 
Ferner  läuft  das  Eichhorn  Fatatösk  »Nagezahn«  am  Stamm  entlang,  und 
unten  liegt  der  höllische  Drache  Nidhögg,  der  allein  von  all  diesem  Getier 
mch  sonst  belegt  ist;  vier  Hirsche  mit  Namen  zum  Teil  von  Zwergen 
[alle  mit  D  beginnend)  nagen  an  den  Ästen,  unten  verzehren  Schlangen 
mit  phantastischen  Appellativnamen  die  Zweige. 

All  dies  soll  man  für  alt  halten  und  die  gelehrte  Fabel  »von  der 
Wildkatze,  die  zwischen  dem  Adler  auf  der  Spitze  und  dem  Eber  am 
Fuße  des  Baumes  Unfrieden  stiftet2)«,  soll  uns  nicht  an  tiefsinniger  Aus- 
deutung hindern!  Aber  klingt  dies  alles,  gerade  auch  durch  seine  alle- 
gorische Deutbarkeit,  nicht  mehr  orientalisch3)  als  altgermanisch?  Die 
märchenhafte  Ausdeutung  ist  noch  allenfalls  begreiflich4);  aber  die 
christliche5)  nicht.  Wie  gut  wird  aber  das  ganze  Bild  erklärlich,  wenn 
man  es  eben  wirklich  als  ursprüngliches  Bild  faßt! 

Man  kann  sich  ja  einige  Elemente  leicht  ableiten:  den  Adler,  der  in 
Odins  Baum  wohnt6);  die  Wurzeln,  die  in  ihrer  Stärke  auf  der  Schnitzerei 
angedeutet  haben,  wie  tief  der  Baum  gegründet  ist7).  Und  die  von  den 
Höhlen  der  ältetesten  Felszeichner  her  beliebten  äsenden  Hirsche  und  die 
Schlangen,  vielleicht  nichts  weiter  als  Schnörkel,  sind  konisch  leicht  her- 
zuleiten. 

Ich  glaube  nicht,  daß  meine  Erklärung  alle  Zweifel  löst;  aber 
mindestens  scheint  sie  mir  geeignet,  uns  von  einer  ganzen  Last  ver- 
schwendeten Tiefsinns  zu  befreien  —  was  hat  nicht  allein  Schuck8)  aus 
der  »Widofnir-Sage«  gemacht!  Aber  daß  die  Tempel  mit  Schnitzereien 
bedeckt  waren,  wissen  wir,  und  wie  diese  etwa  aussehen,  auch.  Vögel 
und  Schlangen,  Schlangen  und  Vögel,  das  beherrscht  die  ganze  alt- 
germanische Ornamentik.  Man  sehe  sich  doch  nur  Säves  Siegfriedbilder 
darauf  an,  wie  die  ornamentale  Phantasie  in  den  Vorstellungen  des  Drachen 
wuchert!  oder  man  freue  sich  bei  Salin9)  daran,  wie  die  Löwen  des  Propheten 
Daniel  beinah  zu  Schlangen  mit  Thierköpfen  geworden  sind!  Auf  dem 
Wolfskampf  von  der  Insel  Man  10)  darf  weder  der  Vogel  noch  die  Schlangen- 


1)  Gylf.  cap.  16:  Gering  S.  311. 

2)  Bei  Phädrus;  vgl.  Heinzel-Detter  2,  185. 

3)  Man  denke  an  die  durch  Rückert  volkstümlich  gewordene  Fabel  von  dem 
Mann  im  Syrerland! 

*)  Vgl.  auch  Grim.  Str.  10. 

B)  v.  d.  Leyen,  Märchen,  S.  13f. 

6)  Bei  Bugge,  Golther,  Meyer. 

7)  Noch   bei   Victor    Hugo   treffen    wir   die   gleiche    Verwandlung:    »les 
racines  qui  ont  l'air  de  viperes«  (Mabilleau.  V.  Hugo,  Paris  1907,  S.  127. 

8)  a.  a.  O. 

9)  Die  altgerm.  Tierornamentik,  Stockholm-Berlin  1904,  S.  113. 
10)  Olrik,  Ragnarok,  S.  162. 


478  Sechstes  Kapitel. 

umringelung  fehlen.  Und  wie  viel  Gelegenheit  gab  die  Mythologie  und 
Heldensage  zu  diesen  Darstellungen!  Die  Schlangen  zischen  in  Nästrand 
und  in  der  Grube  Gunnars *).  Jagdbilder  fordern  den  Habicht  und  den 
Hund  2)  usw.  Je  mehr  nun  klar  geworden  ist,  daß  die  primitive  Ornamentik 
auf  Naturnachahmung  ruht3),  desto  begreiflicher  wird  uns  die  Häufigkeit 
der  »Schlangenlinien«  bei  Germanen  wie  bei  Neuseeländern4).  Sollte  eine 
Ableitung  des  Gewürms  unter  der  Wurzel  von  diesem  Lieblingsmotiv 
nicht  so  einfach  sein  wie  die  Erklärung  der  Varianten  Adler,  Habicht, 
Hahn  aus  dem  stilisierten  Vogelbild5)?  —  Allerdings  die  Hirsche  scheinen 
in  der  hieratischen  Kunst  und  daher  auch  in  der  ornamentalen  seltener  als 
in  der  urgeschichtlichen c);  aber  der  Sonnenhirsch  gab  auch  hierzu 
Gelegenheit  (Eikthyrnir!)7). 

4.  Dieser  »Realisierung«  der  mythologischen  Welt  steht  als  notwendige 
Ergänzung  die  Mythologisierung  der  gegebenen  Welt  gegenüber8).  Die 
Erde  schwebt  im  leeren  Raum  —  daraus  wird  bei  Adam  von  Bremen 
ein  geographischer  Begriff,  die  Grenze  des  Weltmeers  im  hohen  Norden 9). 
Über  der  Welt  steht  der  Himmel  mit  den  Gestirnen ;  für  diese  wird  nun 
eine  ganze  Mythologie  ausgeklügelt 10).  Tag  und  Nacht  werden  von  zwei 
Pferden,  Skinfaxi  (mit  leuchtender  Mähne)  und  Hrimfaxi  (mit  betauter 


*)  Akv.  Str.  18;  vielleicht  schwebte  dem  Darsteller  des  Daniel  a.  a.  O.  statt 
der  Löwen-  eine  Schlangengrube  vor. 

2)  Vgl    Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  84. 

3)  Vgl.  z.  B.  Grosse,  Anfänge  der  Kunst,  S.  122. 

4)  Schurtz,  Urgesch.  d.  Kultur,  S.  528. 

8)  Olrik  (Om  Ragnarok  a.  a.  O.)  läßt  es  z.  B.  auch  einmal  unentschieden, 
ob  ein  Adler  oder  ein  Rabe  gemeint  ist  —  genau  wie  noch  der  alte  Fontane 
bei  dem  Federhalter  der  Poggenpuhls,  Werke  8,  269:  »er  schloß  nach  oben  hin 
mit  einem  Adler  ab,  der  aber  auch  eine  Taube  sein  konnte  .  .  .« 

6)  Vgl.  z.  B.  Hoernes,  Urgeschichte  der  Kunst. 

7)  Jagdbilder  bilden  die  ungeheuere  Mehrzahl  der  ältesten  figuralen  Kunst: 
Verworn,  Anfänge  der  Kunst,  Jena  1909,  S.  48;  man  wird  das  Dogma  vom 
religiösen  Ursprung  aller  Kunst  wesentlich  einschränken  müssen.  Hirsche  und 
Eber  dominieren.  Mancher  ikonische  Mythus  wird  von  hier  herrühren;  so  der 
des  Aktäon  vielleicht  von  einer  Zeichnung  des  als  Hirsch  verkleideten  Jägers 
wie  bei  den  Buschmännern  (a.  a.  O.  S.  67).  Und  wer  die  beiden  Bisons  mit  in 
ihre  Seiten  gezeichneten  Speeren  aus  der  Höhle  von  Niaux  (ebd.  S.  46)  be- 
trachtet, wird  darauf  verzichten,  die  Verse  aus  der  Sangaller  Rhetorik  (MSD.  XXVI): 

Der  heber  gät  in  litun, 
tregit-sper  in  situn, 

mit  J.  Grimm   (vgl.  MSD.  Anm.  2,  131)  mythologisch  zu  deuten.    Es  könnte 
geradezu  die  Beschreibung  einer  riesigen  Felsenzeichnung  vorliegen. 

8)  Golther  S.  520,  Mogk  S.  378. 

9)  Golther  a.  a.  O. 

10)  Vaf.  Str.  12.  14.  25,  Sgdr.  Str.  3  (?),  Gylf.  cap.  10:  Gering  S.  305;  vgl 
Golther  S.  522. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  479 

Mähne)  herangebracht:  wie  der  Tau  von  dem  Gebiß  des  schnaubenden 
Pferdes  herabtropft,  das  ist  ein  schönes  Bild,  aber  seine  Deutlichkeit  setzt 
die  Naturbeobachtung  der  Heldendichtung  voraus.  Außer  ihren  Rossen 
erhalten  Tag  und  Nacht  auch  noch  Väter:  Delling  und  Nor  (mit 
alliterierenden  Namen  zu  Dag  und  Nött).  Ebenso  erhalten  Sonne  und 
Mond  einen  Vater1)  und  die  Sonne  eine  Tochter  und  Erbin2).  —  Diese 
Fährte  wird  dann  wieder,  wie  es  scheint3)  unter  ikonischem  Einfluß,  aus- 
geführt: zwei  Rosse  Arwakr  »  Früh  wach«  und  Alswid  »Vollkommen  weise« 
(auf  die  die  Hör-  und  Beobachtungskraft  des  als  Sonnengott  aufgefaßten 
Heimdali  verteilt  scheinen)4)  ziehen  die  Sonne  statt  des  einen  Pferdes5); 
vor  der  Sonne  steht  der  Schild  Swalin,  »der  Abkühlende«  6),  wohl  ein- 
fach der  alte  Sonnenschild  selbst,  nun  zum  Attribut  geworden.  Snorri 
setzt  dann  noch  das  Tüpfelchen  aufs  i,  indem  er  die  Genealogie  zur 
Erde  herüberleitet  und  noch  ein  paar  Glieder  und  Namen  hinzufindet.  — 
Antike  Einflüsse  braucht  man  dazu  schwerlich7)  zu  bemühen8).  Da- 
gegen sind  alle  Volkssagen  über  die  Mondflecken9)  und  Sonnenfinster- 
nisse10) gewiß  in  die  Mischung  eingegangen.  Ähnlich  scheint  es  mir11) 
auch  mit  dem  Regenbogen  zu  stehen;  mindestens  ist  seine  Deutung  als 
Brücke  nicht  indogermanisch,  und  1.  Mos.  8,  14 — 16  zeigt,  welche 
anderen  Deutungen  des  Himmelsbogens  möglich  waren.  — 

Ich  glaube,  wir  sehen  hier  eine  durchaus  folgerechte  Entwicklung. 
Beständig  nimmt  die  Neigung  zu  genauer  Bezeichnung  und  relativer  Be- 
stimmung zu;  der  Systemzwang  bringt  die  seltsamsten  Erschließungen 
und  Erfindungen  (wie  ganz  gewiß  bei  Hesiod  auch!),  und  schließlich 
haben  wir  eine  lückenlose  Himmelskarte  mit  Stammbaum  aller  kosmischen 
Wesen.  Da  unsere  eigene  Wißbegier  der  der  alten  Theologen  gleich  ist, 
machen  wir  nur  zu  gern  von  all  ihren  Funden  Gebrauch.  Aber  ich 
glaube,  wir  müssen  noch  viel  energischer  hinter  Snorri  zurück,  als  es 
gewöhnlich  geschieht.  Wenn  wir  von  ihm  ganz  absehen  würden,  wäre 
das  Bild  der  altnordischen  Religion  vielleicht  treuer,  als  wenn  wir  zu  viel 
von  ihm  annehmen.  Auf  jeden  Fall  muß  zwischen  den  »Synoptikern« 
der   altnordischen    Mythologie,    den    Liedern    der   Edda   (von   den   aller- 


*)  Vaf.  Str.  23.  2)  Vaf.  Str.  47. 

3)  Vgl.  o.  S.  396  zu  den  Blasebälgen. 

4)  Vgl.  Gylf.  cap.  27:  Gering  S.  320;  daher  Runen  auf  'Arwaks  Ohr  und 
auf  Alsvinns  Huf  Sgdr.  Str.  15. 

5)  Vgl.  den  alten  Sonnenwagen  mit  Einem  Pferd;  S.Müller,  Urgeschichte 
Europas,  S.  116. 

6j  Grim.  Str.  37—38. 

7)  Mit  Golther  S.  487. 

8)  Schon  W.  Müller  (Altdeutsche  Religion,  S.  172)  verglich  Hesiod. 

9)  Golther  S.  524  Anm.  2. 

10)  Ebd.  Anm.  3.  ")  Siehe  o.  S.  471. 


480  Sechstes  Kapitel. 

spätesten  kaum  abgesehen)  und  ihrem  vierten  Evangelium,  der  Prosa- 
Edda,  ein  scharfer  Schnitt  gemacht  werden;  von  diesen  mythologischen 
Romanen  einfach  wie  von  »Quellen«  sprechen,  heißt  Weltgeschichte  auf 
Gregor  Samarows  historische  Romane  bauen! 

Innere  Ordnung*  der  Welt. 

Auf  dieser  Erde  also  walten  in  leidlich  geordneten  Kompetenz- 
verhältnissen die  überirdischen  Wesen.  Die  Jahreszeiten  werden  als  Ab- 
lösung regierender  Gottheiten  aufgefaßt,  die  entscheidenden  Momente 
(Sieg,  Ernte  usw.)  als  Hoftage  der  Specialgötter,  denen  man  in  großen 
Opferfesten  huldigt. 

Jeder  Gott  und  jeder  Dämon  —  denn  diese  behaupten  im  Volks- 
glauben ihr  ungeschwächtes  Ansehen  —  hat  sein  Ressort,  und  man  muß 
sich  an  den  rechten  wenden,  sonst  sind  die  Gottheiten  verletzt.  Es  geht 
in  der  Welt  nicht  nach  Gerechtigkeit,  sondern  nach  Macht  und  Gunst, 
und  Odin  gibt  oft  dem  Schlechteren  den  Sieg1).  Schließlich  beruhigt 
sich  dieselbe  Resignation,  die  von  den  unerforschlichen  Wegen  Gottes 
spricht,  auch  mit  den  souveränen  Ratschlüssen  des  (schon  indogermanisch 
unumschränkten)  Schicksalschlusses  der  Nornen. 

Immerhin  zeigen  sich  schon  in  der  mephistophelischen  Götterkritik 
Lokis  Ansätze  zu  einer  moralisierenden  Auffassung.  Im  Ganzen  herrscht 
jedoch  jene  nüchterne  Empirie,  die  auch  die  Weisheitssprüche  der  Häva- 
mäl  kennzeichnet.  Die  Götter  machen  es  wie  die  Menschen;  treiben  sie 
es,  wie  Loki,  zu  toll,  so  finden  auch  sie  keine  Fürsprecher  beim  Thing2) 
und  unterliegen. 

Doch  wenn  auch  das  Verhältnis  zu  den  Göttern  zwar  herzliche  Ver- 
trautheit (Thordienst)  und  sogar  enthusiastischen  Schwung  (Odinsverehrung) 
zeitigt,  so  werden  doch  vor  allem  in  den  Göttergestalten  selbst  ideale 
Tendenzen  sichtbar.  Odin  als  der  ringende,  über  sich  hinauswachsende 
Gott,  Thor  als  der  kräftig-unbesonnene  Schützer  der  Braven,  Frey  als  der 
Leuchtend-Milde,  Balder  als  der  Fleckenlose  —  diese  Lieblingsgestalten 
beweisen,  daß  bei  aller  Weltklugheit  (der  einzigen  Weisheit  primitiver 
Völker;  man  denke  nur  an  die  »Sieben  Weisen«  Griechenlands  und  ihre 
Sprüche!)  die  natürliche  Freude  des  Menschen  auch  an  verzehrendem 
Höhestreben,  auch  an  »heroischer  Dummheit«  (»ich  liebe  die  Dummheit, 
wenn  sie  nur  heroisch  ist,«  rief  Gustav  Roethe  den  Berliner  Studenten 
zu),  auch  an  uneigennütziger  Freigebigkeit  oder  weltferner  Reinheit  nicht 
zu  unterdrücken  war. 

Aber  die  Welt  ist  in  beständigem  Kampf;  selbst  die  Einherier  müssen 
sich   täglich   für   den    letzten    großen  Krieg   üben.     Doch   einst  wird  ein 

*)  Lok.  Str.  22. 
2)  Häv.  Str.  25. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  481 

erkämpfter  Friede  nach  dem  letzten  großen  Kampf  kommen  und  bleiben. 
)amit  das  geschehe,  müssen  sich  die  Menschen  als  Gefolgsleute  der  Götter 
>ewähren  —  wenn  selbst  nur  mit  Nagelschnitzchen  x). 

Vor  allem  ist  es  aber  die  Gemeinschaft  vor  Ragnarök,  nach  der  die 
vlänner  streben.  Sie  begehren  nach  Ruhm2),  und  sie  wollen  in  Odins 
lenossenschaft  aufgenommen  werden.  —  Nächstdem  sind  die  höchsten 
jüter  Besitz  und  Sippe3);  und  das  Leben  ist  ein  so  hohes  Gut4),  daß 
liese  Meinung  auch  zu  dem  Glauben  an  die  Wiedergeburt  führen  konnte, 
vie  sie  Nietzsche  zu  dem  Dogma  der  Ewigen  Wiederkehr  gebracht  hat. 
Mit  charakteristischer  Nüchternheit  predigen  des  Hohen  Sprüche  die  Weis- 
) eil  Ka  n n  i tverstan s : 

Leben  ist  besser  als  Leiche  zu  sein, 

Wer  lebt,  der  kommt  noch  zur  Kuh; 

Für  den  Reichen  bestimmt  sah  ich  rauchen  die  Stätte, 

Er  selbst  lag  tot  vor  der  Tür5). 

Das  Leben  zu  verlängern  und  reich  zu  machen  wünscht  (bei  aller  Todes- 
/erachtung)  der  germanische  Mann,  und  selbst  der  heroische  Asket  Starkad 
vi  11  wenigstens  alt  werden. 

Die  Heldensage  hat  (wie  wohl  überall)  weit  stärker  idealistischen 
Charakter  als  die  Göttersage.  Gestalten  wie  Helgi  Hjörvardson  mit  seiner 
Bereinigung  von  Edelmut  und  Tapferkeit  fehlen  der  Mythologie;  Balder 
st  blaß  neben  Siegfried,  und  gar  die  Göttinnen  neben  Sigrun  oder  Bryn- 
hild  oder  den  Frauen  der  isländischen  Saga.  Eine  Figur  wie  Sigyn  oder  wie 
Manna  glaubten  wir  deshalb  auf  heroischen  Einfluß  zurückführen  zu  sollen. 
Die  altgermanischen  Götter  sind ,  man  möchte  sagen ,  empirische  Ideale, 
licht  moralische  oder  sonst  transszendente ;  selbst  an  Thor  sind  es  nur 
einzelne  Seiten ,  die  moralisch  musterhaft  wirken  sollen.  Der  wahre 
idealismus  der  altgermanischen  Mythologie  liegt  in  dem  leidenschaft- 
lichen Ernst,  den  Odin  im  Suchen  und  Denken,  Thor  im  Handeln 
darstellt.  Einen  übermütigen  Spaß  schließt  das  bei  den  Äsen  so  wenig 
>:us  wie  bei  Luther  oder  Bismarck;  man  mag  Odin  sich  bei  seinen  Liebes- 
schwänken vorstellen  (die  ihm  doch  erst  später  zugeschrieben  werden) 
und  noch  lieber  Thor  mit  der  Midgardschlange  spielen  sehen,  wie  selbst 
der  Gott  des  Alten  Testaments  sein  Spiel  mit  dem  Leviathan  treibt.  Aber 
selbst  Zeus  wirkt  frivol,  Jupiter  flach  neben  diesen  Gestalten,  auf  denen 
das  volle  Bewußtsein  des  menschlichen  Schicksals  und  das  ganze  Pflicht- 
gefühl der  großen  Deutschen  lastet.     Daß  die  Welt  eine  ernste  ist,  voller 

1  j  Gylf .  cap.  51 :  Gering  S.  348. 
a)  Häv.  Str.  76-77. 

3)  Ebd.  und  oft. 

4)  Olrik,  Nordisches  Geistesleben,  S.  17. 

5)  Häv.  Str.  70. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  31 


482  Sechstes  Kapitel. 

Ungeheuer  und  Gefahren1),  ist  die  Grundanschauung:  Dürers  Ritte 
zwischen  Tod  und  Teufel  könnte  schon  an  der  Wand  der  altgermanisch  et 
Halle  hängen.  So  wurden  diese  Männer  erzogen;  sie  konnten  in  ihren 
leidenschaftlichen  Eifer  grausam  sein  wie  der  heilige  Olaf,  furchtbar  wi< 
Karl  der  Große,  oder  auch  mild  zugleich  wie  der  Angelsachse  Alfrec 
und  der  Däne  Kanut;  Frivolität  aber,  leichtsinniges  Spiel  mit  ernster 
Dingen  hatte  sein  Abbild  in  Loki,  an  dem  germanische  Strenge  so  furcht- 
bare Rache  nahm  für  seine  Gesinnung  —  nicht  für  seine  Taten. 

Wie  es  in  der  Götterwelt  zugeht,  ist  damit  im  Wesentlichen  schon 
gesagt.  Politisch  betrachtet  ist  es  ein  deutscher  Staat  aus  den  Zeiten  dei 
Wanderung,  eine  aristokratische  Monarchie.  Ȇber  kleinere  Fragen  be- 
raten die  Fürsten,  über  wichtigere  alle2)«  —  so  bespricht  sich  Odin  mil 
seinem  Ratgeber  Mimir  oder  seiner  Gattin,  bis  die  Not  zu  einem  Konzil 
zwingt3).  Er  ist  der  Götterfürst,  aber  mehr  durch  persönliche  Autorität 
als  der  Weiseste,  denn  durch  irgendein  Recht.  Auch  tritt  dies  Prinzipal 
fast  nur  in  der  Leitung  der  Versammlungen  und  der  Kriege  hervor;  wie 
der  deutsche  Kaiser  hat  er  allein  das  Recht,  den  Krieg  zu  erklären :  durch 
Speerwurf4).  Sonst  begegnet  ihm  sein  vornehmster  Vasall,  Thor,  recht 
ungeberdig,  allerdings  ohne  ihn  zu  kennen  (Härb.),  und  der  Keie  seines 
Hofes,  Loki,  zeigt  ihm  gegenüber  nicht  mehr  Respekt  als  gegenüber  den 
andern,  ja  er  ehrt  Thor-Heinrich  den  Löwen  mehr  als  Odin-Barbarossa. 
Odins  Ehrenrechte,  sein  Palast,  sein  Gefolge  sind  freilich  beträchtlich; 
aber  von  der  Macht,  deren  sich  Zeus  in  der  berühmten  Stelle  von  der 
goldenen  Kette  rühmt,  ist  durchaus  nicht  die  Rede. 

Im  übrigen  leben  die  Götter  eben  wie  die  Menschen :  zwischen 
Pflichten  und  Neigungen  schwankend.  Schuldlos  bleibt  keiner  der  Haupt- 
götter, und  der  Max  Piccolomini  von  Asgard,  Balder,  erkauft  die  Schuld- 
losigkeit durch  frühen  Tod.  Auch  zwischen  den  Göttern  spielen  Feind- 
schaften, selbst  neben  dem  politischen  Gegensatz  von  Äsen  und  Wanen; 
Odin  und  Thor  lieben  sich  nicht,  Odin  und  Frigg  intrigieren  gegen- 
einander, Freyja  schnaubt  Wut  über  einen  Vorschlag  Lokis  (Thrymskv.); 
Njord  und  Skadi  leben  in  unglücklicher  Ehe.  Dazu  kommen  die  Lieb- 
schaften; und  wenn  wir  auch  Lokis  bösem  Maul  nicht  alles  glauben, 
bleibt  genug  übrig,  um  die  Schelte  des  Anaxagoras  gegen  Homer  und 
Hesiod  auch  gegen  die  Eddadichter  wenden  zu  lassen:  nichts  lehrten 
sie  von  den  Göttern  als  Ehebruch,  Diebstahl  und  wechselseitigen 
Betrug ! 


*)  Die  uralte  Priamel  Häv.  Str.  83 f.;  vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  434. 

2)  Tac.  Germ.  cap.  11. 

3)  Über  die  Ratsversammlungen  in  der  Edda  vgl.   meine  Altgermanische 
Poesie  S.  374. 

4)  Vol.  Str.  24. 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  483 

Wenn  so  weit  der  germanische  Olymp  es  dem  hellenischen  wenig 
zuvortut  —  nur  den  Thor  muß  die  Lokasenna  von  ihren  moralischen  An- 
griffen ausnehmen  —  so  faßt  doch  Ein  Moment  sie  zu  großartiger  Ge- 
schlossenheit zusammen:  der  letzte  Kampf,  in  der  Gigantomachie 
landelt  es  sich  um  die  Befestigung  der  Götterherrschaft,  und  sie  liegt  in 
erner  Vergangenheit  —  Ragnarok  entscheidet  über  die  Existenz  der  Welt, 
nid  liegt  noch  vor  uns. 

Olrik  hat  sich1)  darüber  verwundert,  daß  in  diesem  Entscheidungs- 
campfe  Thor  nur  einen  Augenblick  sichtbar  wird.  Mir  scheint  das  fast 
ron  symbolischer  Bedeutung.  Schon  allgemein  galt  für  die  Germanen 
m  Gegensatz  zu  den  Römern2),  daß  es  mehr  auf  das  Heer  ankomme 
üs  auf  den  Heerführer  —  ein  gefährlicher  Satz,  gefährlich  wie  die  Uli- 
Gebundenheit  der  Volksgemeinden,  über  die  der  pünktliche  Römer  spottet, 
v'or  allem  aber  —  nur  zu  schwer  für  unser  Volk  hat  sich  jener  Wunsch 
lies  »wohlwollenden  Beobachters«  erfüllt:  »Wenn  sie  uns  nicht  lieben 
können,  nun,  so  mögen  sie  sich  wenigstens  untereinander  ewig  hassen3)!« 
Der  Individualismus,  der  Partikularismus,  der  Eigensinn,  Trotz  und  (wir 
dürfen  es  nicht  verhehlen!)  Neid  im  deutschen  Nationalcharakter  hat  die 
3eschichte  der  meisten  germanischen  Völker  nur  zu  oft  in  Zersplitterung 
jnd  Ohnmacht  hinabgeführt,  wie  er  ihre  Literatur  und  Kunst  fester 
Tradition  beraubte.  Dies  alles  spiegelt  sich  in  der  leicht  verworrenen, 
iurcheinanderflutenden  Götterwelt  ab,  die  dem  Einbruch  der  Feinde  nicht 
oi  wehren  weiß.  Wie  der  Dämon  der  Gewalt  und  der  List  ziehen  Surt 
ind  Loki  heran.  Da  aber,  wie  1813,  wie  1870  gelingt  das  Wunder: 
Einigkeit,  Aufgehn  im  Gesamtwillen,  Hingabe  an  den  großen  Moment; 
md  der  heftige  Eigenbrödler  Thor,  der  märkische  Bauer,  verschwindet 
linter  dem  Volkswillen  wie  Odin,  der  schwäbische  Ideolog,  oder  Tyr, 
der  Erbe  des  alten  österreichischen  Kriegsruhms,  wenn  man  solches  Spiel 
sait  Analogien  dulden  will  —  hinter  dem  wohl  doch  eine  Ahnung 
dauernder  Verhältnisse  liegt. 

')  Altnord.  Geistesleben  S.  101. 
s)  Tac.  Germ.  cap.  30. 
3)  Tac.  Germ.  cap.  33. 


31 


Siebentes  Kapitel. 

Geschichte  der  altgernianischen  Religion. 

Unsere  Auffassung  der  Entwicklung  der  altgermanischen  Religion 
haben  wir  schon  wiederholt  anzudeuten  gehabt.  Eine  wirkliche  Ge- 
schichte aber  dieser  Religion  zu  schreiben  ist  es  noch  zu  früh ;  mindestens 
ist  als  unentbehrliche  Ergänzung  der  mythologischen  Darstellungsversuche 
eine  Geschichte  der  altgermanischen  Literatur  erforderlich. 
Entworfen  hab  ich  sie  längst,  auch  schon  wiederholt  vorgetragen ;  ob 
gerade  ich  sie  auch  als  Buch  fertig  stellen  werde,  weiß  ich  nicht.  Hier 
kann  es  sich  nur  um  einige  Umrißlinien  handeln;  die  fast  nur  schon 
Gesagtes  im  Zusammenhang  erörtern  wollen. 

Eine  »Geschichte  der  altdeutschen  Religion«  versuchte  in  durchaus 
verdienstvoller  Weise  schon  Wilhelm  Müller  x).  Er  hat  sich  leider  durch 
persönliches  Vorgehen  wider  J.  Grimm  den  Eindruck  des  Buches  ver- 
dorben. Aber  der  Große  war  auch  gegen  ihn  ungerecht.  Aus  Müllers 
antwortendem  »Offenen  Sendschreiben  an  Herrn  Jakob  Grimm <  möchte 
ich  wenigstens  eine  gute  Stelle  herausschreiben,  die  auch  mich  decken 
soll,  wenn  man  findet,  ich  hätte  nicht  genug  »neue  Belege«.  (Neue 
Quellen  hoffe  ich  wohl  »erweckt«  zu  haben.)  »Wollen  wir  in  den 
historischen  Wissenschaften  den  Grundsatz  geltend  machen,  daß  nur  der- 
jenige als  Schriftsteller  auftrete,  der  durchaus  neuen  Stoff  gesammelt  hat, 
wollen  wir  alle  diejenigen  Bücher  verdammen,  in  welchen  schon  be- 
kannte und  von  andern  einmal  benutzte  Quellen  auf  eine  selbständige 
und  neue  Weise  bearbeitet  sind,  so  würden  wir  über  das  Sammeln  und 
das  erste  Verarbeiten  nicht  hinauskommen,  und  die  Wissenschaft  würde 
immer  in  ersten  Anfängen  bleiben2).« 

Spätere  Entwicklungsskizzen  gelten  fast  nur  der  nordischen  Religion, 
die  ja  aber  von  einem  frühen  Zeitpunkt  an  fast  ausschließlich  in  Betracht 
kommt.     Die  energische  schlanke  Erzählung  von  Adolf  Noreen  3)  geht 


1)  1844  in  seinem  Werk   Geschichte  u.  System  der  altdeutschen  Religion«  S.  1  f. 

2)  a.  a.  O.  S.  15. 

8)  Fornnordisk  religion,  mytologi  og  teologi;  Svensk  Tidshrift  1892  S.  172 f.; 
wieder  abgedruckt  Spridda  Studier,  Stockholm  o.  J.;  1,  19f, 


§  27.    Einteilung  und  Ordnung  der  Welt.  485 

m  Einzelnen  wie  im  Ganzen  von  Voraussetzungen  aus,  die  ich  nicht  zu 
:eilen  vermag:  ich  halte  Tyr  nicht  für  »die  Sonne  oder  das  Tageslicht« 
und  halte  nicht  einmal  seine  indogermanische  Vorform  dafür x)  und  kann 
die  Mythologie  nicht  als  Zwischenstufe  zwischen  Religion  und  Theologie 
setzen  2),  wenn  ich  auch  den  letzten  Begriff  und  seine  Anwendung 3)  voll- 
ständig billige.  —  Auch  von  der  Auffassung  Axel  Olriks4)  trennt  mich 
manches,  z.  B.  meine  Auffassung  des  Unsterblichkeitsglaubens  und  der 
Odinsreligäon.  Aber  wie  viel  haben  wir  von  der  Kunst  zu  lernen,  mit 
der  Olrik  die  religiösen  Entwicklungen  in  allgemeine  kulturelle  Zusammen- 
hänge stellt! 

Endlich  sei  noch  daran  erinnert,  daß  Chantepie  de  la  Saussaye 
sein  ganzes  Werk  in  anregender  Weise  nach  der  inneren  Analogie  der 
Erscheinungen  zu  ordnen  sucht.  Auch  auf  die  allgemeinen  Darstellungen 
der  religiösen  Entwicklung,  besonders  Wundts  Völkerpsychologie,  sei 
nochmals  hingewiesen,  und  so  auch  auf  unsern  eigenen  Versuch5).  — 

An  unmittelbaren  Zeugnissen  besitzen  wir  nur  die  Nachrichten 
über  Götterkämpfe;  an  mittelbaren  die  Nachweise  abnehmender  und  zu- 
nehmender Kulte,  verdunkelter  » Überlebsei  <,  und  vor  allem  innere  Wahr- 
scheinlichkeit und  äußere  Analogie.  Saxo  schreibt  schon  von  einem 
bestimmten  Standpunkte  aus  Religionsgeschichte,  nämlich  von  euhemeristi- 
schen 6) :  ein  Häuptling,  der  verbannt  wird  —  Odin,  zwei  kämpfende  Lieb- 
haber: Balder  und  Hod.  Immerhin  bleibt  es  ein  staunenswerter  Versuch, 
die  Mythologie  historisch  zu  begreifen,  wo  Snorri  nur  rein  philologisch 
kombiniert  und  reproduziert:  es  ist  ein  Unterschied  fast  wie  zwischen 
den  antiken  Mythologen  und  denen  seit  Welcker  und  Otfrid  Müller. 

Die  größte  Schwierigkeit  bleibt  natürlich  der  schlimme  Mangel  be- 
stimmter Chronologie.  Wir  besitzen  über  die  uralte  Religion  der  Ägypter 
genaue  Jahreszahlen  —  bei  dieser,  aber  die  doch  vor  weniger  als  einem  Jahr* 
tausend  in  Blüte  stand,  sind  nur  zwei  Momente  der  absoluten  Chrono- 
ogie  vorhanden:  die  Zeit  der  römischen  Berichterstatter  und  die  der 
Edden  —  und  mit  wie  vagen  Zahlen  auch  diese!  Dazu  ein  paar  datier- 
bare Zufallsfunde  wie  die  Merseburger  Sprüche  —  und  im  übrigen  sind 
•wir  der  Willkür  exakt  -  prähistorischer  Zeitbestimmung  wahllos  preis- 
gegeben. .  . 

*)  Gegen  Spridda  Studier  S.  22. 

2)  S.  25.  3)  S.  35  f. 

4)  Nordisches  Geistesleben  S.  31  f.,  vgl.  S.  95  f. 

B)  §  4:  »Typische  Entwicklung  der  Mythologie«.  —  Vgl.  z.  B.  H.Kuenen., 
Volksreligion  und  Weltreligion,  Berlin  1883;  O.  Pfleiderer,  Religion  und 
Religionen,  München  1906;  K.  Völlers,  Die  Weltreligionen,  Jena  1907.  Ferner 
für  die  hebräische  Religion  Giese brecht,  Grundzüge  d.  israel.  Religions- 
geschichte, Leipzig  1904;  für  die  römische  Religion  Wissowa  S.  15 f. 

6)  Vgl.  Golther  S.  701 


486  Siebentes  Kapitel. 

§  28.    Religiösisgeschicfote *). 

Wir  lassen  die  Vorstufen  hier  beiseite  und  begnügen  uns  mit  dei 
Annahme,  Fetischismus,  Animismus,  Dämonismus  dürften  sich  bei  der 
Germanen  in  der  gleichen  Reihenfolge  abgelöst  oder  vielmehr  ergänz! 
haben  wie  bei  anderen  Völkern ;  denn  daß  sie  sämtlich  vorhanden  waren 
ist  sicher,  und  ein  Grund,  eine  anormale  Entwicklung  anzunehmen,  nichi 
vorhanden 2).  Auch  ihr  Fortleben  in  den  höheren  Perioden  sehen  wir  ein- 
fach als  gegeben  an;  noch  in  Odin  stecken  schamanische  Züge,  noch 
Frey  trägt  das  primitive  Symbol  des  Phallus.  Wir  suchen  hier  nur  von 
dem  Beginn  des  eigentlichen  Götterglaubens  an3)  die  Evolution  zu 
skizzieren  und  zwar  auch  wesentlich  nur,  soweit  sie  die  Götterwelt 
selbst  betrifft4). 

Einer  besonderen  Untersuchung  bedarf  noch  insbesondere  die  Frage 
nach  dem  Umfang  phallischer  Elemente  in  der  niederen  Mythologie  der 
Germanen.  Auch  hier  darf  man  nicht  schlechtweg  aus  den  stark  erotischen 
Kultgebräuchen  der  Australier  oder  Hellenen  verallgemeinern;  die  Ger- 
manen waren  wohl  immer  ein  weniger  sinnliches  Volk  als  etwa  die  Romanen. 
Natürlich  aber  wird  mit  Frey  und  phallischen  Freys-Symbolen  mit  Lokis 
Pantomime  vor  Skadi  u.  dgl.  das  Gebiet  der  Anthropophytheia<  nicht 
erschöpft  sein5). 

Wir  betrachten  zunächst  die  urgermanische  Zeit.  Es  gibt  zur 
Zeit  des  Tacitus  bereits  eine  größere  Anzahl  von  Göttern:  ererbte  (Tyr), 
entlehnte  (Nerthus,  Terra  mater?),  neu  entwickelte  (Wodan,  Thor).  Indo- 
germanische Gottheiten  sind  auf  dem  Weg  zur  Heroisierung  (die  Alces); 
Göttergestalten  späterer  Epochen  (wie  Balder)  beginnen  sich  wohl  eben 
zu  bilden.  Wie  man  für  die  fränkische  Geschichte  von  Gundobad  Ein- 
wirkung der  Heldensage  angenommen  hat6),  so  könnte  man  auch  die 
Berichte  vom  Ende  des  Arminius  an  die  Legende  von  Balders  Tod  durch 

x)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  245 f. 

■)  Den  Totemismus,  den  wir  für  die  alten  Germanen  bestreiten,  rechnen 
wir  nicht  zu  den  typischen  Stufen  der  religiösen  Entwicklung.  Er  fehlt  z.  B. 
auch  bei  den  Hebräern  (Wildeboer,  Jahvedienst  u.  Volksreligion,  Freiburg 
1899,  S.  27). 

3)  Vgl.  v.  d.  Leyen  S.  242. 

4)  Für  das  indogermanische  Erbe  vgl.  o.  §  5.  Auch  verweise  ich  noch 
allgemein  auf  Seh  rader,  Sprachvergleichung  und  Urgeschichte,  3.  Aufl.  2,  415  f  ; 
Rez.  Much,  Mitteilungen  d.  Anthropol.  Ges.  Wien  XXXVIII.  (1908)  S.  15i,  und 
seine  erst  während  des  Drucks  erschienene  wichtige  Darstellung  Aryan  Religion 
in  der  Encyklopedia  of  Religion  and  Ethics,  Vol.  II,  die  mir  seine  Güte  zugänglich 
machte. 

5)  Vgl.  z.  B.  Much,  Himmelsgott,  S.  275;  Phalluskult  als  Form  des 
Fetischismus  siehe  o.  S.  67. 

«)  Voretzsch,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  51,  51.  55. 


§  28.    Religionsgeschichte.  487 

Bruderhand  anlehnen ;  man  hat  ja  sogar  öfters  direkt  Arminius  in  Siegfried 
resucht!  Ich  möchte  in  beiden  Fällen  für  die  Geschichtlichheit  der  Ge- 
schichte plädieren,  da  leider  nicht  einmal  Peters  des  Großen  Beteiligung 
in  der  Tötung  seines  Sohnes  Mythus  ist.  —  Ein  eigentlich  anerkannter 
-lauptgott  ist  noch  nicht  vorhanden,  wohl  aber  eine  Dreiheit:  der  indo- 
germanische führende  Tyr,  der  spezifisch  germanische  Wodan,  der  im 
forden  zu  höchster  Verehrung  gelangte  Thor.  Sie  mögen  wohl  der 
sozialen  Lagerung  entsprechen:  dem  altgermanischen  Nichts-als-Krieger, 
vie  ihn  Tacitus1),  unzweifelhaft  übertreibend,  schildert;  dem  neu  auf- 
rommenden  Stand  erblicher  Häuptlinge;  der  neu  einsetzenden  Acker- 
virtschaft. —  Neben  diesen,  wie  es  scheint,  allgemein  anerkannten  Haupt- 
jottheiten  — -  von  denen  Thor  vielleicht  den  Kelten  und  Germanen  gemein 
var  —  stehen  Hauptgottheiten  bestimmter  Kultusbezirke,  erwählte  Patrone 
jolitisch-religiöser  » Amphiktyonien«.  Durch  das  Mitwirken  politischer 
Momente  (man  denke  an  Delphi!)  verstärkt,  bilden  die  heiligen  Stätten 
lieser  »Landesgötter«  den  ersten  Ansatz  zur  Zentralisierung  des  Kultes: 
lier  werden  zuerst  regelmäßige  große  Feste  gefeiert  (Nerthus,  Alces, 
Tanfana?),  hier  bildet  sich  zuerst  ein  eigentlicher  Priesterstand  (Nerthus), 
md  hier  sind  auch  die  ersten  Tempel  oder  tempelartigen  Baulichkeiten 
ai  vermuten. 

Die  gleichen  Zustände,  wie  sie  uns  für  den  Kontinent  bezeugt  sind, 
iürfen  wir  für  Skandinavien  voraussetzen.  Wir  zitierten  schon  Olriks 
Schilderung  der  »Religion  des  nordischen  Broncealters« 2):  keine  festen 
Götterbilder,  höchstens  sinnbildliche  Opferfiguren;  keine  eigentlichen 
Tempel;  starke  Fortdauer  des  Animismus  im  Kult  heiliger  Steine  und 
aiderer  Naturgegenstände ;  Opfermahlzeiten  mit  symbolischen  Opfergaben : 
tioldschiffchen  (für  Ing-Frey?),  Hammer  (für  Thor).  Denn  daß  diese 
IJtere  bilderlose  Religion  nicht  etwa  der  Vorstellung  persönlicher  über- 
natürlicher Wesen  gänzlich  entbehrte,  hat3)  R.  Much4)  zutreffend  aus- 
geführt. »Ein  Name  wie  Wodanaz  bezeichnet  von  Haus  aus  eine  Person« ; 
und  schon  der  indogermanische  Himmelsgott  war  persönlich  gedacht. 
Die  »adoptionistische«  Vorstellung,  als  kämen  die  germanischen  Götter  erst 
/on  den  Römern,  ist  entschieden  abzuweisen5).  Aber  die  Götter  standen 
ien  gestaltlosen  Dämonen  noch  nahe. 

Dennoch  fühlte  man  sich  im  Gegensatz  zu  niedriger  stehenden  Nach- 
Darn    (Slawen,    Lappen)    bereits   urgermanisch    im    Besitz   einer   gewissen 


')  Germ.  cap.  15. 
a)  Danske  Studier  1895,  S.  40. 
5)  Gegen  Sophus  Müller. 
*)  Gott.  Gel.-Anz.  1909  S.  95. 

5)  So  auch  Golthers  Versuch,   Wodan   aus  Mercurius  abzuleiten  (S.  295); 
vgl.  Much,  Himmelsgott,  S.  250. 


488  Siebentes  Kapitel. 

religiösen  Bildung;  denn  es  ist  mit  Grund  vermutet  worden,  daß  da 
vielumstrittene  Wort  Heiden  schon  in  vorchristlicher  Zeit  einen  Barbarer 
und  zwar  »auch  im  Hinblick  auf  seine  niedrigere  religiöse  Auffassung 
bezeichnet  habe  *),  gerade  wie  die  Ägypter  auf  Syrer  und  Äthiopier  herab 
schauen  2). 

Die  älteste  Zeit  derStammessonderung  pflege  ich  die  jung 
germanische  Periode  zu  nennen;  sprachgeschichtlich  wird  sie  etw; 
durch  Durchführung  des  Vernerschen  Gesetzes  charakterisiert  sein.  E 
beginnt  ein  Auseinandergehen  in  drei  Religionskreise,  die  natürlich  nocll 
viel  gemein  haben  und  dauernd  behalten :  eine  fortschrittlich-synkretistischJ 
am  Rhein,  eine  konservative  im  übrigen  Deutschland,  eine  konservativ] 
synkretistische  im  Norden.  —  Überall  weichen  die  zentralistischen  Tendenzen 
Ing,  Isto,  Irmin  treten  wenigstens  mit  diesen  Namen  ganz  zurück,  di< 
Alces  verlieren  völlig  den  göttlichen  Charakter,  Tanfana  verschwindet 
Nerthus  geht  in  Njord  auf3). 

In  den  Rheingegenden  tritt  unter  römischem  Einfluß  teils  wirklicht 
Aufnahme  fremder  Gottheiten  (Matronae;  Nehalennia-Isis?),  teils  weit 
gehende  Anpassung  (Mars  Thingsus  usw.)  hervor.  Von  hier  aus  wirc 
auch  die  Entwicklung  des  Tempelbaus  und  der  Götterbilder  (erst  durch 
Einführung,  dann  durch  Nachahmung;  etwa  wie  bei  den  Münzen)  be 
schleunigt  worden  sein. 

Hier  und  jetzt  entstand  nun  auch  nach  Wimmers  Nachweisen  die 
Runenschrift,  zunächst  vorzugsweise  hieratisch  verwandt  für  feierliche  In- 
schriften auf  Denksteinen  und  Weihgaben,  Segensformeln  u.  dgl.  Wie 
man  überwiegend  und  wohl  mit  Recht  annimmt,  entstand  gleichzeitig 
auch  das  »goldene  Alphabet«  der  Runennamen 4).  Die  Namen  sind  paar- 
weise geordnet  und  für  die  religiösen  Zustände  am  Entstehungsort  eine 
noch  nicht  ausgenutzte  kostbare  Urkunde5).  Zuerst  geht  eine  Zweiheil 
des  Besitzes :  fe  Vieh,  Geld  und  ür  Stier  —  zweierlei  Formen  des  Ver- 
mögens ausdrückend,  Schatz  und  Herden.  (Die  naive  Voranstellung  — 
die  Buchstaben  sind  ja  hiernach  und  nicht  etwa  nach  dem  nachgebildeter 
lateinischen  Alphabet  geordnet  —  erklärt  sich  wohl  aus  dem  beliebter 
Gebrauch  der  Runen  zu  Eigentumsmarken)6).  Dann  zwei  Kategorier 
überirdischer  Wesen:  thurs  Riese  und  äss  Gott  —  für  Anrufungen  dei 
Furcht;  reid  Wagen,  wohl  auf  den  Gott  Ing  zu  beziehen,  als  den  Gott  dei 


!)Much,  Ztschr.  f.  d.  Wortforschung  4,  217  nach  Kluge,  ebd.  11,  21  f. 
-)  Er  man,  Ägypt.  Rel.,  S.  69. 

3)  Über  diese  Stufe  vgl.   Loewe-Bethge   in   Gebhardts   Handbuch   d 
Deutschen  Geschichte,  4.  Aufl. 

4)  Vgl.  meine  Runischen  Studien  II,  über  Runendichtung,  PBB.  32,  67t 

5)  Vgl.  allgemein  meine  Altgerm.  Poesie  S.  22  f. 

6)  Vgl.  allgemein  Andree,  Ethnograph.  Parallelen  2,  74 f. 


§  28.    Religionsgeschichte.  43g 

Fruchtbarkeit,  und  kann,  vielleicht  für  Heiisprüche  um  Gesundheit1): 
Gedeihen  für  Mensch  und  Vieh  oder  Saat.  —  gjöf  und  vän,  Gabe  und 
Erwartung  (der  Gegengabe).  Die  ganze  Reihe  heißt  Freys  Geschlecht« 
and  bezieht  sich  auf  Gedeihen:  Besitz,  göttliche  Gunst,  Gesundheit, 
menschliche  Gunst2).  (Daß  auch  die  drei  »Geschlechtsnamen«,  die  Be- 
nennungen der  Gruppen  nach  Frey,  Hagal,  Tyr,  schon  urgermanisch 
seien,  läßt  sich  nicht  erweisen ;  doch  ist  es  schon  wegen  Tyrs  abnehmender 
Bedeutung  wahrscheinlich.)  —  hagl  und  naud,  Hagel  und  Not  beziehe 
ich  auf  Fern-  und  Nahkampf,  somit  zugleich  auf  Odin  und  Tyr  obwohl 
dieser  noch  einmal  begegnet.  —  pertra  gehört  vielleicht  auf  die  Bier- 
tafel 3) ;  der  Wortsinn  ist  nicht  erklärt 4) ;  elgr  Elch ,  später  yr  Pfeil  ge- 
lören  zur  Jagd;  also  männliche  Freuden.  Mit  diesem  Paar  wird  das 
unmittelbar  vorangehende  eng  zusammenhängen:  is  Eis  und  är  gute 
Jahreszeit;  ebenso  auch  söl  Sonne,  nebst  einer  anderen  Hälfte,  deren  Be- 
deutung und  Name  problematisch  ist5).  —  Die  Gruppe  heißt  nach  keinem 
Gott,  sondern  nach  der  zuerst  genannten  Naturerscheinung:  Hagels  Ge- 
schlecht. Im  Ganzen:  die  männlichen  »Passionen,  die  Ausfüllung  der 
ITage:  Krieg,  Mahl,  Jagd6).  Man  denke  an  den  Edlen  der  Rigsthula:  er 
ischnitzt  am  Bogen  und  spitzt  die  Pfeile7),  freut  sich  an  stattlichem  Mut 
und  erzieht  seinen  Sohn  zu  Jagd  und  Krieg. 

Die  dritte  Reihe  heißt  nach  dem  Kriegsgott  Tyrs  Geschlecht.  Ihre 
•Paare  sind:  Tyr  als  Siegesgott,  der  seine  eigene  Rune  hat8),  und  bjarkan, 
zu  dem  Wort  für  »Birke<  gehörig  und  nach  dem  (allerdings  späten) 
skaldischen  Gebrauch  für  alles,  was  sich  auf  Frauen  bezieht,  zu  verwenden ; 
jör  Roß  und  madr  Mann,  log  See  und  Ing  Name  des  über  die  See 
gekommenen  Gottes,  ödal  erblicher  Besitz  ö)  und  dagr  Tag,  wohl  für 
den  Gerichtstag.  Wenn  die  anderen  Paare  jedem  gelten,  so  dies  dem 
Vornehmen,  der  Kriegsgewalt  und  Frauen10),  Rosse  und  Mannen,  eine 
Flotte,  erbliches  Gut  und  Gerichtsgewalt  besitzt,  wie  Konungr11),  im  Krieg 


')  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  24. 

2)  Vgl.  z.  B.  Häv.  Str.  42-43,  70-71  und  76-77. 

3)  Tac.  Germ.  cap.  22,  Häv.  Str.  13—14.  19. 

4)  Doch  vgl.  Altgerm.  Poesie  S.  25  den  Hinweis  auf  das  angelsächsische 
Runenlied  v.  14. 

5)  Wimmer,  Die  Runenschrift,  S.  134 f. 

6)  Tac.  Germ.  cap.  15:  »wenn  sie  nicht  im  Krieg  sind,  jagen  sie  etwas,  mehr 
aber  pflegen  sie  der  Muße ,  des  Schlafens  und  Essens  ;  vgl .  über  die  Gast- 
mahle cap.  22. 

7)  Rig.  Str.  27. 

8)  Müllenhoff  und  Liliencron,  Zur  Runenlehre,  S.  36. 

9)  Vgl.  Rig.  Str.  36. 

10)  Wie  Hjörvard  Helgis  Vater  Helg.  Hjörv.  Str.  1. 

11)  Rig.  Str.  35. 


490  Siebentes  Kapitel. 

befehligt,  die  schneeweiße  Tochter  heimführt,  Hengste  reitet,  Krieger  be 
schenkt,  seinen  Landbesitz  mehrt  und  Runen  besser  als  sein  Vatei 
kennt.  —  Ja  man  könnte  alle  drei  Geschlechter  sozial  gliedern:  Gedeihen 
will  jedermann: 

Ganz  elend  ist  keiner  trotz  üblen  Siechttums: 

Den  einen  beseligt  ein  Sohn, 

Den  zweiten  Verwandtschaft,  sein  Wohlstand  den  Dritten, 

Den  vierten  ein  würdiges  Werk1). 

Das  gilt  schon  für  den  Freien;  die  Jagd  (noch  Siegfried  jagt  ja  den 
Elch!)  kommt  erst  der  nobtlitas  zu;  die  ganze  Fülle  des  Besitzes  erst 
dem  princeps.  Was  denn  gleich  noch  für  die  altertümlichen  Grundlagen 
der  als   »schematisch«  geltenden  Rigsthula  zeugen  würde. 

Aber  als  Urkunde  sind  die  Runennamen  nicht  bloß  kulturell 
wichtig,  weil  sie  den  von  Tacitus  beschriebenen  Zustand  noch  genau 
innehalten  (man  könnte  fast  zu  jedem  Satz  seiner  allgemeinen  Charakteristik 
der  Germanen  ein  Runenwort  als  Motto  an  den  Rand  setzen !)  —  sondern 
auch  mythologisch.  Wie  weit  ist  man  noch  von  der  Desideratenliste 
der  Freyja  entfernt,  die2)  ihren  Günstling  den  Odin  auflehen  läßt  nicht 
bloß  um  Gold  und  siegreiche  Waffen,  sondern  auch  um  Weisheit,  ge- 
wandte Rede,  Dichtkunst!  —  Hier  befinden  wir  uns  noch  in  einem  viel 
engeren  Kreise.  Von  Göttern  werden  Ing-Frey  und  Tyr  genannt,  Odin 
vielleicht  (aber  eher  nicht)  beim  Fernkampf  mitverstanden;  Frigg  könnte 
zu  bjarkan  in  Beziehung  stehen;  aber  sie  bleiben  dann  beide  im  Hinter- 
grund hinter  den  Schutzgottheiten  der  ingvaeonen  und  Irminonen.  Man 
hat  die  vielen  Fachgottheiten  noch  nicht  nötig;  für  Sieg  und  Gedeihen 
braucht  man  sie  —  das  andere  kann  der  Dämonen  bannende  Runenzauber 
leisten8).  —  Es  sind  noch  Halbnomaden,  wenn  sie  auch  den  Landbesitz 
hochschätzen;  Krieg  und  Jagd  sind  die  Hauptgewerbe,  das  Vieh  noch 
der  Hauptreichtum;  von  den  Jahreszeiten  und  Naturerscheinungen  fühlt 
man  sich  noch  unmittelbar  abhängig4);  die  Riesen  sind  fast  wichtiger  als 
die  Götter.  Die  Nähe  der  römischen  Kultur  ist  gar  nicht  zu  merken  — 
sie  drang  eben  erst  ein.  Oder  doch:  die  Wichtigkeit  Freys  (durch  seinen 
Wagen,  durch  das  Synonym  Ing,  und  durch  die  Patenschaft  eines  »Ge- 
schlechts« dreifach  vertreten!)  beweist  den  Einfluß  der  fremden  Kultur. 

In  der  Tat:  Frey  ist  der  Exponent  dieser  Stufe,  wie  Wodan  der  ersten 
Phase    einer  spezifisch  germanischen  Religion,   wie  Thor  der  ersten  und 


*)  Häv.  Str.  69.  2)  Hyndl.  Str.  2    3. 

3)  Über  das  Verhältnis  der  in  der  Edda  aufgezählten  Arten  von  Zauber- 
namen zu  den  Schlagworten  des  Runenalphabets  vgl.  meine  Altgerm.  Poesie 
a.  a.  O. 

4)  Caesar  B.  G.  6,  21  übertreibend:  sie  verehren  .  .  .  »Sonne  und  Gewitter 
(Vulcanum,  Thor)  und  Mond,  von  den  andern  haben  sie  nie  gehört*. 


§  28.    Religionsgeschichte.  49  \ 

Ddin  wieder  der  zweiten  Epoche  der  spezifisch  nordischen  Religion.  Frey 
st  ein  »Kulturgott«.  Ein  ursprünglicher  Vegetationsdämon,  noch  ganz 
Drimitiv  durch  das  Symbol  des  Phallus  bezeichnet,  ist  zu  dem  Gott  des 
jedeihens  geworden.  Wahrscheinlich  wurde  er  dabei  an  eine  fremde 
jottheit  angelehnt,  an  einen  »Heilbringer«,  der  (vom  Meer  her)  zuerst 
>ei  den  Ostdänen  erschienen  war  und  dann  mit  seinem  Wagen  weiter- 
zog1) —  gerade  wie  schon  viel  früher  Nerthus-Njord  vom  Meer  her  zu 
ier  Schiffsstätte  gekommen  und  mit  ihrem  Wagen  umhergezogen  war. 
Sie  verschmelzen,  oder  vielmehr  Nerthus  wird  fortgesetzt  teils  in  dem 
mn  mächtig  anwachsenden  Gott  Frey,  teils  in  dem  ganz  zurücktretenden 
3ott  Njord.  Die  Zeit  der  führenden  Göttinnen  (Nerthus,  Terra  Mater, 
sis ;  Tanfana?)  ist  vorbei2).  Eine  interessante  Parallele  bildet  etwa  der 
iltmexikanische  Kalender,  den  S el  er  3)  bespricht.  Der  Windgott,  der  Mond- 
jott,  der  Regengott,  der  Erdgott,  die  Gottheiten  der  Zeugung,  des  be- 
•auschenden  Tranks,  der  Musik  beherrschen  die  Zeiteinteilung,  wie  sie  das 
-eben  eines  auf  hoher  Ackerbaustufe  stehenden  Volkes  beherrschen.  Es 
st  auch  ein   »Runenalphabet«;  aber  ohne  einen  Frey. 

Wir  erkennen  aber  an  Freys  Gestalt  noch  einen  weiteren  fundamen- 
alen  Fortschritt  der  religiösen  Entwicklung.  Nerthus  ist  noch  an  die 
Stätte  ihrer  Epiphanie  geheftet;  ihr  Götterbild  muß  umgeführt  werden  wie 
ier  Santo  Bambino  von  Araceli  in  Rom.  Bei  Frey  wissen  wir  von  keiner 
3rtsgebundenheit;  kein  Noatün  ist  genannt,  wo  er  zuerst  den  Ostdänen 
erschien,  kein  Hain  wird  gezeigt,  in  dem  (wie  wir  annehmen)  die  Alces 
lerniedersteigen.  Man  begreift,  welchen  Fortschritt  in  der  geistigen  Auf- 
assung  der  Gottheit  dies  bedeutet! 

Damit  hängt  etwas  anderes  zusammen.  Die  heiligen  Haine  der 
"aciteischen  Amphiktyonien  tragen  einen  offiziellen  Charakter;  wer  der 
Nerthus  oder  den  Alces  opfern  will,  wenigstens  wer  ihnen  ein  feierliches 
großes  Opfer  bringen  will,  muß  zu  der  heiligen  Insel,  oder  in  den  Hain 
ier  Semnonen  oder  Nahanarvalen  oder  wo  eben  das  Heiligtum  sich  be- 
indet;  wie  der  Jude  in  Jerusalem  opfern  muß  und  nirgends  sonst  opfern 
iarf.    Und  dies  scheint  naturgemäß  die  älteste  Form  der  Götterverehrung. 

r)  Runenlied  v.  63;  Golther  S.  208.  Vgl.  für  den  >Heilbringer«  Breysig, 
Die  Entstehung  des  Gottesgedankens  u.  der  Heilbringer,  Berlin  1905,  und  da- 
gegen Ehrenreich,  Ztschr.  f.  Ethnol.  38,  5361;  Wundt  S.  294 f. 

2)  Man  kann  vielleicht,  wie  Seh  er  er  für  die  deutsche  Literaturgeschichte 
nännische  und  frauenhafte  Perioden  unterscheidet,  sie  auch  für  die  Mythologie 
abgrenzen;  für  die  griechische  und  römische  Religion  wäre  es  nicht  undurch- 
führbar. Man  denke  auch  für  die  christliche  Religionsgeschichte  an  die  Epochen 
der  fast  mythologischen  Verehrung  der  Ekklesia  (vgl.  Conybeare,  Aren.  f.  Rel.- 
Wissensch.  8,  73 f.;  9,  373 f.)  und  später  wieder  des  Madonnenkultes. 

3)  Verhandlungen  d.  Berl.  Anthropol.  Gesellsch.,  28.  März  1898;  Ztschr.  f. 
\nthropol.  S.  1731 


492  Siebentes  Kapitel. 

Wir  haben  auch  hier  einen  beständigen  Wechsel  von  Gebundenheit  unc 
Ungebundenheit,  eine  religiöse  »Polarität«  im  Sinne  Goethes.  Der  Fetiscr 
wie  der  Augenblicksgott  können  nur  da  verehrt  werden,  wo  sie  sind  — 
die  Dämonen  und  Geister  überall,  denn  man  weiß  nicht,  wo  sie  hausen 
(Ausgenommen  die  um  die  Leiche  kreisende  Seele  des  Verstorbenen. 
Der  Gott  aber . hat  wieder  seine  bestimmte  Stätte,  seine  Unterlage,  einer 
Sitz  im  heiligen  Baum,  oder  auf  dem  leeren  Thron«:  er  ist  nicht,  wie 
der  Fetisch,  an  diese  Stätte  gebunden,  aber  will  er  sich  zeigen,  so  läßi 
er  sich  gerade  hier  nieder;  dazu  lädt  ihn  der  leere  Thron  ja  ein,  odei 
der  Wagen  der  Nerthus.  Hierher  muß  man  kommen,  wie  man  in  den 
Palast  gehen  muß,  um  dem  König  eine  Bittschrift  zu  überreichen,  es  sei 
denn,  er  zöge  im  Lande  umher  —  wieder  wie  Nerthus. 

Dies  also  war  die  Form  der  Götterverehrung  auch  in  urgermanischei 
Zeit;  die  älteste  wohl,  wenn  sie  auch  von  den  (überhaupt  merkwürdig 
lokalistisch«  angelegten)  Graecolatinern  sehr  lange,  zum  Teil  dauernd  fest- 
gehalten wurde.  Aber  es  folgt  wieder  eine  Epoche  der  Loslösung:  der  GorJ 
kann  überall  nicht  nur  symbolisch  verehrt  werden  (das  konnte  er  natürlich 
stets),  nicht  nur  mit  »Notopfern«  fern  von  seiner  Stätte  (in  Fällen  der 
Bedrängnis,  der  Schlacht)  bedient  werden  (auch  das  werden  wir  für  alle| 
Zeit  erlaubt  halten  müssen)  —  sondern  auch  mit  feierlichem  Opfer  geehrt 
werden.  Auf  dieser  Stufe  steht  der  altindische  Götierdienst  durchweg1), 
Wir  müssen  sie  auch  für  die  germanisch-römische  Religion  voraussetzen, 
wegen  der  vielen  Opfersteine;  denn  wenn  auch  manche  (wie  z.  B.  wahr- 
scheinlich die  für  die  Deae  Sandraudiga  und  Vercana)  lokal  bedingt  waren, 
können  wir  das  doch  durchaus  nicht  allgemein  voraussetzen.  Wie  sollte 
sich  auch  etwa  der  Mars  Thingsus  eine  feste  Stätte  geschaffen  haben? 

Rückblickend  müssen  wir  innerhalb  dieser  vermuteten  » germanisch  - 
römischen  Religion«  (oder  des  Neu-Ingvaeonismus)  zweierlei  unterscheiden: 
Neuerungen,  die  zeitlich,  und  die  örtlich  bestimmt  sind.  Die  Ungebunden- 
heit der  Götter  und  die  der  Kultstätten  sind  religiöse  Reifezeugnisse  (denen, 
wie  so  oft,  als  Zeugnis  höherer  Reife  wieder  ein  Umschlag  folgt)2);  die 
Verehrung  eines  Kulturgottes  steht  auf  der  Grenze;  die  Anpassung  an 
römische  Art3)  ist  lokal  bedingt.  Daher  die  verschiedenen  Nachwirkungen: 
was  nur  von  der  Nachbarschaft  entlehnt  war,  erlischt  —  außer  natürlich, 
wenn  es  gleichzeitig  ein  (nur  beschleunigtes)  Entwicklungssymptom  war 
wie  Tempelbau  und  Götterbilder.  Denn  die  Evolution  geht  unaufhaltsam 
weiter,  und  so  haben  denn  die  Ingvaeonen  ihrerseits  den  anderen  Germanen 
als  Lehrer  gedient.     Von    hier  verbreiten  sich  Tempel  und  Götterfiguren; 


*)  Hillebrandt  S.  14;  vgl.  o.  S.  417. 
2)  Siehe  u. 

)  Wir  werden   uns  den  Synkretismus  viel  lebhafter  vorstellen  müssen,  als 
wir  ihn  nachweisen  können. 


[§  28.    Religionsgeschichte.  493 

on  hier,  auf  dem  Seewege,  das  übrige  Deutschland  nur  leicht  berührend, 
ommt  Ing  nach  England  (schade,  daß  es  nicht  nach  ihm  heißt,  was  so 
ut  für  dies  Land    und  Volk   passen  würde!)   und  Frey  nach  Schweden. 

Während  also  die  rheinischen  Germanen  und  ihre  Nachbarn  viel  Neues 
rnen,  scheinen  die  übrigen  Deutschen  sehr  viel  konservativer  die 
lythologischen  Anschauungen  ihrer  Vorfahren  gehütet  zu  haben.  Statt 
er  Tempel  und  Götterbilder  treffen  noch  in  karolingischer  Zeit  die 
Missionare  zumeist  heilige  Haine,  Säulen,  Bäume;  und  die  lokale  Ge- 
•undenheit  der  Kulte  scheint  nach  der  Wichtigkeit,  die  Bekehrer  und  Be- 
ehrte den  Zertrümmerungen  dieser  Wohnsitze  der  Götter  beimaßen,  noch 
joß  gewesen  zu  sein.  Auch  haben  Heiligtümer  wie  die  Irminsul  noch 
fanz  den  offiziellen  Charakter  der  Taciteischen  Zentralkultstätten. 

Höchst  charakteristisch  ist  aber  auch  der  Stand  der  Götterwelt.  Wir 
nüssen  ihre  Erscheinungen  noch  im  Fluß  begriffen  denken.  Die  auf  der 
jrenze  zwischen  Dämonentum  und  Göttlichkeit  stehenden  heiligen  Frauen, 
lie  Idisi  des  Merseburger  Spruches,  finden  wir  noch  nicht  auf  der  Stufe 
ler  völlig  in  die  Götterwelt  eingeordneten  Walküren,  so  daß  der  eine 
'^weig  des  Germanentums  einheimische  »Matronae«  anrief,  als  der  andere 
angst  römische  »heilige  Frauen«  zu  verehren  begonnen  hatte.  Ing,  der 
/orläufer  Freys,  ist  ganz  zurückgedrängt,  und  seine  neue  Entwicklung, 
;ben  Frey,  spielt  keine  Rolle.  Aber  auch  Thor  hat  die  führende  Stellung 
verloren,  die  er  innerhalb  der  Taciteischen  Dreiheit  annahm.  Wie  er  im 
Morden  mit  Odin  zu  ringen  hat,  zwei  urgermanische  Götter  in  neuer 
lordischer  Entfaltung,  so  kämpfen  in  Deutschland  die  beiden  anderen 
jlieder  der  beiden  urgermanischen  Triaden :  Isto — Wodan — Mercurius  und 
Irmin-  Tiu — Mars,  auch  sie  zwei  urgermanische  Götter,  aber  wie  es  scheint 
ihne  starke  spezifische  Entwicklung.  Wie  Frey  der  Schwedengott  wird, 
rennen  sich  nach  Tyr  die  Schwaben  x)  Ende  des  achten  Jahrhunderts,  nach 
Saxnöt  vielleicht  gleichzeitig  die  Sachsen  772 2);  nach  Irmin  benennen  sie 
&ir  Hauptheiligtum  Irminsul,  ebenfalls  772  belegt3).  Die  Nachkommen 
fier  alten  Tyr- Völker,  der  Sueben,  Marcomannen  und  Quaden 4)  haben  ihm 
Treue  gehalten ;  aber  sein  Kult  ist  vom  Semnonenwald  weithin  gewandert. 
Auch  Propaganda  scheinen  die  Sachsen  für  ihn  gemacht  zu  haben:  ein 
neuer  Aufschwung  der  Tyr- Verehrung  bei  den  norwegischen  Wikingern 
im  neunten  Jahrhundert  könnte  von  da  kommen5). 

Aber  neben  der  Tyr-Religion  dehnt  sich  die  Wodans-Religion  aus. 
Die  Hermunduren  verehren  Wodan  und  Tiuz6)  — -*  etwa  wie  die  vor- 
sichtige Freyja   den  Ottar   mahnt ,   über  Odin  Thor  nicht  zu  vergessen 7). 


r)  Vgl.  Golther  S.  205.  a)  Ebd.  S.  213. 

a)  Ebd.  S.  S.  210.  4)  Ebd. 

5)  Golther  S.  212  nach  Zimmer;  vgl.  o.  S.  188. 

6)  Ebd.  S.  210.  r)  Hyndl.  Str.  2—4. 


494  Siebentes  Kapitel. 

Vor  allem  aber  ist  in  Norddeutschland  hart  zur  Seite  des  Tyr-Kultes  dei 
Wodansdienst  im  Aufblühen *) ;  Sachsen ,  Angeln ,  Juten  verbreiten  ihn 
Von  den  Sachsen  kommt  er  im  vierten  Jahrhundert  zu  den  Langobarden  2) 
von  den  Angelsachsen  zu  den  schwedischen  Gauten  im  heutigen  Gotland3^ 
und  erobert  sich  allmählich  Dänemark. 

In  Deutschland  hat  Wodan  wohl  noch  nicht  voll  seine  neue  Gestal 
erreicht :  von  einer  Verbindung  mit  dem  Unsterblichkeitsglauben  (Einherier] 
oder  der  Runenfindung  ist  keine  Spur,  und  die  nordischen  Zeugnisse 
verraten  den  Enthusiasmus  einer  jungen  religiösen  Bewegung.  Aber  dei 
alte  Winddämon,  der  urgermanische  Sturmgott  war  längst  zum  Heilgott*; 
geworden,  was  doch  bei  solchen  Anfängen  eine  erstaunliche  Weite  dei 
Betätigung  offenbart.  Seine  Hauptbedeutung  aber,  glaube  ich,  lag  in  der 
politischen  Verhältnissen.  Ich  habe  nachzuweisen  versucht,  daß 
Odin  insbesondere  der  Staatsgott  ist:  er  erzieht  und  prüft  die  Fürsten 
er  leitet  die  Kriege,  ihm  werden  die  Könige  bei  Landesnot  geopfert. 
Diese  Entwicklung  wurde  vermutlich  durch  den  Speergott5)  vermittelt, 
der  auch  schon  deutsch  war.  Für  die  Völker  nun,  die  in  der  Entwicklung 
zu  neuen,  festeren  Ordnungen  begriffen  waren,  mußte  dieser  Gott  damals 
schon  eine  solche  Wichtigkeit  gewinnen  wie  in  Norwegen  nochmals, 
als  der  Häuptling  König  wurde.  Deutschland  ist  auf  dem  Weg  zu! 
der  festen  Staatsbildung,  die  endlich  durch  die  Franken  erreicht  wurde.' 
Schon  Tacitus  bemerkt  Symptome  zunehmender  Vereinheitlichung  des 
Staates  in  monarchischer  Richtung  -—  die  sie  verfolgten,  wie  die  Lango- 
barden, stellten  sich  unter  Wodans  Zeichen,  und  so  auch  das  einzige 
germanische  Volk  mit  fester  politischer  Tradition,  das  geborene  Staatsvolk : 
die  Angelsachsen. 

Daß  der  Kampf  nicht  bloß  metaphorisch  ausgefochten  wurde,  dafür 
spricht  der  merkwürdige  Umstand,  daß  nur  jetzt  (von  Freys  Benennung 
als  Schwedengott,  die  auch  dem  Gegensatz  zu  dem  »Sachsengott«  Odin  6) 
verdankt  wird,  abgesehen)  die  Götter  landschaftliche  oder  vielmehr  stamm- 
heitliche  Benennungen  erhalten :  Odin  als  Gaut,  Gotengott 7),  Saxnöt  als 
Genosse  der  Sachsen ;  und  daß  umgekehrt  die  Schwaben  Ziuväri  heißen 8). 

Es  war  also  eine  mehr  politisch  als  religiös  erregte  Zeit,  etwa  wie 
die  der  Staufer  in  Deutschland  und  Italien,  in  der  auch  der  kirchliche 
Gegensatz  sich  vor  allem  in  den  politischen  umsetzt:  so  stehen  denn  den 
zentralistischen    »Waiblingen!«    unter   Wodans    Panier   die   eifersüchtigen 


x)  Ebd.  S.  297.  2)  Ebd.  S.  300. 

3)  Ebd.  S.  300.  4)  Merseburger  Spruch. 

5)  Siehe  o.  S.  181  f.  6)  Golther  S.  305. 

7)  Ebd.  S.  301. 

8)  S.  205.    Die  Benennungen  Ingvaeonen,   Istvaeonen,  irminonen  sind  doch 
von  anderer  Art. 


§  28.    Religionsgeschichte.  495 

Hüter  alter  Eigenart,  die  »Weifen«  (zum  Teil  auf  demselben  sächsischen 
Boden,  aber  freilich  auch  auf  dem  schwäbischen  der  Hohenstaufen)  unter 
tius  Zeichen  gegenüber  —  und  die  Hermunduren  halten  sich  in  vor- 
sichtiger Neutralität  wie  der  große  Landgraf  auf  der  Wartburg. 

Abseits  von  den  streitenden  Göttern  steht  Balder,  von  dem  uns  viel- 
eicht nur  der  Zufall  gerade  auch  aus  Thüringen  das  Zeugnis  des  Merse- 
ourger  Spruches  gewahrt  hat.  Sein  Mythus  ist  noch  auf  altertümlicher 
Stufe:  das  heilige  Tier  des  Gottes  (das  Sonnenfüllen,  ursprünglich  der 
ßonnenhirsch)  vertritt  bei  der  Verwundung  die  Stelle  des  Gottes;  auch 
m  Kolorit  ist  ein  älterer  Ton :  die  Jagd  statt  der  ritterlichen  Sportübungen 
n  der  Edda.  Neben  den  beiden  kriegerischen,  wilden  Naturen  vertritt  er 
ias  friedliche  Element;  aber  Wodan  ist  mächtiger  auch  im  Heilen.  —  Ob 
Sunna  oder  Sinthgunt  wirklich  deklassierte  Gestirngottheiten  sind,  bleibt 
raglich.  Als  einzige  Göttin  der  altdeutschen  Religion  ist  uns  jedenfalls 
Frigg  bezeugt,  die  aber  vielleicht  auch  erst  als  Wodans  Begleiterin  zu  den 
Langobarden  kam.  —  Dazu  kommt  abseits  von  der  großen  Entwicklung 
iuf  einer  freilich  unbesuchten  Insel  der  Lokalgott  Fosite,  dessen  Gleichen 
s  wohl  aber  an  manchen  Orten  gegeben  haben  wird. 

Wir  müssen  für  diesen  Kreis  der  »altdeutschen  Religion«  einen 
entwickelten  Priesterstand  voraussetzen:  überall  treffen  die  Missionäre  auf 
Priester,  und  festen  Opferritus  erweist  der  Indiculus  superstitionum ;  sie 
werden  auch  zur  Verschärfung  der  Glaubenskämpfe  zwischen  Tyr  und 
Wodan  wie  zwischen  Heidentum  und  Christentum  das  Ihrige  beigetragen 
laben.  Ihnen  kam  auch  die  Tradition  der  Segensformeln  zu,  die  in  den 
meiden  Merseburger  Sprüchen  so  außerordentlich  treu  gewahrt  ist:  ein 
pischer  Bericht,  der  eine  Epiphanie  reproduziert  (sowohl  Balders  Ausritt 
me  die  Tätigkeit  der  Idisi  eignen  sich  durchaus  sogar  zu  mimischer 
Wiederholung  der  göttlichen  Leistung,  zur  »heiligen  Handlung«)  und  der 
eine  uralte  Formel  ausläuft,  uralt  nicht  nur  wegen  der  in  die  fernste 
Eeit  herabreichenden  Parallelen,  sondern  auch  wegen  der  Genauigkeit,  mit 
aer  die  begleitende  »sympathetische  Handlung«  durch  die  Stellung  der 
Worte  symbolisch  nachgeahmt  wird.  Ähnliches  gilt  für  andere  altdeutsche 
Zauber-  und  Segensformeln;  bis  zum  Weingartner  Reisesegen  hin  ist  die 
achte  alte  Tradition  merkwürdig  treu  bewahrt,  an  die  sich  in  angel- 
sächsischen Formeln  früh  mystischer  Unsinn,  der  Sendbote  des  zaubernden 
Schamanentums ,  ansetzt.  Man  vergleiche  nur  den  inhaltlich  so  altertüm- 
lichen Segen  gegen  Hexenschuß  *)  mit  dem  Idisi-Spruch :  wie  die  Walküren 
oder  Schlachtjungfrauen  des  deutschen  Spruches  zu  Hexen  des  altenglischen 2) 

*)  Wülker,  Bibliothek  d.  angelsächsischen  Poesie  1,  317;  vgl.  Koegel, 
Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  93. 

2;  Vgl.  W ulke r,  Grundriß  zur  Gesch.  d.  angelsächsischen  Literatur,  Leipzig 
1885,  S.  350. 


496  Siebentes  Kapitel. 

heruntergekommen  sind  und  wie  die  wirksame  Erzählung  bald  in  de 
Breite  der  gehäuften  Formeln  erstickt!  Wir  können  aus  der  Verschieden 
keit  mit  Zuversicht  schließen,  daß  das  Zauberwesen  bei  den  Deutschei 
nicht  entfernt  dieselbe  Ausdehnung  gewonnen  hatte  wie  bei  den  Angel 
Sachsen  oder  gar  den  Skandinaviern,  was  durch  andere  Erwägungen 
z.  B.  lexikalischer  Art,  bestätigt  wird. 

Die  gleiche  Treue  wie  bei  rituellen  Formeln  scheint  bei  dogmatischei 
vorzu herrschen ;  wenigstens  sind  sehr  alte  Verse  vom  Chaos  und  von 
letzten  Kampf  in  zwei  christliche  Dichtungen,  das  Wessobrunner  Gebe 
und  das  Muspilli,  eingedrungen. 

Immerhin  scheint  auch  dieangelsächsischeReligion,  wenn  mar 
den  Sachsen,  Juten,  Angeln  nach  der  Eroberung  (seit  441)  eine  solch« 
zuschreiben  will,  von  der  gemeingermanischen  sich  eben  nur  durch  eir 
stärkeres  Eindringen  des  Zauberwesens  (wie  es  auch  der  Norden  zeigt 
unterschieden  zu  haben  *).  Ein  Einwirken  des  keltischen  Druidentums  is 
nicht  zu  beobachten  —  auffallend,  da  man  ja  für  spätere  Zeit  den  Keltei 
auf  die  nordische  Religion  einen  so  starken  Einfluß  zuschreibt.  —  Bein 
Ausgang  des  Heidentums  in  England  tritt  eine  Epoche  des  Synkretismu; 
sehr  deutlich  hervor:  in  den  christlichen  Anfärbungen  von  Beowulf 2),  de] 
Umdeutung  heidnischer  Lehrsprüche  ins  Christliche3)  oder  Hinzufügun^ 
christlicher  Lehren4),  der  Übernahme  der  alten  Elegie5).  Doch  ist  die 
alles  nur  dem  Grade  nach  von  Erscheinungen  wie  dem  althochdeutscher 
Muspilli  und  Wessobrunner  Gebet,  dem  Schluß  der  Vol.  und  Vol.  h.  sk 
verschieden;  im  Ganzen  dauert  auf  der  Insel  die  altdeutsche  Reli 
gion«  fort. 

Es  ist  etwa  der  Stand,  den  wir  für  den  Norden  ebenfalls  voraussetzei 
müssen,  ehe  fremde  Einflüsse  und  einheimische  Art  einen  ganz  neuer 
Charakter,  ein  durchaus  originales  Gepräge  einer  Religion  gaben,  die,  wi^ 
alle  stark  individuellen  Religionen,  ihre  Eigenheit  der  energischen  Ver 
Schmelzung  sehr  verschiedener  Elemente  verdankt.  Man  hat  in  neuere 
Zeit  den  synkretistischen  Charakter  des  Urchristentums  immer  stärker  bei 
tont,  immer  energischer  die  Amalgamierung  heidnisch-religiöser  und  antik 
philosophischer  Elemente  nachgewiesen6);   man  betont  immer  stärker  dii 


J)  Vgl.  die  Übersicht  bei  Brandl,  Altengl.  Lit.,  S.  949;  auch  Kögel,  Gesch 
d.  d.  Lit.  1,  109. 

2)  Brandl  S.  1002.  3)  Ebd.  S.  1087. 

4)  Ebd.  S.  960. 

5)  Ebd.  S.  1047.    Vgl.  allgemein  Ehrismann,  PBB.  35,  235. 

6)  Usener,  Dieterich,  Reitzenstein;  Wendland,  Die  hellenisch 
römische  Kultur,  Tübingen  1901;  Schwartz  und,  von  der  volkstümlichen  Seit( 
her,  Deißmann  in  seinem  schönen  Werk  »Licht  von  Osten«,  Tübingen,  2.  Aufl 
1909;  Wernle,  Die  Entstehung  unserer  Religion,  Tübingen,  2.  Aufl.  1904.  S.  292  f 


§  28.    Religionsgeschichte.  497 

»rahmanischen  Bestandteile  im  Buddhismus1),  die  vorislamitischen  im 
slam  und  die  vormosaischen  im  Judentum 2) ;  man  wird  auch  für  die 
inheitlichste  der  germanischen  Religionen,  die  einzige,  die  das  neunte 
ahrhundert  überlebt,  die  einzige,  die  eine  große  Literatur  erzeugt,  die 
inzige,  die  eine  einheimische  Theologie  gereift  hat,  das  alte  Goethische 
J^ort  zugestehen  müssen:  >Kein  Lebendiges  ist  ein  Eins,  immer  ists  ein 
Zieles!« 

Die  nordische  Religion3)  erlebt  ein  gut  Stück  Entwicklung 
or  unseren  Augen  und  könnte  eine  der  bestbekannten  Mythologien  sein  — 
venn  die  Denkmäler  weniger  sorgfältig  gesammelt  wären.  Denn  eben 
n  der  nie  genug  zu  preisenden  Tätigkeit  der  nordischen  Sammler,  Kritiker 
ind  Historiker  unserer  wichtigsten  nationalen  Religionsurkunden  liegt  ja 
uch  die  zum  Teil  unüberwindliche  Erschwerung  des  vollen  Verständnisses : 
vir  sind  gar  zu  oft  nicht  in  der  Lage,  hinter  Aristarch  zu  Homer,  hinter 
»norri  zur  religiösen  Dichtung,  hinter  Saxo  zu  den  mythischen  An- 
chauungen  des  germanischen  Nordens  zu  gelangen!  Ein  jeder  Interpret 
st  eine  Gefahr  für  das  Verständnis  —  Snorri  eine  ungeheuere,  wenn  man 
hm  zu  viel  traut,  und  keine  geringe,  wenn  man  sich  von  ihm  zu  oft 
'um  Widerspruch  reizen  läßt. 

Wir  müssen  uns  zunächst  gegenwärtig  halten,  daß  sich  die  Schilderung 
tes  Tacitus  auf  Skandinavien  nicht  erstreckt.  Indessen  haben  wir  nicht 
len  geringsten  Grund,  für  jene  Zeit  an  einer  weitgehenden  Einheitlichkeit 
les  germanischen  Wesens  zu  zweifeln;  und  was  uns  für  die  Deutschen 
>ezeugt  ist,  würden  wir  für  die  Nordmänner  etwa  erschließen  müssen. 
Vuch  ihre  älteste  Religion  war  stark  dämonistisch,  besaß  noch  kein  irgend- 
wie geordnetes  Göttersystem,  verehrte  die  Götter  »in  der  freien  Natur«4), 
annte  höchstens  Gelegenheitspriester  und  jedenfalls  noch  keinen  Priester- 
tand. Daß  unter  ihren  Göttern  Thor  und  Tyr  sich  befanden,  ist  nicht 
h  bezweifeln:  wir  sehen  keinen  Herd  der  Propaganda,  von  wo  sie  ein- 
gbführt  sein  könnten.  Für  Odin  wäre  das  denkbar;  jedenfalls  aber  ist 
<ein  starkes  Aufsteigen  erst  auf  fremde,  d.  h.  nichtnordische  Anregungen 
urückzuführen.  —  Die  Masse  der  Gräberfunde  im  Norden  läßt  vielleicht 
tbf  eine  intensive  Religiosität  schließen ;  vielleicht  auch  beruht  sie  nur  auf 
ler  Gunst  der  klimatischen  Verhältnisse. 

Es  ist  aber  anzunehmen,  daß  die  Skandinavier  sehr  früh  ihre  Sonder- 
rt  geltend  machten.  Die  nordischen  Götter  haben  nach  S.  Müller5)  in 
der  Zeit   der  Völkerwanderung   ihr   spezifisches  Gepräge   erhalten.     Aber 


*)  Pischel.  2)  Wellhausen. 

3)  Vgl.  allgemein  über  ihr  Verhältnis  zur  gesamtgermanischen  MogkS.  247, 
jolther  S.  39. 

4)  Olrik  S.  33. 

5)  Vorgeschichte  Europas,  S.  186. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  32 


498  Siebentes  Kapitel. 

vielleicht  sollte  man  zunächst  noch  gar  nicht  von  nordischen  Göttern 
sprechen:  eine  nordische  Religion«  entstand  erst  durch  Union  de 
nordischen  Sonderreligionen,  die  freilich  gewiß  nahe  verwandt  warer 
Diese  regionalen  Verschiedenheiten  sind  früh  erkannt  worden  und  schoi 
Uhland  billigte  sie  —  in  einer  Periode,  in  der  er  noch  Geijers  Theori 
abwehren  mußte,  der  nordische  Götterhimmel  sei  aus  Jöten,  Wanen  un< 
Äsen  als  Vertretern  verschiedener  Völker  zusammengesetzt1). 

1.  Vom  Rhein  her  war  Frey  zu  den  Schweden  gekommen,  mit  ihn 
Njord  —  Kulturgötter  des  Reichtums  (der  sich  abstrakter  in  Gullveig-Hei< 
verkörpert).  Das  phallische  Element  tritt  hinter  dem  der  Fruchtbarkeit  in 
vegetativen  Sinne  zurück.  Die  Kulturfortschritte  und  die  damit  ver 
bundene  Verweichlichung^)  führen  zur  Verehrung  einer  neuen  Göttin 
Freyja,  die  im  Land  des  Frey -Kultes  entstanden  sein  muß.  Neben  de 
herberen  Frigg  steht  sie  fast  wie  Balder  neben  Wodan;  das  erotisch* 
Element  wird  stark  betont.  Durchaus  ist  sie  die  Schöpfung  einer  »frauen 
hafteren«  Epoche.  Diese  Gottheiten  bilden  den  engeren  Kreis  de 
Wanen.  Frey  dominiert  entschieden.  Er  hat  große  Tempel3);  ein  be 
stimmter  Typus  seiner  Erscheinung  bildet  sich  früh  heraus;  er  wird  gen 
als  Namenspate  gewählt.  Von  ihm  schreiben  sich  die  Könige  her,  wi^ 
die  Julier  von  Venus;  denn  es  ist  überall  dafür  gesorgt,  daß  die  Stamm 
bäume  in  den  Himmel  wachsen. 

2.  Nach  Dänemark  war  von  den  Ingvaeonen  her  der  Wodansglaub« 
gekommen4).  Der  Staats-  und  Weisheitsgott  hatte  seine  ordnende  Kraf 
auch  hier  bewahrt:  während  Frey  und  gar  Thor  einsam  bleiben,  sammel 
er  um  sich  eine  Götterschar,  die  Äsen,  deren  Kern  vielleicht  die  heroi- 
sierten Fürsten  vornehmer  Geschlechter  bildeten  —  die  Ahnen  der  gotischer 
Könige,  »Halbgötter,  auf  gotisch  ansis«5),  die  Vorläufer  des  Einherier 
tums.  Eine  ganze  Götterwelt  gruppierte  sich  allmählich  um  ihn;  Hönii 
und  Loki,  uralte  Dämonen,  traten  mit  ihm  zu  einer  Dreiheit  zusammen 
Frigg  ward  seine  Gemahlin ;  der  ehemalige  Nebenbuhler  Tyr  und  anden 
Götter  wurden  fast  seine  Vasallen. 

Unzweifelhaft  war  mit  diesem  Aufschwung  auch  eine  Vertiefung  vor 
Odins  Wesen  verbunden,  eine  stärkere  Betonung  der  Weisheit,  die  sicr 
schon   äußerlich   im  Bild   des  alten  erfahrenen  Mannes  abspiegelt  —  dei 

j)  Vgl.  Mo  es  tue,  Uhlands  Vorlesung  über  nordische  Sagen,  Studien  z 
vgl.  Lit.-Gesch.  9,  226.  Neuerdings  hat  Finnurjönsson  (Ark.  f.  n.  Fil.  13,  243; 
diese  regionalen  Verschiedenheiten  besonders  energisch  betont.  Allgemein  geo 
graphische  und  ethnologische  Charakteristik  der  drei  Reiche  bei  Weinhold 
Altnord.  Leben,  S.  221.;  Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  lf. 

2)  Man  denke  an  Starkards  spätere  Schelte;  Olrik  S.  89 f. 

3)  Auch  später  noch  auf  Island;  Golther  S.  232. 

4)  Über  die  Kulturwege  vgl.  Salin,  Altgerm.  Tierornamentik,  Berlin  1904 

5)  Jordanes  cap.  13;  Golther  S.  93.  193. 


§  28.    Religionsgeschichte.  499 

ieutsche  Wodan  jagt  noch  hinter  der  Windsbraut  einher,  der  nordische 
Ddin  erobert  die  Weiber  mit  andern  Künsten.  Doch  werden  wir  die 
mtscheidende  Wendung  der  Odinsreligion  noch  nicht  in  diese  Zeit  setzen 
iürfen. 

3.  Norwegen,  das  jüngste  der  drei  Reiche1),  hat  mit  seinem  »kleinen 
Landschaftskönigtum«  für  den  Herrschergott  Odin  zunächst  keinen  Platz 
ind  sein  Boden  lockte  nicht  wie  die  schwedischen  Täler  zum  Kult  Freys. 
Hier  ward  der  alte  Gewitterdämon,  der  Bauerngott  Thor  zum  National- 
leiligen,  und  seine  Kämpfe  mit  Riesen  und  Riesenweibern  boten  un- 
erschöpflichen Stoff  für  Mythen.  Früh  scheint  zu  ihm  der  alte  Feuer- 
dämon Loki  in  nahe  Beziehungen  zu  treten,  erst  freundschaftlicher  Art, 
iann  feindlicher.  Auch  wird  der  Einfluß  der  finnischen  Zauberei2)  in 
Norwegen  zuerst  sich  geltend  gemacht  haben ;  oft  erscheint  Thor  geradezu 
frls  Schutzherr  gegen  Hexen  und  Unholdinnen. 

Wie  jedermann  sich  seinen  fulltrüi  wählte,  den  Gott  seines  vollen 
Vertrauens 3),  so  hatte  jedes  nordische  Volk  sich  seinen  fulltrüi  erwählt 
■Island  übernahm  später  den  des  Mutterlandes,  wie  Kolonien  zumeist  tun). 
Im  übrigen  werden  wir  im  Zuschnitt  des  Kultus,  im  Ton  der  Andacht, 
*n  der  Weltanschauung  keine  großen  Unterschiede  vermuten  können,  nur 
eine  gewisse  Abstufung  von  norwegischer  Schroffheit  über  dänische  Ge- 
wandtheit zu  schwedischer  Lebenslust;  um  starke  Worte  zu  gebrauchen, 
on  Björnson  über  Ibsen  zu  Bellman4). 

Diese  Konzentration  ermöglicht  die  Verschmelzung.  Frey  kommt  früh 
nach  Norwegen,  von  wo  schon  876  Auswanderer  unter  Thors  und  Freys 
Schutz  nach  Island  fahren5);  doch  bleibt  man  sich  noch  lange  bewußt, 
daß  er  eigentlich  der  schwedische  Opfergott  ist6).  Wodan  kommt  vor 
300  nach  Schweden,  wo  die  »schwedischen  Könige,  die  Söhne  Freys7)«, 
sich  gegen  ihn  wehren.  Ebenso  schauen  in  Norwegen  die  Thorverehrer 
Aiit  Mißtrauen  auf  den  (wohl  von  Adel  und  Königtum  begünstigten)  Odin. 
Dies  führt  nur  zu  Streitgedichten;  zwischen  Wanen  und  Äsen  aber,  d.  h. 
len  Verehrern  Freys  in  Schweden  und  denen  Odins  in  Dänemark  kommt 
es  um  600 8)  zum  Religionskrieg:  dem  Wanenkrieg9). 

*)  Olrik  S.  3.  ')  Siehe  u. 

:>)  Weinhold,  Altnord.  Leben,  S.  462;  Olrik  S.  33. 

*)  Finnurjönsson  (Ark.  f.  nord.  Fil.  13,  234)  bestreitet,  daß  in  Norwegen 
Thor  mehr  als  Odin  verehrt  worden  sei  und  glaubt  lediglich  an  eine  Verschieden- 
heit der  Wirkungssphären. 

B)  Golther  S.  219.  6)  Ebd.  S.  223. 

7)  Ebd.  8)  Weinhold. 

9)  Vgl.  o.  S.  388.  —  Eine  ganz  andere  Deutung  des  Wanenkriegs  als  die 
seit  Wein  hold  und  Hoffory  übliche  möchte  Much  (Himmelsgott,  S.  273) 
geben,  der  ihn  als  einen  Kampf  zwischen  hellenisch  -  indogermanischer  und 
phönizischer  Religion   nimmt.     Aber   er  setzt   eine   viel   ausgebildetere,   götter- 

32* 


500  Siebentes  Kapitel. 

4.  Der  Wanenkrieg  endet  mit  einem  Kompromiß,  dessen  Folge  di< 
nordische  Religion  ist.  Frey  wird  in  den  Götterhimmel,  dem  Odin 
vorsitzt,  rezipiert;  Njord  offiziell  auch,  ohne  es  zu  großer  Stellung  zu 
bringen.  Freyja  wird  gern  aufgenommen  und  beerbt  vielfach  Frigg.  Thor 
tritt  als  erster  Vasall  neben  Odin.  Durch  diese  Vierheit:  Odin,  Frey. 
Thor  (vielfach  gemeinschaftlich  in  Tempeln  verehrt)  und  Freyja  wird  der 
neue  Olymp  gekennzeichnet. 

Natürlich  bleiben  die  alten  Patronate  doch  in  Kraft.  Hallfred  und 
seine  Genossen  geloben  viel  Gold  »dem  Frey,  wenn  sie  nach  Schweden 
kommen,  dem  Thor  und  Odin,  wenn  sie  nach  Island  kommen«1).  — 
Daneben  besteht  auch  weiter  die  Macht  der  untergöttlichen  Wesen;  in 
der  Haddingssaga  sieht  Olrik 2)  den  Kampf  zwischen  Riesen-  und  Götter- 
glauben. 

Eine  allgemeine  Charakteristik  der  »voreddischen  Religion  im  Norden« 
gibt  Krohn  3)  auf  Grund  der  von  ihr  stark  beeinflußten  finnisch-esthnischen 
Mythologie.  Noch  immer  spielt  der  Animismus  eine  große  Rolle:  Worte 
wie  »der  Selige«  und  »Gespenst«  sowie  »Totenschmaus«  werden  ent- 
lehnt; ebenso  Elfen,  Wassermann,  Drachen.  Von  Göttern  sind  Thor  und 
Frey  übernommen4).  — 

Diese  nordische  Religion  besaß  längst  Tempel  und  Kultbilder.  Und 
zwar  scheint  jetzt  jener  Umschwung  eingetreten  zu  sein,  der  an  Stelle  der 
völligen  Ungebundenheit  der  Kultusstätte  wieder  eine  relative  Gebunden- 
heit setzt.  Offizielle  Tempel  im  Sinne  der  Taciteischen  Nationalheilig- 
tümer scheint  es  für  die  Amphiktyonien  Freys,  Odins,  Thors  nicht,  oder 
doch  höchstens  für  die  erste  in  Uppsala  gegeben  zu  haben.  Viele  Tempel 
wurden  gebaut;  denn  man  war  zwar  insoweit  frei,  als  man  in  einem 
beliebigen  Tempel  opfern  konnte,  aber  auch  soweit  gebunden,  als  man 
jedenfalls  in  einem  Tempel  opfern  mußte.    Immer  von  Fällen  dringender 

reichere  indogermanische  Religion  voraus,  als  wir  annehmen  dürfen.  —  Ganz 
euhemeristisch  deutet  ihn  auf  einen  Krieg  zwischen  Odin  (der  doch  nicht  allein 
steht!)  und  »mächtigeren  Zaubergöttern«,  der  Zauberin  Gullveig  und  dem  Zauberer 
Mimir  Methodin,  v.  d.  Leyen  (Sagenbuch,  S.  129).  Er  setzt  übrigens  (S.  130) 
drei  verschiedene  Überlieferungen  voraus.  —  Ähnliche  gnostische  Umformungen 
von  Religionskriegen  zeigt  nicht  nur  die  Gigantomachie,  sondern  vielleicht  auch  der 
Krieg  mit  den  Lapithen-Steingöttern,  Fetischen  (vgl.  Trombetti,  Indogerman. 
u.  sem.  Forschungen,  Bologna  1897,  S.  50. 

1)  Craigie  S.  19. 

2)  Kilderne  til  Sakses  Oldhistorie  2,  6. 

3)  Ztschr.  f.  d.  Alt.  51,  13. 

4)  Nur  aus  volkstümlichen  Zeugnissen  mit  Ausschluß  der  Dichterbelege 
sucht  W.  A.  Craigie  (The  Religion  of  Ancient  Scandinavia,  London  1906)  diese 
zu  rekonstruieren.  —  Vgl.  allgemein  P.  Herrmann,  Nordische  Mythologie, 
Leipzig  1903  Rez.  Finnurjönsson,  Ark.  f.  nord.  Fil.  21,  395. 


§  28.    Religionsgeschichte.  501 

tot  abgesehen.  Ja  allmählich  erhoben  sich  auch  wieder  einzelne  Tempel 
/ie  der  zu  Uppsala,  der  zu  Leire  (unter  Mitwirkung  politischer  Ver- 
ältnisse),  oder  zu  Hlade  (durch  den  persönlichen  Einfluß  des  Jarls  *)  zu 
ist  zentraler  Bedeutung,  dauernd  oder  auf  Zeit.  Ein  Priestertum  bestand 
leichfalls  schon  lange  und  hatte  wohl  die  Sitte  der  theophoren  Namen 
roßgezogen,  die  freilich  auch  auf  dem  Kontinent  begegnen,  dort  aber 
läufiger  mit  allgemeiner  Anrufung  (Regin-Qo\t ,  As-,  Gud)2)  als  mit 
pezifischer  (Frey  —  für  schwedische  Bauern,  Odin  —  für  jütische  Häupt- 
inge, Thor  im  ganzen  Norden3),  immer  als  erster  Namensteil). 

Diese  nordische  Religion,  befruchtet  durch  die  Begegnung  der  drei 
jötterkreise,  erfährt  nun  noch  weitere  Einflüsse:  früh  von  den  niedriger 
tehenden  Finnen,  später  von  den  höher  stehenden  Kelten.  Die  Finnen 
aben  nicht  bloß  entlehnt,  sondern  auch  gegeben.  Die  Übernahme  der 
innischen  Göttin  Skadi,  die  dem  Wanen  Njord  unglücklich  vermählt  wird, 
>t  nur  die  äußere  Verkündigung  dieser  Tatsache4).  Daß  aber  die  ungeheure 
Ausdehnung  des  Zauberwesens,  das  bis  in  die  Spitzen  der  Götterwelt  ein- 
reift  (Odin!),  das  die  Zwergsagen  umgestaltet  und  Loki  einen  neuen 
Charakter  geben  hilft,  dieser  Nachbarschaft  ins  Schuldbuch  zu  schreiben 
st,  wird  man  kaum  bezweifeln  können.  Wird  uns  ja  doch  das  Anrufen 
innischer  Zauberer  (wie  noch  am  Hofe  Iwans  des  Grausamen)  aus- 
irücklich  bezeugt;  und  in  einem  Kult  wie  Häkon  Jarls  vor  Thorgerd  hat 
jolther  schwerlich  mit  Unrecht  eine  gewisse  Erniedrigung  unter  die 
onstige  nordische  Art  gewittert.  Noch  heut  steht  die  große  Frömmigkeit 
ier  Finnen  nach  dem  Urteil  eines  Theologen  »auf  dem  Standpunkt  der 
'hysis  (Ekstase  usw.),  noch  nicht  auf  dem  der  Moral»5). 

Merkwürdig  ist  es,  daß  eine  finnische  Lieblingsvorstellung  (die  in  der 
Putschen  Romantik  seltsam  wieder  auflebt)  auf  die  nordische  Mythologie 
icht  gewirkt  zu  haben  scheint:  die  von  dem  »Schmieden«  lebendiger 
Ifesen  oder  auch  von  Naturerscheinungen :  Wäinämöinen  schmiedet  sich 
m  Pferd6),  eine  Ehefrau,  Sonne  und  Mond7);  Umarmen  eine  Frau8). 
)\e  mythischen  Arbeiten  der  Zwerge  für  die  Götter,  obwohl  verwandt, 
laben  doch  ein  anderes  Gepräge.  Eher  könnte  Mökkurkälfi 9)  verglichen 
werden. 


!)  Olrik  S.  32. 

2)  Vgl.  Olrik  S.  35. 

3)  Ebd. 

4)  Vgl.  über  solche  Götterehen   Bethe,   Hektors  Abschied,   Leipzig   1910, 
I  426. 

5)  K.  Graß,  Die  russischen  Sekten,  Leipzig  1909,  II,  1  S.  336. 

6)  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  87. 

7)  S.  95. 

8)  Ohrt,  Kalewala,  S.  165. 
>)  Skäldsk.  cap.  1:  Gering  S.  359. 


9\ 


502  Siebentes  Kapitel. 

Wie  in  Finnland  die  Schamanen,  beherrschten  in  Irland  die  Druider 
das  religiöse  Leben  1);  sie  hatten  es  schon  zu  Cäsars  Zeit  fast  so  stark  wit 
die  ägyptischen  Priester  regiert.  Dieser  Einfluß  zeigte  sich  in  einer  übei 
das  Maß  des  durchschnittlichen  Heidentums  herausgehenden  Betonung  des 
göttlichen  Willens 2).  Die  Stände  der  Gesellschaft  sollten  gottgewollte  Kasten 
sein,  wie  bei  den  Brahmanen;  ein  großes  Aufgebot  aller  Götter  sollte 
die  Zukunft  der  Welt  entscheiden.  Diese  Vorstellungen,  meint  Olrik 
mit  andern,  haben  auf  die  Gestalt  des  Gottes  Rig  und  die  Rfgs- 
thula,  haben  auf  die  Mythen  von  Ragnarök  eingewirkt.  Es  ist  wohl 
möglich;  aber  schwerlich  haben  die  Kelten  diese  Mythen  erschaffen.  Der 
vom  jüngsten  Kampf  mindestens  scheint  mir  mit  Notwendigkeit  aus  der 
nordischen  Religion  herauszuwachsen. 

5.  Auf  eine  Epoche  der  Beruhigung,  die  wir  nach  dem  Eintreten  des 
intranordischen  Synkretismus  werden  voraussetzen  dürfen,  folgte  nämlich 
augenscheinlich  wieder  eine  solche  lebhafter  religiöser  Unruhe.  Und  zwar 
waren  es  zwei  urewige  Probleme,  »worüber  schon  manche  Häupter  ge- 
grübelt, Häupter  in  Hieroglyphenmützen,  Häupter  in  Turban  und  schwarzem 
Barett,  Perückenhäupter  und  tausend  andere  arme,  schwitzende  Menschen- 
häupter. <  Das  eine  ist  das  Problem  der  Vergeltung,  das  andere  das  der 
Unsterblichkeit. 

Eine  stürmische  Unruhe  hatte  die  nordischen  Völker  und  vor  allem  das 
nunmehr  führende  norwegische  ergriffen.  793  beginnt  die  Wikingerzeit, 
deren  Wesen  uns  Alexander  Bugge8)  ausführlich,  Olrik4)  in  knappen  Meister- 
zügen gezeichnet  hat.  Es  ist  eine  zweite  Völkerwanderung  —  aber  mit  Wieder- 
kehr in  die  Heimat.  Von  einem  »diesseitigen  Jenseits«  träumen  die  Nord- 
leute, wie  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  die  Deutschen  nach 
Friedrich  Kapps  Wort,  und  »Byzantium«  wird  für  sie,  was  für  den  glück- 
lichen Sealsfield  oder  den  unglücklichen  Lenau  Amerika  gewesen  war: 
das  Land  der  Erfüllung,  das  »Land  der  unbegrenzten  Möglichkeiten«,  wie 
man  es  jetzt  so  hübsch  genannt  hat.  Gar  ihre  Götter  verpflanzt  Saxo  in 
dies  Traumland  seiner  Vorväter.  —  Welch  neue  Eindrücke  stürmten  auf 
die  Auswanderer  ein!  irisches  und  byzantinisches  Priestertum  und  König- 
tum (für  den  Namen  Rig  haben  Heinzel-Detter  auch  an  den  byzantinischen 
Königstitel  erinnert),  fremde  Küsten,  Sprachen,  Anschauungen!  Vor  allem: 
der  Reiz  der  täglichen  Lebensgefahr,  des  unaufhörlichen  Kampfes  mit  dem 
tückischen  Element  (nun  entstand  neben  Ägir,  der  Verkörperung  ästhe- 
tischer Freude  an  dem  heiter-stillen  Meeresspiegel,  Ran,  die  leibhafte  Grau- 

!)  Vgl.  Olrik  S.  79. 

-)  Was  sie  auch  für  das  Christentum  frühreif  machte;  vgl.  ebd. 
n)  AI.  Bugge,  Die  Wikinger,  leider  übersetzt  von  H.  Hungerland,  Halle 
1906;  vgl.  Neckel,  Anz.  f.  d.  Alt.  50,  220. 
4)  Altnord.  Geistesleben  S.  72  f. 


§  28.    Religionsgeschichte.  503 

amkeit  des  Seetodes1);  mit  den  Feinden,  die  so  wenig  Pardon  gaben 
wie  die  Dänen  den  Iren2),  auch  wohl  mit  treulosen  Führern  und  ver- 
äterischen  Gesellen  (und  nun  erhielt  Loki  neues  Lebensblut  aus  der  An- 
chauung). 

Nun  entstand  eine  neue  Dichtung.  Gewiß  mit  Recht  hat 
leusler3)  bestritten,  daß  die  gesamte  eddische  Dichtung  das  Geistesleben 
ler  Wikingerzeit  atme.  Gewiß  mit  vollem  Recht  scheidet  er  drei  Perioden: 
lie  » gemeingermanisch-heroische« ,  die  wir  in  mythologischer  Hinsicht 
ils  die  der  älteren  nordischen  Religion  bezeichnen  würden,  vor  den 
großen  Religionskämpfen;  die  »norrön-wikingische<  ,  die  von  dem  Geist 
ier  jüngeren  nordischen  Religion  erfüllt  ist,  und  die  »isländisch -nach- 
vikingische«.  Aber  mag  die  Rfgsthula  in  die  erste  oder  dritte  Periode 
allen  —  was  vor  allem  der  Edda  und  so  besonders  auch  ihren  Götter- 
iedern  den  Charakter  gibt,  gehört  doch  in  die  zweite.  In  diese  Epoche, 
/on  800 — 1000,  fallen  Lokasenna  und  Härbardslied  mit  ihrem  Kampf 
dort  für  Thor,  hier  für  Odin ;  fallen  Vafthrüdnismäl  und  Gnmnismäl,  doch 
schon  ans  Ende  der  Periode  wie  jene  beiden  an  den  Anfang,  mit  ihrer 
ehrhaften  Verarbeitung  alten  Stoffes:  fällt  vor  allem  die  Völuspä  mit 
ihrem  gnomischen  Gegenstück,  den  Hävamäl  —  die  beiden  Großtaten  alt- 
nordischer Lehrdichtung4). 

Älter  mögen  Skfrnisför  und  Thrymskvida  sein,  einfache  Ereignislieder, 
/on  göttlichen  Abenteuern  rein  episch  berichtend ;  jünger  die  leere  Alvfss- 
tnäl  und  die  wirren  Hyndluljöd,  die  die  Aufgabe  nicht  mehr  zu  bewältigen 
wissen,  die  Grfm.  und  gar  Vaf.  leidlich  gelang.  Aber  das  Schwergewicht 
liegt  doch  auf  jenen  drei  Paaren,  denen  wir  die  unbedeutendere  Vegtams- 
kvida  angliedern  können.  —  Was  nun  ist  der  gemeinsame  Charakter  von 
Harb.  und  Lok.,  Vol.  und  Häv.,  Vaf.  und  Grfm.?  Nichts  von  dem 
?eichten  epischen  Fluß  der  Skirn.  und  der  Thrymskv.,  dieser  Perlen,  die 
allein  unter  den  Götterliedern  in  Technik,  Charakterzeichnung,  Sachlich- 
keit den  Prosaerzählungen  der  Isländer  verglichen  werden  können;  aber 
auch  nichts  von  der  rein  stofflichen  Materialhäufung,  durch  die  die  Alv. 
und  gar  die  Hyndl.  sich  von  den  langweiligsten  Zwergkatalogen  und 
Riesen katalogen  kaum  noch  unterscheiden.    Sondern  ein  grüblerischer  Geist 

l)  Vgl.  Heusler  und  Ranisch  Eddica  minora  S.  LXXXVII  zu  den  Meeres- 
strophen der  Frithjofssaga. 
B)  Vgl.  Olrik  S.  74. 

3)  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  281. 

4)  Die  treffendste  Charakteristik  der  Hävamäl  finde  ich  an  entlegener  Stelle : 
»cette  premiere  partie  du  Hava-Mal  (man  verzeihe  den  Singular!)  est  un  poemc 
gnomique,  dans  lequel,  sous  une  forme  sentencieuse,  sont  deposees  les  idees  que 
se  faisaient  les  anciens  Scandinaves  de  la  superiorite  iutellectuelle  et  morale< 
Q.  J.  Ampere,  Litterature  et  Voyages,  Paris  1833,  S.  405). 


504  Siebentes  Kapitel. 

sucht  mannigfache,  sich  widerstreitende  Tatsachen  zu  ordnen.    Die  böser 
Dinge  beunruhigen  ihn,  die  von  den  Göttern  ausgesagt  werden  —  abei 
Thor  bleibt  doch  der  reine  Held  und  Odin  doch  der  überlegene  Weisel 
Das   ganze  Weltenschicksal   stellt  sich  seinem  Auge  dar,   oder  der  ganz« 
Verlauf   des   Menschenlebens  mit  all   seinen   Schattierungen   nach  Besitz 
Begabung *),  Göttergunst.    Und  wenn  in  Vaf.  und  Grün,  sich  auch  bereits 
theologische  Afterweisheit  und  philologischer  Namensprunk  breit  macht  — 
noch   immer  steht  doch   im  Hintergrund  eine  große  Konzeption.     »Von 
den   alten  Geschichten   und  dem  Ende  der  Götter  sprach  der  Thurs  mil 
todgeweihtem  Mund«2)  —  von   denselben  Dingen,   von  denen  die  alten 
Götter    in    ihrem    Prytaneion    reden3).      Ein   Weltbild    im   größten    Sinn 
wollen   die  Gnmnismäl   geben,   in    ihrer  Weise  so   eine  Ergänzung   zur 
Völuspä  —  ein   Titel,   den   die  rhapsodische  Anreihung  wichtiger  alter 
Notizen  in  der  »kurzen  Völuspä«  4)  kaum  verdient.   Und  dann:  über  beiden, 
zur  Besiegeiung  des  tragischen  Ernstes,  schwebt  der  Tod:  er  hängt  über 
dem   Riesen,   er  rückt  dem   Gott  nahe;   er   bedroht  Gagnräd-Odin   und 
ereilt  Geirröd. 

Das  ist  der  Geist  der  Wikingerzeit:  angestrengter  Kampf  auch  mit 
den  großen  Rätseln,  denn  auch  dies  Dunkel  lockt  und  zieht;  stürmische 
»Wut«  der  Odinsdiener  auch  in  der  Hingabe  an  die  furchtbaren  Ge- 
heimnisse; und  schließlich  Sieg  und  Triumph,  womit  all  diese  Lieder 
schließen.  Daß  aber  wirklich  dieser  Geist  nicht  nur  vereinzelten  Dichtungen 
angehört,  sondern  der  Geist  der  ganzen  Epoche  ist,  hat  Finnur  Jönsson 5) 
aus  der  Skaldendichtung  des  9.  Jahrhunderts  bewiesen.  In  ihr  herrschen  die 
gleichen  mythischen  Vorstellungen  wie  in  der  Edda6).  Und  übrigens 
sind  diese  Dichter,  nach  Heuslers  glücklichem  Ausdruck7),  Bauernsöhne 
und  »Volk«  wie  ihre  Hörer8)!  Natürlich  aber  richtet  sich  das  Interesse 
der  Hof-  und  Kriegsdichter  nicht  in  erster  Linie  auf  mythologische  Probleme; 
insofern  bilden  die  Eddalieder  eine  Klasse  für  sich,  und  unter  ihnen 
wieder  die  angeführten  Gedichte  eine  eigene  Gruppe. 

Auch  in  ihrer  Technik  gehören  sie  zusammen.  Keins  gibt  einfach 
einen  alten  Mythus  wieder,  wie  Skfrn.  (mag  das  Gedicht  auch  aus  zweien 
zusammengeschweißt  sein)  und  Hamarsheimt;  keins  gibt  in  ungeschickter 
Einkleidung  nur  Denkverse,  wie  Alv.  und  Hyndl.  Sondern  alle  ver- 
arbeiten   altes    Material,    ganze    alte    Sammlungen    (wie    die    Häv.)    oder 


x)  Häv.  Str.  53.  2)  Vaf.  Str.  58. 

3)  Vol.  Str.  60.  4)  Hyndl.  Str.  30—45. 

5)  Ark.  f.  nord.  Fil.  9,  N.  F.  5,  S.  li;  vgl.  auch  6,  N.  F.  2,  S.  141  f. 

6)  Odin  a.  a.  O.    S.  4,  Thor  S.  6,    Balder,   Frey,   Tyr,  Uli  S.  7,   Loki  S.  9, 
Riesen  ebd.,  Göttinnen  S.  7. 

7)  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1902  S.  238. 

8)  Vgl.  auch  F.  Jönsson,  Ark.  f.  nord.  Fil.  13,  223. 


§  28.    Religionsgeschichte.  505 

inzelne  Sprüche  (wie  die  Vol.),  einzelne  Legenden  (wie  Lok.  und  Härb.) 
der  endlich  beides  (wie  Vaf.  und  Grim.).  Alle  aber  durchdringen  diesen 
!I>toff  mit  einheitlichem  Geiste  —  am  mächtigsten  die  Häv.  und  vor  allem 
eiie  Völ. 

d  Für  mich  gehört  auch  die  Rigsthula  in  diesen  Zusammenhang,  die 
sjiur  in  der  einfachen,  stramm  sich  steigernden  Erzählung  dicht  an  die 
fern,  (mit  der  sie  die  Berührung  von  Göttern  und  Menschen  teilt)  und 
iie  Thrymskv.  (mit  der  sie  den  fröhlichen  Maskenton  gemein  hat)  zu 
xicken  scheint,  von  denen  sie  sich  freilich  durch  die  stärkere  Einwirkung 
ies  Spielmannsepos  (Freude  an  kulturhistorischem  Detail,  am  Formel- 
wesen) sondert.  Die  Denkverse,  nach  denen  dann  die  »Namensliste  Rfgs< 
genannt  wurde,  halte  ich  für  Erweiterungen  aus  dem  Katalogalter,  der 
üexandrinischen  Zeit  des  isländischen  Schrifttums.  —  Doch  es  bleiben 
Zweifel.  Aber  auch  hier  hätten  wir  Verarbeitungen  alten  Materials  (wie 
ch  wenigstens  glaube)  in  einheitlichem  Geist;  freilich  statt  des  pathetischen 
Ernstes  von  Vol.,  Vaf.,  Grim.  und  statt  der  dionysischen  Tollheit  von 
Lok.  und  Härb. J)  die  feierliche  Ironie  der  Amphitryonfabel ;  »  Un  partage 
ivec  Jupiter  na  rien  du  tout  qui  deshonore«.  Aber  auch  hier  handelt 
is  sich  um  ein  tiefernstes  ewiges  Problem,  das  alle  nicht  völlig  naiven 
Zeiten  beschäftigt  hat:  die  Ungleichheit  der  Stände,  die  verschiedene  Ver- 
teilung der  Glücksgüter  —  gewiß  ein  Thema  für  einen  grübelnden  Wiking! 
Und  noch  ein  Gedicht  möchte  ich  hier  anreihen,  obwohl  es  schon 
zur  Heldensage  gerechnet  wird:  die  Völundarkvida ;  doch  auch  der 
Sammler  der  Liederedda  war  hierüber  unsicher,  wie  der  Platz  zeigt,  den 
er  dem  wunderbaren  Lied  gab.  Auch  hier  haben  wir  die  Verschmelzung 
mehrerer  Fabeln  (Schwanenjungfrauen  —  Völunds  Gefangenschaft  und 
Rache)  in  Einem  Geiste;  auch  hier  bewegten  Ernst,  Grausamkeit  (wie  am 
Schluß  der  Thrymskv.  und  in  Skfrnis  Drohungen,  bei  denen  ich  immer  an 
Iie  denken  muß,  die  in  Grillparzers  »Treuem  Diener«  Otto  von  Meran  vor 
Iirny  ausstößt)  neben  Weichheit,  wie  in  Freys  Liebeswerben  oder  den  Versen, 
die  in  der  Völ.  Balders  Ende  ankündigen.  Und  auch  hier  ein  großes 
Problem:  das  der  Vergeltung!  Denn  es  handelt  sich  nicht  um  eine  von 
Sippe  und  Sitte  befohlene  Rache,  wie  bei  Wali  oder  Gudrun-Chriemhild, 
sondern  um  ganz  eigentliche  Strafe  des  Unrechts.  Das  Königspaar  erhält 
für  den  Raub  des  Ringes  die  in  Silber  gefaßten  Schädel  der  Kinder  — 
eine  thyestische  Rache,  grausam,  fürchterlich  überlegt;  und  weil  König 
und  Königin  den  Wieland  zum  Sklaven  machten,  wird  ihrer  Tochter  die 
Ehre  geraubt. 

Damit    kommen    wir,    nach    weitem   aber   unvermeidlichem    Umweg 
durch  Geschichte  und  Dichtung,  zur  Mythologie  der  Wikingerzeit  zurück. 

*)  Die  Vigfusson   einem  »Aristophanes  der  westlichen  Inseln<   zuschrieb. 


I 


i 


506  Siebentes  Kapitel. 

Dies  sind  die  Probleme,  die  ihre  große  Dichtung  erzeugen  und  erfüllen 
das  Problem  der  Gerechtigkeit1)  und  das  der  Unsterblich 
keit 2).    Oder  vielmehr  ist  es  Ein  Problem :  eben  das  der  Vergeltung.   Wu|c 
ist  es  zu  erklären,   das  Odin   so  oft  den  schlechteren  Mann  siegen  läßt : 
aber  vielleicht  gibt  es  jenseits  eine  Entschädigung.    Wie  können  überhaup 
die  Götter  so  viel  Übles  tun  und  zulassen?    Aber  vielleicht  gibt  es  auch 
für  sie  einst  eine  Strafe. 

So  lenkt  alles  hin  —  auf  den  Unsterblichkeitsglauben.  Ei 
gibt  dieser  Periode  seine  Signatur;  nicht,  glaube  ich,  wie  Olrik  meinte 
als  allgemeine  Vorstellung  der  Wiedergeburt,  sondern  als  Lehre  von  dei 
Fortdauer  der  Auserlesenen. 

Bei  den  Angelsachsen  führte  die  gleiche  Erregung,  die  gleiche  Sehnsucht  nach 
Fortdauer  unmittelbar  ins  Christentum.  König  Erwin  hat  eine  Versammlung  ein- 
berufen, die,  wie  jenes  berühmte  Thing  auf  Island,  über  die  Bekehrung  des  Volkes 
entscheiden  soll.  Der  heidnische  Oberpriester  erklärt  sich  eifrig  für  Christus. 
»Einer  der  Eldermen  aber  gab  seine  Meinung  in  folgender  Form  ab:  ,Wenn  Du, 
o  König,  mit  Deinen  Grafen  und  Thanen  zur  Winterszeit  um  das  Herdfeuer  in 
behaglich  erwärmter  Halle  beim  Mahle  sitzest,  draußen  die  Stürme  heulen, 
Schnee  und  Regen  peitschen,  da  kommt  es  wohl  vor,  daß  ein  Sperling  schnell 
die  Halle  durchfliegt:  durch  die  eine  Tür  kommt  er  herein,  zur  andern  geht  er 
heraus.  Für  den  kurzen  Augenblick,  da  er  im  Saale  ist,  berührt  ihn  das  Unwetter 
nicht,  aber  bald,  wenn  er  Deinen  Augen  entschwindet,  kehrt  er  wieder  in  den 
dunklen  Winter  zurück.  So  scheint  es  mir  mit  dem  Leben  der  Menschen  zu 
stehen:  wir  wissen  nicht,  was  ihm  voraufgegangen  ist,  was  ihm  folgt.  Wenn 
uns  die  neue  Lehre  darüber  etwas  sicheres  bringt,  so  ist  sie  es  wert,  daß  wir 
ihr  folgen'«3).  —  Die  Spartaner  hoffen  unmittelbar  vom  Schlachtfeld  in  die  Un- 
sterblichkeit zu  gehen,  wie  die  Mohammedaner  auch4). 

Ich  wies  schon  auf  analoge  Erscheinungen  im  hellenischen  Religions- 
leben hin.  Neben  Rohdes  historischer  Erklärung  möchte  ich  die  psycho- 
logische von  Gomperz5)  stellen  —  dem  ich  darin  freilich  keineswegs  zu- 
stimmen kann,  daß  »in  einem  Zeitalter  oder  in  einer  Lebensphäre,  welche 
von  unbändigen  Leidenschaften  erfüllt  und  von  unablässigen  Kämpfen 
durchtobt  ist,«  für  Jenseitsträume  kein  Raum  vorhanden  sei.  Wer  hat 
sich  für  die  Unsterblichkeitsfrage  lebhafter  interessiert,  als  die  Vollmenschen 
der  Renaissance,  die  gewaltsam  ihr  Leben  über  den  Tod  hinaus  zu  ver- 
längern trachteten?  Aber  den  Gegensatz  zwischen  jenen  naiveren  Perioden, 
in  denen  Achilles  lieber  als  dürftiger  Tagelöhner  sein  Leben  fristen  denn 
als  König  über  die  Schatten  herrschen  möchte6),  und  denen  einer  trüben 

*)  Lok.,  Härb.,  Vkv.,  Rig. 

2)  Vol.,  Häv.,  Vaf.,  Grim.,  Veg. 

:})  Fr.  Schnürer,  Bonifacius,  Mainz  1909,  S.  16. 

4)  Edv.  Lehmann,  Gude  og  helhe,  S.  11. 

r>)  Griechische  Denker,  Leipzig  1896;  1,  66  f. 

6)  Vgl.  Häv.  Str.  71. 


§  28.    Religionsgeschichte.  507 

Reflexion  hat  er  glänzend  charakterisiert.  Solche  Hesiodeischen  Zeiten 
lurchleben  die  Vikinge:  »Der  Zustand  der  Seelen  nach  dem  Tode  er- 
scheint vielfach  als  der  der  Verklärung.  Verstorbene  werden  vielfach  zu 
)ämonen  erhöht,  die  über  dem  Schicksal  der  Lebenden  wachen.  Das 
elysische  Gefilde«,  die  »Inseln  der  Seligen«  beginnen  sich  mit  Bewohnern 
u  füllen.  Allein  durchweg  fehlt  hier  jede  dogmatische  Bestimmtheit; 
lieser  ganze  Vorstellungskreis  bleibt  lange  unklar,  schwankend  und  ver- 
ichwommen.  Und  wenn  schon  bei  Homer  ein  erster  Ansatz  der  Ver- 
^eltungslehre  zu  erkennen  ist  .  .  .,  so  vergehen  doch  viele  Jahrhunderte, 
her  dieser  Keim  zur  vollen  Entfaltung  gelangt  ist  ...  Und  was  die 
lauptsache  ist,  in  wie  mannigfachen  Farben  auch  das  Licht  des  Jenseits- 
nldes  gebrochen  erscheint,  die  Staatsreligion,  die  als  der  Ausdruck  des 
Bewußtseins  der  herrschenden  Klassen  gelten  kann,  nimmt  von  dem  Un- 
terblichkeitsglauben  nur  geringe  Kenntnis;  dem  Diesseits  gilt  nach  wie 
or  die  überwiegende  Sorge  des  antiken  Menschen,  mindestens  insoweit 
vir  sein  Sinnen  und  Trachten  von  den  öffentlich  anerkannten  Kulten  ab- 
lehmen  können.« 

Das  ist  genau  auch  die  Signatur  der  Wikingerzeit  —  mit  der  Ein- 
chränkung  jedoch,  daß  Ein  dem  Unsterblichkeitsglauben  gehörender 
Cultus  im  Norden  zur  öffentlichen  Anerkennung  gelangt  ist. 

Die  zunehmende  Sorge  um  das  Leben  nach  dem  Tode  läßt  sich 
ichon  äußerlich  an  einem  wichtigen  Merkmal  ablesen.  Zur  Zeit  des 
Tacitus  gibt  es  noch  keinen  Leichenprunk  x) ;  doch  werden  die  clari  viri, 
iie  Helden  und  Herrscher,  schon  mit  bestimmten  Feierlichkeiten  beigesetzt, 
allmählich  wird  das  Grab  reicher  und  reicher.  Die  alten  Germanen  ver- 
teilten die  schwere  Ehrung  durch  Grabdenkmäler  als  eine  Belastung  für 
Jen  Toten  —  was  frühester  Anschauung  entsprechen  könnte 2).  Aber  Dichter 
imd  Hörer  der  Hävamäl  kennen  keine  größere  Sehnsucht  als  die  nach 
^em  Bautarstein8),  und  ihre  Zeitgenossen  waren  unermüdlich  darin,  toten 
Freunden  Runen  zu  ritzen. 

Dies  ist  die  Stimmung,  aus  der  sich  in  der  zweiten  Periode  der  alt- 
nordischen Religion  vier  Mythenkreise,  alle  auf  alter  Grundlage,  allein 
neuem  einheitlichem  Geist  wie  die  Völuspä,  neu  entwickeln,  die  aber 
untrennbar  zusammenhängen:  die  neuen  Mythen  von  Loki,  von  Odin, 
von  Balder,  vom  Ragnarok.  Ich  nenne  sie  in  der  Folge  ihrer  vermutlichen 
Wirkung  auf  das  Volk,  die  auch  wohl  die  ihrer  inneren  Chronologie 
sein  mag. 

Der  Teufel  ist  der  notwendige  Träger  jeder  Theodicee.  Das  Buch 
Hiob  kann  so  wenig  ohne  Satan  auskommen  wie  die  Gäthas  des  Avesta 

*)  Germ.  cap.  27. 

*2)  Vgl.  Helg.  Hund.  2,  44. 

8)  Häv.  Str.  72,  vgl.  76-77. 


508  Siebentes  Kapitel. 

ohne   Daewas   und   Druggenossen ;    Christus    muß   von    Lucifer  versuc 
werden   wie   Buddha  von  Mara.     Das  Bedürfnis,   die  Herrscher  zu   enl 
lasten,   die  man   lieben   will,   führt   überall  zu  dem  Glauben  an  Mächtl 
die  ihrem  guten  Willen  hindernd  in  den  Weg  treten.  —  Nun  war  läng 
ein   Dämon   von   besonderer  Art  da,  seiner  Natur  nach,  als  Geist  d<l 
Feuers,  beweglich:  bald  nützlich  bald  höchst  schädlich,  bald  Thors  Dien« 
(wenn  es  brennt,  wo  er  einschlug),  bald  sein  Feind  (wenn  es  die  Scheurl 
verzehrt,   die   er  füllen   half).     Dieser  Lieblingsgestalt   des  Volkes  verlie 
nun,  wie  wir  vermuteten,  üble  Erfahrung  an  untreuen  Fahrtgenossen  un 
schlauen  Feinden  neue  Anschaulichkeit.     Loki,   einst  Odins  Blutsfreunc 
fiel   so   tief  wie  Lucifer.     Er  ward   der    Teufel  <  ,   die  Verkörperung  de 
Bösen  in  der  Welt;   wo  den  Göttern  etwas  mißlingt,   steckt  er  dahinten 
er   ist   der  Vater  aller   Hindernisse.     Doch   bleibt  er  ein  Gott,   den   ei 
Dichter  an  die  Tafel  der  Äsen  bringen  kann;   und  nichts  ist  in  ihm  voJ 
der   Feigheit   des   christlichen   Teufels:   übermütig  fordert  er   die  Göttel 
heraus   und   ruft  so   (wie  wir  glaubten  annehmen  zu  sollen)  den  letztel 
Kampf  hervor  —  wobei   auf  die  heroische  Schelte  vor  der  Schlacht  (dil 
Lokasenna)  natürlich  wieder  die  Heldendichtung1)  eingewirkt  hat. 

Loki  wird  nun  der  Mittelpunkt,  um  den  eine  ganze  Welt  der  Gegen 
götter  krystallisiert,   wie  die  der  Äsen  um  Odin.     Böse  Geister  waren  j; 
längst   in  Fülle   da,   von   den   ältesten  Formationen   der  Mythologie  hei 
Da  war  aus   der  naivsten  Naturerklärung  der  Wolf,   der  die  Sonne  ver 
schlingen  will,   und  der  riesige  Drache,  der  rings  um  die  Lande  gelager 
ist  und  sie  oft  gleichfalls  herunterschlingen  will:  das  Weltmeer,  dem  wi< 
die  alten  Germanen   der  Sage  noch  die  Dithmarschen  die  Zähne  boten 
»Nu  Trutz  di,  blanker  Hans!«     Da  war  aus  der  Zeit  des  Ahnenkults  eir 
anderer  schlimmer  Drache,  der  die  Leichen  frißt  (Nidhögg);  etwa  die  frühe 
Verwesung.     Der   Dämon ismus    brachte   den   Häuptling   der   Frostriesen. 
Hrym,  und  den  Dämon  des  unterirdischen  Schadenfeuers,  Surt.    Dazu  kam 
die    verkörperlichte   Hei,    die   Unterwelt,    die   die   Menschen   verschlingt 
Andere  böse  Dämonen  blieben  außen :  Hrungnir,  wer  er  auch  sei,  scheint 
den  Anschluß  an  dies  wilde  Heer  versäumt  zu  haben;  Hod  war  ein  Ase 
geworden,  weil  die  Gestalt  Balders  ihre  Umgebung  heiligte,  und  vor  allem 
weil  jetzt  alle  Schuld  auf  Loki  fiel.   Überhaupt  kam  eine  straffe  Organisation 
auch  hier  nicht  zustande;  über  den  Kriegsgott  der  Bösen  liefen  wohl  ver 
schiedene  Anschauungen    um,   so    daß   der  Dichter   der  Völ.   sich  durch 
Teilung   der   Heerhaufen   half.     Aber   wie   nicht   der   Götterkönig  Odin, 
sondern  Thor  den  täglichen  Kampf  gegen  Hexen  und  Riesen  führt,  so  ist 
der  eigentlich  aktive  Geist,  die  Seele  der  höllischen  Partei  Loki,  gewandt 
und  schlau,  kühn  und  vorsichtig  —  ein  richtiger  Piratenhäuptling! 


l)  Helg.  Hund.  2,  25;  Waltharius. 


§  28.    Religionsgeschichte.  509 

Diese  Organisation  ist  immerhin  straff  genug,  um  die  Götter  zu  Gegen- 
naßregeln  zu  zwingen.  Während  bisher  die  Parteien  (soweit  nicht  Thor 
\fl  Frage  kommt,  der  nicht  lange  fackelt)1),  leidlich  schiedlich,  friedlich 
nebeneinander  hergegangen  waren  oder  sich  nur  auf  dem  neutralen  Boden 
len  Menschheit  bekämpft  hatten  (wie  die  europäischen  Großmächte  im 
)reißigjährigen  Kriege  auf  dem  Leibe  Deutschlands!),  wird  jetzt  auch 
isgard  in  Kriegsbereitschaft  versetzt  —  natürlich  alles  nach  heroischem 
Vorbild.  Ein  Wächter  wird  angestellt,  Heimdall;  eine  Burg  gebaut,  eine 
Irücke  befestigt.  Aber  man  sieht  nicht,  daß  das  zu  etwas  führt;  als 
leimdall  bläst,  ist  das  Schlimmste  nicht  mehr  zu  verhüten. 

Diese  ganze  Zweispaltung  der  Geisterwelt  wurde  wesentlich  erleichtert 
urch  den  ungemessenen  Zauberglauben  der  Nordleute.  Die  Hexen 
irbeiteten  Loki  vor.  Wenn  Starkad  ein  Neidingswerk  tun  muß,  ist  es 
reilich  der  Fluch  der  Götter;  aber  wenn  Hedin  eine  unselige  Tat  verübt2), 
0  genügt  eine  Hexe  zur  Erklärung.  Die  Helgilieder  sind  von  Hexenspuk 
ind  Zauber  fast  so  voll  wie  der  Kalewala;  fast  so  voll  —  wie  weite 
^trecken  der  Häv.3).  In  Ausdrücken  wie  »Hexenschuß«4)  führen  noch 
irir  diesen  altgermanischen  Aberglauben  fort;  in  anderen  Fällen  kennen 
vir  die  unsichtbaren  Wesen,  die  ihre  Speere  schleudernden  Bazillen. 

Durch  diese  mächtige  Stütze,  den  Aberglauben  im  Volk,  gewann  nun 
er  Dualismus  augenscheinlich  rasch  an  Macht.  Loki  ward  immer  mehr 
er  mythologische  Intrigant,  der  böse  Sibeche  der  Heldensage;  und 
Hundert  Volkserzählungen  schilderten  den  Bösen  und  halfen  so  den  Glauben 
n  die  sittliche  Weltordnung  stützen. 

Aber  mit  dem  Gegner  wuchs  sein  Antipode.  Wodan  hatte  langsam 
lie  Führung  der  Götterwelt  erobert.  Schon  in  vorgermanischer  Zeit  hatte 
r  Tyr  vom  Thron  gestoßen,  wie  Zeus  den  Kronos;  dann  hatte  er  unter 
&n  Dreien  die  Führung  erhalten,  hatte  in  Deutschland  Tyr,  in  Norwegen 
ihor,  in  Schweden  Frey  erfolgreich  bekämpft.  Er  mußte  wohl  ein  starker 
jott  sein.  Er  mußte  auch  so  recht  ein  Gott  nach  dem  Herzen  dieses 
Leitalters  sein:  er  verstand,  zu  leiten,  Helden  zu  erziehen,  Wunden  zu 
leilen,  Speere  zu  schleudern.  Mehr  dürfen  wir  von  ihm  einstweilen  nicht 
aussagen;  aber  was  brauchen  Abenteurer  mehr? 

Zwischen  dem  Fürsten  und  dem  Fürstengott  hatte  sich  (wie  später 
vohl  mit  Heimdall  -  Rig)  ein  engeres  Verhältnis  gebildet.  Wir  glaubten 
mnehmen  zu  sollen,  daß  königliche  Helden  zu  ihm  in  den  Himmel  ver- 
setzt werden,  wie  ähnliche  Apotheosen  uns  ja  auch  sonst  bezeugt  sind5); 
lenn   den   Zwischenzustand    der   eigentlichen    Halbgötter   kennt   die  ger- 

!)  Völ.  Str.  26. 

2)  Helg.  Hjörv.  Str.  35.  3)  Str.  142 f. 

4)  Vgl.  den  angelsächsischen  Zauberspruch;  siehe  o.  S.  495. 

r)  Golther  S.  93;  vgl.  o.  S.  91. 


510  Siebentes  Kapitel. 


manische  Mythologie  nicht.  So  entstand  ein  erstes  Gefolge  von  Heldet 
seelen  um  den  Kampf-  und  Fürstengott  —  erste  Beispiele  der  Unsterblich 
keit,  wie  sie  im  Alten  Testament  aus  besonderer  Göttergunst  dem  Enoc 
oder  Elisa  zuteil  wird  oder  bei  den  Hellenen  den  Begnadeten  i 
Elysion  *). 

Nun  erwuchs  die  Sehnsucht  nach  Unsterblichkeit.  Vieles  führte  daz 
diese  Vorstellung  zu  bejahen.  Das  Gerechtigkeitsbedürfnis:  Odin  hat  d 
Besseren  auf  dem  Schlachtfeld  fallen  lassen?  er  wollte  ihn  zu  sich  hole 
(Mehrfach  bezeugt;  wie  christliche  Gläubige  nach  einem  Todesfall,  b 
sonders  auch  von  Kindern,  mit  der  gleichen  Wendung  zu  trösten  suchen 
Der  Stolz:  tapfere  Krieger  können  nicht  verschwinden  wie  ruhmlo 
Knechte.  Die  heroische  Analogie:  der  Gefolgsherr  muß  bei  seinem  Vasalle 
stehen;  die  Verbindung  ist  unlösbar.  Der  Zauberglaube:  es  muß  ei 
Mittel  geben,  auch  diesen  letzten  Wunsch  zu  erfüllen.  Endlich  die  erre 
Phantasie  abenteuernder  Zeiten :  nicht  Seelen  bloß,  nein  leibhaft  gestorben 
Helden  waren  wiedergekehrt2). 

Wie  bei  den  Hellenen  Dionysos,  ward  so  bei  den  Nordmännern  Odii 
der  Gott,  der  allein  Unsterblichkeit  spenden  konnte.  Hierii 
beruht  seine  neue  ungeheure  Macht.  Wer  ihm  gehört,  den  nimmt  er  zi 
sich  wie  die  gotischen  Könige.  (Die  Gäste  zu  holen,  wird  nun  die  be 
sondere  Funktion  der  Idisi:  sie  werden  »Walküren«.  Sein  Haus  wird  di 
Halle  dieser  Toten:  »Walhall«.)  Aber  ein  Zeichen  muß  dasein,  daß  mal 
ihm  gehört.  Nur  wer  das  Speereszeichen  hat,  den  erkennt  er  an.  S< 
lassen  sich  noch  Kranke  mit  dem  Speer  weihen;  eigentlich  aber  ist  da 
Betrug:  wer  auf  dem  Schlachtfelde  fällt  (wobei  zwischen  Schwert  un( 
Speer  wohl  nicht  ängstlich  geschieden  wurde),  der  reitet  hinauf  zu  Odin 

So  entsteht  der  Mythus  von  den  Einheriern.  Auf  die  Unsterblichkei 
ist  ihr  ganzes  Wesen  gestellt  —  und  auf  den  Kampf.  Der  Gedanke  de 
kriegerischen  Gefolgschaft,  an  sich  urgermanisch,  hat  ein  Gepräge  erhaltenj 
das  den  Ursprung  in  heroischen  Zeiten  verrät:  die  Aufnahme  der  Gefolgs-j 
leute  in  den  Haushalt  des  Fürsten,  der  ausgedehnte,  mehrere  Paläste  umi 
fassende  Wohnsitz  des  Herrn,  die  Anwerbung  neuer  Mannschaften  (durd 
die  Walküren)3),  die  Betonung  sogar  der  guten  Kost,  die  den  comitei 
gereicht  wird.  Als  Thormod  Kolbrünarskäld  den  Pfeil  aus  der  Wunde 
riß,  betrachtete  er  die  daran  haftenden  Herzfasern  und  sprach:  »Sie  sine 
fett;  Olaf  war  ein  guter  König,  der  die  Seinen  nährte4)!«  Wikinger  sind 
es,   denen   der  Himmel   voll  Schinken  hängt;   irischen  Einfluß  mag  maii 


x)  Preller  1,  826 f;  Berthollet,  D.  israel.  Vorstellungen  vom  Leben  nach 
dem  Tode,  Freiburg  1899,  S.  30. 

2)  Helg.  Hund.  II. 

3)  Helg.  Hjörv.  Str.  6f. 

4)  Wein  hold,  Altnord.  Leben,  S.  389. 


§  28.    Religionsgeschichte.  5  \  \ 

lier x)  annehmen  —  aber  christlichen  ?  Mir  scheint  zwischen  dieser  naiven 
Fortsetzung  des  Erdenlebens  und  der  Verklärung  der  Seligen  doch  ein 
licht  unerheblicher  Unterschied  obzuwalten.  Ja  wenn  man  noch  vom 
iimmel  Mohammeds  spräche!  aber  dazu  fehlt  wieder  in  Walhall  zu  völlig 
las  erotische  Element,  das  auch  durch  die  bedienenden  Wunschmädchen 
u'cht  ausreichend  vertreten  wird2). 

Die  Ausmalungen  von  Himmel  und  Hölle  aber  steigern  sich  un- 
zweifelhaft gegenseitig  in  der  nordischen  Mythologie  wie  überall.  Das 
Bedürfnis  des  Kontrastes  3)  führt  bei  Hei  wie  beim  Heervater  zu  beständigen 
Neuanschaffungen  in  den  Konkurrenzwirtschaften:  in  der  Ausstattung  der 
Ȋle,  in  der  Kleidung  der  Bedienung,  in  der  Wahl  der  vorgesetzten 
Speisen. 

Das  aber  wird  trotz  dieser  Gegenüberstellung  nirgends  ausgesprochen, 
laß  auch  denen,  die  in  die  Unterwelt  eingehen,  ewiges  Leben,  wenn  auch 
n  Pein,  beschieden  sei.  Im  Gegenteil  scheint  selbst  der  uralten  Höllen- 
trafe  für  die  Meineidigen  das  Zerreißen  der  Leichen  durch  das  chthonische 
Jngeheuer4)  ein  Ende  zu  machen. 

Und  so  finden  wir  auch  sonst  eine  allgemeine  Fortdauer  oder 
Wiedergeburt,  so  viel  ich  sehe,  nirgends  bezeugt5).  Wir  haben  keine 
Spur  vom  Fortleben  der  Frauen,  eine  unsichere  von  dem  der  Mädchen, 
«;ine  mehr  als  zweifelhafte6)  von  dem  der  Knechte.  Weshalb  fürchten  die 
\lten  und  Kranken  den  Strohtod?  nur,  weil  sie  Saehrimnirs  verlustig  zu 
>ehen  besorgen  ?  Nein ;  weil  sie  ohne  das  Speereszeichen  überhaupt  ver- 
löschen, nach  kurzem  Umflattern  der  Seele  in  den  Berg,  in  das  Wilde 
4eer,  in  das  gehaltlose  Nichts  eingehen.  Und  eben  dies  macht  Odins 
mn  einzige  Bedeutung  aus:  daß  er  der  einzige  Gott  ist,  der  Unsterb- 
ichkeit  zu  verleihen  vermag. 

Scheinbar  macht  ihm  zwar  Freyja  diese  Einzigkeit  streitig.  —  Aber 
rir  vermochten  den  beiden  Zeugnissen,  dem  der  Grim. 7)  und  dem  Ausruf 
kr  Skäldentochter7),  kein  großes  Gewicht  beizumessen.  Fiele  wirklich 
ler  Göttin  die  halbe  Lese  des  Schlachtfeldes  zu  —  welch  ein  Kampf 
taüßte  um  den  Einzug  nach  Walhall  vor  sich  gehen!  wie  wären  die  be- 
Togen, die  zu  Odin  wollen  und  nur  nach  Folkwang  kommen!    Wie  un- 

*)  Mit  E.  H.  Meyer  siehe  o.  S.  463. 
i         a)  Vgl.  allgemein   (gegen   AI.  Bugge  und  Olrik)   Meißner.    D.   Lit.-Z- 
11909,  S.  2915. 

3)  Man  denke  nur  an  das  althochdeutsche  Gedicht  »Himmel  und  Hölle«, 
MSD.  N.  XXX. 

4)  Vol.  Str.  39. 

5)  Gegen  Olrik,  vgl.  o.  S.  84. 
«)  Härb.  Str.  24.  7)  Str.  14. 
8)  Golther  S.  440. 


512  Siebentes  Kapitel. 

denkbar  ist  das  alles !  und  wie  einfach  ist  die  falsche  Nachricht  zu  erklären 
(Vielleicht  stammt  sie  auch  von  einem  besonders  eifrigen  Verehrer  del 
Freyja,  der  ihr  vor  Frigg  ein  großes  Privileg  sichern  wollte.)  —  An  sicll 
viel  dankbarer  ist  es,  daß  alle  toten  Frauen  oder  —  was  mir  dann  wahr 
scheinlicher  wäre  —  alle  Jungfrauen  zu  Freyja  kämen.  Aber  auch  dies* 
Funktion  käme  viel  eher  der  Frigg  zu;  und  weitere  Zeugnisse  fehlen 
Die  Tochter  Thorgerd  bildet  vielleicht  nur  zu  Egils  hartnäckiger  Drohunj 
eine  Gegendrohung  mit  eigensinniger  Anpassung  an  den  Wortlaut  de 
väterlichen  Erklärung. 

Jedenfalls:  die  Unsterblichkeit,  die  die  lebenshungrigen  Wikinger  be 
gehren,  kann  einzig  Odin  gewähren.  Und  man  denke,  welche  Bedeutung  i 
ihm  das  geben  mußte!  Ähnliche  Privilegien  haben  die  Macht  der  orphischei 
Mysterien  geschaffen ,  haben  Mithras  eine  Zeitlang  zum  ebenmächtiger  i 
Nebenbuhler  Christi  gemacht  —  der  selbst,  nach  Harnacks  eindringenden 
Nachweis,  als  »Arzt«,  als  heilender  Gott  einen  guten  Teil  seiner  Mach 
über  die  Seelen  gewonnen  hatte1). 

Und   so    ist  denn  ein  esoterischer  Kult  oder  mindestens  eine  Weihe 
die  schon  dem  Lebenden  ein  gewisses  Anrecht,  eine  gewisse  Aussicht  aul 
die   Fortdauer   des   Lebens  sicherte,   durchaus   wahrscheinlich.     Manche* 
deutet  auf  solche  Odinsmysterien.     Nur   ihm   werden   schon    die  Kindei 
als  Diener  fürs  Leben  geweiht,  wie  katholische  Eltern  ein  Kind  dem  Klostei 
verloben2).     Ein    unmittelbares,    wenn    auch   verkleidetes   Zeugnis   einei 
solchen   mystischen  Weihe,  allerdings  schon  des  Jünglings  oder  Mannes 
an  Odin    glaubten    wir   in   der  Erzählung  von  seiner  Runenf indung 3)  zu 
finden   -     in    ihrer   Form;   über   den    Inhalt   wird   noch    einiges   hier   zu 
bemerken   sein.     Endlich  sind  aber  noch    einige  Stellen  vorhanden,   die 
aus  diesem  Zusammenhang  ein  neues  Licht  gewinnen  könnten.    Kein  Got1 
erscheint  so  oft  in  Verkleidung,  und  dennoch  kenntlich,  wie  Odin.    Einej 
ganze  Reihe  von  Legenden  läßt  ihn  noch  mit  dem  großen  Bekehrer  Olaf) 
als  alten   einäugigen  Mann   mit   herabhängendem  Hut,  als   blödsichtigenj 
behaarten  Mann   mit  über  das  Antlitz  herabhängendem  Hut4)  zusammen 
treffen.     Oder   er   kommt   einäugig   mit  breitem  Hut  und  blauem  Mantel 
und  schwingt   den  Speer  gegen  Sigmund5);   oder  als  Mann   im   blauen 
Mantel  gibt  er  dem  Hord  guten  Rat6)  usw.     Wir  sahen  wohl,   daß  dies 
mit  seinem  Wandern,  seinem  Prüfen  der  Könige,  seinem  Fällen  der  eigenen 
Lieblinge  zusammenhängt.    Kann  aber  diese  Häufigkeit  der  Erscheinungen 

*)  Als  ein  »Wetterleuchten  der  Auferstehungshoffnung«  bezeichnet  die  «aus 
Seelennot  geborene  Theodicee  des  Hiob  Berthol let,  D.  israel.  Vorstellungen 
vom  Zustand  nach  dem  Tode,  Freiburg  1899,  S.  27. 

2)  Golther  S.  326.  8)  Häv.  Str.  138f. 

4)  Golther  S.  342. 

5)  Ebd.  S.  330.  6)  Ebd.  S.  335. 


§  28.    Religionsgeschichte.  51 3 

)dins  nicht  durch  wirkliche  Visionen  gefördert  worden  sein,  wie  sie  zum 
testand  jedes  Mysteriendienstes  gehören?  Klingt  nicht  insbesondere  die 
{ahmenfabel  der  Grimnismäl  ganz  so,  als  sei  dem  Geirröd,  der  früh  der 
/erehrung  Odins  gehörte,  der  Gott,  gegen  den  er  frevelt,  in  Flammen 
rschienen,  mit  der  ganzen  Pracht  einer  selbstrühmenden  Liturgie  (wie  sie 
n  Veda  nicht  selten  sind)  sich  offenbarend?  —  Weiter:  auf  eine  Ver- 
bindung des  Odin-Rituals  mit  Zauber  deutet  jene  eigentümliche  Sage  von 
[ler  Opferung  Wikars  durch  den  in  einen  Speer  verwandelten  Rohrstab. 
:s  klingt  wie  eine  feierliche  Selbstverwünschung:  sollte  ich  untreu  werden, 
0  soll  dieser  Stab  zum  Speer  werden  und  mich  durchbohren  —  Formeln, 
le  sie  bei  Geheimen  Gesellschaften  geradezu  typisch  sind.  Die  »Ver- 
einigten Irländer»  schwören,  daß  sie  sich  eher  die  rechte  Hand  abhauen 
ind  vor  die  Kerkertür  legen  lassen  wollen ,  als  einen  Bruder  verraten  *). 
'on  solcher  Formel  zu  ihrer  (wirklichen  oder  legendarischen)  Erfüllung 
\>t  nur  ein  Schritt;  auf  solche  »Erfüllung  der  Formel«  als  Mythenquelle 
/iesen  wir2)  schon  gerade  bei  Geirröds  Tod  hin.  Oder  die  Strafe  wird 
eradezu,  wie  bei  Wikar,  symbolisch  vorgenommen :  die  Carbonari  binden 
fei  der  Aufnahme  neuer  Mitglieder  zwei  alte  mit  Seidenstricken  an  ein 
ilreuz3).  Sind  solche  Zeremonien  einem  religiösen  Geheimbund  kriege- 
ischer  Abenteurer  nicht  zuzutrauen?  —  Endlich  das  letzte  und  stärkste 
irgument  für  einen  Geheimdienst  Odins:  die  Häufigkeit  der  Menschen- 
pfer.  Gewiß  begegnen  sie  auch  bei  anderen  Göttern ;  aber  nur  bei  ihm 
,:heinen  sie  ein  ständiges  Element  der  Opferfeier  gebildet  zu  haben, 
►erartige  blutige  Feiern  sind  aber  gerade  für  Mysterien kulte  so  charakte- 
stisch,  daß  man  sie  selbst  da  annahm,  wo  sie  am  sichersten  fehlten: 
ei  der  heimlichen  Abendmahlsfeier  der  Urchristen 4) ! 

Immerhin  —  ob  die  Verehrer  Odins  mystisch  initiiert  werden  oder 
^cht,  ein  engeres  Verhältnis  mußte  sich  bilden,  ja  ein  gläubiger  Enthusias- 
mus für   den  Spender   des  höchsten  Gutes5).     Für  dies  nicht  mehr  bloß 


*)  Heckerthorn-Katscher,  Geheime  Gesellschaften,  S.  352. 

2)  Siehe  o.  S.  21. 

3)  Ebd.  S.  297.  Ich  lasse  mich  durch  diese  Seidenstricke  übrigens  nicht 
erführen,  irgendwelche  Beziehung  mit  der  rein  märchenhaften  Fessel  des  Wolfs 
erzustellen ,  die  »glatt  und  weich  wie  ein  seidenes  Band«  war  (Gylf.  cap.  34) ; 
och  zu  ihrer  Doublette,  der  Fessel  aus  Narfis  Därmen,  die  zu  Eisen  wurden 
jap.  50:  S.  347).  Eher  könnte  man  an  einen  Zusammenhang  mit  Hods  Mistel- 
veig  denken;  doch  auch  nicht  an  einen  unmittelbaren. 

*)  Ebenso  hat  der  Phantast  G.  Fr.  Däumer  in  seinem  »Feuer-  und  Moloch- 
enst  der  alten  Hebräer«  (Braunschweig  1842,  S.  209)  in  der  Bundeslade  gar  die 
sehe  der  dem  Moloch  geopferten  Kinder  gesucht! 

5)  Unter  seinen  zahllosen  Namen  in  den  Grim.  könnten  auch  hierhergehörige 
.ysteriennamen  sich  befinden,  wie  Dionysos  den  Mysteriennamen  Zagreus  führt; 
I  Prell  er  1,  705. 
Meyer,  Altgermanische  Reiigionsgeschichte.  33 


514  Siebentes  Kapitel. 

erschlossene  Phänomen  der  Hingebung  an  Odin *)  spricht  auch  gerac 
der  oft  beobachtete  Abstand  zwischen  seiner  Geltung  in  den  Liedern  un 
im  Volksglauben  2).  Und  an  diese  höchste  Kunst  Odins,  den  Seinen  d« 
ewige  Leben  zu  gewähren,  mußten  auch  besondere  Mythen  anknüpfe 
Wie  kam  der  Gott  in  den  Besitz  dieser  köstlichen  Gabe?  Darauf  an 
wortet  der  orphische  Hymnus  von  seiner  Selbstopferung3);  möglich,  da 
auch  in  das  junge  Gebilde  der  Mythen  vom  »Unsterblichkeitstrank«  (d 
nur  ein  Dichtertrank  ist)  Elemente  solcher  ätiologischer  Mythen  übe 
gegangen  sind. 

Der  Odinskult,  zumal  in  dieser  spezifischen  Zuspitzung  (für  die,  denl< 
ich,  mehr  Argumente  beigebracht  sind  und  bessere  als  für  die  meiste 
nicht  unzweideutig  bezeugten  Tatsachen  der  altgermanischen  Mythologie 
konnte  nicht  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  volkstümlich  werden,  wie  di 
Vorstellung  von  dem  Teufel  Loki.  Der  Menge  blieb  Odin  der  gestreng 
Fürstengott,  mit  dem  nur  die  Vornehmen  zu  schaffen  hatten ;  nur  als  Go 
der  Weisheit,  der  Heilkunst,  der  Runenanwendung  überhaupt  ging  t 
weitere  Kreise  an  —  und  hatte  in  all  diesen  Punkten  den  gefährliche 
Mitbewerb  der  Zauberer  auszuhalten,  denen  sich  sogar  sein  eigenes  Bil 
ein  wenig  anpaßte.  —  Eine  noch  stärkere  Verengung  des  Kreises  werde 
wir  bei  dem  dritten  und  merkwürdigsten  der  hierher  gehörigen  Myther 
kreise  anzunehmen  haben. 

Aus  dem  Unsterblichkeitsbedürfnis  und  aus  der  neuerwachten  Sehr 
sucht  nach  Vergeltung  und  Gerechtigkeit  in  zweiter  Linie  gewann  auc 
der  altgermanische  Mythus  von  Bai  der  seine  neue,  spezifisch  nordisch 
Gestaltung. 

Balder,  der  Gott  des  lichten  Tagesglanzes  (Baeldaeg),  der  Gott  de 
Helligkeit,  ist  von  allem  Anfang  an  an  die  periodische  Wiederkehr  vo 
Tod  und  Leben  gebunden.  Das  tägliche  Schwinden  der  Helligkeit,  di! 
tägliche  Erneuerung  des  Glanzes  konnten  mythisch  gar  nicht  anders  ausj 
gedrückt  werden  als  wie  so  viele  Völker  diese  Erscheinungen  ausgedrüdj 
haben:  der  strahlende  Held  wird  getötet  und  neu  zum  Leben  erweckt. 

Als  nun  aber  die  neue  Göttervorstellung  sich  festsetzte,  mußte  di 
Vorstellung  des  sterbenden  Gottes  Bedenken  erregen.  Vielfach  wird  ein 
mildernde  Form  eingetreten  sein,  von  der  Kuhn  und  Losch  ausreichend 
Proben  erbracht  haben.  Der  Gott  stirbt  nicht,  sondern  sein  Roß  wir 
verwundet,  so  daß  er  seinen  Ritt  nicht  fortsetzen  kann;  aber  dann  wir 
es  geheilt  und  der  Glanz  zieht  von  neuem  über  das  Himmelsgewölbt 
So  auch  altdeutsch  im  Merseburger  Spruch. 


»)  Vgl.  o.  S.  244  f. 

2)  Vgl.  für  die  Entfernung  zwischen  Jahvismus  und  Volksreligion  Wildeboei 
Jahvedienst  u.  Volksreligion  in  Israel,  Tübingen  1899,  S.  33  f. 

3)  Häv.  Str.  138  f. 


§  28.    Religionsgeschichte.  515 

Daneben  muß  die  ältere  Lehre  fortbestanden  haben.  Daß  auch  die 
altdeutsche  Fassung  im  Norden  vorkam,  dafür  sprechen  Doubletten  wie 
idie  Untauglichmachung  und  Heilung  von  Thors  Bock  durch  Thjälfi J). 
Aber  der  Mythus:  daß  Balder  durch  den  dunklen,  »blinden«  Hod  selbst 
erschossen  wurde,  dauerte  daneben  fort;  ohne  große  Bedeutung  vermutlich, 
etwa  wie  die  verdunkelten  Mythen  von  der  Gefangenschaft  Thors  bei  den 
Riesen,  oder  von  Odins  Verbannung. 

Nun  aber  mit  einemmale  gewann  der  Mythus  eine  ganz  neue  Be- 
deutung! So  war  zu  einer  bestimmten  Zeit  in  Ägypten  aus  mancherlei 
;alten  Mythen  die  neue  von  Osiris  entstanden,  den  der  böse  Set  tötet  und 
zerstückelt,  den  aber  auf  die  Klagen  der  Isis  die  Götter  wieder  beleben, 
wenn  er  auch  sein  erstes  Leben  nicht  mehr  fortsetzen  kann 2).  So  war 
hi  den  wüsten  und  aufgeregten  Zeitverhältnissen  der  Sullanischen  Epoche3) 
;dieser  Kult  in  Rom  erst  heimlich,  dann  offiziell  aufgenommen  worden: 
das  Wehklagen  der  Isis,  die  Auffindung  und  Neubelebung  der  Leiche4). 
;Der  Mythus,  der  ursprünglich  nur  einem  periodischen  Naturereignis  galt, 
iward  symbolisch  umgedeutet:  in  der  Wiederbelebung  des  toten  Gottes 
besaß  man  die  Bürgschaft  für  die  Möglichkeit  des  Wiederauflebens.  (Man 
tbeachte  wohl:  für  die  Möglichkeit;  von  einer  Selbstverständlichkeit  des 
t Fortlebens  oder  der  Wiedergeburt  ist  durchaus  keine  Rede,  und  Osiris 
selbst  wird  nur  durch  das  größte  der  Wunder  ins  Leben  zurückgerufen.) 
i  Welch  ungeheuren  Eindruck  mußte  dies  Zeugnis  auf  die  machen,  die  die 
I Unsterblichkeit  suchten!  Im  Mittelpunkt  der  Predigt  des  Paulus  steht  die 
Auferstehung  seines  Herrn:  »Ist  aber  Christus  nicht  auferstanden,  so  ist 
unsere  Predigt  vergeblich,  so  ist  auch  euer  Glaube  vergeblich«5).  Dies 
iist  die  Bedeutung  Balders  für  die  Germanen  der  Wikingerzeit. 

Ist  aber  die  Sage  einmal  in  diesen  religionsgeschichtlichen  Zusammen- 
hang gestellt,  so  verliert  der  Versuch,  die  Balderlegende  einfach  aus  dem 
-Christentum  abzuleiten,  vollends  jede  Aussicht.  Daß  die  Berichte  von 
Christus  mitgewirkt  haben,  braucht  man  nicht  auszuschließen;  sie  können 
aber  nur  eine  Frucht  zu  schnellerer  Reife  gebracht  haben,  die  unmittelbar 
vor  der  Vollendung  stand.  Wie  die  Römer  den  Tempelbau  oder  die 
»Kelten  den  Ragnarokmythus ,  so  mögen  die  Christen  das  neue  Erwachen 
Haiders  beschleunigt  haben:  mehr  nicht.  Denn  man  bedenke  doch  auch 
hier  die  Unterschiede,  den  vor  allem,  daß  die  Himmelfahrt  Christi  für 
die  Gläubigen  eine  historische  Tatsache  ist,  die  Wiederkunft  Balders  lediglich 
leine  bestimmte  Erwartung!    Daß  Balder  gerettet  werden  soll,  für  Christus 


J)  Gylf.  cap.  44:  Gering  S.  334;  vielleicht  war  dieser  »Diener  Thors«  (vgl. 
auch  Härb.  Str.  39)  ursprünglich  Loki  selbst. 

2)  Erman,  Ägypt.  Rel.,  S.  34.  36. 

3)  Wissowa  S.  292. 

4)  Ebd.  S.  295.  5)  1.  Korr.  18,  14. 

33* 


516  Siebentes  Kapitel. 

gerade  der  Opfertod  als  der  Gipfel  des  Wirkens  angesehen  wird !  —  Voi 
allem  aber  sehe  und  höre  man  doch,  wie  um  Balder  geklagt  wird!  wie 
ein  ganz  persönlicher  Ton  jede  Strophe  erfüllt,  die  von  ihm  handelt!! 
wie  der  Mythus  sich  in  allen  Bemühungen  ergeht,  mit  denen  Liebe  den1 
teuren  Toten  der  Unterwelt  abzuringen  versuchen  mag:  die  Bitte  an  die 
Gebieter  des  Totenreichs,  wie  in  der  gleich  schönen  Sage  von  Orpheus 
und  Eurydike;  der  Versuch,  durch  das  Klagen  aller  Kreatur  das  Schicksal 
umzustimmen ;  zuletzt  —  der  Zauber,  das  geheimnisvolle  Wort  Odins,  das 
vielleicht  auch  seinen  sterbenden  Mysten  ins  Ohr  geflüstert  ward;  und 
mit  ihm  die  sichere  Hoffnung,  den  Geliebten  wiederzusehen. 

Wer  da  Entlehnung  von  Buch  zu  Buch  oder  auch  nur  von  Mund 
zu  Mund  annimmt,  der  weiß  den  Herzschlag  eines  leidenschaftlich  be- 
wegten Herzens,  die  große  Sehnsucht  einer  im  tiefsten  erschütterten  Zeit 
von  Reminiszenzen  nicht  zu  unterscheiden ;  der  mag  denn  auch  mit  Jensen 
Christus  und  Paulus  für  zeilengetreue  Abschriften  aus  dem  Babyionischen 
halten.  Denn  mit  diesen  Mythifikationen 5)  hat  die  Christianisierung  alt- 
germanischer Mythen  durch  Bang,  Bugge,  E.  H.  Meyer  nur  ihre  gerechte 
Strafe  erhalten. 

Mit  dieser  leidenschaftlichen  Teilnahme  an  dem  Schicksal  des  Un- 
sterblichkeitsbürgen hängt  denn  auch  für  die  Stimmung  jener  Zeiten  das 
Bedürfnis  nach  sofortiger  Rache  untrennbar  zusammen.  Gleich  muß  sie 
erfolgen;  wie  neubekehrte  Häuptlinge  bedauerten,  Christus  nicht  rächen 
zu  können,  so  ertragen  die  Hörer  nicht  das  Los  ihres  Lieblings.  Denn 
untrennbar  mit  der  Vorstellung  der  Fortdauer  des  Lebens  für  die  Besten 
ist  die  der  Vergeltung  verbunden. 

Nur  als  Möglichkeit  möchte  ich  andeuten,  daß  die  Aufnahme  fremder 
Götter  in  diese  Zeit  fallen  kann.  Fosite  von  Haligoland  ist  der  gerechte 
Richter,  Uli  scheint  der  Hüter  des  Eides  —  es  wäre  nicht  undenkbar, 
daß  diese  in  ihrer  Ungerechtigkeit  nach  Gerechtigkeit  hungernde  und 
dürstende  Zeit  sie  adoptiert  hätte  wie  Rom  die  Isis.  Aber  sie  können 
auch  später  aufgenommen  sein,  und  Uli  kann  auch  schon  früher  zu  den 
nordischen  Göttern  gehört  haben. 

Um  so  wichtiger  aber  ist  der  vierte  Mythenkreis,  der  sich  an  jeden 
Grundgedanken  oder  vielmehr  an  jede  Grundfrage  anschließt:  der  von 
dem  Entscheid  ungskampf  zwischen  den  Göttern  und  der 
Hölle.  Die  unmittelbare  Verbindung,  die  schon  die  Völ.  zwischen  Balders 
Tod  und  Ragnarok  herstellt,  haben  die  Forscher  mit  guten  Gründen  an- 
gezweifelt. Die  mittelbare,  innere  Verbindung  scheint  mir  fest  wie  die 
Eisenfesseln  des  Wolfes  —  oder  hoffentlich  fester;  denn  er  löst  sich  ja  doch ! 


5)  Drews,  Die  Christusmythe,  Jena  1910;  Jensen,  Moses,  Christus,  Paulus, 
Frankfurt  a.  M.  1909. 


§  28.    Religionsgeschichte.  51 7 

Der  Gedanke  der  Wiederkehr  Balders  wird  mit  der  Vergeltungs- 
idee in  unlöslichen  Zusammenhang  gebracht.  Stand  es  fest,  daß  Balder 
wiedergeboren  würde,  so  mußte,  zumal  bei  seinen  leidenschaftlichen  Ver- 
ehrern, die  Frage  entstehen:  Warum  kommt  er  nicht  gleich  wieder? 
warum  kam  er  nicht  wieder,  wie  Christus,  wie  Thor  aus  der  Gefangen- 
schaft, Odin  aus  der  Verbannung?  Weil  die  ganze  Luft  mit  Gift  erfüllt 
ist1);  weil  er  zu  rein  und  edel  ist  für  diese  Welt,  für  diese  Beilzeit, 
Schwertzeit,  Windzeit,  Wolfzeit;  für  diese  Epoche,  in  der  sich  die  Brüder 
befehden  und  keiner  den  anderen  schont2).  Fühlt  man  denn  nicht  auch 
in  diesen  Versen  und  gerade  in  ihnen  durch  alles  ererbte  Formelwesen 
hindurch  die  Erregung  und  Herzensangst  eines  Dichters,  den  der  Anblick 
der  Gegenwart  quält  und  bekümmert?  wie  in  der  Offenbarung  Johannis 
doch  alle  apokalyptische  Geheimsprache  die  leidenschaftliche  Empfindung 
eines  an  seiner  Zeit  krankenden  Herzens  nicht  verdecken  kann.  Nur  in 
Augenblicken  der  Verzweiflung  an  der  Gegenwart  entspringen  die  großen 
Visionen  der  Zukunft;  und  nie  ist  die  künftige  Herrlichkeit  Deutschlands 
begeisterter  gemalt  worden  als  vor  1848. 

Aus  diesem  Gefühl  also  erwächst  beides :  die  Sehnsucht  nach  Balder, 
und  die  Empfindung :  jetzt  kann  er  noch  nicht  erscheinen.  Erst  muß  die 
Luft  gereinigt  werden  ;  erst  muß  Vergeltung  geübt  werden :  an  den  Bösen, 
die  das  Unheil  bringen  —  und  an  den  Lässigen,  die  es  geschehen  lassen  3). 
Eine  ungeheure  »lustratw«  ist  notwendig,  um  das  »prodigium«  aus  der 
Welt  zu  schaffen:  Schreckenszeichen  beweisen,  »daß  das  normale  Ver- 
hältnis zwischen  Gemeinde  und  Gottheit  eine  Störung  erfahren  hat« 4), 
und  machen  eine  neue  pax  deurn,  einen  neuen  Frieden  mit  den  Göttern 5) 
erforderlich.  So  entsteht  der  Gedanke  des  Ragnarok,  als  unentbehrliche 
i/orbedingung  für  die  Epoche,  da  »alles  Böse  schwindet,  denn  Balder 
erscheint«  6),  als  unentbehrliche  Vorbedingung  vor  allem  für  seine  Wieder- 
geburt selbst. 


*)  Wie  die  Völ.  sich  an  anderer  Stelle  (Str.  25)  ausdrückt. 

2)  Völ.  Str.  45;  vgl.  Olrik,  Altnord.  Leben,  S.  73.  —  Eine  solche  Epoche  ist 
auch  die  vor  der  Sintflut:  Methusalah,  der  »Mann  des  Geschosses«,  bezeichnet 
die  »Schwertzeit«  (Holzinger,  Genesis,  S.  63).  Die  epigrammatische  Häufung 
der  Namen  für  die  böse  Zeit  übrigens  (Str.  15)  wird  jung  sein;  die  Strophe 
drängt  wohl  den  Inhalt  mehrerer  älterer  zusammen.  Für  die  prägnante  Benennung 
der  schlimmen  Zeit  haben  wohl  die  altnordischen  Monatsnamen  wie  Frost- 
mond, Schnittmond  (W  e  i  n  h  o  1  d ,  Altnord.  Leben,  S.  376)  als  Muster  gedient.  — 
Allgemein  über  »Weltalter«  Wundt  S.  462.  466. 

3)  Bringt  doch  noch  das  christliche  Muspilli  das  jüngste  Gericht  in  unmittel- 
bare Beziehung  zu  der  Bestechlichkeit  der  Richter;  MSD.  III.  V.  63 f.;  vgl. 
Anmerkungen  2,  39. 

4)  Wissowa  S.  328. 

5)  Vgl.  ebd.  S.  327. 
fl)  Vol.  Str.  62. 


518  Siebentes  Kapitel. 

Die  christliche  Eschatologie  kann  auch  hier  Hebammendienste  geleiste 
haben ;  noch  mehr  hat  es  Olrik x)  für  die  keltische  wahrscheinlich  gemacht 
Aber  die  Grundlagen  sind  auch  hier  altgermanisch,  und  vor  allem  ist  der 
sie  umbildende  Grundgedanke  nur  aus  der  schweren  Not  der  Zeit  selbsl 
zu  verstehen.  Daß  die  Vorstellung  eines  entscheidenden  allgemeinen 
Kampfes  zwischen  Himmel  und  Hölle  alt  sei,  kann  nicht  nur  nicht  be- 
wiesen werden,  sondern  es  ist  auch  beinahe  undenkbar2),  da  die  ethische 
Zuspitzung  des  Gegensatzes  der  Mächte  nicht  primitiv  ist  und  die  Kon- 
zentration der  Götterfeinde  selbst  erst  einer  verhältnismäßig  jungen  Periode 
anzugehören  scheint3).     Aber  es  waren  folgende  Elemente  vorhanden: 

Sagen  von  Kämpfen  der  Götter  in  großer  Anzahl,  und  zwar  neben 
Einzelkämpfen  auch  solche  von  kollektivem  Charakter.  Thor  kämpft  nicht 
nur  gegen  einzelne  Unholde,  sondern  es  wird  wiederholt  betont,  daß  er 
gegen  »die  Riesen«  Krieg  führt.  Vor  allem  aber  ist  ein  Krieg  von  Masse 
gegen  Masse  der  Wanenkrieg,  da  die  Feinde  der  Äsen  tatsächlich4)  als 
ein  Heer  vorgestellt  werden,  mögen  wir  auch  nur  drei  mit  Namen  kennen. 
Hier  lag  also  bereits  ein  Mythus  von  einem  großen  Kampf  zwischen  den 
Äsen  auf  der  einen,  einem  feindlichen  Heer  auf  der  anderen  Seite  vor. 

Die  merkwürdigen  Sagen  von  der  Schlacht  am  Birnbaum 5)  wage  ich 
nicht  zu  verwerten.  Denn  so  gewiß  sie  mythische  Bestandteile  bergen6), 
so  stark  scheinen  sie  doch  von  der  Heldensage  bedingt,  von  ihren 
Völkerkämpfen  —  die  ja  gewiß7)  auch  auf  Ragnarok  eingewirkt  haben, 
hier  aber  doch  den  mythischen  Kern  unberührt  ließen.  Die  Sage  vom 
Kampf  um  den  Birnbaum  hat  so  ausgeprägt  nationale  Züge,  daß  ich 
sie  für  einen  mythologischen  Gegensatz  nicht  ausbeuten  möchte; 
und  nichts  spricht  sonst  dafür,  daß  eine  große  Götterschlacht  im  Sinne 
von  Ragnarok  auf  dem  deutschen  und  englischen  Gebiet  bekannt  war. 
Die  Schlachten  des  Wilden  Heeres  und  ihre  heroische  Fortsetzung  auf 
dem  Wülpensande8)  oder  sonst9)  sind  ja  von  Ragnarok  fundamental] 
gerade  durch  ihre  ewige  Wiederkehr  unterschieden,  während  bei  der 
Götterschlacht  eine  endgültige  Entscheidung  die  unentbehrliche  Pointe 
bildet.  Übrigens  scheint  gerade  auch  bei  diesem  Mythus  die  spezifisch 
nordische  Lebensunersättlichkeit  in  dem  Motiv  der  zaubermäßigen  Wieder- 
belebung hervorzutreten 10)  —  und  wieder  vielleicht  unter  keltischem 
Einfluß11). 

*)  Om  Ragnarok. 

2)  Vgl.  Grau,  Germ.  Darstellungen  d.  Jüngsten  Gerichts,  Halle  1908. 

3)  Vgl.  Macdonell  S.  156. 

4)  Vol.  Str.  24. 

5)  Zurbonsen,  Die  Völkerschlacht  der  Zukunft,  Köln  1907. 

6)  Ebd.  S.  16.  7)  Siehe  u. 

8)  Doch  vgl.  Panzer,  Hilde-Kudrun,  S.  324. 

9)  Ebd.  S.  328.  10)  Panzer  S.  329.  »)  S.  330. 


§  28.    Religionsgeschichte.  519 

Sagen  vom  Eindringen  eines  Feindes  bis  vor  oder  in  den  Sitz  der 
jötter  waren  gleichfalls  schon  im  Umlauf.  Wir  haben  den  Mythus  von 
ler  Herausforderung  aus  den  Doubletten  von  Hrungnir  und  Loki l)  zu 
:rschließen  gesucht.  Für  ihn  spricht  noch  die  heroische  Umwandlung 
ler  Beowulfsage ;  denn  ursprünglich  war  doch  wohl  der  seltsame  Festsaal, 
in  den  Grendel  so  keck  heranzieht,  die  Halle  der  Götter,  nach  dem 
kmnenhirsch  benannt,  der  auf  Heervaters  Saal  steht 2) ;  was  dann  zu  selt- 
amen  Inkonsequenzen  führte,  als  Heorot  die  Halle  Hrodgars  geworden 
var3).  Drittens  spricht  für  den  von  uns  erschlossenen  Mythus  die 
\nalogie  der  Heldensage:  daß  ein  Ritter  vor  die  feindliche  Burg  reitet 
ind  seine  Ausforderung  ruft,  ist  etwas  ganz  Übliches:  so  tut  es  z.  B. 
iiuteger  vor  dem  Sarrazenenpalast 4). 

Nicht  unmöglich  scheint  mir  eine  ältere  Variante,  wonach  der  Feind 
n  die  Burg  schon  beinahe  eindrang,  aber  durch  die  vom  Hahnenkraht 
geweckten  Äsen  verjagt  wurde.  (Der  Name  Gullinkambi  oder  Salgofnir 
ist  natürlich  jung.)  Hrungnir5)  kommt  durch  Versehen  in  die  Burg,  was 
doch  wohl  nicht  ursprünglich  ist6).  Loki  erschlägt  einen  Diener,  ehe  er 
in  die  Halle  tritt.  Das  könnten  alte  Züge  sein.  Damit  wäre  dann  Gullin- 
kambi7)  zu  kombinieren,  »der  in  Heervaters  Halle  die  Helden  weckt«. 
Es  wäre  ein  Beispiel  jenes  Motivs,  daß  eine  Burg  durch  Tiergeschrei 
gerettet  wird;  in  den  Kapitolinischen  Gänsen  hat  es  eine  klassische  Aus- 
prägung gefunden8).  —  Wenn  dagegen  der  Hahn  des  Petrus  kräht,  so 
ist  das  natürlich  ein  »Erfüllungsmythus«:  Christus  hat  prophezeit,  ehe  der 
Hahn  dreimal  gekräht  haben  werde,  d.  h.  noch  vor  Anbruch  des  neuen 
Tages,  werde  sein  Jünger  ihn  verleugnet  haben;  das  wird  buchstäbliche 
Wahrheit. 

Diese  beiden  vorhandenen  Sagen  —  Götterkriege  und  Vordringen 
der  Götterfeinde  auf  die  Götterburg  —  kristallisieren  um  den  erwarteten 
Vergeltungskrieg.  Der  Götterkrieg  wird  zu  einem  Kampf  aller  Götter 
£egen  alle  Gegengötter  erweitert,  mit  dem  charakteristischen  Zug,  daß 
diese  angreifend  heranziehen;  was  vermutlich  zuerst  von  Hrym9)  erzählt 
wurde,  oder  von  Surt 10),  der  allein  nicht  fährt  und  das  Schwert  schwingt.  — 
Die  weitere  Ausmalung,  die  pragmatische  Einfügung  in  die  gesamte  Ge- 

J)  Siehe  o.  S.  295.  2)  Grim.  Str.  24. 

3)  Vgl.  Laistner  in  Wülkers  Grundriß  zur  Gesch.  d.  ags.  Lit.  S.  267. 

4)  Parz.  32,  1  f. 

5)  Skäldsk.  cap.  1:  Gering  S.  357. 

6)  »Was  rühmst  du  deinen  schnellen  Ritt?  dein  Roß  ging  durch  und  nahm 
dich  mit!«  (Geibel). 

7)  Vol.  Str.  43. 

8)  Anders  »eine  Taube  sagt  Belagerung  an«  (Deutsche  Sagen  1,  375:  hier 
handelt  es  sich  um  den  frühen  orientalischen  Gebrauch  der  Brieftauben. 

9)  Vol.  Str.  50.  10)  Str.  52. 


520  Siebentes  Kapitel. 


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schichte  der  Weit,  die  Verteilung  der  Einzelkämpfe  gehört  dann  den  Einzel 
dichtem. 

Daß    der  Mythus   von  Ragnarok   in   der  altgermanischen  Mythologi 
große   Spuren    hinterlassen    hätte,    kann   man   sonst   nicht   sagen.      Noclfltff 
Balders  Draumar  erzählen  den  Baidermythus,   ohne  den   jüngsten  Kamp 
anzuknüpfen.    Um  so  mächtiger  ist  der  Eindruck  auf  die  Folgezeit  gewesen 
mit  Recht,  denn  die  leidenschaftlichen  Stimmungen  einer  Zeit  voll  wildei  ift 
Größe  haben  in  diesem  eddischen  Inferno  erschütternden  Ausdruck  gefunden  in 

Und  damit  kehren  wir  noch  einmal  zu  der  Charakteristik  jene*  ii 
Dichtungen  zurück,  die  der  Götteredda  ihr  eigentliches  Gepräge  verleihen  I 
Ehe  man  uns  vorwirft,  wir  hätten  unberechtigt  in  die  Gefühle  einer  rohenlc 
Zeit  Grübelei  und  idealistische  Ansprüche  hineingetragen,  betrachte  man! 
diese  Dichtungen  noch  einmal.  Sind  sie  wirklich  von  naiver  Erzählerlust 
diktiert  wie  die  Thrymskvida?  oder  von  gelehrtem  Stoffhunger  über 
füllt  wie  die  Alvissmäl?  Sind  es  nicht  wirklich  Problemdichtungen 
im  vollen  Sinn  des  Wortes?  Nicht  bloß  die  Völuspä,  die  ja  freilich  über 
den  anderen  steht  »wie  die  Dolde  des  Lauches  über  dürftigem  Gras,  wie 
der  glänzende  Demant  das  Gold  überstrahlt«  —  zwar  kein  einheitliches! 
Kunstwerk  (wie  sie  uns  vorliegt),  aber  wie  Goethes  Faust  selbst  in  ihren 
Widersprüchen  für  die  Größe  der  Konzeption  zeugend.  Aber  auch  die 
Hävamäl  sind  keine  nüchterne  Spruchsammlung;  keins  von  den  biblischen 
Büchern  dieser  Art,  Sirach,  Salomonis  Weisheit,  kann  sich  der  heidnischen 
Dichtung  in  dem  Versuch,  mit  Erfahrungen  die  Welt  zu  umspannen,  ver- 
gleichen. Und  selbst  Veg.,  Vaf.,  Grim.  —  von  Rätseln  gehen  sie  aus, 
die  sie  lösen  wollen.  Hinter  dieser  Poesie  liegt  ein  angestrengtes  Suchen; 
wie  hinter  den  Problemdichtungen  der  heutigen  Magi  aus  Norden,  der 
Ibsen,  Björnson,  Strindberg.  Mit  dem  »Fragezeichen«  der  Ibsenschen 
Dramen  schließen  die  Vafthrudnismäl ;  Bedürfnis  nach  Anbetung  kämpft 
mit  titanischem  Trotz  in  der  Lokasenna  wie  bei  Strindberg;  ein  Gedicht 
von  der  Versuchung  Gottes  sind  die  Grimnismäl  wie  »Über  unsere 
Kraft«.  Daher  auch  überall  die  einfache  Rede,  die  zu  Verkleidungen  des 
Gedankens  im  Stil  der  Hymiskvida  so  wenig  Zeit  hat  wie  zu  den  kunst- 
vollen Formspielen  der  Thrymskvida  und  Rigsthula  —  obwohl  gerade 
das  größte  Gedicht,  die  Völuspä,  mit  ihren  Künsten  des  Gegenrefrains, 
des  Stufenbaues  bei  Schuld  und  Sühne  der  Götter,  der  mimischen 
Apostrophe  der  Virtuosität  des  Liedes  von  der  Entstehung  der  Stände 
unter  allen  eddischen  Gedichten  am  nächsten  kommt. 

Was  aber  den  Inhalt  jener  Probleme  selbst  angeht,  so  zeugt  für  die 
Möglichkeit  des  Brütens  über  solchen  Rätselfragen  in  selbst  noch  viel 
primitiveren  Zeiten  jeder  Anfang  einer  Philosophie,  ja  jeder  ätiologische 
Mythus.  Vor  allem  aber  —  ist  die  Assyriologie  auch  bisher  für  die  ver- 
gleichende Mythologie   wie  für   die  Kulturgeschichte  ein  Danaergeschenk 


§  28.    Religionsgeschichte.  521 

ewesen  *),  so  hat  sie  uns  doch  in  dem  vielberufenen  Gilgamesch  das  älteste 
Her  Epen  geschenkt,  und  hier  schon,  6000  Jahre  vor  unserer  Zeit,  grübelt 
jer  Held  über  »Tod  und  Leben«,  wird  es  sein  höchstes  Ziel,  die  Un- 
sterblichkeit zu  erlangen  —  nicht  in  dem  abgeschwächten  Sinne  des  Nach- 
bhms,  nein,  als  greifbaren  Besitz,  als  Befreiung  vom  Tode.  Und  wenn 
;ie  Erzählung  vom  Sündenfall  berichtet,  wie  der  Tod  in  die  Welt  kam  — 
ffenbart  nicht  auch  dieser  Mythus  wie  die  von  Methusalems  Alter  und 
"nochs  Entrückung  jene  Sehnsucht,  die  wir  als  treibende  Grundgedanken 
inter  den  Mythen  von  Odins  Einheriern,  von  Balders  Wiederkunft,  von 
em  Verhängnis  der  Götter  am  Werk  sahen,  wie  in  der  » Verteuf elung« 
okis  den  Gedanken  der  Vergeltung?  — 

Noch  erübrigt  es,  kurz  auf  das  Verhältnis  der  Unsterblichkeitslehre 
u  dem  Glauben  an  die  Wiedergeburt2)  einzugehen. 

Zeugnisse  für  diesen  Glauben  sind  uns,  wenn  auch  vereinzelt,  seit 
rgermanischer  Zeit  überliefert3).  Als  ein  äußeres  Symptom  sieht  Olrik 
ie  Sitte  an,  Nachgeborenen  den  Namen  der  Vorfahren  zu  geben;  »sie 
mcht  erst  in  der  Völkerwanderung,  zunächst  bei  den  Ostgoten,  auf  und 
reitete  sich  stark  aus;  im  Norden  drang  sie  im  7.  und  8.  Jahrhundert 
urch«4).  In  der  Völuspä  findet  er  diesen  »eigentlich  heidnischen  Un- 
terblichkeitsglauben«  stark  verblaßt,  »während  Seligkeit  und  Gerechtigkeit 
ie  tragenden  Gedanken  sind«5).  —  Ich  suchte  schon  zu  erweisen,  daß 
in  allgemeiner  Glaube  an  die  Wiedergeburt  nicht  bestanden  habe,  sondern 
sdiglich  die  Anschauung,  die  Seele  könne  in  einem  Kinde  wiederkehren ; 
fohl  möglich,  daß  die  Namengebung  dazu  einladen,  gewissermaßen  ein 
iefäß  bereit  stellen  sollte.  Zu  bedenken  ist  doch  aber  erstens  und  vor 
Uem:  daß  aller  Animismus  aller  Völker  gegen  die  Wiederkehr  vielmehr 
ne  tiefe  Abneigung  zeigt;  zweitens:  daß  in  denjenigen  Fällen,  in  denen 
ber  eine  Wiedergeburt  Näheres  berichtet  wird,  die  Seele  sich  selbst  meldet 
nd  Verkörperung  fordert,  als  etwas  Ungewöhnliches,  nicht  als  ein  Recht; 
Httens:  daß  Fälle  wie  die  Angaben  der  Helgilieder  oder  die:  »Thorgils 
/ard  für  den  wiedergeborenen  Kolbein  gehalten«6)  sich  nicht  weit  über 
ie  Metapher  erheben;  viertens:  daß  die  Durchführung  der  Namen  als 
deliges  Vorrecht  (z.  B.  in  Athen)  häufig  ist,  wo  sie  wohl  nur  den  Ruhm 
es  privilegierten  Namens  festhalten  soll  —  wie  in  dem  bekannten  survi- 
wl  dieser  Sitte,  daß  alle  Prinzen  der  vielen  Reußischen  Linien  sich  nur 
ieinrich  nennen  dürfen,  nach  Heinrich  von  Plauen.  Ähnlich  ist  bei 
:en  Schwarzburgern  zur  Erinnerung  an  den  »Kaiser«  der  Name  Günther 


J)  Vgl.  Gunkel,  Deutsche  Lit.-Zeit.  1909  S.  901  f. 
2)  Vgl.  o.  S.  84. 
8)  Golther  S.  96. 

4)  Altnord.  Geistesleben  S.  17. 

5)  S.  101.  6)  Golther  S.  97. 


522  Siebentes  Kapitel. 

beinahe  selbstverständlich.    Allerdings  wird  hier,  wie  auch  bei  den  Reuf 
kein  Todesfall  oder  keine  neue  Generation  abgewartet. 

Mir  scheint  also:   die  Vorstellung,   daß  eine  Seele  sich  noch  einma 
des  Lebens  erfreuen  könne,  ist  uralt  bei  den  Germanen;   und  schon  zu 
Zeit  des  Ariovist  galt  das  als  ein  erstrebenswertes  Glück.     Ein  Mittel,  e 
sich  zu  sichern,  gab  es  nicht;  eine  Neigung,  es  den  Toten  zu  gewährer 
gab   es  erst  recht  nicht.     Es  konnte  begegnen,   wie  die  Himmelfahrt  de 
Elias;   aber   es   war   eine   Gnade.      Wer  sie   spendete?    vielleicht   Hönii 
vielleicht   das  Schicksal.     Darauf   ließ   sich    kein  Glaube  bauen;    der  set2 
Gesetze  voraus  und  Mittel,  das  Erwünschte  zu  erreichen.    So  mußte  denil 
in   der  Tat   die  neue  Lehre  von  der  Fortdauer  die  vom  Oberspringen  ii| 
einen  anderen  Leib  verdrängen.     Hätte  sich  ein  Glauben  an  feste  Seelei 
Wanderung    entwickelt,    so    wäre    sie  so   wenig   durchgedrungen   wie  ii 
Indien. 

Mit  diesen  Anschauungen  etwa  scheinen  die  Norweger,  Dänei 
Schweden  in  die  Zeit  des  Christentums  eingetreten  zu  sein.  Vorbereitungei 
lagen  in  den  christlichen  Einflüssen,  Vorbereitungen  vor  allem  in  de 
ganzen  Richtung  der  Gedanken  und  Gefühle,  gerade  wie  die  Angel 
Sachsen  mit  ihrer  weichen  elegischen  Stimmung  zur  Taufe  prädestinier 
scheinen  —  »Angeli,  nicht  Anglü«,  jauchzte  Papst  Gregor  — ,  währenc 
ihre  Brüder,  die  Sachsen,  noch  durchaus  nicht  zum  Abendmahl  reif  waren 
Starke  Berührungen  mit  der  Kultur  des  christianisierten  Germanentum! 
taten  das  Ihrige:  Karolus  Magnus  ward  das  Ideal  nordischer  Könige1 
und  »die  Annahme  des  Christentums  ist  für  viele  mehr  ein  Anschluß  ai 
das  europäische  Leben  als  der  Ausdruck  einer  religiösen  Regung« 2).  Ol 
dann  weiter  gerade  das  Heroische  des  Christentums  die  Herzen  gewann 
wie  Olrik3)  andeutet,  läßt  sich  bezweifeln.  Klängen  wirklich  die  Liedei 
von  Christus  und  seinem  Siege  diesen  Ohren  wie  ein  Heldenlied,  größel 
als  eines  von  denen,  die  man  kannte4)?  Wieviel  mußte  der  Dichter  de« 
Heliand  dazu  tun,  um  aus  seinen  Aposteln  wirklich  »Degen«  zu  machen j 
Ein  König,  der  sich  geißeln  läßt?  der  einen  im  Sinne  des  Wikingertum« 
unrühmlichen  Tod  stirbt?  Ich  glaube  nicht,  daß  es  diese  Seite  war,  di< 
die  Treuen  Thors  und  die  Gefolgsmänner  Odins  eroberte.  Noch  der 
Bekehrten  gegenüber  pocht  Thor  auf  seine  Macht5),  Odin  auf  seine  Sieges- 
gewalt, Schönheit,  Fertigkeit6).  Viel  eher  konnte  das  in  den  Verheißunger 
des  Evangeliums  bestechen,  was  die  Äsen  nicht  geben  konnten,  was  auch 
in  Hyndlas  schönem  Gebet  an  Odin7)  nicht  steht:  Gerechte  Vergeltung 
und   ein    ewiges  Leben   für  alle.     Ward  ihnen  das  geboten,   so  mochtet 


*)  Olrik  S.  77.  2)  Ebd.  S.  79. 

3)  S.  103 f.  4)  Ebd.  S.  105. 

5)  Golther  S.  258f.  6)  Ebd.  S.  341  f. 

7)  Hyndl.  Str.  2—3;  vgl.  dazu  Gests  Worte  zu  Olaf  Golther  S.  343. 


§  28.    Religionsgeschichte.  523 

e   Bekehrten  Odin    und  Freyja   verachten   wie   Hjallti    mit   Konvertiten- 
er  tat1). 

6.  Eine  letzte  Blüte  war  aber  vor  dem  letzten  Glühen  der  Opferfeuer 
t  nordischen  Religion  beschieden:  auf  Island.  In  dogmatischen  Fragen 
ird  wohl  der  Glaube  der  Isländer  sich  von  dem  der  Norweger  wesent- 
:h  nicht  unterschieden  haben.  Sie  waren  wohl  noch  frömmer,  eifriger 
l  Opfern  —  deshalb  die  Kirchspieleinteilung  der  Godentempel  — ,  der 
auberei  etwas  weniger  ergeben  als  die  Väter  im  Stammland.  Aber  das 
Wesentliche  ist,  daß  bei  ihnen  die  Religion  und  zwar  speziell  der  Thor- 
ilt  eine  eigentlich  politische  Färbung  annimmt.  Seit  die  »Pilger- 
iter«  wie  Thorolf2)  unter  Thors  Schutz  auf  die  Insel  gekommen  waren, 
ird  er  mit  einer  Andacht  und  vor  allem  einer  Bevorzugung  verehrt,  die 
len  Freykult  der  Schweden  weit  hinter  sich  lassen.  Wohl  stehen  in 
5n  Tempeln  auch  Odin  und  Frey;  aber  in  dem  persönlichen  Bekenntnis, 
'er  Namengebung,  wird  die  Anrufung  Thors  auf  Island  fast  zum  »Heno- 
leismus«  im  Sinne  Max  Müllers:  zur  ausschließlichen  Verehrung  des 
inen  Gottes  bei  aller  theoretischen  Anerkennung  anderer  Gottheiten.  Ihm 
ehören  die  Tempel,  die  Ortschaften  und  Berge  —  ihm  die  Kinder.  Selbst 
enn  es  auf  Island  so  viel  Frey-Tempel  wie  Thor-Tempel  gegeben  haben 
>llte 3) ,  wird  das  mehr  als  ausgeglichen  durch  den  Umstand,  daß  ein 
iode  fast  selbstverständlich  Tempel  vorsteh  er  im  Dienste  Thors  war:  die 
rey-Goden  wurden  besonders  bezeichnet4).  —  Man  muß  an  Verhältnisse 
rie  in  unserer  Ostmark  denken,  wo  zu  der  »polnischen  Maria«  gebetet 
ird ,  um  das  Durchdringen  religiösen  und  politischen  Geistes  auf  der 
eien  Insel  ganz  zu  verstehen.  Nur  so  ist  es  auch  möglich  gewesen, 
aß  nach  langer  erregter  Erörterung  der  Thing  im  Jahre  1000  das  Ende 
tr  letzten  altgermanischen  Staatsreligion  als  einen  politischen  Akt  be- 
thließen  konnte:  Island  trat  einfach  unter  das  Patronat  eines  neuen 
ächtigen  Herrn:  statt  Thors  kommt  nun  Christus  at  regindömi,  zur 
Oberherrschaft5).  So  ward  Island  untreu  aus  dem  gleichen  Grund, 
essentwegen  es  so  lange  die  Treue  gehalten  hatte:  »wer  zu  den  Feinden 
iuft  von  euch,  der  hat  mit  zweien  Herren  zugleich  den  Bund  gebrochen!« 

Aber  schon  vor  dem  Ende  des  Asenglaubens  zeigen  sich  Verfall- 
rscheinungen.  Wie  die  Verwilderung  der  althochdeutschen  Stabreim- 
ichtung  die  Endreimpoesie  prophezeit,  so  deuten  auch  auf  religiösem 
iebiet  schlimme  Anzeichen  auf  das  »Verhängnis  der  Götter«.  In  Nor- 
/egen  Sinken    der  Religion  bis  zu  der  finnisch  -  lappischen  vergöttlichten 


!)  Ebd.  S.  439.  2)  Golther  S.  248. 

s)  Vgl.  Thümmel,  PBB.  35,  95. 

4)  Ebd.  S.  97. 

5)  Vol.   Str.   65;    nach   Heinzel-Detter  u.   a.  interpoliert;   wie    wir   mit 
ndern  annehmen,  mit  Str.  60-61  von  dem  christlichen  Sammler  zugesetzt. 


524  Siebentes  Kapitel. 


Hexe  Thorgerd ;  bei  den  Normannen r)  wüste  Menschenopfer  für  The 
mit  Haruspicin;  überall  Entartung  des  Bilderdienstes2).  Umgekehrt  b< 
sonders  auf  Island,  von  der  Verstaatlichung  der  Nationalkirche  begünstig 
Religionsspötterei  und  Freigeisterei,  auf  die  besonders  Weinhold  hir 
gewiesen  hat.  Religionsspötterei  bei  Glum,  der  bei  dem  Gelage  rief :  »Jet- 
wollen  wir  uns  Schutzwesen  kiesen!  ich  wähle  zuerst;  das  sind  mei 
Patrone:  der  erste  ist  mein  Geldbeutel,  der  zweite  mein  Beil,  der  dri 
meine  Speisekammer3)!«  Freigeisterei  wie  bei  dem  edlen  Gisli  Sürsso| 
um  950,  der  in  Traumgesichten  von  der  Walkyre  rein  ethische  Lehrei 
empfängt4).  Dazwischen  Zweifler;  Felix  Dahn  hat  in  seinem  Büchleii 
»Sind  Götter?«  die  Geschichte  des  einen  erneuert. 

All  das  sind  Erscheinungen,  die  bewegten  Zeiten  nicht  fehlen  könner 
Dem  Admiral  Alexanders  des  Großen,  Nearch,  legte  man  ähnliche  Äußerungei 
in  den  Mund  wie  dem  Vigaglum ;  und  Euripides  hat  die  Modelle  zu  den 
Kyklopen,  der  die  Götter  verachtet  und  nur  seinen  Bauch  verehrt,  so  gu 
im  Leben  beobachtet  wie  der  Prediger5)  den  Mann,  der  da  meint:  »Ist 
nun  nicht  besser  dem  Menschen,  daß  er  esse  und  trinke  und  seine  Seel< 
guter  Dinge  sei?«  ...  Solche  Betrachtungen  kommen  mit  psychologischei 
Notwendigkeit,  so  gut  wie  die,  daß  der  Mensch  wie  das  Vieh  stirbt,  die 
auch  ein  altgermanischer  Denkspruch 6)  nicht  aus  dem  Alten  Testament  zi 
entlehnen  brauchte7).  Um  zu  sehen,  daß  der  Himmel  blau  ist,  sagi 
Goethe,  braucht  man  nicht  um  die  Welt  zu  reisen.  —  Und  natürlich 
kann  auch  überall  Bigotterie  in  Götterhaß  umschlagen,  wie  bei  Grimkell 8).  — 

Wir  können  die  altgermanische  Religion  ein  gut  Stück  lang  be- 
obachten. Fast  ein  Jahrtausend  begleiten  Zeugnisse,  mit  langen  langen 
Pausen,  mit  nur  zu  großen  Vieldeutigkeiten,  mit  Widersprüchen  und  Un- 
möglichkeiten reichlich  versehen.  Aber  zum  Skeptizismus  sehe  ich  keinen 
Grund;  und  daß  wir  nichts  wissen  können,  gilt  hier  nicht  mehr  als  überall : 
auch  bei  der  Naturforschung  sind  lange  lange  Strecken  mit  Konjekturen 
und  Interpolationen  der  Forscher  ausgestopft. 

Wir  haben  immerhin  von  der  Religion  der  alten  Germanen  einen 
Zeitraum  zur  Beobachtung,  der  der  bisherigen  Dauer  der  christlich- 
germanischen Weltanschauung  ungefähr  gleicht.  Wir  haben  in  ihm,  so 
manche  Evolution  vermutet,   die  der  inneren  Wahrscheinlichkeit  und  der 


r)  Golther  S.  253.  2)  Vgl.  o.  S.  435. 

3)  Wein  hold,  Altnord.  Leben,  S.  463. 

4)  Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  96. 

5)  Pred.  2,  24. 

6)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  321;  Runenstudien,  PBB.  32,  67 f. 

7)  Pred.  3,  19:  »Denn  es  geht  dem  Menschen  wie  dem  Vieh,  wie  dies  stirbt, 
so  stirbt  er  auch.« 

8)  Golther  S.  557. 


§  29.    Systembildung.  525 

ißeren    Analogie    nicht    entbehrt.     Mancherlei    Wechsel   der   kulturellen, 
Politischen,  sozialen  Verhältnisse  schien  uns  in  religiösen  Änderungen  ab- 
gespiegelt; manche  Bewegung  in  der  Volksseele  glaubten  wir  hier  ablesen 
1  können.     Einflüsse  vieler  Art  sind  zu  bemerken:   von  der  Heldensage 
tid   vom  Christentum;   Entlehnungen   von   den  Finnen  und  den  Kelten; 
Kontaminationen    und  Loslösungen.     Wir   haben   einen  Kosmos   von  Er- 
lernungen   mancherlei  Art,   die   in    den  Beziehungen  des  Menschen  zu 
n   höheren   Mächten   seinen    Mittelpunkt   finden.     Und    »wie   einer   ist, 
ist  sein  Gott«.     Wir   betrachten    die  alte  Mythologie   nicht  mehr  mit 
em  Verstandeshochmut  der  Aufklärer,  die  nur  »Priestertrug«  und  Volks- 
srdummung  sahen,  und  als  deren  Schüler  noch  Goethe,  Voltaires  Jünger 
i    der    Auffassung    der    Menschengeschichte    überhaupt,    in    der   ganzen 
irch engeschichte  nichts  sah  als  »Mischmasch  von  Unsinn  und  Gewalt«, 
/ir  glauben   auch   nicht  mit  den  Romantikern,   mit  Creuzer  und  Kanne 
hd    ihrem    sonderbaren    rationalistisch -romantischen    Nachfahr  Wilhelm 
>rdan  an  die  tiefe  geheimnisvolle  Weisheit  aller  Mythen,  die  Roms  be- 
ußte   Schändlichkeit    verdunkelt    habe.     Aber    wir    sehen    hier    das   Er- 
reifendste,  was  die  Menschengeschichte  zeigt:  ein  großes  Volk  in  seiner 
eheimen  Not,  seinem  geheimen  Hoffen  und  seiner  geheimen  Liebe. 

§  29.    Systernbildung. 

Neben  dieser  naiven  volkstümlichen  oder  von  den  Zeitverhältnissen 
ewirkten  Entwicklung  geht  nun  eine  »gelehrte«,  verstandesmäßige  einher  — 
ie  »Theologie«  im  Sinne  von  Noreens  Dreiteilung  (in  Mythologie,  Religion 
nd  Theologie).  Sie  geht  von  den  Priestern  aus  und  bleibt  wohl  vorzugs- 
eise  in  ihren  Händen,  solange  die  Religion  selbst  noch  in  lebendiger 
Wirksamkeit  ist;  doch  nehmen  auch  die  Dichter  teil,  und  in  beschränktem 
laße  vielleicht  auch  andere  Laien.  Nach  dem  Absterben  der  germanischen 
digion  erreicht  die  Systembildung  erst  ihre  volle  Höhe  durch  die  philo- 
^ische  Arbeit  von  Gelehrten  wie  vor  allem  Snorri. 

Die  Hauptmittel  der  Systembildung  sind :  die  Genealogie, 
ie  Zählung,  die  Klassifikation.  Schließlich  wird  dies  alles 
iertens  in  einer  theologischen  Kodifikation  zusammengefaßt.  Ansätze 
nd  sehr  früh  vorhanden.  Genealogische  Verbindung  von  Göttern,  die 
icht  ihrem  Wesen  nach  verwandt  zu  sein  brauchen  (wie  dies  bei  den 
>ioskuren,  oder  bei  den  Geschwistern  Sonne  und  Mond  der  Fall  ist) 
3wie  Zählung  (freilich  in  den  bescheidenen  Grenzen  der  Dreiheit)  treffen 
'ir  schon  bei  Tacitus.  Die  Unterscheidung  von  dei  und  semidei  setzt 
ordanes  für  die  alten  Goten  voraus,  allerdings  vielleicht  mit  Unrecht, 
'enn  nicht  wirklich  die  Benennung  »Äsen«  von  Odins  halbgöttlichem 
iefolge  auf  seine  gesamte  Umgebung  übergegangen  ist;  das  wäre  also 
:hon  Klassifikation.     Und  Namen  häuf  un  gen  wie  im  Merseburger  Spruch 


526  Siebentes  Kapitel. 

weisen  früh  wenigstens  auf  den  Weg  der  Sammlertätigkeit,  der  zur  Kodi 
kation  führt. 

Indessen    ist  der   eigentliche  Betrieb   erst  auf  nordischem  Boden 
erweisen,  von  gewissen,  praktischen  Rücksichten  entsprungenen  Versuch 
in  christlichen  Abschwörungsformeln  und  Missionsanweisungen  abgeseht 
Die  Theologie  setzt   einen    festen    Priesterstand    wohl    mit  Notwendigk 
voraus,  außerdem  aber  eine  gewisse  Reife  der  mythologischen  Entwicklur|i 
Ehe   die  Götterverehrung  erreicht  ist ,   kommt  sie  wohl  niemals  zustanc  i 
Aber  auch    das   scheint   nicht    zu   genügen ;    vielmehr   ist   wohl   erst   e  i 
Gegensatz  von  Religionsparteien,  wie  wir  sie  freilich  auch  schon  in  Deutsc 
land   (Wodan    contra    Tiu)    treffen ,    der    rechte    Nährboden    solcher   B  t 
strebungen.     Die  Priester   interessieren  sich  für  Herkunft  und  Umgebui 
ihrer  Götter,  suchen   ihnen   genealogische  Vorrechte,   bestimmte  Gefol jd 
schaft,  eine  höhere  Stellung  zu  sichern.    Die  Nebenbuhlerschaft  weckt  d«* 
Ehrgeiz,  was  auch  schon  beim  Merseburger  Spruch  (Wodan  als  alleinig 
Heilgott)  mitsprechen  konnte. 

Ferner  wirken  die  übrigen  literarischen  Gattungen  ein.  Die  Genealog 
bietet  von  jeher  der  Heldensage  die  nötigen  Scharniere,  um  verschiedei 
Sagen  zu  verbinden;  auch  hier  wird  die  innerlich  geforderte  Verwanc 
schaft  (Hildebrand  und  Hadubrand)  durch  die  künstliche  (Helgiliede 
weit  überboten.  —  Die  Zählung  ist  ein  uraltes  Hilfsmittel  der  G  n  o  m  i  1 
sie  sammelt  die  drei  besten  oder  schlimmsten  Dinge  usw.  Dazu  komr 
aus  dem  religiösen  Ritus  selbst  der  Gebrauch  der  heiligen  Zahlen.  D 
Klassifikation  hat  endlich  ihre  stärkste  Wurzel  im  praktischen  Leben, 
der  Erfahrung  von  den  verschiedenen  Wirkungen  und  Kräften  der  Dämonei 
auch  die  Anfänge  aller  Wissenschaft  (z.  B.  in  der  Unterscheidung  d 
Heilpflanzen)  liegt  hier;  vor  allem  aber  ist  die  immer  strenger  durc 
geführte  soziale  Gliederung1)  Vorbild. 

Die  theologischen  Bestrebungen  greifen  naturgemäß  auch  in  die  volk 
tümliche  Anschauung  über.  Vor  allem  Genealogie  und  Zählung  sinj 
auch  dem  Laien  erwünschte  Ordner.  Wie  die  Völuspä  die  Götterfeinc 
in  drei  Heere  aufteilt  und  die  Schlacht  in  Zweikämpfe  auflöst,  so  h; 
schon  die  Volkssage  aus  Loki  und  Heimdall  ein  eng  verbundenes  Feinde 
paar  gemacht;  wie  die  Grimnismäl  die  Heime,  die  Alvissmäl  die  Welten  auj 
teilen,  so  wird  die  Wendung  von  den  »neun  Welten«  (ohne  bestimml 
Unterlage)  schon  volkstümlich  gewesen  sein2).  Aber  von  hier  ist  doc 
noch  weit  bis  zu  dem  »Abriß  der  altnordischen  Götterlehre  in  dialogische 
Form«3),  der  in  das  Märchen  von  Gylfis  Verblendung  gehüllt  ist,  od< 
zu  den  Noctes  Atticae  der  Bragaroedur!  — 


!)  Vgl.  Heusler,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  171. 

2)  Völ.  Str.  2-,  Vaf.  Str.  49;  vgl.  Golther  S.  519. 

3)  Gering  S.  16. 


§  29.    Systembildung.  527 

Wir  betrachten  zuerst  die  Genealogie.  Die  Annahme  von  Ver- 
wandtschaften (wozu  wir  hier  auch  die  Verschwägerungen  nehmen)  bildet 
in  uraltes  Mittel  zur  Verbindung  und  Ordnung  der  Götter;  ich  erinnere 
tur  an  Hesiod  x).  Wie  nahe  sie  liegt,  beweisen  die  zahlreichen  über  Kreuz 
tnd  Quer  ohne  festes  Ergebnis  gehenden  Götterverwandtschaften  im  Veda 2). 
Vuch  die  hellenische  Mythologie  hat  es  zu  einer  völligen  Entwirrung  der 
göttlichen  Verwandtsverhältnisse  nicht  gebracht:  Enyo  z.  B.  steht  zu  Ares 
n  allen  überhaupt  möglichen  Verwandtschaftsbeziehungen  3).  —  Innerhalb 
ler  nordischen  Mythologie  steht  besonders  Thor  in  unklaren  Verhältnissen 
mit  seinem  unwahrscheinlichen  Vater  Odin,  zwei  Frauen,  verschiedenen 
(indem. 

Zu  unterscheiden  sind  mythologische  Verwandtschaften,  d.  h.  solche, 
iie  im  Mythus  selbst  begründet  sind,  und  theologische,  d.  h.  konstruierte 
r>der   erfundene. 

Als  ursprüngliche  mythologische  Verwandtschaftsverhältnisse 
werden  wir  ansehen  können:  Erstens  im  Mythus  enthaltene  Verwandt- 
schaften: die  Abstammung  der  drei  Stammväter  Ing,  Isto,  Irmin  (sie 
Dedingt  schon  bei  Tacitus  einen  bestimmten  in  verschiedenen  Lesarten 
/orliegenden  Stammbaum,  der  übrigens  nirgends  die  Mütter  nennt);  das 
3rüderpaar  der  Alces.  Zweitens  vom  Mythus  umgeschaffene:  vielleicht  ist 
rst  durch  mythische  Fortbildung  mythischer  Gestalten  das  Geschwister- 
oaar  Njord-Nerthus  (das  ja  nie  innerhalb  derselben  Epoche  begegnet)  ent- 
standen —  durch  Auflösung  eines  einheitlichen  Prinzips  wie  vielleicht  bei 
Apollo  und  Artemis.  Ferner  bringt  die  Fortdichtung  der  Baidersage  Hod 
und  Wali  als  seinen  Mörder  und  seinen  Bruder  in  notwendige  Beziehungen 
zu  ihm;  ebenso  wird  Odin  sein  Vater,  Frigg  seine  Mutter.  Drittens  vom 
Mythus  nachträglich  geschaffene  Verwandtschaften:  Frigg  wird  Odins 
jattin;  Frey  erhält  eine  Schwester  Freyja;  Njord  und  Skadi  werden  ver- 
biählt.  Späterhin:  die  »Teufelsbrut«  Lokis.  —  Endlich  ist  an  die  mystischen 
'Verwandtschaftsverhältnisse  der  Rfgsthula  zu  erinnern. 

Theologische  Verwandtschaften  sind  schon  früh  entstanden. 
'■Mit  Odins  Prinzipat  verbindet  sich  die  Vorstellung,  er  sei  Vater  der 
Götter  —  was  gerade  wie  bei  Zeus  zu  schwierigen  Komplikationen  führt. 
Wir  können  nicht  sehen,   daß  diese  Vaterschaft,    außer  bei  Balder,  irgend 


x)  Vgl.  Preller  1,  14 f.  Sie  fiel  als  mythologische  Eigenheit  schon  den 
alten  Bekehrern  auf:  Daniel  von  Winchester  an  Winfried  bei  Schnürer,  Bonifacius, 
IMainz  1909,  S.  41. 

2)  Ein  halb  Dutzend  von  Vaterschaften  kann  Agni  aufweisen  (Macdon eil 
iS.  91;  Soma  ist  Indras  Vater  oder  Bruder  (ebd.  S.  57)  usw.  Übrigens  wird 
einmal  von  den  Söhnen  von  Indras  Bruder  ebenso  undeutlich  geredet  wie  Vol. 
iStr.  63  von  den  Söhnen  der  Brüder  Tveggis:  Macdon  eil  a.  a.  O. 

3)  Preller  1,  338  Anm.  2. 


528  Siebentes  Kapitel. 

mythologisch   zur  Geltung   käme.     Auch   wird  Frigg   keineswegs   als  al 
gemeine  Göttermutter  aufgefaßt. 

Rein  theologisch  erscheint  die  ganze  Sippe  des  durchaus  junggeseller 
mäßig  auftretenden  Thor,  ausgenommen  vielleicht  seinen  Sohn  und  Rächer  (1 
Magni J) ;  denn  die  Vorstellung  mit  dem  großen  Wappen 2)  ist  ironisc 
gemeint.  So  ergibt  sich  denn  auch  hier  die  Verwicklung,  daß  Thor 
Mutter  Jord  auch  Odins  Tochter  sein  soll3),  so  daß  er  gut  ödipodeisc 
seines  Feindes  Sohn  und  Enkel  zugleich  wäre.  —  Oder  Frey  wird 4)  zun 
Sohn  des  Njord. 

Ganz  auf  Erschließung  und  Phantasie  sind  Snorris  Genealogien  gebaut 
Uli  Stiefsohn  des  Thor5);  Forseti,  der  gar  nicht  zu  den  Äsen  gehö 
Sohn  des  Balder  und  der  Nanna6);  die  Stammbäume  des  Loki7),  b 
denen  die  Kontamination  (»außerdem  hatte  Loki  noch  andere  Kinder«)  kla 
zutage  liegt  usw. 

Bei  Saxo  treffen  wir  wieder  andere  Verwandtschaften,  was  unte 
diesen  Umständen  nicht  Wunder  nehmen  kann;  die  Verwandtscha 
zwischen  Balder  und  Hother  ist  aufgehoben  usw.  —  Jung  scheinen  auc 
Gestalten,  die  erst  spät  in  den  Götterkreis  eingehen,  genealogisch  an 
geschlossen  zu  sein:  Ran  an  Ägir,  Idun  an  Bragi.  —  Isoliert  bleibe 
besonders  Tyr  und  Heimdali,  der  aber  wenigstens  neun  Mütter  hat;  di 
alte  Einsamkeit  der  Götter  hat  nur  der  älteste  von  ihnen  gewahrt,  Tyr.  Den 
Hymir  als  Vater  und  die  anonyme  Riesin  als  Mutter  sind  gewiß  erst  spät 
Erfindungen8);  die  Hym.  wollte  den  anderen  göttlichen  Drachenbekämpfei 
dem  Thor  gesellen  und  mußte  das  motivieren. 

Über  die  rein  fabulosen  Brüder  Odins  (Wili  und  We)  ist  oben  ge- 
sprochen9); Hönir  und  Loki  werden  seine  Blutsbrüder,  noch  ehe  die 
theologische  Ehestifterei  in  Schwung  kam.  —  Die  »Schwestern«  des 
Zweiten  Merseburger  Spruchs  sind  vielleicht  nur  metaphorisch  zu  ver- 
stehen ;  jedenfalls  liegt  hier  gar  kein  Akzent  auf  der  Verwandtschaft 10).  — 

Auch  bei  der  Zählung11)  haben  wir  primäre  und  sekundäre  Zählung 
wohl  zu  unterscheiden.  Die  mythologische  Zählung  ist  von 
doppelter    Art:    seltener    durch    Aufteilung    eines    einheitlichen    Begriffs, 


*)  Skäldsk.  cap.  1:  Gering  S.  360. 

2)  Härb.  Str.  9.  3)  Golther  S.  355. 

4)  Mogk  S.  320. 

5)  Gylf.  cap.  31:  Gering  S.  321. 

6)  Ebd.  cap.  32.  7)  cap.  33:  S.  323. 
8)  Hym.  Str.  5.  8.  9)  Vgl.  o.  S.  272. 

10)  Zu  einer  wahren  Wissenschaft  hat  sich  die  Genealogie  bei  den  Priester- 
schaften der  alten  jüdischen  Tempel  entwickelt  (vgl.  Holzinger,  Genesis,  S.  269 
nach  Stade). 

n)  Über  die  Zählung  als  allgemeines  ordnendes  Hilfsmittel  vgl.  o.  S.  19, 
über  die  Dreiheit  und  Zweiheit  insbesondere  Olrik,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  52,  4f.  5 f. 


§  29.    Systembildung.  529 

äufiger    durch    Gruppierung    ursprünglich    selbständiger    Einheiten    ent- 
tanden. 

Die  Aufteilung  ist  wohl  selten  ganz  primitiv.  Doch  ist  die  Auf- 
*ilung  der  Menschenschöpfung  in  das  Verleihen  von  Atem,  Seele,  Lebens- 
yärme x)  so  alt,  daß  vielleicht  von  hier  die  Dreiheit  Odin — Hönir — Lodur 
bzuleiten  ist2).  Eine  analoge  Aufteilung  liegt  in  der  Dreiheit  der  Nornen 
or,  die  aber  nicht  alt  ist.  Dagegen  ist  uralt  und  schon  ererbt  die  Drei- 
ieit  Himmel — Erde — Unterwelt,  die  aber  nirgends  betont  wird. 

Die  Gruppierung  ist  äußerst  beliebt,  primitiv  jedoch  nur  bei  der 
'w  ei  zahl3)  und  bei  der  Drei  zahl4).  Die  Drei5)  wird  ursprünglich 
ls  »vollkommene  und  jede  Überbietung  ausschließende  Vielheit«  gefaßt, 
n  diesem  Sinne  ist  sie  für  die  Weiterbildung  der  früheren  Religionsstufen 
richtig:  wir  sahen,  wie  häufig  für  eine  unbegrenzte  Zahl  von  Geistern 
►der  Dämonen  symbolisch  die  Dreizahl  eintritt  —  gleichsam  ein  zahlen- 
mäßiger Beleg  für  die  Annäherung  der  primitiven  Formlosigkeit  an  die 
reifbare  Gestaltung  reiferer  Perioden.  Wir  treffen  sie  aber  auch  auf 
Höherer  Stufe,  mit  verschiedenem  Ursprung.  Manchmal  ist  sie  aus  ein- 
■acher  Addition  tatsächlich  nebeneinander  bestehender  Einheiten  entstanden, 
ivie  bei  den  Amphiktyonien  (oder  griechisch  den  drei  Hören).  Oft  scheint 
:ie  das  Ergebnis  eines  Kompromisses  (wie  die  Zweizahl,  s.  u.),  so  bei 
ilen  drei  großen  Opfergöttern  Odin,  Thor,  Frey.  Oder  sie  ist  im  Sinne 
ler  »Andachtsgruppe«  gemeint:  zwei  kleinere  Figuren  zu  beiden  Seiten 
ler  Hauptfigur 6),  wie  bei  Moses  zwischen  Aaron  und  Hur  oder  christlichen 
Sante  Conversasioni ;  so  im  Kult:  Thor  zwischen  Odin  und  Frey7), 
)der  zwischen  Thorgerd  und  Irpa8);  Mars  Thingsus  zwischen  den 
Maisiagen.  —  Etwas  seltener  als  die  Dreizahl  ist  die  Zweizahl.  Durch 
Aufteilung  scheint  sie  bei  der  Spaltung  Ymirs  gewonnen  zu  sein9).  Sie 
Rentiert  sich  an  dem  Dual  der  menschlichen  Gliedmaßen10),   die  durch 


J)  Vol.  Str.  18. 

2)  Prell  er  (1,  48)  bezeichnet  ein  solches  Zerlegen  als  »ein  sehr  gewonn- 
enes Gesetz  der  griechischen  Mythendichtung« ;  so  seien  die  verschiedenen  Akte 
ies  Gewitters,  das  Leuchten,  der  Schall  und  das  Einschlagen,  auf  die  drei  Glieder 
ler  Kyklopen-  und  Hekatoncheiren-Gruppe  verteilt.  Vgl.  z.  B.  buddhistisch 
>Himmel— Erde— Mensch«  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  534. 

3)  Usener,  Zwillingsbildung,  Strena  Helbigiana  S.  315:  Dioskuren  usw.; 
Dlrik  S.  5  u.  6. 

4)  Usener,  Dreiheit,  Bonn  1903  und  Rheinisches  Museum  N.  F.  LVIII.; 
Dlrik  S.  4. 

5)  Usener  S.  358. 

6)  Dibelius,  Die  Lade  Jahves,  S.  84.  110. 

7)  Siehe  o.  S.  289. 

8)  Vgl.  Golther  S.  210. 

9)  Vgl.  Janus:  Usener  S.  321. 
10)  Vgl.  Hamd.  Str.  15—16. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  &* 


530  Siebentes  Kapitel. 

die  häufige  mythologische  Zerstörung  (Odin  einäugig,  Tyr  einhändig)  nui 
noch  stärker  betont  wird.  —  Hierher  gehören  wohl  auch  die  Alces  mit 
ihrem  Götterdual. 

Die  Addition  ist  oft  durch  Kompromiß  gewonnen :  Thor  und  Odin x) 
Odin  und  Thor2),  Frey  und  Njord8),  Frigg  und  Thor4).  Einen  be- 
sonders deutlichen  Kompromißcharakter  trägt  die  Zweiheit  Thor -Odin. 
Hallfred  spielt  in  seinen  Dichtungen  nach  der  Taufe  (996)  auf  seinen 
früheren  Odinskult  an;  als  man  aber  Verdacht  auf  sein  Heidentum  hegt, 
findet  man  bei  ihm  ein  Thorsbild.  Ebenso  spricht  Kjartan  von  Thor 
und  Odin ;  und  ebenso  hatte  Hallfred  selbst  schon  früher  beide  als  Haupt 
gottheiten  von  Island  genannt5). 

Aber  selbst  Häkon  verehrt  neben  der  Thorgerd  noch  Thor  und 
Odin 6)),  was  Finnur  Jönsson 7)  sogar  geneigt  ist,  für  Norwegen  und  Island 
allgemein  anzunehmen,  schwerlich  mit  Recht:  Thors  häufigere  Nennung 
sei  nur  im  Stoff  der  Erzählungen  begründet8).  —  Ganz  ebenso  glaubt 
Helgi  der  Magere  an  Thor  und  Christus9).  Es  können  aber  auch  zum 
Teil  Aufteilungen  sein:  die  Gottheiten  der  männlichen  und  weiblichen 
Arbeit,  des  Nah-  und  Fernkampfes  usw. 

Höhere  Zahlen  scheinen  unursprünglich,  oder  nur  heilige  Zahlen 
ohne  abgezählten  Inhalt  (wie  die  neun  Welten).  Als  besonders  altertümlich 
erscheint  Gruppierung  ohne  Zählung,  wie  bei  den  drei  Scharen  der  Idisi 
im  ersten  Merseburger  Spruch.  — 

Die  theologische  Zählung  ist  in  beständigem  Fortschritt  be- 
griffen. Die  Zw  ei  zahl  ist  nicht  sehr  beliebt,  kommt  aber  durch  die 
Wirkungen  der  Alliteration  doch  wohl  zustande:  Wali  und  Widar,  Modi 
und  Magni;  oft  kleine  Sondergruppen,  reimend  und  alliterierend,  in  den 
Namenlisten.  Die  Drei  zahl  ist  Lieblingszahl10):  drei  Riesentöchter11)! 
dreimalige  Verbrennung 12),  drei  Welten  unter  Yggdrasils  Wurzeln ;  schließ- 
lich gar  die  ganz  junge,  der  Dreieinigkeit  nachgebildete  Dreiheit  Hdr„ 
Jafnhär,  Thridi,  »der  Hohe«,   »der  Gleich-Hohe«,  »der  Dritte« 13).  — 

x)  Vgl.  Golther  S.  212;  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  100. 
a)  Hyndl.  Str.  41. 

3)  Golther  S.  321,  Mogk  S.  323. 

4)  Mogk  S.  371. 

B)  Vgl.  Craigie  S.  19. 

6)  Finnur  Jönsson,  Ark.  f.  nord.  Fil.  13,  244. 

7)  a.  a.  O.  S.  2191,  vgl.  bes.  S.  246. 

8)  S.  235. 

9)  Ebd.  S.  69;   vgl.  dazu  Heusler,  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1902  S.  237. 
10)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie,  S.  83. 

")  Vol.  Str.  8. 

12)  Str.  21. 

13)  Gylf.;  Gering  S.  299,  Golther  S.  355. 


§  29.    Systembildung.  53 1 

Die  heilige  Zahl  Neun1)  ist  ursprünglich  nur  eine  Potenzierung  der 
Dreizahl,  wo  sie  nicht  aus  Nachahmung  stammt  (die  neun  Nächte  Odins 
den  neun  Monaten  der  Schwangerschaft  entsprechend):  so  bei  den  neun 
Welten ;  bei  dem  Ring  Skirnirs,  der  jede  neunte  Nacht  acht  neue  gebiert, 
vereinigen  sich  beide  Momente.  —  Später  versucht  man  auch  diese  sym- 
bolische Zahl  zu  einer  » ikonischen  <  ,  Wirklichkeitsnachbildenden  zu 
machen  und  zählt  die  Namen  von  Heimdalls  neun  Müttern  auf. 

Den  Gipfel    der  theologischen  Zählung  bildet  die  Zwölfzahl  der 

Äsen,  vielleicht   erst   bei  Snorri2),   dessen  eigene  Listen  aber  14  Götter 

und  18  Göttinnen   aufweisen3).     Das  antike  Muster  steht  hier  völlig  fest. 

Die  Grimnismäl  haben4)  wirklich  12  Götter,  9  männliche,  3  weibliche  — 

taber  Tyr  fehlt5).     Ebenso   erwähnten   die  Hyndl. 6)   die  Zwölfzahl:   nach 

I  Balders  Tod  sind  nur  1 1  Götter  da ;  aber  selbst  wenn  man  die  kurze  Vol. 

jnicht   mit   Finnur  Jönsson7)   nach    1150  ansetzt,   kann    dies   von   keiner 

I  mythologischen  Konsequenz   begleitete  Addieren    der  verschiedenartigsten 

1  Größen  nicht  alt  sein8). 

Höhere  bestimmte  Zahlen  sind  wohl  nur  durch  gelehrte  Rechnung 
zustande  gekommen:  in  den  Eddaliedern  in  dem  Panegyrikus  auf  Odin 
540  Tore  in  Walhöll9);  800  Einherier10)  —  etwas  viel  Tore  für  etwas 
wenig  Krieger!  sogar  das  berühmte  ägyptische  Theben  wird  nur  »hundert- 
torig«  genannt.  Vielleicht  ist  die  40  alt,  da  4  doch  immerhin  eine  alt- 
germanische Zahl  ist11);  dann  würden  durch  jedes  Tor  20  Recken  reiten  — ■ 
aber  auch  20  ist  keine  alte  Zahl,  500  erst  recht  nicht.  —  100  treffen  wir 
zum  Ausmessen  des  Feldes  Wigrid12).  —  Auch  die  144  Pfeile  auf  Ubbo13) 
sind  wohl  willkürlich. 

Altertümlich  ist  es,  daß  die  Bußen  (z.  B.  für  Otrs  Tötung  in  den  Reg.) 
niemals  mit  Zahlenwerten  angegeben  werden,  sondern  ganz  primitiv  durch 


*)  K.  Wein  hold,  D.  mythische  Neunzahl  b.  d.  Deutschen,  Berl.  Sitzungs- 
berichte 1897. 

2)  Mogk  S.  313. 

3)  Meyer  S.  291.  4)  Ebd. 
B)  Vgl.  o.  S.  461.           6)  Str.  30. 

7)  Und  Golther  S.  199. 

8)  Nachleben  in  der  Heldensage?  Vgl.  Detter-Heinzel,  PBB.  18,  544. 
In  der  indischen  Religion  kommt  man  auf  33  Götter  (Macdon eil  S.  19)  und 

i  sogar  auf  27  oder  6333  Gandharven  (Macdonell  S.  136). 

9)  Str.  23;  ebenso  viel  in  Bilskirnir,  fügt  ein  Thorverehrer  eifrig  hinzu. 
10)  Ebd. 

u)  Meine  Altgerm.  Poesie  S.  77;  vgl.  allgemein  W.  H.  Röscher,  Die 
Tessarakontaden  u.  Tessarakontadenlehre  d.  Griechen  u.  and.  Völker,  Leipzig 
1909.  Sehr  lehrreich  aus  neuerer  Entwicklung  E.  Mackel,  Über  den  bildlichen 
Gebrauch  von  quatre,  Arch.  f.  n.  Spr.  123,  145  f. 

12)  Siehe  o.  S.  473. 

18)  Saxo  S.  263,  Herr  mann  S.  352. 

34* 


532  Siebentes  Kapitel. 

Aufwiegen,  Bedecken,  Umhüllen  gegebener  Gegenstände1);  so  bei  And- 
vari 2)  oder  bei  Handwans  Lösung 3).  — 

Eine  gewisse  Klassifikation  ist  ohne  weiteres  durch  die  Sprache 
gegeben:  sie  unterscheidet  belebte  Wesen  von  unbelebten  (Neutris)  und 
wieder  die  belebten  in  männliche  und  weibliche;  sie  schafft  Benennungen 
für  jede  Klasse  von  Wesen:  Menschen,  Riesen,  Zwerge,  Elfen,  Götter. 
Es  ist  aber  zu  bemerken,  daß  eine  allgemeine  Benennung  für  alle  über- 
menschlichen Wesen  (»Dämonen«)  nicht  erreicht  worden  ist.  Stell- 
vertretend kann  dafür  der  Ausdruck  »Götter«  gebraucht  werden4). 

Eine  ethisch  begründete  Scheidung  zwischen  guten  und  bösen  Wesen 
existiert  nicht  (auch  die  von  Licht-  und  Dunkelelfen  scheint  nicht  von 
vornherein  ethisch) ;  ein  gemeinsamer  Begriff  für  die  Götterfeinde  existiert 
ebensowenig5).  Stellvertretend  wird  von  Riesen  und  Riesinnen  gesprochen 
(z.  B.  bei  den  Unholdinnen,  die  Thor  bekämpft),  was  deshalb  nicht  immer 
wirklich  verstanden  zu  werden  braucht:  eine  »Riesin«  wie  die,  die  sich 
auf  der  Hadesfahrt  Brynhilds  aufrichtet,  oder  die  »Riesin«  Thökk6)  braucht 
nur  ein  »unheimliches  Wesen«  zu  sein. 

Die  genauere  Einteilung  in  die  verschiedenen  Kategorien  dämonischer 
Wesen  lebt  zwar  in  der  Vorstellung  (doch  nicht  ohne  Vermischung  be- 
sonders von  Zwergen  und  Elfen,  Äsen  und  Wanen),  wird  aber  nirgends 
streng  durchgeführt.  Gelegentlich  finden  sich  aber  einzelne  Begriffe  auf 
die  Welten  verteilt:  Nornen  für  die  Äsen  —  Elfen  —  Zwerge7);  Runen 
für  die  Äsen  —  Elfen  —  Zwerge  —  Riesen  —  (Menschen  ?) 8)  —  beides 
jüngere  Stellen.  Ferner  in  einem  alten  Lied9)  die  Frage,  ob  ein  Bote 
zu  Elfen  —  Äsen  —  Wanen  gehöre10).  —  Eine  systematische  Ausbeutung 


')  Vgl.  z.  B.  J.  Grimm,  Rechtsaltertümer,  4.  Aufl.  2,  236 f. 

2)  Reg.  nach  Str.  5. 

3)  Saxo  S.  23,  Hermann  S.  30. 

4)  So  auch  in  lateinischer  Wiedergabe:  fas  est  belligerum  hello  prosternere 
divum;  Saxo  66,  23:  im  Kriege  darf  man  auch  einen  kämpfenden  Gott  nieder- 
werfen —  die  entgegengesetzte  Anschauung  wie  bei  Theognis ;  vgl.  meine 
Altgerm.  Poesie  S.  457.  —  Diese  einfache  Einteilung  in  Götter  und  Menschen  ist 
uralt.  So  scheidet  man  bei  den  Hebräern  früh  die  Wohnsitze  von  Göttern  und 
Menschen  (Boehmer,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  307).  —  Vedische  Ansätze 
zur  Klassifikation  der  Götter  bei  Macdon  eil  S.  19. 

5)  Dafür  Teilbegriffe  wie  die   »Leute  der  Hei«  Völ.  Str.  51. 
ö)  Loki;  Gylf.  cap.  49:  Gering  S.  346. 

7)  Fäf.  Str.  13;  vgl.  Mogk  S.  284. 

8)  Häv.  Str.  142. 

9)  Skirn.  Str.  17. 

10)  Vgl.  u.  Häufig  sind  nachdruckslose  Formeln  wie  »Äsen  und  Elfen« 
(Skirn.  Str.  7;  meine  Altgerm.  Poesie  S.  253).  Nachklänge  dazu  noch  spät  in 
christlich-altenglischer  Dichtung  im  Wade-Fragment  (Brandl  S.  1085). 


§  29.    Systembildung.  533 

der  kosmologischen  Klassifikation  versucht  erst  der  Dichter  der  Al- 
vissmäl 1). 

Eine  Klassifikation  anderer  Art  besitzen  wir  in  dem  Denkvers  über 
die  »besten  Dinge«  in  der  Götterwelt2).  Nach  dem  Muster  der  Gnomen 
über  die  gefährlichen  Dinge3)  werden  hier  ein  paar  Kimelien  heraus- 
geholt, Götter,  Werkzeuge  und  Tiere  in  buntem  Gewühl.  Daß  übrigens 
Bifröst  die  beste  der  Brücken  sei,  ist  sogar  dem  Gangleri4)  zweifelhaft 
geblieben. 

Eine  gewisse  Störung  der  Klassifikation  tritt  dadurch  ein,  daß  Personen 
aus  einer  Welt  in  die  andere  übergehen.  Zwischen  Äsen  und  Wanen 
(wo  Geiseln  getauscht  werden)  ist  ja  überhaupt  keine  so  scharfe  Scheidung. 
Aber  auch  zwischen  Göttern  und  Riesen  besteht  commercium  und  con- 
nubium:  Gerd5)  ist  eine  Riesin,  wogegen  allerdings  auch  öfters6)  Miß- 
heiraten zwischen  Göttern  und  Riesen  oder  Zwergen  abgelehnt  werden. 
Riesentöchter  sollen  die  Nornen  (?)  sein ,  die 7)  zu  den  Äsen  kommen ; 
Mimir,  Odins  Beirat,  ist  kein  Gott.  —  Halbgöttliche  Wesen  wie  die  Wal- 
küren, Freys  Diener  Byggvir  und  Beyla,  Ägirs  Diener  Eldir  und  Fimafeng^ 
Thors  Begleiter  Thjälfi  treffen  wir  durch  alle  Perioden  hindurch.  Auf- 
fallend ist  aber,  daß  Freys  Diener  Skfrnir,  als  ihn  Odin  ausschickt  (der 
wohl  seinen  eigenen  Boten  haben  könnte),  ein  »Mann«  heißt8).  Heinzel- 
Detter  halten  ihn  auch  wirklich9)  für  einen  mennskr  madr ,  einen 
richtigen  Menschen10).  Sie  weisen  auf  Str.  18,  wo  Skirnir  erklärt,  er  sei 
weder  Elfe  noch  Asensohn  noch  Wane  —  aber  deshalb  kann  er  doch  zu 
den  Äsen  gehören,  nur  eben  als  ihr  Gefolgsmann,  wie  die  Walküren 
keine  Asentöchter  sind11).  Allerdings  wendet  Skirnir12)  den  Schicksals- 
spruch auf  sich  an :  auf  Einen  Tag  sei  sein  Leben  bemessen  13) ;  aber  auch 
göttliche  Wesen  können  sterben  14),  Balder  selbst,  und  durch  Ragnarok  (das 
wohl   aber  zur  Zeit   dieses  Gedichts  noch  eine  schwankende  Vorstellung 


x)  Über  seine  Gruppierung  vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  469;  über  die 
allgemeineren  Grundlagen  solcher  Einteilungen  ebd.  S.  43.  Daß  wirklich  nur 
eine  systematisch  geordnete  »Synonymenlektion«  vorliegt,  zeigt  (gegen  Schütte, 
Indogerm.  Forschungen  17,  444f.)  Helm,  PBB.  32,  103f.  117. 

2)  Grim.  Str.  44,  auf  »der  Schiffe  bestes«  (Str.  43)  aufgepackt. 

3)  Häv.  Str.  80.  84  f.  89. 

4)  Gylf.  cap.  13:  Gering  S.  307. 
B)  Skirn.  6)  Thrymskv.,  Alv. 

7)  Vol.  Str.  8. 

8)  Gylf.  cap.  34:  Gering  S.  324. 

9)  2,  199. 

10)  Wie  übrigens  auch  Byggvir  und  Beyla  Lok.  Str.  42  f. 
n)  Vgl.  über  die  halbgöttliche  Gefolgschaft  der  Götter  o.  §  15  S.  153f. 

12)  Str.  13. 

13)  Vgl.  Heinzel-Detter  S.  197. 

14)  Gullveig:  Vol.  21. 


534  Siebentes  Kapitel. 

war)  wäre  ja  allen  Göttern  des  Lebens  Ende  bestimmt.  Doch  Skirnin 
führt  sich  wohl  einfach  mit  einem  geläufigen  Sprichwort  ein,  gerade  wiej 
Odin  bei  Vafthrüdnir *).  —  Endlich  weisen  Heinzel  und  Detter  selbst2)) 
darauf  hin,  daß  von  der  Riesin  Gerd  wie  von  einem  Menschenkind  ge-j 
sprochen  wird3).  Mir  scheint  denn  auch  jene  Annahme  unmöglich. 
Ein  Mensch  als  Jugendfreund  eines  Gottes4)  —  das  widerspricht  der 
germanischen  Art,  die  Rangverhältnisse  zu  behandeln ;  bei  uns  findet  sich 
kein  Tantalus,  kein  Tithonos5).  Die  Analogien  unserer  Edda-Kommen- 
tatoren6) zeigen  auch  nur  menschliche  Hilfe  bei  Menschen. 

Die  stärkste  Grenzüberschreitung  der  Klassen  aber  berichtet  diel 
Rigsthula.  Auch  hier  möchte  man  zweifeln,  ob  die  naive  Vermischung 
menschlichen  und  göttlichen  Ursprungs  in  Epochen  voller  Reflexion  noch 
denkbar  war? 

Endlich  bildet  den  Gipfel  der  Klassifikation  mit  ihren  Scheidungen 
und  Berührungen  wieder  die  Weltesche  mit  ihrer  Vergleichung  der  Wesen 
und  Welten  7). 


J)  Vaf.  Str.  10.        2)  S.  200. 

3)  Skirn.  Str.  26.  *)  Skirn.  Str.  5. 

5)  Preller  1,  441.  6)  Heinzel-Detter  S.  199. 

7)  Auf  der  Scheidewand  zwischen  religiöser  Systembildung  und  gelehrter) 
Theologie  steht  es,  wenn  besondere  Klassen  der  Kompetenzgötter  konstituiert 
werden  wie  bei  den  14  christlichen  Nothelfern  und  vor  allem  bei  den  lateinischen 
dii  indigetes :  »indiges  bezeichnet  einen  in  einer  bestimmten  menschlichen  Handlung, 
Tätigkeit,  in  einer  bestimmten  Sache,  Verbindlichkeit  usw.,  und  zwar  nur  in  dieser 
einen  und  in  keiner  anderen  Handlung  usw.  wirkenden  Gott«  (Peter  in  Roschers 
Lexikon  2,  1,  133;  Verzeichnis  S.  134). 


Achtes  Kapitel. 

Altnordische  Theologie, 

Wir  sahen  die  »Theologen«  früh  am  Werk,  bei  der  Entwicklung 
-eligiöser  Keime,  wie  bei  der  Systembildung  in  all  ihren  Formen;  aber 
>o  recht  am  »sausenden  Webstuhl  der  Zeit«  sind  sie  doch  erst  auf 
lordischem  Boden  tätig  gewesen.  Bei  der  religiösen  Evolution  ist  vor 
dlem  die  Volksseele  bestimmend,  und  ihren  Schwankungen  darf  der 
Theolog  nur  mit  Vorsicht  folgen.  Die  äußere  Entwicklung  freilich,  die 
Herstellung  von  Verwandtschaften,  das  Zählen,  das  Klassifizieren  ist  schon 
wesentlich  Arbeit  der  Einzelnen,  der  Priester  oder  interessierten  Laien  — 
2ben  der  »Theologen«;  denn  kein  Druidenstand  hat  bei  uns  die  Kennt- 
nisse von  den  Götterverhältnissen  eifersüchtig  allein  behütet.  Aber  die 
Führung  hat  auch  hier  noch  das  Volk;  die  Gläubigen  geben  das  Muster, 
das  die  Theologen  nur  nachbilden  und  ausbilden. 

Gehen  wir  aber  zu  den  letzten  Umformungen  des  religiösen  Stoffes, 
so  neigt  sich  die  Wage  immer  mehr  auf  die  Seite  der  Einzelnen.  Einzelne 
laben  überall  das  Heidentum  mit  ethischem  Gehalt  erhellt;  Zarathustra, 
Buddha,  hebräische  Propheten,  stoische  Philosophen  *).  Noch  folgte  ihnen 
las  Volk  vielfach,  ohne  die  naive  Bevorzugung  des  stärkeren  Gottes, 
aochte  er  der  »bessere«  sein  oder  nicht,  ganz  aufzugeben.  Aber  wenn 
i>ie  sich  dann  an  die  eigentliche  Gottesgelahrtheit  machten,  die  Grübler 
und  Forscher,  wenn  sie  die  Namen  und  Charaktereigenheiten  symbolisch 
festzustellen  suchten  oder  zu  einer  vollständigen  Sammlung  des  mytho- 
logischen Stoffes  fortschritten  —  dann  ließ  die  Gemeinde  die  Theologen 
im  Stich  und  verschob  den  Dank  für  diese  frommen  Bemühungen;  er  ist 
denn  auch  bei  den  Mythologen  und  Theologen  neuerer  Zeit  nicht  aus- 
geblieben, die  bei  aller  religiösen  Aufgeklärtheit  der  Mythologie  gegen- 
über es  gegenüber  den  Mythologen  an  Glauben  und  frommer  Ergebung 
nie   haben  fehlen  lassen.     Und  wenn  man  die  Axt  an  manch  Götzenbild 

*)  Über  »Religionsstifter  vgl.  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  10,  101  f.  Das  beste 
Beispiel  Zarathustra  (vgl.  Bartholomae,  Die  Gathas  des  Awesta,  Straßburg 
1905,  S.  132. 


536  Achtes  Kapitel. 

von  dieser  Art  legt,  werden  zwar  auch  oft  nur  Mäuse  herauslaufen  wie  ii 
den  Zeiten  der  christlichen  »Götzendämmerung«  und  Hammerphilosophie 
aber  auch  noch  an  den  Trümmern  läßt  sich  die  geschickte  Arbeit,  de 
hingebende  Fleiß  und  der  gute  Wille  der  altnordischen  Theologen  er 
kennen ! 

§  30.    Moralisierung. 

Die  Grundzüge  der  Moralisierung  reichen  in  urgermanische  Zei 
hinab.  Balder  muß  immer  der  helle,  sympathische,  reine  Gott  geweser 
sein,  den  der  dunkle,  böse  Feind  verfolgte.  Vor  allem :  das  Dienstverhältnis 
zwischen  Gott  und  Mensch  trägt  in  sich  die  Keime  einer  gegenseitiger 
Läuterung  und  Veredlung;  Treue,  Dankbarkeit,  Hilfsbereitschaft  wird  vor 
beiden  Seiten  gefordert  und  geboten. 

Schon  indogermanisch  schien  uns  Eine  moralische  Forderung  mii 
der  Mythologie  verknüpft:  über  der  Heiligkeit  des  Eides  wachen  die 
Götter,  und  schwere  Strafe  in  der  Unterwelt  trifft  den,  der  gegen  ihre 
Bürgschaft  gesündigt  hat.  Aber  eigentlich  ist  auch  dies  nur  ein  Sonder 
fall  der  ältesten  Tugendforderung:  der  nach  Treue  bei  freiwilliger  Ver- 
pflichtung. (Bei  der  erzwungenen  Verpflichtung,  im  Krieg  oder  bei 
Oberlistung,  denkt  kein  naives  Gemüt  an  Treue.)  Man  hat  sich  mit  einei 
bestimmten  Formel  den  Göttern  (oder  einzelnen:  den  Eidgöttern)  ver- 
pflichtet; sagt  man  nun  nicht  die  Wahrheit,  so  läßt  man  sie  im  Stich  wie 
den  greisen  Beowulf  seine  feigen  Mannen. 

Die  nächste  Stufe  zur  ethischen  Durchdringung  der  mythologischen 
Anschauungen  schließt  unmittelbar  an:  es  ist  die  Forderung  des  Rechtes, 
der  Gerechtigkeit.  Die  orientalischen  Völker  sehen  nicht  in  politischer 
Klugheit,  kaum  in  allgemeiner  Erkenntnis  die  Weisheit  Salomos  oder 
Harun  AI  Raschids,  sondern  in  treffenden  Richtersprüchen.  Die  älteste 
ethische  Gottheit  des  Veda,  Varuna,  haßt  und  straft  die  Lüge  und  die 
Falschheit1)  und  ist  milde  gegen  die,  die  nur  aus  Gedankenlosigkeit 
sündigen 2).  Nur  auf  die  Zuverlässigkeit  legt  umgekehrt  der  Gläubige  bei 
den  Göttern  Gewicht3)  —  außer  noch  natürlich  auf  ihre  Kraft! 

Das  Zutrauen  zu  der  Gerechtigkeit  der  Götter  liegt  implicite  in  ihrer 
Befragung  mit  Los  und  Gottesurteil.  Aber  wiederum  liegt  etwas  wie 
Mißtrauen  darin,  wenn  besondere  Schützer  des  Rechts  unter  ihnen  auf 
erstehn,  wie  in  der  nordischen  Religion  Thor  und  außerhalb  der  (deshalb 
wohl  rezipierte)  Fosite.  Und  so  hören  wir  ja  auch,  daß  insbesondere 
Odin  den  Ansprüchen  an  Gerechtigkeit  nicht  genügt,  den  Schlechteren 
siegen  läßt,  treulos  seine  Lieblinge  aufgibt,  ja  sogar  meineidig  wird4).  — 
Hier  setzt   dann    die   spezifisch   theologische  Kritik  ein,   die  sachkundige 


2)  Macdonell  S.  26.  3)  Ebd.  S.  27. 

?)  Ebd.  S.  19.  4)  Häv.  Str.  109. 


§  30.    Moralisierung.  537 

jläubige  an  fremden,  d.  h.  von  ihnen  nicht  zum  pilltrüi  gemachten 
jöttern  üben.  Damit  an  Odin  und  Thor1)  eine  so  einschneidende 
noralische  Kritik  geübt  werden  konnte,  damit  der  Dichter  der  Lok.  alle 
jötter  auf  Tapferkeit,  alle  Göttinnen  auf  Sittsamkeit  Revue  passieren 
assen  kann,  muß  man  schon  lange  über  anstößige  Erlebnisse  der  hohen 
lerrschaften  diskutiert  haben  —  mit  dem  Behagen  Saxos,  mit  der  Sachlich- 
keit Snorris,  mit  der  moralischen  Entrüstung  der  Lokasenna.  —  Bei  einigen 
jottheiten  zeigen  sich  Ansätze  zu  rein  moralischer  Haltung;  doch  ist 
iie  Charakteristik  der  Snotra2)  als  »fein  und  weise«  erst  dem  letzten  Be- 
irbeiter  zuzuschreiben  3). 

Aber  indem  jenes  Bedürfnis  nach  Gerechtigkeit,  nach  Vergeltung 
mmer  mächtiger  ward,  sahen  wir  in  dieser  Angel  die  ganze  Religion 
des  Nordens  sich  dröhnend  bewegen.  Die  angesammelte  moralische 
Empfindung  krystallisiert  um  den  Gegensatz  Balder  -  Loki  und  findet 
überhaupt  in  Loki  die  unentbehrliche  Verkörperung  des  negativen  Ideals. 
Und  Ragnarök  sammelt  dann  um  Odin,  der  doch  selbst  Weiber  betrog 
und  Könige  im  Stich  ließ,  die  Guten,  um  Loki,  der  einst  doch  ein  hilf- 
reicher Geselle  des  strengen  Thor  war4),  die  Bösen.  Die  Völuspä  ist 
[getränkt  von  ethischen  Anschauungen,  sie  nimmt  nicht  nur  die  Spuren 
früherer  moralisierender  Mythologie  eifrig  auf5),  sondern  sie  macht  den 
Sündenfall  der  Götter  zum  Hebel  des  ganzen  Weltenschicksals6). 

Snorri  vor  allem  führt  dann  die  Moralisierung  weiter,  worauf  im 
einzelnen  hier  nicht  weiter  eingegangen  zu  werden  braucht.  Für  Loki  hat 
er  statt  der  heimlichen  Sympathie  der  Volksseele  nur  Abscheu  und  kann 
sich  in  Höllenstrafen  für  den  armen  Teufel  nicht  genug  tun;  dagegen 
sind  alle  Götter  edel 7).  Trotz  alledem  ist  es  auch  bei  ihm  nicht  gelungen, 
diese  Ethisierung  so  weit  durchzuführen  wie  in  der  Heldendichtung,  die 
nach  Uhlands  schöner  Schilderung  ganz  auf  die  Zweiteilung  in  Treue  und 
Untreue  gestellt  ist.  Die  altgermanische  Mythologie  bleibt  selbst  noch  in 
Snorris  Darstellung  eine  hochstrebende  Barbarei,  großartig,  kraftvoll,  aber 
die  Fesseln  der  Moral  zerreißend  wie  die  Miltonischen  Ungeheuer  des 
götterfeindlichen  Heeres  ihre  Bande  zerreißen. 

!)  Härb.,  z.  B.  Str.  38.  51.  2)  Golther  S.  436. 

3)  Vgl.  u.  4)  Thrymskv. 

B)  Vol.  Str.  38;  Golther  S.  474. 

6)  Aus  diesem  Bedürfnis  nach  dem  »rechten  Recht«,  aus  der  Gerechtigkeits- 
liebe ist  auch  bei  den  Hellenen  die  stärkste  Wurzel  aller  Moral  erwachsen:  die 
Ehrfurcht  vor  der  Wahrheit  (vgl.  Hirzels  schöne  Rede  zur  Feier  der  akadem. 
Preisverteilung,  Jena  1905,  S.  5  f.).  Bei  den  Hebräern  scheint  dagegen  das  bei 
Hellenen,  Ägyptern,  Römern,  Germanen  (ebd.  S.  8)  sekundäre  Verhältnis  der 
Wahrheit  zu  den  Menschen  (ebd.  S.  15)  primär  zu  sein;  vgl.  Gunkel,  Genesis, 
S.  25  über  den  Baum  der  Erkenntnis. 

7)  Vgl.  u.  über  die  Charakteristiken  Snorris. 


538  Achtes  Kapitel. 

Natürlich  hat  das  große  Tugend  so  wenig  ausgeschlossen  wie  i| 
irgendeiner  Religion  auch  nur  die  bedenklichsten  Vorschriften  sie  ui 
möglich  gemacht  haben.  Edle  Männer  werden  uns  geschildert  wie  jem| 
Gisli  Sürsson  J).  Aber  selbst  Starkads  rauhe  und  bedenkliche  Tugend  ist  merj 
am  Busen  der  heroischen  Dichtung  genährt  als  am  Vorbild  der  Götte 
und  Gestalten  wie  die  der  Helgilieder,  wie  Sigurd,  hat  kein  Gläubige) 
und  kein  Priester  aus  dem  wilden  Eichenholz  der  Äsen  und  Wanen  zj 
schnitzen  vermocht. 

§  31.    Namengebung. 

Außer  Weinhold2)  scheint  niemand  mit  der  mythologischen  Namenl 
gebung  der  Germanen  sich  systematisch  befaßt  zu  haben;  und  auch  e| 
beschränkt  sich  auf  das  Äußerliche,  worin  sie  mit  der  alten  Namengebunj 
überhaupt  zusammenfällt:  Binden  von  Namenpaaren  durch  Stabreim  j 
Endreim,  rührenden  Reim.  Kaum  daß  die  Elemente  der  Götternamen 
gestreift  werden. 

Die  Wichtigkeit  der  Einzelnamen  ist  nicht  nur  nie  verkannt,  sondern 
sogar  zumeist  überschätzt  worden;  auf  die  generelle  Wichtigkeit  aber) 
dieser   Benennungen  hat   erst  Usener3)   mit  Entschiedenheit  hingewiesen.! 

Für  die  Namengebung  in  der  germanischen  Mythologie  lassen  sich 
die  wichtigsten  Gruppen  zeitlich  und  inhaltlich  nicht  schwer  scheiden. 
Aus  urgermanischer  Zeit  haben  wir  drei  Gruppen  von  Götternamen: 
1.  ererbte  oder  neue  von  partizipialer  Bedeutung,  d.  h.  gebildet  aus  einem  | 
Verbalstamm  mit  irgendeinem  Suffix  für  Nomina  agentis:  Tiuz-Tyr  der 
Strahlende,  Wodan  der  im  Sturm  daherführt,  Thonar  der  donnert,  Bälden 
der  Leuchtende.  Vermutlich  wird  auch  Nerthus  hierher  gehören,  deren  Namen 
allerdings  Noreen  und  Kögel  unter  Zustimmung  von  Mogk  und  Leitzmann  4) 
zu  griechisch  v£qt£qoi  »untere  Götter«  stellen.  Zwar  der  Plural  könnte  bei 
dem  Paar  Nerthus:  Njörd  bestehen;  aber  lokale  Bezeichnung  germanischer 
Gottheiten  ist  problematisch.  2.  Neue  Namen  (d.  h.  so  viel  wir  sehen 
nicht  ererbte),  die  wie  Wurzelnomina  aussehen  und  an  irgendeine  wahr- 
scheinlich nicht  verbale  Wurzel  direkt  die  Endungen  fügen:  Ingo,  Isto, 
Alces;  vielleicht  auch  Irmin.  Der  deutliche  Name  Mannus  (wie  die  jüngeren 
Anologien  Bur,  Buri)  kennzeichnet  diese  Namen  als  spezifisch  gebrauchte 
alte  Nomina:  »Mensch«,  »Ankömmling«,  »Herr«  (Irmin?),  die  freilich  von 
uns  zum  Teil  auch  zu  Verbis  in  Beziehung  gesetzt  werden,  bei  denen 
aber  ein  lebendiges  Nebeneinander  von  Verb  und  Nomen  nicht  mehr 
gefühlt   wurde.     (Das  gilt  zwar  für   die   urgermanische  Zeit  für  den  ur- 


*)  Olrik  S.  96. 

2)  Altnord.  Leben,  S.  265. 

3)  Götternamen,  Bonn  1896. 
*)  PBB.  32,  65. 


§  31.    Namengebung.  539 

rünglich  »partizipialen«  Namen  Tyr  auch.)  —  Der  Verwendung  eines 
aminalstammes  als  Titel  kommt  Frija-Frigg,  »die  Geliebte«,  schon  nach. 
Isolierte  Namen  mit  einem  spezifischen  Suffix:  Tanfana,  wohl  dem 
äteren  Badu-h-enna,  Nehal-ennia  (mit  Suffixverschiedenheiten,  wie  sie 
zischen  dem  ost-  und  westgermanischen  Infinitiv  bestehen)  in  der  Bildung 
rwandt;  vermutlich  Berufsnamen:  die  sich  mit  Opfern,  Krieg,  Schiffen 
ischäftigen  x).  —  Der  Unterschied  ist  inhaltlich  der:  die  erste  Gruppe  zeigt 
e  Götter  in  einer  bestimmten  Tätigkeit;  die  zweite  im  Besitz  einer  he- 
mmten Eigenschaft  oder  Fähigkeit ;  die  dritte  mit  einem  bestimmten  Amt 
rtraut.  —  Natürlich  bleibt  manches  unsicher;  Baduhenna  ist  —  für  so 
ihe  Zeit  unwahrscheinlich  —  als  Kompositum,  Wodan  als  Amtsnamen 
er  die  Aufsicht  über  die  »Wode«  benannten  Geister  hat,  wie  gotisch 
iudans  zu  thiud)  gedeutet  worden. 

Diese  drei  Namensklassen  kommen  überall  vor.  Verbal,  participial 
heinen  (neben  Zeus  und  Ju-piter)  Apollon  2),  Helios 3),  Pan 4),  vielleicht 
ich  Hermes 5) ;  dazu  Cognomina  wie  Jupiter  Pluvius ;  indisch  Pushan 6), 
udra7);  in  sehr  deutlich  partizipialer  Verwendung  Vivasvat8)  u.  a.  — 
ominale  Namen  (man  verzeihe  den  Ausdruck!)  sind  vielleicht  Ares9) 
id,  der  Frigg  genau  entsprechend,  Hera10);  ähnlich  Köre11),  indisch  Mitra 
Freund«12).  —  Berufsnamen  mit  einem  n- Suffix:  Athena  (zu  Ab- 
rennen)13); Varuna,  der  Herr  der  Himmelsdecke?14);  Volcanus15); 
ino16).  —  Das  Suffix  ist  wohl  wirklich  identisch  mit  dem  der  späteren 
mts-  und  Berufsnamen n). 

Außer  diesen  drei  indogermanischen  Gruppen  von  Götternamen  gibt 
>  nun  aber  eine  Reihe  von  andern,  für  die  ebenfalls  eine  ungefähre 
Chronologie  möglich  scheint: 

4.  Für  sehr  alt  können  wir  eine  Reihe  von  unerklärten  Namen  an- 
brechen wie  Indra,  Rhea 18),  Priapos,  Mars,  Lar 19).    Oberwiegend  werden 

x)  Vgl   Golther  S.  459.  460.  463. 
2)  Preller  1,  232.  3)  S.  429. 

4)  Der  Weidende;  S.  738.  5)  S.  385  Anm. 

6)  Macdonell  S.  37.  7)  S.  77. 

8)  Ebd.  S.  43.  9)  Preller  S.  335,  1. 

10)  S.  160.  n)  S.  748. 

12)  Macdonell  S.  30.  13)  Preller  186,  1. 

14)  Vgl.  Macdonell  S.  28. 

16)  Der  über  das  Feuer  gesetzt  ist :  velgo,  glühen,  leuchten  (Fick,  Indogerm. 
Wörterbuch  1,  552. 

16)  Wissowa  S.  115,  zu  der  Wurzel  von  Juppiter. 

17)  Indisch  räjan,  König;  lateinisch  caupo ,  Gastwirt;  griechisch  t&kov, 
immerer;  gotisch  nuta,  Fischer:  Kluge,  Stammbildungslehre  d.  altgerm.  Dialekte, 
alle  1886,  §  15;  vgl.  für  Namen  wie  Wodanas  Jiriczek,  Göttinger  Gel.  Anz. 
09  S.  95. 

18)  Preller  1,  638.  19)  Wissowa  S.  153. 


540  Achtes  Kapitel. 

sie  zwar  zu  dem  Typus  Alces x)  gehören ;  es  ist  aber  gar  nicht  gesa| 
daß  sie  überhaupt  Etyma  haben:  es  können  dunkle  Eigennamen  se 
lautsymbolischer  Natur  oder  durch  irgendein  Geräusch,  das  der  Gö 
selbst  von  sich  zu  geben  schien,  oder  wie  sonst  veranlaßt2). 

5.  Sehr  alt  sind  auch  Fetischnamen,  die  die  Gottheit  unmittelbar  n 
dem  sie  umhüllenden  Gegenstand  benennen:  Hestia3)  =  Vesta4);  Janus 
vielleicht  auch    die  römischen  Augenblicksgöttinnen   der  Pest6)   und  cf 
Fiebers7),  die  mit  den  Abstraktgottheiten8)  nicht  zu  verwechseln  sind: 
gibt  nur  Eine  Themis,  aber  jeder  hat  sein  persönliches  Fieber.    Den  Unt 
schied   zeigt   die  lateinische  Victoria9),  Augenblicksgöttin  des  Einzelsie 
gegenüber  der  griechischen  Nike10),  der  mit  »Zeus  untrennbar  verbundene: 
Siegesgewalt. 

6.  Nahe  verwandt  sind  die  Naturgegenstände,  die  ebenfalls  als  Hei 
göttlicher  Kräfte  gelten:  Eos,  Selene,  Gaia,  Sürya11),  Ushas  12),  Prthivi  (w 
man  sieht,  griechisch  und  indisch  zum  Teil  identisch) ;  ferner  die  wichtige 
indischen  Gottheiten  Agni  und  Soma. 

7.  Altertümlich  ist  auch  die  Benennung  nach  Ort  oder  Attribut:  »d 
mit  den  Rossen« 13),  »die  in  der  Vorratskammer«  u),  »die  in  der  Höhle«11 

Diesen  sieben  Gruppen  alter  Namen  (isolierte  Namen:  verbale  un 
nominale;  sekundäre  Amtstitel ;  Namen  vom  Sitz  der  Gottheit  im  Fetiscl 
Wurzelnamen;  Sitz  im  Naturgegenstand  oder  nach  einer  andern  lokal 
Bestimmung)  schließen  sich  nun  aber  drei  jüngere  an: 

8.  Komposita,    meist    genealogischer   Natur.     Sie   gehören   bei   d 
Hellenen  meist  fremdbürtigen  Gottheiten :  Aphrodite  die  Schaumgeborene 16 
Dionysos17);  oder  solchen,  deren  Gestalt  erst  später  voll  entwickelt  wurd 
Persephone 1S),  Ganymedes19).    Bei  den  Indern  gehört  hierher  der  charakt 
ristische  Brhaspati 20).    Auch  Patronymica  wie  Dioskuroi  und  Metronymic 
wie  Adityas21)    sind    hierher   zu   setzen.     Im   Veda  gibt   es   eine  ganz 
Gruppe  solche  zusammengesetzter  Namen  epithetischer  Art22). 


!)  Siehe  o.  S.  538. 

2)  Vgl.  meinen  Aufsatz  Isolierte  Wurzeln,  »Wörter  und  Sachen  1,  34 f. 

3)  Preller  1,  422.  4)  Wissowa  S.  112. 
5)  Wissowa  S.  112.  6)  Lua;  S.  171. 

7)  Febris;  S.  197.  8)  Siehe  u. 

9)  Wissowa  S.  127.  10)  Preller  1,  494. 

n)  Macdonell  S.  30.  12)  S.  46. 

13)  Acvins;  Macdonell  S.  48. 
u)  Penates;  Wissowa  S.  145 

15)  Kybele?    Preller  1,  640. 

16)  Preller  1,  353.  17)  Vgl.  ebd.  S.  660. 
18)  Vgl.  S.  755.           19)  S.  499. 

20)  Macdonell  S.  101. 

21)  Ebd.  S.  45.  22)  Ebd.  S.  118. 


§  31.    Namengebung.  54] 

1    9.    Neue    durchsichtige    Benennungen    als    Nomina    agentis1)    oder 
Ijektiva  2). 

10.    Abstrakta:   Themis,   Nike,   Hebe,   Ate,  Tyche,   Eros  und  seine 
DPe3);  Fides4). 

Natürlich   kann   ein   alter   Gott  einen   jungen   Namen   erhalten,    wie 
;nn   der  Beiname  Silvanus5),   allzu  deutlich  gebildet,   sich  von  Faunus 
t.    Auch   das   Umgekehrte   ist  möglich:   ein   junger   Gott  kann   einen 
en   Namen    erben.     Im   Ganzen   wird    es    für   das   Alter  eines   Gottes 
gefähr    einen    Fingerzeig    bieten,    ob   sein   Name   der   einen   oder   der 
dem  Schicht  angehört.     Freilich   bleiben   nationale  Eigenheiten  zu   be- 
bten;   bei    den   Römern,    die   mehr  altertümlich   isolierte  Götternamen 
ben   als   irgendein   anderes   indogermanisches  Volk,   sind   daneben  die 
)strakta  früh   eingeführt;   bei   den  Hellenen  sind  sie  später,   dann  aber 
erwuchernd    beliebt,    bei    den    Indern    niemals.    —    Indogermanische 
imonen    haben    zumeist  Namen   vom  Partizipialtypus  wie  der  Lichtgott 
raus   oder  die  Elfen  —  Ribhus6).   —   Ich  möchte   diese  Art  überhaupt 
*  die  älteste  halten:   sie  benennt  die  unbekannte  Macht  nach  ihrer  Art, 
;h    kundzugeben.     Die   Namen    mit    -n    scheinen    der   ältesten    Schicht 
rentlicher  Götternamen  anzugehören :  sie  umschreiben  zuerst  eine  Kom- 
tenz,   Aufsicht   über  das  Feuer,   die  Schiffe,  den  Kampf  usw.  —  Sehr 
i  müssen   natürlich   auch   die   isolierten  Namen   sein;   sie  scheinen  alle 
sprüngliche  Namen   von  Dämonen,  die  zum  Teil  Götter  wurden  (wie 
irs).     Ganz  so   alt   werden   die  Lokal-   und   Attributnamen   nicht  sein, 
p  schon   eine  feste  Kultstätte  und  ein  ungefähres  Bild  voraussetzen.  — 
e  nominalen  Eigennamen   sind   vielleicht  alle  aus  verbalen  abzuleiten. 
>ch  entwickelt  sich  aus  ihnen  (nach  dem  Typus  Hera— Köre)  früh  eine 
ae  Kategorie:  die  Respektnamen. 

An  die  indogermanische  Nomenklatur  der  Götter  setzt  sich  nämlich 
di  ein  zweiteiliger  Ast  an,  der  in  proethnischer  Zeit  erst  zu  keimen, 
ftr  noch  nicht  zu  blühen  scheint:  11.  Aus  Beinamen  werden  Eigen- 
men,  wie  Silvanus;  besonders  oft  in  griechischen  Lokalnamen:  Kynthia, 
fpris  usw.  (Es  ist  der  gleiche  Vorgang  wie  wenn  Beinamen  zu 
imiliennamen  werden:  Fairfax,  Langbein,  oder  Franke,  Dühring,  Sachs.) 
>    häufig    bei    den    Indern7).      12.    Von    den    nominalen    Benennungen 

x)  Der  Typus  -tr;  vgl.  Macdonell  S.  115:  Tvastri;  Savitri  S.  34. 

2)  Daksha,  »Geschickt«;  ebd.  S.  46. 

3)  Preller  1,  501. 

4)  Wissowa  S.  123;  vgl.  allgemein  für  den  Veda  Macdonell  S.  118;  für 
n  Avesta  Bartholomae,  Die  Gathas  des  Awesta,  Straßburg  1905,  S.  VII. 

5)  Wissowa  S.  175. 

6)  Macdonell  S.  133. 

7)  Macdonell  S.  118 f.  —  Vgl.  allgemein  Meillet,  Einführung  in  d.  vgl. 
"am.  d.  idg.  Sprachen,  Leipzig  1902,  S.  241. 


I 


542  Achtes  Kapitel. 

zweigen   sich   die  Titel   ab,   ebenfalls  zuerst   neben   dem  Namen  (wie 
Dyauspitä-Juppiter),  dann  selbständig  (wie  christlich :  der  Herr) x). 

Mit  diesen  sieben  Kategorien  der  ersten,  drei  der  zweiten,  zwei 
dritten  Schicht  ist  die  Klassifikation  der  Götternamen  wohl  im  wese 
liehen  gegeben;  natürlich  können  Sonderbildungen  besondere  Grupp 
verlangen ,  wie  z.  B.  die  periphrastischen  Namen 2)  sich  von  den  Ko 
positis  abzweigen,  oder  die  Ortsnamen  eine  besondere  Abteilung  un 
dem  selbständig  gemachten  Beinamen  fordern  mögen.  —  Diese  Obersi 
der  zwölf  Klassen  von  indogermanischen  Götternamen  dient  uns  nun 
der  weiteren  Prüfung  der  germanischen  als  Voraussetzung. 

Aus  römisch-germanischer  Zeit  haben  wir  Amtsnamen  v 
Baduhenna,  Nehalennia3)  und  neue  Abstrakta  vom  indischen  tr-Typ 
wie  Sandraudiga  (wenn  wir  es  richtig  deuten;  zugleich  Kompositut 
Vercana  (griechisch  'EQydvy,  Beiname  der  Athene)  —  sie  entspringen  c 
menschlichen  Arbeitsteilung  und  sind  für  die  Bildung  besonderer  Innung 
oder  Künste  charakteristisch. 

Beide  Klassen  deuten  auf  zunehmende  Kompetenzteilung  unter  dl 
Göttern. 

Aus  der  jüngeren  germanischen  Periode  stammt:  Bald 
ein  Partizipialname.  Aus  der  gleichen  Periode  alte  nordische  Name| 
Frey,  Titel  (»Herr«),  nachgebildet  dazu  Freyja;  Hofud,  wenn  dies  Heimda 
älterer  Name  ist,  ebenfalls  Ehrenname:  Haupt,  Häuptling;  Hönir,  Lodi 
Hod,  wohl  alte  verbale  Namen  verdunkelten  Ursprungs;  ebenso  Mim 
vielleicht  Ymir,  Loki;  nominal  Bur,  Buri;  fremden  Ursprungs  vielleic 
Skadi,  Rfg. 

Die  deutschen  germanischen  Sonderentwicklunge 
zeigen  Komposita  wie  Saxnöt,  Sinthgund,  und  Naturnamen:  Sunn 
Abstraktnamen:  Volla.  Im  Nordischen  ist  von  den  großen  Name 
katalogen4)  zunächst  abzusehen.  Dann  blieben  noch  zahlreiche  neu  at 
tauchende  Namen:  1.  Dunklen  Ursprungs  (wahrscheinlich  symboliscl 
Namen):  Götternamen  wie  Widar5),  Rind,  Wali6);  Dämonenname 
wie  Hrym,  Surt7);  unsicherer  Bedeutung  Hlyn8).  2.  Verbal  wohl  Garr 
Hei  (eigentlich  ein  Abstraktum).  3.  Nominal  vielleicht  Uli  (Glanz), 
Magni,  Modi.  4.  Berufsnamen  mit  -n:  Hlödyn-Hludana9);  vielleicht  au( 
Idun;   Sigyn?     5.    Appellativa:   allenfalls   könnte   man  Hei   auch   hierh 


!)  So  finnisch  ahti,  »Gott«,  als  Eigenname  (Ohrt,  Kalewala,  S.  216). 

2)  Indisch  Apäm  napät;  Macdon  eil  S.  69. 

3)  Siehe  o,  S.  399  f. 

4)  Zwerge  Völ.  Str.  9 f.,  Walküren  ebd.  Str.  31;  Nachkommen  Rigs  in  d 
Rigthula;  allerlei  Namen  in  Grim.,  Vaf.,  Alv. 

B)  Völ.  6)  Veg.  7)  Völ.  8)  Völ. 

9)  Golther  S.  461. 


§  31.    Namengebung.  543 

teilen.  6.  Naturgegenstände:  nicht  vertreten.  7.  Lokalnamen:  nicht  ver- 
-eten.  8.  Komposita:  als  einziger  Göttername  (wie  oft  bemerkt)  Heim- 
all; ferner  Gullveig  x);  in  Grfm.  Heidrun,  Eikthyrnir  und  viele  andere; 
i  der  Völuspä  noch  besonders  Yggdrasil,  Eggther.  9.  Abstrakta :  Heid 8) ; 
ie  drei  Nornen3).  10.  Neue  durchsichtige  Bildungen:  Nominia  agentis 
/ie  Forseti  (durch  Volksetymologie),  Eldir,  Byggvir,  Beyla.  11.  Alte  Bei- 
amen: nicht  vertreten.  12.  Titel:  Bragi  (wenn  nicht  entlehnter  Personen  - 
ame).  — 

Wenn  für  diese  Übersicht  etwas  charakteristisch  ist,  so  ist  es  die 
Systemlosigkeit«.  So  wenig  wie  die  Völkernamen  (wo  man  es  versucht 
tat),  lassen  sich  die  Götternamen  mit  Einem  Schlüssel  alle  öffnen.  Und 
as  ist  recht  so,  wie  bei  jeder  Namengebung.  Man  betrachte  doch  nur 
|ie  so  streng  geordnete  Titulatur  unseres  Heeres!  wie  da  alle  Prinzipien 
urcheinandergehen :  absolute  und  relative  Titel  (Oberst  —  Leutnant),  Amts- 
ind Ehrenbezeichnungen  (Wachtmeister,  Feldwebel  —  Hauptmann),  ein- 
iche  und  zusammengesetzte  Worte  (Fähnrich  —  Feldmarschall),  deutsche 
nd  fremde  (Rittmeister  —  Major)  und  übersetzte  (Gefreiter,  was  bei  den 
syrischen  Hartschieren  noch  heut  »Exempt«  heißt;  Marschall,  mit  Rück- 
)/anderung).  Und  die  Logik  unterliegt  auch,  wenn  zwar  der  Major  ein 
11t  Teil  mehr  ist  als  der  Leutnant,  aber  umgekehrt  der  Generalleutnant 
iiehr  als  der  Generalmajor;  oder  bei  dem  ganz  jungen  Titel  General- 
i>berarzt,  der  unter  dem  Generalarzt  steht,  obwohl  der  Oberarzt  über  dem 
irzt  steht.  —  Die  Systemlosigkeit  ist  Beweis  historischen  Werdens;  und  wo 
/ir  einmal  systematische  Anordnung  treffen  (wie  bei  den  Generalstiteln), 
la  haben  wir  jüngste  Klassifikation.  Und  so  ists  bei  den  mythologischen 
Jamen  eben  auch. 

;  Sonst  ist  zu  der  letzten  Phase  mythologischer  Namengebung4) 
ioch  anzumerken:  es  fehlen  ganz  oder  fast  ganz  die  an  bestimmte 
Grundlagen  geknüpften  Namen ;  Söl  ist  jung.  Ebenso  die  Abstraktnamen 
s  auf  die  der  Nornen;  also  haben  die  germanischen  Götternamen  sich 
nmer  den  Charakter  eigentlicher  individueller  Personennamen  gewahrt, 
lüle  Komposita,  alle  deutlichen  Begriffsnamen  sind  verdächtig,  und  machen 
hre  Träger  verdächtig,  soweit  sie  nicht  erst  übertragen  sind  (Heimdali, 
rorseti).  Und  herrschend  sind  durch  die  gesamte  germanische  Religion 
hindurch  die  drei  Kategorien,  die  wir  schon  in  der  Urzeit  fanden,  samt 
ler  der  isolierten  Namen  (zu  denen  von  den  urgermanischen  die  Alces 
gehören  könnte)! 

Also  eine  große  Gleichartigkeit  der  Namengebung.  Echte  alte  Götter 
md  Dämonen  haben  isolierte  Namen,  oder  primitive  Wurzelnamen,  oder 


*)  Vol.  Str.  21.  2)  Völ.  Str.  22. 

3)  Völ.  Str.  29.  *)  Doch  vgl.  u. 


544  Achtes  Kapitel. 

»Kompetenznamen«   mit  n-Suffixen.     Und  alle  anderen  Kategorien,  seil 
die  der  Komposita  deuten  auf  jüngeren  Ursprung. 

Mit   diesem  Schlüssel    in   der  Hand  betrachte  man  vorläufig  einm 
das  durch  seine  Systemlosigkeit  noch  bestechende  Verzeichnis  der  Asinn 
bei   Snorri *).     Da   finden    wir    noch    immer   alte   symbolisch    klingende 
Namen  wie  Hörn,  Syn,  Gnä;  einfache  Komposita  wie  Mardell  sind  sehe 
bedenklich,  so  oft  man  auch  gerade  für  diesen  Namen  Lanzen  gebrocht  ich! 
hat2).     Daneben  Abstrakta  wie  Fulla  (auch  althochdeutsch)  und  Eir,  Wp 
und  Syn;   Appellativa  wie  Hnoss  (Schmuck),   junge   deutliche  Bildungc 
wie   Snotra,    Sjöfn,   Lofn,   die  fast  alle  Snorri   selbst  erklärt.     Auch   s 
können   zum   Teil   dennoch   alte   Idisi   sein,    aber   aus   ihren   Funktion* 
sind    dann    eben   junge   Namen    herausgezogen;    dagegen   sind   Abstral« 
namen    wohl    für   Götter,    aber3)    nicht    für  dämonische  Wesen   zu   b 
anstanden;   wie  denn  Fulla  noch  durch  die  althochdeutsche  Parallele  g 
stützt  ist4). 

Und  nun  zu  der  eigentlichen  theologischen  Namengebung! 

Zu  den  nordisch-theologischenGötternamen  nehmen  wi 
wie  immer,  Namen  von  Dämonen,  göttlichen  Tieren,  Attributen  u.  dgra 
hinzu.  al 

Ich  beginne  mit  den  Katalogen  in  Eddaliedern.    Völuspä,  Erst< fe 
Zwergenkatalog  Str.  10  f.    Systematische  Bestandteile  sind  vorhanden:  d  ei 
Namen  der  vier  Weltrichtungen,  Nyi  und  Nithi  die  Mondphasen 5).  Danebee. 
zahlreiche  Appellativa  wie  Thekkr,  Vitr,  Litr   und   mit  Zusammensetzung, 
Nyräthr   und   Räthsvithr 6) ;    Namen,    die   bei   Zwergen  (Litr  Dainn)   un 
Menschen  (A'nn)  belegt  sind7).   Mit  einem  anderen  Zwergen katalog  stimnL 
der  unserige  großenteils  überein.  —  All  das  spricht  gegen  ganz  neue  Ei 
findung.     Die  Theologen   haben   von  überallher  Namen   gesammelt,   di 
für  Zwerge  dienten   —   oder   dienen   konnten;   haben   sie  mit  gehäufte 
Reimklängen8)  in  Verse  gebracht,  wie  Hesiod  oder  —  Theodor  Fontan 
ihre  nafnathuliir .    Kein  Zwergname  ist  beglaubigt,  weil  er  im  Dvergata' 
steht ;  da  aber  alte  echte  Zwergnamen  überliefert  scheinen,  ist  auch  keine» 
deshalb  allein  verdächtig. 


stei 
ie 
jei 

ie 

ir 
rer 


1)  Gylf.  cap.  35:  Gering  S.  326. 

2)  Vgl.  zuletzt  Helm,  PBB.  32,  109. 

3)  Vgl.  o.  S.  540. 

4)  Man  muß  noch  bedenken,  daß  die  Skandinavier  eine  wahre  Leidenschaf 
für  das  Namengeben  zeigen :  nicht  nur  Schiffe,  Rosse,  Schwerter  werden  benann 
sondern  auch  einzelne  Armringe  (Wein hold,  Altnord.  Leben),  besonders  gut« 
Äcker  (»der  gewisse  Geber«,  S.  85);  ebenso  bei  den  finnischen  Nachbarn  jede 
einzelne  Zauberpfeil  (ebd.  S.  206). 

B)  Heinzel-Detter  S.  20. 
6)  Ebd.  S.  21.  7)  Ebd. 

8)  Vgl.  meine  Altgerm.  Poesie  S.  249.  303. 


§  31.    Namengebung.  545 

Zweiter  Zwergkatalog  Str.  15  f.:  Viele  deutliche  Appellativa  x) ;  die 
eisten  kehren  in  einem  anderen  Dvergatal  wieder.  Aber  hier  haben  wir 
:hr  verdächtige  Stücke:  den  Hahn  Fjalar,  den  Ring  Draupnir;  die  späte 
'ildung  mit  -thrasir2),  den  Odinsnamen  Här;  leicht  veränderte  Asen- 
imen  wie  Skirfir  (statt  Skirnir),  Yngvi  (statt  Ingvi);  Komposita  wie  Hlewangr 
id  das  (beiden  Listen  gemeinsame)  Eikinskjaldi.  Sicher  echt  ist  hier 
cht  Ein  Name;  aber  die  ganze  Liste  kann  erfunden  sein  —  vielleicht 
n  einer  lokalen  Zwergensage3)  eine  Unterlage  zu  geben.  —  Aber 
■lmerhin:  eine  systematische  Namengebung  ist  auch  dies  nicht. 

Walkürenverzeichnis  Str.  31  f.:  Es  gibt  eine  ganze  Reihe  von  Namens- 
»ten  der  Schlachtenjungfrauen4).  Ursprünglich  waren  sie  namenlos,  wie 
e  Idisi  des  Merseburger  Spruches,  wie  noch  Helgis  Walküre5).  Es  ist 
)er  kein  Zweifel,  daß  sie  früh  individualisiert  wurden6),  aus  dem  Kult 
ie  aus  der  Heldensage7).  —  In  allen  Listen  finden  wir  Skoogul  und  Hild; 
r  das  Alter  des  ersten  Namens  spricht  auch  seine  metaphorische  Ver- 
endung8),  sowie  daß  er  in  unserer  Stelle  selbst  gleich  noch  als  Kom- 
>sitionsteil  —  in  Geirskögul  —  wiederkehrt.  Hild  ist  freilich  ein  Ab- 
raktum,  was  ja  aber  bei  einem  nicht  göttlichen  Wesen  kein  Bedenken 
it9).  Damit  sind  denn  auch  Namen  wie  Gltd  »Krieg«,  wie  Hild  gerecht- 
rtigt;  auch  der  spätere  Nornenname  Skuld,  der  die  Verpflichtung  gegen 
m  Kriegsgott,  den  Schlachtentribut  bedeutet.  Auffallend  ist,  daß  der  gut 
'^zeugte  Walkürenname  Herfjötur10)  fehlt;  aber  er.  mag  lokal  sein,  oder 
br  Dichter  wollte  nur  zweimal  drei  Walküren  nennen  11).  Wir  werden 
'so  auch  hier  entscheiden  dürfen:  die  thula  beruht  auf  Sammeln,  nicht 
if  Erfinden.  Sonst  wäre  der  Dichter  auch  nicht  bei  der  kleinen  Zahl 
ihen  geblieben. 

Dann  die  G  r  i  m  n  i  s  m  ä  1 :  auf  die  Namenmache  dieses  Gedichts  haben 
,r    schon    wiederholt    hinzuweisen   gehabt.      Hier   ist   noch   einmal   das 

*)  Heinzel-Detter  S.  24. 

2)  Vgl.  ebd. 

3)  Str.  14;  vgl.  aber  Heinzel-Detter  z.  St. 

4)  Vgl.  Heinzel-Detter  2,  42. 

5)  Helg.  Hjörv.  Str.  6f. 

6)  Vgl.  o.  S.  159. 

7)  Sigrdrifa— Brynhild;  vgl.  Gering  zu  Faf.  Str.  4.  5. 

8)  In  men-skögol;  Gering,  Vollständiges  Wörterbuch  zu  d.  Liedern  d.  Edda, 
alle  1903,  S.  952. 

9)  Genau  so  hat  Ares  um  sich  neben  der  alten  Enyo  die  Abstrakten  Deimos 
id  Phobos,  Furcht  und  Schrecken  (Prell er  1,  338). 

10)  Golther  S.  113. 

n)  Wie  zu  Helg.  Hjörv.  Str.  6  ihrer  dreimal  neun  reiten  (ebenso  sonst  in 
einen  zu  drei,  Golther  S.  316,  der  sonderbarerweise  die  Norne  Skuld  unter 
e  Walküren  einstellt). 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  35 


II 


546  Achtes  Kapitel. 

durchaus  systematische  Vorgehen  bei  der  Taufe  nachzuweisen.  Zunäch 
bei    der   Benennung   der  Heime.     Gegeben   sind  Noatün  und  (als  Pala< 
Walhöll:  »Schiff statte«  —  wohl  nicht  mehr  etymologisch  durchsichtig 
und  »Halle   der  Gefallenen«.     Nach   dem   letzten  Muster  wurden  Nameiid 
gebildet,  die  den  Sitz  nach  seinen  Bewohnern  bezeichnen:  Alfheim  »Elfei 
heim«1),   Thrymheim   für   die   Riesen   (der  Riesenname  Thrym   nach   b 
liebtem    Skaldengebrauch   für  den   Riesen    überhaupt),    Folkwang  »Volle  v 
gefilde«    für  Freyja,   weil    auch  ihr  viel  Volks  zukommen  soll.     (Deshal 
auch  die  Halle  Sessrümnir  »an  Sitzen  geräumig«,  mit  Suffix -nir!,  der 
Übereinstimmung,   mit  Beinamen  Pluton   wie   Ttolvdtxzrjg2),   daher  niclr 
beweist.)  —  Oder   noch   lieber   wird   der   Name   aus   dem  Charakter  d 
Gottes  abgeleitet:   Thors  Heim  heißt  »Welt  der  Stärke«,   der  Bezirk  v 
Walhall    »Welt   der   Freude« ,   der   Balders    »weiter  Glanz« ,   der   Forset 
(bei  dem  das  Dach  aus  Gold  und  Silber  motiviert  ist) 2),  »der  Glänzende«§ii 
Heimdall,  der  Himmelswächter,  wohnt  in  der  »Himmelsburg«.  —  Dritte 
werden   die   Namen   aus   dem   allgemeinen   Typus   der  Tempelumgebun 
gebildet:  Sökkvabekk,  wo  der  Bach  herabstürzt,   Widi  Wald  wiese  (?);  m 
Spezifikation    im    Sinne   der   vorigen    Gruppe  verbunden   Ydalir    »Eibe 
tal«.      Endlich    aus    dem    Namensteil    von    Walhall    und    dem    Hochsi 
Hlidskjälf  wird  der  Bau  Wälaskjälf  aufgebaut.  —  Absichtliche  Benennun 
scheint  hier  unmöglich  zu  verkennen.    Es  ist  ganz  dieselbe  Art,  wie  noc 
heute  Romandichter  ajtmodischen  Stils  die  Ortsnamen  für  ihre  Handlun 
erfinden. 

Was  die  anderen  Namensgruppen  betrifft,  möchte  ich  wetten,  da 
man  drei  Namen  wie  die  auf  -hrimnir3)  nirgends  findet,  wo  echte  alt 
Namengebung  vorliegt.  (Dagegen  ganz  von  der  gleichen  Art  der  Brunnfe 
Hvergelmir,  der  Urriese  Örgelmir  und  sein  Nachkomme  Bergelmir4). 

Deutliche  adjektivische  oder  appellativische  Namen  mit  überein 
stimmender  Suffixbildung  zeigen  ferner  Freki  und  Geri,  Muni  und  Hugii 
(Str.  19—20).  Älter  könnten  die  Namen  Sköll  und  Hati  (Str.  39)  für  di 
Sonnenwölfe  sein.  —  Auch  an  die  reimenden  Umschreibungen  für  dei 
Wolf  Fenrir,  Thiodvitnir  (Str.  21)  und  Hrodvitnir  (Str.  39),  der  ruch 
bare  Wolf,  ist  zu  erinnern. 

Vereinzelte  Namen:  Thund  (Str.  21)  für  den  angeblich  Walhall  um 
strömenden    Fluß   —    »die  Schwellende«    — ,   fast  zu    »passend   zu   den 


x)  Aber  warum  für  Frey?    Vgl.  Gering  zu  Str.  5. 

2)  Much,  Himmelsgott,  S.  269. 

3)  Vgl.  o.  S.  429.  4)  Str.  18;  vgl.  o.  S.  455. 
5)  Vaf.  Str.  261;  Gylf.  cap.  4 f.:  Gering  S.  300 f.    Etwas  anderes  ist  natür 

lieh  die  Bindung  mehrerer  Gesippter  durch  den  gleichen  einfachen  Namen 
bestandteil,  z.  B.  -vulf  (meine  Altgerm.  Poesie  S.  197)  oder  Gerwendill-Horwendi 
(Saxo  S.  86,  Hermann  S.  110). 


§  31.    Namengebung.  547 

olgenden« !).  —  Walgrind,  die  Totenpforte  (Str.  22)  zu  Walhöll  (Str.  23).  — 
ilskirnir  (Str.  24):  der  milde  Reinheit  ausstrahlt?  später  eingeschobene 
trophe;  der  Name  vom  Typus  Glitnir,  doch  zusammengesetzt.  —  Heidrun 
nd  Eikthyrnir  (Str.  25— 26) 2);  dazu  der  Baum  Läräd  (Schutzspender??).  — 
lätte  der  Dichter  die  Namen  erfunden,  so  hätte  er  sie  durchsichtig 
iemacht  und  untereinander  in  Beziehungen  gesetzt3).  Die  Namen  werden 
üs  der  Zeit  stammen,  in  der  die  Skalden  sich  des  mythologischen  Stoffes 
emächtigten:  es  werden  »kenningar«  sein,  poetische  Umschreibungen 
ie  Yggdrasil  auch.  — 

Fernere  Kataloge:  Eine  ganze  Reihe  von  »thulur«,  Namenlisten,  er- 
illen  Grimnirs  Gesang  im  feurigen  Ofen.  1.  Stromkatalog  Str.  27  f.: 
:0  Götterflüsse,  dann  Flüsse  der  Menschen4).  Einige  wenige,  wie  Slfd, 
ind  auch  sonst  belegt;  andere  haben  Abstraktnamen  wie  vielleicht  » Ver- 
weif lung«  und  »Hoffnung«5).  Auf  ein  wirkliches  Aufsammeln  verlorener 
lußnamen  deutet  das  sonderbare  »zwei  Kerlaugflüsse« G).  Die  Flußnamen 
ind  überall  besonders  mannigfaltig 7).  Im  Ganzen  haben  wir  wohl  einfach 
tue  übliche  thula:  rechte  und  unechte  Namen  gehäuft  (wieviel  Reime  und 
anklänge  sich  sogar  bei  echten  Ortsnamen  ergeben,  zeigen  Fontanes 
vlärkische  Klänge8). 

2.  Die  Rosse  der  Äsen  (Str.  30)  haben  ganz  junge  Namen9). 

3.  Yggdrasils  Bevölkerung:  nur  der  Name  Nidhögg  scheint  so  alt 
vie  der  von  Yggdrasil  selbst.  Ratatosk,  »Nagezahn«,  ein  künstlicher 
teme,  vielleicht  einfach  eine  Kenning  für  das  Eichhörnchen;  vier  mit  D 
lliterierende  Namen  für  die  Hirsche,  zum  Teil  alte  Zwergnamen  (weshalb 

x)  Heinzel-Detter  z.  St. 

2)  Vgl.  o.  S.  463. 

3)  Der  Name  Heidrun  kommt  auch  althochdeutsch  als  Chaideruna  vor  und 
■drd  Hyndl.  Str.  44 f.  appellativisch  verwandt  (Heinzel-Detter  2,  181). 

4)  Heinzel-Detter  2,  182. 

5)  Ebd.  nach  Falk. 

6)  Str.  29;  »Kerlaug  heißt  sonst  Wannenbad«  (Heinzel-Detter),  also 
vielleicht  Name  eines  dünnen  Flüßchens;  in  Leipzig  pflegten  wir  nach  dem  Bad 
:u  sagen:  »jetzt  geh  ich  in  die  Pleiße,  um  mich  abzutrocknen«. 

7)  Kleine  Probe  bei  Noreen,  Ortnamnen  i  Sverge,  Uppsala  1909,  S.  11. 

8)  Vgl.  R.  M.  Meyer,  Euphorion,  Erg.  H.  8,  S.  167.  —  Ähnlich  in  1.  Mos.2,8f.: 
die  geographischen  Vorstellungen,  die  diesen  Angaben  zugrunde  liegen,  sind  so 
dndlich,  daß  es  gänzlich  verfehlt  ist,  dies  Stromsystem  in  der  wirlichen  Geographie 
>estimmen  zu  wollen  .  .  .  Das  Weltbild  des  Verfassers  ruht  nur  zu  einem  Teil 
tuf  der  Wirklichkeit,  zum  anderen  Teile  aber  auf  Traditionen,  deren  Herkunft 
edenfalls  nicht  in  wirklichen  geographischen  Verhältnissen  gesucht  werden  kann.« 
junkel,  Genesis,  S.  7.  —  Allgemein  vgl.  H.  Berger,  Mythische  Geographie, 
juppl.  3  zu  Roschers  Lexikon. 

9)  Nicht  genau  wiederholt  Gylf.  cap.  15:  Gering  S.  310.  Eine  umfängliche 
Sammlung  von  Namen  für  Pferde  bei  Wein  hold,  Altnord.  Leben,  S.  48. 

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548  Achtes  Kapitel. 

solche  gewählt?);  Schlangen  mit  erfundenen  Namen:  »Gau-  und  Steppe  $ic 
bewohner«,    »Nagewolf«  und    »Feldzernager«,    »Graurücken«,   »Schlinge  ioldei 
macher«  und  »Einschläferer«  (von  der  betäubenden  Macht  des  Schlange 
blicks  vgl.  das  Naturmärchen  vom  Basilisk)  nach  Gerings  Verdeutschung.  - 
Wir  haben   kein  Recht,   hier  auch  nur  Einen  Namen  für  altüberliefert  2 
halten:  es  liegt  ganz  systematische  Namengebung  vor. 

4.  Walkürenliste  (Str.  36  f.):   von    der  gleichen  Art   wie   die   in   d 
Vol.;  hier  auch  Herfjötur.     Die  Reimspiele  noch  weiter  ausgedehnt. 

5.  Bezirk  der  Sonne  —  Gegenstück  zur  Weltesche.    Erfundene  Name 
mit  durchsichtiger  Bedeutung  für  die  Sonnenrosse,  den  Sonnenschild ;  noc  g 
unbenannt   die  Blasebälge;   alt  vielleicht1)   die  Namen   der   Sonnenwölf 

6.  Katalog  der  besten  Dinge  (Str.  44):  späte  Zusammenstellung  mei: 
junger  Namen. 

7.  Verzeichnis  von  Odins  Namen  (Str.  46 f.):  zumeist  echte  alte,  isoliert 
Namen  (wie  Grim,  Oski,  Omi)  oder  Beinamen  (wie  Herblindi,  Heerverblendei 
Siegvater,  Härbard  =  Graubart).  Diese  prunkvolle  Aufrollung  des  große 
Wappens  ist  ja  die  eigentliche  Spitze,  auf  die  das  ganze  Gedicht  gearbeite 
ist:  der  verkannte  Gott  soll  sich  »in  all  seiner  Furchtbarkeit« 2)  offenbarer 
und  Geirröd,  der  ihn  nun  sieht  (Str.  53),  stirbt  vor  Entsetzen  wie  Semele* 
oder  durch  den  Fluch  Odins  (Str.  52)  oder  durch  eine  verhängnisvoll 
Waffe,  wie  Much4)  will.  Hier  denn  haben  wir  eine  sicher  alte  thula 
Mag  auch  hier  der  theologische  Sammeleifer  interpoliert  haben5)  —  in 
Wesentlichen  liegt  eine  echte  priesterliche  Prunkliste  vor.  Jeder  diese 
Namen  bedeutet  ja  eine  Kraft,  eine  Funktion  oder  eine  Tat  Odins:  de 
Gott  verweist  auf  seine  Werke  wie  Jahve  bei  Hiob6).  Es  ist  eine  Tafe 
seiner  Trophäen,  die  dem  Zweifler  entgegengehalten  wird. 

Ihren  literarischen  Ursprung  haben  diese  Ruhmestafeln  einerseits  in 
den  uralten  Selbstberichten  der  Fürsten  7),  anderseits  in  den  Litaneien,  miil 
denen  ganze  Götterreihen  angerufen  werden8).  Solche»  Taten«  (res gestae/ 
liegen  wohl  auch  dem  Härbardslied  zugrunde  (Str.  16  f.)9).  Damit  konnten* 
die  Priester  bei  großen  Festen  und  Opfern  dem  Gott  schmeicheln  undf 
seine  Anhänger  betäuben.  Ich  erinnere  etwa  an  den  »Atlas  Marianus 
eines  Jesuiten,   der  alle  berühmten  Wallfahrtsstätten   der  Jungfrau  Maria [ 

!)  Siehe  o.  S.  352. 
2)  Müllenhoff. 
*)  Preller  1,  661. 

4)  H.  Z.  46,  313. 

5)  Vgl.  Finnur  Jonsson,  Oldnord.  Lit.  Hist.  1,  146. 
«)  cap.  38. 

7)  Vgl.  Misch,  Geschichte  der  Autobiographie,  Leipzig  1908;  B.  I. 

8)  Z.  B.  sechs  Adityas:  Geldner  und  Kaegi,  Lieder  des  Rigveda,  S.  21; 
oder  alle  Götter:  Graßmann,  Rig-Veda  1,  40. 

9)  Vgl.  Grim.  Str.  49 f.,  wo  jedem  Namen  eine  Anspielung  angehängt  ist. 


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§  31.    Namengebung.  54g 

ef;rzeichnet;   oder   an    ihre  Namenslisten   wie   in  Konrads  von  Würzburg 
ero Idener  Schmiede1). 

Dies  etwa  wird  der  Grundplan  der  Grimnismäl  sein:  Odin-Grimnir 
mkt  dem  Agnar  (Str.  1 — 3),  sieht  empor  zu  seinem  Heim  (Str.  4;  die 
Dpographie  von  Asgard  angeknüpft  —  Str.  17)  und  schildert  die  Wonnen 
tr  Halle,  die  ihn  und  (einst)  Agnar  erwarten  (Str.  19—20;  erweitert 
arch  Str.  18,  2—24;  echt  vielleicht  wieder  Str.  25—26;  angehängt  das 
lußverzeichnis  Str.  27 — 30),  und  auch  vielleicht  die  Schilderung  von 
ggdrasil,  durch  Str.  30  veranlaßt,  Str.  31—35).  Hier  werden  ihn  die 
Jfalküren  empfangen  (Str.  36;  angehängt  eine  Kosmographie).  Anrufung 
'es  Retters  (Str.  42 ;  an  die  Erwähnung  des  Kessels  vielleicht  der  Katalog 
er  besten  Dinge  Str.  44  mit  Doublette  Str.  43  gehängt).  Nun  folgt  die 
nthüllung  des  Antlitzes  (Str.  46—50)  und  die  strafende  Rede  an  Geirröd, 
i  der  lobenden  an  Agnar  das  unentbehrliche  Gegenstück  (Str.  51 — 53; 
igehängt  oder  wegen  der  Nennung  »Odin«  Str.  53  an  falsche  Stelle 
eschoben  eine  neue  nafnathula  Odins  (Str.  54). 

So  haben  wir  erstens  ein  Lied  »von  König  Hraudungs  Söhnen«,  wie 
ie  alte  Oberschrift  lautet:  Odin  erscheint  bei  seinem  Pflegesohn,  um  ihn 
1  prüfen,  wird  schlecht  aufgenommen  und  überträgt  seinen  Segen  von 
ieirröd  auf  Agnar;  zweitens  die  Grimnismäl:  Erweiterung  dieses  alten 
iedes  zu  einem  großen  Kataloggedicht  über  die  Welt  (Str.  31  f.),  den 
limmel  (Str.  37  f.),  die  Elemente  der  Erde  (Str.  40 — 41);  mit  einer 
etaillierten  Schilderung  von  Walhall  (Str.  18  f.)  und  seiner  Umgebung 
Str.  4  f.)  samt  den  Himmels-,  Unterwelts-  und  Erdenflüssen  (Str.  27  f.). 
cht  aber  und  alt  sind  die  Namen ,  die  Odin  selbst  und  seine  Walküren 
1  ihrer  Pracht  zeigen  —  auch  von  Reimschmuck  bedeckt,  aber  von  dem 
^sinnigen  Klingklang  etwa  der  Zwerglisten  frei. 

Die  Form  der  Einkleidung  der  Grimnismäl  ist  der  heroischen  Dichtung 
sitlehnt:  jenen  »Rückblicksgedichten«2)  wie  dem  Hrökslied:  »Ein  Held 
bricht  ...  an  fremdem  Hofe  von  seiner  ruhmreichen  Vergangenheit  und 
ibt  sich  zu  erkennen«3)  —  fast  genau  die  Formel  für  unser  Gedicht!  — 
)der  ähnlich  auch  die  Liebhaberei,  sich  im  Aufzählen  von  Fertigkeiten 
ithröttir)  zu  überbieten4).  —  Ich  glaube  schon  deshalb  nicht,  daß  man 
lit  Much 5)  für  die  Rahmenfabel  uralte  mythologische  Tradition  (bis  zum 
laldermythus  hin!)  annehmen  darf. 


J)  Vgl.  Salzer,  Die  Sinnbilder  und  Beiworte  Mariens,  Linz  1893. 

2)  Heusler,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,252:  eine  isländische  Neubildung;  Eddica 
linora  S.  XXXII;  XLI. 

3)  Ebd.  S.  XXXIV. 

4)  Wein  hold,  Altnord.  Leben,  S.  463. 

5)  Der  Sagenstoff  der  Grimnismäl,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  46,  309. 


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550  Achtes  Kapitel. 

Die  Vafthrudnismäl  sind  von  vornherein  lehrhaft  oder  vielmeh 
gelehrt  angelegt.  Odin  berichtet  dem  Riesen  von  der  Gegenwart,  diese 
ihm  von  Vergangenheit  und  Zukunft  der  Welt.  Auf  Kosmogonie  un< 
Eschatologie  ist  es  also  abgesehen;  die  Kosmologie  steht  nur  ergänzen! 
dazwischen. 

Wir  betonten   wiederholt,   daß  das  Gedicht  viel  gutes  altes  Materia 
zu  bergen  scheint.    Wo  es  aber  neue  Namen  bringt,  liegt  die  systematisch 
Mache   noch   viel    deutlicher  als  in  Grim.  zutage.     Der  Dichter  hat  seim 
Lieblingsworte,  die  er  suffixartig  zur  Bildung  korrelater  Namen  verwendet 
Skinfaxi  und  Hrzmfaxi  (Str.  12—14),  die  Hengste  mit  leuchtender  bzwf1 
bereifter  Mähne:    die   drei  Brüller  Bergelmir  (wie  ein  Bär,  Str.  29 — 35) JC 
Thrüdgelmir  (mit  Kraft),   Oergelmir  (mit  Macht)  brüllend  —  alle  woh  v,e 
von   dem    (selbst   kaum   alten)    Hvergelmir  (Grfm.  Str.  26)  erzeugt1)   —  m 
thrasir    »verlangend« :    Lifthrasir    (Str.    45)    »nach    dem    Leben    ver  el0 
langend« ,   das   er  als  Lebensgefährtin  Lif  doch   schon   neben   sich   hat  r 
Mögthrasir  (Str.  49)  »Söhne  verlangend«.  —  Eine  andere  Methode  ist  die )lei 
gut  skaldische,  mythische  Namen  appellativisch  als  zweite  Bestandteile  zu"ie 
verwenden2):  so  bildet  er  Hoddmimir  (Str.  45).    Oder  er  plündert  sonsl^ 
die  Mythologie;  da  Nidhögg  Leichen  frißt,  gibt  er  höchst  seltsamer  Weise 
dem  Windgott  den  Namen  Hraeswelg,  »Leichenfresser«:  ein  Sarkophagos^1 
in  Adlergestalt  am  Himmelsrand,   wo   doch   keine  Leichen   sind!     Doch 
könnte   er  auch  den  Namen  aus  der  Eigenschaft  des  Adlers  als  Tier  des 
Schlachtfeldes  genommen  haben;   es  wäre  eine  Kenning  Name  geworden 
wie  (Str.  47) 3)  in  Alfrödul  —  »Elfenstrahl«  für  die  Sonne.  —  Erfunden 
scheint  Wigrid,  Kampfplatz,  wenn  es  nicht  auch  einfach  eine  Umschreibung  $ 
war.  —  Bleiben  die  Namen  Ifing  (Grenzfluß  Str.  16),  Delling  und  Nor 
(Str.  25,   aus   dem   Stabreim  mit   Dag,    Tag   und  Nött,   Nacht   geboren;'" 
Windswal ,   der  Windkalte,  Vater  des  Windes;  und  Svafud  der  Mildejf 
Vater  des  Sommers   (Str.   27).     Will    man    aus   all    diesem   Wust    doch) 
Einen   Namen   retten,    so   sei   es   Ifing  (zu   ify    wenn,   wie  Idun   zu   id 
abermals 4). 

Ich  glaube,  wir  haben  die  Namenfabrikation  hier  auf  frischer  Tat 
erwischt.  Bei  allem  Geschick  der  Anordnung  macht  das  Gedicht  zuweilen 
einen  fast  komischen  Eindruck;   es  erinnert  an  den  braven  Bauern,   dem 


*)  Ebenso  sind  die  willkürlich  erfundenen  Namen«  der  Titanen  auf  den 
Grundton  des  Brüllens  abgestimmt :  Enkelados  der  Tobende ,  Lärmende 
(Preller  1,  69)  —  auch  als  Name  für  Gebirgsbäche  wie  -gelmir  für  den  Welt- 
strudel (ebd.  Anm.  3)  — ;  Polybotes  der  Brüller  (ebd.  S.  70). 

2)  Wiel  öl-Gefjon:  Golther  S.  447,  men-Skögul;  ebenso  Loddfäfnir  Häv. 
Str.  110  f. 

3)  Vgl.  Skirn.  Str.  4;  Gering  S.  67. 

4)  Wie  vielleicht  Vishnu  px  vi,  fort ;  vgl.  M  a  c  d  o  n  e  1 1  S.  28. 


§  31.    Namengebung.  55  \ 

weniger  imponierte,  daß  man  so  viel  über  die  Sterne  herausgebracht  hat, 
s  daß  man  erfahren  hat,  wie  sie  heißen. 

Alvfssmäl.    Die  Alvfssmäl  sind  ehrlicher.    Sie  geben  sich  wirklich 
s   ein  System   erfundener  Benennungen   im  poetischen  Stil  und  machen 
us   »Riesenfeuerung«  oder  »Feldmähne«  (Str.  29)  keinen  Eigennamen  für 
en  Wald,  in  dem  (Völ.  Str.  40)  die  Alte  saß.     Aber  merkwürdigerweise 
at  gerade  dies  Gedicht  eine  Anzahl  einfacher  »heiti«,  Benennungen,  er- 
halten, die  ursprünglich  individuelle  Meinung  gehabt  haben  könnten :  wie 
kinna1)  die  Sonne,  könnte  Marr  das  Eine  Meer  bedeuten;  Völlr2)  scheint 
/irklich  der  ursprüngliche  Name  des  Feldes  vor  Walhall  zu  sein,  wo  die 
jötterschlachten  stattfinden3)  —  dies  »Feld«  hatte  schlechtweg  so  geheißen 
vie    der   Campus    Martius    einfach    Campus4).      Endlich   Fune   »Feuer« 
önnte    ursprünglich    das    »Zentralfeuer«    bedeutet   haben,   das   Feuer  an 
einem  Sitz  (später  Muspellsheim).    Aber  an  dem  Wort  Njött  für  Nacht 
cheitert  diese   allgemeine   Erklärung,   die   nur  für   Völlr  wahrscheinlich 
)leibt.     Es   wäre   ein    »Ehrenname«:   wie   ein    Gott   schlechtweg  »Herr«, 
ließe  dies  wichtigste  aller  Felder  schlechtweg  »Feld«.    Und  weshalb  sollte 
ier  Mistelzweig  nicht  gerade  diesem  Schicksalsboden  entsprossen   sein5)? 
So  können  wir  die  Namensgeschichte  der  altgermanischen 
pottheiten  ganz  leidlich  übersehen:  wie  sie  vom  Volk  zu  den  Priestern 
(«am,  von  den  Priestern  zu  den  Dichtern,  von  den  Dichtern  zu  den  Gelehrten. 
Der  Dichter  der  Grim.  ist  ein  theologischer  Sammler  und  Namenschmied, 
ier  der  Vafthr.  ein  theologischer  Namenschmied  und  Sammler.    Und  wie 
>teht   es   mit   dem    mit   Götterbildern    überdeckten    Hauptpfosten    des  alt- 
germanischen  Tempels:  mit  Snorri? 

Seine  Namengebung  ist  von  höchster  Bedeutung  geworden.  Im  Ganzen 
riegt  ja  auf  der  Hand,  daß  die  Prosa-Edda  vor  allem  Auszüge  aus  den  Liedern 
'erarbeitet;  die  Texte  sind  in  Gerings  Obersetzung  der  Edda  bequem  kenntlich 
[gemacht  Die  Abhängigkeit  ist,  wo  solche  Quellen  nachzuweisen  sind  (die 
Snorri  ja  oft  selbst  als  Verse  zitiert),  meist  so  groß,  daß  wir  ihm  in  solchen 
fällen  wenig  Spielraum  zutrauen  dürfen.  Wenn  z.  B.  gleich  im  Anfang 
yon  Gylfis  » Augen verblenn'n«  (um  mit  Fritz  Reuter  zu  reden)  zwölf  Namen 
angeführt  werden,  die  Allvater  in  Asgard  besaß6)  und  diese  in  Odins  Ver- 
klärung7) nicht  alle  stehen,  so  dürfen  wir  diejenigen,  die  den  dort  erhaltenen 

*)  In  nordischen  Gedichten  nur  hier  Helm,  PBB.  32,  107. 

2)  Vgl.  Vaf.  17,  3;  18,  1.  4. 

3)  Vgl.  Völ.  Str.  24,  1;  66,  3;  Grim.  Str.  22,  1;  nur  Völ.  Str.  32,  3  paßt  an 
ien  von  Helm  angezogenen  Stellen  nicht  sicher  hierher.  —  Es  wäre  ein  wichtiger 
Beweis  für  die  guten  Quellen  der  Völ. 

4)  Vgl.  Wissowa  S.  130. 

5)  Völ.  Str.  32. 

6)  Gylf.  cap.  3:  Gering  S.  299. 
"')  Grim.  Str.  46  f. 


552  Achtes  Kapitel. 

völlig  gleichartig  sind,  nicht  für  erfunden  halten:  er  hat  sie  in  andere« $ 
Namenslisten  gefunden;  bieten  doch  die  Grim.  selbst  am  Schluß  eirpfl 
Doublette.  Freilich  hat  er  oft  falsch  gefolgert  und  etwa  Odins  Nebeij 
buhler  *)  Wili  und  We  zu  seinen  Brüdern  gemacht,  um  wie  bei  Frey  ui 
Freyja  die  Schuld  zu  erhöhen.  (Immerhin  könnte  man  anführen,  di 
Wili  und  We  früher  mit  Wodan  alliteriert  hätten ;  dann  müßten  sie  wol 
mit  Hönir  und  Lodur  zusammenfallen.)  —  Ebenso  steht  es  mit  seine| 
Namenlisten  wie  (cap.  4)  der  der  Ströme. 

Wir  halten  deshalb  viele  Namen,  die  sich  nur  bei  Snorri  finden,  fü| 
echt;  so  bei  der  Weltschöpfung  (cap.  6)  vielleicht  Audumla,  sicher  Bui 
von    dem  Bui   vielleicht   nur  eine  Variante  ist.     Bolthorns  Tochter  Bestll 
ist   wohl    aus    Häv.    Str.    140    aufs    Geratewohl    geholt.    —    Hlidskjd{hh 
(cap.  9)   wird  nur  in  den  Einleitungen  zu  Skirn.  und  Grim.  genannt;  e  rzä 
bedeutet  einfach  »Türbank«2)  und  gehört  mit  Wälaskjälf 3)  zusammen,  is  ir 
wohl  aber  älter.    (Ach  hätten  wir  erst  Edward  Schroeders  Buch  über  du 
Gesetze  und  die  Entwicklung  der  germanischen  Namen!)    Narfi  (cap.  10 
stammt  aus  Vaf. ;   daß   aber   ihr   erster  Mann  Naglfari  heißt  nach  Hrym 
Schiff  Naglfar4),  spricht  für  die  Deutung  dieses  Schiffes  als  »Totenschiff« 
Folgen   Namen    aus   vielerlei   Quellen;    daß    uns   für   Isarnkol    (cap.    11 
keine  solchen  erhalten  sind,   macht  Snorri  noch  nicht  zum  Lügner.    Ver 
dächtig  sind  zuerst  die  Namen  der  Mondphasen  und  ihrer  Geräte :  Eimer 
und  Stange,  sowie  ihres  Vaters.    Keinen  Beleg  in  Eddaliedern  hat  weiter 
die   Halle   Wingolf  (cap.    14);   die  gewiß   nicht   volkstümlichen   höheren 
Himmel  (aus  falscher  Deutung  von  upphiminn,   Himmel  über  der  Erde, 
entstanden?)  mit  ihren  wohlfeilen  Namen  (cap.  17);  die  sicher  erfundenen, 
aber   nicht    notwendig   eben   von   Snorri   erfundenen   Pendantnamen   der|n 
Böcke  Thors   (cap.  21;   Typus   Skinfaxi   und   Hrimfaxi);   der  Name  Sess- 
rümnir  »an  Sitzen  reich«  für  Freyjas  Halle  in  Folkwang  (cap.  29),  natürlich 
jung:  sie  muß  viel  Plätze  für  die  halbe  Wahlstatt  haben.    Hallinskidi  und! 
Gullintanni  (cap.  27)  sind  Kenningar  für  den  Widder,  wie  auch  Heimdall 5)  I 
und  auf  Heimdall  gewiß  nicht  erst  von  Snorri  übertragen6).  3 

Helblindi ,  wohl 7)  Hod ,  wird  von  Snorri  zuerst  zu  Lokis  Bruder 
gemacht,  gewiß  aber  nicht  so  genannt  sein.  Ganz  sein  Konto  aber  werden 
die  systematisch  gewählten  allegorischen  Namen  für  Hels  Gesinde  (cap.  34) 
belasten.  Ebenso  wohl  all  die  Requisiten  von  Lokis  Fesselung:  die  Fesseln 
Leding,    Drömi    und    Gleipnir8);   die   Insel  Lyngwi   am  See  Amswartnir; 


n 


x)  Lok.  Str.  26.  2)  Golther  S.  324. 

8)  Grim.  Str.  6.  4)  Vol.  Str.  50. 

5)  Vgl.  Golther  S.  360  Anm.  1. 

6)  Eine   seltsame  Beziehung  zwischen  dem   (Widder-)  Fell  und  (Heimdalls 
Met,  dem)  Tau  auch  bei  Gideon  (Richter  6,  37—40). 

7)  Siehe  o.  S.  350.  8)  Vgl.  Kock  S.  108. 


§  31.    Namengebung.  553 

is  Schnurende  (!)  Gelgja  und  der  Beschwerstein  Gjöll  sowie  der  Anker- 
ein Thuiti;  endlich  der  Speichelfluß  Wan  (cap.  34).  Hier  ist  doch  die 
bsicht,  alles  mit  Namen  zu  bestecken,  gar  zu  deutlich.  Woher  die 
amen  stammen?  Gleipnir,  von  dem  Modetypus  Mjölnir— Sleipnir— Glitnir— 
ddbladnir  —  und  wohl  auch  Leding  und  Drömi  hat  er  sich  vielleicht 
clbst  erlaubt;  andere  Namen  mögen  von  einer  Lokalität  stammen,  wo 
okis  Merlinsgrab  gezeigt  wurde  x).  —  Ober  die  Asinnen  (cap.  35)  haben 
ir  ausführlich  gehandelt;  neu  ist  gewiß  Gnäs  Roß,  der  » Hufwerfer < 
öfwarpnir  mit  dem  neuen  Suffix  für  göttliche  Utensilien.  Neu  ist 
ymirs  Gattin  Aurboda  (cap.  37) 2)  und  Thjälfis  Schwester  Röskwa,  die 
asche  (cap.  44) ;  die  allegorischen  Namen  in  Utgard  (cap.  45  f.)  einschließ- 
en des  zu  Ymir,  Hymir,  Gymir  so  gut  passenden  Skrymir(?);  in  der  Hymir- 
rzählung  der  Name  Himinhrjödr  »Himmelbrecher«  (vgl.  »skyscraper« 
iir  hohe  Häuser  in  Amerika)  für  Hymirs  Stier  (cap.  48),  wohl  Leistung 
Morris  wie  die  Benennung  von  Balders  Leichenschiff  Hringhorni  (mit 
lindem  Steven?  cap.  49);  die  durchsichtigen  Namen  von  Friggs  Eber 
mit  goldenen  Borsten«  oder  »mit  schlimmem  Gebiß«;  Snorri  gibt  die 
Zahl  des  Namens  frei);  die  Wächterin  Mödgud  (Walkürenname)  am 
ilöllenfluß  Gjöll. 

Ähnlich  in  den  Bragarödur,  wo  die  gereimten  Zwergnamen  Fjalar 
nd  Galar,  die  Krüge  »Sühne«  und  »Angebot«3),  das  Vorgebirge  Hnit- 
jörg  (die  zusammenstoßenden  Berge,  Symplegaden) 4)  und  mit  anderen 
[amen  der  des  Bohrers  Rati  (cap.  4)  neu  sind.  Und  entsprechend  werden 
ir  Snorri  für  Grids  Stab  Gridarwoll 5)  für  die  Schwertnamen  Hrotti  und 
efil  (cap.  5)  verantwortlich  machen  dürfen  —  doch  da  sind  wir  schon 
i  die  Heldensage  hineingeraten. 

Zusammenfassend  dürfen  wir  sagen:  erstens:  zwischen  den  Edda- 
tfdern  und  Snorri  ist  der  Prozeß  der  Benennung  aller  Anonyma  Weiter- 
ungen; nach  Mjölnir  war  (schon  in  Veg.)  Sleipnir  genannt  worden, 
iin  kamen  dazu  viele  Namensvettern  der  Sippe  -nir  (ich  nenne  noch 
Mlskinir,  Salgofnir,  Vidofnir).  Man  lokalisierte  Lokis  Fesselung;  man 
rächte  alte  Mythen6)  und  Märchen  (wie  das  von  Bölverk)  zu  den  Göttern  in 
ielleicht  neue  Beziehungen.  So  kamen  viele  neue  Namen  in  die  Prosa- 
idda.  Zweitens:  Snorri  selbst  ging  auf  diesem  Pfade  nur  weiter,  wo  er 
laubte,  keinen  Schaden  anstiften  zu  können  bei  der  durchsichtigen  Allegorie 


J)  Vgl.  die  griechischen  Unterweltspforten  Preller  l,*810f. 

2)  »Die  Hingestreckte«?    Gering  S.  53. 

3)  Vgl.  Kock  S.  109. 

4)  Gering  S.  355. 

5)  Skäldsk.  cap.  2. 

6)  Wie  vielleicht  den  von  den  Symplegaden ;  vgl.  auch  Kuhn,  Mythol.  Studien, 

135. 


554  Achtes  Kapitel. 

der  Wirtschaft  Hels  und  bei  seiner  Liebhaberei,  alle  Werkzeuge  zu  taufer 
Eimer,  Stangen,  Stäbe,  Fesseln,  Krüge,  auch  Rosse,  Stiere  und  schließlic 
nach  heroischem  Muster  in  der  Heldensage,  Schwerter. 

Saxo  nimmt  wieder  einen  eigenen  Standpunkt  ein.  In  den  meisten  Fällei 
bedient   er  sich  ja  überlieferter  Namen1),   wenn  er  sie  auch  gelegentlic 
volksetymologisch   umformt2).     Auch  verletzt  ihn  Namenlosigkeit  nicht3 
die  Snorri  so  streng  vermeidet.    Für  die  Schwerter  findet  er  schon  über 
Namen  vor4).    Aber  einige  Namen  dürfte  auch  er  erfunden  haben.    Un 
dann  nimmt  er  ganz  abstrakte  wie  Scalcus  (»Diener«)5)  —  wie  sogar  ei 
Slawenkönig  heißt6);  Rostiophus  (»Roßdieb«,  für  einen  Finnen)7).    Wed 
(Vetka- Zauberin    für    eine    solche)8),    Thengillus   (König)9)    und  Bolwi  es 
(Übelweise,  für  den  schlimmen  Ratgeber)10);  Frakki  (»Krieger«)11).     Als«  lii 
reine  Appellativa 12).  —  Oder  er  überträgt  mythologische  Namen:  Uggerus 
Yggr,  Odinsname13),  Gestiblindi  (ebenso)14),  Eggtherus  (Hüter  der  Unter  | 
weit1-).  —  „c 

Anhangweise  noch  ein  paar  Worte  über  die  Namen  der  Götterliede  j„ 
selbst16).     Die   meisten  Gedichte  sind  so  benannt,   daß  dem  Namen  de  jr, 
Hauptperson    die   Art   des  Gedichtes   beigesetzt   ist:   Vafthrüdnismäl  \\ 
Grimnismäl,   Alvissmäl:   Sprüche   des  Vafthrüdnir,  Grimnir,  Alviss;   ent  „■ 
sprechend  Hävamäl,  weil  sie  Här,  d.  h.  Odin  in  den  Mund  gelegt  sind 
Thrymskvida:    Erzählung  von  Thrym;    Härbardsljöd,   Lied    von  Härbard 
Lokasenna  —  wenn  man  es  kollektiv  faßt:  Lokis  Scheltreden;  Rigsthula 
Namenverse,  an  Rigs  Person  geheftet.    Eine  Ausnahme  machen  wenige  Ge| 
dichte,  die  nach  der  Handlung  benannt  sind:  För  Skirnis,  Skirnirs  Fahrt  (di 
Handschrift  A  hat  auch  hierfür  Skfrnismäl,  die  Sprüche  des  Skfrnir);  Balderl 
Draumar,    Balders  Träume  (spätere  Bezeichnung:   Vegtamskvida,   die  Eli 
Zählung  von  Vegtam) ;  hierher  auch  Lokasenna,  wenn  man  es  als  Handlung  -t 

1)  Vgl  Olrik,  Kilderne  1,  19;  über  die  Namensformen  ebd.  S.  84. 

2)  Ebd.  S.  87:  Starkadr  als  mit  »Hader«  komponiert. 

3)  Ebd.  S.  19.  B 

4)  Starkads    »teutonisches   Schwert«    Snyrtir   S.  69  bez.   82;    Uffos   Schwedt 
Skrep  S.  166  bez.  155;  Olos  Schwert,  das  Lögthi  hieß,  S.  254  bez.  338.  ,, 

5)  S.  59.  161  f.  bez.  77.  215t. 

6)  S.  51  bez.  66. 

7)  S.  78  bez.  100.  —  Wie  etwa  Lessing s  Riccaut    Seigneur  de  Pret-au-vol«!1 
(Druckfehler:  Pret-au-val)  heißt. 

8)  S.  80  bez.  102.  9)  S.  165  bez.  220. 
10)  S.  232  bez.  309.  n)  S.  185  bez.  275. 
ls)  Vgl.  für  Skalk  Kilderne  2,  53;  für  Thengill  S.  54;  für  Frakki  S.  79.  - 

Anders  (gegen  Storm)  Lathgertha;  siehe  ebd.  S.  105. 
1S)  S.  158  bez.  211. 

14)  S.  160  bez.  215;  vgl.  Olrik  a.  a.  O.  S.  57. 

15)  S.  168  bez.  220. 

16)  Vgl.  die  Übersicht  bei  Heinzel-Detter  I  S.  VIII  f. 


'li 


! 


§  31.    Namengebung.  555 

immt:  Lokis  Wortstreit,  und  die  späteren  Titel :  Hamarsheimt,  Holen  des 
ammers,  und  Oegirsdrecka,  Ägirs  Mahl ;  endlich,  besonders  charakteristisch : 
hörr  drd  Mithgardsorm :  wie  Thor  die  Midgardschlange  herauszog  (in  der 
rnamagnäanischen  Handschrift  wieder  dafür  Hymiskvida,  Erzählung  von 
(ymir).  Die  prosaischen  »Hypothesen«  haben  im  Codex  Regius  R  be- 
>ndere  Titel:  von  den  Söhnen  König  Hrauthungs  (vor  Grirn.),  von  Ägir 
nd  den  Göttern  (vor  Lok.);  ebenso  »von  Völund«  (vor  dem  »von  Völund 
nd  Nidod«  betitelten  Gedicht  Völundarkvida;  A  unterscheidet  dagegen: 
von  König  Nidhod«  die  Prosa).  —  Entsprechend  sind  die  Titel  der 
röteren  Stücke:  Hyndluljöd,  Lied  von  Hyndla,  Grogaldr  Gröas  Zauber- 
esang, Fjölsvinnsmäl  die  Sprüche  des  Fjölsvidr;  anders  nur  Grottasöng, 
ühlengesang,  nach  der  Örtlichkeit  benannt. 

Anzumerken  ist  zunächst:  es  gibt  keine  »theophore«  Überschrift, 
I.  h.  keine,  die  einen  offiziellen  Gottesnamen  enthält  —  außer  Hävamäl 
nd  Rigsthula,  wo  aber  eigentlich  auch  schon  ein  Verkleidungsname  vor- 
Qgt  Sonst  werden  die  Götter  nach  den  Namen  ihrer  Masken  benannt: 
:irimnir,  Härbard,  oder  die  Gegenspieler  geben  den  Titel:  Thrym,  Hymir, 
afthrudnir,  Alviss.  Anders  steht  es  nur,  wo  das  Gedicht  nach  dem 
nhalt  benannt  ist:  Skfrnis  Fahrt,  Thor  zieht  die  Weltschlange  heraus, 
nd  eventuell  Lokis  Wortstreit.  Offenbar  sollten  die  Götternamen  nur  da 
Is  Überschrift  verwandt  werden,  wo  der  Gott  allein  spricht  oder  die 
landlung  führt:  Hävamäl,  Skirnismäl.  Handelt  es  sich  nur  um  ein  Götter- 
benteuer,  so  ist  der  Name  des  riesischen  (oder  zwergischen)  Gegenübers 
harakteristisch.  —  Dies  führt  nun  zu  der  nur  aus  Zitaten  bekannten  Über- 
bhrift  Völuspä.  An  der  Echtheit  dieses  Titels  ist  nicht  (wie  bei  Aegis- 
rekka  statt  Lokasenna)  zu  zweifeln.  Ein  halbgöttliches  Wesen,  eine 
eherin,  spricht  ja  den  ganzen  Inhalt.  Zu  beachten  ist  aber,  daß  trotzdem 
iicht,  wie  bei  den  Hävamäl,  die  Bezeichnung  -mal  gewählt  ist.  Diese 
cimlich  wird  gebraucht,  wenn  die  vorgetragenen  Sprüche  als  die  Haupt- 
iche  erscheinen:  die  Mitteilungen  des  Vafthrüdnir,  Grimnir,  Alviss  über 
i/elt,  Welten,  Benennungen;  die  Weisheitssprüche  des  Hohen.  Und  so 
rschien  also  den  Späteren  auch  nicht  die  Fahrt  Skirnirs  als  die  Haupt- 
ache,  sondern  seine  Zaubersprüche.  Dagegen  sind  bei  den  Abenteuern 
ait  Thrym  und  Hymir  die  Erlebnisse  der  Kernpunkt,  die  Reden  Neben- 
ache,  und  bei  Härbardslied  und  Lokasenna  der  Wortstreit  selbst,  nicht 
lie  Reden  im  Einzelnen.  Das  ist  alles  ganz  konsequent  (für  Grimnismäl 
wenigstens  in  ihrer  jetzigen  Form).  Und  wenn  also  das  erste  Gedicht 
die  Verkündigung  der  Seherin«  heißt,  so  liegt  der  Akzent  auf  der 
landlung:   auf   der   enthusiastischen  Verzücktheit   der   Prophetin1).     Die 

*)  Auf  die  ja  auch   wiederholt  hingewiesen   wird:  Str.  28 f.  wird  ihre  Er- 
nnerung  zur  Vision;   ebenso  Str.  35 f.  64  —  das  Wort  »sehen«   herrscht  in  der 


556  Achtes  Kapitel. 

völva  schickt  ihren  Geist  zu  den  fernen  Zeiten;  diese  seine  Fahrt  ist  d 
Handlung,  von  der  er  die  Sprüche  mitbringt.  Und  so  war  es  ursprünglic 
gewiß  auch  bei  Rigs  Fahrt  (är  quadu  ganga,  »man  erzählte  einst  vc 
seinem  Wandeln«  vielleicht  der  ältere  Titel)  *);  erst  später  werden  die  Denl  ^ 
verse  mit  den  Namen  der  Standespersonen  (wie  die  Zaubersprüche  bi1 
Skirnir)  Hauptsache  —  eine  charakteristische  Wandlung:  vom  Epos  zui 
Lehrgedicht 2). 

§  32.    Charakteristik  der  Götter. 


Die  Mythen  charakterisieren  die  Götter  durch  ihre  H  a  n  d  1  u  n  g  e  n 8  § 
Aber  daneben  braucht  man  noch  unmittelbare  Mittel  der  Kennzeichnung  ebe 
Neben  der  von  uns  geprüften  Benennung  ist  als  eine  verwandte  Art  de  Jon 
Kennzeichnung  das  Verleihen  von  Beinamen  zu  betrachten,  d.  h.  di 
Charakteristik  durch  Eigenschaftswörter4). 

Beinamen  sind  im  Norden  ungemein  beliebt,  was  sich  schon  aus  deN 
Häufigkeit  der  gleichen  Namen  erklärt;  sie  führte  auch  in  Deutschland  vor^ 
12.  bis  zum  H.Jahrhundert  zu  dem  Aufblühen  der  Beinamen,  »in  welche^ 
großenteils  unsere  heutigen  Zunamensich  entfaltet  haben«5).  Einer  reicht 
haltigen  Übersicht  bei  Weinhold 6)  ließ  ein  halbes  Jahrhundert  späte  ßt 
Finnur  Jönsson  seine  äußerst  sorgfältige  erschöpfende  Darstellung  folgen7^1 
Sie  sind  belegt  besonders  aus  dem  9. — 10.  und  dann  wieder  aus  denP 
12. — 13.  Jahrhundert.  Finnur  Jönsson  nimmt8)  aber  an,  daß  sie  gleichP 
mäßig  fortgedauert  haben.  Sie  könnten  doch  wohl  während  des  Nieder 
gangs  der  altheimischen  Dichtung  auch  selbst  nachgelassen  haben.  —  Ef 
sind  weitaus  am  häufigsten  Substantiva,  danach  Adjektiva  und  Participia9) 


t)( 


zweiten  Hälfte  (Heinzel-Detter  2,  38).  Auch  die  Arbeit  des  Besinnens  wirc 
vorgeführt:  Str.  2.  21.  27.  29;  und  in  dem  Refrain  »könnt  ihr  weitres  verstehen«  - 
oder  besser  wohl:  »Wollt  ihr  noch  mehr  wissen?  und  was?«  (vgl.  Heinzel-j 
Detter  2,  37)  —  Str.  29  f.  —  wird  versinnbildlicht,  wie  die  Seherin,  gleichsam 
eine  Improvisatorin  der  Weltkenntnis,  ihren  Geist  auf  bestimmte  Punkte  richtet 
als  hätte  sie  die  Corona  —  Str.  1  —  befragt. 
*)  Heinzel-Detter  1,  169. 

2)  Zum   Namen   Edda  vgl.  neuerdings  Neckel,   Anz.  f.  d.  Alt.  50  (1908) 
S.  159. 

3)  ygl.  Olrik,  Danske  Studier  1904,  S.  135. 

4)  Über  die  Berührung  von  Götternamen  und  Epithetis  vgl.  meine  Altgerm. 
Poesie  S.  497;  vgl.  auch  o.  S.  541.    Allgemein  über  Epithela  der  Götter  vgl.  für 
die  Griechen  C.  F.  Bruch  mann,  für  die  Römer  J.  B.  Carter  in  den  Supplement 
bänden  von  Roschers  Lexikon,  Leipzig  1902. 

5)  J.  Grimm,  Kl.  Sehr.  2,  355. 

6)  Altnord.  Leben  S.  277  f. 

7)  Tilnavne  i  den  islandske  Oldliteratur,  Kjobenhavn  1908;  und  in  Aarböger 
for  nord.  Oldkyndighed  1907. 

8)  S.  369.  9)  S.  362. 


§  32.    Charakteristik  der  Götter.  557 

>n  verschiedenartigstem  Ursprung,  nach  Herkommen  und  Alter,  körper- 
:|:her  Eigenheit,  Rüstung  und  Kleidung,  geistigen  Eigenschaften,  Beruf 
nid  Stellung  gewählt;  sie  loben  oder  tadeln,  dies  noch  häufiger.  Sehr 
|llten  sind  sie1)  aus  der  Mythologie  entlehnt:  während  deutsch2)  die  ent- 
gehenden Namen  aus  der  Heldensage  sehr  beliebt  sind.  —  Formell  ist 
ri  bemerken,  daß  der  Beiname  gern  mit  dem  Hauptnameh  alliteriert3): 
rrafn  hdvi. 

Derartige  charakterisierende  Beinamen  zu  Personennamen 
hlen  schon  der  Edda  nicht 4)  und  sind  schon  dort  fest ;  auch  sie  reimen 
itürlich  gern5).  Aber  wie  schon  hier  die  Absicht  der  Kennzeichnung 
eben  der  des  Rühmens  zurücktritt  (beide  noch  vereinigt,  wie  wenn  wir 
m  »Friedrich  dem  Großen«  unterscheidend  sprechen),  so  ist  doch  gar 
ei  göttlichen  Wesen  das  Epitheton  völlig  der  idealisierenden  Stilisierung 
itertan 6).  Die  gewöhnlichen  Beinamen  geben  dem  idealisierenden 
(auptnamen  gern  eine  realistische  Ergänzung 7) :  Henricus  dictus 
Iselescop.  Den  Göttern  gegenüber  aber  ist  eigentlich  jede  Nennung 
:hon  eine  Entwürdigung  (weshalb  so  oft,  z.  B.  bei  den  Juden,  die 
ennung  des  heiligen  Namens  verboten  wird):  hier  muß  also  das  Beiwort 
'st  recht  »epitheton  ornans«  sein.  Wo  aber  der  Gott  sich  unter  die 
lenschen  mischt,  da  wird  auch  er  charakterisiert;  so  bleibt  in  der  Hym. 
iisbesondere  kein  Name  ohne  kennzeichnendes  Beiwort:  der  weise,  starke, 
aürrische  Hymin;  der  kluge,  kühne,  gewaltige  Thor,  die  reizvolle  Buhle 
.es  Riesen8)  usw.  —  fast  stets  aus  der  Situation  heraus.  Grim.  (be- 
;>nders   in   der  Nennung   der  Götter   in   den  Heimen)   und  Rig.  wahren 

oenfalls  bei  enkomiastischer  Tendenz  noch  einen  Rest  von  Charakteristik 

1 

s  der  Situation  heraus9). 

Wichtiger  sind  indeß  für  uns  diejenigen  Epitheta,  die  einzelne  Götter 
ider  Götterklassen)  nicht  aus  einer  epischen  Situation  heraus  zu  charak- 

isieren  versuchen,  sondern  aus  ihrem  allgemeinen  Wesen  —  Beinamen 
der  Beiworte  also,  die  einigermaßen  denen  der  Sterblichen  entsprechen, 
»er  doch  eben  ohne  den  für  diese  charakteristischen  Realismus.  An 
ch  wäre  der  ja  nicht  unmöglich :  Odin  könnte  der  einäugige  Gott  heißen, 
yr  der  einhändige.  Aber  das  geschieht  nicht;  denn  es  sind  eben  t h e o - 
ogische  Epitheta,  d.  h.  solche,  die  die  Sonderstellung  eines  Gottes 
Ider  einer  Götterklasse  betonen  sollen. 


*)  S.  300.  2)J.  Grimma,  a.  O.  3)  S.  368. 

4)  Meine  Altgerm.  Poesie  S.  198. 

5)  Helgi  inn  hugumstöri,  der  großdenkende  Helgi,  Helg.  Hund.  I.  1. 

6)  Meine  Altgerm.  Poesie  S.  491 ;  vgl.  Heinzel,  Stil  d.  altgerm.  Poesie,  S.  32. 

7)  Müllenhoff,  Zur  Runenlehre,  S.  54. 

8)  Str.  27,  ironisch,  vgl.  Str.  8. 

9)  Vgl.  u. 


558  Achtes  Kapitel. 

Zunächst  Epitheta  der  Götter.  Die  Götter  heißen  ginnheili%n 
god1);  es  kommt  daneben  auch  die  Zusammensetzung  ginnregin  j 
hohen  Mächte«  vor.  —  Die  Worte  stehen  in  einem  für  die  erste  Hälil 
der  Vol.  charakteristischen  »Stef«,  einer  Halbstrophe,  die  als  Gegenrefra  ies 
dient2).  Vergleicht  man  die  Stellen  mit  ginnregin*),  so  lehren  sie,  dz  J 
beide  Bezeichnungen  nur  verwandt  werden,  wo  es  sich  um  kollektive  ur  us 
auf  gemeinschaftlicher  Beratung  beruhende  Dinge  handelt.  —  »heilag  \& 
heilig,  wird  nie  für  die  Götter  gebraucht,  denn  es  bedeutet  »geheiligten! 
für  unverletzlich  erklärt4).  So  sind  Bezirke,  Bäume,  das  ganze  Land  dunl 
Äsen  wie  ihre  Tempelpforte  »geheiligt«;  so  auch  die  Menschen,  »die  deit; 
heiligen  Tempelfrieden  unterworfenen  Geschlechter«5);  die  Götter  abejlu 
von  denen  diese  Unverletzlichkeit  ausgeht,  können  sie  nicht  besitzen  -  isl 
wer  sollte  sie  ihnen  verleihen?  (Nicht  einmal  auf  Balder  ließe  sich  denf 
Terminus  anwenden.)  or< 

Somit  bedeutet  dies  einzige  Epitheton  der  Äsen  als  solcher  —  naceai 
Hinzutritt  der  Wanen  wird  es  nicht  mehr  gebraucht  —  die  heilige  Raun 
Versammlung  der  Götter:  die  Götter  in  einer  durch  ihre  Gemeinschaf 
durch  den  »Tempelfrieden«  geheiligten  Versammlung  —  deren  Friedet 
dann  eben  (Str.  24.  26)  die  Hauptgötter  brechen,  die  eben  auch  considun^ 
armati%  ihre  Waffen  zum  Thing  mitbringen. 

Verstehe  ich  also  das  Beiwort  recht,  so  bezeichnet  es  die  Götter 
gemeinde  als  eine  geschlossene  höhere  Instanz  über  den  Einzelgötterr 
als  solche  auch  über  den  Streit  zwischen  diesen  (Äsen  —  Wanen)  erhaber 
Vielleicht  soll  mit  dem  »bis  die  drei  Nornen  kommen«  (Str.  6)  geradezi 
ausgedrückt  werden,  daß  das  Äsen -Thing  die  höchste  Instanz  war,  bi 
die  Schicksalsgöttinnen  auch  den  Göttern  ihren  Willen  aufzwangen.  Dam 
mögen  sie  noch  weiter  Runen  erfinden 7)  —  mit  der  regelmäßigen  par 
lamentarischen  Weltregierung  ist  es  aus;  die  hat  nur  der  goldenen  Zeil 
gehört,  als  man  noch  mit  goldenen  Tafeln  spielte8).  ' 

Die  Nornen  werden  an  jener  Stelle  (Völ.  Str.  8)  mit  dem  Epithetorf 
dmpttugr  belegt,  das  sonst9)  nur  den  Riesen  zukommt:  »von  Stärke 
strotzend«    übersetzt   es  Gering.     Es   soll   wohl   auch    hier  nur  allgemeir 


*)  Völ.  Str.  6.  9.  23.  25;  Gering  übersetzt  »die  heiligen  Herrscher«  (in 
Vollständ.  Wörterbuch  S.  337  »hochheilig«). 

2)  Vgl.  Heinzel-Detter  2,  15;  meine  Altgerm.  Poesie  S.  347 f. 

3)  Häv.  Str.  78  und  142,  Hym.  Str.  4,  auch  Lok.  Str.  11,  Alv.  Str.  21.  31. 

4)  Vgl.  Gering,  Vollständ.  Wörterbuch,  S.  409;  charakteristisch  auch  gunn 
heilagr,  jemand,  den  man  im  Kampfe  zu  schonen  verpflichtet  ist,  ebd.  S.  364 
nach  Hamd.  Str.  28. 

5)  Müllenhoff  zu  Völ.  Str.  1;  Gering  a.  a.  O.  S.  409. 

6)  Tac.  Germ.  cap.  11.  7)  Häv.  a.  a.  O. 

8)  Über  die  »reichen  mächtigen  Götter«  Thrymskv.  Str.  13;  vgl.  u. 

9)  Heinzel-Detter  z.  St.  nach  Skirn.  Str.  10,  Grim.  Str.  11. 


§  32.   Charakteristik  der  Götter.  559 

fofre   riesische   Stärke    hervorgehoben    werden,    da    in    der   Situation    ein 
isonderer  Grund  nicht  liegt,  sie  zu  betonen. 

Dagegen  sind  die  folgenden  Epitheta  wieder  episch  bestimmt:   Heid 

e  sinnvolle  Zauberin  (Vol.  Str.  22),  die  streitbaren  Wanen  (Str.  24) x),  Thor 

1|)11  trotzigen  Mutes  (Str.  26),  der  arge  Loki  (Str.  35),  der  heitere  Eggther 

us  der  Unterwelt !  Str.  42),  während  die  beiden  parallelen  Bezeichnungen 

ridars  als    »der  große   Sohn    Siegvaters«  (Str.  54)   und  Thors  als   »der 

urliche  Sohn  der  Hlödyn«  (Str.  55)  mit  der  epischen  Charakteristik  eine 

litnkbare  Verbeugung  vor  den  Heldengöttern  vereinen.    Besonders  wichtig 

h   aber    (Völ.    Str.    32)    die   proleptische    Bezeichnung    Balders    als    des 

blutigen   Gottes«;    verbunden    mit    der    (zur   Sache    gleichgültigen)    des 

■  istelzweiges  als  »sehr  schön«.    Hier  ist  es  durchaus  die  persönliche  Mit- 

npfindung   des   Dichters,   die   durchbricht,    die   das    Leiden   des  Gottes 

>raussieht   nnd  selbst  den  bösen  Zweig  durch  die  Verbindung  mit  ihm 

jadelt  meint,  wie  wenn  ein  Hymnendichter  von  den  »glänzenden  Pfeilen« 

1  Leib  des  heiligen  Sebastian  reden  wollte! 

Dies  ist  eine  der  wenigen  Stellen,  wo  Gerings  sonst  so  treffliche  Uber- 
ftzung  irre  leiten  kann.  Er  setzt  zu:  »der  edle  Balder«.  Aber  abgesehen  davon, 
iß  dies  Wort  leicht  zu  heroische  Vorstellungen  erweckt,  wird  auch  die  Wirkung 
rdorben,  die  die  Gegenüberstellung  der  hohen  schönen  Mistel  mit  dem  blutig 
irniederliegenden  Gott  erzielen  soll  (vgl.  Gud.  I.  Str.  18). 

Theologisch    klingt   es,   wenn  (Veg.  Str.  2)  Odin    »der  alte  Meister 
mannt  wird 2) :  der  Gott  von  Urbeginn.    Aber  auch  hier  spielt  die  Situation 
it:  daß  der  Erfahrenste  noch  die  »kluge  Hexe«  (Str.  4)  um  Rat  fragt. 

Ungemein  adjektivfroh  ist  die  Thrymskvida;  sogar  Dinge  erhalten 
ei worte:  der  Brustschmuck  der  Freyja  (Str.  12,  14  f.:  das  breite  Schmuck- 
ind;  dagegen  sind  die  Bei  worte  für  den  Hammer  Str.  1,  den  Hof  Str.  11 
I  a.  von  Gering  zugesetzt).  Freyjas  Schönheit  wird  (Str.  11)  betont  wie 
ir.  28  f.)  die  Schlauheit  der  »Magd«  Loki.  —  So  werden  wir  in  diesem 
pede  das  »mächtige  Götter«  (Str.  11)  als  episch  auffassen  müssen.  Wohl 
isid  auch  hier  die  Götter  in  Beratung;  aber  der  theologische  Sinn  tritt 
inter  der  Meinung  der  Situation  zurück:  alle  Äsen  mit  all  ihrer  Macht 
itlos!  Deshalb  darf  man  auch  (Str.  14)  das  »huitastr  äsa«  nicht  allzu- 
|;hr  pressen:  Heimdall  ist  der  »glänzendste  der  Äsen«,  weil  er  die  Zukunft 
rhellt,  und  eben  deshalb  gibt  er  hier  Rat. 

Nur  episch-charakterisierend3)  sind  die  Epitheta  in  der  Lok.  (auch  die 
mrede  an    die   Götter   Str.  7:    »ihr   hochmütigen    Götter!«):    Ebenso    in 

x)  Was  sie  durchaus  nicht  generell  charakterisieren  könnte! 

a)  »gautr«,  Schöpfer?,  Gering,  Veg.  Str.  2;  »Redner?«,  Vollständ.  Wörter- 
luch;  übrigens  liegt  ein  Verderbnis  vor:  Heinzel-Detter  2,  587. 

3)  Über  die  Arten  der  Epitheta  vgl.  meine  Deutsche  Stilistik,  München 
908,  S.  46  f. 


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560  Achtes  Kapitel. 

Skirn.  (Str.  1 — 21)  Freys  Bezeichnung  als  »klug,  tüchtig«,  in  Vaf.  (»d 
weiseste  Riese«  Str.  5),  in  Alv.  (Str.  8  höhnisch:  »weiser  Gast»),  in  \\i 
(Str.  14:  der  sinnreiche  Fjalar,  Str.  96  die  sonnenhelle  Tochter  Billig 
vgl.  Grim.  Str.  11  Skadi  die  schöne  Götterbraut)  und  die  Lobworte  Ri 
(Str.  1,  33  usw.). 

Ergebnis:   von   allen  Epithetis   sind   nur  ginnheilag  für  die  Gö 
und  vielleicht  aldinn  für  Odin  theologisch,  d.  h.  zur  dauernden  Chara 
teristik   der  Klasse   oder   der  Individualität   bestimmt;   alle  anderen  sir 
episch,  homerisch,  Epitheta  ornantia  oder  wie  man  die  Eigenschaftswort 
sonst  nennen  will,  die  eine  bestimmte  Situation  deutlicher  illustrieren 

Und  nun  vergleiche  man  mit  diesen  Anfängen  der  theologische 
Charakteristik  Snorris  Art,  von  den  Eigenschaftsworten  Gebrauch  2 
machen. 

Wir  brauchen  dazu  bloß  die  Liste  der  Gylfaginning  zu  betrachter 
die  entsprechenden  Einzelstellen  sind  von  der  gleichen  Art.  —  Völli 
deutlich  ist  es,  daß  der  Verfasser  systematisch  eine  differenzierende  Charal 
teristik  der  Götter  versucht  —  selbstverständlich  im  Anschluß  an  die  Tex 
und  zum  Teil  auch  gerade  an  die  dort  gebrauchten  Bezeichnungen. 

1.  Odin  ist  der  höchste  uud  älteste  der  Äsen  (cap.  20). 

2.  Thor  ist  der  stärkste  der  Äsen  (und  stärker  als  alle  Götter  und  Menschen 
cap.  21). 

3.  Balder,  der  gute  .  .  .,  von  ihm  ist  nur  gutes  zu  berichten.  Er  ist  de 
beste  Gott  und  alle  loben  ihn  (cap.  22)  —  ...  wie  schön  sein  Haar  und  sei 
Körper  beschaffen  sind.  Er  ist  der  weiseste  der  Äsen,  versteht  am  schönsten  zi 
reden  und  übt  am  liebsten  Barmherzigkeit;  doch  ist  das  Eigentümliche  dabe 
daß  keiner  seiner  Urteilssprüche  in  Kraft  bleibt  (ebd.). 

4.  Njord  ...  ist  so  reich  und  begütert,  daß  er  jedem  Land  und  fahrend 
Habe  geben  kann,  wem  er  will  (cap.  23). 

5.  Frey  ist  einer  der  trefflichsten  unter  den  Göttern. 

6.  Freyja  ist  die  ausgezeichnetste  der  Asinnen  (cap.  24). 

7.  Tyr  ist  überaus  kühn  und  mutig  (cap.  25). 

8.  Bragi   ist   ausgezeichnet  durch  Weisheit,   besonders   aber   durch    Rede e 
klugheit  und  Sprachgewandtheit  (cap.  26). 

9.  Heimdall  wird  der  weise  Ase  genannt  und  ist  groß  und  heilig  (mikil 
ok  heilagr;  cap.  26). 

10.  Hod  ist  blind,  aber  außerordentlich  stark  (cap.  27). 

11.  Widar  nennt  man  den  schweigsamen  Äsen.  Er  besitzt  einen  dicken 
Schutz  und  ist  beinahe  so  stark  wie  Thor  (cap.  28). 

12.  Ali  oder  Wali  ist  kühn  in  den  Schlachten  und  kann  vortrefflich  schießen 
(cap.  29). 

13.  Uli  ist  im  Bogenschießen  und  im  Schlittschuhlaufen  so  tüchtig,  daß 
niemand  darin  mit  ihm  wetteifern  kann.  Schön  ist  er  von  Angesicht  und  besitzt 
alle  Vorzüge  eines  Kriegsmanns  (cap.  30). 

14.  Forseti  .  .  .  hat  die  beste  Gerichtsstätte  (cap.  31). 

15.  Loki  ist  schön  und  anmutig  von  Aussehen,  aber  böse  von  Gemütsart 
und  höchst  unbändigen  Wesens  (cap.  32). 


p 


§  32.    Charakteristik  der  Götter.  55 1 

Man  sieht:  es  genügt  Snorri  nicht,  einfach  wiederzugeben,  was  über 

ie  Funktionen    der  Götter  berichtet  wird  (wofür  man  Frey  oder  Uli  an- 

gjufen   soll;   was  Bragi    oder  Heimdall    unter   den  Äsen   leisten).     Das   ist 

pm   nicht   einmal   die  Hauptsache:   auf  Rangordnung  und  Charakteristik 

:ommt   es  an.     Daß   die   anderen  Götter  dem  Odin   dienen   wie  Kinder 

hrem  Vater,   daß   die  Asinnen  nicht  minder  heilig  und  ihre  Macht  nicht 

geringer  ist  als  die  der  Äsen  (cap.  20),  würde  schwer  zu  beweisen  sein; 

laß  Freyja  die  ausgezeichnetste   der  Asinnen  sei  (cap.  24),   verträgt  sich 

Schlecht  mit  dem  Satz,  Frigg  sei  die  höchste  (cap.  35 ;  vgl.  cap.  20).    Aber 

lie   Rangordnung    ist   Snorri    so    wichtig,    daß    er   lieber   zwei    höchste 

jöttinnen  ansetzt,  als  gar  keine.    Nichts  ist  bei  den  alten  Theologen  von 

lieser  Schärfe  der  hierarchischen  Ordnung  zu  merken,  natürlich  von  Odins 

Stellung  abgesehen. 

Ferner:  wir  sahen,  daß  ein  allgemeines  Epitheton  für  die  Götter  als 
;olche  früher  fehlte.  Der  Christ  Snorri  führt  »heilig«  als  allgemeines 
Drädikat  ein :  Heimdall  ist  (wie  der  Gott  der  Christen)  »groß  und  heilig«, 
3ie  Asinnen  sind  (in  charakteristischer  Umschreibung)  »nicht  weniger 
leilig  als  die  Äsen«  *). 

Und  wie  er  die  Götter  als  Klasse  mit  einem  Terminus  festlegen  will, 
>o  jeden  einzelnen  Gott.  (Nur  die  Götterfrauen  Skadi  cap.  23  und  Idun 
:ap.  26  bleiben  ohne  Adjektiva;  dafür  kaum  eine  der  kleinen  Asinnen 
:ap.  35:  Hnoss  ist  schön,  War  weise  und  wißbegierig,  Snotra  weise.) 
Das  ist  rechte  Theologenart :  Odin  ist  der  höchste  und  Frigg  die  höchste ; 
Thor  der  stärkste  und  Widar  der  zweitstärkste;  Balder  ist  schön,  aber 
Loki  auch  (was  meines  Wissens  nirgends  bezeugt  ist;  aber  es  wird 
schon  stimmen:  man  denke  nur,  wie  Stuck  die  Sünde  malt!).  Im 
Motfall  ist  ein  Gott  weise  (Bragi),  stark  (Hod,  ganz  willkürlich),  kühn 
iWali,  Ullr)  oder  eben  einfach  trefflich  (Frey).  Denn  eben,  wo  Be- 
griffe fehlen,  da  stellt  ein  Wort  zur  rechten  Zeit  sich  ein.  —  Die 
dirliche  Bemühung  Snorris,  sein  Versuch  eines  heidnischen  Katechismus 
sozusagen  (»wer  ist  der  stärkste  Ase?  und  nächstdem?«),  seine  Philo- 
logie —  und  seine  Unbehilflichkeit  im  Ergänzen  kommen  hier  recht 
deutlich  zum  Ausdruck.  Nebenbei  noch  die  natürliche  Sympathie  des 
Christen  mit  dem  am  ausführlichsten  charakterisierten  Balder.  Und  so 
ist  christliche  Schulung,  wie  in  der  ganzen  Art,  so  in  Einzelheiten  durch- 
sichtig. 

So  die  Erklärung  der  vielen  Namen  Odins  cap.  20 :  alle  Völker  hätten 
seinen  Namen  nach  ihrer  Sprache  umgemodelt,  um  selber  zu  ihm  beten 
zu  können.     Also   der  norwegische  Adelsgott  in  einen  Universalgott  um- 


7)  Über  die  Entwicklung  des  Wortes  »heilig«:  Henning,  Deutsche  Runen- 
inschriften, Straßburg  1889,  S.  31;  vgl.  Delehaye,  Sanctus,  Bruxelles  1908. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  36 


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562  Achtes  Kapitel. 

gedichtet.  —  Die  Freude  am  Märchenhaften   wagt  sich  dagegen  fast  m 
bei  Heiindall  cap.  27  ausgiebig  hervor. 

§  33.    Kodifikation. 

Die  letzte  Tätigkeit  des  Theologen  ist  die  Kodifikation :  die  Sammlun 
und  Verarbeitung  des  gesamten  Materials.     So  bereiten  bei  den  Griechei  ^'e 
Einzelarbeiten  über  Lokalsagen,  lokale  Kultformen,  mythologische  Grund 
lagen  der  Dichtung  das  Werk  des  Apollodor  über  die  hellenische  Religioi  *0[ 
vor1),    und   jedes    einzelne   Gedicht    konnte    diesem    Zweck    durch    di 
viiofrtoeig  (seit  Aristophanes   von  Byzanz)   dienstbar   gemacht   werden  - 
Inhaltsangaben   mit  Bericht   über  abweichende  Sagenformen,   gerade  wi< 
wir  sie  in  den  prosaischen  Einleitungen  und  Schlüssen  der  Edda  (z.  B.  zi 
Lok,  zu  Rig,  zu  Heldenliedern ;  besonders  merkwürdig  zu  Vkv.)  auch  be  ^ 
sitzen 2).   —    Bei    den    Römern    geht    in    charakteristischer    Eigenart    ein<  P 
Literatur   über   die  Feste3)  der   antiquarisch  -  historischen  und  juristischer 
Literatur4)  voraus,  während  die  mythologische  Dichtung  angeblich  für  die p! 
römische  Religionsforschung   überhaupt  nicht  in  Betracht  kommen  soll5) 
Dagegen   durchdringen   sich   bei   den   Indern6)   kultische,   mythologische 
gelehrte   Literatur.     Bei   den  Germanen   kommen   die  ersten  Ansätze  au  K( 
fremde  Rechnung.    Tacitus  (und  erst  recht  Cäsar)  hat  natürlich  kein  voll- 
ständiges Lehrbuch    der   germanischen  Religion  geben  wollen;   immerhin*'1 
bringt    die    Germania    erstaunlich    vielseitige    Nachrichten:    Götternamen, V' 
Mythen,  Kosmogonie,  Opferberichte,  Festnachrichten,  Auskunft  über  Priester, 
Kultstätten,  Riten  —  völlig   läßt  sie   uns   nirgends   im  Stich.     Denn   bei 
ihm  verbindet  sich  mit  dem  praktischen  ein  ausgeprägt  wissenschaftliches 
Interesse.  —  Lediglich  praktischen  Interessen  dient  der  Götterkatalog  des 
sächsischen,  der  Opferkatalog  des  fränkischen  Taufgelöbnisses  7)  oder  der 
Indiculus  superstitionum 8).    Aber  auch  die  einheimischen  Denkverse9)  sind 
nur  praktisch  gemeint. 

Eine  Richtung  auf  die  Kodifikation  hatten  wir  schon  mehrfach  zu 
beobachten:  in  der  Zählung  der  zwölf  Götter  (die  nicht  gelang),  in  dem 
Aufbau  der  Burgen  im  Heiligen  Lande  (der  verunglückte),  in  den  »Hypo- 
thesen« der  Lieder,  durch  die  sie  dem  allgemeinen  Zusammenhang  eingefügt 
werden  sollen;  schließlich  in  der  Einfügung  von  allerlei  Namenslisten  in 

l)  Preller  1,  20.  2)  Preller  1,  21. 

3)  Wissowa  S.  3.  4)  Ebd.  S.  4f. 

5)  S.  8;  doch  vgl.  Useners  allgemeine  Abwehr,  Keraunos  S.  30. 

6)  Macdonell  S.  3f. 

7)  MSD.  LI -LH. 

8)  Heyne,  Kl.  niederdeutsche  Denkmäler  N.  81. 

9)  Bran dl,  Gesch.  d.  altengl.  Lit.,  S.946f.;  Heusler,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,256; 
Eddica  minora  S.  XC. 


§  33.    Kodifikation.  553 

iie  erzählenden  Gedichte.  Die  wichtigste  Vorarbeit  indeß  leisteten  noch 
lie  großen  »kosmologischen«  Gedichte:  Vaf.,  Veg.,  Alv.,  Völ.  h.  sk.,  vor 
illem  die  Völuspä. 

Auf  die  wichtige  literarhistorische  Frage,  ob  derartige  Dichtungen 
luch  außerhalb  des  Nordens  vorlagen,  kann  hier  nicht  eingegangen  werden. 
Die  These  ist  von  Kögel *)  aufgestellt  und  von  Heusler,  Siebs,  Seemüller, 
jolther,  Kauffmann,  Helm2)  verworfen,  von  Schütte3)  eifrig  verteidigt 
vorden  —  wie  auch  mir  scheint  ohne  Erfolg,  da  die  Annahme,  bestimmte 
-ormeln  und  Denkverse  seien  überall  vorhanden  gewesen 4),  einfacher  ist, 
/ollkommen  genügt  und  unserer  sonstigen  Kenntnis  von  den  Phasen  der 
•eligiösen  Entwicklung  bei  den  Germanen  weit  besser  entspricht.  —  Aus 
ihnlichen  Ursachen  glaube  ich  das  »dritte  mythologische  Lehrgedicht« 5) 
ablehnen  zu  müssen,  das  Müllenhoff6)  aus  Grim.  Str.  40  f.  (für  den 
ersten)  und  Fäf.  Str.  12 f.  (für  den  zweiten  Teil)  erschloß:  es  sollte  im 
wesentlichen  von  Loki  und  seiner  »Gegenschöpfung«  handeln.  Eine 
engere  Zusammengehörigkeit  der  beiden  Strophengruppen  läßt  sich  meines 
Erachtens  nicht  erweisen,  wohl  aber  ihre  Verwandtschaft  mit  anderen 
Lehrversen.  Von  dieser  Art  sind  auch  die  »Spuren  einer  altfriesischen 
Kosmogonie« 7). 

Indem  nun  aber  auf  all  dies  Material  Snorri  seine  Tätigkeit  als  »der 
einzige  wirkliche  Forscher  als  Mytholog«  stellte8),  ward  er  zugleich  der 
Vollender  der  altnordischen  Theologie,  deren  Bestrebungen  auf  dem  Gebiet 
der  Namengebung,  Charakteristik  und  Kodifikation  er  glänzend  zu  Ende 
führte,  und  der  Begründer  der  Wissenschaft  von  der  altgermanischen 
Religion.  Seine  Snorra-Edda  enthält,  soweit  sie  uns  hier  angeht,  drei 
Teile:  Gylfaginning,  in  Form  einer  Forschungsreise  vom  Typus  Baldrs 
Draumar  oder  Vafthrüdnismäl  eine  zusammenhängende  Darstellung  der  alt- 
nordischen Religion  auf  Grund  der  Eddalieder,  einzelner  Skaldengedichte 
und  anderer  Überlieferungen  gebend9);  Bragaroedur,  als  ein  Vortrag 
4es  Götterskalden  Bragi  bei  Ägirs  Festmahl  nach  der  Erzählung  in  der 
Lok.  erdacht  und  eingekleidet,  inhaltlich  ein  Bericht  über  die  Entstehung  der 
Dichtkunst;  Skäldskaparmäl,  eine  Analyse  der  Skaldenkunst  nach  dem 

!)  Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  32  f.  42  f. 

2)  PBB.  32,  99. 

3)  Idg.  Forschungen  17,  444f.;  vgl.  Helm  a.  a.  O. 

4)  Siehe  u. 

5)  Neben  Völ.  und  Völ.  h.  sk. 
•)  D.  Alt.  5,  1591  246f. 

7)  J.  Grimm,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  I.  lt.;  vgl.  Koegel  a.a.O.  S.  42.  Analoge 
langelsächsische  Spuren  vgl.  ebd.  S.  1321  nach  MSD.  2  S.  271;  Kauffmann, 
Ztschr.  f.  d.  Phil.  25,  401  (nach  Daniel  von  Winchester). 

8)  Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  145. 

9)  Die  er  ergänzte;  siehe  o. 

36* 


564  Achtes  Kapitel. 

Ursprung  ihrer  poetischen  Ausdrücke *).  Diese  drei  Teile  gehören  syste 
matisch  zusammen :  »das  Werk  soll  alles  enthalten,  was  ein  Skäld  wisset! 
muß«  2)  und  der  zweite  Abschnitt  ist  als  Vermittlung  zwischen  der  »reinen 
und  der  »angewandten«  Mythologie3)  unentbehrlich.  Man  hat  es  deshal 
aufgegeben,  mit  Peter  Erasmus  Müller  und  Wilken4)  Snorri  als  Verfasse 
der  Skälda  von  den  Verfassern  von  Gylfaginning  und  Bragaroedur 5)  zi 
trennen. 

An  dieser  Stelle  haben  wir  es  nur  mit  dem  Versuch  einer  syste 
matischen  Darstellung  der  Mythologie  zu  tun  6).  Gylfaginning,  dei  [< 
älteste  und  auf  Jahrhunderte  der  einzige  Entwurf  einer  Gesamtdarstellung  i» 
der  neueren  nationalen  Mythologie,  ist  rein  wissenschaftlich  gemeint  bis^t 
auf  eine  kurze  epische  Vorrede  und  einem  ebensolchen  Nachklang  im 
märchenhaften  Stil  von  Brentanos  Gockel,  Hinkel  und  Gackeleia:  »was!" 
bleibt  zu  wünschen  übrig,  als  daß  wir  alle  Kinder  wären  und  die  ganze  3' 
Geschichte  ein  Märchen ,  und  Alektryo  erzählte  uns  die  Geschichte« 7). 
Damit  soll  also  nochmals  der  Trugcharakter  der  ganzen  Äsen  weit  ein 
geschärft  werden  8). 

Snorri  hat  augenscheinlich  hier  die  Lieder  der  Edda  exzerpiert9),  wie 
für  die  Skäld.  Skäldenlieder10).    Er  hat  zur  Verarbeitung  wiederholt  Anlauf p1 
genommen,  wie  die  vier  verschiedenen  Götterlisten11)  und  andere  Wider 
sprüche12)  beweisen.    Aber  Gylf.  ist  die  endgültige  Darstellung,  auf  deren 
Einkleidung  auch  13)  nicht  wenig  Mühe  verwandt  worden  ist. 

Die  Anordnung  scheint  mir  folgende14):  1.  Odin  (ajove  principium! ; 
cap.  3);  2.  Schöpfung  (cap.  4 — 13);  3.  Kosmologie  (cap.  14 — 13;  central 
Yggdrasil  cap.  16);  4.  die  Götter  (cap.  20 — 32);  5.  die  Gegengötter 
(cap.  33 — 34);  6.  die  Göttinnen  (cap.  35 — 36);  7.  Erlebnisse  der  Götter: 
a)  Frey  und  Gerd  (cap.  37);  b)  Odin  und  die  Einherier  (cap.  39 — 41);! 
c)  Einschub:  das  beste  Roß  und  das  beste  Schiff  (cap.  42 — 43);  d)  Thors  la 

Abenteuer  (cap.  44—48);   e)  Balders   Schicksal  (cap.  49—50);   f)  Welten-1 

w 

*)  Eine   vollständige  Übersicht   der  gesamten   Snorra-Edda   bei   Wilken,, 
Untersuchungen  zur  Snorra-Edda,   Paderborn  1878,  S.  11;  Keyser,   Efterladle  ^ 
Skrifter,  Christiania  1866,  S.  67  f. 

2)  Golther,  Nordische  Literaturgeschichte,  Leipzig  1905,  S.  118. 

3)  Vgl.  Olrik  a.  a.  O.  4)  a.  a.  O.  S.  159. 

5)  Und  dem  grammatischen  Teil  Mals  listarrit  vgl.  Wilken  S.  2. 

6)  Über  Snorris  Stellung  in  der  mythologischen  Wissenschaft  siehe  u. 

7)  Vgl.  den  Schluß  der  Erzählung  von  Thor  in  Utgard  cap.  47  S.  342. 

8)  Über   den   mythologischen   Standpunkt   der  Gylf.  vgl.  Wilken   S.  68 f. 
und  bes.  S.  163;  das  Christentum  tritt  nicht  selten  hervor  (vgl.  ebd.  S.  175  Anm.  60). 

9)  Die  Zitate  bei  Wilcken  S.  57  Anm.  108;  vgl.  allgemein  S.  136. 
10)  S.  137.  n)  Ebd.  S.  93. 
12)  Vgl.  z.  B.  ebd.  S.  161.  ,3)  Ebd.  S.  169f. 
14)  Anders  Wilcken  S.  69f. 


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1 


§  33.    Kodifikation.  565 

chicksal  (cap.  51 — 53).  —  Wie  man  sieht,  eine  ganz  einfache  glatte 
)isposition:  am  Anfang  die  Schöpfung,  am  Ende  der  Weltuntergang; 
azwischen  die  Welt  nach  ihrem  Bestand ;  die  Götter  und  ihre  Erlebnisse, 
jv'äre  die  Erzählung  von  Sleipnir  und  Skidbladnir  besser  untergebracht, 
o  wäre  alles  ganz  schön;  denn  da  Loki  zu  den  Äsen  gerechnet  wird, 
ehört  das  Kapitel  von  ihm  und  den  Seinen  wirklich  vor  das  von  den 
isinnen. 

Was  man  in  jener  Zeit  von  einer  Mythologie  fordern  konnte,  war 
•eleistet.  Auf  Kult  und  Ritus,  auf  Tempel  und  Priester,  auf  Gebetformeln 
nd  Kompetenzfragen  systematisch  zu  achten,  lernte  erst  eine  viel  spätere 
'eit.  Das  Wichtigste  über  die  zentralen  Begriffe  jeder  Mythologie  war 
gesagt:  über  Götter,  Kosmogonie,  Eschatologie,  und  Verhältnis  der  Menschen 
u  den  Göttern.  Ja  sogar  Volkssagen  und  volkstümliche  Züge  —  wie  die 
Benennung  eines  Krautes  nach  Balder  —  waren  berücksichtigt,  so  daß 
lan  selbst  in  diesem  Sinne  an  J.  Grimms  Mythologie  erinnern  dürfte. 
Wiederum  für  jeden  einzelnen  Gott  eine  kleine  systematische  Monographie: 
teme,  Genealogie,  Charakteristik,  Funktion,  Heim  und  Attribute,  Anek- 
lotisches;  mit  leisen  Varianten  der  Reihenfolge  (doch  stehen  die  drei 
rsten  Punkte  fast  stets  voran).  Quellennachweise  fehlen  nicht,  Varianten 
werden  zuweilen  (wie  bei  Walis  Namen  cap.  30)  angegeben.  Der  wissen- 
chaftliche  Charakter  ist  streng  durchgeführt;  und  die  allgemeine  Beurteilung 
rsetzt  die  spezielle  Kritik:  der  dreifache  Gott  Odin  hat  den  Menschen 
rrugbilder  vorgegaukelt;  vgl.  Grim.  Str.  45,  von  welcher  Stelle  vielleicht 
lie  ganze  Fiktion  der  Gylf.  ausging,  wie  von  dem  Schluß  der  Strophe 
lie  der  Bragaroedur:  die  Namen  Här  und  Thridi  in  der  gleichen  Strophe, 
afnhär  Str.  49. 

Dies  ist  der  Höhepunkt  der  Kodifikation  im  Norden.  Ein  Hesiod 
knd  sich  nicht;  aber  wenn  dem  Snorri  auch  nicht  die  Bienen  Honig  auf  die 
Lippen  gelegt  hatten  (»der  größte  Skalde  während  mehrerer  Jahrunderte« 
^ard  er  doch)1)!  —  als  Gelehrter  steht  er  um  so  höher2). 

Mit  Saxos  geistig  viel  größerer  Gewandtheit  steht  es  anders.  Sein 
\uge  ist  weder  auf  reine  noch  auf  angewandte  Mythologie  gerichtet, 
jondern  auf  Historie.  Schon  seine  »Trockenheit  in  religiöser  Hinsicht«3) 
unterscheidet  ihn  von  dem  aus  christlicher  Demut  selbst  gegen  die  Heiden- 
Götter  frommen  Welcker  des  Altertums,  neben  dem  er  wie  das  Paar 
-obeck-Lehrs  steht,  mit  Lobecks  rationalistischer  Schärfe,  mit  Lehrs'  künst- 
lerischer Auffassung.  Er  ist  ein  wirklich  bedeutender  Historiker  mit 
starkem   kulturgeschichtlichen  Interesse,   ein    glänzender  Schriftsteller,   der 


')  Olrik  S.  145. 

2)  Vgl.  über  seine  Objektivität  Wilken  S.  163;  doch  ebd.  S.  175  auch  über 
1ie  Grenzen  seines  wissenschaftlichen  Interesses. 

3)  Ebd.  S.  162. 


566  Achtes  Kapitel. 

alte  Verse  mit  der  Eleganz  eines  Macaulay  in  seine  klassische  Spracl 
bringt;  er  ist  eine  bedeutende  Persönlichkeit  —  ein  Theolog  ist  er  nicr 
nicht  einmal  so  weit,  wie  es  jeder  Bearbeiter  wissenschaftlicher  Mytholog 
sein  muß.  Wie  es  Heusler *)  teils  im  Anschluß  an  Olrik,  teils  im  Wide 
spruch  mit  ihm  ausgesprochen  hat:  »seine  Mythologie  ist  die  is 
ländische  um  1200,  vielfach  mißverstanden  und  verderbt« 
nur  eine  Quelle  für  Geschichte  und  Kulturgeschichte  war  ihm  die  euheme 
ristisch 2)  umgedeutete  Mythologie.  Saxo  gehört  nicht  in  die  Geschieht 
der  mythologischen  Entwicklung,  sondern  in  die  Geschichte  der  mythe 
logischen  Wissenschaft  —  Snorri  in  beide.  Und  in  jene  Geschieht 
gehört  er  eigentlich  nur  zufällig  hinein,  wie  etwa  der  Indiculus  supei 
stitionum.  Die  altnordische  Mythologie  aber  endet  mit  dem  großen  Doppel 
denkmal  der  beiden  Edden:  der  Prosa-Edda  des  Snorri  (um  1222 — 23) 8] 
der  Lieder -Edda,  um  1250  abgeschlossen,  mit  ihrer  systematischei 
Sammlung  und  Anordnung,  mit  ihren  kommentierenden  Prosastücken,  mi 
ihrer  Kritik  des  Weglassens  unser  Codex  Regius  im  höchsten  Sinne  de 
Wortes ! 

Lieder,  die  im  Volke  umliefen,  begann  man  seit  dem  12.  Jahrhunder 
zu   sammeln.     So   entstand   vermutlich   in  der  zweiten  Hälfte  dieses  Jahr 
hunderts4)   ein   erstes  »Liederbuch«5).     Es   umfaßte  die  »kosmologischer 
Dichtungen«,   auf   die  Snorri   seinen  Tempel   gebaut  hat:   Völuspä,    Vaf 
thrudnismäl,  Grimnismäl,  Alvissmäl;   vielleicht   auch  die  später  zum  Tei 
in  die  Hyndluljöd  aufgenommene  kleine  Völuspä6).    Dies  wäre  die  gemein 
schaftliche  Quelle  für  beide  Edden  7).  —  Es  sind  vier  (oder  fünf)  Dichtungen 
des  10.  Jahrhunderts,  von  denen  drei8)  unerschöpfliche  Schatzkammern  füi 
mythologische  Namen  bilden,  das  bedeutendste  aber  für  alle  mythologische 
Anspielungen    die  tatsächliche   und   chronologische  Grundlage  bietet.     Inj 
dieser  Hinsicht  stehen  sie  völlig  allein.     Die  Veg,  sonst  vergleichbar,  hat 
wenig  Inhalt   und   fast  gar  keine  Namen;    Härb.  und  Lok.  bieten  reichen 
Stoff,  aber  in  nicht  unmittelbar  zugänglicher  Form.   —   Einzellieder   wie 
Skirn.  (erst  in  einer  Interpolation  benutzt),  Hym.,  eventuell  die  Rig.  mußten 
ausscheiden;   denn   offenbar  sollte  schon  diese  Sammlung  dem   gleichen 


ir 


J)  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1902  S.  238. 

2)  Wie  von  Saemund  und  Snorri:  ebd. 

3)  Golther  a.  a.  O. ;  Wilken  S.  166  versuchte  die  Gylf.  noch  dem  12.  Jahr 
hundert  zuzuweisen. 

4)  Vgl.  Finnur  Jönsson,  Oldnord.  Lit.  Hist.,  S.  116,  der  allerdings  den 
ganzen  Codex  Regius  —  als  Sammlung  —  so  früh  ansetzt. 

5)  Ein  Ausdruck  Müllenhoffs,  den   Finnur  Jönsson  (S.  118  Anm.  2) 
allerdings  verwirft. 

6)  Vgl.  Wilken  S.  58  Anm. 

7)  Finnur  Jönsson  S.  116. 

8)  Vaf.,  Grim.,  Alv. 


§  33.    Kodifikation.  567 

Zweck   dienen    wie   später  Snorris   großes  Werk:    es  sollte  ein  Hilfsbuch 

ur  Skalden  sein. 

Vielleicht  ist  dies  Corpus  von  »Weltschöpfungsgedichten« l)  noch  in 
Jerfder  späteren,  umfassenderen  Sammlung  wiederzuerkennen,  für  die  Finnur 
isijönsson2)  Müllenhoffs  Prinzip  der  Anordnung3)  verwirft.  Sie  würden  den 
t  Grundstock  des  Codex  Regius  bilden ;  nur  wäre  an  das  erste  Hauptgedicht, 
nekiie  Vol.,  gleich  das  zweite,  die  Häv.,  als  das  umfassendste  angeschlossen  — 
hflzunächst,  was  ich4)  noch  immer  glaube,  weil  die  Lieder-Edda  die  all- 
10 gemein  orientierenden  Gedichte  den  speziellen  vorausstellt5);  sodann, 
ltfweil  dies  Gedicht  die  »alte  Kunde«  tatsächlich  zu  enthalten  schien,  von 
;ivder  sowohl  in  der  Völ.  gegen  Ende  (Völ.  Str.  60;  ursprünglich  dem  Ende 
;knoch  näher,  ehe  die  letzten  Strophen  interpoliert  werden !)  als  die  Vaf.  im 
^Anfang6)  erzählen.  —  Die  Alvissmäl  wären  ans  Ende  gerückt  oder  viel- 
mehr alle  anderen  Götterlieder  zwischen  sie  und  das  Vierblatt  Vol.,  Häv., 
i 

ijjVaf.,  Grim.  eingeschoben  worden,   weil  sie  sich  sämtlich  auf  einzelne  in 
$Grim.   benannte  Persönlichkeiten    beziehen  —  Frey,    Odin,   Thor  in  der 
alten  Reihenfolge;  Loki,  Thrym,  Walküren  —  während  die  Alv.  über  all- 
gemeine Ausdrücke  für  Naturgegenstände  handelt. 

Jedenfalls  wird  man  gut  tun,  mit  Finnur  Jönsson  eine  gemeinschaftliche 
Grundlage  für  Snorri  und  die  Lieder-Edda  anzunehmen.  Hätte  Snorri  diese 
schon  gekannt,  so  hätte  er  sich  die  Benutzung  der  Lok.  gewiß  so  wenig  ent- 
gehen lassen  wie  er  (meiner  Ansicht  nach)  die  der  einzelnen  Strophe  von 
Wili  und  We  verschmäht  hat,  —  wenn  er  deren  Inhalt  nicht  von  anderswoher 
kannte.  Hätte  umgekehrt  der  Sammler  der  Lieder  Snorris  Buch  gekannt7), 
so  würde  z.  B.  in  der  Prosa  nach  Lok.  Kwasir8)  schwerlich  fehlen.  Über- 
haupt aber  scheinen  mir  diese  prosaischen  Umrahmungen  zu  Skirn.,  Lok. 
Reg.  usw.  an  sich  der  beste  Beweis,  daß  zu  ihrer  Zeit  ein  allgemein 
orientierendes  Werk  über  die  Mythologie,  über  Lokis  Schicksale  oder 
Freys  Liebe  noch  nicht  vorhanden  war.  —  Auf  das  Verhältnis  der  beiden 
Edden  in  bezug  auf  die  Heldensage  können  wir  hier  selbstverständlich 
nicht  eingehen9). 

Aus  solchen  kleineren  Sammlungen  stellt  ein  unbekannter  einzelner 
Sammler10)   eine  große   her   —   natürlich    nicht   der  berühmte  Saemund 


1)  Helm,  PBB.  32,  107  nach  Schütte. 

2)  S.  117  f.  8)  D.  Alt.  5,  234. 

4)  Trotz  Finnur  Jönsson  a.  a.  O.  S.  119f. 

5)  Vgl.  f.  d.  Heldenlieder  Ztschr.  f.  d.  Alt.  32,  402  f. 

6)  Vaf.  Str.  1. 

7)  Was  Bugge  zu  erweisen  suchte;  doch  vgl.  Finnur  J  önsson  S.  115f. 

8)  Gylf.  cap.  50:  Gering  S.  346. 

9)  Vgl.  z.  B.  Wilken  S.  140 f.,  vor  allem  aber  die  Literatur  zur  Heldensage. 
10)  Finnur  Jönsson  1,  118  Anm. 


568  Achtes  Kapitel. 

(gest.  1133),  dem  Bischof  Brynjulf  Sveinsson  1643  die  Edda  zuschriel 
schon  Schloezer  erkannte  1773 x),  daß  dieser  »Vielkundige«  und  unsei 
»Vielkundige«  nichts  miteinander  zu  tun  haben:  vielmehr  gehört  er  als  Ve 
fasser  der  Lieder-Edda  in  die  große,  bei  Tageslicht  verschwindende  Walhall, 
in  der  die  Büsten  Keros,  des  Verfassers  der  Benediktinerregel;  Heinrich 
von  Ofterdingen  und  des  Kürnbergers,  der  Dichter  des  Nibelungenliedes 
Walthers  von  der  Vogelweide,  des  Autors  von  Freidankes  Bescheidenhei 
und  Caedmons  sowie  Cynewulfs  in  mehrfachem  Autorschaftsverdach 
stehen.  Ebensowenig  hat  die  »Edda  Saemundi  tnultisciü  ein  Rech 
eine  Edda,  d.  h.  Poetik,  zu  heißen  wie  Snorris  Buch2),  und  als  Ganze 
wird  sie  auch  schließlich  nicht  die  »Ältere  Edda«  heißen  dürfen,  da  si 
doch  wohl3)  erst  gegen  1250  abgeschlossen  wurde. 

Aber  es  ist  doch  hübsch,  daß  eine  wenn  auch  falsche  Benennung 
die  »beiden  Edden«  zusammengerückt  hat,  gleichsam  als  das  Alte  unc 
Neue  Testament  des  nordischen  Heldentums.  Denn  wie  innerlich  Snorri« 
wirkliche  Edda,  ist  äußerlich  des  Unbekannten  angebliche  Edda  der  Triumpr 
der  theologischen  Sammelkunst  der  nordischen  Philologen.  Wir  dürfen  an- 
nehmen, daß  der  Kanon  mindestens  so  glücklich  war  wie  der,  dem  wir  im 
Wesentlichen  unsere  Kenntnis  des  attischen  Dramas  verdanken ;  wir  sehen 
eine  kluge  Ordnung,  und  Einleitungen,  die  zweckdienlich  sind,  auch  wo 
sie  in  Wirklichkeit  nur  aus  dem  Lied  selbst  ihre  Weisheit  schöpfen.  Wie 
arm  stehen  wir  Deutschen  da  mit  unseren  zwei  »Resten  germanischen 
Heidentums!«  und  fehlen  die  Vandilier  in  dem  libellus  aureus  des  Tacitus, 
so  sind  die  Ostgoten  dafür  die  glücklichen  Besitzer  der  beiden  anderen 
Haupturkunden  altgermanischen  Schrifttums:  des  Codex  argenteus  von 
Ulfilas'  Bibel,  und  des  Codex  Regius,  der  größten  vorchristlichen  Lieder- 
sammlung, die  irgendwo  vaterländischer  Eifer  und  philologisches  Geschick 
einer  dankbaren  Zukunft  gerettet  hat. 


n 


x)  Vgl.  ebd.  S.  114. 

2)  Vgl.  z.  B.  Golther  S.  69. 

3)  Trotz  Finnur  Jönssons  Widerspruch;  siehe  o.  S.  566,  4. 


3 


Neuntes  Kapitel. 
Geschichte  der  germanischen  Mythologie. 

Die  Mythologie  ist,  wie  die  Medizin,  eine  der  ältesten  und  eine  der 
ngsten  Wissenschaften.  Als  praktische  Disziplin  ist  sie  von  Priestern 
ld  Gläubigen  schon  in  einer  Zeit  geübt  worden,  in  die  nur  eben  noch 
e  (mit  ihr  zusammenhängenden)  Anfänge  von  Heilkunde,  Rechtskunde, 
ernenkunde  hinabreichen.  Als  methodische  Wissenschaft  ist  sie  so  jung, 
iß  nur  etwa  noch  die  neuere  Literaturwissenschaft  ihre  jüngere  Schwester 
iißen  darf. 

An  diesem  ungeheuren  Abstand  zwischen  Mythologie  (als  Wissen- 
:haft)  im  alten  und  im  neuen  Sinne  liegt  es,  daß  so  unendlich  viel 
undgelehrte,  oft  sehr  gescheite,  nicht  selten  berühmte  Werke  für  uns 
lur  noch  von  historischem  Interesse«  sind,  d.  h.  weder  gelesen  werden 
Dch  gelesen  zu  werden  brauchen.  Sie  haben  innerhalb  der  Geschichte 
er  deutschen  Philologie  ihre  verdiente  Würdigung  zu  suchen ;  an  dieser 
teile  wollen  wir  nur  in  kurzen  Zügen  auf  diejenigen  Arbeiten  hinweisen, 
se  für  die  moderne  Auffassung  unmittelbare  Bedeutung  haben.  Wir 
Ünnen  dies  umso  eher,  als  an  vorzüglichen  Darstellungen  der  Geschichte 
tx  germanischen  Mythologie  in  weiterem  Sinne  kein  Mangel l)  ist. 

§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm. 

Volkstümliche  Tradition  ist  nur  für  die  Zaubersprüche,  Heilformeln 
.  dgl.   vorauszusetzen,   die   wohl   früh   von   Zauberern    und    Hexen   ge- 


»)  E.  H.  Meyer  S.  11,  Golther  S.  lf.,  Chantepie  S.  7f.,  Mogk  a  S.  238 f.; 
.  Symons,  De  Ontwikkelingsgang  der  germaansche  Mythologie,  Groningen 
592.  —  Allgemein  R.  v.  Raum  er,  Gesch.  d.  germ.  Phil,  München  1870.  Als 
ortsetzung:  Ergebnisse  u.  Fortschritte  d.  germanistischen  Wissenschaft  im  letzten 
ierteljahrhundert,  her.  v.  B.  Bethge,  Leipzig  1902  (Mythologie:  S.  506 f.  von 
chullerus).  H.  Paul,  Gesch.  d.  germ.  Phil.,  in  seinem  Grundriß  d.  germ. 
hil.  2.  Aufl.  S.  9  f.  —  Geschichte  der  vergleichenden  Mythologie:  Sehr  ad  er, 
prachvergleichung  u.  Urgeschichte,  3.  Aufl.,  S.  415f.;  vgl.  auch  Lang,  La 
tythologie,  S.  13f. ;  seit  dem  Altertum:  Hardy,  Zur  Geschichte  d.  vergleichenden 
eligionsforschung,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  4,  45  f.  97  f.  193  f. 


570  Neuntes  Kapitel. 

sammelt    wurden,    wie    der    Dichter    der    Häv.    Sprüche    sammelt    zt 
praktischen    Gebrauch.      Sie    haben    sich    zum   Teil   seit   unvordenklict 
Zeit   fortgepflanzt.     Für   die  treue  Wahrung   der  Form   ist  zu  bedenk 
daß  zur  Stütze  des  Gedächtnisses  die  symbolische  Handlung  dient.    W(  0 
und  Wort  hielten  sich  gegenseitig x). 

Priesterliche  Tradition,  vermutlich  früh  mit  Aufzeichnung  verbünd 
hält   die  wichtigsten  Punkte   der   mythologischen  Dogmatik   fest;   so   c 
uralten,  feierlich  bewahrten  Verse  über  das  Chaos2). 

Eine  eigentliche  Verarbeitung  von  Material  scheinen  zuerst  in  prin 
tiver  Form  Namensammlungen  zu  geben,  wie  sie  Häv.  Str.  158  vorausset 

Einen  vierzehnten  (Spruch)  kenn  ich,  wenn  dem  Volke  der  Menschen 
Ich  die  Himmlischen  herzählen  soll. 
Die  Äsen  alle  und  Eiben  kenn  ich, 
Nur  ein  Weiser  weiß  das  so  gut. 


Ifli 


jm 
er 


Ihre  praktische  Bedeutung  liegt  in  Litaneien,  bei  denen  alle  Götter  a 
gerufen  werden  sollen3).  Sie  entwickeln  sich  im  Norden  zu  ein 
Spezialität :  der  thula,  dem  Hersagen  möglichst  vieler  Namen  in  metrisch 
Form.  Diese  »Katalogverse«  4)  gehen  bald  auch  in  die  geschichtliche  ur 
sagenhafte  Tradition  über,  gestützt  durch  Stammbäume  der  Könige f 
Dies  sind  unsere  Pindarischen  Dithyramben :  das  Hyndlalied  und  ähnlicl 

Sammelbecken   für  allerhand  Helden-  und  Götternamen«6),   wie   die 
Vol.   und   besonders   Grfm.   aufgenommenen  Verzeichnisse   oder   die   d 
Rfg.  überwuchernden  Namenphantasien  7). 

Der   unmittelbare   praktische  Nutzen  geht  allmählich  in  einen  mitte 
baren  über:  schon  die  Grfm.  nennt  Jessen  8)  »eine  Vorratskammer  myth< 


a 


J)  Meine  Altgerm.  Poesie  bes.  S.  381  f.  388.  494;  Kögel,  Gesch.  d.  d.  Li 
S.  82f.,  und  in  Pauls  Grundriß  1.  Aufl.  2,  165f.;  M.  Müller,  Stilform 
altgerm.  Zaubersprüche,  Gotha  1901;  O.  Ebermann,  Blut-  und  Wundsegen  i 
ihrer  Entwicklung  dargestellt,  Berlin  1903. 

2)  Wessobruner  Gebet  Str.  1;  Völ.  Str.  6;  vgl.  MSD.  S.  252.  Vgl.  allgemein 
über  solche  Memorialverse  Müllenhoff,  D.  Alt.  5,  248;  altnordisch:  Vigfussop 
und  Powell,  Corpus  Poeticum  Boreale,  Oxford  1883,  II.  §  1  S.  75 f. 

3)  Vgl.  o.  S.  438. 

4)  Vgl.  H  e  u  s  1  e  r  und  R  a  n  i  s  c  h ,  Eddica  minora,  Dortmund  1903,  S.  LXXVII 
B  ran  dl,  Altengl.  Lit.,  S.  957;  über  ihre  Verwendung  in  der  Saga  Heuslei'f 
Arch.  f.  n.  Spr.  116,  261. 

5)  Vgl.  J.  Grimm,  Mythologie  3,  3771 

6)  Heusler-Ranisch  S.  XC. 

7)  Für  die  Litaneien  vergleicht  Kögel  (Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  31)  das  römisch 
Arvallied,  natürlich  nur  in  der  ganzen  Anlage;  eine  Art  negativer  Litanei  ist  da 
sächsische  Taufgelöbnis  (MSD.  LI;  vgl.  Kelle,  Gesch.  d.  altdeutschen  Lit.  1,4 
siehe  o.  S.  60). 

8)  Über  die  Eddalieder  Ztschr.  f.  d.  Phil.  6,  74. 


/ 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  571 

bischer    Spezialia,    die    man    in    solcher   Form    memorieren    wollte« *). 

^nn   man   darf  das  Gedächtnis   der  alten   Sänger   und   Spielleute  nicht 

Verschätzen.    Hierüber  gibt  im  Anschluß  an  die  Untersuchungen  Radioffs 

f>er    die    Lieder    der    Kirgisen   John    Meier 2)    interessante    Nachrichten. 

lr    sollte    eben    neben    der    schriftlichen    Oberlieferung    die   durch   be- 

smmte  Katalog-  und  Registerverse  als  Hilfsmittel  berücksichtigt  werden; 

jr  Volkssänger    «memoriert   nicht   wie   unsere   Schauspieler«3),   aber   er 

emoriert   Stichworte  —   das  sind   in   diesen   Dichtungen   die  Namen. 

imit   ist   die  Stufe   der  dichterischen  Verarbeitung  erreicht,  wie  wir  sie 

den    »theologischen  Gedichten«  Vai,   Veg.,   Gnm.,   Völ.  h.  sk.,   Rig., 

auch    der   Völ.   finden,   bis   endlich   in   den  Alv.   die   Namendichtung 

eder   zu    der   ursprünglichen  Form   zurückkehrt:    das  Memorieren   von 

Zeichnungen  wird  wieder  Selbstzweck.  —  Ein  genaueres  Eingehen  auf 

ese  Stufen  und    ihre  Entwicklung  in   den  uns  erhaltenen  Resten  gehört 

die  Literaturgeschichte. 

Neben  diesen  poetischen  Denkversen  hat  es  gewiß  auch  prosaische 
aditionen  gegeben,  mythologisch  von  noch  größerer  Wichtigkeit,  uns 
er  verloren:  rituelle  Vorschriften  für  Gebet  und  Opfer,  Weihen  und 
ihnen  usw.,  mit  Berücksichtigung  eng  lokaler  Verschiedenheiten,  wie 
is  diese  Literatur  indisch4)  so  überreichlich  bewahrt  ist.  Auf  die 
eiteren  Berührungen  der  theoretischen  mit  der  praktischen  Mythologie 
mnen  wir  dann  nicht  noch  einmal  eingehn5);  es  ist  ja  klar,  daß  ein 
streben,  die  richtige  Überlieferung  festzustellen,  eine  Kritik  an  neueren 
sarten,  Gebräuchen,  Rangordnungen  sich  einstellen  mußte.  Gedichte 
e  Härb.  und  Lok.  stehen  recht  eigentlich  auf  der  Grenze  zwischen  der 
erfechtung  eines  bestimmten  Glaubens  und  der  wissenschaftlichen  Fest- 
?1lung  seiner  Grundlagen.  Die  letzten  Leistungen  der  Theologie,  die 
:hlung,  Charakteristik,  vor  allem  die  Kodifikation  sind  dann  schon  wirk- 
W\  wissenschaftliche  Großtaten. 

So  ist  in  der  ersten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts6)  ein  Höhepunkt 
ir  germanischen  Religionswissenschaft  erreicht,  wie  er  erst  nach  600  Jahren 
Dch  einmal  erreicht  wurde,  nach  einer  langen,  langen  Götterdämmerung, 
ichdem  die  Kälte  der  früheren  Anhänger,  die  Hitze  der  Konvertiten  und 
is  natürliche  Herabsinken  aller  Vorstellungen  zur  Hei  die  alte  Götter- 
elt   zerstört    hatte.      Endlich    kam    1835    der    mächtige  Herrscher    zum 


*)  Vgl.  über  die  Anwendungen  solcher  Hilfsmittel  "für  das  Gedächtnis  z.  B. 
einhold,  Altnord.  Leben,  S.  363. 

2)  Werden  und  Leben  des  Volksepos,  Halle  1908,  S.  51. 

3)  Steinthal,  Ztschr.  f.  Völkerpsychol.  5,  3. 

4)  Vgl.  Hillebrandt,  Ritualliteratur. 

5)  Vgl.  o.  S.  53  f. 

6)  Snorris  Edda  ca.  1225,  Lieder-Edda  bis  etwa  1250. 


r 


5C 


572  Neuntes  Kapitel. 

Gericht  und  zum  Wiederaufbau  der  alten  Welt,  die  er  zu  schön  mit  Gc 
deckte.  Aber  bis  dahin  war  noch  lang;  ehe  die  Erde  in  frischem  Gr 
aufstieg,  kam  noch  einmal  das  Chaos,  und  die  Sonne  wußte  nicht,  wo  ; 
Wirkung  hatte,  der  Mond  nicht,  welche  Macht  er  besaß.  —  Und  da  c 
Feinde  von  allen  Seiten  kamen,  von  Norden,  von  Osten,  von  WestA 
so  müssen  wir  im  folgenden  hin  und  wieder  auch  die  außergermanisc  die 
Mythologie  (worunter  wir  jetzt  immer  die  mythologische  Wissenschaft 
verstehen)  streifen. 

Snorri  bedeutet  den  Punkt,  an  dem  die  lebendige  Entwicklung  d 
Mythologie  in  tote  Wissenschaft  übergeht.  Er  selbst,  wie  wir  schon  b 
tonten,  steht  noch  in  der  Entwicklung:  der  fromme  Christ  führt  religio 
Tendenzen  des  Heidentums  mit  innerem  Anteil  fort.  Saxo  dagegen  h 
keinerlei  religiöse  Empfindung;  er  ist  ein  großer  Gelehrter,  der  die  Rlel 
ligion  der  Vorfahren  in  seine  Dänische  Geschichte  einfügt.  fi 

Unsere  jetzige  Kenntnis  Saxos  beruht  ganz  auf  den  Arbeiten  Olri ks  is 
»Wir   hören   von  Saxos  Chronik  zum  erstenmal  um  das  Jahr  1 1 8  jdr 
und  .  .  .  erst   im  Jahr  1216   arbeitet  er  an  der  Vorrede  zu   dem  große  in 
Werk«  2).    Saxo  schreibt  im  Auftrag  des  großen  Erzbischofs  Absalon3),  dul 
den  »Sohn  und  Enkel  von  Adelsleuten,  die  in  Waidemars  Heer  gekämped 
hatten«,  seinen  Schreiber,  geeignet  fand,  »mit  Waffen  des  Geistes  für  daii 
Vaterland  zu  kämpfen«.    Seiner  Geschichte  Dänemarks  gab  er  seinen  breitet 
Unterbau  in  jenen  neun  Büchern,  die  für  uns  an  Wichtigkeit  nahe  an  di 
Edda  heranreichen4).  Olrik  wies  nach,  daß  Saxo  für  diese  neun  Bücher  durcr 
aus  wissenschaftlich  verfahren  ist.  Er  sammelte  Berichte  von  zwei  Seiten:  au 
Norwegen  und  aus  Dänemark.    Ob  nun  Olriks  Annahme  endgiltig  ist,  ffi 
die  norrönen  Quellen   habe  er  nur  Einen  Gewährsmann  gehabt5),  steh 
dahin.     Ich  glaube,   das  Bedürfnis,   die  Lehrer  Saxos  von  Auge  zu  Aug 
zu   sehn,   hat  den  unvergleichlichen  Meister  der  Analyse  hier  zu  weit  i 
der  Synthese  gehen  lassen;  der  Arnald  Torvaldsson,  dem  er6)  ein  so  große!1 
Verdienst  an  Saxos  Werk  zuschreibt,  und  der  ihm  als  Vermittler  zwischeif 


Dl 


*)  Forsög  pa  en  Tvedeling  af  Kilderne  til  Sakses  Oldhistorie  (Versucl 
einer  Zweiteilung  der  Quellen  von  Saxos  Geschichtswerk)  Kopenhagen  1892 
als  »Tvedeling«  zitiert;  Sakses  Oldhistorier;  norröne  Sagaer  og  danske  sag] 
(Norwegische  Sagas  und  dänische  Sagen),  ebd.  1894,  als  »Kilderne«  zitiert;  Dan 
marks  heltekdigtning  (Dänische  Heldensage),  ebd.  1903;  dazu  Märchen  in  Sax< 
Grammaticus,  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  II.  (1902)  S.  117f.  252f.  367 f.;  Altnorc 
Geistesleben  S.  160  f. 

2)  Altnord.  Geistesleben  S.  160. 

3)  Ebd.  S.  1581 

4)  P.  Herrmann,  Erläuterungen  zu  den  ersten  9  Bücher  der  Dänischei 
Geschichte  des  Saxo  Grammaticus  I,  Leipzig  1901. 

5)  Kilderne  S.  275,  vgl.  S.  286. 

6)  S.  288  f.  313. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  573 


>rwegen    und  Dänemark1)   fast   symbolische  Bedeutung   erhält  (obwohl 

rif  sich  bewußt  bleibt,  daß  er  nur  der  Vertreter  einer  allgemeinen  Strömung 

s2),   mag  doch  vielleicht  das  Schicksal  anderer  großer  nur  erschlossener 

d  rsönlichkeiten  teilen,  und  wenn  nicht  mit  Keysers  Thorgeir  Afrädskall 3), 

ch  mit  Reichs  Philistion4)  das  Glück  einer  kurzen  Unsterblichkeit  teilen. 

:|elleicht  hat  er  nicht  mehr  zu  bedeuten  als  Lucas  der  Engländer5):   ein 

richterstatter  wie  die  des  Tacitus  gewesen  sind;  ein  Erzähler,  nach  dem 

i  eigentliche  Tat  doch  erst  zu  tun  war. 

Denn  in  zwei  Punkten,   glaube  ich,  hat  Olrik  durch  die  Entdecker- 

ude  des  Sagenforschers  sich  zu  weit  führen  lassen.    Er  unterschätzt  die 

»iderweitigen  Quellen  Saxos  —  und   noch   mehr  seine   eigene  Leistung. 

l;    Zwar  weist  er  selbst  auf  Märchen  bei  Saxo  hin  und  nimmt  sie6)  für 

|e  Sigridsage  als   unmittelbare  Quelle  an.     Auch   auf  Berührungen    mit 

r  Stimmung  des  Volksliedes  weist  er 7)  hin.    Aber  zuerst  sucht  er  doch 

is  als  Vorlage   Saxos   nur  Erzählungen    nachzuweisen8);   können   aber 

bht  Volkslieder  unmittelbar  vorgelegen  haben?   Wenn  der  Goldschmied 

ti  Stand  übrigens,  den  Starkather  —  oder  auch  Saxo  besonders  gehaßt 

I  haben   scheint,   wie  Euripides  die  Herolde;   vgl.   die  Scheltworte  des 

dichts!)  sich  von  der  edlen  Jungfrau  die  Flöhe  suchen  läßt9),   so  ent- 

richt  dies  mehr  lebens-  als  anmutsvolle  Detail  mehr  dem  Stil  des  Volks- 

des  als  der  Saga: 

Er  spreit  sein  Mantel  in  das  Gras, 
Er  bat  sie,  daß  sie  zu  ihm  saß, 
Er  sprach:  sie  sollt  ihm  lausen, 
Sein  gelbes  Haar  zerzausen10). 

Wichtiger  indes  gerade  auch  für  uns  ist  die  Frage  nach  Saxos  eignem 
iteil  an  der  Verarbeitung. 

Olrik  läßt  hier  dem  Mönch  fast  nichts  übrig.  Er  spricht  ihm  aller- 
<gs  ein  besonderes  Naturgefühl  zu  n)  —  gleich  aber  erklärt  er  es  aus  der 
;nantischen   Stimmung   der   Zeit,   die  auch   Volkslieder  zeigen.     Sollte 

!)  S.  288.  2)  S.  314. 

3)  Keyser  a.  a.  O.  S.  424f.;  widerlegt  von  Grundtvig. 

4)  A.  Reich,  Der  Mimus,  Berlin  1903,  I.  2,  4271  u.  ö. 

5)  S.  309. 

6)  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  S.  257. 

7)  Kilderne  S.  157. 

8)  Einheimische  geschriebene  Quellen  zweifelt  er  an  (Tvedeling  S.  117), 
utsche  läßt  er  zu  (Kilderne  S.  313). 

9)  S.  192;  Herrmann  S.  257. 
10)  Uhland,   Volkslieder   1,    142.    —    »Mit    viel    Behagen    ließen   sich   die 

rdischen  Männer  von  ihren  Weibern  den  Kopf  krauen  und  waschen:  Egilss. 
p.  56  mit  Thorkelins  Anmerkung«,  sagt  Wein  hold  (Altnord.  Leben,  S.  181) 
it  gelehrter  Naivität. 
»)  Kilderne  S.  157.  181. 


574  Neuntes  Kapitel. 

man  dem  Patrioten,  der  die  Deutschen  verabscheut *),  nicht  auch  das  Ze 
bild  des  Hildegisil2)  direkt  zuschreiben  dürfen3)?  eine  Etymologie  \ 
die  von  Hadersleben4)  nicht  auch?  Aber  selbst  wo  die  VerantwortlhP 
keit  Saxos  sich  aufzudrängen  scheint,  wie  bei  der  Anpassung  von  Pau 
Diaconus'  Bericht5),  bei  Sagenversetzungen6),  bei  der  Rationalisieru 
von  Märchen 7)  schiebt  Olrik  sie  der  »dänischen  Oberlieferung«  zi  o  2 
oder  weicht  wenigstens  einer  unmittelbaren  Haftbarmachung  Saxos  aus.  ei 

Ich  glaube,  der  glänzenden  Analyse  norwegischer  und  dänisct  inn 
Quellen  müßte  noch  eine  zweite  zur  Seite  treten,  die  scheidet,  1.  vuf 
Saxo  empfing,  2.  was  er  daraus  machte.  Und  hier  darf  keine  isolier 
Betrachtung,  herrschen.  Saxo  muß  verglichen  werden  nicht  nur  mit  d^ 
Historikern,  die  ihm  als  Vorbild  dienten,  wie  Baeda,  oder  die  er  t  1 
benutzte,  wie  Paulus  Diaconus  (der  ihm  bei  all  seiner  Naiviät  so  n  iioi 
verwandt  ist:  »wir  verdanken  ihm  die  Bewahrung  jenes  reichen,  durjei 
keine  spätere  Gelehrsamkeit  verfälschten  Sagenschatzes«,  sagt  Wattenbach)  $01 
nicht  nur  mit  Dudo  und  Galfred  von  Monmouth10),  sondern  vor  allen 
auch  mit  den  großen  Philologen  des  Mittelalters.  Jene  Männer ,  c  U 
in  der  reproduzierenden  Technik  die  unscheinbaren  Vorläufer  unsere 
Brüder  Grimm,  Lachmann,  Uhland  waren,  hatten  eine  bestimmte  Techni  hr 
die  an  den  (freilich  sehr  verschiedenen  Epochen  angehörenden)  Meistech 
einmal  im  Zusammenhang  studiert  werden  sollte:  für  England  an  Baediet 
für  den  Norden  an  Snorri  und  Saxo,  für  Deutschland  an  den  »Neidhai 
dichtem« n).  ir$ 

Diese  Technik  beruht  im  wesentlichen  auf  zweierlei  Verfahren :  Kon  itt 
binieren  und  Ausfüllen.  Die  Kombinationen  werden  geleitet  entwed()n 
(häufiger)  von  den  Namen  der  Hauptpersonen,  oder  von  dem  Inhalt  di^ 
Erzählungen;  die  Ergänzungen  werden  von  der  speziellen  Absicht  q| 
Sammlers  bestimmt.  je 

In  dieser  Art  geht  auch  Saxo  vor.  In  der  Verknüpfung  der  Sagen  *> 
geht  er  im  allgemeinen  von  einer  festen  Grundlage  aus:  der  Geschieh^ 
der  Skjöldungen  13).  Im  einzelnen  aber  benutzt  er  vielfach  äußerliche  MirM 
Zwei    verschiedene   Ebbo    verbinden    die   Geschichte    von    Sygritha    unj| 


!)  »Deutsche  Üppigkeit«  S.  204,  Herrmann  S.  273. 

2)  S.  232  bez.  309.  3)  Gegen  Kilderne  S.  246. 

4)  Ebd.  S.  251.  5)  Ebd.  S.  263.  6)  Ebd.  S.  276. 

7)  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksbildung  S.  273. 

s)  Kilderne  S.  263. 

9)  Deutschlands  Geschichtsquellen,  4.  Aufl.  1,  140. 

10)  Kilderne  S.  315. 
1J)  Vgl.  Ztschr.  f.  d.  Alt.  31,  64f.  —  Vgl.  jetzt  R.  Meißner,  Römveriasag 

Berlin  1910,  bes.  S.  183  f. 

12)  Vgl.  allgemein  Kilderne  S.  276: 

13)  Ebd.  S.  278. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  575 

ritha  (S.  224.  225  bez.  298.  299),  obwohl  der  zweite  Ebbo  nur  Vaters- 
me  des  Helden  Otharus  ist.  Auch  Ethascoug,  das  Versteck  des  Räubers 
inno,  und  die  Jarlstochter  Esa  (S.  250.  251,  bes.  334.  837)  hat  vielleicht 

ähnliche  Klang  benachbart  gemacht.  Öfters  verbindet  Saxo  Er- 
llungen gleichen  Inhalts:  von  Berserkern  (S.  221.  223  bez.  294.  296), 
n  zwei  überkeuschen  Mädchen  (S.  227.  228  bez.  302.  303  *)  handeln 
ei  sich  folgende  Geschichten;  oder  die  eine  von  einer  Verkleidung  in 
innertracht,  die  andere  in  Mädchentracht  (S.  228.  232  bez.  304.  309). 
r  Name  Ursa  führt  vielleicht  dazu,  das  Motiv  des  Trinkens  von  Bären- 
11t  anzubringen  (S.  55.  56  bez.  72.  73).    Dies  führt  zu  den  Hauptsache: 

Art,  wie  Saxo  ausfüllt. 

Offenbar  schwebt  ihm  für  die  ältere  Zeit  das  Ideal  einer  kultur- 
itorischen  Schilderung  vor.  Gern  gibt  er  Notizen  über  die  früheren 
^eikämpfe  (S.  56  bez.  73),  über  die  Schwertmädchen  (S.  230  bez.  306, 
sonders  breit  ausgeführt).  Oder  er  verflicht  in  die  Erzählung  Kuriosa, 
::  er  historisch  festlegt  mit  oder  ohne  Berechtigung:  Einbalsamieren  von 
ichen  (S.  171  bez.  228),  Abstufung  der  Leichenfeier  (S.  156  bez.  209), 
akel  (S.  181  bez.  242:  »in  alter  Zeit  herrschte  die  Sitte  — «),  über 
brittschuh  (S.  229  bez.  305),  Bogenschützen  (S.  263  bez.  352),  Trunk- 
;:ht  (283  bez.  379),  Hungersnot  und  Abhilfe  (S.  284  bez.  281);  ebenso 
er  hibernische  Tracht  und  finnische  Zauberer  (S.  169  bez.  226). 

In  diesen  Zusammenhang  nun  gehören  auch  seine  mythologischen 
rstellungen.  Sie  sind  nicht  um  ihrer  selbst  willen  da,  sondern  als 
'ttel  des  kulturhistorischen  Kolorits  —  gerade  wie  in  neueren  historischen 
imanen  oder  in  den  gelehrten  des  17. — 18.  Jahrhunderts.  So  wird  das 
irsprechen  von  Menschenopfern  (S.  263  bez.  352;  S.  304  bez.  409) 
ch  unter  die  kulturhistorischen  Momente  gestellt  werden  können;  gerade 

die  immer  wiederkehrenden  Sagenzüge:  das  Abschneiden  von  Kopf 
126  bez.  168;  274  bez.  368)  und  Nase  (S.  58  bez.  76),  das  Ab- 
slagen   von   Beinen   (S.  149   bez.  200),    Bein   und   Hand   (S.  179.  281 

239.  377),  rechter  Hand  (S.  223.  262  bez.  298.  351)  —  was  des- 
lb   Olrik    in    einem   Einzelfall2)    wohl   zu   sehr    urgiert.     Aber   ebenso 

1  auch  der  häufige  Gewitterzauber  wirken  (S.  128.  327  bez.  170. 
0  u.  ö.),  die  Erzählungen  vom  Festmachen  der  Menschen  (S.  219 
z.  291)  und  Stumpf  machen  der  Schwerter  (S.  187.  223  bez.  250.  297); 
:  Geschichten   von  Riesen,   die  Knaben  oder  Mädchen  rauben  (S.  178. 

2  bez.  239.  296).  Er  sucht  sie  irgendwo  auf,  im  Märchen  (wie  das 
ehen  der  Schüssel  S.  129  bez.  173,  das  Swinegel-Motiv  auf  Guwara 
gewandt  S.  148   bez.  198),   im  Anekdoten  schätz   (wie   die  Geschichten 


!)  Vgl.  Kilderne  S.  235.  244. 
2)  Kilderne  S.  258. 


AS 


576  Neuntes  Kapitel. 

von  Hugleks  Geiz  S.  185  bez.  248);  in  der  Verbindung  beider  wie  1 
Amleths  weisen  Sprüchen  *).  Da  er  seine  Zettelkästen  plündert,  wiederh 
er  sich  oft2),  gerade  wie  er  als  richtiger  Notizenmensch  auch  mal  ei 
Hauptsache  vergißt3).  Die  Anekdote  von  dem  verschämten  Armen  wi 
zweimal  vorgebracht  (S.  57.  296  bez.  74.  399);  ebenso  daß  Vögel  Brand  stift 
(S.  25.  120  bez.  30.  159);  daß  die  Schiffsplanken  durchlöchert  werden 
Zweimal  lassen  kluge  Feldherren  ihre  Feinde  die  ganze  Munition  vi 
schießen.  —  In  vielen  Fällen  stammt  die  Doppelung  ja  natürlich  aus 
Quellen;  daß  sie  es  immer  tut,  haben  wir  kein  Recht  anzunehmen.  Vi 
ein  solches  mehrfach  gesetztes  Motiv  (das  Durchlöchern  des  Schiffs  t 
gegnet  viermal !)  nicht  nachzuweisen  ist,  wird  er  es  eben  eingefügt  habt) 
Ebenso  seine  Lieblingsmittel,  die  Personen  zu  verbinden:  die  Pfleg 
väterschaft5);  oder  die  Kriegslisten6).  Denn  daß  z.  B.  Starkadr 
deutschen  Königin  das  Band  zweimal  ins  Gesicht  geworfen  habe  (S.  2 
207  bez.  295.  297),  wird  wohl  trotz  der  berühmten  Analogie  in  Hebb 
»Herodes  und  Mariamne«  niemand  annehmen. 

So  also  entwirft  Saxo  ein  Bild  der  frühhistorischen  Periode.    Er  ko 
biniert,  er  ergänzt;  er  gebraucht  das  beliebte  Kunstmittel,  die  Leser  sich 
zu  machen,  indem  er  an  unbedeutender  Stelle  die  beiden  Oberlieferung  | 
nebeneinander  stellt  (S.  225   bez.  300   —   gerade  wie  Snorri,   wenn    | 
zwischen  Ali  und  Wali  die  Wahl  läßt,  oder  etwa  noch  Macchiavelli,  wei  j 
er  über  den  Namen  »Firenze«  plötzlich  kritische  Betrachtungen  anstellt 

In  diesen  kulturhistorischen  Hintergrund  müssen  sich  nun  auch  c 
Göttergeschichten  fügen.  Der  Euhemerismus ,  den  man  gewöhnlich  L 
bezeichnend  allein  anführt,  ist  nur  Fortsetzung  der  dänischen  Auffassung  j 
Daß  er  an  den  von  Starkadrs  Körper  ausgehöhlten  Stein  nicht  glau  j 
(S.  198  bez.  263),  gehört  einfach  zu  seinen  beliebten  moralisierenden  B 
trachtungen,  diesmal  über  die  Leichtgläubigkeit  der  Menschen,  wie  soii, 
über  andere  Schwächen.  Er  selbst  glaubt  ja  an  die  meisten  Wunder,  1, 
Sturmzauber,  an  das  wunderbare  Totenreich  (S.  288  bez.  387)  und  sogir 
an  das  Haar  des  Utgardaloki  mit  seinem  todbringenden  Geruch  (S.  2^ 
bez.  398).     Manchmal  rationalisiert  er  freilich :  Asmund  im  Grabe  (S.  1 


!)  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  S.  119f. 

2)  Vgl.  Herrmann  S.  4791 

3)  Kilderne  S.  111. 

4)  Vgl.  Herrmann  S.  483. 

5)  Vgl.  Tvedeling  S.  72. 

6)  Die  allerdings  nur  in  norrönen  Sagen  begegnen,  wie  Olrik  entdeckt  h 
(Kilderne  S.  47  Anm.)  —    wie  die  falsche  Todesnachricht  (S.  162.  245  bez.  2 
325  u.  ö.). 

7)  Die    Florentinische    Geschichte,    übs.   v.  Joh.  Ziegler   (C.  F.  Meye 
Schwiegervater),  Karlsruhe  1834,  S.  53. 

8)  Tvedeling  S.  35. 


ns 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  577 

iz.  216)  wurde  wohl  ursprünglich  vom  wirklichen  Tode  erweckt;  der 
nochen,  den  Starkader  dem  Pfeifer  gibt  (S.  203  bez.  272),  war  wohl 
•sprünglich  ein  Musikinstrument  (wie  das  des  Wäinämöinen).  Aber  hier 
:  auch  wieder  er  nicht  der  Erste.  Vielmehr  deckt  sich  seine  Grund- 
ischauung  mit  der  seiner  Zeitgenossen.  Die  Zeit  vor  Christus  (Ende 
m  Buch  V)  und  die  der  Christianisierung  des  Nordens  (Ende  von  Buch  IX) 
\  der  späteren  gegenüber  dunkel  und  unheimlich  —  mag  sie  auch  in 
)litischer  Hinsicht  den  Glanzpunkt  der  dänischen  Geschichte  vorstellen  x). 
\t  Äsen  sind  nicht  gerade  Götter  —  im  Gegenteil,  er  äußert  sich  ja 
fern  ironisch  über  solche  Götter  und  ihre  Gattinnen  (S.  25  bez.  31). 
•ber  so  recht  eigentlich  Menschen  sind  sie  doch  auch  nicht  —  von  dem 
oben  Euhemerismus  etwa  der  Adelung  und  Schlözer2)  steht  er  weit 
>.  Es  sind  »Zauberer«  —  Gott  hatte  die  Zügel  noch  locker  gelassen, 
id  die  Menschen  konnten  noch  Wunder  tun.  Es  war  Blendwerk  (S.  70 
f:z.  88),  es  waren  »Larven«  (S.  74  bez.  94);  blendende  Nebel  (S.  215. 
II  bez.  291.  377)  —  aber  eigentlich  glaubt  Saxo  sie  selbst  zu  sehen, 
'ehr  jedenfalls  als  der  Verfasser  der  Gylfaginning ! 
1  Diesen  Standpunkt,  glaube  ich,  muß  man  immer  berücksichtigen.  So 
>r  allem  in  dem  wichtigsten  Fall:  in  der  Baidersage.  Ein  Rationalist 
itte  den  Mythus  einfach  wiedergeben  können:  Balder  erregt  durch  Schön- 
nt  unter  seinen  Brüdern  Neid  wie  Joseph,  wird  von  den  Schlimmsten 
die  Grube  geworfen,  aber  wieder  herausgeholt  und  vor  seinen  Vater 
'din  gebracht  u.  dgl.  Saxo  aber  ist  die  Gestalt  Balders  unheimlich, 
!rade  weil  er  sie  einigermaßen  für  historisch  hält.  Sie  kommt  ihm  zu 
in  ans  Christentum  heran.  Deshalb  dreht  er  resolut  die  Geschichte  zu- 
msten  des  Hotherus  um,  der  wenigstens  kein  böser  Zaubererer  ist,  und 
!>cht  sich  aus  dem  Mythus  (nach  Goethes  Lieblingsausdruck)  ein  »Gefäß«, 
gl  alles  Mögliche  hineinzustopfen:  Walküren  (die  er  besonders  liebt3), 
subernahrung,  die  beliebten  Kriege  mit  wechselndem  Ausgang  usw., 
|r  allem  die  Götterschlacht  als  Parade,  damit  doch  einmal  alle  Äsen 
»rgeführt  werden.  Kurz:  je  näher  ein  »Gott«  dem  neueren  Begriff, 
$to  stärker  ändert  er.  Othinus  bleibt  erkenntlich,  als  Zauberer,  Kriegs- 
istifter,  Fürstengönner;  über  Balder  muß  ein  historisch-mythologischer 
oman  gedichtet  werden4). 

Soll  ich  noch  versuchen,  Saxo  als  Menschen  zu  schildern,  so  erscheint 

x)  Tvedeling  S.  126. 

2)  Garde    Grundtvigs  Mytologi,  Kopenhagen  1897,  S.  6. 

3)  Vgl.  Kilderne  S.  89. 

4)  Im  einzelnen  über  die  Mythologie  bei  Saxo:  die  Äsen  Tvedeling  S.  32, 
din  S.  30,  Walküren  S.  52,  Kilderne  S.  19,  Riesen  S.  46,  Berserker  S.  56,  das 
oernatürliche  überhaupt  S.  26f.;  Hoder  und  Balder  S.  141;  Kilderne  S.  13f.  45; 
er  Hoder  noch  ebd.  S.  32. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  37 


578  Neuntes  Kapitel. 

mir   der  große  Gelehrte  (das   war  er)   und  glänzende  Schriftsteller  nie 
allzu  sympathisch.    Zurückgedrängte  Lüsternheit  (S.  80  bez.  102)  hat  vii 
leicht  auch  die  Verkleidungen  in  Mädchen-  und  Männertracht  bei  ihm  i 
besonders  beliebt  gemacht  (Frotho  S.  41  bez.  52;  Odin  S.  50  bez.  10 
Hagbarth    232   bez.   309;   der  Trabant    S.    253   bez.  339;   Alvild   S.  2\ 
bez.  304)   —   die   Auswahl   stand   ihm    doch    frei !  —  Sein   hochmütig 
Spott   läßt   ihn   doch   den  Wundern   der  Magie  gegenüber  nicht  frei  d 
stehn,  während  Snorris  frommere  Art  sich  zwar  dem  »isländischen  Ration 
lismus« x)   nicht  verschließt,   aber   dadurch  die  Möglichkeit  gewinnt,   d: 
»Blendwerk«    wie  ein  historisch  gegebenes  Bild  sachlich  vorzuführen.  - 
Sympathisch   berührt  dagegen  sein  starker  Patriotismus,   der  gegen  Enc  ^ 
der  Dänischen  Vorgeschichte  immer  kräftiger  hervortritt  (S.  169.  267.  27 
285.  305  bez.  226.  357.  369.  383.  410),   womit   sich    naturgemäß  eini£ 
Abneigung  nicht   nur  gegen   die  Deutschen 2)  sondern   auch   gegen  d 
Schweden  und  Norweger  verbindet:  von  der  Flucht  der  tapfersten  Schwede 
(S.  227  bez.  303)  oder  der  Sklaverei  durch  den  »Hund«  (S.  240  bez.  31! 
erzählt   er   mit  entschiedenem  Behagen.  —  So  hat  auch  seine  (von  Olri 
hervorgehobene)   Naturempfindung  (S.  87.  102.  285   bez.  112.  134.  38: 
ein    vaterländisches   Gepräge:    es    ist    die    idyllische  dänische   Frühling« 
landschaft,    die    ihn   bezaubert.     Die  vorschriftsmäßigen   ritterlichen   Ge 
fühle3)  wollen  wir  ihm  dagegen  so  wenig  wie  die  üblichen  moralische 
Betrachtungen  zum  besonderen  Verdienst  rechnen. 

Es  bleibt  eine  starke  Persönlichkeit,  der  wir  eine  bestimmte  Auswa 
wohl  zutrauen  dürfen.  Die  Heldensage  läßt  er  oft  zusammenschrumpfe 
(ebd.  S.  305)  —  die  Novellen  (vgl.  S.  254.  308)  reizen  ihn,  das  Kultu: 
historische  (nicht  das  Psychologische  Tvedeling  S.  38),  das  »Interessante«4] 
das  Merkwürdige  in  neuerem  Sinn.  Aber  für  die  alte  Religion  hat 
kein  Herz  und  für  die  Sage  kein  Verständnis.  So  zeigt  er  den  weitet; 
Abstand  von  Island  und  Dänemark  im  13.  Jahrhundert.  Ein  isländische^ 
Sagamann5)  hätte  sich  über  diesen  Ton  wohl  entsetzt,  der  norwegische 
den  Olrik6)  als  Vorgänger  Saxos  voraussetzt,  hätte  doch  wohl  anders  ge| 
ordnet.  Saxo  mit  seinem  Stil  (schon  fast  dem  des  14. — 15.  Jahrhunderts 
ebd.  S.  292),  der  Auffassung,  mit  seiner  souveränen  Behandlung  des  Stoff« 
ist  der  rechte  Totengräber  der  altgermanischen  Mythologie.  — 

Etwa  400  Jahre  lang  ruht  die  Beschäftigung  mit  der  germ.  Mythologi 
vollständig,  im  Norden  wie  in  Deutschland  und  England  mindestens  h 
man  Spuren   von   solcher  Beschäftigung  in  dem  Zeitraum  etwa  zwisch 
1250   und    1640   nicht  aufgedeckt.     Das  Interesse  an   der  alten  Literat 


x)  Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  147. 

2)  Siehe  o.  S.  574,  1.  3)  Kilderne  S.  157. 

4)  Kilderne  S.  67.  5)  Ebd.  S.  91.  «)  Bes.  S.  26. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  579 

I  md  Kultur  erwachte  naturgemäß  früher  als  das  an  den  verachteten  Resten 
kes  Heidentums.  Übrigens  muß  ich  gestehen,  daß  ich  auf  das  Aufsuchen 
olcher  Zeichen  persönlich  keine  Bemühungen  verwandt  habe. 

In  der  Mitte  des  17.  Jahrhunderts  beginnt  man  in  Dänemark  und 
sland  systematisch  zu  sammeln.  Wie  für  die  Beschäftigung  mit  den  alten 
Sprachdenkmälern  die  Wiederentdeckung  des  Codex  Argenteus  und  seine 
Veröffentlichung  durch  Franciscus  Junius x),  so  macht  für  die  mit  den 
Jrkunden  der  Mythologie  Brynjulf  Sveinsson  mit  seiner  Entdeckung  der 
Edda  des  Saemund«  (1643)  Epoche.  Der  Bischof  von  Skalholt  sammelt 
ind  sendet  seine  Handschriften  1662  dem  dänischen  König;  diese  Codices 
egii,  verbunden  mit  der  Sammlung  des  Arni  Magnusson  (1690 — 1728) 
>ilden  in  Kopenhagen  den  Grundstock  der  ersten  germanischen  Fach- 
jibliothek.  Zugleich  stiftete  Arni  auch  ein  noch  heut  wirkendes  großes 
Legat  für  diese  Studien;  noch  die  letzte  große  Edda- Ausgabe  ist  sumptibus 
egati  Arnimagnaeani  geleistet  worden.  An  jenen  Kopenhagener  Stock 
iber  setzten  sich  wichtige  Fortsetzungen  2). 

Unmittelbar  auf  Brynjulfs  Fund  folgt,  fast  genau  400  Jahre  nach  den 
;ddischen  Mythologien,  die  erste  deutsche  Mythologie:  Elias  Schedius3) 
chreibt  de  diis  Germanis  sive  veteri  Germanorum ,  Britannorum, 
Vandalorum  religione  %  erschienen  1648. 

Golther  charakterisiert  das  Werk  wie  folgt:  »Trotz  des  beträchtlichen 
Jmfangs  von  505  Seiten  steht  von  echtgermanischem  Götterglauben  fast 
lichts  in  dem  Buche.  Wir  begegnen  nur  Tuisco  und  der  Irminsäule; 
cu  dies  Mercurii  wird  bemerkt,  die  Niedersachsen  und  Westfalen  würden 
ilafür  Wodanstag  sagen.  Natürlich  ist  der  Verfasser  nicht  im  Stande, 
liinter  die  interpretatio  romana  zu  schauen.  Um  so  mehr  gallische 
Ind  wendische  Götternamen  tauchen  auf.  —  Ebenso  sind  die  gelehrten, 
meist  haarsträubender  Etymologie  entstammenden  Götzen  der  Chronik- 
rdireiber  des  16.  Jahrhunderts  berücksichtigt.« 

Die  Irminsäule  hat  übrigens  auch  in  Deutschland  früh  besonderes 
interesse  erregt;  Harsdörffer  im  Specimen  philologiae  Germanicae  (wo 
bekanntlich  der  Ausdruck  »germanische  Philologie«  zuerst  gebraucht  wird, 
wohl  als  erster  Fachausdruck  einer  nichtklassischen  Philologie),  Nürnberg 
1646  —  zitiert  »Meibomius  in  Irminsula« 5).  Ich  weiß  nicht,  welcher  von 
Jen  vielen,  schon  durch  ihren  folkloristischen  Namen  (Maibaum!)  zu 
polchen  Studien  prädestinierten  Mitgliedern  der  Helmstedter  Gelehrten- 
idynastie6)  das  ist. 

*)  1665;  R.  v.  Raumer  S.  118. 

2)  Vgl.  Chantepie  S.  9. 

3)  Aus  Kadan  in  Mähren  1615-41;  vgl.  Bolte,  ADB.  30,  662. 

4)  Golther  S.  2,  Chantepie  S.  8. 

5)  S.  269.  6)  ADB.  21,  187f. 

37* 


580  Neuntes  Kapitel. 


i 


Es  folgt  eine  Reihe  verwandter  Untersuchungen  und  Darstellungen 
In  Deutschland  versprach  J.  G.  Eccard 2)  in  der  Historia  studii  etymologu 
lingua  Germanicae  1711  eine  deutsche  Mythologie3),  die  aber  nicht  zi 
stände  kam.  Es  wären  wohl  auch  nur  Etymologien  in  Harsdörffeij 
Manier  ( —  gund  von  gönnen :  Hermanngund  cui  miles  favet  S.  257 
geworden.  —  Den  Abschluß  dieser  rein  buchmäßigen  Verarbeitunge 
bildet  ein  berühmtes  Werk,  wieder,  wie  100  Jahre  früher  das  des  Schediu: 
von  einem  Ausländer  verfaßt:  des  Genfers  Mall  et  Monuments  de  h 
Mythologie  et  de  la  Poesie  des  Celtes  et  particulierement  de 
Anciens  Scandinaves  1756%  Mallet  hat  die  Anschauung  der  nordische 
und  deutschen  Dichter  auf  ein  halbes  Jahrhundert  beherrscht.  Insbesonder 
geht  auf  ihn  seines  Kopenhagener  Nachbarn  Klopstock  teutonische  Mytho 
logie  zurück 5),  wenn  er  auch  gelegentlich  auf  des  Resenius  Edda- Ausgab 
(die  erste,  1665)  zurückgriff ö).  Mit  dem  in  Fällen  solcher  Entdeckungei 
nie  fehlendem  Instinkt  für  das  Unechte7)  griff  er  vorzugsweise  späte  Er 
scheinungen  heraus:  die  Götter  Idun,  Bragi  und  den  angeblichen  Got 
Hermod,  die  dann  von  ihm  die  »Barden«  Kretschmann  und  Denis  um 
von  diesen  Fr.  O.  Gräter,  der  erste  eigentliche  »Germanist«  8),  übernahm 
den  Hain  Glasir9)  usw.  Mallet  selbst  hatte  trotz  älteren  richtigen  An 
gaben  keltische  und  germanische  Mythologie  vollständig  zusammen 
geworfen10),  wie  später  Holtzmann  —  es  gibt  eine  ewige  Wiederkehl 
der  wissenschaftlichen  Hauptirrtümer11). 

Außerhalb  des  germanischen  Gebiets  waren  inzwischen  die  erster! 
epochemachenden  Taten  auf  dem  Gebiete  der  wirklichen  Religionsforschung 
geschehen,  und  zwar  durchweg  in  Frankreich,  das  im  18.  Jahrhundert 
auch  hier  so  unbestritten  an  der  Spitze  der  Wissenschaft  marschiert  wie 
im  19.  Jahrhundert  Deutschland.  Schon  1676  hatte  allerdings  auf  ger-1 
manischem  Boden  Benedictus  Spinoza  »ein  rein  historisches,  von  theo- 
logischen Vorurteiten  wie  von  rationaler  Willkür  sich  fernhaltendes  Ver- 
fahren« gefordert  und  auf  das  alte  Testament  selbst  angewandt12).  Aber 
eine  wissenschaftliche  Textkritik  beginnt  erst  mit  dem  Oratorianer  Richard 
Simon  und  seiner  Historie  critique  du  vieux  Testament  —  1685  geschrieben^ 
aber  nach  dem  fast  einzigen  vor  der  Zensur  Bossuets  und  der  feierlichen 


J)  Golther  S.  3f. 

2)  Vgl.  über  ihn  R.  v.  Raumer  S.  168 f. 

3)  Golther  S.  4. 

4)  Raumer  S.  272,  Golther  S.  6. 

5)  Fr.  Muncker,  Klopstock,  Stuttgart  1888,  S.  377 f. 

6)  a.  a.  O.  S.  378.  7)  Vgl.  o.  S.  283. 

8)  Vgl.  Raumer  S.  284 f. 

9)  Muncker  S.  378.  10)  Ebd.  S.  377. 

n)  Vgl.  allgemein  Paul  in  seinem  Grundriß  2.  Aufl.  I.  S.  67. 
12)  H.  Holzinger,  Genesis,  Freiburg  i.  Br.  1898,  S.  X. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  581 

i/erbrennung  auf  dem  Scheiterhaufen  geretteten  Exemplar  erst  nach  einem 
Rollen  Jahrhundert  1785  allgemein  zugänglich  gemacht.  Denn  noch  Tabaraud 
zi  in   der  Biographie  universelle  Michaud1)  hält  das  System  des  Autors  für 
fe;ehr  geeignet,    »die  Gewißheit  und  Authentizität  des  ältesten  Depots  der 
Offenbarung  zu  erschüttern«.    Simon    »hat  anerkannt,  daß  die  Entstehung 
Jdes  Pentateuchs   ein  literarkritisches  Problem  ist« 2)  —  was  für  die  Edda 
loch    vor  150  Jahren  nicht  anerkannt  wurde.  —  Auf  Simon  folgte  1753 
ier  Arzt  Jean  Astruc3)   mit  einer  der  genialsten  religionsgeschichtlichen 
md   literarhistorischen    Entdeckungen:    der  Unterscheidung   von   Quellen 
der  Genesis  nach  der  Anwendung  der  Gottesnamen  Elohim  undjahve4). 
9£in    paar  Jahre   später   machte   einer  der  bedeutendsten  Männer  der  Auf- 
idärungszeit,   Charles   de  Brosses,   Mitbegründer  der  wissenschaftlichen 
«Etymologie5),  Vorläufer  Goethes  in  der  Gesamtwürdigung  Italiens,  hervor- 
ragender Jurist  und  Beamter,  den  ersten  großen  Schritt  zu  einer  allgemeinen 
und   vergleichenden  Religionswissenschaft:   in   dem  Buch  Du  Culte  des 
fiieux  fetiches  1760   stellt  er  den  Fetischismus  als  eine  bestimmte  Stufe 
,der  religiösen  Entwicklung  fest  und  identifiziert  Bräuche  der  ägyptischen 
Religion  mit  Neger- Aberglauben 6). 

Für  den  Rückschritt  der  Religionsforschung  in  der  Restaurationszeit 
sind  die  drei  Biographien  bei  Michaud  charakteristisch.  Simon  hat  die 
Konzilien  und  Kirchenväter  »de  la  maniere  la  plus  indecente«.  be- 
handelt7); Astrucs  Arbeit  gehört8)  in  die  »Metaphysik«,  und  er  selbst  war 
»mit  einem  geraden,  aber  kalten  und  wenig  erfinderischen  Geist  begabt« ; 
Brosses  umgekehrt  hat9)  eine  »conjecture  anti - historique ,  anti- philo- 
sophique«.  aufgestellt  ....  So  die  Herren  Tabaraud,  Chaussier  und 
Adelon,  Michaud  selbst  und  Foisset  der  Jüngere.  —  Auch  wenn  man 
nicht  gerade  ein  Jean  Astruc  oder  ein  Charles  de  Brosses  ist,  bleiben 
solche  religionsgeschichtlichen  Parallelen  tröstlich;  sie  beweisen,  daß  nicht 
Jede  Hypothese,  die  nicht  sofort  buchstabenmäßig  bewiesen  werden  kann, 
deshalb  schon  erledigt  ist,  weil  ein  autoritativer  Kritiker  sie  vom  hohen 
Stuhl  als  »unwissenschaftlich«  abtut. 

Während  so  in  Frankreich  durch  Simon  die  literarischen,  durch 
Astruc  die  religionsgeschichtlichen  Schichten  des  Alten  Testaments  und 
durch  de  Brosses  die  mythologischen  Schichtungen  überhaupt  aufgedeckt 
wurden,  stand  man  in  Deutschland  noch  in  dem  Zeitalter,  da  (nach 
Lichtenbergs  Ausdruck)  das  Wissen  am  Kopf  vorbei  aus  einem  Buch  ins 
andere  zog.    (Allerdings  waren  auch  der  Mediziner  Astruc  und  der  Jurist 


x)  39,  374.  2)  Holzinger  a.  a.  O. 

3)  Bibl.  Univ.  2,  343f.  4)  Holzinger  S.  XI, 

B)  Biogr.  Univ.  5,  617.  6)  Ebd.  S.  616. 

7)  39,  355.  8)  2,  344.  9)  5,  617. 


582  Neuntes  Kapitel. 

de  Brosses  Laien ;  wie  die  Theologen  auch  in  Frankreich  dachten,  bewei 
Bossuet!)     Als  ein  Beispiel  aber,   auf  welchem  Standpunkt  am  Ende  d 
18.  Jahrhunderts   in    diesen   Fragen    die  deutsche  Theologie  stand  —  d 
ja   noch   allein   für  solche  Probleme   kompetent  war  —  sehe   man   sie 
Gottfried   Leß'  Buch    »Ober   die   Religion.     Ihre   Geschichte,   Wahl   unj 
Bestätigung«    von    1786    an.   —   Der    Verfasser,    Kgl.    Großbritannischd 
Konsistorialrat  und  Primarius  der  Theologie  zu  Göttingen,  war  das  HauA^ 
jener  berühmten  Fakultät  der  Georgia  Augusta,  die  von  Johann  Gottfriejp 
Herder  ein  Kolloquium  zur  Ermittlung  seiner  Rechtgläubigkeit  forderte 
von   ihrem  Standpunkt  aus  übrigens  nicht  ohne  Berechtigung,   denn  defccl 
wissenschaftlichen   Synkretismus    war    der   Autor   der    »PersepolitanischeiU 
Briefe«  mindestens  so  schuldig  wie  moderne  Verfechter  des  Panbabylonis 
mus.  —  Der  Primarius  der  Theologie  glaubt  allerdings,   daß  es  »besser 
Begriffe«    unter   den  Aufgeklärteren  gab1);   den  großen  Haufen  aber  lie 
man   in  seiner  Ignoranz   und  Aberglauben;    »und  diese  waren  in  der  TaP 
äußerst  traurig«2).    »Dieser  Götzendienst  war  nicht  etwa  ein  bloß  spekulrf 
lativer  Irrtum,  sondern  mit  den  schändlichsten  und  schädlichsten  Meinungen^ 
und    dem    quälendsten   Aberglauben    verbunden.«      Folgt   ein   schaurige» 
Gemälde  der  Moral  und  des  Aberglaubens  selbst  bei  den  feinsten  Nationer  ii 
des    Altertums3).      Die  Veden,   die   Besseres   lehren   sollen,   ist   der  mi 
einemmal  sehr  kritische  Autor  schon  deshalb,  weil  nicht  einmal  der  Name  des  die 
Buchs   überall  gleich  geschrieben  wird,   geneigt  überhaupt  zu  leugnen 4),iei 
was   die  Annahme   einer   Entlehnung  aus   2.  Mos.  19   nicht  ausschließt. öi 
Aber  auch  bei  den  Indern  weiß  er   nur  ein  paar  Klagen  über  »läppische w 
Fabeln«5)  anzustimmen.     Hierauf  fährt  er  in  blumenreicher  Sprache  fort: 
»An  das  fruchtbare  und  diamantenreiche  Indien  grenzt  das  kaufmännische 
zeremoniöse  und  betrügerische  Sina«  und  ist  abermals  verzweifelt,   wenn 
die  Jesuiten   von   der   hohen  Weisheit  der   heiligen  Bücher  der  Chinesen  Ig 
reden6).  —  Von  den  Germanen  ist  gar  nicht  erst  die  Rede.  i 

Dies  ist  der  »historische  Sinn«  bei  einem  Theologen,   den  zwar  die*/ 
ganz  strengen  Orthodoxen  auch  schon  des  Latitudinarismus  beschuldigten 7), 
der  aber  zu  den  »flachen  Aufklärern«,  über  deren  Mangel  an  historischem 
Sinn  man  mit  soviel  Mangel  an  historischem  Sinn  klagt,  jedenfalls  nicht 
gehört  hat8)! 


*)  1,  84.  2)  S.  90.  3)  S.  92. 

4)  S.  423.  5)  S.  424.  6)  S.  428. 

7)  Bertheau,ADB.  18,  445. 

8)  Es  ist  lehrreich,  mit  Less'  Machwerk  eine  moderne  Arbeit  zu  vergleichen, 
wie  die  Religion  der  afrikanischen  Naturvölker  von  W.  Schneider  (später 
Bischof  von  Paderborn) ,  Münster  1891 ,  die  bei  durchaus  christlicher  Grund- 
anschauung doch  sogar  die  Negerreligion  (S.  6 f.)  gegen  »unbillige  Beurteilung« 
verteidigt. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  583 

e,  Im  Norden  stand  es  nicht  anders.  Finn  Jönsson  *),  nach  einem  Jahr- 
hundert  Brynjolfs  Nachfolger  auf  dem  nun  protestantischen  Bischofssitz  in 
di|<alholt,  »erklärte  die  Edda  für  eine  Mischung  aus  christlichen  Ideen  und 
sicjcan  dal  Ösen  Erfindungen«  (1772). 

Jt][  Im  Grunde  war  das  auch  noch  die  Auffassung  deutscher  Gelehrten: 
Adelungs,  der  »die  Götterlehre  der  Edda  für  eine  bloße  Erdichtung,  für 
ipne  Nachbildung  christlicher  Ideen«  erklärte2),  und  Runs'  in  seiner  »Ge- 
iejzhichte  der  Religion,  Staatsverfassung  und  Kultur  der  alten  Skandinavier« 
-1801).  Golther  hebt8)  mit  Recht  in  den  Behauptungen  des  ersten  Berliner 
Je ieschichtsprofessors 4)  einen  gesunden  Kern  heraus:  Rühs  unterscheidet 
eiils  erster  Volksglauben  und  Kunstdichtung.  Nun  aber  geht  er  gleich  zu 
is/eit  und  löst  in  seiner  Übersetzung  der  Prosa-Edda5)  den  »größten  Teil 
n  er  mythischen  Geschichten«  von  der  Volkstradition  ab6).  Dem  wider- 
sprach Friedrich  Majer,  ein  Schützling  Goethes7)  —  aber  auch  er  nahm 
a  eben  dem  volkstümlichen  ein  fremdes  »System«  der  Mythologie  an,  das 
r  phantastisch  von  dem  indischen  Buddhismus  ableitete;  noch  schlimmer 
tls  Rühs,  der8)  doch  nur  den  Namen  »Äsen«  für  eine  Mönchserfindung 
iiielt,  die  mit  der  Lehre  von  der  asiatischen  Einwanderung  zusammen- 
nänge ! 

Die  nächsten  Jahre  zeigen  nun  einen  leidenschaftlichen  Kampf  um 
lie  »Echtheit«,  d.  h.  den  nationalen  Ursprung  der  Edda  und  überhaupt 
ler  nordischen  Mythologie.  Rühs 9)  bekämpft  die  Phantasien  von 
jrundtvig10)  ungefähr  wie  Voß  n)  Creuzer  bekämpft;  aber  er  übersieht 
wie  dieser,  was  gesund  an  der  unwissenschaftlich  durchgeführten  Meinung 
war.  Grundtvig  ist  einer  der  ersten  Vertreter  der  deutschfeindlichen 
Chauvinismus  12),  dessen  leidenschaftliche  Ausbrüche  der  deutsche  Gelehrte 
m  sachlich  wie 18)  die  von  Rask  zurückweist.  Aber  aus  diesem  National- 
^efühl  erwuchs  ihm  auch  zuerst  die  Auffassung  der  Mythologie  als  einer 
Einheit,  als  eines  in  sich  (im  Wesentlichen)  einheitlichen  Ausdrucks 
nationaler  Denkweise  und  Empfindung 14): 


*)  Chantepie  S.  11. 

2)  1797;  Golther  S.  8.  3)  S.  9. 

4)  Pyl,  ADB.  24,  624.  Rühs  war  in  seinen  Anschauungen  von  seinem 
Lehrer  Schloezer  abhängig;  vgl.  Frensdorff ,  Von  und  über  Schloezer,  Berlin 
1909,  S.  109. 

5)  Die  Edda.    Nebst  einer  Einleitung  der  nord.  Poesie  u.  Mythologie,  1812. 

6)  S.  280. 

7)  Mytholog.  Dichtungen  und  Lieder  der  Skandinavier,  1818,  S.  XII. 

8)  a.  a.  O.  S.  10.  9)  S.  154. 

]0)  Nordens  Mytologi  1808;  vgl.  Chantepie  S.  11. 
u)  Siehe  u.  12)  Vgl.  Rühs  S.  157.  13)  S.  7  Anm. 

14)  Liebevolle  Charakteristik  von  Axel  Garde,  Grundtvigs  Mytologi,  Kopen- 
hagen 1897. 


584  Neuntes  Kapitel. 

Um  diese  prinzipielle  Frage  wurde  gekämpft  —  gerade  wie  zwisch 
Bang  und  Bugge  auf  der  einen,  Müllenhoff  auf  der  anderen  Seite  siebz 
Jahre  später,  nur  mit  veränderter  nationaler  Frontstellung:   diesmal  war« 
es   gerade   die  Nordleute,   die  gegen  die  »Echtheit  der  Edda«  schriebei 
Aber  auf  die  Seite  von  P.  E.  Müller,   dem  dänischen  gelehrten  Bische 
der  für  die  »Echtheit  der  Asalehre«  1812  gegen  Rühs  eintrat,   stellte  siel 
alsbald  auch  ein  junger  deutscher  Forscher,   durch  den  jene  Anschauun 
von    der   nationalen   Bedingtheit   der   Mythologie  ein   selbstverständliche^ 
Besitztum  der  Wissenschaft  werden  sollte:  J.  Grimm1). 

Handelte    es  sich   hier  um   einen   Streit  um   die  allgemeine   A  u  f  I 
fassung,    so    begann    inzwischen    auch    der   große    Kampf    um    di 
Methode  sich   vorzubereiten.     Im   Vordergrund   stand   der  Streit  übefci 
den    Ursprung,    der    in    unseren    Tagen    ebenfalls    so    lebhaft    erneuen 
worden    ist2):   einheitlicher   oder   vielfacher  Ursprung  oder,   mit  anderer 
Worten,    geographische   oder    psychologische    Erklärung.     Das    Problem 
wurde  aktuell,   seit  Herder  auf  die  Wege  der  vergleichenden  Religions- 
geschichte gewiesen  hatte.    (Vor  ihm  vielleicht  schon  Hume,  der  de  Bross( 
angeregt  haben  soll.) 

Wieder  geschah  der  erste  Schritt  in  Frankreich,  höchst  voreilig  und! 
gewaltsam,  aber  doch  nicht  ohne  daß  ein  richtiges  »Apergu«  (nach  Goethes) 
Terminologie)  zugrunde  gelegen  hätte. 

Für  den  allezeit  »simplifizierenden«  Geist  der  Franzosen  liegt  diel 
monistische  Tendenz  immer  nahe.  Er  wird  immer  zentralisieren,  immer 
Einen  Mittelpunkt  aufsuchen,  wie  La  Rochefoucauld  im  Eigennutz  die | 
Triebfeder  aller  menschlichen  Handlungen  sah  und  Beyle- Stendhal  in  der 
Eitelkeit.  So  schreibt  C.  F.  Dupuis3),  wieder  einer  jener  vielseitigen 
Menschen  der  Aufklärungszeit,  Erfinder  eines  Telegraphen,  Mitglied  des 
Konvents,  1794  sein  Buch  »Origine  de  tous  les  Cultes  ou  Religion  Uni- 
verselle« 4).  Er  ging  von  den  Konstellationen  aus,  kam  zu  astronomischen 
Ableitungen  zunächst  der  ägyptischen  Religion,  dieses  liebsten  Versuchs- 
objekts der  alten  Mythologen,  dann  zur  Verallgemeinerung  und  deduzierte 
in  jenem  Werk,  alle  Mythen  seien  Naturmythen.  Er  zog  alle  Kon- 
sequenzen, erklärte5)  auch  Christus  für  einen  alten  Sonnengott,  wobei  ihm 
das  allegorische  Bild  des  Lammes  als  Vermittlung  diente,  und  nahm  so 
die  neueste  Entdeckungen  von  A.  Drews 6)  voraus  .  .  .  Der  Schlüssel  war, 


*)  Seit  1812;  vgl.  Golther  S.  9. 

2)  Vgl.  meine  Kriterien  der  Aneignung,  Leipzig  1904;  vgl.  auch  o.  S.  27. 

3)  1742—1809;  vgl.  Biogr.  Univ.  12,  51. 
*)  Neudruck  Paris  1869. 

5)  Neudruck  S.  188  f.,  vgl.  S.  250. 

6)  Die  Christusmythe,  1909;  vgl.  über  Petrus  dens.  in  der  Zeitschrift  »Das 
Freie  Wort«  1909  S.  174f.  und   »Die  Petruslegende«,  Frankfurt  a.  M.  1910. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  585 

:Wie  jeder  Schlüssel,  der  alle  Schlösser  öffnen  will,  ein  gefährlicher  Dietrich ; 
feber  die  Einfachheit  bestach.  Noch  am  Weihnachtstag  1867  schreibt  der 
eiegelianische  Philosoph  Arnold  Rüge  an  seinen  Sohn:  »Die  Lösung  der 
'ftijeheimnisse  der  Dogmatik  hat  Dupuis  FOrigine  de  tous  les  cultes  und 
'oi:euerbach  im  Wesen  des  Christentums  und  Hegel  in  der  Phänomenologie 
'eingeben « J).  Was  Wunder ,  daß  die  Mythologen  von  diesem  Zauber- 
Schlüssel  nicht  wieder  ablassen  wollten  und  nur  noch  Spezifikationen 
gestatteten:  W.  Schwartz  deutete  alles  meteorisch,  Max  Müller  solar2) 
imd  —  wenn  man  bedeutenden  Namen  den  seinen  beifügen  darf !  —  Siecke 
f  illes  lunar. 

lif»       Später    hat   Dupuis    seiner    universellen   Hypothese    noch    eine  geo- 

etirraphische  hinzugefügt:  seine  Babylonier  waren  die  Pelasger3),  von  denen 

rman  ja  auch    in   der  Tat   noch   viel   weniger   weiß.     Auf  Dupuis  folgte 

ntveniger  geistreich,  aber  gelehrter,    1805  J.  Ant.  Dulaure  (1755 — 1835), 

niibenfalls  »conventionnel,  archeologue,  Historien,  et  Van  des  ecrivains 

:es  plus  feconds  de   notre  e'poque« 4)  mit  dem  Buche  Des  Divinites 

^dndratrices^).     Er  trieb   die  Rückkehr  zur  Natur   noch   weiter  als  sein 

Konventsgenosse  und  sah  überall  Lingam  —  gegenüber  den  allzu  sublimen 

Vorstellungen  deutscher  Mythologen  vielleicht  keine  überflüssige  Reaktion, 

iber  eben   auch   fast   zur  fixen  Idee  gesteigert;   so  sieht  er  denn6)  auch 

bei   den  alten  Germanen  eigentlich  nichts  als  den  Priapus  des  Frey.     Er 

hält  übrigens  diesen  Gott  wie  Odin  und  Thor  für  Entlehnungen  von  den 

Römern :  auch  hier  Annäherung  an  die  geographische  Erklärung. 

Diese  Manier,  aus  Einem  Gott  alle  abzuleiten,  war  auch  nicht  aus- 
zurotten. Nicht  nur  hat  C.  H.  Barth  alle  möglichen  Göttinnen  1835  auf 
Isis-Hertha  zurückgeführt7),  sondern  selbst  J.  Grimm  ist  in  seiner  Kon- 
struktion des  germanischen  Liebesgottes8)  weit  gegangen,  freilich  nicht 
o  weit  wie  Spätere,  die  aus  Einem  Himmelsgott,  Lichtgott,  Waldgott 
beliebig  viele  Götter  »ableiteten«.  In  der  Regel  ward  dabei  der  Begriff 
Emanation«  eingeschoben,  deren  Ergebnis  man  seit  Usener  mit  einem 
^eigentlich  grammatischen)  Terminus  »Hypostase«  nennt.  Aber  ich  glaube 
die  methodische  Forderung  aufstellen  zu  dürfen,  daß  man  von  solchen 
Emanationen  eines  Gottes  nur  dann  sprechen  darf,  wenn  eine  greifbare 
Begründung  der  Spezialisierung  vorliegt.  Ein  Gott,  der  unter  anderem 
Heilgott  ist,  mag  einen  speziellen  Heilgott  als  seine  Hypostase  erzeugen, 
oder   der   lokale  Kult   einer  Gottheit   mag   ihr   ein    neues  Gesicht  geben; 


{)  A.    Ruges    Briefwechsel   und    Tagebuchblätter,    her.  v.   P.   Nerrlich, 
Leipzig  1886;  2,  324. 

2)  Vgl.  Mogk  S.  240.  3)  Biogr.  Univ.  S.  52. 

4)  Biogr.  Univ.  11,  483.  5)  Neudruck  Paris  1905. 

6)  Neudruck  S.  180.  7)  Nach  Chantepie  S.  116. 

8)  Kl.  Sehr.  2,  314. 


586  Neuntes  Kapitel. 

aber  ohne  solche  umgestaltende  Faktoren  einfach  aus  Ähnlichkeit  auf  AI 
stammung  zu  schließen,  ist  Willkür.  Wieviel  Emanationsfälle  sind  den 
überhaupt  sicher  bezeugt? 

Man  sieht,  daß  mit  dem  Beginn  der  Mythenvergleichung  gleich  auc 
ihre  wichtigsten   Fehlerquellen   hervorsprangen.     Und   dazu   gehörte  vc|| 
allem   auch    die   Neigung   der  Mythologen,    ins   historische  Gebiet   übe 
zugreifen.  lurct 

Man    erkannte   die  Gefährlichkeit  dieser  Tendenz  zur  »MythisierungP 
sofort.    Gegen  Dupuis  schrieb  Jean  Baptiste  Peres  1827  seine  sehr  witzig1 
Satire  »The  Grand  Erratum« *),  in  dem  er  Napoleons  Nichtexistenz  bewies 
(Er  lehnte  sich  2)  an  die  ältere  Satire  des  berühmten  Erzbischofs  Whatel; 
an,  der  1819  gegen  Humes  Skeptizismus  seine  »Historischen  Zweifel  b 
treffs  Napoleon  Bonaparte«  gerichtet  hatte)3).    Solche  Parodien  sind  seitde 
oft  geschrieben  worden:  Fr.  H.  v.  d.  Hagen  hat  1838  den  »Luther-Mythus 
Beweis   daß  Dr.  Martin  Luther   nie  gelebt  hat«    verfaßt4);   Baethgen   ha 
gegen  die  Mythisierung  Simsons   eine    von  Karl   dem  Großen   gestellt5) 
G.  Lasson  gegen  die  Verfechter  von  »Babel  und  Bibel«  einen  Nachweis 
daß   Kaiser   Wilhelm  II.   eine   mythische   Gestalt   ist6).     So   hat  sich   di<  i 
Warnung  vor   dem  »Mythifizieren«    immer  wieder   nötig  gezeigt.     DenrP 
zwei    Fehlschlüsse 7)    suchen   immer  wieder  geschichtliche   Gestalten   der  t 
Mythologie  zu  gewinnen:  erstens:  es  wird  von  ihm  Mythisches  erzählt 
folglich   ist   er   eine  mythische  Person;   zweitens:   er  hat  Ähnlichkeit  mit) 
einem  Gott  —  folglich    ist   er   ein  Gott.     Aber  jeder  Heilige  wollte  und 
sollte  Christus  ähnlich   sehen8),  ohne  deshalb  eine  Hypostase  Christi  zu 
sein.    Und   trotz  aller  mythischen  Berichte  ist  Buddha9)  ein  Mensch  und 
Zarathustra  auch  einer10). 

Dies  unbestimmte  Schweben  zwischen  Geschichte  und  Mythus  war]' 
nun  aber  gerade  für  die  junge  Wissenschaft  der  Mythologie  verderblich.^ 
_____  i 


x)  Neudruck  in  Evans  The  Napoleon  Myth,  Chicago  1905,  S.  11  f. 

2)  Evans  S.  5. 

3)  Neudruck:  Famoros  Pamphlels  ed.  by  G.  H.  Morley ,  London  1886;  gegen 
Kalthoff  erneuert  von  Henke,  Bremer  Beiträge,  Okt.  1906,  S.  40 f. 

4)  Neudruck  Leipzig  o.  J. 

5)  Vgl.  Stahn,  Simson,  S.  48. 

6)  Kirchliche  Wochenschrift,  Jan.  1903,  Lit.  Beiblatt. 

7)  Die  in  Jensens  Moses,  Jesus,  Paulus  (Frankfurt  a.  M.  1909)  so  über- 
deutlich zu  Tage  treten. 

8)  Vgl.  z.  B.  W.  Goetz,  Die  Quellen  zur  Geschichte  des  hl.  Franz  von 
Assisi,  Gotha  1904,  S.  259. 

9)  Den  Senarts  höchst  gelehrter  Essai  sur  la  legende  de  Buddha,  Paris 
1875,  zu  einem  Sonnengott  machen  wollte;  vgl.  Oldenberg,  Buddha,  Berlin 
1881,  S.  73. 

10)  Barthol omae,  Die  Gäthas  des  Awesta,  Straßburg  1905,  S.  133. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  587 

A|ei  den  Bahnbrechern  der  nordischen  Religionsgeschichte  hatte  Saxos 
uhemerismus  Nachklang  gefunden:  der  ältere  Grundtvig  hielt  zwar  nicht 
»din  für  einen  König,  glaubte  aber,  ein  Dichter  habe  sich  Odins  Rolle 
igemaßt1)  —  der  jüngere  sollte  sich  später  Müllenhoffs  begeisterte  Zu- 
immung  verdienen,  als  er  die  Bravallasch  lacht,  die  in  der  Starkardsage 
eine  große  Rolle  spielt,  für  mythisch  erklärte.  Die  Unsicherheit,  verstärkt 
urch  die  nicht  wie  bei  hellenischen  Göttern  festen  und  bestimmten  Um- 
sse  der  Gestalten,  war  groß  genug.  Sie  wurde  noch  verstärkt  durch  die 
eue  romantische  Art  der  Mythenvergleichung. 

Wir  sahen  die  Franzosen  von  der  psychologischen  Erklärung  aus- 
ehen :  gewisse  Erscheinungen  zwingen  dem  Menschen  gewisse  mythische 
usdrucksformen  auf.  Nur  subsidiär  verwenden  Dupuis  (Pelasger)  oder 
[»ulaure  (Römer)  die  Wanderhypothese.  Sie  wird  dagegen  beherrschend 
ei  den  deutschen  »Symbolikern«. 

Aus  der  Stimmung  der  Romantik  heraus  erwuchs  die  Mythen- 
ergleichung der  Creuzer2),  Görres3),  Kanne4).  Sie  machten  dreierlei 
'oraussetzungen :  erstens :  in  den  Mythen  liegt  ein  geheimnisvoller  höherer 
inn  verborgen,  der  zweitens  überall  wesentlich  der  gleiche  ist  und  deshalb 
rittens  von  einem  bestimmten  asiatischen  Zentrum  ausgeströmt  sein  muß. 
läufig  spielte  dabei  noch  die  Vorstellung  von  einer  geheimen  Bewahrung 
hristlicher  Uroffenbarung  mit,  wie  denn  die  »retrospektive  Christiani- 
ierung«  zu  den  typischen  Entwicklungsstufen  der  Religionsgeschichte  zählt5). 

Man  kann  nicht  leugnen,  daß  sie  es  einigermaßen  toll  trieben.  Gegen 
>euzer6)  schrieb  J.  H.  Voß  seine  Antisymbolik  1824,  massiv,  äußerst 
rob,  aber  im  Grunde  recht  vernünftig.  Es  war  keine  jener  Auseinander- 
etzungen,  wie  später,  kaum  minder  herb,  zwischen  Eduard  Meyer  und 
;ohde,  oder  zwischen  Usener  und  Wissowa ;  es  standen  sich  hier  wirklich 
acht  prinzipielle  Auffassungen  gegenüber,  sondern  Wissenschaftlichkeit 
i?id  Phantastik.    Voß  packt  mit  sicherer  Hand  7)  den  Ausgangspunkt  auch 

*)  Vgl.  Rühs  S.  156,  ähnlich  Majer. 

2)  Symbolik  und  Mythologie,  1810—12. 

3)  Mythengeschichte  der  asiatischen  Welt,  1810. 

4)  Pantheum  der  Naturphilosophie,  1811;  vgl.  Chantepie  S.  14. 

5)  Kaum  war  der  Zendawesta  entdeckt,  so  erklärte  ein  so  kluger  Kopf  wie 
er  Abbe   Galiani,   er   sei   modern  und  stecke  voll  Christentum  und  Moha- 

nedanismus  (II  pensiero  dell'  abbate  Galiani,  Bari  1909,  S.  176).  Den  Homer  hat 
Slägelsbach  der  christlichen  Theologie  nahegebracht  (doch  vgl.  ADB.  23,  225), 
den  Plato  Fr.  L.  Stolberg  zum  Mitgenossen  einer  christlichen  Offenbarung  ge- 
macht; und  wie  hat  man  es  gar  mit  dem  Buddhismus  bis  zu  van  den  Bergh 
/anEysinga  (Indische  Einflüsse  auf  evangelische  Erzählungen,  Göttingen  1904) 
erst  in  diesem,  dann  freilich  auch  im  umgekehrten  Sinn  getrieben! 

6)  Vgl.  die  Charakteristik  von  C.  Preller,  Hallische  Jahrbücher  1,  801  f. 

7)  S.  41. 


588  Neuntes  Kapitel. 

von  Rohdes  umwälzenden  Forschungen :  das  Totenreich ;  er  amüsiert  sich 
köstlich  über  »alles  mythische  Rindvieh,  das  auf  einer  symbolischen  i||jjj 
durcheinander  hüpft«  und  über  »die  gesamte  Eselschaft  der  Mytholoj 
und  der  Bibel«  insbesondere,  womit  der  voreilige  Schluß  aus  dem  Attribj 
auf  den  Gott  und  die  doktrinäre  Annahme  von  Totems  auch  bei  dj 
Neuesten  getroffen  wird;  er  stellt  den  Sublimitäten  Creuzers  recht  gn 
aber  gar  nicht  so  unzutreffend  den  »Göttersultan«2)  entgegen,  stimil 
freilich  auch  der  Meinung  Blackwells3)  mit  Belegen  zu:  »Die  gemeins| 
(ja!)  und  wahrscheinlichste  Meinung  von  den  Sirenen  ist,  daß  es  liederlicl 
Weibspersonen  waren,  die  sich  den  Schiffern  feilboten.«  —  Und  so  merl 
er  in  seinem  Haß  gegen  alles  Romantische4)  denn  auch  nie,  wo  CreuzJ 
fruchtbare  Ideen  äußert,  wie  über  heidnischen  Ursprung  der  Geburtsfeiu 
Christi5)  —  ein  Punkt,  an  den,  in  ganz  anderem  Stil  freilich,  Useneij 
Religionsgeschichtliche  Untersuchungen  wieder  angeknüpft  haben.  Ui 
schließlich  sagt,  vielleicht  zu  lobend,  L.  Urlichs6):  »Obgleich  die  Aus 
führung  der  Aufgabe  der  scharfen  Kritik  vielfach  Blößen  darbietet,  di 
philosophische  Behandlung  teilweise  von  Schelling,  die  historische  vofl 
O.  Müller,  Welcker  überholt  worden  ist,  darf  man  doch  sagen :  der  neuere! 
Mythologie  im  weitesten  Umfang  ist  von  Creuzer  das  Ziel  gezeigt,  dij 
Wissenschaft  von  ihm  begründet  worden.« 

Man  wird  wahrscheinlich  finden,  ich  sei  auf  diese  Erscheinungen  vi< 
ausführlicher  eingegangen,  als  im  Rahmen  einer  altgermanischen  Religions 
geschichte  berechtigt  sei.  Ich  glaube  dem  widersprechen  zu  dürfen.  Füi 
uns  hat  die  merkwürdige  Episode  der  Creuzer  -  Görresschen  Mythen- 
symbolik eine  dreifache  Bedeutung.  Zunächst  läßt  sie  uns  völlig  J.  Grimm« 
Werk  verstehen :  aus  dieser  Atmosphäre  ganz  unmittelbar  ging  die  größte 
aller  mythologischen  Leistungen  hervor,  und  nicht  bloß  an  ihren  Schwächen» 
ist  das  zu  merken.  Zweitens  sehen  wir  in  diesem  Wirtschaften  mit  ent-. 
legenen  Ähnlichkeiten  ohne  Prüfung  der  Vermittlungswege,  in  diesemj 
Ignorieren  nationaler  Eigenart,  in  diesem  Umdeuten  unverständlicher  Ge- 
bräuche wie  im  Spiegelbild  moderne  Verirrungen;  denn  ob  das  »mytho- 
logische Vieh«  sich  auf  symbolischer  Au  herumtummelt  oder  auf  folk- 
loristischer, macht  keinen  großen  Unterschied;  und  ob  die  abgrundtiefe 
Gelehrsamkeit,  die  hinter  mythischen  Verkleidungen  steckt,  aus  Indien 
hergebracht  ist  oder  aus  Irland,  macht  auch  nicht  viel  aus.  Und  drittens 
gab  der  Streit  zwischen  »Symbolikern«  und  »Philologen«  zu  der  ersten 
gründlichen  methodischen  Auseinandersetzung  über  Wesen  und  Betrieb 
der  Mythologie  Anlaß. 


*)  S.  61.  2)  S.  203. 

3)  S.  297.  4)  S.  353. 

5)  S.  144.  6)  ADB.  4,  595. 


i 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  589 

Dieser  Gedankenaustausch   liegt  vor   in   den   Briefen  über  Homer 

*nd  Hesiodus  vorzüglich  über  die  Theogonie  von  G.  Herrmann   und 

r.  Creuzer  1818  x).    Hier  haben  wir  aus  dem  Munde  des  Ritters  Herrmann 

ne  Reihe  wichtiger  Aussprüche:    »Ich  halte  die  griechische  Mythologie  für 

ne  vielartige,   zwar  ihrem  Ursprünge  nach  verwandte,   aber  keineswegs 

n   System   ausmachende   Masse«2);   die   Anerkennung  gelehrter  Mythen 

lfeben   volkstümlichen3)   und   den  Begriff  einer   eigenen   »mythologischen 

ls  prache«  4),  die  er  freilich  noch  viel  zu  sehr  wie  eine  willkürliche  Geheim- 

^prache  ansieht.    Auch  kündet  sich  bei  ihm  die  besonders  von  Müllenhoff 

o  erfolgreich  vertretene  Anschauung  bereits  an,  Mythen  seien  nachträglich 

an  wirkliche  Örter  und  Personen  angeknüpft  worden«  5).    Demgegenüber 

un  Creuzer   mit  seiner  gut  theologischen  Meinung  von  der  »doppelten 

Ansicht«6):    «Jeder   durchgreifende  Nationalmythus   hatte  bei  den  ältesten 

Völkern,    schon    von   frühe,    seine  doppelte   Ansicht   und   ward   in 

•e  d  e  r  konsequent  gedacht,  und  fortgepflanzt :  eine  inneretheologische 

wenngleich   im   Geiste  alter  Naturreligion   hauptsächlich)   und   eine 

ußere,   volksmäßige«7).     Man  sieht:   wo  Hermann  scheidet,    wirft 

>euzer   zusammen,   und  er  würde   in  dem  gelehrten  Mythus  von  Iduns 

\pfeln  so  gut  einen  volksmäßigen  Kern  sehen,  wie  in  dem  volkstümlichen 

on  den  Sonnen wölfen  einen  theologischen. 

Zu  diesem  fortdauernd  wichtigen  Gegensatz  kommt  ein  anderer, 
iermann,  der  große  Grammatiker,  geht  von  dem  Material  aus,  das  ihm 
las  festeste  scheint:  den  Namen  der  Götter.  Er  ahnte  noch  nicht,  welch 
:erbrechlicher  Stoff  gerade  dies  ist.  (Ebenso  hat  Virchow  gern  die  archäo- 
ogischen  Funde  gegen  die  Linguisten  ausgespielt:  »wir  Anthropologen 
laben  gern  etwas  Festes  in  der  Hand«  hörte  ich  ihn  in  der  Anthropo- 
logischen Gesellschaft  sagen ;  ja,  wenn  nur  auch  die  Deutung  etwas  Festes 
väre!)  Er  erkannte  sehr  richtig  die  überwiegend  appellative  Bedeutung 
ier  Götternamen  und  schloß  daraus8),  diese  bedeuteten  »Prädikate  der 
Matur«.  Damit  war  der  Grundirrtum  der  vergleichenden  Mythologie  (erster 
Stufe)  gegeben,  die  man  ohne  diese  Vorgeschichte  nicht  richtig  verstehen 
kann.  —  G.  Hermann  forderte  deshalb  genaue  Etymologie  —  ein  un- 
geheurer Fortschritt:   denn  Creuzer  (an  der  gleichen  Stelle,  wo  er  geist- 

x)  Vgl.  allgemein  H.  Stein thal,  Geschichte  d.  Mythologie  in  d.  neuern 
Philologie,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  3,  2971;  bes.  G.  Hermann  S.  302,  Vors 
S.  307,  Creuzer  S.  309;  über  den  Briefwechsel  S.  311. 

2)  S.  61.  3)  S.  87.  4)  S.  86. 

5)  S.  87;  über  seine  mythologische  Methode  überhaupt  S.  59  f. 

6)  Etwa  wie  Otfried  nach  den  Kirchenvätern  eine  mehrfache  Auslegung 
der  Bibel  fordert;  vgl.  Steinthal  S.  309. 

7)  S.  41 ;  Unterstreichungen  im  Original. 

8)  Vgl.  Steinthal  S.  303. 


590  Neuntes  Kapitel. 

reich   aus   einem  Instinkt   für  die   epische  Psychologie  Günther  mit  Ka 
daules  und  Rhodope  mit  Kriemhild  vergleicht)   erklärt1):    »Tradition  ur 
Mythe  müssen  zufrieden  sein,  den  Reichtum  der  Ideen  in  einer  Zahl  vc 
Worten  wiederzugeben,  die  eine  Ähnlichkeit  des  Lautes  haben.«    Ogyg 
und  Gyges  —  wenn  sie  nur  beide  »mit  dem  Wasser  zu  tun  haben«. 
Wie  es  nun  mit  der  Etymologie  von  Götternamen  nicht  nur  bei  J.  Grini 
und  Simrock,  sondern  auch  bei  Bugge  (völva  —  Sibylla)  und  E.  H.  Mey 
steht,  das  weiß  man;  und  wenn  v.  Wilamowitz  den  heutigen  Philolog 
gewünscht  hat,  sie  möchten  so  viel  Griechisch  lernen,  wie  Gottfried  Herman 
gekonnt  hat2),   so  wäre  es  auch  weiter  wünschenswert,   daß  sie  es  beir 
Etymologisieren  nicht  nur  lexikologisch  verwendeten! 

Endlich  glaubt  auch  Hermann3)  an  Herodots  Aussage,  die  Götte 
der  Griechen  stammten  von  den  Barbaren  (wie  Dulaure  und  Spätere  da 
allgemein  oder  speziell  gelehrt  haben),  und  kann  also  so  wenig  wie  Creuze 
mit  seinem  »Ton  und  Laut  der  allgemeinen  Natursprache« 4)  zu  eine 
individuellen  Erfassung  der  nationalen  Mythologie  gelangen. 

Solche  allgemeinen  Vorstellungen  beherrschten  auch  noch  den  be 
deutendsten  Vorarbeiter  J.  Grimms  bei  der  Mythologie:  F.  J.  Mone5)  bej 
seiner  Geschichte  des  Heidentums  im  nördlichen  Europa  1822.  »Er  such 
allerwärts  System«,  sagt  Scherer6);  er  sucht  überall  die  Ideen  der  Spekula 
tiven  Philosophie,  sagt  Chantepie7).  Immerhin  brachte  seine  Anwendung 
Creuzerscher  Grundsätze  auf  die  germanische  Mythologie  ein  stattliches 
Material  zustande.  Und  dasselbe  Jahr  zeigte  auch,  daß  man  in  Deutsch- 
land anfing,  sich  einem  fruchtbaren  Einzelstudium  mythologischer  Tatsachen 
zuzuwenden;  freilich  blieb  eine  Arbeit  wie  H.  Leos  Ȇber  die  Verehrung 
Odins  in  Deutschland«  1822 8)  mit  ihrem  Versuch,  die  Grenzen  der 
Wodansreligion  (wie  wir  jetzt  sagen)  zu  bemessen,  auf  lange  Zeit  ver 
einzelt  —  fast  bis  zu  Henry  Petersen. 

Aber  auch  der  größte  Name,  den  die  Geschichte  unserer  Mythologie 
neben  dem  Jacob  Grimms  zu  nennen  hat,  gehört  noch  dieser  ihrer  prä- 
historischen Periode  an.  LudwigUhland9)  ist  fast  gleichzeitig  mit  Grimms 
Mythologie  mit  der  ersten  großen  Spezialuntersuchung  über  einen  ger- 
manischen Gott  hervorgetreten:  dem  Mythus  von  Thor  1836.  In  Vor- 
lesungen   hat  er  vieles  gleichzeitig  mit  ihm  behandelt:   Odin  (erst  in  den 


!)  S.  105  Anm. 

2)  Homerische  Untersuchungen,  Berlin  1884. 

3)  Vgl.  Steinthal  S.  305. 

4)  S.  97;  vgl.  Steinthal  S.  312. 

5)  R.  v.  Raum  er  S.  500.  588. 

•)  J.  Grimm,  Berlin  1885,  S.  275. 

7)  S.  15.  8)  Chantepie  S.  23. 

9)  Vgl.  Golther  S.  15,  Chantepie  S.  23. 


§  34.    Germanische  Mythologie  vor  J.  Grimm.  591 

chriften  Bd.  6  nach  seinem  Tode  erschienen),  Umriß  der  nordischen 
Göttersage1),  älteste  Spuren  der  deutschen  Göttersage2).  Er  hat  als  einer 
er  ersten  die  nordischen  Religionen  gesondert,  »den  Unterschied  des 
orwegischen  Thorkultes,  des  schwedischen  Freykultes  und  endlich  auch 
las  Eindringen  Odins  im  Norden«3)  hervorgehoben;  hatte,  wie  Golther4) 
iiübsch  hervorhebt,  den  Einfluß  der  norwegischen  Naturumgebung  auf 
lie  nordischen  Göttergestalten,  vortrefflich  erfaßt.  Seine  klare  Darstellung, 
teine  kritische  Behandlung  der  Quellen,  vor  allem  seine  Kunst  einheitlicher 
Erfassung  machen  auch  aus  diesen  Studien  Meisterstücke  wissenschaftlichen 
ptils.  Aber  sie  haben  deshalb  nur  umsomehr  geholfen,  den  einseitig 
laturmythologischen  Standpunkt  zu  befestigen.  Wenn  Chantepie5)  meint, 
[ieine  Aufsätze  über  Thor  und  Odin  seien  von  der  allegorisierenden  Tendenz 
licht  frei,  die  alles  auf  der  Grundlage  der  Naturphänomene  erklären  möchte, 
iiind  sie  schieden  die  verschiedenen  Elemente  nicht  scharf  genug,  die  in 
jiie  Formung  eines  Mythus  eintraten,  so  ist  dies  wohl  noch  zu  matt  aus- 
gedrückt: in  Wirklichkeit  mußte  gerade  ein  Dichter  wie  Uhland,  ein  Mann 
der  Reflexion,  des  Feilens  und  Vereinheitlichens  für  jene  Methode  die 
allergefährlichsten  Talente  mitbringen.  Der  bestechende  Zauber,  den  die 
Persönlichkeit  des  herrlichen  Mannes  über  alle  seine  Werke  breitet,  hat 
diesen  Auslegungen  jedes  Attributs,  jedes  episch  oder  psychologisch  not- 
wendigen Zuges  im  Sinne  einer  künstlichen  Mythensprache  fortwirkende 
Kraft  selbst  da  gegeben,  wo  die  gröbere  Übersetzung  aus  der  mythischen 
Anschauung  in  die  atmosphärische  Allegorie  versagte6).  —  Einen  eigent- 
lichen Fortschritt  bedeutet  Uhlands  Mythenforschung  für  die  Zeit,  in  der 
er  sie  trieb  (1830 f.)  nur  durch  die  Verarbeitung,  nicht  durch  die  Inter- 
pretation des  Materials;  denn  daß  er  die  Priorität  der  Dämonen  erkannt 
habe7),  kann  ich  nicht  finden,  und  die  bessere  Individualisierung  der 
Götter 8)  gab  er  eben  nur  als  der  nachfühlende  Dichter,  der  den  gesamten 
Stoff  feinsinnig  belebt,  nicht  als  individualisierender  Forscher  wie  Henry 
Petersen.  —  Für  die  Zeit,  in  der  sie  (außer  dem  »Thor«)  erschienen, 
haben  sie,  gerade  durch  die  Vorzüge  eines  dichterischen  Übersetzens  und 
einer  klaren  Sprache,  hemmend  gewirkt.  Hier  war  das  Größte  und  Schönste, 
was  die  naturmythologische  Erklärungsweise  leisten  konnte;  eben  darum 
hat  dies  Experiment  die  Unzulänglichkeit  der  Methode  erwiesen.  — 

Nichts,  was  wir  hier  zu  verzeichnen  hatten,  ist  für  die  folgende  Zeit 
bedeutungslos   geblieben.     Die   christliche  Tendenz   bei  Snorri    und   dem 


*)  Ebd.  7,  16f.  2)  Ebd.  7,  473. 

3)  Sic;  Golther  S.  39.  4)  S.  15.  5)  S.  24. 

6)  Vgl.  z.  B.  die  Auslegung  des   Kampfes  Thors   mit  Hrungnir:   Uhland 
Schriften  6,  27 f.;  Golther  S.  269. 

7)  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  25. 

8)  Ebd.:  »Uhlands  Liebe  galt  vorzugsweise  den  einzelnen  Göttern». 


592  Neuntes  Kapitel. 

Aufzeichner  der  Vol.;  die  voreilige  Autorschaftsverleihung  bei  Brynjul 
die  antiquarische  Häufung  von  Stoff;  die  falsche  Systematisierung;  d 
allzu  dichterische  Auslegung  und  Umkleidung  bei  Grundtvig  und  Unland 
die  allzu  rationalistische  bei  Voß  *)  und  Rühs  —  alles  ist  wiedergekommei 
zum  Teil  mit  Porträtähnlichkeit:  den  Sämund  hat  Brynjolf  zum  Verfasse 
der  Liederedda,  E.  H.  Meyer 2)  wenigstens  zu  dem  der  Völuspä  gemacht.  -I 
Daneben  aber  sind  auch  die  guten  Tendenzen,  und  sie  erst  recht,  fori) 
wirkend  geblieben:  die  eifrige  Hingabe,  das  patriotische  Interesse;  de 
historische  Sinn  eines  Saxo  und  die  philologische  Schulung  eines  Gottfrietl 
Herrmann ;  die  große  Auffassung  eines  Grundtvig  und  das  Bedürfnis  de 
Franzosen  nach  psychologischer  Ableitung :  die  zum  Einfühlen  in  so  fern \ 
Kulturen  unentbehrliche  Anpassung  eines  Mallet  und  die  dichterische  Feinl 
heit  eines  Unland.  Die  Heerscharen  waren  zum  Kampf  wider  die  Mächt« 
der  Dunkelheit  und  Kälte  nicht  umsonst  aufgeboten  werden! 

§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm3). 

1 .    Epoche   machte   die   beschreibende   Mythologie:    Ii 
Jahre    1835   erschien  J.  Grimms   Deutsche  Mythologie.     Am   schönster 
hat  Scherer4)  das  Werk  charakterisiert;  auch  Chantepie5)  und  v.  d.  Leyen6) 
wägen    die    Vorzüge    und    Mängel    gerecht    und    liebevoll    ab,    während] 
Golther 7)  eine  am  Äußerlichen  haftende  Darstellung  von  Grimms  Methode 
mit   sauersüßer    Anerkennung   begleitet,    wie   sie   nur   dem    »epigonsten| 
Epigonen«  (um  mit  Lagarde  zu  reden)  zu  Gesichte  steht8). 

J.  Grimm  wollte  eine  Deutsche  Mythologie  geben  und  nahm  das] 
Wort  hier  nicht  (wie  in  der  »Grammatik«)  im  weiteren  Sinne,  sondern 
wirklich  im  Gegensatz  zu  »skandinavisch«:  »Ich  habe  unternommen,  alles, 
was  von  dem  deutschen  Altertum  jetzt  noch  zu  wissen  ist,  und  zwar  mit 
Ausschluß  des  vollständigen  Systems  der  nordischen  Mythologie  selbst,  zu 
sammeln  und  darzustellen.«  Die  skandinavischen  Berichte  sollten  also, 
wie  man  richtig  bemerkt  hat,  zunächst  bloß  subsidiär  herangezogen  werden; 


')  Vgl.  Steinthal  a.  a.  O. 

2)  Völuspä  S.  276  f. 

3)  Vgl.  allgemein  Mannhardt,  Wald-  und  Feldkulte,  Bd.  IL,  S.  XHIf.; 
Schullerus,  Ergebnisse  u.  Forschritte  d.  germ.  Wissensch.,  S.  508 f . ;  v.  d.  L  e  y  e  n , 
Sagenbuch,  S.  13  f. 

4)  Jacob  Grimm  S.  276f. 

5)  S.  19f.  6)  Sagenbuch  S.  21.  7)  S.  16f. 

8)  Wie  es  denn  überhaupt  für  G  o  1 1  h  e  r  bezeichnend  ist,  daß  er  die  Schwäche 
sachlicher  Kritik  durch  die  Stärke  der  persönlichen  wettzumachen  suchte:  Si  mrocks 
Darstellung  heißt  (S.  24)  »unübersichtlich  verschroben«  und  Müllen  hoff  »tat 
sich  mit  groben,  polternden  Ausfällen  gegen  die  historische  Erklärung  (!)  hervor « 
(S.  44). 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  593 

JMerzu  aber  glaubte  Grimm  sich  in  weitem  Umfang  berechtigt,  weil  er1) 

1  tm    der   ursprünglichen    Einheit    überzeugt    war   und 2)  die   Möglichkeit 

}i  »äteren  Austausches   nicht  genügend   berücksichtigt  —   die  ja   übrigens 

ich   nur  bei    dem   Wodanglauben    eine   stärkere  Rolle  spielt,   und  auch 

'er  nur   in   der   Umformung  einer  schon   urgermanischen   Gottheit.   — 

3   ist   aber   keineswegs    zu    leugnen,    daß   J.   Grimm    die    germanische 

Einheitlichkeit    überschätzt,    die    nationale    Ausprägung   bei    den    großen 

iämmen  unterschätzt  hat.    Und  dies  hing  mit  seiner  ganzen  Methode  zu- 

mmen. 

Diese  Methode    nämlich    ist  bereits   in   voller   Blüte    die   der   »ver- 
lachenden Mythologie«,  die  durch  Kuhn  und  Schwartz  nur  eine  andere 
khtung,    nicht   eine   andere  Methode   erhalten  hat.     Der  Unterschied  ist 
diglich   der,   daß   die  beiden  Dioskuren   (sie  waren  wirklich  Schwäger, 
ie  die  beiden  Grimm  bekanntlich  Brüder;  was  jedenfalls  mythische  Zu- 
immenhänge   ahnen    läßt!)   die   Religion   der  Indogermanen   erschließen 
ollten  —  wobei  der  Terminus  »Indogermanen«  zu  seinem  vollen  Rechte 
am,  da  sie  vorzugsweise  indische  und  germanische  Mythen  verglichen  — , 
Grimm   aber   die   urgermanische  und  deutsche.     Also  ein  Unterschied, 
rie  zwischen   der   Erschließung   der   indogermanischen  Ursprache,   etwa 
urch  Schleicher,  und  der  urgermanischer  Formen,  wie  sie  jeder  deutsche 
hilolog  mit  linguistischer  Methode  vornehmen  muß.    Denn  die  Methode 
eruht  eben  darauf,  daß  man  durch  Vergleichung  bekannter  Formen  die 
nbekannte  herausrechnet. 

Speziell  nun  auf  mythologischem  Gebiet  war  im  wesentlichen  folgender 
atsachenvorrat  gegeben:  einmal  eine  Anzahl  von  Namen.  Wie  G.  Her- 
lann,  stellte  J.  Grimm  sie  an  die  Spitze  und  ging  von  ihrer  Etymologie 
us.  Dies  wurde  bei  Kuhn,  Schwartz,  M.  Müller  u.  a.  zu  einer  gefahr- 
enen Fehlerquelle,  weil  appellative  Götternamen  wie  »Herrscher«,  »der 
glänzende«  u.  dgl.  sehr  verschiedenen  Göttern  zukommen  können:  unter 
Jmständen  kann  euphemistisch  erweise  sogar  der  Gegenpart  so  gut  wie 
ier  lichte  Gott  selbst  einen  lobenden  Namen  führen;  und  weil  gleiche 
jötter  verschieden  benannt  sein  können,  indem  aus  einem  größeren 
^amenschatz  hier  dieser,  dort  jener  bevorzugt  wird  (Ing  und  Frey);  ferner 
veil  verschiedene  Götter  denselben  Namen  erhalten  können,  indem  sie  in 
leue  Funktionen  hereinwachsen.  Schließlich  kam  noch  die  Gefahr  falscher 
ityrnologien  hinzu.  —  Trotz  dieser  Gefahren  und  trotz  aller  Unhaltbar- 
st von  Hermeias-Sarameyas  und  —  vielleicht!  —  Uranos-Varuna  hätte 
loch  die  Etymologie  der  Mythenvergleichung  keine  schlechten  Dienste 
erwiesen,  wenn  sie  auch  nur  die  berühmte  »Eine  Säule«  Zeus — Dyaus — 
upiter — Tyr  aufgerichtet  hätte  —  eine  Irminsul,  die  den  kräftigen  Schlägen 


*)  1,  9.  2)  Golther  S.  18f. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  38 


594  Neuntes  Kapitel. 

auch  der  letzten  Missionäre  wider  die  vergleichende  Mythologie1)  kräf 
widerstanden  hat.  —  Aber  auf  dem  germanischen  Gebiet  allein  war  c 
Etymologie  viel  weniger  bedenklich,  da  erstens  die  Namen  hier  seit 
ganz  so  isoliert  sind  wie  dort,  und  zweitens,  wo  sie  übereinstimmen,  c 
Zusammengehörigkeit  viel  wahrscheinlicher  ist.  Wer  hat  denn  auch 
die  Identität  von  Wodan  und  Odin,  von  Thonar  und  Thor  bezweifel 
und  wenn  die  des  althochdeutschen  und  des  nordischen  Balder  so  lanj 
mit  Überkritik  und  zuletzt  mit  einem  gewissen  Eigensinn  bezweifelt  word< 
ist,  so  waren  derartige  Zweifel  selbst  bei  dem  schwierigeren  Proble 
Nerthus :  Njord  unmöglich. 

Gegeben    war    ferner    eine   bestimmte   Anzahl    von    Berichten    üb 
Gottesdienst,  Kultgebräuche,  Formeln.    In  viel  höherem  Gra 
als  die  meisten  Nachfolger  hat  J.  Grimm  auch  diesen  Dingen  seine  Au 
merksamkeit  zugewandt.    Aber  gerade  hier  hat  unsere  Kenntnis  sich  durc 
neuere   Forschung   und    noch    mehr    durch   neuere  Vergleichung  auße 
ordentlich  ausgedehnt ;  unter  den  Germanisten  hat  zuerst  Weinhold  nach 
drücklich  auf  die  Bedeutung  dieser  Dinge  hingewiesen,  die  für  die  antik 
Mythologie  schon  längst  eine  beherrschende  Stellung  einnehmen  (und  ai 
die  Wissowa   gar   seine   ganze  Darstellung   der  römischen   Religion   bei 
schränkt).     Immerhin   war   es   etwas   völlig  Neues,    daß   die  Mythologi) 
überhaupt  aus   fortlebenden  Gebräuchen   zu   lernen   suchte.     Daß  hierfüj 
erst   noch   eine  strengere   Methode  gefunden   werden   mußte  —  und   is 
sie  denn   gefunden  worden?  —  darf   dem   sein  Verdienst  nicht  minderr 
der  die  Scheidewände  zwischen  Gestern  und  Heute  auch  hier,  wie  in  de 
Grammatik,   durchbrach.     Die  gesamte  Volkskunde  als  Wissenschaft,  mi 
ihr    die   folkloristische  Methode    in    der   Mythologie   stammt   von  Jacol 
Grimm. 

Mythenvergleichung  im  engeren  Sinne  hat  er  Verhältnis 
mäßig  weniger  getrieben;  wie  sicher  er  die  Grundlinien  der  typischer 
Mythensprache  erfaßte  und  deutete,  beweist  etwa  der  Abschnitt  über  der, 
Sonnenuntergang2)  oder  die  Beobachtungen  über  Schlaf  und  Krankheil 
der  Götter3).  Wo  er  aber  Mythen  vergleicht,  wie  etwa  bei  den  Nornen4) 
weiß  er  sofort  auch  das  Unterscheidende  hervorzuheben5)  —  was  eben 
die  Mythenvergleicher  von  Beruf  fast  immer  vergessen  oder  vernachlässigen. 

So  gut  wie  neu  entdeckt  hat  J.  Grimm  die  ungemeine  Bedeutung 
der  indirekten  Zeugnisse:  der  Orts-  und  Personennamen,  Pflanzen- 
namen, Benennungen  von  Tagen  und  Jahreszeiten,  und  ganz  besonders 
auch  der  formelhaften  Überbleibsel  in  der  Dichtersprache  —  und  vor  allem 


*)  Bremer;  vgl.  o.  S.  51. 

2)  2,  616.  3)  1,  275.  4)  1,  343. 

5)  Sehr  fein  z.  B.  bei  dem  Sitz  im  Himmel  1,  113. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  595 

a"*i  der  Sprache  selbst.  Die  grundlegende  Bedeutung  der  volkstümlichen 
'erminologie,  die  Fingerzeige  der  Synonymik,  der  Wortvorrat  überhaupt *) 
/urden  ebensoviel  reich  fließende  Quellen  der  Erkenntnis,  die  er  mit 
einem  Stabe  weckt. 

Zuletzt,  als  ein  nicht  zu  unterschätzendes  Hilfsmittel,  besitzt  er  eine 
e  us  liebevollster,  eingehendster  Kenntnis  gewonnene  Vorstellung  von  Wesen 
"Und  Art  unseres  Volkes,  seiner  Epochen,  seiner  Sprache  —  eine  Ein- 
fühlung in  den  nationalen  Stil  des  Denkens,  die  ihn  wohl  hier  und  da 
l{  :u  allzu  begeisterten  Auffassungen  führen  mag,  ihn  aber  wenigstens  vor 
ler  Hohlheit  leerer  Spekulationen  sicher  schützt.  »Vor  der  Verirrung, 
lie  so  häufig  dem  Studium  der  nordischen  und  griechischen  Mythologie 
Eintrag  getan  hat,  ich  meine  die  Sucht,  über  halbaufgedeckte  historische 
Daten  philosophische  oder  astronomische  Deutungen  zu  ergießen,  schützt 
nich  schon  die  Unvollständigkeit  und  der  lose  Zusammenhang  des  Rett- 
wen. Ich  gehe  darauf  aus,  getreu  und  einfach  zu  sammeln,  was  die 
ruhe  Verwilderung  der  Völker  selbst,  dann  der  Hohn  und  die  Scheu  der 
Christen  von  dem  Heidentum  übrig  gelassen  haben  2).« 

Natürlich  hat  J.  Grimm  zuviel  retten  wollen.  Der  Meister  jener 
^produzierenden  Epoche  in  unserer  Wissenschaft,  der  die  ungeheure 
Aufgabe  gestellt  war,  alles  wiederzuerschaffen ,  was  bei  dem  traditions- 
'losesten  der  Kulturvölker  verloren  gegangen  war:  die  alte  Sprache,  Rechts- 
wesen, Sitte,  Literatur,  Glauben,  hat  so  wenig  wie  Karl  Lachmann 
■beim  Volksepos  der  Versuchung  widerstehen  können,  zuviel  zu  erschließen. 
Aber  wie  tapfer  hat  er  auch  hier  mit  eisernem  Besen  Kehraus  gemacht! 
Hätte  Golther  nicht  so  viel  daran  gelegen,  mit  mehr  landsmannschaft- 
lichem als  historischem  Eifer  Unland3)  gegen  J.  Grimm  auszuspielen,  so 
würde  er  wohl  nicht  so  höhnisch  dessen  Charakteristik4)  gerade  mit 
einigen  unglücklichen  Hypothesen  vermeintlicher  Göttinnen  geschlossen 
laben.  Wer  weiß  denn,  ob  unsere  Tanfana  so  gar  sicher  eine  Göttin  ist? 
ind  der  Hercules  Saxanus  ist  noch  in  unseren  Tagen  falsch  gedeutet 
worden.  Ebenso  hat  J.  Grimm  den  Quellen  gegenüber  eine  Kritik  nicht 
immer  angewandt,  die  uns  durch  die  Tätigkeit  von  Herausgebern  und 
Literarhistorikern  erleichtert  ist,  übrigens  allerdings  seine  stärkste  Seite 
nicht  war.  Und  vor  allem  hat  er  von  der  Oberfülle  des  Stoffs  sich  auch 
oft  selbst  verwirren  und  beirren  lassen.  Aber  reicher  an  genialen  Ver- 
mutungen ist  keines  seiner  Werke;  und  alle  Augenblicke  begegnet  es, 
daß  man  beim  Blättern  in  dem  nie  auszuschöpfenden  Werke  Gedanken 
schon  längst  ausgesprochen  findet,  die  andere  oder  auch  —  man  selbst 
mit  Hochgefühl   für   ganz  neue  hielt.     (Um  ein  ganz  kleines  Beispiel  für 


x)  Z.  B.  in  dem  Abschnitt  »Zauberei«  2,  861  f. 

2)  1,  10.  3)  S.  15f.  4)  S.  21. 

38 


596  Neuntes  Kapitel. 

mich  selbst  anzuführen,  gestehe  ich,  daß  ich  mir  auf  meine  Beobachtunge 
über  den  Wagen  der  Götter  ein  wenig  zu  gut  tat;  nachher  stand  ( 
längst  bei  Grimm!) 

So  schuf  er  in  der  Mythologie  ein  Werk,  das  an  Sicherheit  de 
Methode  seine  Grammatik  —  die  genialste  seiner  genialen  Taten,  gerad 
weil  alles  scheinbar  auf  der  Hand  lag  in  Materialbeschaffung,  Anordnung 
Deutung  —  keineswegs  erreicht,  sonst  aber  ihr  ruhig  zur  Seite  treten  dari 
Völlig  neu  waren  in  diesem  Buche:  erstens  der  unendliche  Reichtum  de 
Stoffes,  an  dem  alle  Mythologen  der  Welt  zehren.  Wie  ärmlich  unc 
dürftig  sind  daneben  alle  Vorgänger  und  ach!  fast  alle  wir  Nachfolger 
Dann  die  große  Auffassung,  die  sich  in  der  vielberufenen  »Andacht  zum 
Unbedeutenden«  gerade  so  stark  zeigt  wie  in  den  Versuchen,  die  Volks 
seele  selbst  zu  erfassen;  weiter  mit  beiden  untrennbar  verbunden  die  Mannig- 
faltigkeit der  Gesichtspunkte.  Welcher  Mytholog  hat  früher  so  über 
Götterverhältnisse  gehandelt1)?  hat  die  Anschauungen  über  den  Tod2), 
das  Mittel  der  Personifikation3),  die  Arten  des  Aberglaubens4)  wie  er 
einer  systematischen  Prüfung  unterzogen?  die  sozialen  Verhältnisse  so  gut 
wie  die  klimatischen  berücksichtigt?  Dazu  kommt  die  liebevolle  Innigkeit  des 
Einfühlens,  die  gewiß  oft  modernisierte,  öfter  idealisierte,  aber  aus  einem] 
Tal  voller  Gebeine  eine  Welt  lebender  Gestalten  und  nachzuempfindender 
Anschauungen  machte,  und  deshalb  auch  endlich  die  lebensvolle  Darstellung 
und  nie  ermüdende  Freude  am  Stoff.  J.  Grimm  ist  einer  der  ganz  wenigen 
großen  Gelehrten  und  genialen  Forscher,  bei  denen  es  so  gut  wie  keine 
»toten  Stellen«  gibt;  er  durfte  es  sogar  wagen,  ein  Wörterbuch  zu 
schreiben. 

Es  ist  lange  genug  an  dem  wunderbaren  Werk  herumgemäkelt  worden  — 
woran  selbst  Scherer  nicht  ganz  ohne  Schuld  ist;  seinem  kräftigen  Tat- 
sachensinn war  dieser  Hypothesenreichtum  unbehaglich.  Die  Gefahren, 
die  in  einer  unmittelbaren  Nachfolge  lagen,  sind  längst  überwunden;  die 
Vorteile,  die  es  bietet,  das  Buch  nocturna  versare  manu  versare  diurna 
sind  noch  nicht  erschöpft.  So  wollen  wir  uns  wieder  ungetrübt  seiner 
*  lebendig  reinen  Schöne«  erfreuen.  — 

Als  eine  Ergänzung  von  J.  Grimms  Werk  muß  mit  Dank  W.  Müllers 
Geschichte  und  System  der  altdeutschen  Religion  genannt  werden, 
j.  Grimm  wollte  geben,  was  Uhland  gab,  wenn  er  über  den  Minnesang 
oder  das  Volkslied  schrieb:  Beschreibung,  Wiedergabe  des  Vor- 
handenen in  wissenschaftlich  geordneter  Darstellung.  System  oder  Ge 
schichte  zu  geben  lag  deshalb  außerhalb  des  Planes,   obwohl  die  Keime 


J)  1,  263  f.  2)  2,  700  f. 

3)  2,  733  f.  4)  2,  925  f. 


di 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  597 

künftiger  Evolutionen  öfter  hätten  aufgezeigt  werden  können x).  Aber  nun 
lußte  auch  systematische  Übersicht  und  historische  Entwicklung  gegeben 
/erden;  und  J.  Grimm  war  aus  sachlichen  und  persönlichen  Gründen 
ngerecht  gegen  dies  von  einem  sorgsamen  Bearbeiter  angehängte  Schluß- 
apitel  seines  Werkes2). 

Als  Fortsetzungen  und  Ergänzungen  von  Grimms  Werk  faßt  man 
uch  am  besten  die  verdienstlichen  Arbeiten  einiger  nordischer  Forscher3) 
uf.  W.  M.  Petersens  Nordisk  Mythologi  1849  sucht  die  Gestalten  der 
jötter  stärker  individualisierend  herauszuarbeiten4)  und  die  nationale  Be- 
deutung der  Mythologie  als  einer  Offenbarung  der  Volksseele5)  klarzu- 
egen,  bleibt  aber  in  seiner  übersichtlichen  Darstellung  —  trotz  gelegent- 
icher  Hinweise  auf  Ägypten  und  die  Bibel  —  allzusehr  von  den  eddischen 
3erichten  abhängig.  Henry  Petersen  dagegen6)  tut  in  doppelter  Hinsicht 
;inen  tüchtigen  Schritt  vorwärts.  Er  macht  für  den  Norden  ernst  mit 
ener  alten  Unterscheidung  volkstümlicher  und  gelehrter,  künstlicher  Mytho- 
ogie  und  beweist  sie  besonders  auch  7)  an  dem  Zurücktreten  des  in  der 
Edda  herrschenden  Odin  hinter  Thor  in  der  Verehrung  des  Volkes.  Auch 
lat  er  vielfach  neue  Hilfsmittel  zur  Feststellung  und  Beurteilung  von 
<ulten  angewendet:  theophore  Namen8),  Runensteine9),  Gerichtstage10) 
and  andere  mittelbare  Zeugnisse  aus  dem  Volksleben. 

Und  nicht  nur  als  keine  Fortschritte,  sogar  als  Rückschritte  müssen 
die  beiden  Mythologien  zweier  übrigens  verdienter  Männer  angesehen 
werden.  Karl  Simrock  hatte  für  sein  Handbuch  der  deutschen  Mytho- 
logie mit  Einschluß  der  nordischen  (zuerst  1853)  einen  sehr  hübschen 
Plan :  eine  Art  gelehrter  Völuspä  schwebte  vor,  eine  epische  Erzählung  von 
Welt,  Göttern,  Gottesdienst.  Aber  leider  kam  bei  ihm,  ganz  anders  als 
bei  Uhland,  der  Dichter  dem  Forscher  gar  sehr  ins  Gehege,  und  »dieser 
Versuch,  die  ganze  Götterlehre  der  Edda  als  eigensten  poetischen  Besitz 
unserer  Voreltern  ,auf  den  offenen  Markt  der  Nation  zu  bringen',  bezeichnet 
vielmehr  einen  entschiedenen  Rückschritt  gegen  J.  Grimm,  den  Simrock 
durch  Mehrung  des  mythologischen  Wissensschatzes,  voreilige  Deutung  und 
geistige  Verwertung  überbieten  wollte«  n).  —  Und  Holtzmann,  dessen 


J)  Gelegentlich  ist  es,  trotz  Golthers  Leugnen,  natürlich  geschehen,  z.  B. 
im  Kapitel  vom  Tod  2,  705. 

2)  W.  Müllers  zweites  mythologisches  Buch,  Die  Mythologie  der  Deutschen 
Heldensage,  1886,  hat  mit  seinem  Einen  Gedanken,  überall  heroische  Dichtung 
auf  den  Mythos  zurückzuführen,  keine  wissenschaftliche  Förderung  mehr  gebracht. 

3)  Golther  S.  40f. 

4)  Thor  S.  318,  die  rylgje  S.  143  usw. 
B)  S.  353. 

6)  Om  Nordboernes  Gudedyrkelse  og  Gudetro  i  Hedenold,  1876. 

7)  S.  85  f.  8)  S.  41.  9)  S.  50  f.  10)  S.  67  f. 
")  Edward  Schroeder,  ADB.  34,  384. 


598  Neuntes  Kapitel. 

1854 — 1866    gehaltene  Vorlesungen    Alfred    Holder   1874    herausgab1 
verdarb  durch  den  Leichtsinn  einer  prinzipiellen  Gleichsetzung  von  keltische 
und  germanischer  Mythologie  (wieMallet!)  alles,  was  er  durch  eine  som  | 
noch  nicht  übliche  Vorsicht  hätte  verdienen  können.    (»Der  Deutung  diese 
Mythen    enthalte   ich  mich«2).     »Hermodr  .  .  .     Im  Beowulf  kommt  zwa 
ein   Heremöd  vor,   kann  aber  ein   anderer  sein«3).   —  Daneben   kühn 
Vermutungen,   wie  daß  Tuistonetn  bei  Tacitus  Teutonem  zu  lesen  sei4) 
Beachtung  verdient  aber,   wie  bei  dem  älteren  Petersen,  die  eingehenden 
Betrachtung  der  zugrunde  liegenden  Weltanschauung5). 

Inzwischen  waren  längst  neue  verheißende  Pfade  eingeschlagen  worden 
J.  Grimms  Methode  ist,  wie  wir  ausführten,  durchaus  die  der  vergleichender, 
Mythologie.  Deren  Charakteristika  —  Betonung  der  Etymologie,  Ver 
nachlässigung  der  unterscheidenden  über  den  übereinstimmenden  Merk- 
malen, rascher  Obergang  von  der  Ähnlichkeit  zur  Identität  —  sind  nun 
auch  noch  den  beiden  Richtungen  eigen,  die  unmittelbar  von  J.  Grimm 
selbst  ausgehen:  eben  der  spezifisch  sogenannten  vergleichenden  Mytho- 
logie selbst,  und  der  Müllenhoffs.  Aber  wenn  J.  Grimm  von  seiner  Ver- 
gleichung  vorzugsweise  germanischer,  doch  auch  anderer  indogermanischer 
Zeugnisse  einer  beschreibenden  Reproduktion  der  deutschen  Mythologie 
zustrebte,  so  wollen  die  beiden  neuen  Richtungen  eine  Entwicklungs- 
geschichte geben.  Und  zwar  wiederum  auf  verschiedenen  Wegen :  Müllen- 
hoff,  indem  er  von  der  Heldensage  zum  Mythus  zurückging,  Kuhn  und 
seine  Schule,  indem  sie  von  indogermanischen  Mythen  der  historischen 
Zeit  zu  solchen  der  Urzeit  zurückschritten.  Das  Ziel  war  also  für  Müllen- 
hoff  (wie  für  J.  Grimm)  ein  germanistisches:  die  Evolution  der  deutschen 
Mythologie  sollte  aufgedeckt  werden;  für  Kuhn  ein  indogermanistisches: 
der  Zustand  der  proethnischen  Mythologie  (der  Mythologie  vor  der 
Trennung  der  einzelnen  indogermanischen  Völker)  sollte  erschlossen 
werden.  Müllenhoff  wollte  einen  historischen  Verlauf,  durch  wirklich  ge- 
schichtliche Ereignisse  festgelegt,  darlegen ;  Kuhn  und  Schwartz,  die  aller- 
dings hauptsächlich  wieder  auf  Beschreibung  ausgingen,  einen  prä- 
historischen Verlauf.  Was  für  den  einen  Ausgangspunkt  war,  bildete  für 
die  anderen  den  Zielpunkt;  und  so  gingen  sie  auch  in  diesem  Sinne, 
wie  in  Methode  und  Gesamtauffassung,  nach  verschiedenen  Richtungen 
von  J.  Grimms  Deutscher  Mythologie  aus. 

2.  So  entstand  die  historischeMythologie.    Müllenhoff  heißt 
bei  Chantepie6)   »nächst  Grimm  die  imposanteste  Persönlichkeit  auf  dem 


J)  Deutsche  Mythologie  1874. 
2)  S.  50.  3)  S.  115. 

4)  Lehre  von  der  Unsterblichkeit  S.  195  f. 

5)  S.  37.  6)  S.  32. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  599 

jebiete  der  mythologischen  Forschung«1).  Sein  großes  Hauptwerk,  die 
Kleider  Fragment  gebliebene  großartige  Deutsche  Altertumskunde2),  sollte 
on  jie  Entstehung  der  deutschen  Nationalität  darstellen ,  nach  ihren  geo- 
$  graphischen,  ethnologischen,  historischen,  geistesgeschichtlichen  Faktoren. 
i  ^on  diesem  Standpunkt  aus  betrachtete  Müllenhoff  auch  die  Mythologie. 
Sein  Vorbild  war  mehr  noch  Wilhelm  als  Jacob  Grimm,  und  die  regesten- 
mäßige  Anlage  von  W.  Grimms  Deutscher  Heldensage  hat  ihm  vielfach 
\\s  Vorbild  gedient.  Aber  dem  älteren  Bruder  glich  er  mehr  in  der 
leidenschaftlichen  Großheit  seiner  Auffassung,  der  mächtigen  Ausdehnung 
,seiner  Gelehrsamkeit  (unter  anderem  ist  er  der  beste  Linguist  unter  den 
jMythologen  gewesen,  und  ein  noch  größerer  Kenner  der  antiken  Quellen 
-als  Jacob  Grimm),  dem  hochgespannten  Ziel,  das  wie  dieser  zu  erreichen 
ihm  freilich  die  heroische  Entsagung  fehlte,  die  (nach  des  amerikanischen 
Sprachforschers  Whitney  Wort)  weiß,  daß  jedes  Buch  nur  ein  Kompromiß 
ist  zwischen  dem,  was  es  werden  sollte,  und  dem,  was  es  werden  kann. 
Als  Leitgedanken  Müllenhoffs  in  seinen  mythologischen  und  heroo- 
logischen  Arbeiten  hebt  Schullerus 3)  einen  Satz  der  Vorrede  zu  Mannhardts 
Mythologischen  Forschungen  heraus:  »jede  Sage  sei  an  dem  Ort  festzu- 
halten, an  dem  man  sie  finde;  —  jede  Sage  sei  ein  bestimmtes,  historisches 
Produkt,  nicht  nur  von  der  Seite  ihres  Ursprunges,  sondern  auch  der 
ihres  Inhaltes  betrachtet,  und  die  Anschauung,  die  sie  enthalte  und  wieder- 
gebe, sei  nicht  von  der  Stelle,  an  die  die  Überlieferung  sie  setze,  zu  ver- 
rücken.« Damit  war  gegenüber  der  umherflatternden  Mythenvergleichung 
die  Ortsgebundenheit  der  Sage  fast  zu  stark  betont.  Es  kam  darauf  an, 
beide  in  die  richtigen  Beziehungen  zu  bringen.  Natürlich  nicht,  indem 
man  einfach  alle  Heldensage  mythisch  deutete,  wozu  nach  Mone  Uhland 
neigte4)  und  was  Wilhelm  Müller  durchführte.  (Das  entgegengesetzte  Extrem 
vertritt  v.  d.  Leyen,  nach  dessen  Ansicht5)  sich  Heldensage  und  Mythus 
bei  uns  selten  berühren.) 

Müllenhoff  hat  (seit  1844)  in  zahlreichen  Untersuchungen  die  Ver- 
bindung zwischen  Heldensage  und  Mythologie  hergestellt  (besonders 
wichtig  außer  dem  von  uns6)  ausführlich  behandelten  Aufsatz  über  das 
Brisingamen  noch  das  Buch  über  Beowulf)7).  Seine  Methode  ist  immer 
die   oben  mehrfach  charakterisierte:    etymologische  Deutung  des  Namens, 


J)  v.   d.   Leyen,   Sagenbuch,    S.   26;    vgl.   allgemein   W.   Scherer,    Karl 
Müllenhoff,  Berlin  1896. 

2)  B.  V.  über  die  Edda,  gegen  Bu gge. 

3)  Fortschritte  d.  germ.  Wissenschaft,  Leipzig  1902,  S.  514. 
*)  Vgl.  Moestue,  Stud.  zur  vgl.  Lit.-Gesch.  9,  232. 

5)  Sagenbuch  S.  26. 

6)  Siehe  o.  S.  21 5  f. 

7)  Beowulf,  Untersuchungen  über  das  angelsächsische  Epos,  1882. 


600  Neuntes  Kapitel. 


1 1 


der   unmittelbar  als  Aussage  genommen  wird;   Vergleichung  der  Myth 
nach   den  Hauptbestandteilen   der   epischen  Handlung;   Rückführung  ai 
mythische  und  besonders  naturmythische  Vorstellungen.    In  letzterem  Pun 
ist  er  vorsichtiger  als  die  meisten  unter  seinen  Mitforschern  (etwa  Uhlan 
Schwartz,  auch  J.   Grimm   selbst);   dagegen   tritt  die  Gefahr   der  Übe 
Schätzung  mythologischer  Namen  bei  ihm  besonders  stark  hervor 1).    Aue 
die  Emanationstheorie  wird  sehr  häufig  angewandt,  besonders  so,  daß  d 
Sonnengott  als  zentrale  Ausstrahlung  erscheint.  —  Müllenhoff  besaß  ei 
so  mächtige  wissenschaftliche  Phantasie,  daß  mit  ihren  Vorzügen  sich  auc 
Nachteile  verbinden   mußten.     Er  sah   so  stark  und  deutlich,   daß  sein 
eigenen   Mythen    ihm    leicht    erschlossene  Tatsachen    wurden.     Aber   s< 
glänzende  Entdeckungen   wie   in   bezug  auf  die  Alces  und  ihr  Fortlebeil 
in  der  Heldensage,  so  schöne  Deutungen  wie  die  des  Sceaf  im  Beowul 
sind   kaum   noch   einem   geglückt.     Dazu   kam   eine  von  seinem  zweiter 
Hauptlehrer,   Carl  Lachmann,  erlernte  Meisterschaft  der  »höheren  Kritik 
die  wohl   auch   überscharf  sein  konnte,   aber  in  den  Analysen  von  Völ 
und  Häv. 2)  doch  etwas  für  die  mythologische  Quellenkritik  völlig  Neue 
leistete.     Von   den  frühesten  Berichterstattern  über  das  neuentdeckte  Ger 
manien   bis   zu   den   spätesten  Skalden  standen  alle  Zeugen  deutlich  und 
greifbar  vor  seinen  Augen,   aber  so  auch  die  Götter  und  Heroen;   eine 
solche   mythologisch-heroische  Personenkenntnis   wie  er  hat  kein  Zweiter 
besessen.     Aber  ebenso  genau  kannte  er,   was  seine  Vorgänger  und  fast 
alle  seine  Genossen  bis  auf  die  neue  Generation  der  nordischen  Forscher 
vernachlässigten,  die  sachlichen  Quellen :  Handschriften,  Ausgaben,  Samm- 
lungen.    Die   Wege   der   Oberlieferung  zu   studieren  —   der  große   Ge- 
danke,  den   für   die  klassische  Philologie   der  Verwirklichung  näher  ge- 
bracht zu   haben   Ludwig  Traubes   unsterbliches  Verdienst   ist  —  hat   er 
erst  begonnen.    Es  wird  lange  dauern,  bis  der  Schatz  seiner  Anregungen 
nur  annähernd  so  weit  erschöpft  ist  wie  der  von  J.  Grimms  Mythologie, 
und   die  Erkenntnisse,   die  wir  ihm  verdanken,   in  ähnlichem  Maße  ver- 
arbeitet. 

Die  Leidenschaftlichkeit  des  großen  Nordalbingiers  vermochte  wissen- 
schaftliche und  moralische  Bedenken  nicht  zu  trennen:  was  ihm  un- 
methodisch schien,  war  ihm  unsittlich.  Wie  Thor  verstand  er  es  nicht, 
lange  zu  warten,  ehe  er  zuschlug,  und  wie  Thor  hat  er  durch  zu  heftiges 
Zuschlagen  die  ruhige  Entwicklung  gefährdet.  Es  mochte  auch  wohl 
einmal  von  ihm  gelten,  was  Tacitus  von  den  alten  Germanen  sagt:  daß 
sie  Treue  nennen,  was  nur  Hartnäckigkeit  ist.  Aber  bedeutete  nicht  auch 
das   etwas,   daß   die  Auslegung  jener  von  den   Gottfried  Leß   und  Finn 


*)  Vgl.  meine  Kriterien  der  Aneignung  S.  34;  ferner  o.  S.  214,  1. 
2)  D.  Alt.  V. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  601 

''fiütönsson  verachteten  »lächerlichen  Fabeleien«  jetzt  ein  Gegenstand  geworden 
ai/ar,  um  den  tiefe  und  starke  Naturen  gleich  Karl  Müllenhoff  und  Sophus 
Ul#ugge  wie  um  den  Nibelungenhort  kämpften?   zwei  Männer,   die  beide, 
aiind  zumal  der  zweite,  in  unserer  Wissenschaft  auch  großen  Schaden  ge- 
stiftet haben ;  aber  wer  sie  nicht  beide  zu  lieben  vermag,  der  ist  um  eine 
uc  [er  höchsten  Freuden  betrogen,  die  das  Studium  gerade  auch  der  deutschen 
dtvlythologie  bietet:  der  Freude  an  dem  Anblick  großer,  reiner  Persönlich- 
keiten, einer  Freude,  welche  den  Menschen  erhebt,  wenn  sie  den  Menschen 
ermalmt x). 

Seit  Jakob  Grimm  hat  auch  niemand  die  Entwicklung  unserer  Mytho- 

sjiogie  in  gleichem  Grade  beeinflußt  wie  Müllenhoff  —  ein  großer  Philolog 

öirewiß  in  dem  Sinn,  wie  er  selbst  einen  solchen  schön  beschreibt2).    Zwar 

;ein  »größter  und  größerer  Schüler«3),  Wilhelm  Scherer,  hat  sich,  durch 

fine  natürliche  Arbeitsteilung  mit  dem  Meister,  mit  Mythologie  nur  wenig 
eschäftigt;  tat  er  es  aber,  so  beweisen  Aufsätze  wie  der  über  Mars  Thingsus, 
wie  er  auch  hierzu  vorbereitet  war.  Andere  Schüler,  wie  der  Däne 
ifioffory,  den  wir  so  früh  verlieren  mußten4),  wie  Edward  Schroeder, 
Roediger  u.  a.  haben  die  charakteristische  Verbindung  von  Philologie 
im  engeren  Sinne  (linguistische  Etymologie,  Handschriftenkenntnis,  genaue 
Interpretation)  mit  Mythologie,  und  dieser  mit  der  Heldensage  gewahrt. 
Allgemein  aber  ist  vor  allem  diese  letztere  durch  Müllenhoff  Gemeingut 
der  Wissenschaft  geworden. 

3.  Ich  komme  jetzt  zur  vergleichenden  Mythologie  und  habe 
schon  klargelegt,  daß  die  Mythenvergleichung  ein  unentbehrliches  Hilfs- 
mittel aller  Mythologie  geworden  war.  Trotzdem  empfindet  man  die 
Gruppe,  der  Adalbert  Kuhn,  Wilhelm  Schwartz,  E.  H.  Meyer  in  Deutsch- 
land, Max  Müller  in  England,  Michel  Breal  in  Frankreich,  der  viel  ge- 
ringere de  Gubernatis  in  Italien  u.  a.  angehören,  mit  Recht  als  eine 
gesonderte  Klasse  von  Forschern5). 

Was  ihre  Sonderstellung  schafft,  ist  in  doppeltem  Sinne  der  lingui- 
stische Faktor.  Einmal  nämlich,  indem  sie  unmittelbar  der  Sprach- 
vergleichung eine  analoge  Disziplin  der  Mythenvergleichung  zur  Seite  zu 


J)  Den  ersten  Anstoß  zu  der  neuen  Anfechtung  der  »Echtheit  der  Asalehre« 
gab  schon  1836  der  Däne  M.  Hammerich,  Om  ragnaroksmythen  (vgl.  G o  1 1 h e r 
S.  40).  Es  war  die  erste  in  dänischer  Sprache  erschienene  Dissertation,  lange  ehe 
eine  in  deutscher  Nationalsprache  herauskam  (Thomsen,  Videnskabens  Faelle- 
sprog,  Köbenhavn  1905,  S.  25  Anm.  2);  ob  man  die  Meinung  im  christlichen 
Sinn  rasch  verbreiten  wollte?  —  Über  Bu gge  und  seine  Methode  vgl.  noch 
Wundt  S.  522. 

2)  D.  Alt.  3,  43. 

3)  Wie  Hoffory  sich  ausdrückt. 

*)  Vgl.  über  ihn  Heusler,  Ark.  for  nord.  Fil.  10  (1898)  S.  206. 
h)  Vgl.  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  27. 


602  Neuntes  Kapitel. 

stellen  suchen,  die  mit  etwa  denselben  Mitteln  etwa  dasselbe  Ziel  erreicl 
die  Erschließung  eines  indogermanischen  Urzustandes  (denn  das  galt  c 
mals   noch  als  die  Hauptaufgabe  der  Linguistik),  gerade  wie  gleichzeit 
auch   die   »linguistische  Paläontologie«,   zum  Teil   in   denselben  Hand 
(J.  Grimms,   Kuhns,   dann    Raoul  Pictets,  Victor  Hehns  u.  a.)  eben  di 
erstrebte.    Dann  aber,  indem  sie  tatsächlich  über  der  Beschäftigung  mit  de 
sprachlichen  Elementen  der  Mythologie  mehr  und  mehr  die  ander 
die  epischen  sowohl  wie  besonders  die  realen,  aus  den  Augen  verlor.    S 
bildeten    insofern    kollektiv    ein  Gegenstück    zu    ihren    Vorgängern,    de 
Mythenvergl  ei  ehern   Creuzerscher   Richtung,    die    über  dem    Inhalt   dei 
Mythen  alles  andere  vergaßen.    Auch  die  dritte  Einseitigkeit  durfte  spät« 
nicht  fehlen,  für  die  Kult  und  Ritus  den  allein  berechtigten  Kern  all 
Mythologie  ausmachen  sollten! 

Die  Arbeitsweise  war  in  der  Regel  die,  daß  man  zunächst  zu  einerj| 
mythologischen  Namen  (als  Ausgangspunkt  dienten  gewöhnlich  solche  a 
den   Veden)   ein   sprachliches  Äquivalent  suchte;   hierauf  die  Etymologi 
gab   (wobei   man   sich   von  einiger  Rücksicht  auf  den  Mythus  nicht  frei 
halten   konnte),   alsdann   die  verschiedenen   den   betreffenden  mythischer | 
Persönlichkeiten   geltenden  Berichte  zu  einer  möglichst  einfachen  Forme' 
integrierte,   und  endlich  diese  selbst  in  die  Sonnen-,  Wetter-  oder  Mond 
spräche   übersetzte1).     Während   in   unseren  Alvissmäl   nur  gefragt  wird 
welche  Synonyma  für  bestimmte  Naturerscheinungen  in  den  verschiedene 
»Welten«    vorhanden  sind,   wird  hier  eine  völlig  unbegrenzte  Zahl  sym- 
bolischer  Benennungen    vorausgesetzt.     Im    übrigen   ließ   das   Verfahre 
nicht  nur  in  Bezug  auf  das  (jederzeit  erreichbare)  Ziel  Freiheiten.   Adalberl 
Kuhn2)  war  nicht  bloß  der  Chronologie  nach  der  Erste  unter  den  Ver 
tretern    dieser  vergleichenden   Mythologie,   sondern   auch  an   Kritik   und! 
Feinheit   den   meisten  überlegen,   der  Einzige  fast,   der  auch   die  unter- 
scheidenden Merkmale  methodisch  verwertete.    Wilhelm  Schwartz3)  be- 
gann  sehr  glücklich   mit  der  Unterscheidung  der  »niederen  Mythologie« 
als   allgemeiner  Unterlage   und   der   »höheren«   als   nationalem   Hochbau 
und    wußte    so  J.   Grimms   Verwendung  des   Volks-   und   Aberglaubens 
methodisch    nutzbar   zu    machen4);    später    vergröberte    er    die  Methode 
Kuhns,   dem   er   weder   an  Sprachkenntnis   noch   an  Vermögen  des  Ein- 


x)  Gegen  das  Allheilmittel  solarer  und  lunarer  Deutung  z.  B.  Wundt 
S.  232.  238.  263  und  bes.  S.  282  und  317.  Schon  1868  wehrte  sich  Nietzsche 
gegen  die  Aufspürung  versteckter  Sonnenhelden  und  ähnliche  »Erfindung  von 
Rebus«:  Schriften  17,  65  Anm. 

2)  1812—1882;  vgl.  über  ihn  Leskien,  ADB.  17,  335. 

3)  1821-1877;  vgl.  Golther  S.  26. 

4)  »Der  heutige  Volksglaube  und  das  Heidentum«,  1849;  »Ursprung  der 
Mythologie«,  1860. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  603 

eiclihlens  nahe  kam,  und  ward  der  Hauptvertreter  jener  mythenforschenden 
^Ideologie,  die  von  jedem  Ausgangspunkt  rasch  und  sicher  am  Gewitter- 
7-i  immel  (oder  auf  der  Sonne  usw.)  landete. 

Der  berühmteste  Repräsentant  der  Schule  aber  ward  Max  Müller1), 
fee  Vornehmtuerei,  die  der  Oxforder  Professor  sich  früh  angewöhnt  hatte, 
d'at  sich   an    ihm   gerächt,    indem   man  jetzt   ihn   vornehm  abzutun  liebt. 
'9uich   spielt   die  Abneigung   derer,   die   nie  fertig  werden,  gegen   jeden 
Produktiven  Geist  mit,  und  Max  Müller  hat  wirklich  sehr  viel  geschrieben, 
indessen   sollte   man   auch   die  Bücher  wägen   und   nicht   zählen;    sonst 
d  ann  man  schließlich  über  Gleim  und  Goethe,  über  Meiners  und  J.  Grimm 
äu   dem   gleichen  Urteil   kommen.     Der   Mann,   der   die  große   Gesamt- 
ausgabe der  »Heiligen  Bücher  des  Ostens«  durchgeführt  hat,  sollte  nicht 
lur   nach   seinen    »Schnitzeln   aus   einer   deutschen  Werkstatt«2)  beurteilt 
verden;    um   so   mehr,    als  er   auch   hier  seine  beiden   sympathischsten 
Eigenschaften  entfaltet:  den  Universalismus   neben  dem  tiefsten  deutschen 
Patriotismus.     Max  Müller   hat  mehr  noch  durch  seine  Erscheinung,   die 
i/on   dem    in  England   verlachten  Typus  des  »deutschen  Professors«  (wie 
latte  man  sich  doch  über  Ehrenberg,  ja  auch  über  Ranke  ihrer  Umgangs- 
ormen   wegen   amüsiert!)   nichts,    ja  zu   wenig  zeigte,    als   durch   seine 
»Letters  ort  the  War«  1870  der  deutschen  Sache,  dem  deutschen  Namen 
drüben  gedient.    Wie  zu  gleicher  Zeit  Friedrich  Siemens  deutsche  Technik 
und   Aug.   Wilhelm   Hofmann    deutsche   Chemie   (einst  nach   dem   Aus- 
spruch von  Adolphe  Wurtz  »une  science  toutfrancaise«. !),  hat  er  deutsche 
Sprachwissenschaft  jenseits  des  Kanals  heimisch  gemacht;  freilich  wohl,  ohne 
an  methodischer  Sicherheit  den  beiden  gleich  zu  kommen.    Vor  allem  hat 
er,  ganz  besonders  durch  seine  Essays,  in  der  ganzen  Kulturwelt  ein  neues 
starkes  Interesse  für  religionswissenschaftliche  Probleme  erweckt,  hat  durch 
»eine  öffentlichen  Vorlesungen  in  England  zuerst  eine  rein  wissenschaftliche 
Behandlung  dieser  Fragen   ermöglicht  und   durch   seine  Lehrtätigkeit  die 
bedeutenden  englischen  Folkloristen,  Tylor,  Lubbock,  Frazer,  Hartland  teils 
direkt  teils   indirekt   erzogen.     Wir  sollten   uns   hüten,   unsere  geistigen 
Kolonien  im  Ausland  so  rasch  preiszugeben,  bloß  weil  sie  von  der  fremden 
Sprache  und  Art  zuviel  gelernt  haben! 

In  seiner  Religionsforschung3)  setzt  er  sich  als  Ziel  nicht,  wie 
Kuhn  und  Schwartz,  die  Erschließung  der  indogermanischen  Urreligion, 
sondern  er  will,  wie  Dupuis  und  Dulaure,  auf  eine  allgemeine  Grundlage 


x)  M.  Winternitz,  Biogr.  Jahrb.  5,  273,  Aus  meinem  Leben,  übs.  von 
H.  Groschke,  Gotha  1902. 

■)  Dies  der  englische  Titel:  »Chips  of  a  German  Workshop«;  deutsch  als 
Essays,  4  Bde.,  1869  f. 

3)  Einleitung  in  die  vergleichende  Religionswissenschaft,  Straßburg  1874. 


604  Neuntes  Kapitel. 

aller  Religionen  kommen  x).  Dies  war  eine  nicht  nur  berechtigte,  sonde 
notwendige  Ergänzung  der  Religionsvergleichung,  und  ihre  Früchte  sir 
eben  in  den  Folkloristen  hervorgetreten,  die  von  Max  Müller  mindeste! 
so  stark  bedingt  sind  wie  von  dem  freilich  gründlicheren  Mannhardt.  Uni 
imposant  war  es  doch  auch,  wie  der  Mann  da  auf  seinem  Hlidskjälf  a] 
dem  Isis-Flusse  saß  und  von  hoher  Warte  bald  über  das  Studium  d 
Zendavesta  in  Indien 2)  berichtete,  bald  über  volkstümliche  Geschichten  ai! 
dem  Nordischen3)  oder  über  Indianer-Mythologie4)  —  immer  feinsinni 
und  geistreich,  und  immer  mit  großen  Gesichtspunkten.  Gewiß  gehört  t\ 
jener  Generation  von  Forschern  an,  die  sich  besser  auf  die  Antezipation  a 
auf  das  Erzwingen  von  Erkenntnissen  verstanden5),  und  die  sich  a 
Programme  noch  besser  verstanden  als  auf  Entdeckung  neuer  Lautgesetze 
(was  doch  eine  Zeitlang  eine  beinah  so  leichte  Sache  schien  als  das  Entdecke 
neuer  urarischer  Gottheiten);  der  Generation  der  Lazarus7)  und  sogar  de 
Renan.  Aber  ähnliches  hat  man  von  Größeren  sagen  können,  von  Baco 
von  Herder,  von  Fr.  Aug.  Wolf;  und  wir  sind  doch  sonst  gerade  heu 
nicht  geneigt,  über  den  Columbus  die  Toscanellis  zu  vergessen,  treibe: 
sonst  sogar  einen  wahren  Kultus  mit  den  »Vorläufern« ! 

Die  wirkliche  Bedeutung   und   auch   die  Tragik   des  so   berühmten 
einflußreichen,  glücklichen  Mannes  aber  liegt  darin,  daß  er  tatsächlich  ai 
der  Grenzscheide  zweier  Epochen  stand.    Der  wirksamste  Vorarbeiter  de 
folkloristischen  Mythologie   ist   zugleich,   freilich   durchaus  wider  Willen, 
der  Totengräber  der  alten  »vergleichenden  Mythologie«  geworden.    Denn 
gerade   er  trieb   den   linguistischen  Standpunkt  auf  die  Spitze  und   kam 
schließlich   so   weit,   aus   der  Entwicklung  der  Mythen  das  epische,   das 
ethische,  das  psychologische  Element  beinah  zu  eliminieren  und  alles  auf 
Pathologie  der  Sprache  zurückzuführen8).     So   wird  eine  Welt  von  Ge 
danken,    Anschauungen,    Empfindungen   zuletzt  auf  eine  kontinuierliche 
Eulenspiegelei  reduziert,  auf  ein  beständiges  Wörtlich  nehmen  der  Metaphern 
und  Übertragen   der  Appellativa.     Welches  Talent   diese  Doktrinäre  doch 
haben,  luftleere  Räume  herzustellen,  wo  eben  noch  Leben  und  Bewegung 
war!    Uns   schaudert   es   bei  dieser  seelenlosen  Wortentwicklung  wie  bei 


1)  »Natürliche  Religion«,  »Physische  Religion«,  »Anthropologische  Religion< 
1890, 1892, 1894;  »Theosophie  oder  Psychologische  Religion«,  1895;  vgl.  Winternitz 
S.  285. 

2)  Essays  1,  112.  3)  12,  208.  4)  1,  302. 

5)  Obwohl  er  selbst  ein  unermüdlicher  Arbeiter  war;  vgl.  Winternitz 
a.  a.  O.  S.  282. 

6)  Ebd.  S.  283. 

7)  »Völkerpsychologie«;  vgl.  meinen  Aufsatz  »Wissenschaftliche  Repräsen- 
tation« Neue  D.  Rundschau  17,  1326. 

8)  Vgl.  bes.  den  charakteristischen  Aufsatz  »Vergleichende  Mythologie«, 
Essays  2,  lf.;  »Mythos«  =  Wort  S.  75. 


dl 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  605 


sn  armen  kranken  Urmenschen,  die,  wenn  sie  zum  Himmel  aufblickten, 
i  ihrer  Sonnenblindheit  nie  etwas  anderes  als  den  Mond  sahen,  oder  gar 
*i  den  ungeheuren  Zeiträumen  entleerter  Weltgeschichte,  in  denen  die 
ölker,  weil  nie  ein  Moses,  Christus,  Paulus  auftrat,  sich  immer  nur 
ie  verwitterte  Gilgameschfabel x)  (wenn  auch  mit  den  tollsten  Varianten !) 
iederzuerzählen  wußten. 

Freilich   kann  man  auf  Max  Müller  im  Gegensatz  zu  manchem  Mit- 

>rscher   den   Chiasmus  anwenden,   unter   dessen   Schere   Fr.   D.   Strauß 

(egel  und  Schelling  nahm:   Schwartz'  System  »war  klüger  als  er«,  aber 

l.  Müller,  »der  war  klüger  als  sein  System«.    So  hat  er  denn  auch  selbst 

*i   der   gerade   heut  wieder  sehr  bemerkenswerten  Studie   ȟber  falsche 

knalogien   in   der   vergleichenden  Theologie« 2)   damals  moderne  wissen- 

:haftliche  Religionsmischerei   mit  dem  Dilettantismus  des  Vossius  (1688) 

nd  Huet  verglichen;   inzwischen   aber   hat   das  System    der   »Ur-Offen- 

arungen«3)   neue  Orgien   gefeiert.     Er  selbst  trat  mit  seinen  »Beiträgen 

u   einer  wissenschaftlichen   Mythologie«4)   noch   einmal   auf   den   Plan: 

Es  gilt  ein  Heiligtum  zu  verteidigen«.    Seine  eigene  Richtung  bezeichnete 

dabei   als   die   der  »etymologischen  oder  genealogischen  Schule«;   ihr 

•egenüber  sah   er   die   »ethnologische  Schule«    (wir  nennen  sie  die  folk- 

Dristische)  und  die  »analogische«,   »welch  letztere  innerhalb  des  Gebietes 

erwandter  Sprachen,   ohne  Rücksichtname  auf  die  Identität  der  Namen, 

us   der  Ähnlichkeit   der  Schicksale   und  Taten   der  Helden   auf  gemein- 

chaftliche  Quelle  und  gleichen  Sinn  schließt:  die  sagenvergl  eichen  de.    Er 

'ühlte  nicht,  wie  nah  beide  seiner  eigenen  Schule  verwandt  waren. 

Eine  besondere  Stellung  freilich  unter  den  Religionsvergleichern  weist 
hantepies  kluge  und  kenntnisreiche  Einleitung5)  mit  Recht  dem  fast  ver- 
gessenen J.  G.  v.  Hahn 6)  zu,  dessen  »Sagen wissenschaftliche  Studien«  (1876), 
statt  die  Lösung  mythologischer  Probleme  ausschließlich  in  Etymologien 
ix  suchen,  die  Erzählung  analysierten,  die  verschiedenartigen  Elemente  ver- 
liehen und  kombinierten  und  die  nahe  Verwandtschaft  zwischen  Götter- 
mythen,  Heldensagen  und  Volksmärchen  vollständig  anerkannten7).«     Er 
ist  der  Ahnherr  jener  Schule  von  stilleren  Gelehrten,  die  in  unschätzbarer 
Arbeit   den  Gesamtinhalt  aller  volkstümlichen  Literatur  vom  Mythus  der 
Urzeit   bis   zum  Fliegenden  Blatt  von  heut  auf  Motive,  Verarbeitung  und 

J)  P.  Jensen,  Das  Gilgamesch-Epos  in  der  Weltliteratur  I.  1906;  Moses, 
[esus,  Paulus  1910. 

2)  Religionswissenschaft  S.  261  f. 

3)  S.  264. 

4)  1898;  vgl.  Schul lerus  S. 513;  O.Gruppe,  Arch.f.  Rel.-Wissensch.  2,  269. 

5)  S.  27. 

6)  1811-1869;  Fr.  v.  Halm,  ADB.  10,  367. 

7)  Dagegen  Mannhardt,  Feldkulte  1,  XXXI  Anm. 


606  Neuntes  Kapitel. 

Filiation  der  Elemente,  Verbreitung  und  Verbreitungswege  zu  analysier 
unternahmen.     Neben    ihm   hat   vor  allem    der   unvergeßliche   Wilhel 
Hertz1)   diese   Beziehungen   zwischen   Mythologie   und  Sagenkunde  v< 
folgt2),  während  andere,  wie  der  über  alle  Möglichkeit  gelehrte  Reinhc! 
Köhler3)  und  sein  würdiger  Erbe  Johannes  Bolte  neben  vielen  tre 
liehen  Mitforschern  besonders  in  Deutschland  (Felix  Liebrecht),  England  (Jol 
Dunlop),   Frankreich  (Jos.  Bedier),  Italien  (Gius.  Petre  —  um   immer 
einen  Namen  zu  nennend  vorzugsweise  das  Gebiet  der  »niederen  Volk 
literatur«  (wenn  man  diese  so  der  «höheren«  der  Mythologie  gegenübe 
stellen   darf)    mit   gesegnetem   Fleiß    durchackert  haben.     Zu   einer   de; 
Mythologen   besonders   wichtigen    Abteilung   dieser   Sagenforschung   en 
wickelte  sich  die  Legendenforschung4),  die  dann  später  von  Usen< 
wichtige  Impulse  empfing.  —  Die  Aushängebogen   von  v.  Hahns  »Alb; 
nesischen   Märchen«    (1864)   waren   das   letzte,  was  J.   Grimm   auf   dei 
Totenbette  las5);  so  knüpft  sich  auch  hier  fast  mit  mythischer  Pünktlich 
keit  Epoche  an  Epoche6). 


*)  1835-1902;  R.  Weltrich,  W.  Hertz,  Stuttgart  1902;  Otto  Günttet 
Biogr.  Jahrb.  10,  291. 

2)  Ges.  Abhandlungen,  her.  v.  Fr.  v.  d.  Leyen,  Stuttgart  1905;  Aus  Dichtun 
und  Sage,  her.  v.  K.  Vollmölier,  Stuttgart  1907. 

3)  1830—1892;  Erich  Schmidt.  ADB.  51,  317.  —  Aufsätze  über  Märchei 
u.  Volkslieder,  her.  v.  J.  Bolte  und  Erich  Schmidt,  Berlin  1894;  Kleinen 
Schriften  zur  Märchenforschung,  3  Bde.,  her.  v.  J.  Bolte,  Weimar  1898. 

4)Delehaye,  La  legende  hagiographique,  Bruxelles  1905.  H.  Günter 
Legenden-Studien,  Köln  1906.  —  Eine  mythologisch  wichtige  Einzelstudie  z.  B 
de  Kerval,  L'evolution  et  le  developpement  du  merveilleux  dans  les  legendes 
de  St.  Antoine  de  Padoue,  Paris  1906;  methodologisch  interessant  Völlers 
Chidher,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  234.  —  Allgemein  A.  van  Gennep,  La| 
formation  des  legendes,  Paris  1910. 

B)  Fr.  v.  Halm  a.  a.  O.  S.  368. 

6)  Eine  Fortsetzung  von  J.  G.  v.  Hahns  spezifischer  Methode  der  Sagen- 
forschung (im  eigentlichen  Sinne;  v.  d.  Leyen  S.  13 f.  versteht  darunter  irre- 
führend die  Mythologie)  in  ihrer  Anwendung  auf  die  Mythologie  stellen  die 
Arbeiten  von  Fr.  v.  d.  Leyen  dar,  insbesondere  sein  Deutsches  Sagenbuch« 
(München  1909;  Rez.  Mogk,  D.  Lit.-Ztg.  1903  S.  1936).  Der  allgemeine  Stand- 
punkt ist  der,  daß  »die  Edda  bloß  alt  ist,  unsere  Volksmärchen  aber  sind  mehr, 
sie  sind  altertümlich«  (S.  31).  Dieser  (vgl.  o.  S.  64)  nicht  unbedenklichen  Auf- 
fassung entspricht  aber  im  Großen  die  Praxis  nicht;  an  den  entscheidendsten 
Stellen  urteilt  v.  d.  Leyen  nicht  anders  als  wir,  glaubt  die  Fesselung  Lokis  »mit 
märchenhaften  Beigaben  ausgeschmückt«  (S.  104)  und  hält  von  den  Thor-Legenden 
viele  für  jung  (S.  160).  Allerdings  stellt  er  den  Volksmärchen  die  Eddadichter 
als  bewußt  schaffende  Autoren,  die  eigentlich  erst  die  höhere  Mythologie  hervor- 
gebracht haben,  gegenüber  (S.  203.  226.  234;  vgl.  dagegen  Finnur  Jönsson 
und  Heusler;  siehe  o.),  und  diesen  literarischen  Einflüssen  schreibt  er  sogar 
manches  zu,  was  uns  volkstümlich-märchenhaft  dünkt,  wie  die  Versuche,  Balder 
zu  erlösen   (S.  117).   —   Das   anregende  Buch   läßt   sich   seiner  Tendenz   nach 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  607 

ei        Denn   freilich    hatte   die  Vergleichende  Mythologie  (ich   setze  immer 
e!  inzu:  im  alten  Sinne)  abgewirtschaftet;  nicht  ohne  vorher  noch  das  Gift 
i>  ier  Ansteckung    auf   Epigonen    der   Müllenhoffschen    Richtung  zu  über- 
ragen,  etwa   auf  Ferd.  Sander,   der   in  der  Schrift  »Das  Nibelungenlied, 
riiegfried  der  Schlangentöter  und  Hagen  von  Tronje« l),  aus  einem  Gleich- 
i  iis  in  einem  Lied  des  Claudianus  das  Recht  herleitete,  Regin  zum  Herrscher 
les  oströmischen  Reiches  zu  machen2).     Freilich  —  die  Epoche  war  zu 
linde,  wie  es  eben  wissenschaftliche  Richtungen  zu  sein  pflegen:  auf  Zeit. 
Ist  die  Art  Müllenhoffs   von  Voretzsch  u.  a.   in   wissenschaftlichem  Sinn 
;rneut  worden,  so  die  der  Schwartz  und  Max  Müller  leider  im  unwissen- 
schaftlichsten;   diese  neuesten  Leistungen,   wo  der  Mond  den  Mond  ver- 
schlingt,  infolgedessen  den   Mond  gebiert   und   nun   den  Mond   heiratet, 
im   den  Mond   zu   erzeugen,   wäre  auch   den  Dupuis  allzu  märchenhaft 
gewesen,  zu  viel  »mondbeglänzte  Zaubernacht»,  wo  wir  Licht  verlangen 3). 

1  Im  übrigen  wollen  wir  wie  gegen  die  Verdienste,  so  auch  gegen  die 
Methode  der  Mythenvergleicher  nicht  ungerecht  sein  und  die  beliebte 
Manier,  mit  uns  erst  die  Sonne  aufgehen  zu  lassen,  andern  überlassen. 
Das  Gebot,  daß  man  Vater  und  Mutter  ehren  soll,  ist  auch  für  die 
Geschichte  der  Wissenschaften  geschrieben.  Adalbert  Kuhn,  Wilhelm 
Schwartz,  Max  Müller,  Michel  Breal  haben  uns  (mit  Ratzel  zu  sprechen) 
erst  die  unentbehrliche  »Weiträumigkeit«  der  Mythologie  geschaffen,  haben 
auf  Grundtatsachen,  Hauptmotive,  Verknüpfungsformen  hingewiesen.  Sie 
haben  uns  erst  gelehrt,  Mythen  zu  vergleichen  —  auch  durch  ihre  Ober- 


l  dahin  charakterisieren,  daß  es  die  neuere  folkloristische  Richtung  durch  die  Sagen- 
forschung mildert,  d.  h.  ihrer  starken  Bewertung  der  Kulthandlungen,  Märchen 
und  anderer  auf  »breitester  demokratischer  Basis«  ruhender  Erscheinungen  eine 
last  gleich  starke  Schätzung  der  bewußten  literarischen  Produktion  oder  doch 
wenigstens  der  Erzählung  als  solcher  zur  Seite  stellt.  Die  Anschauung:  das 
Volk  habe  sich  die  Dämonen  geschaffen  (»Halbgötter«  sagt  v.  d.  Leyen  S.  25. 
)3.  95  weniger  gut),  aber  die  Götter  kämen  fast  ganz  von  den  Gebildeten  und 
Gelehrten,  nähert  sich  der  adoptionistischen ,  nur  daß  hier  eine  fast  als  Kaste 
aufgefaßte  Gemeinschaft  die  Stellung  einnimmt,  die  für  Golther  die  Römer  und 
für  Gruppe  Ägypter  und  Babylonier  haben.  Vgl.  auch  v.  d.  Leyen,  Die 
Entwicklung  in  den  Göttersagen  der  Edda,  Germ.-Rom.  Monatsschrift  1,  284.  — 
Auch  operiert  er  zu  viel  mit  dem  gefährlichen,  so  leicht  anachronistischen  Mittel, 
Ironie  oder  Spott  anzunehmen.  In  dem  gleichen  Gedicht  (Grim.)  soll  es  feierlich 
und  verklärt  wirken,  wenn  Odin  mit  Saga  trinkt,  Spott  aber  liegt  in  dem  Trinken 
Heimdalls  (S.  151  bez.  221).  Und  in  dem  harmlos-gemütlichen  Spiel  mit  Thors 
Stärke  und  Schwäche  sieht  er  (S.  160  u.  ö.)  immer  nur  beabsichtigten  Hohn. 
Den  hätten  die  Thorverehrer  im  Volk  schwerlich  geduldet,  wo  er  sich  nicht  (wie 
in  Härb.)  unter  den  Schutz  eines  stärkeren  Gottes  stellte. 

l)  Stockholm  1895.  2)  S.  91. 

3)  Der  »wissenschaftliche  Astralkult»  wird  jetzt  von  den  Ethnologen  prote- 
giert; vgl.  bes.  Ehrenreich,   Ztschr.  f.  Ethnol.  38,  5401,  bei  dem  alles   »der 


608  Neuntes  Kapitel. 

eilungen.  Und  selbst  ihr  Ausgangspunkt  —  war  er  methodisch  so  falsch 
Schließlich  haben  die  meisten  mythologischen  Namen  doch  tatsächlic 
eine  aussagende  Bedeutung,  und  wenn  wir  wüßten,  wie  Heimdall  eigen 
lieh  hieß,  wüßten  wir  mehr  von  ihm. 

Daher  kehren  Rückwendungen  zu  der  Vergleichenden  Mytholog 
alten  Stils  auch  immer  wieder.  Die  letzte  bedeutende  Erscheinung  diese 
Art  ist  Muchs  große  Studie  über  den  Germanischen  Himmelsgott,  eigen 
lieh  über  die  gesamte  germanische  Götterwelt1),  mit  ihren  kühnen  Vei 
gleichen  nicht  nur  der  Motive,  sondern  auch  der  Gestalten  bei  de 
Mythen  von  Dido  und  Gefjon,  Gullveig  und  Pandora,  Wölund  unii 
Daidalos,  Sigmund  und  Asklepius;  ihren  Deutungen  germanischer  Göttel 
aus  isolierten  keltischen  und  slavischen  Götternamen;  ihrer  Auffassun 
des  Wanenkrieges  als  eines  Kampfes  zwischen  »hellenisch-indogermanische 
und  phönikischer  oder  aboriginischer  Religion2)  —  um  so  bedeutsamer 
als  sie  in  ihrem  nahen  Anschluß  an  Müllenhoff  dessen  Beziehungen  zui 
Schule  J.  Grimm-Adalbert  Kuhn   noch   einmal   deutlich  hervortreten  läßt 

4.  Aber  heute  regiert  die  Folkloristische  Mythologie3).  Von  dei 
Vergleichenden  Mythologie  gingen  Wilhelm  Mannhardtund  E.  H.  Meyei 
aus,  die  in  verschiedener  Richtung  für  die  Fortentwicklung  unserer  Wissen- 
schaft bedeutend  werden  sollten.  Wie  die  Korrekturbogen  von  J.  G.  v.  Hahns 
Werk  das  letzte  waren,  was  J.  Grimm  las,  so  ist  die  biographische  Skizze 
über  Mannhardt  das  letzte  gewesen,  was  Müllenhoff  »geschrieben  oder  viel- 
mehr seiner  Frau  diktiert  hat«  4).  Wilhelm  Mannhardt5)  wurde  für  Deutsch- 
Hauptsache  nach  Naturmythe«  ist  (S.  550)  und  der  einen  großen  Katechismus 
der  Mondmythologie  (S.  555 f.)  Entfaltet,  überall  das  Unbeweisbare  voraussetzend; 
vortrefflich  darüber  und  dagegen  A.  van  Gennep,  Moeurs  et  legendes,  Paris 
1909,  S.  1381  —  Ehrenreich  hat  denn  auch  solch  einen  Nachfahren  der  Mythen- 
vergleichung  in  Schutz  genommen,  wie  jenen  Friedrichs,  über  dessen  »Grund- 
lage, Entstehung  u.  genaue  Einzeldeutung  der  bekanntesten  germ.  Märchen,  Mythen 
u.  Sagen«,  Leipzig  1909,  eine  glückliche  Selbstparodie  der  lunaren  »Methode«, 
Bolte,  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  (1909)  19,  459  zu  vergleichen  ist. 

*)  Abhandlungen  zur  germ.  Phil.  S.  189—278;  vgl.  darüber  Heus ler,  Anz» 
f.  d.  Alt.  1909  S.  92. 

2)  S.  273. 

3)  Schullerus  S.  508.  —  Zur  Theorie:   Hardy,  Glaube  und  Brauch  oder  | 
Brauch   und   Glaube?,   Arch.   f.   Rel.-Wissensch.   2,   177,   und   seine   Rez.   von 
Robertson  Smith'  bahnbrechendem  Buch  »Die  Religion  der  Semiten«  (1899) 
ebd.  3,  207,  auch  über  Mythus  und  Kultus  Wundt  S.  599. 

4)  W.  Mannhardt,  Mythol.  Forschungen,  her.  v.  H.  Patzig  mit  Vorreden 
v.  K.  Müllenhoff  u.  W.  Scherer,  Straßburg  1889,  S.  XII. 

5)  1831—1880;  vgl.  Müllenhoff  u.  Scherer  a.  a.  O.;  Scherer,  ADB. 
20,  203;  E.  H.  Meyer,  Anz.  f.  d.  Alt.  11,  141;  Chantepie  S.  27;  Golther 
S.  29 f.:  v.  d.  Leyen  (Sagenbuch  S.  37),  der  ihn  als  Begründer  der  »Allgemeinen 
Mythologie«  bezeichnet;  W.  Röscher,  Vier  Briefe  Mannhardts  —  zu  den  »Wald- 
und  Feldkulten«  — ,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  2,  300. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  609 

md  der  eigentliche  Begründer  der  »Volkskunde«  als  Wissenschaft  und 
berhaupt  der  folkloristischen  Mythologie.  Mit  den  Namen  von  J.  Grimm, 
lüllenhoff  und  Usener  gehört  der  des  armen  kranken  Mennoniten  als 
er  vierte  zusammen :  diese  haben  aus  der  neueren  Mythologie,  trotz  allen 
Verdiensten  der  Engländer,  eine  »deutsche  Wissenschaft«  gemacht. 

Wie   v.   Hahn    mit    »Mythologischen   Parallelen«   (1859)    begann   er 
(*1858)  mit  »Germanischen  Mythen«,  Parallelen  zwischen  Indra  und  Donar. 
)ann   ging   er   bei  Müllenhoff   in  die  Schule1),   und  es  entstand  in  ihm 
er  große  Plan,  die  gesamten  realen  Grundlagen  der  volkstümlichen  An- 
chauungen  systematisch  zu  studieren  —  also  gerade  das,  was  seine  Lehrer 
uhn  und  Schwartz  (nicht  so  J.  Grimm)  außer  acht  gelassen  hatten.    Wie 
/lüllenhoff  aus  der  Heldensage  auf  die  Mythen,  wollte  er  aus  den  Volks- 
küchen auf  die  Kulte  zurück  und  zwar,  hierin  der  vergleichenden  Schule 
;etreu,  auf  die  der  indogermanischen  Urzeit.     Die  »niedere  Mythologie« 
•ollte   in   ihrem   vollen  Umfang  ermittelt  werden;   sie  aber  besitzt  wenig 
pische,  unendlich  viel  rituelle  Zeugnisse.    Dies  erkannt  und  hierauf  eine 
pezielle  Mythologie  begründet  zu  haben,   ist  das  erste  Verdienst  Mann- 
ardts.    Er  wandte  sich  speziell  dem  an  Gebräuchen  reichsten  Gebiet  zu, 
lern   des  Ackerbaus.     Hierfür   ersann   er   eine  neue  Forschungsart,    »ließ 
fnassenhaft  Frageblätter  drucken «  und  versenden  und  leitete  so  zum  ersten 
Mal  die  ungeheure  Aufgabe  einer  vollständigen  Aufnahme  mytho- 
logischer Oberlebsel  oder  Fortsetzungen  ein.     (Das  riesige  Material  lagert 
fuf  der  Berliner  Bibliothek.)    Dies  führte  ihn  auch  zu  dem  Ethnographen, 
ler  zuerst  systematisch   eine  solche  Aufnahme  primitiver  Anschauungen 
ind  Gebräuche  angestrebt  hatte:  zu  Theodor  Waitz2),  in  dem  sogar  die 
Philosophie   für    die  Völkerkunde  fruchtbar  geworden   war.     (Von   den 
lachfolgern  Waitz',  die  mehr  der  Ethnologie  aus  der  Mythologie  gedient 
aben,   nenne  ich  besonders  R.  Andree3).     Noch  fruchtbarer  war  es,  daß 
•372  Müllenhoff  Mannhardt  hinwies  auf  den  bedeutendsten  noch  lebenden 
■olkloristen:  auf  Edward  Burnett  Tylor  in  Oxford4).    Gemeinschaftlich 
nit  Sir  John  Lubbock,  jetzt  Lord  Avebury5),  aber  wissenschaftlich  tiefer 
grabend  als  dieser,  hatte  Tylor  aus  einem  Ungeheuern  Vorrat  ethnologischer 
fatsachen   eine   bestimmte  Reihenfolge   mythologischer  Stufen  festzulegen 


»)  ADB.  S.  204. 

2)  1821—1864;  G.  Gerland,  ADB.  14,  629;  »Anthropologie  der  Naturvölker« 
869  f.,  ein  überaus  reichhaltiges  Werk. 

3)  Ethnographische   Parallelen  und  Vergleiche,  I.  Stuttgart  1876,   II.  Berlin 
889;  Die  Sintflutsagen,  Braunschweig  1891.   Vgl.  allgemein  die  Ztschr.  f.  Völker- 
psychologie, her.  v.Lazarus  und  Steinthal,  und  ihre  Fortsetzung,  die  Ztschr. 
1.  Berl.  Ver.  f.  Volksk.,  her.  von  Weinhold,  dann  von  J.  Bolte. 

4)  Urgeschichte  der  Menschheit,  Leipzig  1867;  Anfänge  der  Kultur,  Leipzig  1873. 

5)  Die  urgeschichtliche  Zeit,  Jena  1874;   Die   Entstehung   der  Zivilisation, 
ena  1875. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  3J 


610  Neuntes  Kapitel. 

begonnen.     Außer   den   Anregungen   Max  Müllers   mögen   wohl  Herb 
Spencers  soziologische  Schriften1)  diese  Entwicklung  gereift  haben,   vi« 
leicht  auch  die  geregelte  relative  Chronologie  in  der  Prähistorie  seit  de 
Durchdringen  von  Lisch'  Dreistufentheorie:  Stein,  Bronze,  Eisen.  —  V 
allem    war   es    der   Unterbau,    der  Tylor   und   Lubbock   wie   Mannhar 
fesselte :  der  aristokratischen  Göttermythologie  stellte  sich  die  demokratiscl 
Geister-   und   Dämonenmythologie  selbstherrlich   zur   Seite.     Müllenhoi 
Hinweis  auf  den  »sehr  gescheiten  und  sehr  verständigen  (im  Origin 
unterstrichen,  Müllenhoff  wußte  wohl  warum!)  Tylor«2)  schlug  sofort  b 
Mannhardt   ein3).     Seine  Hauptwerke,   die  »Korndämonen«  (1868)  eine 
seits,   die  »Wald-  und  Feldkulte«  (1875/77)  anderseits  trennt  die  epoch 
machende  Bekanntschaft.    Die  englische  Religionsforschung  zahlte  zurüc 
was  sie  durch  J.  Grimm  und  Max  Müller  empfangen  hatte4).    Andere  sin 
Tylor  gefolgt:  Frazer5),  Andrew  Lang6);   und  ebenso  ist  in  Deutschlati 
die    Nachfolge    reich    gewesen:    ich    nenne   außer   E.   H.   Meyer    noc 
H.  Pfannenschmidt7). 

Mannhardt  ist  von  Tylor  nicht  zu  trennen,  nur  daß  er  eben  di 
spezielle  Mythenvergleichung  beibehielt,  wo  Tylor  nur  die  allgemeine 
Formen  des  primitiven  Glaubens  aufsuchte:  er  ging,  auch  hier  gut  deutscl 
doch  noch  mehr  auf  die  mythischen  Individuen  aus,  die  einzelnen  Korr 
dämonen  und  Waldgeister  —  der  Engländer  auf  das  ganze  Volk  de 
Geister   und   Dämonen.     Ferner  bleibt  Mannhardts   besonderes  Verdien« 


*)  Vgl.  z.  B.  Andrew  Lang,  La  mythologie,  S.  11. 

2)  Mytholog.  Forschungen  S.  XXII. 

3)  Vgl.  seine  Wald-  und  Feldkulte  II.  S.  XXII. 

4)  Man  könnte  in  der  neueren  wissenschaftlichen  Mythologie  drei  Well 
reiche  unterscheiden.  Nachdem  lange  nur  jede  Nation  für  sich  mit  größeren', 
oder  geringerem  Eifer  antiquarische  Mythologie  getrieben  hatte,  übernahm  in 
17.  und  18.  Jahrhundert  Frankreich  auch  auf  diesem  Gebiet  die  Führung;  ihn 
folgte  in  der  größeren  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts  Deutschland,  um  dann  durcl 
England  abgelöst  zu  werden  (Übergangsfigur  Max  Müller).  Nun  scheint  siel 
wieder  eine  Zerspaltung  anzubahnen;  wenigstens  in  Deutschland  tritt  neben  de! 
»englischen  Schule«  (Preuß,  Kauff  mann,  neuerdings  auch  Mogk,  v.  d.  Leyer 
u.  a.)  eine  deutsche  (die  Useners  und  Rohdes)  kräftig  hervor.  Frankreich 
tritt  (trotz  Hubert  und  M  a  u  s  s  und  vanGennep)  neuerdings  auffällig  zurück 
Man  könnte  auch  nach  den  Lieblingsgöttern  einteilen,  wobei  ein  beständigei 
Wechsel  von  Todesgott  (in  Wackernagels  Zeit  wie  in  der  unsern)  und  Licht- 
gott (Max  Müller  —  Kau  ff  mann,  Golther  und  andere  Ziuwäri  — )  sich, 
wie  recht  ist,  ergeben  würde. 

5)  The  golden  bough,  London  1890. 

6)  Mythology;  mit  Zusätzen  in  der  Übersetzung  von  L.  Parmentier:  La 
mythologie,  Paris  1886;  Custom  and  Myth,  London  1884,  und  viele  andere  ein- 
flußreiche Schriften;  besonders  charakteristisch  noch  The  making  of  religion, 
London  1900;  siehe  u. 

7)  Germanische  Erntegebräuche,  Berlin  1875. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  6 1  \ 

-jene  Tendenz  auf  Vollständigkeit  der  Aufnahme,  und  endlich  neben  Tylors 
"(auch  von  ihm  hervorgehobener)  »Nüchternheit«  der  wärmere  Ton,  der 
Hhm  von  der  Schule  Grimms  und  Müllenhoffs  her  geblieben  war. 

Der  folkloristischen  Schule  eignet  eine  Methode,  die  der  unserer 
(von  ihr  so  gern  angefeindeten  oder  verlachten)  älteren  Mythenvergleicher 
sehr  ähnlich  ist;  nur  die  Objekte  sind  verschieden.  Statt  von  einem  Götter- 
namen geht  man  von  einem  Kult  oder  einer  Volkssitte  aus,  sucht 
-dazu  Parallelen,  deutet  sie  und  kommt  von  da  zu  gewissen  animistischen 
(oder  dämonistischen  Grundvorstellungen  (z.  B.  Sündenbock,  Austreiben 
der  bösen  Geister,  sympathetischer  Zauber  u.  dgl.).  Die  Gefahren  sind 
'nicht  geringer  als  bei  jener  Schule.  Denn  die  Interpretation  einer  Hand- 
lung ist  mit  nichten  unzweideutiger  als  die  eines  Namens:  dieselben 
Elemente,  Opfer,  Tanz,  Ekstase,  Schmücken  oder  Zerstören  folgen  sich 
auch  hier;  die  Überfülle  des  Stoffes  gibt  auch  hier  zu  wilden  Vergleichen 
'Gelegenheit. 

Schon  früh  gab  diese  allzu  rasche  Mythisierung  der  Realien  Anlaß 
]zu  ironischer  Polemik.  In  einem  öfter  zitierten  als  beachteten  Aufsatz 
rüber  »die  Hündchen  von  Bretzwil  und  von  Bretten« x)  spottete  schon 
1856  Wilhelm  Wackernagel  über  das  Unwesen,  in  jedem  Hund  den 
»gesteigerten  Hund«  Cerberus2)  zu  sehen  und3)  überall  den  Begriff  des 
Todes  als  »die  festere  Grundlage«  der  historischen  gegenüberzustellen4)  — 
was  doch  wieder  die  neueste  Leidenschaft  geworden  ist.  Heut  blickt 
wieder  v.  d.  Leyen5)  mit  mitleidigem  Spott  auf  die  Zeit  zurück,  in  der 
kein  Holzhauer  in  der  Sage  mit  der  Axt  Späne  vom  Holze  abschlagen 
konnte,  ohne  daß  die  Axt  für  Donars  Hammer  und  der  Span  für  einen 
ursprünglich  goldenen,  mit  der  Sonne  offenbar  zusammenhängenden  Span 
erklärt  wurde  —  aber  ich  kann  nicht  finden,  daß  wir  diese  Epoche  schon 
überwunden  hätten ! 

Gleich  die  berühmteste  Einzelleistung  der  Folkloristen,  die  Deutung 

des  Opfers  durch  Robertson  Smith6),  ist  keineswegs  unangefochten  ge- 

1  blieben  und  ist  wohl  sicher  viel  zu  allgemein.  Einseitigkeit  in  der  Auffassung 

ist   überhaupt  hier  so  häufig  wie  dort:   wenn  Schwartz  überall  Gewitter 

sah,  so   sah  Lippert7)   überall  Seelen;   und   welcher  Mißbrauch   mit   der 

'  kultischen  Erklärung  von  Mythen  getrieben   werden  kann ,   hat  selbst  an 


*)  Wieder  abgedruckt  Kl.  Sehr.  3,  423 f. 
2)  S.  424.  3)  S.  428. 

4)  S.  428,  vgl.  S.  429. 

5)  Sagenbuch  S.  21. 

6)  Robertson  Smith,  Religion  der  Semiten,  übs.  v.  Stube,  Freiburg  1899. 
Über  den  Verf.  (1846—1894)  vgl.  J.  Bryce,  Studies  in  Contemporary  Biography, 
London  1903,  S.  311. 

7)  Allgem.  Gesch.  d.  Priestertums,  1883;  vgl.  Golther  S.  33. 

39* 


612  Neuntes  Kapitel. 

Frazers  so  wertvollem  Werk  Kauffmanns  Weiterführung  Frazerscher  Ideen 
gelehrt. 

Die  Folkloristen  leisten  das  Beste,  soweit  sie  sich  wirklich  an  gan 
primitive  Verhältnisse  halten;  in  ihrer  Ausbeutung  modernen  Aberglauben 
sind  sie  kaum  vorsichtiger  als  J.  Grimm.  Man  kann  das  bis  ins  einzeln 
in  ihren  Mythologien  verfolgen:  Mogk,  der  die  folkloristische  mit  de 
historischen  Methode  vereinigt,  ist  doch  die  Darstellung  der  niedere 
Mythologie  am  besten  gelungen,  E.  H.  Meyer  aber,  der  ganz  zu 
Folklorismus  übergegangen  ist,  versagt  in  der  Schilderung  der  Götter  o 
vollständig.  Dies  ist  auch  natürlich,  denn  die  fundamentale  Voraussetzung 
der  ganzen  Richtung  ist  die  Annahme  einer  ursprünglichen  Gleichheit  de 
menschlichen  Natur.  An  Stelle  der  geographischen  Herleitung  ist  hie: 
durchaus  die  psychologische  getreten  (daher  auch  gern  Exemplifikatione 
aus  der  Kinderstube),  an  Stelle  der  monogenetischen  Hypothese  etwa  dei| 
asiatisierenden  Romantiker  die  polygenetische.  Ich  glaube,  mit  vollen^ 
Recht;  aber  eben  nur  bis  zu  einem  gewissen  Punkt,  wo  die  national 
Sonderbildung  und  Sonderentwicklung  einsetzte. 

Ja  es  bleibt  sogar  immer  noch  strittig,  wie  weit  die  absolute  primitiv 
Gleichheit  zuzugeben  ist2).  Die  alte  theologische  Meinung  schied  die 
Völker  der  Offenbarung  streng  von  allen  anderen;  so  hebt  denn  auch 
z.  B.  Leß  die  Juden  allein  aus  seiner  Verdammnis  der  nichtchristlichen 
Völker  heraus.  Später  macht  etwa  der  starr  ultramontane,  geistvoll  ultra- 
doktrinäre Joseph  de  Maistre  den  Unterschied  zwischen  »Wilden«  und 
»Barbaren«3):  der  »Barbar«  ist  der  primitive  Mensch,  in  dem  die  zu 
künftige  Erleuchtung  schlummert,  der  »Wilde«  (den  er  mit  mehr  als 
Leßschen  Farben  ins  dunkelste  Schwarz  malt)  hat  keine  Hoffnung.  Diese 
Zweiteilung  bildete  später  Graf  Gobineau  zu  einer  ganzen  Stufenleiter  der 
Rassenanlagen  aus4),  worin  ihm  vergröbernd  H.  St.  Chamberlain  gefolgt 
ist.  Aber  auch  aus  der  vergleichenden  Geschichtsbetrachtung  her  hat  man 
ähnliche  Unterscheidungen  vorgenommen;  so  nennt  Kurt  Breysig5)  be- 
stimmte Völker  die  »Völker  ewiger  Urzeit«  —  eine  geistreich  gewählte 
Benennung  für  die,  die  immer  primitiv  bleiben.  Irgendeine  solche  Unter- 
scheidung wird  gewiß  auf  die  Dauer  nicht  zu  vermeiden  sein:  man  wird 
auf  der  allereinfachsten  Grundlage  schon  sehr  früh  differenzierende  Momente 
aufdecken.  Aber  diese  werden  eben  in  die  psychologisch  notwendige 
Stufenfolge  zu  verrechnen  sein,  die  Tatsache  einer  typischen  Entwicklung 

!)  Und  Muchs  Kritik  beider;  vgl.  o.  S.  329. 

-)  Vgl.  die  Darstellungen  der  primitiven  Psychologie  bei  Fritz  Schultze, 
Vierkandt  u.  a.;  siehe  o.  S.  73. 

3)  Entretiens  de  St.  Petersbourg,  2.  entretien;  Edition  Garnier,  Paris  o.  J.;  1, 84. 

4)  Essai  sur  l'inegalite  des  rasses  humaines  1853;  übs.  v.  L.  Sehern  an  n  1898. 
B)  Geschichte  der  Menschheit  B.  1,  Berlin  1907. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  613 

aber  (wie  sie  im  welthistorischen  Zusammenhange  Karl  Lamprecht,  so 
auch  in  seiner  Deutschen  Geschichte,  betont)  werden  sie  schwerlich 
aufheben. 

Die  Erkenntnis  oder  auch  nur  das  Vorgefühl  solcher  Gefahren  bei 
der  neuen  Methode  führte  wiederum  zu  neuen  Entwicklungen.  —  Wie 
von  J.  Grimm,   so   spalteten   von  Mannhardt  und  Tylor  zwei  Wege  ab. 

J  Entweder  nahm  man  zu  der  psychologischen  Ableitung  die  geographische 
hinzu  (S.  Bugge,  E.  H.  Meyer),  oder  die  historische  (Rohde,  Usener); 
.wobei  wiederum  im  letzteren  Falle  noch  ein  doppeltes  Verfahren  möglich 
blieb:  mehr  philologisch  (Rohde)  oder  mehr  historisch  (Usener).  —  In 
-all  diesen  Fällen  hatte  man  den  Vorteil,  die  zu  große  Allgemeinheit  der 
volkskundlichen  Typen  durch  Gebilde  von  mehr  spezifischem  Charakter 
ersetzen  zu  können;  in  allen  ist  es  geglückt  —  außer  auf  dem  Wege 
einer  künstlichen  Verbindung  der  psychologischen  mit  der  geographischen 
Methode. 

Als  eine  Sonderrichtung  innerhalb  der  folkloristischen  Schule  be- 
trachtet sich  eine  Gruppe,  die  sich  der  »an  im  istischen«  gegenüber  als  die 
»dynamische«  bezeichnet1)  und  der  K.  Th.  Preuß,  Sidney  Hartland, 
Hubert  und  Mauss,  van  Gennep  angehören.  Sie  unterscheidet  bei  den 
geheimen  Kräften  solche,  die  belebt  gedacht  werden  und  solche,  die  rein 
dynamisch,  eben  nur  als  Kräfte  wirken.  Ferner  betont  sie  die  Zauberei 
so  stark,  daß  van  Gennep2)  geradezu  die  gesamte  »Technik  der  Religion« 
als  Magie  bezeichnet.  —  Mir  scheint  praktisch  eine  große  Verschiedenheit 
zwischen  den  beiden  Gruppen  nicht  zu  bestehen;  übrigens  würde  ich  die 
zweite  lieber  die  »magische«  nennen,  denn  eine  »Kraft«  ist  der  »Geist« 
doch  auch;  das  »belebte«  ,Mana*  hört  doch  durch  sein  Plus  nicht  auf 
eine  Macht  zu  sein! 

5.  Doch  zunächst  kam  noch  einmal  die  geographische  Methode 
allein  zum  Wort:  in  der  adaptionistischen  Mythologie. 
O.Gruppe3)  schrieb  eins  der  selbständigsten  und  anregendsten  Bücher, 
die  auf  dem  Felde  der  Mythologie  in  neuerer  Zeit  erschienen  sind.  Alle 
Schwächen  der  vergleichenden  Mythologie  stellt  er  (S.  79  f.,  97  f.)  über- 
sichtlich zusammen,  und  verzeichnet  treulich  all  ihre  Mißerfolge;  alle 
Bedenklichkeiten  im  Verfahren  der  »Dämonologischen«  (S.  184  f.)  spürt 
er  auf;  gegen  die  Grundanschauungen  Mannhardts  (S.  187),  Max  Müllers 

1)  Vgl.  z.  B.  A.  van  Gennep,  Les  Rites  de  Passage,  Paris  1909,  S.  8; 
dazu  meine  Rezension  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1910  S.  117. 

2)  S.  17. 

3)  Die  griechischen  Kulte  und  Mythen  in  ihren  Beziehungen  zu  orientalischen 
Religionen  I.  1887.  Mehr  nicht  erschienen;  vgl.  Golther  S.  35,  Chantepie 
S.  40;  vom  Standpunkt  der  griechischen  Philologie  aus  Bethe,  D.  Lit.-Ztg.  1906, 
S.  2606. 


614  Neuntes  Kapitel. 

(S.  200),  Andrew  Längs  (S.  206)  bringt  er  scharfsinnige  Einwände.  Be- 
sonders hat  er  überall  ein  scharfes  Auge  auf  die  Verwendung  der  Etymo 
logie,  mag  es  sich  nun  um  griechische  (S.  624)  oder  ägyptische  (S.  505)j  $ 
handeln.  Den  Einfluß  der  Brüder  Grimm  und  der  deutschen  Philologie 
hält  er  (S.  50)  für  schädlich;  das  Auftreten  der  Religion  findet  er  (S.  194) 
überall  unterschätzt.  Überall,  wo  er  kritisiert,  ist  er  sehr  zu  beachten,  oft 
anzuerkennen.  Kommt  man  nun  aber  zu  seinen  eigenen  Anschauungen, 
so  findet  man  selbst  Angriffspunkte  genug  für  die  Kritik.  Daß  die 
Mythen  (S.  V)  schlechterdings  nur  »Teile  der  Literatur«  seien,  ist  un- 
richtig: die  Vergleichung  der  literarisch  überlieferten  Mythen,  die  Er- 
schließung aus  Andeutungen  läßt  uns  vorliterarische  Mythen  oft  genug 
erkennen;  Mythen  gibt  es  auch  bei  unliterarischen  Völkern.  —  Daß  ein 
Übergang  aus  niederer  in  höhere  Mythologie  nirgends  bewiesen  sei 
(S.  193),  ist  unrichtig;  der  dämonische  Ursprung  gewisser  Gottheiten  liegt 
völlig  deutlich  da  in  der  indischen,  hellenischen,  nordischen  Literatur.  — 
Daß  die  Kulten  und  Mythen  der  einzelnen  indogermanischen  Völker,  ja 
noch  der  einzelnen  Urvölker  mit  ihrem  Kulturzustand  in  unlöslichem 
Widerspruch  stehen  (S.  151),  ist  so  wenig  richtig,  daß  vielmehr  der  wilde 
Urgrund  vieler  mythologischen  Anschauungen  noch  blutig  oder  seltsam 
in  späte  Kulturepochen  hineinragt.  —  Endlich  das  Hauptargument,  gemein 
menschlich  sei  nicht  eine  bestimmte  Religion,  auch  nicht  eine  bestimmte 
religiöse  Anlage,  sondern  eine  passive  Potenz,  eine  Empfänglichkeit,  nicht 
eine  Kraft  (S.  259  vgl.  S.  257)  schlägt  nicht  durch,  da  eben  die  Empfäng- 
lichkeit vollkommen  genügt,  um  überall  irgendwelchen  Erklärungen  und 
Vorschriften  den  Weg  zu  bereiten. 

Den  eigenen  Theorien  Gruppes  aber,  denen  wenigstens  von  der  Ent- 
stehung der  Religion  (S.  270  f.),  haftet  ein  zu  doktrinäres  Gepräge  an,  als 
daß  sie  gegen  die  Empirie  aufkommen  könnten;  und  denen  von  der 
Religionsübertragung  (S.  262  f.)  und  der  Anpassung  an  die  jedesmaligen 
Verhältnisse  der  Entlehnenden  (»Adaptionismus«  S.  267  f,)  steht  zweierlei 
entgegen :  erstens :  daß  eine  derartige  Gesamtübertragung  nun  einmal 
nirgends  für  frühe  Zeiten  bezeugt  ist,  bei  denen  die  Schwierigkeit  des 
Verkehrs,  das  Mißtrauen  gegen  Fremde,  die  sprachlichen  Hindernisse  sie 
auch  fast  undenkbar  machen;  zweitens:  daß  kein  Grund  aufzuweisen  ist, 
weshalb,  was  in  Ägypten  oder  Vorderasien  möglich  war,  nicht  auch  sonst 
hätte  entstehen  körinen.  —  Allerdings  hat  schon  der  geistreiche  Oscar 
Peschel J)  mit  einer  besonderen  »Zone  der  Religionsstifter«  experimentiert  — 
als  ob  es  nicht  von  Amenophis  bis  zu  Joe  Smith  und  von  Zoroaster  bis  zu 
Miß  Eddy  überall  von  Religionsstiftern  wimmelte!;  aber  —  sie  umfaßt  Gruppes 
Gebiet  gar  nicht.  —  Auch   im  Einzelnen  zeigen   sich   die  Schattenseiten 


*)  In  seiner  »Völkerkunde«,  5.  Aufl.,  Leipzig  1881,  S.  304. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  615 

on   Gruppes   literarischem   Aktenstandpunkt   (»quod  non  est  in   actis, 
on  est  in   mundo«),   z.  B.   (wie   Golther  mit  Recht  bemerkt)   in   der 
teurteilung  der  altgermanischen  Religionsanfänge1). 

Vor  allem   aber   ist  die  bei  Gruppe  mit  erstaunlicher  Gelehrsamkeit, 
ielem  Geist  und  großer  Umsicht  aufgebaute  Wanderungshypothese  durch 
hre  neuesten  Nachfolger  heilloser  kompromittiert  worden,  als  Kuhn  und 
[ejkhwartz  durch  ihre  Epigonen :  seitdem  alles  von  Babel  herstammt,  seitdem 
iie  Assyriologen   die  Wege   des   geistigen  Verkehrs  auf  Eine  Straße  ein- 
geengt  haben,   wagt   man   ein   so  ernstes   Buch  wie  das   Gruppes   kaum 
-fioch  eingehend  zu  würdigen.  — 

Nicht,  wie  Golther 2)  meint,  zu  Gruppe  schnurstracks  entgegengesetzten 
Ergebnissen,  sondern  zu  ganz  verwandten  kommt  das  geistreiche,  voll 
hohen  Schwungs  geschriebene  Büchlein  von  Vodskov  Saeledyrkelse  og 
Natur  dyrkelse  (Seelen-  und  Naturkult)  Bd.  1 :  Rigveda  og  Edda,  Kopen- 
hagen 1890  —  leider  auch  in  der  Unvollständigkeit,  im  Steckenbleiben 
jenem  Werk  verwandt^3).  Freilich  schließt  er  seine  glänzende  Einleitung 4) 
mit  der  ironischen  Grabschrift  auf  das  »wandernde  Kulturvolk«,  das  überall 
hin  »so  viele  Tonnen  Nephrit  und  Bronce,  Weisheit  und  Kraft«  importiert 
habe;  aber  an  diese  Handelsreisenden  der  Kultur  glaubt  ja  auch  Gruppe 
nicht.  Aber  Vodskov,  genau  wie  Gruppe,  leugnet  die  Gemeingültigkeit 
der  religiösen  Entwicklungsformen;  »Ortsgebundenheit«  ist  sein  Haupt- 
wort, die  unbedingte  Abhängigkeit  vom  Naturleben 5)  sein  Hauptargument. 
Geographisch  ist  auch  seine  Erklärung:  jedes  Volk  hat  die  Religion,  die 
ihm  aus  klimatischen  und  historischen  Bedingungen  zukommt.  Die  »hohe 
Kultur,  die  die  meisten  Sprachforscher  und  alle  vergleichenden  Mythologen 
dem  indogermanischen  Urvolk  beigelegt  haben«,  bestreitet  auch  er6).  An 
die  glauben  auch  wir  nicht;  aber  eine  weit  fortgeschrittene  Präformation 
der  Sonderkulturen  scheint  uns  erwiesen  —  für  den  Götterglauben  gerade 
so  gut  wie  z.  B.  für  die  älteste  Metrik,  die  gewiß  erst  nach  der  Völker- 
trennung sich  festigte,  aber  ohne  proethnische  Ansätze  zu  weitgehenden 
Übereinstimmungen  nur  durch  » prästabil ierte  Harmonie«  bestehen  könnte7). 
Und  da  nun  einmal  später  große  Übereinstimmungen  auch  zwischen 
Edda  und  Veda  nachzuweisen  sind,  so  würden  sie  bei  völlig  isolierter 
Entwicklung  der  Skandinavier  und  Inder  wieder  nur  durch  den  künst- 
lichsten, nachträglichen  »Adaptionismus«  erklärt  werden  können.  — 

Unabhängig  von  Gruppe  vertritt  die  Theorien  von  Wanderung  und 
Anpassung  in  spezifischer  Anwendung  auf  die  Symbole  das  bei  uns  nicht 
genügend  beachtete  Werk  des  Grafen  Goblet  d'Alviella  La  Migration 


J)  S.  180.  a)  S.  37. 

3)  Rez.  Kauf f mann,  Anz.  f.  d.  Alt.  18,  21  f. 

4)  S.  CXLVIII.  5)  Z.  B.  S.  XLIII.  6)  S.  LXXXIV. 
7J  Vgl.  Usener,  Altgriechischer  Versbau,  Bonn  1887. 


616  Neuntes  Kapitel. 

des  symboles1).     Er  nimmt  einen  einheitlichen  Stammbaum  (S.  86)  fü 
das  Hakenkreuz  an  2)  und  zeichnet  (S.  328)  geographische  Hauptwege  fü 
die   Wanderungen    (vgl.   S.  266.   270);    doch   gibt   er  (S.  208,   vgl.  213 
abstrakt   die   Möglichkeit  unabhängigen  Ursprungs  zu.     Die   Regel   abe 
sieht    er    in    nachheriger    Umgestaltung    oder    Umdeutung   bei    gleiche 
Ursprung  (S.  109),  die  durch  Anpassung  (transmutation  des  Symbole 
S.  21 7  f.,  der  wichtigste  Abschnitt,  vgl.  S.  108  f.),  Verschmelzung  (S.  228] 
vgl.  S.  250)  und  absichtlichen  priesterlichen  Synkretismus  (S.  331)  bewirkt 
wird.     Außer  der  Svästika   (das  Kreuz  S.  143  f.)   behandelt   er  besonders 
das  Sonnenrad  (S.  220  f.),  den  Heroldstab  (S.  280  f.)  und  namentlich  den 
Lebensbaum  (S.  205  f.)3). 

6.  Eine  neue  Begegnung  getrennter  Tendenzen  schafft  die  fo  lkl  or  ist  isch- 
adaptionistische  Mythologie.  Golther4)  lehnt  Gruppes  Anschauungen 
bezüglich  der  niederen  Mythologie  zwar  völlig  ab,  hält  sie  aber  betreffs  der 
höheren  Mythologie  im  wesentlichen  für  richtig.  Dieser  merkwürdige  Stand- 
punkt, daß  zwar  das  Einfache,  Gemeinverständlichste  nicht  entlehnt  sein 
könne,  wohl  aber  das  Individuelle  und  Nationale,  ist  eigentlich  überhaupt 
unbegreiflich.  Gerade  in  Göttergestalten  wie  Indra,  Athene,  Thor,  gerade  in 
Kulten  wie  dem  Soma-Opfer  und  der  Speerweihe,  gerade  in  »hieratischen 
Mythen«  wie  denen  von  Asklepius  oder  Brhaspati  pflegen  wir  ja  den 
spezifischen  Ausdruck  nationaler  Eigenart  zu  sehen.  Es  ist,  als  wollte 
man  sagen:  die  Kinder  haben  natürlich  alles  aus  sich  selbst;  aber  die 
Gedanken  der  Erwachsenen  werden  wohl  geborgt  sein.  —  Indeß,  bei 
Golthers  Autoritäten,  Sophus  Bugge5)  und  E.  H.  Meyer,  steht  die  Sache 
anders  und  verständlicher. 

Sophus  Bugge  ist  in  seiner  Methode  durch  und  durch  ein  Nachfahr 
der  vergleichenden  Mythologie  —  so  sehr,  daß  ich  nicht  einmal  von  einer 
Beimischung  des  Folklorismus  bei  ihm  zu  sprechen  wagen  dürfte,  wenn  er 
nicht  in  Einzeluntersuchungen   sein  Interesse  an  Volksleben  und  Volksart 

x)  Paris  1891. 

2)  Vgl.  dagegen  K.  v.  d.  Steinen,  Prähistorische  Zeichen  und  Ornamente, 
Berlin  1896,  aus  der  Bastian-Festschrift;  E.  Grosse,  Anfänge  der  Kunst,  Frei- 
burg 1893,  S.  116f.;  Verworn,  Anfänge  der  Kunst,  Jena  1909,  S.  54. 

3)  Unbrauchbar  dagegen  Aug.  Wünsche,  Die  Sagen  vom  Lebensbaum 
und  Lebenswasser,  Leipzig  1905. 

4)  S.  36. 

5)  1833—1907;  vgl.  AxelOlriku.  M.  Kristensen,  Danske  Studier  1907, 
S.  77f. ;  Hj.  Falk,  Ark.  f.  nord.  Fil.  24,  222;  E.  Mogk,  Journal  of  German 
Phil.  7,  105.  —  Bugge,  Populaer-videnskabelige  Foredrag,  Kristiania  1907.  1889 
erschienen  die  Studien  über  d.  Entstehung  d.  nord.  Götter-  u.  Heldensagen.  — 
Über  seine  Methode:  Mogk  Mythologie,  S.  245;  Schullerus  S.  510;  Bugge 
selbst  Ark.  f.  nord.  Fil.  19,  91 ;  v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  40;  Chantepie  S.  37 f.; 
Golther  S.  44f. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  617 

gewiesen  hätte.  Vor  allem  aber  erstrecken  sich  seine  Forschungen  nur 
iiuf  die  höhere  Mythologie,  lassen  also  hier  die  im  Norden  damals  wohl 
(schon  allgemein  geltende  folkloristische  Anschauung  unberührt.  Wie  die 
[Mythenvergleicher,  ging  Bugge  zunächst  von  der  Etymologie  aus,  die  er 
jooch  kühner  als  jene  handhabt  (selbst  Golther1)  gibt  seine  Wortableitungcn 
[preis!)  und  die  Betrachtung  von  Fremdworten  u.  dgl.  spricht  bei  ihm 
(wie  bei  einigen  späteren  nordischen  Forschern,  z.  B.  Schytte)  jederzeit 
bine  besondere  Rolle.  Ferner  ist  seine  Art,  von  der  Edda  aus  in  der 
Mythologie  aller  Perioden  und  Völker  herumzugreifen  und  dann  zwei 
unvereinbare  Berichte  auf  eine  übereinstimmende  Formel  zu  bringen, 
völlig  die  von  Max  Müller  oder  —  Schlimmeren.  Endlich  ist  auch  die 
Interpretation  in  einem  durch  bestimmte  Grundanschauungen  beeinflußten 
Sinne  durchaus  im  Geiste  jener  Schule.  Ja,  die  Art,  wie  er  urchristliche, 
altjüdische,  gelehrt -antike  Einzelmotive  von  zum  Teil  abgelegensten  Ge- 
bieten her  an  Odin  und  Balder  heranholte,  konnte  oft  wie  ein  Atavismus  in 
die  Zeit  Creuzers  und  Görres'  zurückweisen2). 

Was  nun  aber  Bugge  zu  diesen  Anschauungen  brachte,  war  gerade 
das  von  seinen  Vorgängern  in  der  vergleichenden  Mythologie  ver- 
nachlässigte nationale  Element.  Bei  liebevollster  Versenkung  in  die  Edda- 
dichtung hatte  der  große  Kenner  der  gesamtnordischen  Eigenart  mancherlei 
Züge  bemerkt,  die  ihm  zu  dem  allgemeinen  Bild  der  germanischen  Mytho- 
ogie  nicht  zu  stimmen  schienen,  das  J.  Grimm  entworfen  und  seine 
Nachfolger  nicht  verändert  hatten.  Ja,  sie  schienen  sogar  aus  dem  Ton 
herauszufallen,  den  unter  den  Händen  der  Vergleichenden  die  gesamte 
indogermanische  Mythologie  angenommen  hatte.  Hierin  nun  täuschte  sein 
feiner  Sinn  sich  gewiß  nicht;  es  lagen  wirklich  an  jenen  Stellen  höchst 
eigenartige  Sonderentwicklungen  vor,  deren  ethische  und  intellektualistische 
f ärbung  wohl  an  christliche  und  gelehrte  Einflüsse  denken  lassen  konnten. 
Sie  waren  aber  doch  wieder  mit  diesen  viel  schwerer  als  mit  dem  Gesamt- 
habitus der  nordischen  Mythologie  in  Übereinstimmung  zu  bringen;  der 
Odin,  der  neun  Tage  am  Baum  hängt  als  ein  Opfer  und  dann  alle  Weis- 
heit besitzt,  stand  dem  Odin,  der  mit  Mimirs  Kopf  spricht  oder  zu  Vaf- 
thrüdnir  fährt,  gewiß  näher  als  dem  gewiß  nicht  um  der  Gewinnung  von 
Weisheit  willen  und  auch  nicht  »sich  selbst«  geopferten  Christus.  —  Aber 
die  vergleichende  Mythologie  hatte  eben  über  das  ganze  Gebiet,  das  sie  mit 
ihren  Parallelen  beherrschte,  eine  so  gleichmäßige  Färbung  gebreitet,  daß 
man  eine  so  eigenartige  Evolution  von  innen  heraus  nicht  anzunehmen 
wagte.    So  ward  Bugge  in  doppeltem  Sinne  ein  Opfer  der  Vergleichenden 

*)  S.  44. 

2)  Die  im  Norden  sonst  so  heftig  abgewehrte  Anschauung  von  christlichem 
Einfluß  auf  die  Edda  hatte  für  die  Eschatologie  schon  1836  M.  Hammerich 
(Om  Ragnaroksmythen)  behauptet;  siehe  o.  S.  601,  1. 


618  Neuntes  Kapitel. 

Mythologie.  Es  mußte  nun  also  Entlehnung  angenommen  werden  um 
zwar  von  einem  außerhalb  des  indogermanischen  Mythenkreises  stehendei 
Bezirk  (oder  deren  mehreren).  Und  nun  ward  er  weiter  ein  Opfer  seine 
Gelehrsamkeit  und  eines  (wie  bei  so  vielen  Mythenvergleichern)  durcl 
kein  genügendes  Unterscheidungsvermögen  kontrollierten  Kombinations 
talentes. 

Nun  aber  mußten  doch  Wege  für  die  Übermittlung  des  fremder 
Gutes  gesucht  werden,  gerade  weil  es  sich  um  Import  von  fremden  Kultur 
kreisen  handelte.  Hier  nun  wiesen  ihn  seine  historischen  Studien  auf  dte 
Beziehungen  der  Wikinger  zu  Irland.  Gewiß  ein  wichtiges  Moment:  sein 
Sohn  Alexander  Bugge,  daneben  Axel  Olrik  haben  in  der  Tat  irische 
Einflüsse  auf  die  nordische  Sage  und  Dichtung  wahrscheinlich  gemacht: 
auf  das  Gedicht  von  Rig,  die  Götterschlacht,  die  Schilderung  von  Thors 
Asenzorn.  Aber  immer  sind  das  Einflüsse  von  Volk  zu  Volk.  Daß  di 
irischen  Mönche  die  Belesenheit,  die  Bugge  ihnen  in  Unterschätzung 
seiner  eigenen  ganz  exzeptionellen  Gelehrsamkeit  zutraut,  fahrenden  Kriegern 
hätten  übermitteln  können,  bleibt  so  gut  wie  undenkbar.  Wären  selbst 
statt  der  zusammenhanglos  von  Bugge  verbundenen  Einzelheiten  größere 
Entlehnungen  anzunehmen  —  diese  Wikinger,  die  am  meisten  nordischen 
Nordmänner,  waren  gewiß  nicht  reif,  auch  diese  griechisch-römischen 
Schatzkammern  zu  plündern! 

Dem  Drama  fehlte  nicht  das  Satyrspiel:  Carus  Sterne1)  leitete  als 
umgekehrter  Bugge  alle  griechischen  Sagen  und  Mythen  aus  nordischen 
Quellen  ab« 2).  Später  hat  dann  diese  Reaktion  bis  zu  der  Leugnung 
der  Existenz  Christi  geführt;  und  der  neue  Hardouin  wird  nicht  aus- 
bleiben, der  da  nachweist,  alle  Antike  sei  überhaupt  nur  eine  Fälschung 
der  Mönche3). 

Auch  Elard  Hugo  Meyer4)  kam  von  der  vergleichenden  Mythologie 
her.  Er  hat  J.  Grimms  Mythologie  neu  herausgegeben  und  hat  in  zwei 
Bänden  Indogermanischer  Mythen5)  die  Kentauren  mit  den  indischen 
Ghandarven  verglichen  und6)  den  Peleus-  und  Achilleusmythus  auf  eine 
indogermanische    Grundform 7)    zurückzuleiten    versucht.   —   Bald    darauf 


*)  Eigentlich  Ernst  Krause:  Die  Trojaburgen  Nordeuropas,  1893,  u.  a.; 
vgl.  Hantzsch,  Biograph.  Jb.  8,  307. 

2)  Schullerus  S.  518. 

3)Jean  Hardouin,  1646  geb.,  Jesuit,  suchte  zu  erweisen,  daß  bis  auf 
Cicero,  Plinius,  die  Georgica  Virgils,  die  Satiren  und  Episteln  des  Horaz  alle 
antiken  Schriftsteller  untergeschoben  seien  (Biogr.  Univ.  18,  450). 

4)  Gest.  1908;  Nekrolog  von  Kluge,  Münchener  Allg.  Ztg.  1908,  Beilage 
S.  631;  Roediger,  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  18,  237.  —  Golther  S.  47; 
Schullerus  S.  509. 

5)  Berlin  I.  1883,  II.  1887. 

6)  2,  569  f.  7)  2,  654. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  619 

elangt  er,  unabhängig  von  Bugge1),  zu  ähnlichen  Ergebnissen  wie  dieser2). 

allerdings   ist   sein  Ausgangspunkt   ein    anderer.     E.  H.  Meyer   lebte  vor 

fllem  in  der  Anschauung  der  »niederen  Mythologie« ;  hierfür  haben  seine 

eiden  Mythologien  Vortreffliches  geleistet;   und  später  hat  er  sich,   mit 

|em   schönsten  Erfolg,   ausschließlich  der  Volkskunde  gewidmet3).     Von 

ieser  Gewöhnung  aus  kam  ihm  jede  mythische  Gestaltung,  die  systematisch 

ussah,   verdächtig  vor  —  wo  Bugge  der  Inhalt  stutzig  machte,  ward  er 

urch  die  Form  beunruhigt.    Unzweifelhaft  war  auch  dies  ein  berechtigter 

vusgangspunkt.     Wie   wird   nun   aber   die  Lösung   des  Problems  durch- 

eführt!    welche    Unmasse    abstrakter    Gelehrsamkeit    haben    die    armen 

ddischen  Dichter  schlucken  müssen !   Und  wieder  die  wilden  Etymologien : 

us  fjLtkavlnnog,  schwarzes  Pferd,  ist  —  ein  »Reifmähne«  mit  meldropum, 

autropfen,  geworden4),   wo  also  glücklich  die  Silbe  mel  stimmt!     Und 

velches   wüste  Arbeiten   mit   ungefähren  Anklängen!    und   welche  Logik, 

vo    dann    wieder5)    etwas    unecht    ist,    weil   es    »die  Tendenz   hat,    die 

rieidnische  Färbung  zu  verdächtigen«!  —  Das  Beste,  oder  auch  das  allein 

brauchbare  sind  hier  die  dämonistischen  Deutungen 6).    In  seiner  Dämono- 

ogie  sehe   ich   überhaupt7)   sein  größtes  mythologisches  Verdienst,   und 

)ositiv  ein  großes.    Chantepie  hält  die  Herleitung  der  Götter  aus  Dämonen 

licht  für  erwiesen.     Aber  wo  sollen  sie  denn  überhaupt  herkommen,  da 

Zhantepie  ja  nicht8)  Gruppes  Theorie  annimmt?     Spätere  Götter  können 

yewiß  unmittelbar  entstanden  sein,  wenn  das  Bild  einmal  gegeben  war  — 

iie  frühesten   mußten   sich   aus   niederen   Stufen   entwickeln.     Mit   dieser 

\nschauung   haben   auch   schon   vor  E.  H.  Meyer  z.  B.  Hoffory   in  der 

germanischen  Mythologie,   viele   in   der   griechischen  gearbeitet;   und  bei 

Gestalten   wie  Rudra,   Pan,   Loki   glaubt   man  die  Entwicklung  aus  dem 

Dämon  förmlich  vor  Augen  zu  sehen9). 

7.   Eine  andere  Verbindung  besitzen   wir  in  der  folklorist i seh- 
est ori  sehen  Mythologie.    Wiederholt  hatte  man  schon  den  Versuch 


r)  Völuspä  S.  II. 

2)  Völuspä,  Berlin  1889;  Die  eddische  Kosmogonie,  Freiburg  i.  Br.  1891; 
vgl.  die  Besprechungen  von  Detter,  Ark.  f.  nord.  Fil.  7,  89 f.  bez.  8,  304;  für 
die  Völuspä  noch  Niedner,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  41,  34. 

3)  Deutsche  Volkskunde,  Straßburg  1898;  Badisches  Volksleben  im  19.  Jahr- 
hundert, ebd.  1900. 

4)  Kosmogonie  S.  105.  5)  Völuspä  S.  134. 
)  Z.  B.  ebd.  S.  176.           7)  Gegen  Chantepie  S.  714. 
)  Wie  E.  H.  Meyer  z.  T.:  ebd.  S.  43. 
)  Vgl.  für  diese  Gruppe  noch  z.  B.  Mogk,  Menschenopfer,  S.  621.    Auch 

Sophus  Müller  in  seiner  trefflichen  Urgeschichte  Europas  (übs.  v.  Jiriczek, 
Straßburg  1908)  steht  wesentlich  auf  dem  Standpunkt  der  Anpassungshypothese 
und  läßt  den  Germanen  die  Götter  von  den  Römern  zukommen  (vgl.  dagegen 
Much,  Gott.  Gel.-Anz.  1909  S.  95f. 


Gl 


Ol 


620  Neuntes  Kapitel. 

gemacht,  auf  der  Grundlage  der  vergleichenden  Mythologie  nationale  Mytrlu 
logien  entstehen  zu  lassen.    Dies  war  der  Grundgedanke  Adolf  Bastians,  c~ 
in   unendlich  wirren  Deduktionen  den  »Völkergedanken«  als  spezifisch 
Faktor  die  allgemein  menschlichen  Vorstellungen  nationalisieren  ließ.  Die« 
Anschauung  näherte  sich  auch  Karl  Weinhold1).    Er  ging  von  J.  Grim 
aus   und  suchte   in   seinen  Hauptwerken2)   wie  Uhland   und  Grimm  h 
schreibende  Kulturgeschichte  zu  geben.  In  seinen  mythologischen  Arbeiten 
versuchte  er  die  spezifischen  klimatischen  und  kulturellen  Verhältnisse  c^ 
Nordländer  als  differenzierenden  Faktor  einzuführen.     Wieviel  mehr  häl 
darin  ein  solcher  Kenner  der  Volkskunde  tun  können!    aber  es  ist  mer 
würdig,   wie   isoliert  alles   bei    diesem  vielseitigen  Gelehrten  blieb.     W 
er,  etwas  pedantisch,  seinen  Schreibtisch  jeden  Abend  abräumte  und  jed 
Buch   wieder  an   Ort  und  Stelle   einschob,  so   war  auch   der  Folklori 
kaum  noch  zu  merken,  wenn  der  Mytholog  das  Wort  hatte4). 

So    blieb    der    Ruhm,    diesen    Weg   eingeschlagen    zu    haben,    de 
klassischen  Philologen  und  Historikern. 

Den    ersten   Rang   nimmt   der   letzte    der   großen   Mythologen    ei 
Hermann  Usener5).    In  einer  langen  Reihe  von  Arbeiten 6)  hat  Usen 
Ein  Ziel  klar  und  fest  im  Auge  behalten.    Mehr  als  ein  Früherer  erkann 
er,  daß  die  Mythologie  nichts  Festes  ist,  sondern  ein  ewiges  Fließen,  ei 
»energia«,   wie  es  für  W.  v.  Humboldt  zuerst  die  Sprache,  für  SavignL 
zuerst  das  Recht  war7).     Als  echter  Historiker  wollte  er  das  Werden  de 
Mythen   beobachten  —  nicht  vereinzelt,   wie  das  jeder  Mythenvergleiche 
und  fast  jeder  ernsthafte  Mytholog  anstreben  muß,  sondern  generell.    Di 
typischen  Stufen  des  religiösen  Empfindens,  die  Phasen  der  mythologische! 
Evolution  waren  ihm  nur  Hilfsmittel,  um  diese  beständigen  Umformungei 


, 


5)  1823—1901;  Fr.  v.  d.  Leyen,  Biogr.  Jahrb.  6,  47. 

2)  Altnordisches   Leben,   1855;    Die   deutschen   Frauen  in  dem  Mittelaltei 
1851,  stark  umgestaltet  1882. 

3)  Oolther  S.  39;  Chantepie  S.  33:  Die  Riesen  im  germ.  Mythus,  1858] 
Der  Mythus  vom  Wanenkrieg,  1870  u.  a. 

4)  Ähnlich  Heusler.  Ark.  f.  nord.  Fil.  19,  197. 

5)  1834—1905;   P.  Wendland,  Preuß.  Jahrb.   122  (1905)  S.  373;  Alber 
Dieterich,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  8,  1  f.  —  Vorträge  und  Aufsätze,  Leipzig  1902 

6)  Legenden  der  heiligen  Pelagia,  Bonn  1879;  Das  Weihnachtsfest,  Bonr 
1889,  dazu  sehr  charakteristisch  P.  de  Lagarde,  Altes  und  Neues  über  das 
Weihnachtsfest,  Göttingen  1891;  Götternamen,  Bonn  1896;  Die  Sintflutsagen 
ebd.  1899;  Dreiheit,  ebd.  1903;  Aufsätze  im  Rheinischen  Museum,  im  Arch.  f, 
Rel.-Wissensch.  u.  a. 

7)  Auf  dem  Wege  zu  dieser  Anschauung  war  besonders  Müllenhoff; 
vgl.  Much,  Himmelsgott,  S.  189;  ferner  Mannhardt,  sein  Schüler,  der  die 
Bedeutung  der  »mythenbildenden  Kraft«  (v.  d.  Leyen,  Sagenbuch,  S.  33,  vgl. 
S.  90)  hervorhob  und  in  der  Entwicklung  der  Mythen  ihr  eigentliches  Leben 
finden  wollte  (ebd.  S.  33),  bei  dem  es  aber  auch  mehr  Theorie  blieb. 


ichi 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  621 

stzuhalten,  in  denen  er  als  Erster  das  Wesen  der  Mythologie  erblickte.  — 

ierzu  nun  schuf  er  sich  ein  eigenes  Werkzeug.    Wie  die  indogermanische 

Fachwissenschaft  die  romanische  Philologie  vor   sich   hat,   in   der  die 

>rt   nur   postulierte  Ursprache  mit  dem  Vulgärlatein  tatsächlich  gegeben 

t,  so   besitzen   wir   umgekehrt  in  einem  nicht  geringen  Teil  des  christ- 

:hen  Legendenschatzes  das  Ergebnis  einer  greifbaren  Umgestaltung  antiker 

lythen,   in    einem    nicht   geringen   Teil    des   katholischen   Ritus   die  im 

inzelnen    festzustellende  Umbildung  römischer   oder  griechischer   Riten 

!;.  B.  der  Wasserweihe).    Hier  also  setzte  Usener  ein  von  der  Pelagia  bis 

i  dem  posthumen  Heiligen  Tychon  l).    Nicht  die  Herleitung  der  einzelnen 

egende  war  Selbstzweck,   sondern  die  Ermittlung  der  Gesetze  der  Um- 

andlung.     Ebenso   ist  auch  z.  B.  Useners  merkwürdige  Entdeckung  der 

Augen blicksgötter«    oder    »Sondergötter«    (in    den    »Götternamen«)   nur 

eshalb  für  ihn  von  Bedeutung,  weil  hier  einmal  der  mythenbildende  Akt 

Inmittelbar  vorzuliegen  scheint. 

Von  einem  allgemeinen  »Adaptionismus«  ist  nicht  die  Rede,  sondern 

[üese  Christianisierung  ist  nur  ein  methodisch  besonders  wichtiger  Einzel- 

ill  der  auch  im  nationalen  Innenleben  unvermeidlichen  Umbildung.    Sie 

iat  Usener   in   den   wichtigen,   noch  keineswegs  genügend  ausgebeuteten 

Vufsätzen  wie  »Keraunos«  und  »Heilige  Handlung«  erforscht.    Dabei  kam 

Jas  nationale  und  historische  Moment  zu  seinem  selbstverständlichen  Recht, 

gerade  wie  die  alten  Hilfsmittel  auch:    Etymologie,   Mythenvergleichung. 

Usener  war   eine  leuchtende  Natur,   die  die  funkelnde  Arbeitsfreude 

Kid  Entdeckerfreude  fast  mit  der  Frische  eines  J.  Grimm  in  seine  Schriften 

rüg;   ein  großer  Philolog,   was  vor  ihm  von  allen  Mythologen,  die  wir 

lier  zu  nennen  hatten,  außer  J.  Grimm  nur  Gottfried  Hermann  gewesen 

^ar;  ein  Meister  fesselnder  Darstellung.    Von  seinen  Schülern  nenne  ich  nur 

pe  beiden  bedeutendsten:  Hermann  Diels2)  und  Albert  Dieter  ich3). 

Weiterhin   sind   z.   B.   Friedrich   Kauffmann   innerhalb   der  germanischen 

Philologie,  Gelehrte  wie  Wendland,  Reitzenstein,  Deißmann  und  die  meisten 

Vertreter   der   neueren  philologischen  Bibel-  und  Religionsgeschichte  von 

dem  herrlichen  Mann  mittelbar  oder  unmittelbar  beeinflußt. 

Eduard  Meyer  ging  in  seiner  Geschichte  des  Altertums4)  weiter. 

Ihm   galt  es,   die  Mythologie   in   die  Gesamtheit   der  nationalen  Lebens- 

iußerungen    einzureihen;    dadurch    wurde  die  nationale  und   historische 

Sonderentwicklung  ohne  weiteres  gefordert.    Er  stellte  sich  wesentlich  auf 

en  Boden  der  vergleichenden  Mythologie  in  ihrer  durch  die  neuere  Kritik 

!)  Leipzig  1907. 

2)  Sibyllinische  Blätter,  Berlin  1890. 

3)  1866—1908;  Wünsch,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  161.   —  Mutter  Erde, 
Leipzig  1907. 

4)  1884;  der  Einleitungsband  in  der  2.  Aufl.  als  »Anthropologie«,  Leipzig  1909. 


622  Neuntes  Kapitel. 

eingeschränkten  Form,   betonte  aber   mehr  als   die  früheren  Mytholog 
den   unmittelbaren    Einfluß   von   Staat   und   Priesterstand   und   wirkte 
frischend  durch  die  gesunde  Nüchternheit,  mit  der  er  moderne  Einseiti 
keiten  abwehrte x).    Zu  den  Entwicklungsmythologen  ist  auch  er  zu  zähl 
obwohl  die  Darstellungsweise  ihn  öfter  den  älteren  Forschern  nähert,  den 
die  einzelnen  Stufen  zum  Selbstzweck  werden. 

Erwin  Rohde2)  gab  das  erste  große  Beispiel  einer  mythologische! 
Entwicklungsgeschichte   in  seiner  »Psyche«  (1890).     Der  allmä|^ 
liehe  Wandel  der  Vorstellungen  von  Seele,   Tod  und  Unsterblichkeit  a 
hellenischem  Boden   wird   mit  philologischer  Gründlichkeit,   umfassend! 
Gelehrsamkeit,  psychologischem  Feinsinn  und  dichterischer  Kunst  des  Ei 
fühlens  verfolgt.     Mit   diesem  großen  und  ertragreichen  Beispiel  war  d 
Sieg  der  neuen   Richtung  endgültig  entschieden.     Gerade  auch   auf  d 
germanische  Mythologie  hat  Rohdes  Psyche  mächtig  eingewirkt;  wie  se 
freilich  auch  hier  die  Unsterblichkeitsfrage  den  Angelpunkt  der  Entwicklunji 
bildet,  scheint  mir  noch  nicht  genügend  anerkannt. 

Eine   Sonderstellung    unter    den    Vertretern    dieser    Richtung    nim 
noch  Ulrich  v.  Wilamowitz-Möllendorff  ein.    Ich  möchte  ihn  a 
den  Bahnbrecher  der  stilkritischen  Mythologie  bezeichnen,  die  ebe 
eine  Unterform   der  philologisch-folkloristischen   ist.     Der  folkloristischei 
Methode  müssen  wir  den  Schüler  von  Usener  und  Wellhausen  trotz  seine 
gelegentlichen  Ärgers  über  »Eskimo-Philologie«  zuweisen.    Dahin  gehör 
sein  starkes  Betonen  des  novellistischen  Elements  in  der  Sage3),  seine  früh 
Erkenntnis  der  Einwirkungen  der  Heldensage  auf  die  Mythologie4),  vor  allefr' 
seine  Art,  religiöse  Vorstellungen  in  allgemeine  kulturelle  Zusammenhäng 
einzubetten5)  und  seine,  freilich  bei  den  klassischen  Philologen  nicht  seltene) 
starke  Betonung  des  Kultus,  der  dämonistischen  Vorformen,  der  Beziehungen] 
zu   anderen  Übungen   der   volkstümlichen  Phantasie,  z.  B.  in  der  Kunst 
Der  Schüler  Useners  aber  zeigt  sich  noch  besonders  in  der  Betonung  der 
unaufhörlichen  Entwicklung;    »Auch   für  die  Sage  ist  die  Ruhe  der  Tod. 
Sie  ist  ein  Strom  geschmolzenen  Metalls.    Es  rinnt  dahin,  verzehrend  und 
einschmelzend,  was  in  seinen  Weg  kommt,  Schlacken  abstoßend,  Blasen 
werfend,  bis  die  Hitze  verflogen  ist:  dann  liegt  es  starr  und  kalt  und  tot: 
aber   es   bewahrt   nur   in    dieser  Starrheit  seine  Form.  —  So  können  wir 
die  Sage  nur  in  dem  erstarrten  Zustande  erfassen,  der  ihr  ermöglichte,  zu 


!)  Vgl.  meine  Rez.  Ztschr.  d.  Ver.  f.  Volksk.  1909  S.  328. 

2)  1845—1898;  O.  Crusius,  Erwin   Rohde,  Tübingen   1902;    E.  Weber, 
Biogr.  Jahrb.  6,  450. 

3)  Hippolytos,  Berlin  1891,  S.  35. 

4)  Z.  B.  Herakles,  Berlin  1889;  1,  100. 

5)  Z.  B.,  schon  vor  Rohdes  Buch,  die  Unterweltsvorstellungen:  Homerische 
Untersuchungen,  Berlin  1884,  S.  204  f. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  623 

lauern,  während  sie,  so  lange  sie  lebte,  dem  Wechsel  unterworfen  war«  *). 
JFas  er  hier  von  der  Heldensage  verkündet  (und  fast  mit  denselben  Worten 
||»at  es   Max   Burckhardt  sehr   hübsch   in   seinem   sonst  völlig  wertlosen 
3üchlein  über  die  Nibelungensage  ausgeführt),  das  gilt  natürlich  erst  recht 
ajür  den  Mythus,  wo  es  zu  Gruppes  rein  literarischer  Auffassung,  dem  letzten 
Nachklang  des  alten  Härtens  am  Buchstaben  der  Aufzeichnung,  den  denk- 
)ar  kräftigsten   und   willkommensten  Gegensatz  bildet.     Freilich  ist  nicht 
'M  bezweifeln,   daß  wir  von  der  Heldensage  her  demnächst  einen   neuen 
aASinbruch  der  aktenmäßigen  Auffassung  in  die  Mythologie  erleben  werden: 
dnivas  Voretzsch  und  besonders  Bedier  (von  Boer  nicht  zu  reden,  der  alle 
ii  Fühlung  mit  ungeschriebenen  Realitäten  längst  verloren  hat)  mit  gesunder 
jt  Reaktion  gegen  die  allzu  luftigen  Zwischenführungen  betont  haben,   was 
1:  sinnlich  in  gleichem  Gegensatz  John  Meier  für  das  Volkslied  zu  erhärten  sucht 
und  neuerdings  auf  das  Volksepos  ausdehnt 2)  —  das  wird  in  kurzem  von 
weniger  bedeutenden,  weniger  urteilsfähigen  Nachbetern  in  die  Religions- 
forschung übertragen  werden  und  wir  werden  eine  Zeitlang  hören,  Mytho- 
logie  und   Religion    entwickle   sich    nur   von   Buch    zu   Buch,   und   die 
Geschichte   der  Konzilien   und   zumal  der  symbolischen  Bücher  der  pro- 
testantischen Kirche  sei   für  das  Verständnis  der  Edda  weit  wichtiger  als 
die  aller  Volksüberlieferungen.    Denn  welcher  Irrweg  wäre  uns  je  erspart 
geblieben  ? 

Aber  zu  diesen  ererbten  und  erlernten  Anschauungen  kommt  bei 
Wilamowitz  etwas  Drittes.  Vertiefen  wir  uns  in  seine  größte  mythologische 
Leistung,  die  Geschichte  des  Herakles3),  so  finden  wir  etwas  stark  ent- 
wickelt, was  bei  den  Früheren  nur  leise  anklang  (bei  Welcker,  bei  Lehrs, 
bei  Usener):  das  Stilgefühl  als  methodologisches  Hilfsmittel.  Gewiß, 
^r  spricht4)  von  einer  Heraklesreligion  wie  wir  von  Thors-  und  Odins- 
religionen ;  aber  selbst  hier  charakterisiert  er  sie  nach  stilistischen  Werten : 
als  archaisch,  als  groß  und  einfach  in  der  Gedankenhaltung  —  als  pindarisch. 
Es  ist  noch  gar  nicht  lange  her,  daß  bei  uns  die  Bedeutung  des  Stils 
für  Untersuchungen  zur  Heldensage  erkannt  ist  —  ich  meine  natürlich 
des  Stils  der  Konzeption  selbst,  nicht  bloß  der  literarischen  Formgebung. 
Der  Engländer  W.  P.  Ker5)  und,  ihn  fortführend,  Andreas  Heusler6) 
haben   hier  vor  allem  Epoche  gemacht7).     Eine  wirklich  fruchtbare  An- 


*)  Herakles  a.  a.  O. 

2)  Werden  und  Leben  des  Volksepos,  Halle  1909. 

3)  a.  a.  O.  S.  259  f.  4)  S.  327. 

5)  Epic  and  romance,  London  1897. 

6)  Lied  und  Epos  in  germ.  Sagendichtung,  Dortmund  1905;  meine  Bedenken 
Arch.  f.  n.  Spr.  115,  403;  vgl.  auch  Panzer,  D.  Lit.-Ztg.  1908  S.  133. 

7)  Vgl.    ferner   bes.   Panzer,    Das    altdeutsche   Volksepos,    Halle    1903; 
Märchen,  Sage  und  Dichtung,  München  1905;   Bethe,  Mythus,  Sage,  Märchen, 


J 


' 


624  Neuntes  Kapitel. 

wendung  des  Begriffs  der  »inneren  Form«  auf  die  Mythen,   eine  Stilist 
der   Mythologie   in   diesem  Sinne,   eine  Formenlehre   der  religiöse 
Anschauungen  bleibt  ein  Wunsch  an  die  Zukunft.    Möge  die  Aufgal 
nicht,  wie  bei  uns  so  viele  große  Aufgaben,  einem  trocken  registrierend*! 
wissenschaftlichen  Bürokraten   oder   gar  einem  kompilierenden  Schneide! 
gesellen  zufallen! 

8.  Noch  bleibt  die  psychologische  Mythologie.  Damit  komme 
wir  zu  einer  letzten,  noch  recht  schwach  vertretenen  »Richtung«.  Fa 
der  Einzige,  der  innerhalb  der  germanischen  Mythologie  bisher  in  größerei 
Maße  von  der  Psychologie  auszugehen  versuchte,  war  der  feinsinnige  un  j 
liebenswürdige  Ludwig  Laistner  (1845 — 1896)1).  In  echt  dichterische 
Weise  versetzt  er  sich  in  die  Stimmung,  aus  der  im  Nebel  oder  unte 
dem  Druck  des  Alps  Mythen  entstehen;  nur  daß  auch  er  hier  der 
monistischen  Fluch  nicht  entging  und  in  dem  zweiten  Buch  fast  alles  au 
Einer  Wurzel  aufschießen  ließ. 

Die  Völkerpsychologie,  die  Ableitung  bestimmter  Anschauungen  au 
der  Volksseele  ist,  wie  wir  sahen,  viel  älter.  Auch  fehlte  es  lange  ai 
Hilfsmitteln,  die  die  Psychologie  des  Durchschnittsmenschen  für  di 
Religionswissenschaft  hätten  fruchtbar  machen  können ;  dürftige  Zusammen 
Stellungen  wie  Sullys  »Illusionen«2)  oder  Ribots  »Phantasie«3)  konnter 
nicht  genügen. 

Als  wichtige  religionspsychologische  Probleme  der  altgermanischen 
Religionsgeschichte  nenne  ich  die  häufigen  Visionen  in  Dichtung4)  und 
Sage  (Odin  und  Thor  erscheinen  den  Bekehrten);  die  Konversionen 
selbst;  die  geringe  Rolle  des  phallischen  Elements  und  der  berauschenden 
Getränke;  das  Verhältnis  der  Verehrer  Odins  zu  ihrem  Gott;  die  Wand- 
lungen des  Unsterblichkeitsglaubens.  Das  interessanteste  Problem  auch  in 
diesem  Sinne  bietet  die  Entstehung  der  Völuspä:  die  Mischung  von 
Gelehrsamkeit  und  wirklicher  Vision,  etwa  wie  in  den  glücklichsten 
Momenten  bei  Milton  und  Klopstock5).  —  Auch  hier  ist  die  vergleichende 

Leipzig  1905;  W.  Wundt,  Märchen,  Sage  und  Legende  als  Entwicklungsformen 
des  Mythus,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11,  200;  vgl.  auch  Kauffmann,  Arch.  f. 
Rel.-Wissensch.  11,  110. 

x)  Nebelsagen,  1879;  Das  Rätsel  der  Sphinx,  1889;  Golther  S.  14. 

2)  Leipzig  1884. 

3)  Übs.  v.  W.  Mecklenburg:  Die  Schöpferkraft  der  Phantasie,  Bonn  1903; 
ferner  E.  Lucka,  Die  Phantasie,  Wien  1908. 

4)  Walküren:  Helg.  Hjörv.  Str.  6;  Helg.  Hund.  I.  Str.  15—16;  Walkürenlied 
aus  der  Njälssaga:  Eddica  minora  S.  L;  Verstorbene:  Helg.  Hund.  II.  Str.  39 f.; 
eine  Erscheinung  Odins  wird  erwartet  in  den  Bjarkamäl  (vgl.  Eddica  minora 
S.  XXII);  u.  a. 

5)  Das  Problem  hat  schon  die  alten  Angelsachsen  beschäftigt,  wie  die 
Legenden  von  Caedmon  (vgl.  Brandl,  Altengl.  Lit.,  S.  1030)  und  von  Godric 
(S.  1096)  —  in  christlicher  Zeit  —  beweisen. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  625 

teligionsgeschichte  am  Werk:  Holzinger1)  konstatiert  das  Überwiegen 
lächtlicher  Theophanien  beim  Elohisten  (während  z.  B.  die  Vision 
on  Damaskus  bei  Tage  stattfindet). 

Von  Amerika  kam  eine  starke  Strömung.     Die  empirische  Religions- 

j^sychologie  wurde  geschaffen2).     Früher  hatte  man  nur  die  Höhepunkte 

sorgfältiger  studiert3).     Nun   begann   man,   die  gesamte  innere  Welt  des 

Religiösen    Menschen    zu    studieren,    gerade    auch    die    intermittierenden 

3j> Trocken heitszustände«    (deren    klassische  Vertreterin   in  unserer  Dichtung 

\nnette  v.  Droste  war),  gerade  auch  die  langsamen  Wandlungen. 

Diese  Wege  hatte  Wilhelm  Wundt  schon  früher  mit  der  Kollektiv- 
Psychologie  zusammengeführt,  und  in  seinem  großen  Werk  Völker- 
psychologie« 4)  versuchte  er,  einen  vollständigen  Kosmos  des  zu  geistigen 
Äußerungen  bewegten  Menschen  zu  geben.  Das  bedeutsame  Werk  leidet 
im  einer  gewissen  rechnerischen  Methode,  die  zu  gern  aus  den  gegebenen 
Daten  mittlere  Linien  zieht,  und  daneben  an  der  philosophischen  Neigung 
oi  »vollständigen«  Entwicklungen;  aber  vor  allem,  wo  es  sich  um  Be- 
rührungen mehrerer  Ausdrucksformen  —  wie  Kunst  und  Mythus  — 
wandelt,  wird  man  die  Enzyklopädie  der  Volksseele  nie  ohne  Ertrag  auf- 
schlagen. Um  für  unsere  Zwecke  vollkommen  nutzbar  zu  sein,  müßte  Wundt 
,yon  Müllenhoffs  oder  Laistners  Gabe  der  mythologischen  Anschauung  mehr 
besitzen,  als  dem  gelehrtesten  aller  Philosophen  gegeben  ist.  Wer  eine  treff- 
liche Logik  schreiben  kann,  ist  zum  rechten  Mythologen  schon  verdorben5). — 

Zum  Schluß  ein  Umblick.  Suchen  wir  uns  über  den  gegen- 
wärtigen Betrieb  der  Mythologie  klar  zu  werden,  so  wird  allgemein  die 
Herrschaft  der  folkloristischen  Richtung  mit  historischen  Tendenzen  an- 
zuerkennen sein.  Der  Versuch,  aus  einer  durchweg  angenommenen 
wesentlichen  Gleichheit  der  Primitiven  eine  übereinstimmende  niedere 
Mythologie  abzuleiten  und  aus  dieser  in  historischer  Entwicklung  die 
national  gestaltete  höhere  Mythologie  aufsteigen  zu  lassen,  charakterisiert 
/or  allem  die  maßgebend  gewordene  semitische  Mythologie  unserer  Tage : 
tfon  Robertson  Smith   und  Wellhausen  zu  Stade  und  Gunkel6).     Diesem 


*)  Genesis  S.  177. 

2)  W.  James,  Die  religiöse  Erfahrung,  übs.  v.  G.  Wobbermin,  Leipzig 
1907;  E.  D.  Starbuck,  Religionspsychologie  B.  I.,  Leipzig  1909,  mit  einer  Ein- 
leitung vom  Übersetzer,  die  nur  in  Übersetzung  verständlich  wäre. 

3)  Huguet,  Celebres  conversions  contemporains ,  Paris  1882;  vgl.  W.  A. 
Heidel,  Die  Bekehrung  im  klass.  Altertum,  Ztschr.  f.  Rel.-Psychol.  3,  377; 
Achelis,  Die  Ekstase,  Berlin  1902;  vgl.  auch  M.  Buber,  Ekstatische  Kon- 
fessionen, Jena  1909. 

4)  Leipzig  1900  f. 

5)  Auch  an  Pfleiderers  Religionspsychologie  auf  geschichtlicher  Grund- 
lage (Berlin  1898)  kann  erinnert  werden. 

6)  Genesis,  1901. 

Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschichte.  40 


626  Neuntes  Kapitel. 

Typus  entsprechen  auch  die  Lehrbücher  der  germanischen  Mythologi 
die  an    Stelle   von  Simrocks   zu   lange   herrschendem  Handbuch   getreteHflt 
sind;   nur  daß  bei  E.  H.  Meyer  in  konsequenter  und  bei  Golther  in  inl 
konsequenter    Weise    das    »adaptionistische«    Element,    die  Wanderun 
hypothese   hinzutritt,   während  Mogk  und  Chantepie  de  la  Saussaye  sie 
auf  durchaus  folkloristischem  Standpunkt  halten,  der  erstere  mit  stärkere) 
Betonung  der  spezifisch  historischen  Entwicklung.    Von  einer  Würdigung 
dieser  Bücher x)   möchte   ich  an  dieser  Stelle  absehen ,   kann  übrigens  fü 
Golther  und  E.  H.  Meyer  auf  frühere  Rezensionen 2)  verweisen 3).    Person 
lieh  fühle  ich  mich  der  Hilfe  Mogks  am  meisten  verpflichtet,   habe  abe 
auch    von    Golthers    übersichtlicher,    reicher    Stoffsammlung    und    vor| 
E.  H.  Meyers  anschaulicher  Schilderung  zumal  der  niederen  Psychologi 
dankbar  viel  gelernt. 

So  glänzende  Namen  wie  die  orientalische  und  die  klassische  Mythologi 
haben  wir  jetzt  nicht  aufzuweisen.  Das  Beste  ist  in  neuerer  Zeit  auf  Gebietei 
geschehen,  die  unsere  allgemeine  Darstellung  nicht  berühren  konnte:  in 
der  Kritik  und  Interpretation  der  Quellen,  wo  vor  allem  Olriks  Name 
glänzt  und  die  von  Jessen4)  und  Finnur  Jönsson 5)  neben  denen  der  aus- 
gezeichneten Edda-Herausgeber  Grundtvig,  Bugge,  Sijmons  und  der  Edda 
Erklärer  Lüning,  Müllenhoff,  Hoffory,  Heusler,  Heinzel  und  Detter,  Niedner, 
sowie  des  Edda-Übersetzers  Gering  mit  besonderem  Dank  zu  nennen  wären ; 
dann  in  der  Erörterung  wichtiger  Einzelfragen6);  endlich  in  den  Über-| 
sichten,  die  Kauffmann  zum  Archiv  für  Religionswissenschaft  beisteuert. 
Als  ein  Beweis,  wie  sich  eine  allgemeine  Methode  dieser  Disziplin  heraus- 
bildet, ist  gerade  diese  (nach  Achelis'  unzulänglichen  Anfängen)  von 
Usener  und  Dieterich  neugegründete  Zeitschrift  auch  für  die  germanische 
Mythologie  wichtig;  während  die  Zeitschrift  für  Religionspsychologie  (seit] 
1907)  noch  nicht  leistet,  was  wir  glaubten  erwarten  zu  dürfen. 

Soll  ich  mir  endlich  auch  ein  Urteil  über  den  gegenwärtigen  Betrieb 
unserer  Wissenschaft  erlauben,  so  wäre  es  das  beunruhigte,  daß  wir  wieder 


!)  Vgl.  Chantepie  S.  42  für  Mogk,  S.  45  für  Golther,  S.  27  für 
E.  H.  Meyer. 

2)  Vgl.  für  E.  H.  Meyer  Anz.  f.  d.  Alt.  30  (1905)  S.  1;  für  Golther  Zs. 
Ver.  Volksk.  1896  S.  87  f. 

3)  Für  Chantepie  sei  auf  die  Besprechung  von  Olrik,  Ark.  f.  nord.  Fil. 
20,  97,  hingewiesen  (wo  noch  S.  99  besonders  auf  die  bibliographischen  Ver- 
dienste des  Buches  hingewiesen  wird);  für  Mogk  auf  Jiriczek,  Arch.  f.  Rel.- 
Wissensch.  5,  274. 

4)  Über  die  Eddalieder,  1871. 

8)  Den  oldnordiske  og  oldislandske  Literaturs  Historie,  Kopenhagen  1894 f. 

6)  Chadwick,  The  eult  of  Odin,  Oxford;  v.  d.  Leyen,  Märchen  in  der 
Edda,  Berlin,  beide  1899;  Siebs,  Der  Gott  Fosite  und  sein  Land,  1910, 
PBB.  35,  535. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  527 

keinmal    unter    dem   Zeichen    der   Übergescheitheit   zu  stehen   scheinen1). 

|ene   »Furcht  vor   dem   Trivialen«,    die  unsere   Romantiker   ruiniert  hat, 

schädigt  nur  zu  viel   unsere  Untersuchungen2).     Man   hat  zu  selten  den 

Mut,  einer  unbedenklichen  Aussage  einfach  zu  trauen.    Wie  einst  Müllen- 

hoff  hinter  einem   bedeutungsvollen   Namen   zu   rasch   etwas  Mythisches 

witterte,  wie  wir  dann  eine  Zeitlang  mit  jedem  runden  Kuchen  ein  Sonnen- 

Isymbol  und  mit  jedem  Kringel  allegortce  den  Mond  verzehrten,  so  steht 

•jetzt  das  Gespenst  der  Kulthandlung  über  allem  vergangenen  Leben.    Und 

wenn  zwei  sich  ohrfeigen,  ist  es  eine  symbolische  Handlung;   und  wenn 

'zwei  sich  küssen,  vollziehen  sie  einen  Zauberritus. 

Nun  ist  die  Luft  von  diesem  Spuk  so  voll, 
Daß  niemand  weiß,  wie  er  ihn  meiden  soll. 

Wie  jene  andern  Doktrinäre  die  ganze  Historie  weghauchen,  so  weit 
sie  nicht  Gilgamesch  ist,  so  überfüllen  diese  sie  mit  Mythologie.  Aber 
auch  in  dem  geheimnisvollsten  Mythus  ist  nicht  alles  mythisch,  und  auch 
an  der  künstlichsten  Legende  nicht  alles  legendarisch. 

Ich  habe  dies  Ausweichen  vor  dem  Einfachen  vor  kurzem  an  einer 
vielbelobten  kleinen  Studie  zur  mittelalterlichen  Religionsgeschichte  geprüft, 
an  Karl  Wencks  Vortrag  »Die  heilige  Elisabeth«8).  Es  wird  berichtet, 
die  Landgräfin  Sophie  sei  ihrer  Schwiegertochter  Elisabeth  feindlich 
gesinnt  gewesen.  Solcher  Aussage  zu  mißtrauen,  liegt  gar  kein  Grund 
vor;  denn  trotz  ihrer  Häufigkeit  im  Lustspiel  und  Witzblatt  kommen  böse 
Schwiegermütter  auch  in  der  Wirklichkeit  vor,  und  muß  alles  buchmäßig 
bewiesen  werden,  so  sei  dafür  auf  Otto  Schraders  Schriftchen  mit  dem 
verfänglichen  Titel  »Schwiegermutter  und  Hagestolz«4)  verwiesen.  Aber 
Wenck  muß  überall  Legende  sehen.  Weil  die  alte  Landgräfin  eine 
wohltätige  Stiftung  gemacht  hat,  weil  sie  ihres  Gatten  in  —  durchaus 
typischen  —  Gebeten  gedenkt  —  deshalb  kann  sie  nicht  nur  nicht 
»Elisabeths  Gegnerin  gewesen  sein,  sondern  war  sogar  wahrscheinlich 
ihre  besondere  Freundin  und  Lehrerin5)!  Ist  es  wirklich  angebracht, 
in  dieser  Weise  an  Stelle  unbedenklicher  Berichte  modernste  Legenden  zu 
setzen?  Denn  natürlich  gilt  nun  die  »Sage  von  der  bösen  Landgräfin« 
als  »novellistisches  Motiv«,  und  wir  haben  dafür  den  Mythus  von  der 
Erziehung  Elisabeths  durch  Sophie  anzunehmen. 

Es  gilt  auch  hier  Lachmanns  großes  Wort:  »Sein  Urteil  befreit  nur, 
wer  sich  willig  ergeben  hat!«;  es  gilt  bis  zu  einem  gewissen  Grad  sogar 

J)  Häv.  Str.  54.  —  Daneben  fehlt  es  nicht  an  Skeptikern  wie  Meillet,  Ein- 
führung in  die  vergleichende  Grammatik,  Leipzig  1900,  S.  246.  247. 

2)  Vgl.  z.  B.  Kauff  mann,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  11, 109  gegen  Negelein. 

3)  Tübingen  1908;  vgl.  meine  »Wissenschaftlichen  Moden«,  Nord  und  Süd  1910, 
34,  43  f. 

4)  Leipzig  1904.  5)  a.  a.  O.  S.  4-6. 

40  * 


628  Neuntes  Kapitel. 

Tertullians  paradoxes   »credo  ut  intelligam«:   ich  glaube,   um  begreifei 
zu   können.     »Nicht  zu   voreilig   im  Glauben,    nicht  zu  voreilig  im  Un 
glauben,«    sagte  der  alte  Zöllner   in  Leipzig  —  ein  Wort,   daß   deshall 
nicht  weniger  wahr  ist,  weil  er  es  zur  Verteidigung  des  Spiritismus  sagte 
Wer  sich   in   überlieferte  Verhältnisse  nicht  erst  einmal  andächtig  hinein 
denken   kann,   bis   ihm  zuletzt  der  Hammer  Thors  und  die  Luftfahrt  dei 
Walküren  die  natürlichsten  Dinge  von  der  Welt  scheinen,  der  wird  draußen 
bleiben   wie  die  gescheitesten  Aufklärer.     Und  dann:   wenn  die  Ästhetik 
uns   immer   wieder   (mit  Recht)   versichert,   was   wahr  ist,   brauche  nicht 
wahrscheinlich  zu  sein,  so  sollten  wir  Mythologen  und  Geschichtskritikerl 
öfter  bedenken,   daß,  was  nicht  wahrscheinlich  ist,  wahr  sein  kann  (und 
was    »allzu    wahrscheinlich«    ist,   auch!).     Womit  ich   keinem  frommen! 
Wunderglauben,    keinem    kindlichen   Märchenglauben   das   Wort  geredet 
haben    will;    ich    wiederhole    nur    meinen   alten   Satz:    Gründlichkeit   ist 
Respekt  vor  den  Tatsache.    Was  kommt  nicht  alles  vor!    Das  Leben  der 
sechs  »großen  Victorianischen  Poeten«  nimmt  von  Tennysons  Geburt  bis 
zu    Swinburnes   Tod   genau    ein   Jahrhundert   ein:    1809 — 19091).     Die 
rundeste  aller  Zahlen   kann  eben  auch  einmal  genau  sein.     Oder:   wenn 
uns  die  Geschichte  von  Goethes  »Werther«  aus  dem  Altertum  überliefert 
wäre  —  wer  von  uns  würde  daran  glauben,  daß  Goethes  Werther  gerade 
Goethes  Albert  um  die  Pistole  zu  der  »vorhabenden  Reise«  gebeten  hat? 
Wir  würden  alle  behaupten,  dieser  Zettel  sei  erst  nachträglich  an  Kestner 
addressiert  worden,   als  der   Roman   Goethe  und  Jerusalem  zusammen- 
gebracht  hatte.     (Ausgenommen   Boer;    der   würde   beweisen,    daß   nur 
Jerusalems  Zettel   die  echte  Grundlage  sei,   daß  also  dieser  wirklich  nur 
eine  Reise  vorhatte,  und  daß  erst  die  Literaten  die  üblichen  Motive,  Liebe, 
verfehlten  Ehrgeiz  usw.  auf  den  braven  Sekretär  übertragen  hätten.)    Und 
was  hätte   E.   H.  Meyer  aus  dem   Namen  Jerusalem   gemacht!   und   ein 
rechter  Sagenforscher  aus  der  Duplizität  der  Lotten !    Es  ist  wirklich  auch 
im  Leben  nicht  alles  Legende  oder  künstlerische  Absicht2). 

Handelt  es  sich  hier  um  eine  Mode  oder,  sagen  wir  höflicher,  eine 
Stimmung,  die  sich  der  gesamten  Geschichtsforschung  unserer  Tage  be- 
mächtigt hat  (die  Philologie  ist  mit  Wilamowitz  schon  wieder  viel  kon- 
servativer geworden),  so  sind  noch  einige  spezifisch  mythologische 
Neigungen  unserer  Tage  zu  kennzeichnen. 

Obenansteht  die  ganz  begreifliche  Überschätzung  der  niederen 
Mythologie.  Wenn  Olrik  in  seiner  Besprechung  von  Kauffmanns 
Mythologie3)  noch  klagte,  die  Mythologie  sei  zu  sehr   »Götterlehre«,  so 


*)  Mackail,  Swinburne,  Oxford  1909,  S.  5. 

2)  Andere  Beispiele  in  meinen  »Kriterien  der  Aneignung«,  bes.  S.  42 f. 

9)  Ark.  f.  nord.  Fil.  11,  210. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Grimm.  629 

fängt  sie  bereits  an,  es  zu  wenig  zu  sein.  Auch  die  neue  »vergleichende 
Mythologie«  vergißt  über  dem  Unterbau  die  Kuppel  und  über  den  all- 
gemein menschlichen  Übereinstimmungen  die  nationalen  und  historischen 
Verschiedenheiten. 

Speziell  gilt  das  noch  von  der  Überschätzung  des  Zaubers1).  Ins- 
besondere haben  die  höchst  verdienstlichen  Forschungen  von  Preuß  nicht 
nur  ihn,  sondern  selbst  so  ruhige  Sachkenner  wie  Mogk  (in  seiner  Unter- 
suchung über  germanische  Menschenopfer)  zu  Folgerungen  verführt,  deren 
kühne  Allgemeinheit  an  die  Zeit  vor  hundert  Jahren  erinnert.  Wären 
Namenscherze  nicht  so  streng  verpönt  —  obwohl  die  Mythologie  es  stets 
geliebt  hat,  mit  Namen  zu  spielen !  — ,  ich  könnte  es  mir  unmöglich  ver- 
sagen, zu  bemerken,  daß  wir  bald  keine  Germanische,  Römische,  Griechische 
Mythologie  mehr  haben  werden,  sondern  nur  Eine  Preußische.  Dabei 
sind  die  Unterschiede  in  dem  Ausmaß  zauberischer  Betätigung  doch  in 
historischer  Zeit  so  deutlich  vorhanden!  Wenn  selbst  für  die  keines- 
wegs zauberfremden  Norweger  die  Lappen  das  eigentliche  Zauberervolk 
blieben  —  man  holte  sich  von  ihnen  Zauberer  wie  heut  aus  Deutschland 
Generäle  — ,  so  werden  wir  wohl  auch  die  religiösen  Zustände  der 
Mexikaner  nicht  einfach  als  typisch  ansehn  dürfen  —  eines  Volkes,  das 
so  wenig  primitiv  war  wie  die  alten  Ägypter  der  vollen  Priester-  und 
Zaubererzeit ! 

Wiederum  eine  Konsequenz  dieser  Grundanschauung  ist  die  Neigung, 
überall  chthonische  Gottheiten  zu  finden;  als  ob  Lipperts  Zurück- 
führung  aller  Religion  auf  Ahnenkult  nicht  längst  aufgegeben  wäre.  Man 
kann  es  noch  verstehen,  wenn  Wodan  und  Nerthus,  Freyja  und  Loki  für 
ursprüngliche  Totengottheiten  erklärt  werden,  obwohl  schon  diese  starke 
Vertretung  der  Unterwelt  im  Himmel  stutzig  machen  sollte;  aber  es  liegen 
da  überall  schwierige  Verhältnisse  vor  und  doch  einige  Anhaltspunkte  für 
die  chthonische  Auffassung.  Aber  nun  sollen  nach  L.  v.  Schroeder  u.  a. 
gar  Rudra2)  und  die  Maruts3),  bei  denen  sich  der  Wind  sozusagen  mit 
Händen  greifen  läßt,  Seelendämonen  sein!  Dabei  ist  meines  Wissens 
noch  nicht  Einmal  mit  Sicherheit  nachgewiesen  worden,  daß  eine  Unter- 
weltsgottheit aufsteigt  (behauptet  hat  man's  hundertmal!).  Wann  sind 
Pluton  und  Persephone,  Hod  oder  Ran  je  zu  mächtigen  Gottheiten  auf 
Erden  und  im  Himmel  darüber  geworden,  wie  Wodan  und  Freyja  es 
geworden  sein  sollen4)? 


*)  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  9,  418 f.;  10,  88 f. 

2)  Macdonell  S.  77. 

3)  Ebd.  S.  81. 

4)  Doch  vgl.  Wide,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  10,  2571,  wo  mir  aber  das 
Aufsteigen  von  Hera  und  den  Dioskuren  keineswegs  so  sicher  scheint  wie  S.  258 
Zeus'  Herabsteigen  zur  Unterwelt;  vgl.  bes.  S.  267. 


630  Neuntes  Kapitel. 

Es  ist  nur  eine  Frage  der  Zeit,   daß  man  in  Helios  den  Ursprung 
liehen   Unterweltsgott  erkennen   wird1);   fährt   er   doch   täglich    hinab2 
Ein    Musterbeispiel    dieser   Verirrungen    in    der    folkloristischen    Mytho 
logie    scheint    mir   Schonings    entschieden    geistreiche    Studie   über    daii 
nordische  Totenreich   zu   sein  —  alles  chthonisch;   alle  späteren  Berichte 
allein  altertümlich ;   schließlich  auch  ein  selten  fehlendes  Kennzeichen  des 
extremen  Folkloristen  —  der  Verfasser  lector  unius  libri:  zwar  in  dei 
heimischen  Mythologie  ist  er  wohl  bewandert,  von  den  deutschen  Schriften 
aber  zitiert  er  sehr  gern  Dieterichs  allerdings  wertvolle  Nekyia  —  scheint 
aber  Rohdes   Psyche  nicht  zu   kennen!     Schoning  spricht  denn   auch3) 
das  folkloristische  Fundamentaldogma  von  der  allgemeinen  Gleichheit  des 
Denkens  schneidend  aus  —  griechische  oder  nordische  Atmosphäre,   das 
soll  keinerlei  Unterschied  machen! 

Auch  sonst  ist  man  mit  naturmythologischen  und  folkloristischen 
Deutungen  zu  rasch  bei  der  Hand.  Selbst  Mars  soll  ein  Ackerbaugott 
sein4)!  Auch  die  Sonnengötter  sind  noch  in  beständiger  Vermehrung 
begriffen;  unter  andern  beliebigen  Naturdeutungen  (Windgott  usw.)  hat  man 
den  Janus5)  auch  zu  einem  Sonnengott  gemacht.  —  Dabei  pflegt  man 
noch  gewisse  mythologische,  keineswegs  identische  Funktionen  zusammen- 
zuwerfen: den  Sonnengott,  den  Himmelsgott,  neben  denen  sogar  noch 
besondere  Gottheiten  der  Wärme,  des  Lichts  gelegentlich  auftauchen,  viel- 
leicht auch  die  aufgehende  Sonne6),  die  sich  bergende  Sonne7). 

Mit  der  folkloristischen  Freude  am  Greifbaren,  an  den  »Realien« 
hängt  eine  gefährliche  Neigung  zusammen,  einzelnen  Gegenständen  ein 
zu  großes  Gewicht  zu  geben.  Wir  haben,  wie  in  der  Zeit  der  Schicksals- 
tragödie, eine  wahre  Requisitenmythologie  bekommen,  und  Tyrfings 
Schwert,  von  Hand  in  Hand  vererbt,  ist  nicht  nur  Bugges  berühmtem 
Widersacher  Rydberg  verhängnisvoll  geworden.  Es  gibt  eben  in  Mythus 
und  Sage  mehr  als  Ein  verhängnisvolles  Schwert,  und  wenn  alle  Helden, 
die  durch  die  eigene  Waffe  fallen,  identisch  wären,  wäre  es  schließlich 
Cato  von  Utica  mit  dem  Banditen  Schweizer  aus  Schillers  »Räubern«. 


*)  Wie  umgekehrt  Surt  nach  F.  Magnussen  ein  gefallener  Lichtgott  ist; 
vgl.  Ark.  f.  nord.  HL  21,  17. 

2)  Was  ich  hier  nur  im  Scherz  als  Konsequenz  der  Mode  postulierte,  ist 
wirklich  auch  geschehen,  wie  ich  nachträglich  bemerke:  Stengel,  Arch.  f.  Rel.- 
Wissensch.  8,  204,  hat  Helios  für  einen  chthonischen  Gott  erklärt!  vgl.  Ada 
Thomson,  Arch.  f.  Rel.-Wissensch.  12,  481.  —  Vgl.  für  Übertragungen  des 
Totenkults  ebd.  S.  489. 

3)  S.  18. 

4)  Vgl.  dagegen  Wissowa  S.  130. 

5)  Dagegen  Wissowa  S.  95. 

6)  Vivasvat,  Macdon  eil  S.  43. 
"')  Vishnu,  ebd.  S.  39. 


§  35.    Germanische  Mythologie  seit  J.  Orinim.  631 

Und  so  muß  denn  überhaupt  vor  der  Art  gewarnt  werden,  wie 
wieder,  wie  in  der  bösen  alten  Zeit,  einzelne  Züge  von  überall  hergeholt 
werden,  überall  aus  dem  Zusammenhang  gerissen,  überall  hinein- 
gepaßt, als  hätte  Müllenhoff  nie  jene  goldene  Regel  gesprochen  *).  Deutet 
Iman  nicht  oft  wieder  alle  germanischen  Namen  aus  dem  gefälligen 
Keltisch  der  Sagensprache,  statt  zunächst  nach  heimischen  Wurzeln  zu 
graben? 

Die  Zeit  ist  wohl  vorbei,  in  der  Noreen  2)  bekaupten  konnte,  es  ver- 
ginge keine  Woche  oder  gewiß  kein  Monat,  ohne  daß  eine  mythologische 
Arbeit  erscheint.  Aber  auch  heut  noch  gibt  es  zu  viel  Mythologen  — 
und  zu  wenig.  Denn  wie  man  mit  Recht  von  einem  historischen  Sinn, 
einem  prähistorischen  Auge  spricht,  so  gibt  es  auch  einen  besonderen 
mythologischen  Blick;  und  wenn  es  auch  nicht  gerade  angenehm  ist,  hier 
Creuzer  zitieren  zu  müssen  —  recht  hatte  er  doch,  als  er  sagte,  ein 
Mytholog  müsse  geboren  sein.  Virchow  bezeichnete  Morgagni  als  den 
Begründer  des  »anatomischen  Denkens« ;  und  wer  hat  in  Deutschland  vor 
Jakob  Grimm  mythologisch  zu  denken  verstanden?  Mythologische  An- 
schauungskraft, die  den  Kern  des  Mythus  unter  dem  Beiwerk  heraus  er- 
faßt, die  das  Wesen  einer  Göttergestalt  unter  alien  Verwandlungen  erkennt, 
die  den  Sinn  eines  Ritus  durch  alles  angewachsene  Brimborium  hindurch 
findet  —  solche  mythologische  Anschauung  hat  die  Jakob  Grimm  und 
Adalbert  Kuhn,  die  Rohde  und  Usener,  die  Müllenhoff  und  Olrik  groß 
gemacht.  Man  kann  ein  großer  Gelehrter  sein  wie  Sophus  Bugge  und 
Friedrich  Kauffmann  und  dieser  Fähigkeit  völlig  ermangeln;  man  kann 
ein  geistreicher  Literarhistoriker  wie  Schuck,  ein  ausgezeichneter  Kritiker 
wie  Gruppe  sein  und  sie  nirgend  beweisen.  Oder  sie  ist  einem  Forscher 
nur  für  einzelne  Seiten  gegeben,  wie  E.  H.  Meyer  für  die  niedere  Mytho- 
logie; oder  auch  wieder:  sie  ist  ihm  im  Übermaß  gegeben,  so  daß  er 
selbst  zum  Mythendichter  wird,  wie  Laistner  und  zuweilen  auch  Müllen- 
hoff. Wer  sie  aber  gar  nicht  besitzt,  der  zwingt  dem  Mythus  und  dem 
Ritus  mit  Hebeln  und  Schrauben  sein  Geheimnis  nicht  ab. 

Ich  weiß  wohl,  wie  gefährlich  es  ist,  solche  Rede  zu  führen,  wenn 
man  sich  selbst  in  dies  Labyrinth  hineingewagt  hat.  Was  hilft  es?  dies 
Buch  beweist  ja  doch,  daß  ich  mir  mythologischen  Sinn  zutraue.  Vielleicht 
beweist  es  auch,  daß  ich  mich  geirrt  habe.  Aber  lieber  als  nach  Häv.  Str.  6. 
habe  ich  mich  nach  Häv.  Str.  16  richten  wollen.  Der  >  Mut  des  Fehlens« 
hat  mir  nie  gemangelt;  und  die  »ganz  Exakten«,  die  sich  entsetzen,  mögen 
es  sich  schließlich  gesagt  sein  lassen,  daß  man  auch  ohne  diesen  Mut  zu 
fehlen  imstande  ist.    Ich  habe  dieses  Buch  mit  großer  Freude  geschrieben ; 

*)  Vgl.  o.  S.  599. 

a)  Fornordisk  Mytologi  S.  1. 


632  Neuntes  Kapitel. 

es   ist  wohl   möglich ,   daß   sie  unberechtigt  war  —  aber  ich  habe  kein| 
Angst,  daß  ich  dies  dann  nicht  erfahren  werde! 

Wer  kennt  sich  selbst?    Wer  weiß,  was  er  vermag? 
Hat  nie  der  Mutige  Verwegnes  unternommen? 
Und  was  du  tust,  sagt  erst  der  andre  Tag, 
War  es  zum  Schaden  oder  Frommen. 

§  36.    Chronologie. 

Ich  gebe  im  Folgenden  eine  Reihe  der  wichtigsten  Daten  zur  G< 
schichte  der  germanischen  Mythologie  und  der  von  ihr  handelnden  Wissen! 
schaft.  Die  Verantwortlichkeit  muß  ich  zumeist  auf  die  Gewährsmann© 
abwälzen.  Die  ältesten  Daten  sind  nach  Eduard  Meyers  Geschichte  des) 
Altertums  2.  Aufl.  I.  Bd.  2.  Hälfte1)  gegeben,  die  ältesten  germanischer! 
Daten  nach  O.  Bremer,  Ethnographie  der  germanischen  Stämme2),  dia 
Datierungen  der  Eddalieder  nach  Finnur  Jönssons  Literaturgeschichte,  außen 
wo  ich  damit  durchaus  nicht  übereinstimmen  konnte.  Für  die  Datierung 
der  Eddagedichte  sind  besonders  noch  zu  vergleichen  Jessen 3),  Vigfussonj 
und  Powell4),  Heusler5),  Neckel6). 

A.  Prähistorische  Zeit. 

Um  5000  v.  Chr.  Beginn  der  menschlichen  Kultur7). 

Um  2500  v.  Chr.  Loslösung  der  Indogermanen  und  Beginn  ihrer  Aus- 
breitung 8). 

Um  2000  v.  Chr.  Einzug  der  Arier  in  Indien  und  Persien;  Trennung 
von  Ost-  und  Westindogermanen 9). 

2000 — 1500  Entstehung  der  germanischen  Nationalität10). 

Um  1500  die  ältesten  Hymnen  des  Rigveda11). 

Anfang  des  14.  Jahrhunderts  werden  die  arischen  Götternamen  Mitra  und 
Varuna  genannt 12). 

Um  1000  v.  Chr.  das  indogermanische  Gebiet  in  drei  große  Gruppen 
geteilt,  von  denen  Germanen,  Kelten  und  Lettoslawen  die  dritte 
bilden 18). 


*)  Stuttgart  1909. 

2)  In  Pauls  Grundriß,  2.  Aufl.;  3,  735 f. 

3)  Über   die    Eddalieder   Ztschr.    f.    d.    Phil.    B.   VI ,    und    selbständig    er- 
schienen 1871. 

4)  Corpus  Poeticum  Boreale,  Oxford  1883. 

5)  Heimat  und  Alter  der  Eddalieder,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,  249. 

6)  Beiträge  zur  Eddaforschung,  Dortmund  1909. 

7)  Meyer  S.  842.  *)  Ebd.  S.  765. 

9)  Ebd.  S.  807.  ie)  Bremer  S.  762.  768. 

u)  Meyer  S.  807.  12)  Ebd.  S.  580.  802. 

1S)  Ebd.  S.  795. 


§  36.    Chronologie.  533 

Jm  1000  v.  Chr.  der  Sonnen  wagen  aus  Seeland1). 

jm  320  v.  Chr.  entdeckt  Pytheas  von  Massilia  die  Germanen. 

B.   Historisehe  Zeit. 
1.  Urgermanische  Periode. 

52  v.  Chr.  schreibt  Caesar  über  die  Germanen. 

(m  1.  Jahrhundert  n.  Chr.  verdrängt  Wodan,  zuerst  am  Rhein,  den  Tyr 
aus  seiner  Stellung  als  oberster  Gott;  im  3. — 4.  Jahrhundert  erobert 
er  diesen  Rang  bei  den  Niederdeutschen2)  und  kommt  von  da  in 
den  Norden.  In  Süd  deutsch  land  hat  er  noch  im  8.  Jahrhundert  den 
Widerstand  der  Tyr- Verehrer  zu  überwinden3). 

98  n.  Chr.  die  Germania  des  Tacitus. 

Um  115  n.  Chr.  die  Annalen  des  Tacitus. 

2.  Jahrhundert  Denkstein  für  Requalivahanus4). 

222—235  (Regierung  des  Alexander  Severus)  Altar  für  Mars  Thingsus. 

2.-5.  Jahrhundert  Entwicklung  der  hochdeutschen  und  anglofriesischen 
Sprache 5). 

Anfang  des  3.  Jahrhunderts  Entstehung  der  Runenschrift  am  Rhein. 

449  f.  Eroberung  Englands  durch  die  Angelsachsen. 

Um  500  wandert  die  Wodansreligion  nach  dem  Norden ;  etwa  gleichzeitig 
vielleicht,  vermittelt  durch  die  Haruden,  der  Nerthuskult  aus  Däne- 
mark nach  Norwegen  und  Schweden6). 

2.  Gemeingermanische  Periode. 

Gegen  600  hört  die  unmittelbare  Verbindung  zwischen  Skandinaviern  und 

Westgermanen  auf7). 
Um   600   der   »Wanenkrieg«    zwischen    dänischen    Wodanverehrern    und 

schwedischen  Freyverehrern. 
7.  Jahrhundert    die    Nordendorfer    Spange  (Anrufung   von   Wodan    und 

Thonar 8). 
Zwischen  690  und  714  der  hl.  Willibrord   vor  dem  Tempel  Fosites  auf 

Helgoland 9). 
Um  700  Beowulf10). 

r)  S.  Müller,  Urgesch.  Europas,  S.  116. 

2)  Vgl.  Golther  S.  297f. 

3)  Vgl.  ebd.  S.  205.  4)  Golther  S.  405. 

5)  Vgl.  Bremer  S.  926.     . 

6)  Mogk,  Menschenopfer,  S.  684. 

7)  Müllenhoff,  Ztschr.  f.  d.  Alt.  10,  177;  vgl.  D.  Alt.  5,  58. 

8)  Golther  S.  245  Anm. 

9)  Ebd.  S.  387  Anm.  2. 

10)  Zusammenstellung  der  mythischen  Elemente  bei  Brand  1  in  Pauls  Grund- 
riß, 2.  Aufl.;  2,  991  f. 


634  Neuntes  Kapitel. 

3.  Altdeutsche  Periode. 

743  Indiculus  superstitionum  et  paganiarum  *). 

Karl   der  Große  zerstört  772   die   Irminsul   auf   dem   Eresberg  in  Wes 

falen  2). 
Nach  772  Aufzeichnung  des  Wessobrunner  Gebets3)? 
Nach  787  Paulus  Diaconus  Historia  Langobardorum  (Wodan  und  Frigg! 
Gegen  800  Sächsisches  Taufgelöbnis  (Thuner  ende  Woden  ende  Saxnöt 
800 — 850  Ibn  Fadhlan  berichtet  über  Riten  der  Germanen. 
Nach  825  Aufzeichnung  des  Muspilli. 
Vor  850  angelsächsisches  Runengedicht  (Ing)4). 
10.  Jahrhundert  Aufzeichnung  der  Merseburger  Sprüche. 

4.  Altnordische  Periode. 

Seit  783  Wikingerzeit. 

Um  800  Bragi  der  Alte5). 

Von  800  ab  älteste  Skaldenpoesie  (mythologische  Zeugnisse)6). 

Nach  800  Besiedelung  Islands. 

Um  875  die  Loddfäfnismäl  der  Havamäl7). 

Gegen  900  entstanden  Skfrnismäl,  Thrymskvida;  Völundarkvida?8). 

890—920  Rigsthula9). 

Anfang  des  10.  Jahrhunders  Ljödatal  der  Havamäl10). 

927  alte  isländische  Eidformel  (Frey,  Njord,  Thor)11). 

930  Harald  Härfagr  gefallen. 

Nach  940  die  Eiriksmäl  (Odin  und  die  Einherier  12),  Balder) 13). 

Gegen  950  H.  Hund.  II  und  Helg.  Hjörv. 14). 

Um  950  Ingjaldslied  (Starkad) 15). 

Nach  950  Lokasenna16),  Harbardslied 17). 

970—995  Häkon  Jarl,  der  Verehrer  der  Thorgerd  Hölgabrud. 

980 — 990  Hüsdräpa  (bespricht  Balders  Beisetzung) 18) 


x)  Myth.  3,  403.  2)  Ebd.  S.  210. 

3)  Kögel,  Gesch.  d.  d.  Lit.  1,  270. 

4)Brandl  in  Pauls  Grundriß,  2.  Aufl.;  2,  964. 

5)  Golther  S.  403. 

6)  Vgl.  J  ö  n  s  s  o  n ,  Ark.  f.  nord.  Fil.  9,  1  f. 

7)  Jönsson  S.  289. 

8)  Jönsson  S.  175.  148  u.  164.  S.  148.  —  S.  212. 

9)  Ebd.  S.  193;  nach  1200:  Heusler  S.  278. 
10)  Jönsson  S.  243.  n)  Golther  S.  231. 
ia)  Golther  S.  317.           13)  Ebd.  S.  369. 

14)  Jönsson  S.  258  u.  251. 

15)  Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  91;  vgl.  190f. 

16)  Jönsson  S.  186. 

18)  Welches  Jönsson  S.  152  auf  900  ansetzt. 
18)  Golther  S.  369. 


§  36.    Chronologie.  ^35 

[:nde  des  10.  Jahrhunderts  Völuspä1),  Vafthrüdnismäl  und  Grimnismäl 2) ; 
Baldrs  Draumar8),  Kleine  Völuspä4). 

000  Übertritt  der  Isländer  zum  Christentum, 
[uifang  des  11.  Jahrhunderts  Alvissmäl5),  Hymiskvida0). 

017—1030  Olaf  der  Heilige  bekehrt  Norwegen. 
[<Jach  1050  Gedicht  von  der  Brawal laschlacht,  das  die  alte  mythologische 

heroische  Tradition  abschließt7). 
iJm  1069  Adam  von  Bremen  im  Tempel  von  Uppsala. 
Jm  1150  Erik  der  Heilige  vollendet  die  Bekehrung  Schwedens. 

150 — 1200  Abfassung  der  wichtigsten  Sagas8). 

185—1216  Saxos  Gesta  Danorum9). 
:a.  1225  Snorris  Prosa-Edda  abgeschlossen. 
1241  Snorri  getötet. 
:a.  1250  Abschluß  der  Liederedda. 

5.  Neue  Zeit. 

1643  Brynjulf  Sveinsson  findet  die  Liederedda. 

648  Elias  Schedius'  erste  germanische  Mythologie. 
1755  Mall  et,  Introduction. 

801  Rühs,   Geschichte   der   Religion,   Staatsverfassung  und  Kultur   der 

alten  Skandinavier. 
1808  Grundtvig,  Nordens  Mytologi. 
1812  P.  E.  Müller,  Echtheit  der  Asalehre. 
1822  Mone,  Geschichte  des  Heidentums. 

1835  J.  Grimm,  Deutsche  Mythologie. 

1836  Uhland,  Der  Mythus  von  Thor. 
1842  N.  N.  Petersen,  Nordisk  Mytologi. 

1844  W.  Müller,  Geschichte  und  System  der  altdeutschen  Religion. 

-1844  f.  K.  Müllenhoffs  Aufsätze. 

1853  Simrock,  Handbuch  der  germanischen  Mythologie. 

1866  f.  W.  Mannhardts  folkloristische  Epoche. 

1874  Holtzmann,  Deutsche  Mythologie. 

1876  Henry  Petersen,  Nordboernes  gudedyrkelse. 


x)  Jönsson  S.  135:  etwa  935. 

2)  10.  Jahrhundert:  Jönsson  S.  141.  145;  930—950:  Sijmons;  1030-1050: 
Heusler  S.  270. 

3)  ca.  900:  Jönsson  S.  148. 

4)  950—975:  Jönsson  S.  204. 

5)  Jönsson  S.  167:  900-950;  Heusler  S.  266:  um  1200. 

c)  Ende  d.  10.  Jahrhunderts :  Jönsson  S.  159;  12.— 13.  Jahrhundert:  Jessen. 

7)  Olrik,  Ark.  f.  nord.  Fil.  13,  228;  anders  Heusler,  Arch.  f.  n.  Spr.  116,2571 

8)  F.  Jönsson,  Ark.  f.  nord.  Fil.  13,  228. 

e)  VgL  Olrik,  Altnord.  Geistesleben,  S.  160. 


637  Neuntes  Kapitel. 

1889  Sophus   Bugge,    Studien    über   die  Entstehung   der  nordiscl| 

Götter-  und  Heldensage. 
1889  E.  H.  Meyer,  Völuspa. 

1891  K.  Müllen  hoff,  Deutsche  Altertumskunde  Bd.  V. 
1891   E.  H.  Meyer,  Eddische  Kosmogonie. 
1891   ders. ,  Germanische  Mythologie. 
1891  Mogk,  Mythologie  (in  Pauls  Grundriß  1.  Aufl.). 

1894  Finnur   Jönsson,    Den    oldnorske    og    oldislandske    Litteraüfcj 
Historie. 

1895  Golther,  Handbuch  der  germanischen  Mythologie. 
1899  Chadwick,  The  cult  of  Odin. 

1899  v.  d.  Leyen,  Märchen  in  der  Edda. 

1900  Chantepie  de  la  Saussaye,  Religion  of  the  Teutons. 
1902  Kauffmann,  Balder. 
1909  v.  d.  Leyen,  Deutsches  Sagenbuch. 


[  Nachträge  und  Berichtigungen. 

20.  Zu  den     ätiologischen«   oder  »explikativen«  Mythen  vgl.  jetzt 
A.  van  Gennep,  La  formation  des  legendes,  Paris  1810,  S.  69 f. 

21.  Zu  den  etymologischen  Mythen  Thurneysen,  Sagen  aus  dem  alten 
Island  S.  21. 

103.    Zur  Verehrung  der  Flußwirbel:  Skylla,     der  personifizierte  Meeres- 

strudel«,  Preller  1,  617. 
113.    Schwanenjungfrauen:  interessante   Parallelmythen  in  großer  Zahl 

bei  Frobenius,  Zeitalter  des  Sonnengottes,  Berlin  1904,  S.  304 f. 
193.    Zum  Mythus  von  Sceäf  macht  mich  H.  Greßmann  freundlichst  auf 

eine  höchst  merkwürdige  Parallele  aufmerksam.    Von  Tamus  heißt  es: 

In  seiner  Jugend  lag  er  in  einem  untergehenden  Schiffe, 

Als  Erwachsener  war  er  im  Getreide  untergetaucht  und  lag  darin. 

Greßmann,  Altorientalische  Texte  und  Bilder  zum  Alten  Testamente, 
Tübingen  1905,  1,  95).  Ist  unter  dem  »untergehenden  Schiff«  gar  noch  ein 
»steuerloses«  zu  verstehen? 
196.  Frey  als  jüngere  Form  der  Nerthus  (und  Freyja  als  Zwischenstufe)  auf- 
gefaßt: Chadwick,  The  origin  of  the  English  Nation,  Cambridge  1907, 
S.  247. 

i.  204  f.  Über  den  Kult  des  Nerthus  Chadwick  a.  a.  O.  S.  234  f.,  leider  nicht  mit 
der  gleichen  methodischen  Schärfe  wie  im  >  Cult  of  Odin«.  (Seeland  als  Insel 
des  Nerthus,  ebd.  S.  267). 

|.  231.  Ich  bin  in  meinen  Bedenken  gegen  das  »Sonnenauge  unzweifelhaft  zu 
weit  gegangen  und  bedauere  insbesondere  den  Ausdruck  von  der  ins  Ge- 
sicht geklemmten  Sonne« ;  mit  Recht  weist  mich  Greßmann  auf  die  »Grenzen 
der  Anschauung    in  der  Mythologie  hin. 

S.  246.    Der  Tod  des  Eisens  (wie  bei  Odinsverehrern  der  S  p  e  e  r  t  o  d)  von  anderen 

»Fällen  des  Schlachttodes  auch  im  Gilgamesch  -  Epos  geschieden:  Greß- 
mann, Texte  S.  61. 

S.  285.  Zur  Heilung  von  Thors  Böcken  vgl.  das  orientalische  Verbot  des 
Knochenzerbrechens,  Arch.  f.  Rel.-Wiss.  13,  153:  die  Kuh  kann  sonst  nicht 
wiederbelebt  werden. 

S.  296.  Der  Stein  in  Thors  Schädel:  vgl.  die  Legende  von  Conchobars  Tod, 
Thurneysen,  Sagen  aus  dem  alten  Island  S.  71. 

S.  301.  Die  liturgische  Formel  vom  Nahen  der  Götter  vielleicht  auch  baby- 
lonisch; vgl.  Greßmann,  Texte  1,  83  am  Schluß  der  Anrufung. 

S.  307.  Zu  Hludana  war  noch  besonders  Kauffmann,  PBB.  18,  134f.  an- 
zuführen. 


638  Nachträge  und  Berichtigungen. 

S.  341,  6.    Die  dreistufige  Belebung  auch  im  Märchen;  vgl.  z.  B.  van  Ge 

nep,  Formation  des  legendes  S.  59. 
S.  349,  13.     Solche   Gestalten   wie   Sigyn  und  Rizpa   haben   gewiß   lebendijl 

Modelle;  vgl.  z.  B.  die  Gattin  des  Kaisermörders  Rudolf  v.  Wart  und  ih 

Wacht  am  Rad,  auf  das  er  geflochten  war  (Davidsohn,  »Das  Wissen  fi 

Alle«,  10,  70). 
S.  395.    Sol  und  Luna  auch  römisch  erst  spät :  W i s s o w a  S.  260. 
S.  401.   Allerlei.  Fach-  undWerkzeuggötter  babylonisch:  Ziegelgott  zur  E 

neuerung  der  Häuser,  Zimmermannsgott,  Schmiedegott,  Steinschneidegot 

Greßmann,  Texte  1,  25. 
S.  404.    Zu  den  angeblichen  Gottheiten  Hulda:  vgl.  Kauffmann,  PBI 

18,  145. 
S.  439.    Die  Kultmythen  der  Griechen  sind  besonders  wichtig:  die  Musen  ar 

fänglich  Hüterinnen  des  Kultgesanges,  Prell  er  1,  489;  die  Teichinen  Vei 

fertiger  der  Kultbilder,  ebd.  606 f. 
S.  541.    Appellativ  wird  Eigenname:  Dea  Dia,  Wissowa  S.  161. 


t 


] 


Verzeichnis  der  besprochenen  Stellen 

I.  Eddagedichte. 


Völuspä  (Gering  S.  3). 

Jber  das  Gedicht:  S.  442f.  4551  503 f.  551,  3.  555.  —  Str.  1:  S.  360,  9.  410,  11. 
Str.  5:  S.  453,  5.  Str.  7:  S.  425,  8.  439,  6.  472,  12.  Str.  8:  S.  156,  5.  449,  3. 
476,  2.  Str.  17:  S.  302,  6.  Str.  18:  S.  249,  5.  339,  7.  340  f.  368  f.  529,  1. 
Str.  19:  S.  475,  4.  Str.  20:  S.  156,  6.  Str.  24:  S.  183,  8.  483,  4.  518,  4.  Str.  25: 
S.  517,  1.  Str.  26:  S.  293.  344.  Str.  29:  S.  230,  1.  476,  1.  Str.  32f.:  S.  316. 
329,  4.  Str.  34:  S.  260,  2.  274.  Str.  35:  349,  6.  449,  4.  Str.  38:  S.  537,  5. 
Str.  39:  S.  394,  8.  407,  5.  511,  4.  Str.  40:  S.  352,  1  u.  12.  471,  11.  Str.  41: 
S.  357,  17.  Str.  42:  S.  470,  11.  Str.  45:  S.  17.  517.  Str.  46:  S.  476,  1.  Str.  50: 
S.  357,  6.  471,  5.  Str.  51:  S.  350,  11.  Str.  52:  S.  354,  10.  Str.  53:  S.  203. 
Str.  54:  S.  373,  16.  Str.  58:  S.  373,  7.  Str.  59:  S.  343,  6.  Str.  60:  S.  505,  3. 
Str.  62:  S.  171,  7.  316.  370,  4.  517,  6.  523,  5.  Str.  63:  S.  344.  Str.  64:  S.  316,  7. 
428,  12.    Str.  65:  S.  378,  2.    Str.  72f.:  S.  507. 

I  Baldrs  Draumar  oder  Vegtamskvida  (Gering  S.  15). 

Jber  das  Gedicht:  S.  503 f.  —  Str.  2-7:  S.  466.  Str.  4—5:  S.  252,  Str.  11: 
S.  309,  2.  376,  3. 

J.  Thrymskvida  oder  Hamarsheimt  (Gering  S.  18). 

Jber  das  Gedicht:  S.  283.  301.  503;  vgl.  S.  16.  —  Str.  3:  S..  162,  9.  212,  9.  Str.  14: 
S.  359,  3.  368,  2.  388,  6.    Str.  30:  276,  9.  287,  4—5. 

':■   Hymiskvida  (Gering  S.  23). 

Jber  das  Gedicht:  S.  302.  557.  Hymir  S.  123.  —  Str.  7:  S.  470, 1.  Str.  16:  S.  295,  5. 
Str.  37:  S.  314,2. 

5.  Lokasenna  oder  Aegisdrekka  (Gering  S.  29). 

Über  das  Gedicht:  S.  290.  503 f.  -  Str.  9:  S.  231,  4.  249.  Str.  10:  S.  373,  15. 
Str.  11:  S.  211,  11.  273,  11.  Str.  11-16:  S.  384.  Str.  17:  S.  384,  11.  387,  2. 
Str.  19:  S.  345,  3  f.  Str.  20:  S.  278,  4.  Str.  22:  S.  253.  480,  1.  Str.  23:  S.  347,  2. 
Str.  26:  S.  308,  7.  552,  1.  Str.  27-28:  S.  316.  Str.  30.  32:  S.  214,  6.  222,  9. 
Str.  36:  S.  223,  1.  Str.  37:  S.  198,  8.  Str.  38:  S.  188,  5.  Str.  40:  S.  188,  6. 
Str.  42:  S.  199,  3.  356,  1.  Str.  43—46.  56:  S.  203.  Str.  47:  S.  356,  8.  Str.  50: 
S.  212,  1.  Str.  52:  S.  295,  9.  Str.  54:  S.  306,  4.  Str.  59:  S.  294,  6.  Str.  60 f.: 
S.  291.  297.    Str.  61:  S.  295,  4.    Schluß:  S.  349,  9. 

6.  Härbardslied  (Gering  S.  32). 

Über  das  Gedicht:  S.  503f.  —  Str.  3:  S.  280,  14.  Str.  9:  S.  528,  2.  Str.  14:  S.  295,  3. 
Str.  15:  S.  295,  6.    Str.  16f.:  S.  548.    Str.  19:  S.  293,  3.  294,  8.    Str.  20:  S.  271,  4. 


640  Verzeichnis  der  besprochenen  Stellen. 

Str.  21 :  S.  269,  12.    Str.  23:  S.  334,  3.    Str.  24:  S.  248,  8.  250.  511,  6.    Str.  25\ 
S.  255,  14.     Str.  29:  S.  470,  5.  471,  9.     Str.  55:  469,  12.    Str.  60:  S.  255,  8. 

7.  Skirnismäl   (Gering  S.  52). 

Über  das  Gedicht:  S.  503.  Gerd:  S.  108.  Skirnir:  S.  533.  —  Str.  9:  S.  199.  Str.  12 
S.  122.  Str.  15:  S.  203,  1.  Str.  16:  S.  202,  16.  Str.  19:  S.  202,  11.  203,  2 
Str.  21:  S.  202,  9.    Str.  37:  S.  134.  136. 

8.  Vafthrüdnismäl  (Gering  S.  59). 

Über  das  Gedicht:  S.  503 f.  550.  —  Str.  16:  S.  470,  14.  Str.  17—18:  S.  551,  2 
Str.  26:  S.  396,  2.  Str.  43:  S.  467.  Str.  45:  S.  445,  5.  Str.  47:  S.  352,  10 
395,  12.     Str.  51:  305,  4.   373.     Str.  54-55:  S.  314,  6.   324.     Str.  58:  S.  446,  5 

9.  Grimnismäl  (Gering  S.  68). 

Über  das  Gedicht:  S.  460 f.  503 f.;  vgl.  S.  260.  271.  545 f.  —  Einleitung  S.  255.  Str.  5: 
S.  378,  5.  379.  Str.  7  (nicht:  2):  S.  259,  7.  269.  Str.  8 f.:  S.  268,  7.  Str.  12:  S.  316. 
Str.  13:  S.  251,  6.  471,  1,  Str.  14:  S.  213.  250f.  Str.  15:  S.  240,  5.  381,  2 
Str.  18:  S.  213,  1.  237.  458,  8.  Str.  19:  S.  236,  6.  Str.  23:  S.  269,9.  Str.  24 
S.  286,  4.  519,  2.  Str.  25 f.:  S.  474.  Str.  29:  S.  471,  10.  Str.  30:  S.  233,  4. 
359,  6.  Str.  32:  S.  476, 10.  Str.  37-38:  S.  479,  6.  Str.  38:  S.  357,  12.  Str.  44 
S.  359,  7.  471,  6.  Str.  45:  S.  392,  10.  Str.  46—50.  54:  S.  236.  Str.  49:  S.  548. 
Str.  53:  S.  380,  6. 

10.  Alvissmäl  (Gering  S.  68). 
Über  das  Gedicht:  S.  503.  551. 

11.  Hävamäl  (Gering  S.  87). 

Über  das  Gedicht  vgl.  S.  277,  8.  -  Str.  25:  S.  480,  2.  Str.  73:  S.  367,  10.  Str.  76: 
S.  481.  Str.  831:  S.  254:  482.  Str.  95 f.:  S.  264,  6.  269.  Str.  106:  S.  264,  3. 
Str.  128:  S.  158,  9.  Str.  138:  S.  240.  2571  Str.  140:  S.  260,4.  265,6.  Str.  141: 
S.  135.  Str.  142:  S.  258,  11.  Str.  144:  S.  139,  4.  Str.  149:  S.  158,  11.  Str.  152: 
S.  249,  8.    Str.  153:  S.  210,  4.    Str.  154:  S.  125.    Str.  156:  S.  90. 

12.  Rigsthula  (Gering  S.  110). 

Über  das  Gedicht:  S.  363 f.  505.  —  Str.  1:  S.  363,  1.  Str.  15:  S.  231,  2.  Str.  21: 
S.  285,  1.    Str.  27:  S.  489,  7.    Str.  35:  S.  489,  11.    Str.  36:  S.  254,  10.  489.  9.' 

13.  Hyndluljöd  mit  »kleiner  Völuspä-  (Gering  S.  17). 

Über  das  Gedicht:  S.  213.  503.  —  Str.  2:  S.  267.  318,  2.  Str.  2-3:  S.  490,  2.  493,  7. 
522,  7.  Str.  3:  S.  249,  6.  Str.  6:  S.  213,  3.  Str.  20:  S.  331,  7.  Str.  23: 
S.  397,  9.  Str.  27:  S.  241,  9.  Str.  30-31:  S.  316.  Str.  31:  S.  293,  4.  453,  2. 
Str.  38:  S.  360,  11.  Str.  39—40:  S.  364,  13.  Str.  40:  S.  360,  4.  Str.  42:  S.  347,  6. 
350,  1. 

14.  Grögaldr  (Gering  S.  127). 
Str.  6:  S.  309,  3.    Str.  4:  S.  469,  11. 

15.  Fjölvinnsmäl  (Gering  S.  130). 

Str.  13—14:  S.  475.     Str.  25—26:  S.  348.     Str.  38:  S.  276,  2. 

16.  Völundarkvida  (Cering  S.  141). 

Über  das  Gedicht:  S.  505;  vgl.  S.  164 f.  —  Str.  1:  S.  356,  14. 


Verzeichnis  der  besprochenen  Stellen.  541 


1    Heldenlieder. 

Helgakvida  Hjövards  Sonar  (Gering  S.  149). 

tr.  6-7:  S.  421,  6.  511.  545,  11.    S.  7:  S.  406,  3.    Str.  30:  S.  434,  6      Str   31- 
S.  414,  4.  416,  4.    Str.  35:  S.  509,  2. 

Helgas kvida  Hundingsbana  I  (Gering  S.  160). 
tr.  2 f.:  S.  158.    Str.  52:  S.  356,  14. 

Helgakvida  Hundingsbana  II  (Gering  S.  171):  511,2. 
)ag:  vgl.  S.  244,  13.    Str.  29:  S.  140.    Str.  44:  S.  248.  507,  2. 
Sinf jötlalok  (Gering  S.  183). 
gl.  S.  250,  3. 

Reginsmäl  (Gering  S.  195). 
iinleitung:  S.  342.  368,  8.    Str.  5:   S.  103.  221,  11.  532,  2     Str.  16 f.:   S.  249,  7 
Str.  18:  S.  268,  2.    Str.  31:  S.  230,  6. 

Fäfnismäl  (Gering  S.  202). 
itr.  13:  S.  155,  10.     Str.  15:  S.  471,  5.  473,  11. 

Sigrdrifumal  (Gering  S.  210). 
>tr.  6:  S.  188,  2.  238,  14.    Str.  15—17:  S.  259.    Str.  31:  S.  107. 

Helreid  (Gering  S.  238):  S.  467. 
>tr.  1:  S.  467.    Str.  7:  S.  163,  5. 

Oddruns  Klage  (Gering  S.  351). 
>tr.  23:  S.  356,  34. 

Hamdismäl  (Gering  S.  290). 
5tr.  10:  S.  529,  10. 

IL  Angelsächsische  Dichtung:. 

Runenlied  v.  14:  S.  489,  4. 

III.  Althochdeutsche  Poesie  und  Prosa. 

1.    Das  Wessobrunner  Gebet  (MSD.  I):  vgl.  S.  51. 
I.    Muspilli  (MSD.  III):  S.  444.  476. 
|,   Erster  Merseburger  Spruch  (MSD.  IV.  1). 
Ober  das  Gedicht:  S.  137,  1.    Interpretation:  S.  158. 

4.  Zweiter  Merseburger  Spruch  (MSD.  IV.  2). 
Interpretation:  S.  311;  vgl.  S.  324,  1.  331. 

5.  Straßburger  Blutsegen  (MSD.  IV.  6). 

5.  125.  200,  8.  312,  1. 

6.  Der  heber  gät  in  litun  (MSD.  XXVI):  S.  116,8. 

7.  Himmel  und  Hölle  (MSD.  XXX):  S.  390f. 

8.  Meregarto  (MSD.  XXXII):  vgl.  S.  371,  14. 

9.  Taufgelöbnisse  (MSD.  LI-LII).    S.  562. 


Meyer,  Altgermanische  Religionsgeschlchte.  41 


Verzeichnis  der  besprochenen  Mythen  und  Motive. 


Mythische  Schemata  S.  16f.  20f.  55. 

1.  Trauer  der  Natur  S.  18.  315,  2. 

2.  Relative  Unverwundbarkeit  S.  18  f. 
318  f. 

3.  Der  dienende  Gott  S.  18;  vgl.  S.  161. 
270. 

4.  Unsterblichkeitstrank  S.  40.  261  f. 

5.  Land  der  Götter  S.  41. 

6.  Dämonenkämpfe  S.  41.  518. 

7.  Himmel  und  Erde  S.  51. 

8.  Schöpfungsmythen  S.  56.  452  f. 

9.  Kampf  um  den  Lichtschatz   S.  56. 
325  f. 

10.  Werbung  um  die  Sonne  S.  56. 

11.  Heilbringer  S.  59.  192  f. 

12.  Seelentier  S.  76. 

13.  Das  wilde  Heer  S.  81. 

14.  Bergentrückung  S.  82;  vgl.  S.  161. 

15.  Aktäon  S,  116,  8. 

16.  Riesenbaumeister  S.  124. 

17.  Tarnkappe  S.  126,  2. 

18.  Kampf  zweier  Zauberer  S.  149,  8. 

19.  Scheingötter  S.  188,  *5. 

20.  Schöpfung  des  Weibes  S.  191,  9. 

21.  Steuerloses  Schiff  S.  193,  7. 

22.  Umfahrt  S.  205. 

23.  Heilige  Ehe  S.  205. 

24.  Der  leere  Thron  S.  205,  5. 

25.  Das  erzwungene  Lachen  S.  21 1 .  349, 1 . 

26.  Dioskuren  S.  215  f. 

27.  Der  ungetreue  Brautwerber  S.  218, 11. 

28.  Sonnenauge  S.  231. 

29.  Vögel  als  Boten  S.  235. 

30.  Königsopfer  S.  254. 

31.  Runenfindung  S.  257  f.  289,  1. 
42.  Mischgeburten  S.  265,  8. 

33.  Asenkraft  S.  284,  5. 

34.  Götterschelte  S.  290. 


35.  Der  tragende  Gott  S.  294. 

36.  Sturm   auf   die  Götterburg   S.  29^ 
295.  519. 

37.  Nahen  der  Götter  S.  301. 

38.  Gott  als  Mädchen  verkleidet  S.  301 

39.  Gegengötter  S.  332  f. 

40.  Der  gefesselte  Unhold  S.  335,  4. 

41.  Erklärung  der  Erdbeben  S.  337,  5. 

42.  Dreiheit  bei  der  Menschenschöpfund 
S.  341,  6. 

43.  Verderbliche     Macht     des    GoldeJ 
S.  343. 

44.  Wunderrosse  S.  351,  2. 

45.  Leichenfresser  S.  351,  12. 

46.  Verschlingungsmärchen  S.  353,  3. 

47.  Götterjugend  S.  250. 

48.  Wächtergötter  S.  362. 

49.  Erwachen   aus   der   Dumpfheit 
S.  363,  12. 

50.  Zauberzweige  S.  369,  8. 

51.  Schöpfung  aus  dem  Feuchten  S.  372 

52.  In  das  Drachenmaul  treten  S.  374. 

53.  Göttermahl  am  Meeresstrand  S.  393. 

54.  Götterlieblinge  S.  440. 

55.  Der  Unheil  bringende  Schuß  S.  448, 4. 

56.  Vorzeichen   des  Jüngsten   Gerichts 
S.  450,  8. 

57.  Der  Urmensch  S.  456,  11. 

58.  Verstecknamen-Rätsel  S.  462. 

59.  Die  düstere  Fahrt  S.  469,  10. 

60.  Wächter  der  Unterweit  S.  470. 

61.  Lokale    Beinamen    der   Gottheite 
S.  473. 

62.  Lokale    Gebundenheit    des    Kultes 
S.  491. 

63.  Theodicee  und  Teufel  S.  507. 

64.  Mysterienglaube  S.  510. 
Emanationen  S.  185. 


. 


Register. 

(Autorennarnen  sind  nur  bei  näherer  Besprechung  angeführt.) 


\egir  103.  392. 

Afliae  402. 

Ahnen  32. 

Ahnengeister  86  f. 

Ahnenkult  90f. 

Alagabiae  402. 

Alatervae  402. 

Alces  217 f.  399f. 

Alp  112. 

Alpreiter  128. 

Alviss  304. 

Altnordische  Mythologie 
58. 

Amphiktyonien  189  f.  195. 

Amulette  71. 

Angrboda  349. 

Animismus  31.  50. 

Annaneptiae  402. 

Anpassung  49. 

Anschaulichkeit  15. 

Apotheose  91. 

Arvagastis  402. 

Asenkraft  284. 

Asgard  466. 

Astruc  581. 

ätiologische  Mythen  20. 

Attribut  12.  173. 

Attributmärchen  17. 

Aufaniae  402. 

Augenblicksgötter  30.  49. 
66. 

Aurvandil  293. 

Ausdrucksformen  der  My- 
thologie 13.  15. 

Baduhenna  159.  399. 
Balder  310  f.  514  f.  577. 
Barth  585. 
Bäume  69. 
Beisetzung  87. 
Bergentrückung  82. 
besitzerklärende    Mythen 

21. 
Berggeister  101. 
Berserker  130. 
Berufen  139. 
Beschwörung  148. 
Besessene  151. 
Beyla  263. 
Bifröst  471. 


Bil  277. 
Bilwis  131. 
Blumengeister  97. 
Bolte  606. 
böser  Blick  150. 
Bragi  383  f. 
Bragaroedur  563. 
Brisingamen  215  f. 
de  Brosses  581. 
Brunnengeister  107. 
Bugge  327.  617. 
Byggwir  203. 
Byleipt  350. 

ChantepiedelaSaus- 

saye  485. 
Christentum  2.  59. 
Creuzer  587 f. 

Dämonen  Ulf. 
Dämonenkämpfe  41.  51. 
Dämonismus  36. 
Darstellungen  der  Mytho- 
logie 65. 
Denkverse  571. 
Detter  329. 
Diels  621. 

dienender  Gott  18.  164. 
Diener  der  Götter  42. 
Dieterich  621. 
Dioskuren  s.  Alces. 
Drews  584. 
Dulazre  585. 
Dupuis  34.  584. 

Eccard  580. 

Edda  61.  567  f.  579. 

Eid  408.  536. 

Eir  276. 

Elfen  115  f. 

»Emanation«  585. 

Entwicklung  der  Mytho- 
logie 26  f.  29  f. 

Entwicklung  der  germani- 
schen Mythologie  58. 

Epitheta  557  f. 

Eostra  404. 

Erde  51. 

Erdgöttin  308. 

Erfüllungsmythen  21. 

Erinnerungsfeste  90. 


Ethisierung  37. 43. 54. 536  f. 
Etymologie  580. 593. 601  f. 
etymologische  Mythen  21. 
Euhemerismus  45. 

Färbauti  354. 
Feldgeister  108. 
Fennswolf  351. 
Fensalir  274. 
Feste  423. 
Fetisch  30. 

Fetischismus  30.  50.  67. 
Feuer  52.  93. 
Finnen  59.  281.  501. 
Fjorgynn  307. 
folkloristische  Mythologie 

27.  608  f. 
Formeln,  rituelle  54. 
Forseti  332.  381  f. 
Fortuna  404. 
Fosite  s.  Forseti. 
Frazer  610. 
Frey  196  f. 

Freyja  212  f.  251.  511. 
Frigg  271  f. 
Fulla  275. 
fylgja  79. 

Gabiae  278. 
Garmengabis  278.  403. 
Gavadiae  402. 
Gebet  406  f. 
Gefjon  224.  277. 
Gefn  279. 
Gegengötter  332  f. 
Genealogie  526. 
Geirröd  299. 
geographische     Richtung 

27. 
Gerechtigkeit  536. 
Germanen  1.  57. 
germanisch  2. 
Gespenster  83. 
Gestaltentauscher  131. 
Gestirne  52.  104. 
Gewitter  52. 
Gewittergeist  99. 
Gnä  276. 
Gobineau  612. 
Gobletd'Alviella615. 
Goden  425. 

41* 


644 


Register. 


Ooldscheu  343. 
Golther  626. 
Görres  587. 
Gott  und  Priester  46. 
Götter  152  f.  168  f. 
Götterbilder  37  f.  430  f. 
Götterdiener  42.  203. 
Götternamen  217,  1.  589. 
Götterschlachten  48.  447. 
Götterthron  205. 
Göttertrank  261  f. 
Gottesurteil  421. 
J.  Grimm  584.  592  f. 
O.  Gruppe  27.  613. 
Gylfaginning  563  f. 

v.  Kahn  605. 
Hain  70.  424. 
hamingja  80. 
Hammer,  heiliger  71. 
Hariasa  159.  403. 
Harimella  159.  403. 
Harsdörffer  579. 
Hati  532. 
Hausgeister  109. 
Heilbringer  59. 
Heilige  440. 
Heiligkeit  53. 
Heimat  der  Götter  40. 
Heimdall  346.  358. 
Hei  351.  390  f.  464  f. 
Helblindi  350. 
Heldensage  13.  23f.  481. 

518: 
Henotheismus  39,  4. 
Herfjötur  159. 
Heroen  153. 
G.  Herrmann  589. 
Hertz  606. 
Heusler  623. 
Hexen  131  f. 
Himmel  510, 
Historisierung  45. 
Hjuki  276. 
Hlin  277. 
Hlodyn  307. 
Hlora  395. 
Hod  325.  335.  387  f. 
Holden  114. 
Holtzmann  597. 
Hönir  341.  368. 
Hörn  279. 
Hraesvelg  357. 
Hrungnir  295. 
Hymir  302.  357. 
»Hypostase«  585. 

Idealismus  13. 
Idise  158. 
Idun  385  f. 

ikonische  Mythen  21. 
Indogermanen  47. 
indogermanische  Religion 
48f. 


Ingo  192. 
Insignien  72. 
Interpretation  25. 
Irmin  192. 
lrpa  394. 
Island  523. 
Isto  194. 

iahreszeitmythen  56. 
arnsaxa  305. 
e  n  s  e  n  605. 
örmungard  353. 
Jünglingsweihe  421. 

Kainszeichen  241,  1. 
Kanne  587. 
Kataloge  562.  570. 
Kauffmann  329. 
Kelten  59.  281.  501. 
Ker  623. 
Klassifikation  532. 
Klopstock  580. 
Kodifikaiion  42.  562  f. 
R.  Köhler  606. 
Kontrast  20. 
Körperteile  72. 
kosmogonische     Mythen 

56. 
Kosmos  459. 
Kräfte  8  f.  10  f. 
Kuhn  602. 
Kult  5.  53.  405  f. 
Kulthandlungen  5. 
Kultmythen  438. 
Kultstätten  53. 

Laistner  34.  624. 
Lang  43. 
Legendenforschung  606. 

Leiche  87. 

v.  d.  Leyen  606  Anm. 

Leß  582. 

Lippert  611.  629. 

Lodur  339. 

Lofu  275. 

Loki  212  335  f.  387  f.  508. 

Los  421. 

Lopt  333. 

Lubbock  609. 

Magni  305. 
Mallet  580. 
Mannhardt  608. 
Märchen  14.  17. 
Mars  Thingsus  186. 
Meergeister  101. 
Meiti  305. 
Meineid  391. 
Menschenopfer  237.  289, 

412  f. 
Ed.  Meyer  621. 
El.  H.  Meyer  618.  631. 
Midgard  468. 
Midgardsorm  353. 


|n 

H 

gis 


Mimir  167.  325. 
Mitodin  223. 
Modi  305. 
Mogk  422  626. 
Mone  590. 
Moralisierung  536. 
Müllenhoff    29.    2151 

251,  7.  599  f.  610. 
M.  Müller  34.  484.  503- 

P.  E.  Müller  584. 
W.  Müller  596. 

Müspell  356 

Die  Mütter  401. 

Myrkwid  356. 

Mythen  55. 

Mythendeutung  26. 

Mythenvergleichung  587  f 
601  f. 

Mythologie  3  f.  6  f. 

Mythus  9. 

Name  31. 

Namengebung  421.  538  f. 
Namenzauber  125. 
Nanna  331. 
Naturgeister  33.  93  f. 
Nehalennia  399. 
Nersithenae  402. 
Nerthus  204  f. 
Nidhögg  355. 
Nixe  103. 
Njord  204  f. 
Nomen  154.  558. 
Notfeuer  417. 
Novellistik  57. 

Odin  181  f.  425.  548;  vgl. 

u.  Wodan. 
Odinsreligion  238  f.  244. 
Olrik  29.  63,  485.  572. 
Opfer  407  f. 
Opferzeiten  422. 
Orientierung  426. 

Paradoxie,  mythologische 
12. 

Parodien  586. 

Peres  586. 

Periodisierung  der  Opfer- 
feste 46. 

Personifikation  9. 

Petersen  63.  596. 

Pfähle  69. 

Phallus  68. 

Poesie  13  f. 

Präexistenz  der  Seele  85. 

Preuß  629. 

Priester  53.  435  f. 

Psychologie  625. 

Psychologie  der  Götter  10. 

Psychologische  Richtung 
25.  27. 

Quellen  60  f. 


Register. 


645 


{agnarok  s.  u.  Weltunter- 
gang. 

Ran  104.  392. 

Rangzeichen,       mytholo- 
gische 11.  17. 
-  der  Götter  38. 

Rausch  78. 

Recht  59. 

Religion  5  f.  54. 

Religionsgeschichte    6. 
484  f. 

Religionsstifter  59. 

Requalivahanus  403. 

Riesen  119  f.  334. 

Riesenkämpfe  291. 

Rinda  270.  309. 

jRitus  5.  418  f. 

Rohde  248.  622. 

Römer  59. 

Rune  133. 

Runenfindung  2571 

Runennamen  490. 

Rückblicksgedichte  549. 

Rühs  583. 

Saga  259. 

Saitcharnae  149.  402. 
Sandraudiga  401. 
Saxnöt  196. 
Saxo  554   565 f.  572 f. 
Sceäf  193. 
Schutzgeister  110. 
Schedius  579. 
Scheingötter  168,  5. 
Schemata,  mythologische 

Schiffsgeister  110. 
Schlaf  77. 
Schloezer  583,  4. 
Schneegeister  104. 
W.  Schneider  582. 
Schoning  121. 
Sehr  ad  er  49. 
Schuck  330. 
Schwanenjungfrauen  104. 

162. 
Schwartz  34.  602. 
Schwert  72. 
Schwerttanz  185. 
Seele  31.  73  f. 
Seelenwanderung  85. 
Segen  und  Fluch  138. 
Siecke  34. 
Sif  306  f. 
Skirnir  203. 
Sigyn  345. 
Skudi  209  f. 
Skäldskaparmäl  563. 
Skoll  352. 

R.  Smith  61.  608  f. 
Snorri    551.    560.   563  f. 
Snotra  277. 


Söl  276.  395. 

R.  Simon  580. 

Simrock  597. 

Sonne  und  Mond  51.  105. 

Sonnenwagen  209,  1. 

Spannung  19. 

Spinoza  580. 

Sprache  der  Götter  40. 

SjDrache,  poetische  13. 

Steigerung  19. 

Steine  68. 

Stil  des  Mythus  15. 

Stimmungsgötter  115,  7. 

Suleviae  402. 

Sumpfgeist  104. 

Surt  355. 

Symbolische  Handlungen 

Syn  276. 
Syr  279. 

Tabu  53. 
Tacitus  205,  1. 
Tag  und  Nacht  107. 
Tanfana  309.  399.  404. 
Technik,  poetische  19. 
Tempel  423  f. 
Thjälfi  291. 
Thor  100.  279  f.  3451 
Thorgerd  158.  3931 
Thrud  305 
Thrym  301. 
Tiergeister  35.  111  f. 
Tiergestalt  39,  1.  76. 
Tieropfer  414. 
Totemismus  33.  92. 
Totenklage  88. 
Totenkult  32.  89  f. 
Tradition  33. 
Trankopfer  416 
Traum  77. 
Traumgeister  112. 
Tylor  699. 
Tyr  1781  192.  196. 

Ueberschriften  d.  Gedichte 
554 

Uhland  590. 

Ullr  378. 

Umbildungen  44. 

Umgebungsgötter  153. 

Umzug  429. 

Unsterblichkeitsglaube 
506. 

Unsterblichkeitstrank  40. 

Unterwelt  121. 

Unverwendbarkeit,    rela- 
tive 18. 

Usener  25.  29.  620. 

Utgard  297. 

Vagdaverkustis  403. 
Var  276. 


Vapthiae  402. 
Vatviae  402. 
Vercana  401. 
Vergleichende  Mythologie 

Vermenschlichung  39. 

Verstümmelung  41. 

Victoria  404. 

Vihansa  159.  403. 

Vingnir  305. 

Vodskov  6!5. 

Volksmythologie  22. 

Völsi  67. 

Völuspä  4421 

Vor  276. 

Vorzeichen  des  jüngsten 

Gerichts  15. 
Voß  5871 

Wackernagel  611. 
Waffen  70.  182. 
Wagen  40. 
Th.  Waitz  609. 
Waldgeister  94. 
Walküren  157.  545. 
Walhöll  268.  463. 
Wali  376. 
Wanen  198.  3881 
Wanenkrieg  388.  494. 
Wassergeister  101. 
Weihen  53. 
Weinhold  620. 
Weissagung  141. 
Weltanschauung  441 1 
Weltschöpfung  452.   476. 

5091 
Weltschöpfungsgedichte 

567. 
Weltuntergang  444.    476. 

516. 
Werwolf  128. 
Widar  372. 
Wiedergeburt  84. 
Wilamowitz  622. 
Wildes  Heer  81. 
Windgeister  97. 
Wotan  2241 
Wode  227. 
Wölund  164. 
Wolkengeister  100. 
Wundt  14.  625. 

Yggdrasil  69.  474  f.  547  f. 

Zählung  19.  528. 
Zauberei  54.  145  1 
Zauberer  1331 
Zauberhandlung  137. 
Zauberlied  125. 
Zaubermenschen  1271 
Zauberspruch  127. 
Zeiten,  heilige  78. 
Zwerge  1251 


Verlag  der  J.  G.  Cotta'schen  Buchhandlung  Nachfolger 

Stuttgart  und  Berlin 


Die  altgermanische  Poesie 

nach  ihren  formelhaften  Elementen 

beschrieben  von 

Richard  M.  Meyer 

Preis  geheftet  M.  10. — 


Dies  dem  Andenken  Wilhelm  Scherers  gewidmete  Buch  stellt 
es  sich  zur  Aufgabe,  alles,  was  in  den  uns  erhaltenen  Resten  alt- 
nordischer (nichtskaldischer),  angelsächsischer,  althochdeutscher  Poesie 
typischen  Charakter  trägt ,  zu  sammeln  und  in  übersichtlicher  An- 
ordnung darzustellen.  In  zehn  Kapitel  gegliedert,  steigt  es  von 
den  Begriffen  und  Worten  zu  den  Wortgruppen,  Versen,  Vers- 
gruppen, Sätzen  und  Satzgruppen  auf;  ein  abschließendes  Kapitel 
fasst  die  Ergebnisse  für  die  Charakteristik  der  poetischen  Sprache, 
die  altgermanische  Stilgeschichte,  Poetik,  Metrik  und  Literatur- 
geschichte sowie  für  die  vergleichende  Literaturgeschichte  zusammen. 
Es  existiert  keine  gleich  vollständige  Beschreibung  irgend  einer  in 
sich  abgeschlossenen  Poesie. 

Es  sei  darauf  hingewiesen,  dass  in  verschiedenen  Punkten  An- 
sichten, die  hier  als  neu  vorgetragen  werden,  seit  dem  Erscheinen 
des  Werkes  von  der  Forschung  teils  bestätigt,  teils  wenigstens  in 
erneute  Prüfung  genommen  worden  sind;  so  die  Vermutungen 
über  die  Urform  der  altgermanischen  Strophe,  über  die  ältesten 
Runen  und  Verse.  Namentlich  verdient  das  umfängliche  Kapitel,  das 
über  Formeln  im  engeren  Sinn  handelt  (z.  B.  über  solche  der  Be- 
grüßung, der  Verfluchung;  aber  auch  über  Formeln,  die  Anfang 
oder  Ende  von  Gedichten  oder  Gedichtabschnitten  bezeichnen), 
in  unserer  Zeit  eines  lebhaften  Studiums  von  Stil  und  Volksart  ein 
besonderes  Interesse. 


Verlag  von   Quelle  &  Meyer   in   Leipzig 


Grundzüge  der  Deutschen  Altertumskunde,  von  Prof. 

Dr.  H.  Fischer.   8°.   143  S.  Geh.  M.  1.—  In  Originallnbd.  M.  1.25 

„Wer  künftig  sich  darüber  unterrichten  will,  welches  die  Hauptfragen  sind, 
die  die  deutsche  Altertumskunde  zu  beantworten  hat,  welche  verschiedene  Unter- 
fragen dabei  zu  berücksichtigen  sind,  der  greife  getrost  zu  Fischers  Büchlein. 
Er  wird  hier  seine  Wünsche  erfüllen  können.  Mit  diesen  Worten  ist  dem  Buche 
eine  Empfehlung  erteilt,  die  man  in  der  Tat  sonst  keinem  anderen  Werke  der 
gesamten  wissenschaftlichen  und  populären  Literatur  auf  dem  Gebiete  der 
deutschen  Altertumskunde  zuteil  werden  lassen  kann.  Fischer  hat  recht,  wenn 
er  in  dem  Vorwort  betont,  daß  es  eine  andere  Darstellung  des  ganzen  Gegen- 
standes zurzeit  nicht  gibt  ....  Aus  vollster  Überzeugung  empfehle  ich  dieses 
handliche  Büchlein  den  weitesten  Kreisen  zu  eifrigem  Studium,  und  ich  bin 
gewiß,  daß  es  ein  gutes  Teil  dazu  beitragen  wird,  der  künftigen  umfänglicheren 
Pflege    einer    wissenschaftlichen    deutschen   Altertumskunde    die   Wege    bereiten 

ZU  helfen."  Prof.  Dr.  Lauffer.     Frankfurter  Zeitung.    Nr.  107.    1909. 

Der  Sagenkreis  der  Nibelungen,  von  Prof.  Dr.  g.  Hoiz 

in  Leipzig.    8°.     131   S.    Geh.  M.  1.—     In  Originallnbd.  M.  1.25 

„Das  ist  ein  ganz  prächtiges  Buch.  Wer  sich,  sei  es  aus  Neigung  oder 
Pflicht,  mit  diesem  tiefsten  unserer  nationalen  Sagenstoffe  beschäftigt,  der  greife 
zu  diesem  handlichen  Führer,  der  in  geistvoller  Weise  den  geschichtlichen  Grund- 
lagen, den  Wanderungen  und  Wandlungen  des  Stoffes  nachspürt." 

Schlesisclie  Schulzeituug.    Nr.  39.     1907. 

Dem  jungen  Studiosen,  der  sich  zum  ersten  Male  mit  den  Fragen  vertraut 
machen  will,  die  sich  an  das  Nibelungenlied  anknüpfen,  dürfte  es  eine  ebenso 
willkommene  Gabe  sein  wie  dem  Schulmanne,  der  vor  der  Lektüre  des  Liedes 
mit  seinen  Zöglingen  das  Bedürfnis  fühlt,  in  wenigen  Stunden  auch  die  neuesten 
Ergebnisse  der  Forschung  auf  diesem  Gebiete  vor  sich  vorüberziehen  zu  lassen." 

Neuphilologische  Blätter.     Heft  12.     1907. 

DaS  alte  deutsche  Volkslied  nach  seinen  festen  Ausdrucks- 
formen betrachtet.  Von  Prof.  Dr.  Albert  Daur.  Groß  8°. 
VIII  und  200  Seiten.     Broschiert  M.  6.— 

Verfasser,  der  sich  lange  Jahre  mit  den  hier  behandelten  Problemen  beschäftigt 
hat,  geht  neue  Wege  durch  ein  altbekanntes  Land.  Die  Ergebnisse,  zu  denen 
er  gelangt,  werden  Interesse  für  jeden  haben,  der  sich  mit  der  poetischen  Technik 
befassen  will. 

Unser  DeUtSCh.  Einführung  in  die  Muttersprache  von  Friedrich 

Kluge,  Geh.-Rat  Prof.  an  der  Univ.  Freiburg  i.  B.    8Ü.    2.  Aufl. 

ca.  160  Seiten.    Geheftet  M.  1.—     In  Originalleinenband  M.  1.25 

„Das  Büchlein  darf  als  eine  vortreffliche  Belehrung  über  das  Wesen  der 
deutschen  Sprache  freudig  begrüßt  werden.  Es  enthält  zehn  zwanglose,  aber 
wohl  zusammenhängende  Kapitel,  die  sich  gleichmäßig  durch  sichere  Beherrschung 
des  Stoffes,  klare  Entwicklung  der  Probleme  und  Gesetze  und  frische  An- 
schaulichkeit der  Darstellung  auszeichnen.  Diese  Vorzüge  machen  die  Schrift, 
zumal  an  Belegen  und  Proben  nicht  gespart  wird,  zu  einer  anziehenden  Lektüre 
für  jeden  Gebildeten.  Aber  auch  der  Fachmann  wird  den  Ausführungen  nicht 
ohne  Genuß  und  Gewinn  folgen.  Man  sieht,  wie  der  Verfasser  aus  eigener 
reicher  Erfahrung  heraus  seine  Ansichten  und  Forderungen  formuliert  und  bemüht 
ist,  zukünftiger  Forschung  den  Boden  zu  bereiten  .  .  .  Das  Ganze  wird  beherrscht 
von  dem  wiederholt  ausgesprochenen  Leitgedanken :  Die  Geschichte  eines  Volkes 
ist    zugleich    die   Geschichte   seiner   Sprache    und   umgekehrt.     So   verdient   das 

Büchlein   warme   Empfehlung."       0.  L.     Litorar.  Centralbl.  f.  Deutschland.     5.  Febr.  1903. 


Theodor  Körners 

Briefwechsel  mit  den   Seinen 

8°.   300  Seiten  mit  zahlreichen  Tafeln,  Faksimiles  und  künstlerischem 

Buchschmncke  von  A.  Weßner.    Herausgeg.  von  Dr.  A.  Steinberg. 

In  Originalgeschenkband  M.  3.80 

„Körners  Lieder  und  Dramen  sind  in  aller  Munde,  sein  Leben  ist  jedermann 
vertraut.  Wenige  aber  wissen,  daß  er  es  selber  in  seinen  Briefen  mit  farbigem 
Stifte  gezeichnet  hat.  Diese  liegen  nunmehr  in  einem  prächtigen  Bandle  vor. 
In  frischer  Unmittelbaikeit  treten  uns  die  Mitglieder  des  Körnerschen  Kreises 
entgegen :  der  Vater,  Schillers  Freund,  als  verständnisvoller  Berater  des  Sohnes, 
die  liebevolle  Mutter,  deren  Wendungen  zuweilen  an  Frau  Rats  Urwüchsigkeit 
gemahnen,  sowie  die  stille,  innige  Natur  der  Schwester.  Im  Mittelpunkt  aber 
steht  der  junge  Dichter,  von  seinen  ersten  kindlich-naiven  Mitteilungen  an  die 
Seinen  bis  an  die  letzten  Tage  seines  kurzen,  aber  reichen  Daseins." 

Der  Tag.     Nr.  30.     1909. 

Eine  köstliche  Gabe!  ....  wie  im  Drama  die  Spannung  von  Szene  zu 
Szene  wächst,  so  zwingt  auch  die  künstlerisch  geschlossene  Anordnung  der  Briefe 
den  Leser  bis  zum  Eintritt  der  Katastrophe  zu  immer  wärmerer  Teilnahme.  So 
ist  diese  Briefsammlung  nicht  nur  biographisch  von  höchstem  Interesse,  sondern 
sie   ist   zugleich   ein   wertvoller  Beitrag  zur  Zeit-  und   Kulturgeschichte  der 

napoleonischen  Ära  in  Deutschland.     L.  Allgemeine  Deutsche  Lehrerzeitung.    Nr.  50.    1909. 

„  .  .  .  .  ein  Lebensbild  des  Dichters  in  seinen  Briefen  geboten ,  wie  es 
schöner  gar  nicht  geschrieben  werden  kann  ....  Das  Buch  verdient  unsere 
besondere  Beachtung,  zumal  es  sich  durch  feine  Wiedergaben  von  Bildnissen 
und  Handschriften  vortrefflich  zu  einem  Geschenk  eignet." 

Sächsische  Schulzeitung.     Nr.  10.     1909. 

„Dieser  Briefwechsel  ist  nicht  eine  ängstlich  vollständige  Wiedergabe  der 
Briefe  an  oder  von  Theodor  Körner  und  all  den  Seinen,  sondern  er  ist  eine 
feinfühlige  Sammlung  der  hauptsächlichsten  Niederschriften  der  Familienglieder 
untereinander,  die  uns  die  einzelnen  so  nahe  bringen,  daß  wir  sie  aus  ihren 
eigenen  Worten  lieben  und  achten  müssen.  Sie  reden  eine  so  zu  Herzen  gehende 
inhaltreiche  Sprache,  daß  wir  sie  mit  Recht  bewundern,  und  auch  das  Häusliche 
in  der  Schilderung  führt  uns  den  Familienkreis  so  nahe,  daß  wir  selbst  darin 
zu  leben  meinen."  Dr.  E.  P.    Dresdner  Journal.    1.  Dez.  1909. 

„Die  Sammlung  ist  mit  großer  Geschicklichkeit  und  Verständnisinnigkeit 

zusammengestellt.  Sie  besteht  zum  größten  Teil  aus  bisher  unveröffentlichten 
Briefen.  Die  Ausstattung  im  Geschmack  der  damaligen  Zeit  mit  den  feinen 
alten  Städtebildern  als  Kopfleisten  und  den  fünfzehn  Tafeln  mit  zum  Teil  wirklich 
schönen  Familienporträts  kann  auch  den  verwöhntesten  Geschmack  befriedigen. 
Dabei  ist  der  Band  sehr  wohlfei!.  Jeder  Leser,  der  an  einem  wirklich  guten 
Buche,  das  die  Poesie  der  Wahrheit  und  Vergangenheit  in  sich  trägt,  Freude 
hat,  wird  diese  Briefe  mit  Genuß  lesen;  aber  auch  der  Literaturhistoriker  wie 
der  Kunsthistoriker  werden  manche  Anregungen  aus  der  Lektüre  schöpfen 
können,"  Marie  Joachimi-Dege.    Frankfurter  Zeitung.    12.  Dez.  1909. 


ßilforifche  Ileuerldieinungen 

aus  dem  Verlage  uon 

:  •        Quelle  &  meyer  in  Leipzig        • : 


Bibliothek  der 

Geschichtswissenschaft 

Herausgegeben  von  Prof.  Dr.  E.  BRANDENBURG  in  Leipzig 

unter  Mitwirkung  von 

Prof.  Dr.  E.  Brandenburg-Leipzig  Prof.  Dr.  A.  Conrad i-Leipzig  Prof. 
Dr.  P.  Darmstaedter-Göttingen  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  A.  v.  Domaszewski- 
Heidelberg  Prof.  Dr.  A.  Fi  seh  er- Leipzig  Prof.  Dr.  J.  H.  Hai  ler- Gießen 
Prof.  Dr.  K.  H  a  m  p  e  -  Heidelberg  Priv.-Doz.  Dr.  P.  Herre-Leipzig  Prof.  Dr. 
O.  Hoetsch-Posen  Prof.  Dr.  F.  Keutgen-Jena  Archivdirektor  Prof.  Dr. 
H.  Kretzschmayr-Wien  Prof.  Dr.  G.  Küntzel-Frankfurt  Direktor  Prof. 
Dr.  F.  von  Luschan  Prof.  Dr.  H.  Oncken- Heidelberg  Prof.  Dr.  F.  Rach- 
f ahl-Kiel  Prof.  Dr.  F.  Salomon -Leipzig  Prof.  Dr.  G.  S  t  ei  ndorff -Leipzig 
Priv.-Doz.  W.  Struck-Berlin    Prof.  Dr.  H.  Waentig-Halle  usw.  usw. 

I  raktischen  Zwecken  will  diese  Sammlung  historischer  Grund- 
risse in  erster  Linie  dienen.  Die  einzelnen  in  sich  abgeschlossenen 
handlichen  Bände  sollen  den  Leser  in  knapper  und  doch  an- 
ziehender Darstellung  einführen  in  die  Geschichte  der  weltge- 
schichtlich bedeutsamen  Völker,  in  ihre  politische,  wirtschaftliche 
und  geistige  Entwicklung.  Sie  wollen  den  Benutzer  mit  dem  Stande 
der  Forschung  vertraut  machen  und  ihm  die  Mittel  an  die  Hand 
geben,  tiefer  in  die  einzelnen  Probleme  einzudringen,  sowie  seinen 
historischen  Gesichtskreis  zu  erweitern. 


Zunächst  erscheinen: 


Einführung  in  die  Geschichtswissen- 
schaft. 

Historische  Hilfswissenschaften. 

Ethnographie.     Prähistorie. 

Geschichte  des  Alten  Orients. 

Griechische  Geschichte. 

Der  Hellenismus. 

Römische  Geschichte. 

Die  römische  Kaiserzeit. 

Rechts-,  Verfassungs-  und  Wirtschafts- 
geschichte der  antiken  Staaten. 


DieGeschichte  des  antikenGeisleslebens. 

Die  germanischen  Staaten  im  ersten 
Jahrtausend. 

Deutsche  Kaisergeschichte  im  Zeitalter 
der  Salier  und  Staufer. 

Deutsche  Geschichte  im  späten  Mittel- 
alter. 

Rechts-,  Verfassungs-  und  Wirtschafts- 
geschichte des  Mittelalters. 

Die  Geschichte  der  christlichen  Kultur 
im  Mittelalter. 


BIBLIOTHEK  DER  GESCHICHTSWISSENSCHAFT 


Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der 
Reformation  (1517—1648). 

Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  des 
Absolutismus  (1648-1806). 

Deutsche  Geschichte  im   19.  Jahr- 
hundert (1806—1870). 

Deutsche  Geschichte  der  neuesten  Zeit. 

Rechts-  und  Verfassungsgeschichte  der 
Neuzeit. 

Wirtschaftsgeschichte  der  Neuzeit. 

Die  Entwicklung  d.  mod.  Geisteslebens. 


Brandenburg-Preuß.  Geschichte. 

Österreichische  Geschichte. 

Geschichte  Frankreichs. 

Englische  Geschichte. 

Geschichte  Italiens. 

Das  Papsttum. 

Die  slavischen  Staaten. 

Die  Staaten  des  Islam. 

Die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika. 

Geschichte  Ostasiens. 

Die  europäischen  Kolonien. 


Jeder  Band  von  10-12  Bogen  in  Leinenband  je  ca.  M.  2.40  bis  ca.  M.  3.40 
Prospekte  unentgeltlich  und  postfrei. 

Bisher  erschienen: 

Deutsche  Kaisergeschichte  im  Zeitalter  der 

Salier  und  Staufer.  Von  Prof.  Dr.  K.  HAMPE.  (Bibliothek  der 
Geschichtswissenschaft.)     8°.     277  S.     In  Origllbd.  Mark  4.— 

„Des  Verfassers  Wunsch,  dass  sein  Buch  nicht  nur  belehren,  sondern  auch 
anregen,  nicht  nur  studiert,  sondern  auch  gern  gelesen  sein  möchte,  wird  voll- 
auf erfüllt  werden.  Wissenschaftlichkeit  und  Volkstümlichkeit  vereinigt 
das  Bändchen  in  vorbildlicher  Weise  .  .  .  .  Das  Buch  kann  daher  sowohl 
als  fesselnde  Lektüre  für  Freunde  der  Geschichte,  wie  zum  Lernen  für  Stu- 
denten zur  Vorbereitung  für  Lehrer  aufs  Wärmste  empfohlen  werden." 

F.  Fdch.  Literar.  Zentralbl.  f.  Deutschi.  Nr.  4.  1909. 

„Professor  Hampe  führt  seine  Leser  auf  die  Höhen  des  deutschen  Mittel- 
alters, in  jene  Zeit,  die  noch  heute  wie  wenige  andere  die  Phantasie  zu  fesseln 
vermögen,  in  die  Tage  der  ersten  Salier,  des  Investiturkampfes,  da  Heinrich  IV. 
nach  Canossa  pilgern  musste,  in  die  Tage  Barbarossas  und  Friedrichs  II.  Die 
Darstellung  ist  wohl  berufen,  in  dem  heutigen  Gegenwartstreiben  etwas  von 
dem  tiefinnerlichen  Anteil  wiederzuerwecken,  mit  dem  unsere  Väter  sich  in 
die  vergangenen  Zeiten  deutscher  Kaiserherrlichkeit  versenkten." 

Hamb.  Nachr.  25.  Dez.  1908. 

Die  Vereinigten  Staaten  von  Amerika 

Ihre  wirtschaftliche,  politische  und  soziale  Entwicklung  von  Prof. 
Dr.  P.  DARMSTAEDTER.  (Bibliothek  der  Geschichtswissen- 
schaft.)   8°.    248  S.    In  Origllbd.  Mark  4.- 

«Prof.  Paul  Darmstaedter  schildert  den  Werdegang  und  die  Entwicklung 
der  Vereinigten  Staaten  von  Nordamerika  sowie  deren  heutige  Zustände  und 
ihre  Aufgaben  für  die  Zukunft.  >  Diesem  Buche  kann  man  uneingeschränktes 
Lob  erteilen,  es  ist  glänzend  geschrieben  und  erschöpft  in  kurzer  Dar- 
stellung das  interessante  Thema  völlig  .... 

Univ.-Prof.  Dr.  Ottokar  Weber,  Prag.    Neue  freie  Presse.    Nov.  1908. 

„Darmstaedters  Buch  zählt  zu  den  besten,  die  mir  seit  langem  zu  Ge- 
sicht gekommen  sind.  Verfasser  hat  offenbar  aus  dem  Vollen  geschöpft 
und  beherrscht  seinen  Stoff  vollständig  ....  Ganz  besonderes  Lob  verdient 
die  Darstellung  der  wirtschaftlichen  und  sozialen  Entwicklung,  die  sehr  vieles 
enthält,  das  wir  in  größeren  nationalökonomischen  Werken  vergebens  suchen  . . ." 

Z.  Hist.  Jahrb.  1908. 


VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


Geschichte 

der  römischen  Kaiser 

von  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  A.  von  Domaszewski 

2  Bände  zu  je  ca.  336  S.  mit  12  Porträts  auf  Tafeln  in  künstlerischer  Ausführung. 
Brosch.  je  M.  8.-    In  Originalleinenband  jeM.  9.-    In  Halbfranzband  je  M.  10.- 

Dieses  monumentale  Werk  aus  der  Feder  eines  unserer  besten 
Kenner  der  Antike  bringt  uns  die  seit  langem  ersehnte  Gesamtdar- 
stellung der  römischen  Kaisergeschichte.  Mehr  als  400  Jahre  reichster, 
politischer,  wirtschaftlicher  und  geistiger  Entfaltung  ziehen  an  dem 
Leser  vorbei,  eine  in  der  Geschichte  einzigartige  Epoche  friedlicher 
Entwicklung.  Frei  von  allem  gelehrten  Apparate  gibt  Verfasser 
in  klassisch  schöner,  von  dichterischem  Geiste  durchwehter  Dar- 
stellung ein  Bild  von  den  großen  Persönlichkeiten  und  treibenden 
Kräften  jener  Zeit.  Den  höchsten  Grad  der  Anschaulichkeit  zu 
erreichen,  war  sein  Streben.  Die  Persönlichkeiten  der  Kaiser  treten 
handelnd  auf  und  die  Ereignisse  vollziehen  sich  in  voller  Wirk- 
lichkeit. Dies  gilt  auch  für  jene  Zeiten,  wo  die  Kaiser  bisher  nur 
leere  Namen  waren.  So  erschließt  sich  dem  Leser  die  innere  Not- 
wendigkeit, welche  den  Verlauf  der  Kaisergeschichte  beherrscht. 
Besonders  beachtenswert  ist  die  Stellungnahme  des  Verfassers  zu 
seinen  Quellen,  denen  er  ein  größeres  Vertrauen  entgegenbringen 
zu  müssen  glaubt,  als  dies  die  Forschung  bisher  tat,  weil  selbst 
den  dürftigsten  Nachrichten  die  Darstellung  großer  Meister  der 
Geschichtschreibung  zugrunde  liege. 

Der  römischen  Kaisergeschichte  hat  sich  die  wissenschaftliche 
Forschung  der  letzten  Jahrzehnte  immer  mehr  zugewandt;  die  reli- 
gionsgeschichtlichen Fragen,  die  Papyrusfunde,  die  Ausgrabungen 
usw.  haben  die  Aufmerksamkeit  aller  gebildeten  Kreise  in  steigendem 
Maße  auf  diese  Geschichtsepoche  konzentriert.  So  wird  dieses  Werk 
von  allen  Freunden  und  Forschern  der  Antike  dankbar  begrüßt  werden. 

Zur  Kulturgeschichte  Roms,    von  Prof 

Dr.  TH.  BIRT.     164  Seiten.    Geheftet  Mark  1.-     In  Original- 
leinenband Mark  1.25 

Nicht  nur  ein  gründlicher  Kenner  der  Antike,  sondern  auch  ein  feinsinniger 
Schriftsteller  führt  hier  die  Feder.  Wir  schreiten  mit  ihm  durch  die  Straßen 
des  alten  Roms,  begleiten  ihn  in  die  Bäder,  die  Tempel,  die  Theater  und  die 
Arena,  wohnen  rauschenden  Festen  bei  und  lernen  so  Leben  und  Treiben  jenes 
mächtigen  Volkes  kennen,  das  so  lange  die  Welt  beherrschte. 


VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 

Die  babylonische  Geisteskultur  in  ihren 

Beziehungen  zur  Kulturentwicklung  der  Menschheit.  Von  Prof. 
Dr.  H.  WINCKLER.  8°.  156  Seiten.  Geheftet  Mark  1.-  In 
Origllbd.  Mark  1.25 

„Das  kleine  Werk  behandelt  die  Fülle  von  Material,  wie  wir  es  nunmehr 
zur  altorientalischen  Weltanschauungslehre  besitzen,  in  übersichtlicher  und  zu- 
gleich fesselnder  Weise;  es  wird  jedem  Leser,  der  sich  für  diese  Frage  zu  inte- 
ressieren begonnen  hat,  ungemein  nützlich  werden." 

C.  N.    Norddeutsche  allgem.  Zeitung.    Nr.  287.    1908. 

DaVid  Und  Sein  Zeitalter.    Von  Professor  Dr. 
B.  BAENTSCH.    8°.     176  Seiten.    Geh.  Mark  1.-    In  Origllbd.  ; 
Mark  1.25 

Das  Bändchen  schildert  David  als  Regenten,  Kriegsmann,  Politiker 
und  Menschen  und  eröffnet  das  Verständnis  für  die  weit  über  das  davidische 
Zeitalter  hinaus  wirkende  Bedeutung  dieses  Mannes,  wobei  der  Verfasser  be- 
sonderes Gewicht  auf  die  Darstellung  der  großen,  geschichtlichen  Zu- 
sammenhänge des  alten  Orients  legt. 

Mohammed  und  die  Seinen,    von  Prof 

Dr.  H.  RECKENDORF.  8°.  138  Seiten.  Geheftet  Mark  1.- 
In  Origllbd.  Mark  1.25 

„Unter  den  in  jüngster  Zeit  sich  mit  erfreulichem  Fortschritte  mehrenden 
Darstellungen  der  islamischen  Anfänge  für  weitere  Kreise  nimmt  dieses  Buch 
eine  ganz  hervorragende  und  besondere  Stelle  ein.  Es  ist  ein  Versuch 
die  sozialen,  kulturellen,  wirtschaftlichen,  politischen  und  individuellen  Grund- 
lagen des  beginnenden  Islam  zusammenhängend  zu  verdeutlichen. 

R.  Geyer.    Wiener  Zeitschrift  für  die  Kunde  des  Morgenlandes  Bd.  XXI. 

Grundzüge    der    Deutschen   Alter* 

tUmSkUnde.    Von  Prof.  Dr.  H.  FISCHER.    8°.    143  S. 

Geheftet  Mark  1.-     In  Origllbd.  Mark  1.25 

Wer  künftig  sich  darüber  unterrichten  will,  welches  die  Hauptfragen  sind, 
die  die  deutsche  Altertumskunde  zu  beantworten  hat,  welche  verschiedene  Unter- 
fragen dabei  zu  berücksichtigen  sind,  der  greife  getrost  zu  Fischers  Büchlein. 
Er  wird  hier  seine  Wünsche  erfüllen  können.  Mit  diesen  Worten  ist  dem  Buche 
eine  Empfehlung  erteilt,  die  man  in  der  Tat  sonst  keinem  anderen 
Werke  der  gesamten  wissenschaftlichen  und  populären  Literatur 
auf  dem  Gebiete  der  deutschen  Altertumskunde  zuteil  werden  lassen 
kann.  Fischer  hat  Recht,  wenn  er  in  dem  Vorwort  betont,  daß  es  eine  andere 
Darstellung  des  ganzen  Gegenstandes  zur  Zeit  nicht  gibt  ...  .  Aus  vollster 
Überzeugung  empfehle  ich  dieses  handliche  Büchlein  den  weitesten  Kreisen  zu 
eifrigem  Studium,  und  ich  bin  gewiß,  daß  es  ein  gutes  Teil  dazu  beitragen  wird, 
der  künftigen  umfänglicheren  Pflege  einer  wissenschaftlichen  deutschen  Altertums- 
kunde die  Wege  bereiten  zu  helfen." 

Prof.  Dr.  Lauffer.    Frankfurter  Zeitung.    Nr.  107.    1909. 


VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


Aus  den  Tagen  Bismarcks.    politische 

Essays  von  OTTO  GILDEMEISTER.  Herausgegeben  von  der 
literarischen  Gesellschaft  des  Künstlervereins  Bremen,  gr.  8°. 
232  S.  mit  einem  Porträt  Gildemeisters.    In  Origllbd.  Mark  4.80 

„Die  Herausgeber  haben  durch  ihre  Veröffentlichung  damit  Gildemeisters 
Bedeutung  als  der  eines  führenden  deutschen  Prosaisten  auf  eine  noch 
breitere  Grundlage  gestellt,  ihr  eine  größere  Tragweite  verschafft.  Aber  es 
ist  gleichwohl  nicht  die  Form,  die  zumeist  an  diesen  Artikel  fesselt.  Das 
Gewicht  ihres  Inhalts  überwiegt  durchaus.  Sie  begleiten  die  wichtigsten  Her- 
gänge in  einer  an  großen  Ereignissen  so  überreichen  Zeit.  Kaum  eine 
der  Fragen,  deren  Lösung  über  Wohl  und  Wehe  unseres  Volkes 
entscheiden  sollte,  bleibt  unberührt,  und  von  den  Persönlichkeiten, 
die  handelnd  eingreifen,  wird  eine  ganze  Reihe  wieder  vor  unseren 
Augen  lebendig  ....  Wir  wüßten  kein  Buch  gleichen  Umfanges, 
das  so  geeignet  wäre,  ohne  Systematik  politisch  zu  bilden  und  zu 
erziehen  ...  Sie  reden  zum  Bürger,  aber  noch  mehr  zum  Menschen;  sie 
spenden  staatsmännische  Lehre,  aber  noch  mehr  Lebensweisheit.  Sie  holen  ihre 
Vergleiche  und  ihre  Belege  aus  all  den  weiten  Gebieten  der  Bildung,  die  ihr 
Verfasser  beherrscht.  So  spannen  sie  jeden,  der  für  reiches  und  feines  Geistes- 
leben empfänglich  ist.  Prof.  Dietrich  Schäfer.    Kölnische  Zeitung.    16.  Okt.  1908. 

Barbara    BlOlIlberg    die   Geliebte    Karl   V.    und 

Mutter  Don  Juans  de  Austria.  Ein  Kulturbild  des  16.  Jahr- 
hunderts von  Privatdoz.  Dr.  P.  HERRE.  8°.  166  S.  In  Bütten- 
umschlag Mark  3.60 

Wie  Barbara  Blomberg,  das  Regensburger  Bürgermädchen  Kaiser  Karls  V. 
Geliebte  und  Don  Juans  de  Austria  Mutter  wurde,  wie  die  interessante 
Frau  als  Gattin  eines  Kriegskommissars  in  Deutschland  und  den  Nieder- 
landen lebte,  wie  sie  dann  als  lebensfreudige  und  liebesbedürftige  Witwe 
zum  habsburgischen  Herrscherhaus  in  Gegensatz  trat,  der  zu  harten  Kämpfen 
mit  Herzog  Alba,  dem  Großkomthur  Requesens  und  ihrem  eigenen  Sohne 
führte,  wie  sie  schließlich  nach  Spanien  gebracht  wurde,  um  zuerst  in 
klösterlicher  Abgeschlossenheit  auf  der  Castilischen  Hochebene  und  später  in 
zurückgezogener  Stille  fern  am  biskaischen  Meer  ihr  Leben  zu  beschließen;  das 
ist  der  Inhalt  der  auf  streng  wissenschaftlicher  Forschung  ruhenden  Schrift.  Der 
Abdruck  des  für  Kultur-  und  Kunsthistoriker  gleich  interessanten  Inventars  über 
den  Nachlaß  Barbara  Blombergs  erhöht  den  kulturgeschichtlichen  Wert  des 
Buches,  das  im  Geschmack  der  Zeit  nach  Drucken  des  16.  Jahrhunderts  reich 
mit  Titelrahmen  und  Leisten  ausgestattet  ist. 

Der  Kampf  um  die   Herrschaft  im 

Mittelmeer.  Von  Privatdozent  Dr.  P.  HERRE.  180  S. 
Geh.  Mark  1.-     In  Origllbd.  Mark  1.25 

Verfasser  geleitet  den  Leser  durch  die  gewaltige  Geschichte  des  Mittelmeer- 
gebietes von  der  ältesten  Zeit  bis  auf  die  Gegenwart.  Das  Kommen  und  Gehen 
der  Völker,  die  Ablösung  der  einen  Herrschaft  durch  die  andere  und  die  in 
diesem  Wechsel  ruhende  Bedeutung  sind  Hauptinhalt  der  Darstellung.  Sie  ver- 
folgt nicht  die  Entwicklung  des  einzelnen  Volkes,  sondern  richtet  den  Blick  allein 
auf  die  allgemeine,  den  Gesamtraum  überspannende  Entwicklung  und  auf  die 
sichtbaren  und  unsichtbaren  treibenden  Kräfte,  deren  Kampf  die  4000jährige 
Geschichte  erfüllt  und  den  heutigen  Zustand  hat  emporwachsen  lassen.  Erst  die 
Ereignisse  der  letzten  Monate  haben  gezeigt,  welche  Bedeutung  der  Mittelmeer- 
raum noch  heute  in  der  Politik  spielt. 


ZUR  RELIGIONSGESCHICHTE 


Unsere  religiösen  Erziehen  Eine  Geschichte 

des  Christentums  in  Lebensbildern.    Unter  Mitarbeit  von  Prof. 

D.  J.  Meinhold,  Prof.  D.  Arnold  Meyer,  Prof.  Lic.  Dr. 
G  Clemen,  Prof.  D.  E.  Preuschen,  Prof.  D.  A.  Dorner, 
Prof.  D.  S.  Deutsch,  Prof.  Dr.  K.  Wenck,  Lic.  Dr.  O.  Clemen, 
Schulrat  D.  Dr.  Buddensieg,  Geh.  Rat  Prof.  Dr.  Th.  Kolde, 
Dekan  D.  A.  Baur,  Prof.  Lic.  B.  Beß,  Pfarrer  D.  P.  Grün- 
berg, Prof.  Dr.  K.  Seil,  Prof.  Dr.  O.  Kirn,  Prof.  D.  O.  Baum- 
garten, Prof.  D.  W.  Herrmann,  herausgegeben  von  Prof.  Lic. 
B.  BESS.  2  Bände  zu  je  280  S.  mit  Buchschmuck  von  Bruno 
Heroux.  Geschmackvoll  broschiert  je  Mark  3.80  In  Origllbd. 
je  Mark  4.40 

Inhalt:  Moses  -  Jesus  -  Paulus  -  Origines  -  Augustinus  -  Bernard  von  Clairvaux  — 
Franz  von  Assisi  -  Seuse  -  Wiclif  und  Hus  -  Luther  -  Zwingli  -  Calvin  -  Spener  -  Schiller 
—  Goethe  —  Schleiermacher  —  Bismarck. 

„Die  aus  jeder  einzelnen  Biographie  hervorleuchtende  Bestätigung  einer 
solchen  Auffassung  vom  Wesen  der  Religion  macht  die  Stärke  des  vorliegenden 
Werkes  aus.  Sein  historischer  Wert,  auf  den  es  an  diesem  Orte  ankommt, 
leidet  darunter  in  keiner  Weise.  Dafür  bürgen  schon  die  Namen  der  Verfasser, 
deren  nicht  wenige  sich  geradezu  als  Spezialisten  und  Autoritäten  auf  den 
ihnen  hier  zur  Bearbeitung  zugefallenen  Gebieten  bewährt  haben." 

Historische  Zeitschrift.    H.  2.    Bd.  101. 

Katholizismus  und  Protestantismus 

in  Geschichte,  Religion,  Politik  und  Kultur.  Von  Prof.  Dr. 
KARL  SELL  in  Bonn.  gr.  8°.  335  S.  Brosch.  Mark  4.40 
In  Origllbd.  Mark  4.80 

„Ein  eigenartiges  und  wertvolles  Buch  verdanken  wir  dem  Bonner  Kirchen- 
historiker Karl  Seil.  Nicht  nur  polemisch  oder  apologetisch,  sondern  rein  ge- 
schichtlich will  er  das  Wesen  des  Katholizismus  und  Protestantismus  schildern  . . . 
Ich  sehe  die  Hauptvorzüge  des  Buches  in  der  überaus  feinen  psychologischen 
Analyse  des  Wesens  des  Katholizismus  und  Protestantismus  und  in  der  ge- 
schickten Art,  mit  der  die  Geschichte  vor  allem  des  modernen  Protestantismus 
und  Katholizismus  von  dem  Verfasser  herbeigezogen  wird.  Es  war  dies  nur 
einem  Kirchenhistoriker  möglich,  der  gerade  die  Entwicklung  des  Katholizismus 
und  Protestantismus  im  19.  Jahrhundert  aufs  gründlichste  durchforscht  hat  und 
50  im  Stande  ist,  ein  lebendiges  Bild  beider  Konfessionen  zu  zeichnen." 

Prof.  G.  Grützmacher-Heidelberg.    Historische  Vierteljahrsschrift.    4.  XI. 

DaS    Christentum.     Fünf  Vorträge  von   Prof.   Dr. 

C  CORNILL,  Prof.  Dr.  E.  von  DOBSCHÜTZ,  Prof.  Dr.  W. 
HERRMANN,    Prof.   Dr.   W.   STAERK,    Geheimrat  Prof.   Dr. 

E.  TROELTSCH.  168  Seiten.  Geh.  Mark  1.-  In  Origllbd. 
Mark  1.25 

Die  vorliegenden  gedankenreichen  und  inhaltsschweren  Vor- 
träge .  .  .  beabsichtigen  die  Entwicklung  der  isrealitisch-christlichen  Religion 
als  einen. geschichtlichen  Werdeprozeß  im  Leben  des  menschlichen  Geistes  zu 
•.schildern."  Prof.  Dr.  Holtzmann- Baden.    Deutsche  Lit.-Ztg.    Nr.  49.    1908. 


VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


D 


as    literarische    Porträt   Alexanders    des    Großen    im 

griechischen  und  römischen  Altertum,    von  Dr. w.  Hoff- 
mann,    gr.  8.    VIII  u.  115  S.    Geh.  M.  4.— 
Eine  Analyse  und  Erläuterung  der  verschiedenen  Beurteilungen  des  großen  Makedonien  in  der 
antiken  Literatur  von  Aristoteles  bis  Julian. 

F ahnlehn  und  Fahnenbelehnung  im  alten  deutschen  Reich. 
Von   Dr.  J.   BrUCkauf.     gr.  8.  VI  u.  113  S.     Geheftet  M.  3.60 
Die  Untersuchung  behandelt  das  Fahnlehn  nach  der  Lehre  der  mittelalterlichen  Rechtsbücher, 
den  Investiturakt  und  die  Investitur  bis   zum  Aufhören   der  öffentlichen  Belebnungen  Ende  des 
16.  Jahrhunderts. 


D 


ie  soziale  Gliederung  im  Fränkischen  Reiche,    von  Dr. 

Josef  Vormoor.    gr.  8.   vni  u.  105  s.   Geh.  m.  3.50 

Eine  interessante,  verfassungsgeschichtliche  Studie  aus  der  Zeit  der  Volksrechte. 


Die  Ministerialität  in  Köln  und  am  Niederrhein,   von  Dr. 
Jakob   Ähren S.      gr.  8.    VI  und  97  Seiten.     Geheftet  M.  3.50 

Die  Reichhaltigkeit  des  vorhandenen  Materials  und  die  frühe,  kräftige  Entwicklung  Kölns 
gestatten  es  dem  Verfasser,  wichtige  Schlüsse  auf  die  Entstehung  und  Entwicklung  der  Minis- 
terialität überhaupt  zu  ziehen. 


D 


ie  Gerichtsbefugnisse  der  patrimonialen  Gewalten   in 

Niederösterreich.    Von  Dr.  Paul  Oswald,     gr.  8.    vm  und  99  s. 

Geheftet  M.  3.40 
Die  Entstehung  und  Weiterbildung  der  Dorf-  und  Vogtobrigkeit  in  ihren  ineinandergreifenden 
Kompetenzen   wird   allseitig  beleuchtet  und  in   ihrer  verfassungsgeschichtlichen  Bedeutung  auf- 
gezeigt. 

Die  Naumburger  Freiheit,    von  Dr.  p.  Keber.  vi  u.  91  s.  Geheftet 
M.  3.25 
Eine    topographische,     rechtliche    und     wirtschaftliche    Untersuchung     zur    Lösung    der 
Immunitätsfrage . 

Adam   VOn    Bremen.       Ein  Beitrag  zur  mittelalterlichen  Textkritik  und 
Kosmographie.     Von  Dr.  Philipp  Wilhelm  Kohlmann.   gr.  8.   vin  u. 

135  Seiten.     Geheftet  M.  4.40 
Aus  dem  Inhalt:  Adam  und  sein  Werk. -Textkritische  Erläuterung  zur  Hamburgischen  Kirchen- 
geschichte.—  Adams  kosmographische  Anschauungen. —  Tabellarische  Übersicht  der  von  A.  y.  B. 
benutzten  Quellen. 

Italienische  Geschichtsschreiber  des  12.  und  13.  Jahrhunderts 
Ein  Beitrag  zur   Kulturgeschichte   von   Privatdozent  Dr.  B.  Seh  meid  ler. 

Vni  und  88  Seiten.     Geheftet  M.  2.75 
Die  Untersuchung  ist  nicht  nur  ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Geschichtsschreibung,  sondern 
auch  zur  Forschung  nach  dem  Ursprünge  der  Renaissance. 


E 


ZZelinO   VOn    Romano.      Eine  Biographie  von  Dr.  F.  Stiewe.     vi  u. 

133  Seiten.     Geheftet  M.  4.50 
Ezzelino    ist    der    erste     Tyrann    der    italienischen   Frührenaissance    und    als   Schwieger- 
vater Kaiser  Friedrich  II.  eine  der  interessantesten  Persönlichkeiten  jener  Zeit. 


D 


ie  venezianischen   Relazionen   und  ihr  Verhältnis   zur 
Kultur  der  Renaissance,  von  Dr.  wiin  Andreas,  x und m Seiten. 

Geheftet  M.  3.50 
„Es  bietet  sich  in  dieser  Arbeit,  die  bei  guter  wissenschaftlicher  Fundamentierung  sich  der 
Form  eines  abgetönten  Essays  nähert,  nicht  nur  ein  wertvoller  Beitrag  zur  Geschichte  der 
Diplomatie  und  zur  Entwicklung  des  venezianischen  Geistes,  sondern  auch  eine  interessante 
Beleuchtung  der  Weltanschaung  der  Renaissance  überhaupt  von  einer  bisher  weniger  beachteten 
Stelle.  M.  H.  Münchener  Neusten  Nachrichten.  Nr.  74,  1908. 


VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


z 


K 


D 
A 


ur  Geschichte  des  Reichstags  im  XV.  Jahrhundert. 

Von  Archivar  Dr.  Rudolf  Bemraann.    gr.  8.   vin.  u.  96.  s.    Ge- 
heftet M.  3.25 

Inhalt:  Die  drei  Kurien,  und  ihr  Verhalten  zum  Oberhaupt.  Proposition  und  Ab- 
schied. Der  päpstliche  Legat  und  die  Fremden  auf  dem  Reichstage.  Festsetzung  des 
Reichstages  und  die  Teilnehmer. 

arl  V.  Plan  zur  Gründung  des  Reichsbundes. 

Ursprung  und  erste  Versuche  bis  zum  Ausgange  des  Ulmer  Tages 
(1547).    Von  Dr.  O.  A.  Hecker.    gr.  8.  ix.  u.  101  s.  Geheftet  m.  3.40 

Ein  abgerundetes  Bild  des  ganzen  Projektes  und  seine  Bedeutung. 

ie   Ligapolitik   des    Mainzer   Churfürsten  Johann 
Schweikhard  von  Chronberg  in  den  jähren  1604-1613 

VOn   Dr.   W.    Burger.     gr*.  8.    VIII  u.  98  S.    Geheftet  M.  3.40 

ugust  der  Starke  und  die  pragmatische  Sanktion 

(1718 — 1755).      Von    Dr.    A.    Philipp.       gr.  8.    XV  u.  160  Seiten.     Ge- 
heftet M.  5.— 

Eine  Darstellung  der  kursächsischen  Politik  in  den  letzten  Jahren  Augusts  des 
Starken. 

ritische  Forschungen  zur  Österreichischen  Politik 

vom  Aachener  Frieden  bis  zum  Beginne  des  Siebenjährigen  Krieges. 
Von  Privatdozent  Dr.  J.  Strieder  in  Leipzig,    gr.  8.  vm  u.  101  s. 

Geheftet  M.  3.40 

Ein  neuer  Beitrag  zu  der  so  interessanten  Periode  europäischer  Politik  von  1748-1756 
mit  zwei  unveröffentlichen  Staatsschriften  des  Grafen  Kanitz  im  Anhang. 


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BESTELLZETTEL 


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Bei  der  Buchhandlung  in  - 

bestelle  ich  hiermit  aus  dem  Verlage  von  Quelle  &  Meyer 
in  Leipzig: 

Quellen  zur  lothringischen  Geschichte  und  Altertums- 
kunde.    Band 

Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte. 

Band  


Ferner 


Name: Ort  u.  Datum: 


ED.  WOHLLEBEN  (LÖWE  &  EHBOCKJ 


Veröffentlichungen 
der  Gefellfchcift  für 

loihringifdie  Ge* 
fchichf  e  u.  Altertumskunde 


Protektor  S.  m. 
Kaifer  Wilhelm  IL 


Ouelletl  zur  ,0thring:ischen  Geschichte  und 
,-       Altertumskunde. 

Jahrbuch  (*er  Gesel'schaft  für  lothringische 
______  Geschichte  und  Altertumskunde. 

Als  Lothringen  durch  die  Ereignisse  des  Jahres  1870  zum 
großen  Teile  Reichsland  geworden  war,  befand  sich  die 
deutsche  Geschichtsforschung  diesem  Lande  gegenüber  in 
einer  eigentümlichen  Lage.  Man  hatte  seine  Geschichte  bis- 
her der  französischen  Forschung  überlassen,  und  stand  zu- 
nächst einem  gewaltigen  Quellenmaterial  gegenüber,  das 
sowohl  durch  sprachliche  Schwierigkeiten,  wie  durch  starke 
fremde  Einschläge  dem  deutschen  Forscher  seine  Arbeit 
außerordentlich  erschwerte.  Anderseits  aber  reizte  dieses 
Quellenmaterial  durch  seinen  Reichtum  auch  für  die  älteren 
Zeiten  —  war  doch  Lothringen  seit  der  Römerzeit  immer 
ein  Schauplatz  wichtiger  politischer  Ereignisse  und  eine  Stätte 
hoher  Kultur  gewesen  —  und  durch  die  eigenartige  Be- 
einflussung von  zwei  Kulturkreisen,  die  in  ihm  zum  Aus- 
druck kam. 

Hier  helfend  einzugreifen,  war  das  Ziel  der  im  Jahre 
1888  gegründeten  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte 
und  Altertumskunde.  Aus  der  Natur  der  Sache  ergaben 
sich  für  sie  zwei  Aufgaben :  einmal  durch  vorbereitende  Unter- 
suchungen die  oben  berührten  Schwierigkeiten  zu  beseitigen 


Verlag  von  Quelle  &  Meyer  in  Leipzig 


VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 

und  dann  das  neu  erschlossene  Material  für  die  Kenntnis  der  heimat- 
lichen Geschichte,  zugleich  aber  auch  der  großen  Kulturbeziehungen 
zwischen  Ost  und  West  nutzbar  zu  machen. 

In  nunmehr  20  jähriger  Arbeit  ist  die  Gesellschaft  diesem  Ziel 
nachgegangen;  und  als  Frucht  dieser  Tätigkeit  liegen  heute  zwei 
große  Serien  von  Publikationen  vor:  20  Bände  des  „Jahrbuchs" 
und  6  Bände  der  „Quellen". 


v 


Jahrbuch 


Über  Charakter  und  Inhalt  des  „Jahrbuchs" 
orientieren  am  besten  die  in  Band  13  und  20 
veröffentlichten  Gesamtregister.  Den  Altertümern  von  vorrömischer 
bis  spätmittelalterlicher  Zeit  ist  eine  große  Zahl  von  Arbeiten 
näher  getreten  und  hat  namentlich  die  große  Bedeutung  der 
römischen  Periode  und  des  Merovingerreiches  festgestellt.  Als 
besonders  wichtig  erwies  es  sich  sodann,  durch  exakte  hilfswissen- 
schaftliche Forschung,  dem  fast  überreichen  urkundlichem  Material 
des  Mittelalters  gegenüber  kritisch  gesicherten  Boden  zu  gewinnen. 
Diese  Aufgabe  ist  nunmehr  durch  eine  größere  Zahl  von  Unter- 
suchungen zum  guten  Teil  bereits  gelöst.  Sprachliche  und  siede- 
lungsgeschichtliche  Fragen  haben  in  anderen  Arbeiten  ihre  Be- 
antwortung gefunden.  Auf  solche  Vorarbeiten  gestützt  war  es 
einzelnen  Forschern  bereits  möglich,  größere  Abschnitte  der  poli- 
tischen und  Kulturgeschichte  Lothringens  in  zusammenfassender 
Weise  zur  Darstellung  zu  bringen.  Und  daß  bei  all  diesen  Arbeiten 
stets  Gesichtspunkte  allgemeiner  Art  bewahrt  blieben,  beweist  der 
Ruf,  dessen  sich  das  „Jahrbuch"  heute  erfreuen  darf:  es  behauptet 
ehrenvoll  seinen  Platz  neben  den  ersten  der  übrigen  größeren 
territorialgeschichtlichen  Zeitschriften  Deutschlands. 

Jeder  Jahrgang  25  bis  30  Bogen  mit 

zahlreichen  Abbildungen,  Tafeln, 

Plänen    etc.       Broschiert 

Mk.  10.-  bis  15.- 


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QUELLEN  ZUR  LOTHRINGISCHEN  GESCHICHTE 


Quellen 


Als  Ergänzung  des  „Jahrbuchs"  sind  die  „Quellen 
zur  lothringischen  Geschichte"  entstanden.    Er- 
wies   es    sich    doch    als    notwendig,    die    wichtigsten   Quellen 
Lothringens  der  allgemeinen  Geschichtsforschung  in  kritisch  zu- 
verlässigen   Ausgaben    zugänglich    zu    machen.      Da   waren   es 
namentlich  die  Metzer  Chroniken,   die  zum  Teil  wertvolle  Bei- 
träge zur  Reichsgeschichte  enthielten,  aber  von  der  Münchener 
Akademie  nicht   in   die  Chroniken   der  deutschen  Städte  aufge- 
nommen   waren,    deren   Veröffentlichung  in   die  Wege  geleitet 
werden   mußte.     Daneben  galt  es  aber  natürlich  auch 
das  überaus  reiche  vorhandliche  und  sonstige 
Quellenmaterial  zu  erschließen,  das  für 
die  allgemeine  Geschichte  von 
größter  Bedeutung  ist. 


Bisher  erschienen: 


Band  I  und  II. 


Vatikanische  Urkunden  und  Regesten 

zur  Geschichte  Lothringens.  Herausgegeben  von  H.  V.  SAUER- 
LAND. Teil  1:  1294-1342.  XII  u.  441  Seiten.  Broschiert 
Mark  10.-.  Teil  2:  1343-1370.  XII  u.  373  Seiten.  Brosch. 
Mark  12.- 

„Die  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte  und  Altertumskunde  darf 
sich  beglückwünschen,  daß  sie  in  H.  V.  Sauerland,  einen  der  besten  Kenner  des 
päpstlichen  Urkundenwesens  im  14.  Jahrhundert,  einen  kundigen  Bearbeiter  des 
in  Betracht  kommenden  Materials  gefunden  hat.  Jeder,  der  einmal  mit  Ur- 
kundenpublikationen  zu  tun  gehabt  hat,  wird  gerade  diese  mit  besonderem  Ver- 
gnügen zur  Hand  nehmen,  da  sie  ihm  Belehrung  nach  den  mannigfachsten 

Seiten  hin  bietet."  Historisches  Jahrbuch  1903  (Jansen). 

„Der  reiche  Ertrag  dieser  beiden  Fortsetzungen  zweier  wertvoller  Publi- 
kationen ist  doppelter  Art.  Einmal  wird  die  Kenntnis  der  einzelnen  politischen 
und  kirchenpolitischen  Begebenheiten  der  Landes-  und  Reichsgeschichte  durch 
manches  Stück  der  beiden  Sammlungen  wesentlich  vertieft.  Sodann  aber 
wird  uns  ein  umfassendes  neues  Material  für  die  Schilderung  der  kirch- 
lichen Zustände  vorgelegt." 

Korrespondenzblatt  der  Westdeutschen  Zeitschrift  1905. 


QUELLEN  ZUR  LOTHRINGISCHEN  GESCHICHTE 


Band  IV. 


Die  MetZer  Chronik  des  Jaique  Dex  über  die 
Kaiser  und  Könige  aus  dem  Luxemburger  Hause.  Heraus- 
gegeben von  Geh.-Rat  Dr.  GEORG  WOLFRAM.  XCV  und 
533  Seiten.    Broschiert  Mark  15.— 

„Der  4.  Band  bietet  in  mustergültiger  Ausgabe,  die  von  dem  Metzer  Archiv- 
direktor mit  größter  Sorgfalt  besorgt  ist,  die  bisher  unedierte,  umfangreiche 
Chronik  der  Kaiser  und  Könige  aus  dem  Luxemburger  Hause." 

Jahrbuch  der  Görresgesellschaft.    1907. 

„Das  deutsche  Mittelalter  wird  kaum  eine  zweite  Quellenreihe  von  solcher 
Reichhaltigkeit  für  die  Geschichte  des  Volksempfindens  in  einem  bestimmten 
Zeitraum  aufweisen;  als  solche  sind  sie  wohl  noch  höher  einzuschätzen,  als  der 

Herausgeber  es  tut."  Mitteilungen  aus  der  historischen  Literatur.    1908.    (Müsebeck.) 

„J'ajouterai  que  l'editeur  a  rempli  sa  täche  d'une  maniere  exemplaire. 
L'introduction,  qui  ne  comprend  pas  moins  de  xcv  pages,  est  un  modele  de 
critique  ferme  et  penetrante,  et  de  discussion  ä  la  fois  sobre  et  exhaustive.  Un 
glossaire,  que  recommande  le  nom  de  l'auteur,  M.  F.  Bonnardot,  et  une  table 
des  noms  de  personnes  et  de  lieux  achevent  la  toilette  de  cette  publication,  qui 
fait  honneur  ä  la  fois  ä  la  societe  sous  les  auspices  de  laquelle  eile  parait  et  ä 
l'erudit  qui  lui  a  consacre  ses  soins  intelligents."     Archives  Beiges.  1906.  (S.  Kurth.) 

„It  is  an  acquisition  to  the  history  of  Europe,  and  its  author,  identified 
by  Dr.  Wolfram,  becomes  a  new  and  vigorous  personality  among  the  chronic- 
lers  Of  the  closing  middle  age."  Scottish  Historicel  Revier.    1907.    (Nelson.) 


Band  V  und  VI. 


Die  Metzer  Bannrollen  des  xiii.  Jahrhunderts. 

Herausgegeben  von  Dr.  KARL  WICHMANN.    Band  1:  LXXXII 
und  441  S.  Brosch.  Mark  20.-.  Band  2:  Im  Druck,  ca.  Mark  20.- 

Seit  im  Jahre  1861  W.  Arnold  zum  ersten  Male  die  Fülle  wichtiger 
Probleme,  die  sich  aus  den  wirtschaftlichen  und  rechtlichen  Verhältnissen  des 
städtischen  Eigentums  im  Mittelalter  ergeben,  teils  gestellt,  teils  auch  beantwortet 
hat,  ist  die  Forschung  auf  diesem  neuen  Pfade  wissenschaftlicher  Erkenntnis 
rüstig  weitergeschritten.  Die  große  Zahl  seitdem  veröffentlichter  Urkundenbücher 
erschloß  ungeheueres,  meist  noch  kaum  berührtes  Material;  und  besondere  Quellen- 
publikationen zur  Erkenntnis  der  städtischen  Gesundheitsverhältnisse  traten  hinzu. 
Die  darstellende  Geschichtsforschung  blieb  nicht  zurück  und  vertiefte  die  von 
Arnold  behandelten  Probleme  durch  eine  große  Zahl  von  Einzeluntersuchungen. 

In  der  Erkenntnis  der  Bedeutung  dieses  Zweiges  der  Geschichtsforschung 
für  die  Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte,  aber  auch  der  Lokalgeschichte,  hat  die 


QUELLEN  ZUR  LOTHRINGISCHEN  GESCHICHTE 


„Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte"  beschlossen,  einen  Teil  der  hierher 
gehörigen  Metzer  Quellen,  die  Bannrollen  für  das  13.  Jahrhundert,  der  allge- 
meinen Kenntnis  zugänglich  zu  machen.  Dr.  K.  Wichmann  hat  die  mühsame 
Arbeit  der  Beschreibung  des  gewaltigen  und  unhandlichen  Materials  (für  das 
13.  Jahrhundert  liegen  7894  Einzeleintragungen  auf  17,  z.  T.  über  8  Meter  langen 
Rollen  vor)  übernommen,  und  als  erste  Frucht  des  langjährigen  Editionswerkes 
liegt  der  erste  Band  der  Bannrollen  nunmehr  vor. 


Band  IX. 


Cahiers  de  doleances  des  communautes  en 

1789.  I.  Bailliages  de  Boulay  et  de  Bouzonville.  Publie  par 
N.  DORVAUX  et  P.  LESPRAND.  XV  u.  547  Seiten.  Brosch. 
Mark  20.-. 

Es  gibt  nur  wenige  Quellenschriften,  die  von  so  lebendigem  Interesse  und 
von  so  großem  Nutzen  für  die  Erkenntnis  vergangener  Zustände  sind,  wie  die- 
jenigen, welche  der  genannte  Band  für  einen  Teil  des  Bezirks  Lothringen  uns 
zugänglich  macht.  Es  sind  die  Beschwerdehefte  der  einzelnen  Gemeinden 
der  Ämter  (bailliages)  Bolchen  und  Busendorf,  die  als  Grundlagen  für 
die  Beschwerden  des  dritten  Standes  des  ganzen  Amtbezirks  dienen  sollten;  es 
sind  also  die  Äußerungen  der  Bevölkerung  selbst,  die  „ursprünglichsten  Kund- 
gebungen des  Willens  der  Wähler  des  dritten  Standes".  Allerdings  muß  die 
Benutzung  mit  einiger  Vorsicht  geschehen,  da  bei  dem  niedrigen  Stande  der 
Bildung,  bei  der  herrschenden  Unkenntnis  der  Schrift  Und  bei  der  allgemeinen 
politischen  Unerfahrenheit  namentlich  die  gutmütigen  Bewohner  des  flachen  Landes 
häufig  von  mehr  oder  minder  ehrenwerten  Persönlichkeiten  stark  beeinflußt 
wurden,  auch,  wie  nachgewiesen  und  ausdrücklich  überliefert  ist,  gedruckte 
Muster  von  Beschwerdeheften,  wie  sie.-  beispielsweise  Philipp  von  Orleans 
massenhaft  verbreiten  ließ,  vielfach  zu  Grunde  lagen.  Aber  wenn  man  sie  der 
Einzelkritik  unterwirft  und  sorgfältig  sichtet,  so  ersteht  aus  den  hochwertigen 
und  auch  aus  den  nur  teilweise  wertvollen  Beschwerdeheften  ein  Gemälde  der 
Kultur  in  den  einzelnen  Teilen  Frankreichs  von  1789,  wie  es  klarer  und  farben- 
reicher nicht  gedacht  werden  kann. 


Band  XII. 


Wörterbuch    der   Deutsch  *  lothrin* 

I    gischen  Mundarten.  Bearbeitet  von  m.  f.  foll- 

MANN.    XVI  u.  571  Seiten.    Broschiert  Mark  32.- 

Das  Wörterbuch  faßt  den  Wortschatz  der  heutigen  Volkssprache  in  den 
deutsch  redenden  Teilen  des  Bezirks  Lothringen  wissenschaftlich  bearbeitet  zu- 
sammen und  verzeichnet  dabei  besonders  die  von  der  Schriftsprache  abweichenden 
Wörter  und  Wendungen;  wo  es  nötig  ist,  werden  diese  auch  erklärt.    Die  Sprache, 


QUELLEN  ZUR  LOTHRINGISCHEN  GESCHICHTE 

die  auf  diesem  Gebiete  gesprochen  wird,  ist  eine  fränkisch-alemannische  Misch- 
sprache mit  überwiegend  fränkischen  Elementen  im  Nordwesten,  die  allmählich 
stärkeren  alemannischen  Bestandteilen  Platz  machen,  je  weiter  man  nach  Süd- 
osten vorrückt.  Es  kommen  folglich  von  deutschen  Mundarten  in  Betracht: 
Das  Mittelfränkische  oder  die  Sprache  der  Ripuarier  und  Moselfranken,  das  Süd- 
fränkische oder  die  Sprache  der  Oberfranken  und  das  Alemannische.  Unter  den 
französischen  Bestandteilen  befinden  sich  zunächst  solche  Wörter,  die  auch 
in  vielen  anderen  deutschen  Mundarten  vertreten  sind  und  heute  noch  fortleben. 
Zu  dieser  Gruppe  kommt  aber  noch  eine  stattliche  Reihe  von  französischen  Ent- 
lehnungen, die  den  lothringischen  Grenzmundarten  allein  eigentümlich  sind. 
So  ist  dies  Wörterbuch  des  deutsch-lothringischen  und  Metzer  Dialektes  nicht 
nur  für  Germanisten  und  Romanisten  von  größtem  Werte,  sondern  es  wird 
auch  in  geschichtlicher  Beziehung  zur  Klärung  der  Siedelungsfrage  beitragen. 


In  Vorbereitung:  befinden  sich: 

::         Die  Metzer  Bischofschronik  (15.  Jahrhundert)         :: 
::  Metzer  Schöffenchronik  (15.  Jahrhundert)  :: 

Die  Chronik  des  Philipp  von  Vigneulles  (16.  Jahrhundert) 
Die  Chronik  des  Praillon  (16.  Jahrhundert)  :: 

Die  Cölestiner-Chronik  (15.  Jahrhundert)  :: 

Dictionaire  du  Patois  Messin 

Metzer  Bischofsregesten  •• 

Protokolle  des  Metzer  Domkapitels  vom  Jahre  1344  bis  1461 


VERLAG  VON  QUELLE  &  MEYER  IN  LEIPZIG 


Veröffentlichungen  der  Gesellschaft 

für 

fränkische  Geschichte 

Die  Gesellschaft  für  fränkische  Geschichte  hat  sich  die  Auf- 
gabe gestellt,  die  bisher  unveröffentlichten,  wertvollsten  Quellen 
zur  Geschichte  Frankens  den  modernen  Anforderungen  der  Ge- 
schichtswissenschaft entsprechend  herauszugeben  und  einschlägige 
Forschungen  auf  dem  Gebiete  fränkischer  Geschichte  anzuregen 
und  zu  fördern. 

Im  besonderen  sollen  die  chronologischen  Aufzeich- 
nungen der  fränkischen  Städte,  die  Urkunden  der  Kolle- 
giatstifter  und  Klöster,  der  städtischen  Gemeinwesen 
und  Adelsgeschlechter  der  Forschung  zugänglich  gemacht 
werden;  interessant  werden  namentlich  die  Quellenpublikationen 
und  Bearbeitungen  aus  dem  Gebiete  der  Wirtschaftsgeschichte 
sein:  Rechnungsbücher,  Urbare,  Zins-  und  Lehenbücher 
der  Herrschaften,  Weistümer  und  Stadtrechte,  Rats-  und 
Zunftbücher  harren  der  Veröffentlichung,  die  Landtagsakten 
der  verschiedenen  fränkischen  Territorien  der  Bearbeitung. 

Eines  besonderen  Hinweises  auf  die  Bedeutung  all  dieser 
Publikationen  bedarf  es  für  den  Fachmann  nicht.  Lag  doch  Franken 
fast  im  Mittelpunkt  des  alten  Reiches.  Neben  Schwaben,  Ale- 
mannien  und  den  rheinischen  Gebieten  war  hier  der  vornehmste 
Schauplatz  der  Wirksamkeit  unserer  Könige  und  Kaiser.  Die  öffent- 
lich-rechtlichen und  privatrechtlichen  Einrichtungen  dieses  Ge- 
bietes haben  im  weiten  Umkreise  als  Muster  gedient.  So  dürften 
diese  Publikationen  auch  wichtige  Beiträge  zur  allgemeinen  deutschen 
Geschichte  bringen. 

Bisher  erschienen: 

Chroniken  der  Stadt  Bamberg.    Erste 

Hälfte.    Nach  einem  Manuskripte  von  TH.  KNOCHENHAUER 
neu    bearbeitet   und    herausgegeben    von    Prof.    Dr.   ANTON 


VERÖFFENTL.  D.  GESELLSCHAFT  F.  FRANK-  GESCHICHTE 

CHROUST  in  Würzburg.  gr.  8.  LXXII  und  368  Seiten.  Ge- 
heftet Mark  15.—  Subskriptionspreis  Mark  12.—  Zweite  Hälfte. 
Von  DEMS.  gr.  8.  ca.  400  Seiten.  Geheftet  ca.  Mark  15.- 
Subskriptionspreis  ca.  Mark  12.— 

Diese  älteste  Geschichtsaufzeichnung  bürgerlicher  Kreise,  die 
uns  aus  Bamberg  erhalten  ist,  betrifft  die  Streitigkeiten,  die  sich 
insbesondere  im  vierten  Jahrzehnt  des  15.  Jahrhundert  zwischen 
der  Bürgerschaft  des  Stadtgerichts  und  dem  Klerus  in  Bamberg 
wegen  der  gesetzlichen  Immunitäten  zugetragen,  zum  Einschreiten 
von  Kaiser,  Papst  und  Baseler  Konzil  und  zu  einem  Zusammen- 
prall dieser  Gewalten  führten.  Eine  richtige  Ergänzung  des  natür- 
lich parteiisch  gefärbten  Berichtes  bilden  die  im  Anhange  mit- 
geteilten Urkunden,  die  interessante  Aufschlüsse  über  rechtliche 
und  wirtschaftliche  Verhältnisse  geben. 

Der  zweite,  in  Vorbereitung  befindliche  Halbband,  dem  auch 
das  Register  des  ersten  beigegeben  wird,  enthält  zwei  Berichte 
über  den  Bauernaufstand  in  Bamberg  (1525)  und  zwei  über  Bam- 
bergs Schicksale  in  der  Markgrafenfehde  (1553). 

Zusammen  bilden  diese  Aufzeichnungen  die  Fortsetzung 
der  von  der  Historischen  Kommission  in  München  herausgegebenen 
Chroniken  der  deutschen  Städte. 

„Auch  sonst  ist  seitens  des  Herausgebers  alles  geschehen,  um  das  Werk 
durchaus  musterhaft  zu  gestalten,  im  Einklang  mit  der  ganzen  äußeren  Aus- 
stattung, die  in  jeder  Beziehung  gediegen  genannt  werden  muß." 

P.  Albert.    Alemannia.    Bd.  9,  Heft  1.    1908. 

„Die  Publikation,  die  eine  mustersriltisre  Edition  genannt  werden  darf, 
verdient  trotz  des  rein  lokalen  Inhalts  die  Beachtung  weiter  Kreise". 

Frz.  Knöpfler.    Literarisches  Centralblatt  für  Deutschland.    28.  März  1908. 

Geschichte  des  fränkischen  Kreises. 

Von  Dr.  FR.  HÄRTUNG.     Bd.  I.     ca.  290  Seiten.     Geheftet 
ca.  Mark  9.—     Subskriptionspreis  ca.  Mark  8.20 

Verfasser  gibt  zunächst  eine  allgemeine  Darstellung  der  Entwicklung  des 
Einheitsgedankens  in  den  einzelnen  deutschen  Landschaften  von  den  ersten  An- 
fängen des  XI.  Jahrhunderts  bis  1521.  Daran  schließt  sich  die  Geschichte  des 
fränkischen  Kreises  im  besonderen  von  1521  —  1559.  Im  Anhang  wird  eine 
Auswahl  der  wichtigsten  Akten  mitgeteilt. 


WW 


*     *       *: 


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