LIBRARY
Brigham Young University
DANIEL C. JACKLING LIBRARY
IN THE
FIELD OF RELIGION
I»ARY
NG 'UNIVERSITY
|>, LTH
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in 2011 with funding from
Brigham Young University
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v.-'
4-
Altg ermanisdie
Religionsgesdiichte
Zur gefälligen Besprechung!
Preis geh. M.
geb. M.
1910
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig
Altenburg
Pierersche Hofbuchdruckerei
Stephan Geibel & Co.
THE LIERARV
biügka;: young lniversity
provo, utah
Axel Olrik
und
Edward Schroeder
freundschaftlich dargebracht.
Häv. Str. 34.
Weißt du, wie man ritzen muß? weißt du,
wie man raten muß?
Weißt du, wie man färben muß? weißt du
wie man forschen muß?
Weißt du, wie man anrufen muß? weißt du
wie man opfern muß?
Weißt du, wie man schlachten muß ? weißt du,
wie man schwenden muß?
Häv. Str. 143.
Den Kopf senkt schnappend, zur Küste gelangt,
der Aar am uralten Meer;
So gehts dem Mann in der Menge der andern,
dem es an Fürsprechern fehlt.
Häv. Str. 62.
Vorwort-
Ich hätte dies Buch lieber nach altem gutem Brauch »Germanische
Mythologie« genannt. Aber nun gibt es von Elard Hugo Meyer allein
:hon zwei Werke, deren eines »Germanische Mythologie« heißt, das
ndere »Mythologie der Germanen«. Sie sind schon schwer zu unter-
:heiden; wie sollte es erst werden, wenn noch eine dritte Meyersche
tythologie erschiene? Zumal ich gerade von diesem Namensvetter in
en Grundanschauungen vielfach abweiche.
Vielleicht hat aber der Titel, den ich gewählt habe, auch seine sach-
che Berechtigung; denn auf die spezifische Entwicklung der Religion
abe ich überall auch die eigentliche Mythologie schon zu orientieren
esucht.
Was im übrigen die Arbeit Neues bringt, mag sie selber erzählen.
lIs Tendenzen, die mir besonders am Herzen lagen, möchte ich nur zwei
ervorheben : ich habe immer lieber psychologisch erklären als symbolisch
euten wollen; und ich suchte nach Möglichkeit jede Einzelerscheinung
>^n dem Boden größerer (historischer, kultureller, literarischer) Zusammen-
inge zu verstehen. Gegen solche Bestrebungen, die mit einem gewissen
; .gensinn isolieren, wie die naturmythologische Erklärung als alleinige
"terpretationsform oder die modernste Religionsmengerei der unbegrenzten
Hypostasen«, mag ich deshalb wohl auch etwas zu lebhaft polemisiert
laben.
Daß ich in jenen beiden Bestrebungen keineswegs etwas anderes bin,
ls der dankbare Schüler großer Meister, dessen bin ich mir natürlich
»ewußt. Wenn es für den deutschen Philologen so besonders beglückend
>t, welche Heroen er im Gebiet seiner Forschung verehren darf, nicht
ls halbmythische Schattenbilder vergangener Tage, sondern als Menschen
on Fleisch und Blut, die noch mit uns oder unsern Vätern gewandelt,
o wird diese Freude bei mythologischen Studien zu besonderer Leb-
haftigkeit gesteigert. Freilich aber erweckt diese Empfindung auch leicht
in mutloses Verzagen, auch nur als Ährenleser einem Jacob Grimm
»der Uhland, Müllenhoff, Mannhardt, Usener folgen zu wollen.
VI Vorwort.
Einige meiner Zeitgenossen scheinen dies Gefühl allerdings nie gekann
zu haben.
Doch habe ich nicht nur den großen Meistern zu danken, zu denei
ich unter den Lebenden Axel Olrik geselle. Mündlicher und schrift
licher Anregung verdanke ich kaum weniger als dem Studium gedruckte
Arbeiten. Neben Edward Schroeder, dem zweiten Paten diese
Buches, nenne ich hier vor allem meine Berliner Freunde und Kollegen!
Aloys Brandl, Adolf Deißmann, Hugo Greßmann, Andreas Heusle
Eduard Meyer, Max Roediger, Erich Schmidt, Georg Wentzel; lebhal
habe ich während der Ausarbeitung das stets fördernde Gespräch m
Hermann Gunkel vermißt.
Bei der Drucklegung kamen mir mein Freund Albert Leitzmann un
Herr cand. phil. Elkuß mit liebenswürdiger Ausdauer zu Hilfe. Aber auc
den Herren Verlegern habe ich nicht nur für vielfaches Entgegenkommet
sondern auch für manchen guten Rat zu danken. Freilich wird mit a
unserer Mühe der Druck nicht so fehlerfrei sein, wie wohl zu wünscht
wäre; wie haben meiner guten alten »Altgermanischen Poesie« die Druc
fehler geschadet! Daß der Exakteste der Exakten, der von mir hoc
verehrte Richard Heinzel in den eben von S. Singer mitgeteilten Briefe
von sich bekennt, er sei ein schlechter Korrektor, kann mich zwar tröste
aber nicht retten. Denn es kommt noch dazu, daß ich in orthographisch
Fragen ein zu weites Gewissen habe. Zwar daß ich erst »Njörd« un
dann >Njord« gesetzt habe, stört auch mich; aber über andere h
konsequenzen in der Schreibung denke ich milder — als vermutlic
mancher Kritiker. Meine Absicht war, mit der Schreibung zwischen de
Verständnis weiterer Kreise und dem lautsymbolisch gewordenen Lautbi
bei den genaueren Kennern zu vermitteln. Im Zweifelfall bin ich mei
G e ri n gs Eddaübersetzung gefolgt.
Dies treffliche Buch habe ich für Textproben immer benutzt, da
meine Schrift nicht bloß für solche bestimmt ist, die mit den Quellen vei
traut sind. Sonst habe ich für solche Zwecke vor allem Mogks Da
Stellung der germanischen Mythologie zu Rate gezogen. Daß ich au(
die Arbeiten, deren Anschauungen ich am fernsten stehe, redlich zu ve
werten suchte, mögen die Zitate beweisen.
Über diesen wichtigen Teil der wissenschaftlichen Technik möch
ich noch einiges bemerken. Dies Buch ist nicht etwa nur für d
Germanisten bestimmt: wie es von der allgemeinen Mythologie zu lern
sucht, möchte es gern ihr auch dienen. Deshalb habe ich nach Möglic
keit versucht, nichts vorauszusetzen, habe fremdsprachliche Worte od
Zitate übersetzt, vieles gesagt, was sonst als bekannt hätte gelten dürfe
Auf diesen Standpunkt habe ich auch die Zitate selbst gestellt. Man mi
doch immer mit der ideellen Möglichkeit rechnen, daß nachgeschlag
Vorwort. VII
rird Ich habe deshalb alle Quellen in eine dem »Durchschnittsleser«
ugänglichen Form zu bringen gesucht. Vier, fünf Bücher gemein-
,erständlicher Art, die bedeutendsten neueren Darstellungen der Mythologie,
irrige wichtigere Spezialuntersuchungen sollen ihm genügen, um die Be-
-ge in der Hauptsache nachzuprüfen. Neuere Ausgaben habe ich wohl
»enutzt, aber nur, wo es nicht anders anging, genannt. Überhaupt habe ich
uch die bibliographischen Angaben auf zwei Kategorien von Schriften
»«schränkt: auf das historisch Bedeutende und das unmittelbar Brauchbare.
Wo es sich aber um diese beiden Gruppen handelte, habe ich, wie
Fm Text so auch in den Zitaten, Wiederholungen nirgends gescheut. Es
var meine Absicht, dem Leser an jeder einzelnen Stelle des Buches eine
^reichende Übersicht über das jedesmal gegebene Problem zu ermöglichen.
r\uch ohne das ganze Buch durchzusehen, sollte er die wichtigste Literatur
für jede Frage beisammen finden — natürlich die wichtigste Literatur nur
mr ersten Orientierung: weitere bibliographische Angaben findet er dann
m den jedesmal wieder angeführten Handbüchern, deren Bibliographien
ich nur mit den bedeutenderen Neuerscheinungen ergänzt habe.
] Aber wie im Text, habe ich wohl auch in dem Vorwort in zu
kategorischem Ton gesprochen. Ist es denn aber wirklich nötig, daß man
jedesmal beteuert, man sei sich des Abstandes zwischen Wollen und
Leistung bewußt? Aber da nun einmal die Hauptaufgabe eines Vorwortes
die captatio benevolentiae ist, so sei es denn noch einmal für allemal
ausgesprochen.
Berlin, 9. August 1909.
Inhaltsverzeichnis.
Einleitung. Seite
1. Aufgabe und Umgrenzung 1
»Germanisch« S. 1. — »Religion« S. 3 (Verhältnis zur Mythologie). —
»Religionsgeschichte« S. 5.
Erstes Kapitel.
Allgemeine Voraussetzungen.
2. Wesen und Begriff der Mythologie 6
Die Mythologie wurzelt in Erfahrungen, die zur Annahme wollender
Wesen führen S. 8. Psychologie der Dämonen S. 10. Hilfsmittel der
mythologischen Erkenntnis: mythologische Rangzeichen S. 11.
Attribute S. 12.
3. Zur Formenlehre der Mythologie 12
Mythologie ist 1. Poesie S. 13 und als solche a) idealistisch S. 13
(Mythus und Märchen S. 14), b) anschaulich S. 15 (mythologische
Schemata S. 17), c) an eine gewisse Technik gebunden S. 19.
Mythologie ist 2. Wissenschaft S. 20. Formen der mythologischen
Erklärung: a) ätiologisch S. 20 (besitzerklärende, Erfüllungsmythen S. 21),
b) ikonisch S. 21, c) etymologisch S. 21.
Mythologie verschieden von der Heldensage S. 23.
Formensprache der Mythologie S. 25 (psychologische Inter-
pretation ebd.).
I. Typische Entwicklung der Mythologie 26
Psychologische und geographische Erklärung der Übereinstimmungen
S. 27. Die Folkloristen S. 28.
Verlauf der typischen Entwicklung S. 29: I. Niedere Mytho-
logie: 1. Augenblicksgötter. 2. Fetischismus S. 30. 3. Animismus S. 31
(Kategorien : a) Ahnen, b) Naturgeister, c) wilde Tiere). 4. Dämonismus. —
II. Höhere Mythologie S. 36: 5. Götterverehrung S. 38 (Kennzeichen
der Götter S. 38). 6. Ethisierung S. 43. 7. Kodifikation S. 43.
Typische Umbildungen S. 44.
Zweites Kapitel.
Spezielle Voraussetzungen.
Die Indogermanen S. 47.
5 Das indogermanische Erbe 49
Mythologie der proethnischen Periode S. 49. Kult S. 53. Einzelne
Mythen S. 55.
•
X Inhaltsverzeichnis
§ 6. Der germanische Faktor
Mittel der Erkenntnis S. 57: 1. Die altnordische Mythologie S. 58.
2. Die germanische Gesamtentwicklung S. 58.
Germanische Religionsgeschichte.
§ 7. Die Quellen
I. Unmittelbare Zeugnisse S. 60. II. Mittelbare Zeugnisse. III. Er-
schließungen S. 62.
Bewertung der Quellen S. 63.
Darstellungen S. 65.
Drittes Kapitel.
Niedere Mythologie.
§ 8. Die untersten Stufen
1. Augenblicksgötter S. 66. 2. Fetischismus S. 67 (Kategorien der
Fetische S. 68 f.).
§ 9. Die Seelen
Begriff der »Seele« S. 73. Gestalten der Seele S. 75. Ihre Be-
wegung S. 77 (Schlaf, Traum, Rausch). Verdoppelung der Seele S. 79
(Fylgja). Die Seele nach dem Tode S. 80. Schicksale der freigewordenen
Seele S. 81 : Bergentrückung S. 82. Gespenster S. 83. Wiedergeburt
S. 84. Seelenwanderung S. 85. — Präexistenz S. 85.
§ 10. Ahnengeister und Totenkult
Motive S. 86. 1. Pflichten gegen den Körper des Toten S. 87 (Bei-
setzung). 2. Sorge um die Seele S. 88 (Totenklage S. 88. Leichenwache,
Totenkult S. 89. Erinnerungsfeste S. 90. Ahnenkult S. 90. Apotheose S. 91).
Kein Totemismus S. 92.
§ 11. Naturgeister und Naturkult
»Naturgeister * S. 92.
I. Geister der unkultivierten Natur S. 94 (1. Waldgeister S. 94.
2. Windgeister S. 97. 3. Gewittergeister S. 99. 4. Wolkengeister S. 100.
5. Berggeister S. 101. 6. Wasser- und Meergeister S. 101. 7. Schnee-
geister S. 104. 8. Sumpfgeister. S. 104. 9. Gestirngeister S. 104).
II. Geister der kultivierten Natur S. 107 (1. Feldgeister S. 108.
2. Hausgeister S. 109. 3. Schiffsgeister S. 110. 4. Schatzgeister. 5. Berg-
baugeister S. 110. 6. Tiergeister? S. 111.
§ 12. Die Dämonen
Definition S. 111.
1. Traumgeister S. 112 (Alp ebd.). 2. Holden S. 114. 3. Elfen S. 115.
§ 13. Riesen und Zwerge
1. Riesen S. 119 (Schonings Hypothese S. 121). 2. Zwerge S. 125.
§ 14. Zaubermenschen
Definition S. 127. 1. Alpreiter. 2. Werwolf S. 128. 3. Berserker
S. 130. 4. Gestaltentauscher. 5. Bilwis. 6. Hexen S. 131. 7. Zauberer
S. 133 (a. allgemein zugängliche Zaubermittel S. 133: «) Rune, ß) Zauber-
lied, ;/) Zauberspruch, J) Zauberhandlung, t) Segen und Fluch [das Be-
27
Se
Inhaltsverzeichnis. XI
Seite
rufen S. 139], C) Weissagung S. 141 [Mittel S. 141]; b. reservierte
Zaubermittel S. 144 [Erlangen und Wirkung der Zauberkraft S. 144.
Methode S. 146] : a) Ausrüstung, ß) Handlung, y) Abwehr S. 149). 8. Un-
freiwillige Zauberer (böser Blick) S. 150 und Wahrsager S. 151. — Rück-
blick S. 151.
Viertes Kapitel.
Höhere Mythologie.
| 15. Halbgöttliche Wesen 153
Keine Heroen. — »Umgebungsgötter« S. 153. Gruppen S. 154.
1. Nornen S. 154. 2. Walküren S. 154 (a. gemeingermanische
»weise Frauen« S. 158, b. individualisierte Schlachtgöttinnen S. 159,
c. altnordisch-angelsächsische Walküren S. 161 : Dienerinnen des Schlacht-
gottes). 3. Schwanenjungfrauen S. 162 (Schwanenjüngling? Ent-
wicklung der Wielandsage S. 165). 4. Mimir S. 167.
Keine »Scheingötter« S. 168 Anm.
\ 16. Die Götter 168
Allgemeine Charakteristik S. 169 (Rangzeichen S. 161. Tätigkeit;
Geschlossenheit des Götterstaates S. 170). Gottesbegriff S. 171 (Be-
zeichnung S. 172). Gestalt S. 173. Leben S. 174. Wohnung; Zahl S. 176.
Gemütsart S. 177. Verhältnis zu den Menschen S. 177.
| 17. Hauptgötter 178
Ursprung S. 178.
1. Tyr S. 178: Entwicklung S. 179: indogermanisch S. 179, ur-
germanisch S. 180, germanisch: Verdrängung durch Wodan S. 181 (Speer
und Schwert 6. 182). — Hauptsitz der Verehrung S. 184. — Speziali-
sierung: Mars Thingsus S. 186. — Emanationen. Kult S. 189.
2. Ingvo. Isto. Irmino S. 189: Namen S. 190. — Mythus
S. 191. Deutung: Irmin = Tiu S. 192. Ing = Frey S. 193 (Sceaf
S. 193). — Isto = Wodan S. 194.
3. Saxnöt S. 196 = Tyr S. 196.
4. Frey S. 196: Name S. 197. Entwicklung S. 198. Sitze und
Kult S. 199. Jüngere Mythenbildung S. 202 (Beli S. 202). — Emanationen
S. 203 (Skirnir).
5. Njord S. 204: Njord und Frey S. 204. Njord und Nerthus
S. 204. Name S. 207. Kult S. 208. Religionsgeschichtliche Stellung
S. 209. — Emanationen S. 209.
6. Skadi S. 209: Name und Wesen S. 210. — Mythus S. 210.
Weitere Sagen S. 211.
7. Frey ja S. 212: Verhältnis zu Frey ebd. Chthonische Züge
S. 212. Andere Züge S. 213. Kult S. 214. — Jüngere Mythen: Brisin-
gamen S. 215 (Entwicklung der Sage S. 217. Vorgeschichte S. 221).
Freyja als Odins Weib S. 223. — Emanationen S. 224.
8. Wodan S. 224: Nicht indogermanisch S. 224. Altgermanisch
S. 225. — Umkreis der Verehrung S. 225 (Altgermanische Zeugnisse
S. 226). — Name S. 227 (Wodan und Wode). — Grundanschauung
S. 228 (Wodan— Mercurius S. 228). Erscheinung S. 229 (das Eine Auge
S. 231). Attribute S. 232. - Namenreichtum S. 236. — Kult S. 237
(Menschenopfer S. 237. Ritus desselben S. 239. Bedeutung S. 240.
XII Inhaltsverzeichnis.
Se
Opferstätten S. 243). — Odinsreligion S. 245 (Leben nach dem Tode.
Aufkommen S. 246. Christlicher Einfluß? S. 247). — Entwicklung
S. 248: Windgott; Emanationen: 1. Totengott; Hängegott; Gott des
Schiachtodes. 2. Sonnengott? S. 252. 3. Kriegsgott S. 252. 4. Fürsten-
und Staatsgott S. 253 (Heldenerzieher S. 254). 5. Oott der Weisheit
S. 256 (Mythus der Runenfindung S. 257); Heilgott; Gott des Ge-
deihens S. 260; Gott der Dichtkunst S. 261 (Eroberung des Be-
geisterungstrankes S. 261. Entwicklung S. 265). 6. Allvater S. 266. —
Rückblick S. 266. — Spätere Legendenbildung: Wall hall S. 268. —
Liebesabenteuer S. 269. — Verbannung S. 270.
9. Frigg S. 271: Name S. 271. Verbindung mit Wodan S. 272.
Funktionen S. 273. — Mythen S. 273. Heim und Kult S. 274.
Emanationen S. 274 (Fulla S. 275. Söl S. 276. Gefjon S. 277).
10. Thor S. 279: Ursprung und Ähnlichkeiten S. 279 (Pushan
S. 280). Urgermanischer Gott S. 281. — Wesen: Gewittergott S. 281.
Attribute S. 282 (Alter der Thrymskvida S. 283). Erscheinung S. 285.
Heim S. 286. Funktionen S. 286 (Ackerbau; nordischer Hauptgott S. 286;
Weihen S. 287). Kult S. 288 (Opfer S. 289). - Thor- Religion S. 290
(Lokasenna ebd.). — Mythen S. 291: 1. Riesenkämpfe: Thjäzi S. 292.
Aurvandil S. 293. Hrungnir S. 295. Utgard S. 297. Geirröd S. 299. —
2. Heimkehrsagen S. 300: Thrym S. 301. Hymir S. 302. Alviss S. 304.
Härbard S. 304. — 3. Christliche Berührungen S. 304. — Thors Ver-
wandtschaft S. 305.
11. Sif S. 306: Name und Mythus.
12. Thors Mutter S. 307: Erdgöttin (Hlödyn-Fjörgyn S. 308.
Rind S. 309).
Rückblick auf die alten Hauptgötter S. 309.
13. Balder S. 310: Alter S. 311 (urgermanisch S. 311). Wesen
S. 312. Mythus S. 313: altdeutsch (Merseburger Spruch) S. 313; alt-
nordisch S. 315 (Zeugnisse S. 316: Edda S. 316. Snorri S. 317. Saxo
S. 319. — Kern der Sage S. 320. Entwicklung S. 324). — Ursprung
Balders S. 325 (Hypothesen von Bugge, Detter, Kauffmann, Schuck
S. 327). — Attribut S. 331. — Balders Sippe: Nanna S. 331. Forseti S. 332.
§ 18. Gegengötter 33
Definition S. 332. Allgemeines S. 334. — 1. Hod S. 335. — 2. Lok i
S. 335: Wesen S. 337. Name S. 339 (Lopt, Lodur). Entwicklung S. 340
(Die Trias S. 341. Andvari S. 342. Thjäzi S. 344. — Thor und Loki
S. 345. — Loki der Umstürzer S. 346). Weitere Mythen S. 348. Lokis
Sippe S. 349: Die Teufelsbrut S. 351 (a. Hei; b. der Fenriswolf; c. die
Weltschlange S. 353). — 3. Nidhögg S. 355. — 4. Surt S. 355. — 5. Hrym
S. 357. — 6. Hraesvelg? S. 357.
§ 19. Eddische Nebengötter 35
1. Heimdall S. 358: nur nordisch: Name und Wesen S. 358.
Mythus S. 359. Deutung S. 360. Entwicklung S. 361. Funktionen S. 362
(Rigsthula S. 365). — Attribute S. 366. Heim S. 367.
2. Hönir S. 369: Name S. 368. Mythen S. 368. Wesen S. 371.
3. Widar S. 372: Name S. 372. Alter; Mythen S. 373. Wesen S. 375.
4. Wal i S. 376: Mythus S. 376. Name, Alter, Wesen S. 377.
Inhaltsverzeichnis. XIII
Seite
5. UllrS. 378: Zeugnisses. 378. Attribute, Kult S. 379. Wesen S. 380.
6. Forseti S. 381: Verhältnis zu Fosite S. 382.
7. Bragi S. 383: Zeugnisse S. 383. Ursprung S. 385.
8. I dun S. 385: Name, Attribute S. 385. Mythus S. 387.
9. Loki und Hod S. 387.
10. Die Wanen S. 388.
.0. Nacheddische Gottheiten 390
1. Hei S. 390: Name S. 390; Hei und Walhall S. 391. 2. Ran
S. 392. 3. Ägir S. 392. 4. Thorgerd Hölgabrud S. 393 (Irpa S. 394).
5. Söl S. 395.
1 Außereddische Gottheiten 396
1. Alces S. 397. 2. Tanfana S. 399. 3. Nehalennia S. 399.
4. Baduhenna S. 400. 5. Andere Göttinnen S. 401. 6. Requali-
vahanus S. 403. 7. Weitere Namen S. 403.
2. Angebliche Göttinnen ' 404
Eostra u. a.
Fünftes Kapitel.
Der Kultus.
3. Gebet und Opfer 405
Gebet S. 406 (Form. — Haltung und Zurüstung S. 407). — Spezi-
fische Formen: Eid und Gelübde S. 408.
Opfer S. 408: Entstehung S. 408. Ausdruck S. 409. — Wem
opfert man? S. 409. Wer opfert? S. 411. Weshalb? S. 412. Was opfert
man? S. 413 (Menschenopfer ebd. Tiere S. 414. Symbole S. 416). —
Wo opfert man? S. 417. — Wje? S. 418. — Wann? S. 420 (Volks-
versammlung; Eid und Los — Namengebung — Jünglingsweihe —
Landnahme — Opferzeiten S. 422).
4. Tempel und Kultstätten 323
Allgemeines. - 1. Heilige Stätten; 2. Heilige Haine S. 425. 3. Tempel
$. 425 (Beschreibung S. 426. Eigenschaften S. 429). 4. Götterbilder S. 430
Stufen der Darstellung S. 431). 5. Verhältnis zwischen Tempel und
jötterbild S. 434.
5. Priester und Priestertum 435
Entwicklung des Priesterstandes S. 435. Benennung S. 436.
Priesterinnen; Tracht; Sitte S. 437. — Nebentätigkeit der Priester S. 438. —
Kultriten S. 438.
Sechstes Kapitel.
W eltanschauung.
!6. Geschichte der Welt 442
Die Völuspä S. 442. Der Dichter und die Tradition S. 441. —
1. Die Lehre vom Weltuntergang S. 444: drei Varianten.
Neuerungen der Völuspä S. 447. — 2. Die Lehre von der neuen
Welt S. 451 (Schluß der Völuspä christlich). — 3. Die Lehre von
der Weltschöpfung S. 453 (Zeugnisse; Ergebnis der Vergleichung
S. 457).
Xiy Inhaltsverzeichnis.
Se
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt 4
I. Äußere Ordnung der Welt S. 459: 1. Die Welten (a. Asgard
S. 466: die Burgen; Walhöll S. 467. b. Hei S. 468. c. Midgard S. 468). —
2. Geographische Beziehungen der Welten S. 469 (a. Allgemeines,
b. Grenze S. 476. c. Orientierung S. 471. d. Kartographie : Yggdrasil S. 474).
II. Innere Ordnung der Welt S. 480. — Alltagsleben und
große Momente in der Götterwelt S. 482.
Si ebentes Kapitel.
Geschichte der altgermanischen Religion.
Vorarbeiten. Zeugnisse. Schwierigkeiten S. 485.
§ 28. Religionsgeschichte
Vorstufen. — 1. Urgermanische Zeit S. 486. — 2. Junggermanische
Periode S. 488: a) Rheinlande (Runenalphabet; Frey; Lockerung der
lokalen Gebundenheit), b) Das übrige Deutschland S. 493 (Tyr und
Wodan): altdeutsche Religion S. 495; angelsächsische Reli-
gion S. 496. c) Norden: altnordische Religion S. 496. I. Erste
Phase: a) Schweden S. 498; ß) Dänemark S. 498; y) Norwegen S. 499;
ö) Union S. 500. — II. Zweite Phase S. 502 (Neue Dichtung: Härb., Lok.,
Vol., Häv., Vaf., Grim. S. 503) : Problem der Vergeltung. Neue Mythen-
kreise: a) Loki S. 507; ß) Odin S. 509; y) Balder S. 514; d) Ragnarok
S. 516. — Rückblick S. 521 (Unsterblichkeitslehre S. 521). - III. Dritte
Phase: Island S. 523.
§ 29. Systembildung
Allgemeines S. 525. — 1. Genealogie S. 527. — 2. Zählung S. 528
(mythologische — theologische). — 3. Klassifikation S. 532.
Achtes Kapitel.
Altnordische Theologie.
§ 30. Moralisierung 53
Treue. Gerechtigkeit. Weitere Ethisierung.
§ 31. Namengebung 5'
1. Altgermanische Götternamen S. 538 (12 Kategorien, die zugleich
indogermanisch sind). — 2. Jüngere germanische Götternamen S. 542. —
3. Nordisch-theologische Götternamen S. 544 (Grimnismäl S. 545. Vaf-
thrüdnismäl S. 550. Alvissmäl S. 551. — Snorri S. 551). — Namen der
Götterlieder S. 554.
§ 32. Charakteristik der Götter 5^
Beinamen S. 557. Epitheta S. 558 (Snorri S. 560).
§ 33. Kodifikation 5(
Erste Ansätze. Kosmologische Gedichte S. 563. Snorri S. 563.
Saxo S. 565. Quellen der Edda S. 566. Edda S. 567.
Neuntes Kapitel.
Geschichte der germanischen Mythologie.
8 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm 5(
Priesterliche Tradition. Denkverse. Prosaische Traditionen. —Saxo
S. 572 (seine Technik S. 574). - Pause in der Beschäftigung. Auffinden
Inhaltsverzeichnis. XV
Seite
der Edda S. 579. — Elias Schedius S. 579. — Mallet S. 580. — Fort-
schritte der allgemeinen Religionsforschung: Spinoza, R. Simon, Astruc,
de Brosses. — Deutschland: Leß S. 582. Rühs, Grundtvig und der
Kampf um die Echtheit S. 583. Der Kampf um die Methode S. 584:
Dupuis und Dulaure. Die Symboliker und J. H. Voß; Creuzer und
G. Herrmann S. 589. — Ergebnisse in Deutschland: Mone, Uhland S. 590.
15. Germanische Mythologie seit J. Grimm 592
1. Beschreibende Mythologie: J. Grimm S. 592 (was gegeben
war — was er schuf). W. Müller S. 596. Die beiden Petersen
S. 597. K. Simrock S. 597. — 2. Historische Mythologie: K. Müllen-
hoff S. 598. — 3. Vergleichende Mythologie (der linguistische Faktor
S. 601) : M a x M ü 1 1 e r S. 601 (Sagenvergleichung : J. G. v. Hahn, R. Köhler,
J. Bolte). — 4. Folkloristische Mythologie: W. Mannhardt S. 608.
Tylor S. 609. Kritik und Bedenken. (Die dynamische Gruppe S. 613.) —
5. Adaptionistische Mythologie: O. Gruppe S. 613. Vodskov S. 615.
Goblet d'Alviella S. 615. — 6. Folkloristisch-adaptionistische Mythologie:
Sophus Bugge S. 616. E. H. Meyer S. 618. — 7. Folkloristisch-
historische Mythologie: Herrmann Usener S. 620. Ed. Meyer.
Erwin Rohde S. 622 (Stilgeschichtliche Gruppe: U. v. Wilamowitz
S. 622, Ker, Heusler S. 623). — 8. Psychologische Mythologie: Themata.
W. Wundt S. 625. — 9. Umblick. Gegenwärtiger Betrieb (Über-
schätzung der niederen Mythologie S. 628. Überschätzung der ursprüng-
lichen Gleichheit S. 630. Anwendung).
J 36. Chronologie 632
ichträge und Berichtigungen 637
irzeichnis der besprochenen Stellen 639
;rzeichnis der besprochenen Mythen und Motive 642
egister 643
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Reg.: Reginsmal (Gering S. 195).
Schoning: Dödsriger i Nordisk Hedentro.
Sgdr.: Sigrdrifumäl (Gering S. 210).
Skäldsk. : Skäldskaparmäl (Gering S. 357).
Skirn.: Skirnismäl (Gering S. 52).
s. o. : siehe oben.
s. u. : siehe unten.
Thr. : Thrymskvida (Gering S. 18).
Vaf. : Vafthrüdnismäl (Gering S. 59).
Veg. : Vegtamskvida (oder Baldrs Draumar, Gering S. 15).
Vol.: Völuspä (Gering S. 3).
Vkv.: Völundarkvida (Gering S. 141).
Wissowa: Religion und Kultus der Römer.
Wuttke: Deutscher Volksaberglaube der Gegenwart.
Zs: Zeitschrift.
Ztschr. f. d. Alt.: Zeitschrift für deutsches Altertum.
Ztschr. f. d. Phil.: Zeitschrift für deutsche Philologie.
Ztschr. f. d. Wortf. : Zeitschrift für deutsche Wortforschung.
Ztschr. d. Ver. f. Volksk. : Zeitschrift des Vereins für Volkskunde.
Einleitung.
§ 1. Aufgabe und Umgrenzung.
Der Ausdruck »germanische Religionsgeschichte« bedarf
i allen seinen drei Teilen der Erläuterung.
Die Germanen sind, welches immer ihr anthropologischer oder
assencharakter sein mag, uns als ein Zweig der indogermanischen Sprach-
emeinschaft bekannt, die zugleich eine Kulturgemeinschaft war. Sie haben
ch aus dieser Gemeinschaft heraus zu einer eigenen Volksindividualität
itwickelt und haben diese in eigentümlichen nationalen Lebensäußerungen
ekundet, unter denen für uns Religion und Mythologie an erster Stelle
:ehen. Sie haben später großenteils zu einer neuen Kulturgemeinschaft,
er »antiken« oder hellenisch - römischen , Beziehungen unterhalten, von
enen ihre Eigenart hier und da gefärbt wurde. Aber auch andere Völker-
ruppen, die ihnen benachbart waren oder wurden, sind nicht ohne Ein-
luß geblieben; so die kulturell höher stehenden Kelten, die kulturell
iedriger stehenden Finnen. Durch das sehr verschiedene Maß solcher
•nwirkungen wurde ein Auflösungsprozeß beschleunigt, der aber längst
orbereitet war: die germanische Kultureinheit wich einer Vielheit von
estaltungen; die germanische Nationalität ging in scharf geschiedene
ämme auseinander: Deutsche, Angelsachsen, Skandinavier usw. Als dann
ndlich eine dritte große Kulturgemeinschaft, die des Christentums, das
:rbe der antiken antrat, waren es nicht mehr »die Germanen«, sondern
lie verschiedenen, sehr verschieden für die neue Religion vorgebildeten
germanischen Stämme, die in großen zeitlichen Abständen erst äußerlich,
lann auch innerlich in die neue Geisteswelt eintraten.
Diese verschiedenen Kulturgemeinschaften stehen aber zu demGermanen-
um in ungleichen Beziehungen. Innerhalb der indogermanischen Volks-
^rüderschaft sind die Germanen einfach Teilnehmer am geistigen Gesamt-
este, den sie jedoch unzweifelhaft früh zu vermehren und zu verändern
begonnen haben. Auf diese ihre Entwicklung übt die Entwicklung der
3esamtheit keinen wesentlichen Einfluß, da die indogermanische Gemein-
schaft schon stark auseinanderstrebt. — Dagegen hat die römische Kultur
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 1
2 Einleitung.
die Germanen, wo sie sie traf, sehr stark beeinflußt: sie stießen hier mfte
einer mächtig und organisch ausgebildeten Anschauungsgenossenschai
zusammen. So stark der Eindruck aber, etwa bei den germanischen Anj
vvohnern des Rheins, intensiv sein mochte, blieb er extensiv gering, da di
meisten germanischen Stämme und die vor allem, die das Germanentur
in der Weltgeschichte weiterführen sollten (so die Niederdeutschen, di
Nordgermanen), mit den Römern nicht unmittelbar zusammentrafen. Viel
mehr wurde den meisten fortlebenden Germanenstämmen die antike Kultui
deren Einwirkung den Goten und Vandalen verhängnisvoll geworden wall
erst mittelbar durch das Christentum übermittelt. — Dies nun hat au
alle noch vorhandenen germanischen Stämme sehr stark und bis in[
Innerste gewirkt, ohne doch übrigens auch nur bei den am entschiedenste
christianisierten Völkern die ererbte Eigenart völlig umzuformen.
Es folgt hieraus, daß der Ausdruck »germanisch« im Grunde nu
für diejenige Periode angewandt werden kann, in der eine bestimmt
Gruppe sich (durch sprachliche und kulturelle Neuerungen) aus der indo
germanischen Gemeinschaft ausgesondert hatte und noch eine im wesent
liehen gleichartige Einheit bildete. Es war jedenfalls die Zeit, in d
das spezifisch germanische Wesen am deutlichsten hervortrat, nicht meh
dem der indogermanischen Nachbarn gleich, und nicht durch die parti
kulareh Eigenheiten der Ost-, West- und Nordgermanen in seiner Ein
heitlichkeit bedroht. Damals hatte man sich der indogermanischen Kultu
entwunden und der antiken oder christlichen noch nicht unterworfer
Damals und im Grunde nur damals muß es eine eigentlich germanisch»
Kultur und mit ihr eine rein germanische Mythologie gegeben haben
Freilich, selbst damals kann diese Kultur, kann diese Mythologie vor;
fremden Einwirkungen nicht unberührt geblieben sein: die Germaner
lebten auf keiner einsamen Insel; aber die Selbständigkeit germanischer1
Wesens kann niemals größer gewesen sein als in jener Epoche.
Unser Ideal wäre also, die Kultur und damit auch Religion unJ
Mythologie der ungetrennten Germanen zu ergründen. Leider aber habe« |
wir dafür so gut wie kein Mittel; die unschätzbaren, aber kargen Nach i
richten der ältesten antiken Berichterstatter, einige zweifelhafte Schlüssi
aus der Sprache und zweifelhaftere aus dem archäologischen Material sincfl
alles, was unserem Wissensdurst entgegenkommt!
Immerhin ist schon von vornherein nicht zu bezweifeln, daß vor
diesem germanischen Bestand vieles in die spätere Entwicklung über
gegangen ist. Wie man auch die spätesten, von dem ursprünglicher!
Bestand der Religion am weitesten entfernten Konfessionen noch untei
den Begriff des »Christentums« mitzufassen pflegt, so nennen wir auch
die Religion der Isländer oder Angelsachsen noch »germanische Reli|
gion<. Es sind ja alles religiöse Lebensanschauungen von Germanen
§ 1. Aufgabe und Umgrenzung. 3
weshalb der — ebenfalls oft verwandte — Ausdruck »Religion der Ger-
manen« immerhin noch zutreffender ist.
Diese »Religion der Germanen« ist stark genug, um die griechisch-
römische Religion so ziemlich fernzuhalten, weil diese selbst kaum mehr im
propagationsfähigen Alter stand. Dagegen mußte sie vor dem mächtigen
•Ansturm der christlichen Mission weichen und konnte nur noch in ver-
hältnismäßig geringfügigen Resten, meist verkleidet und angepaßt, die
Christianisierung überdauern.
Demnach verstehen wir unter »germanischer Religion und Mythologie«
hier das gesamte Heidentum germanischer Nation und zwar erstens das
gemeingermanische und zweitens das auf germanischem Boden partikular
entwickelte, insbesondere das altnordische Heidentum. Das Ende ist uns
überall mit dem Durchdringen des Christentums gesetzt, das bei den
Angelsachsen um 597 beginnt und zuletzt um 1000 n. Chr. die Isländer
erreicht.
Es kommt uns darauf an, diese germanische Religion in ihren Grund-
zügen darzustellen und in ihrer Eigenart zu charakterisieren. Deshalb wie
aus methodischen Gründen ist eine gelegentliche Rücksicht auf allgemeine
mythologische Begriffe und eine gelegentliche Vergleichung mit fremden
Religionen nicht zu vermeiden. Natürlich aber gehen wir von dem ein-
heimischen Material aus und benutzen das fremde nur zur Deutung und
Ergänzung. —
Schwieriger ist es, über den Begriff »Religion« zu einiger Klar-
heit zu gelangen. Wir werden hierüber noch in einem eigenen Paragraphen
.u handeln haben; für jetzt gilt es nur, das Verhältnis der Begriffe
Religion« und »Mythologie« näher zu bestimmen1).
Lange Zeit hat man sie lediglich der Anwendung nach unterschieden,
ndem man den Ausdruck »Religion« für die monotheistischen Bekennt-
nisse reservierte und für alle anderen lediglich von »Mythologie« sprach.
Mit der Vertiefung des religionsgeschichtlichen Studiums hat sich das ge-
ändert; auch christliche Theologen reden jetzt ruhig von der altgermanischen
oder japanischen Religion, und namentlich seit D. Fr. Strauß' Leben
Jesu darf man auch von Mythen innerhalb des Christentums sprechen.
Diese berechtigte Änderung im Wortgebrauch hat nun aber wieder viel-
fach zu einer nicht ebenso berechtigten Gleichsetzung anderer Art geführt,
tso daß man bald unter dem Begriff »Religion« auch die rein mytho-
f'logischen Bestandteile, bald unter »Mythologie« auch die eigentlich religiösen
mit versteht. Zumal die letztere Freiheit ist (in Anlehnung an jenen älteren
]) W. Bousset, Das Wesen der Religion, Halle 1907; G. Simmel, Die
Religion, Frankfurt am Main 1907; H. Usener, Mythologie, Arch. f. Religions-
wissenschaft 8, lf.; W. Wundt, Völkerpsychologie 2, 3, 726 f.
4 Einleitung.
Sprachgebrauch) sehr verbreitet, und fast alle die Werke, die »Mythologief
der Germanen«, »Germanische Mythologie« u. dgl. betitelt sind, ziehen
die Religion mit hinein. Dies ist auch eine durchaus läßliche Sünde
und wir werden in diesem Band nicht selten von dieser Bequemlich
keit Gebrauch machen. Daneben ist doch aber wichtig, sich gegenwärtig
zu halten, daß die beiden Begriffe sich für die Religionen und Mythologien
der Alten und der Primitiven so wenig wie für die der neueren Völker
decken. In bestimmten Fällen kann man geradezu von einem Gegensatz
ihrer Tendenzen sprechen.
Religion und Mythologie haben das gemein, daß sie sich auf Über
sinnliches beziehen. In beiden wird eine Anschauung des nicht Anschau
baren erstrebt, in beiden eine Vergegenwärtigung des Unsichtbaren, ja
fast eine Materialisation des Unfaßbaren. Aber die Mythologie beschränk
sich auf eine rein geistige Vorstellung, die Religion begehrt praktische
Wirkung. Denn die Religion ist, trotz ihres allgemeinen, die Gemeind
oder den Stamm verbindenden Charakters, von allem Anfang an unlöslich
an das individuelle Erlebnis und das individuelle Bedürfnis gebunden
während die Mythologie durchaus im Kollektivbesitz der Gemeinschafi
ruht — so weit nicht eben persönliche Bedürfnisse sie religiös um-
formen.
Klingt dies etwas abstrakt, so sei es aus Beispielen verdeutlicht. Die
Vorstellung von einem Gott Apollon, wie auch wir sie noch als poetische
Fiktion besitzen, ist zunächst eine rein mythische. Gewisse geheimnisvolle
Wirkungen werden von einer gemeinsamen Ursache abgeleitet, die personi
fiziert als der fernhintreffende Gott erscheint. Nun aber bleibt es im Alter-
tum nicht bei dieser Vorstellung. Chryses, dem die Tochter geraubt worden,'
ist, wendet sich an diesen Gott, zu dem er in einem besonderen Dienst-!
Verhältnis steht, und fleht ihn an, den Räuber mit seinen Pfeilen zu durch
bohren. Hier haben wir einen Kultus: Chryses ist ein Priester des Apollo
eine Kulthandlung: das feierliche Gebet an den Gott; Religion: das per
sönliche Verhältnis, das sich in dem Kultus allgemein und in der Kult-
handlung speziell offenbart.
Ich kann also die heute vielfach (besonders seit den Forschungen
des Semitisten Robertson Smith) übliche geringe Einschätzung der Mytho-
logie nicht billigen. Eduard Meyer1) sagt etwa: »Die Mythologie isi
ein Appendix der Religion so gut wie die Theologie, nicht die Haupt-
sache.« Nicht die Hauptsache, das gebe ich zu: die Hauptsache ist in
der Tat die Religion, weil in ihr eine unendliche Entwicklungsfähigkeit
und zugleich eine wunderbare Festigkeit liegt, die beide der Mythologi<
abgehen. Denn auf das persönliche Erlebnis und das individuelle Be
') Geschichte des Altertums, 2. Aufl. I. 2. S. 780.
§ 1. Aufgabe und Umgrenzung. 5
lürfnis ist alle menschliche Evolution gestellt; und aus ihnen heraus
st die Religion, obwohl in ihren rein praktischen Anfängen niedriger
:u bewerten, als die poetisch freiere, uninteressierte Mythologie, schließ-
ich doch überall weit über ihre Schwester emporgestiegen. Sie ist die
iauptsache; ein Appendix aber ist die Mythologie schon deshalb nicht,
weil sie von der Religion überall vorausgesetzt wird. Jedes Opfer setzt
, >ine mythische Vorstellung voraus: ehe einem Fetisch oder einem Dämon
3eschenke dargebracht werden können, muß sich die Anschauung von
-inem Wesen, das durch Geschenke beeinflußt werden kann, gebildet
haben. Die Religion entwickelt sich auf Grund der Mythologie durch eine
fortwährende Auslese aus dieser. Deshalb geht es auch nicht an, zwischen
mythischen Gestalten mit und ohne Kultus einen prinzipiellen Unterschied
zu machen. Es ist nur eine graduelle Verschiedenheit, etwa wie die
katholische Kirche sie zwischen »Seligen« und »Heiligen« aufstellt: jene
dürfen, diese sollen angerufen werden. In derselben Weise kann jeden
Augenblick eine mythische Gestalt zu einer kultischen aufrücken. Unter den
Göttern der Edda sind gewiß viele, von denen wir nicht bloß zufällig
keinerlei Nachricht über Kult besitzen; das ändert nichts an ihrer Gleich-
artigkeit mit Thor und Freya.
Wir definieren also die Religion als die Summe derjenigen Vor-
stellungen und Handlungen, die auf einem persönlichen Verhältnis zwischen
Menschen und mythischen Gestalten beruhen — Vorstellungen von zu-
nehmender Innigkeit, die zuletzt zu der unbedingten Hingabe des Menschen
an seinen Gott führen; Handlungen von anfangs grob praktischem Zu-
schnitt, die allmählich zu symbolischer Bedeutung geläutert werden. Diese
einzelnen Handlungen nennen wir Kulthandlungen; setzen sich ihrer
nehrere zu einer geschlossenen Kette zusammen, so entsteht ein Ritus;
und die Gesamtheit der auf eine einzelne mythische Gestalt (oder auch
Gruppe) bezüglichen Kulthandlungen heißt Kult. Somit ist schließlich,
empirisch betrachtet, die Religion nichts anderes als die Gesamtheit der
von einer bestimmten Gemeinschaft ausgeübten Kulte samt dem dahinter
(mehr oder minder bewußt) stehenden Vorstellungskreis.
Wir geben aber zu, daß die eigentliche dauernde Bedeutung der Mytho-
logie (von ihrer ästhetischen und kulturhistorischen Wichtigkeit abgesehen)
in der Vorbereitung der Religion besteht. Die Mythologie ist die Lyrik,
aus der die »höheren Gattungen«, Epos und Drama, erwachsen, von der sie
i fortwährend ernährt und getränkt werden müssen und deren Bedeutung
doch nur ausnahmsweise die jener von ihr erzogenen Gattungen erreicht.
Wir wollen also vor allem die altgermanische Religion darstellen,
halten aber dafür eine eingehende Schilderung der Mythologie für un-
erläßlich. Es kommt hinzu, daß von dieser ungleich mehr überliefert ist
und sie auch durch die großartige Verschiedenheit ihrer Gebilde ein all-
ß Einleitung.
gemeineres Interesse darbietet als die in ihren Erscheinungsformen wesent-j
lieh gleichartige Religion x). —
Ist es durchaus üblich, von germanischer Religion zu sprechen, so ist
dagegen der Ausdruck Religionsgeschichte auf ihre Darstellung
noch kaum angewandt worden. In welchem Sinne läßt er sich auf dies
Thema anwenden?
Wie die moderne Naturforschung sich mehr und mehr der An-
schauung nähert, alles Geschehen sei lediglich auf Bewegung zurück-
zuführen, und ein Dualismus von beharrendem Stoff und bewegender
Kraft müsse abgelehnt werden (energetische Weltanschauung), so betonen
die Philologie und die Geschichtswissenschaft immer stärker, daß alle
Dinge in beständigem Fluß und jeder »dauernde Zustand« eine bloße
Abstraktion sei. Wie die Sprache, wie das Recht, so ist die Religion in
unaufhörlicher Entwicklung begriffen, die bei ^len dreien erst aufhören!
kann, wenn sie selbst absterben. Wir sahen schon, wie die Religion sich
fortwährend am Quell der Mythologie nährt, neue Kulte aufnimmt, ebenso!
aber auch alte aufgibt. Die Kultgebräuche selbst zeigen allerdings eine
gewisse Festigkeit ; doch wird auch sie überschätzt. So ist für den Kultus
zu allen Zeiten das Opfer unentbehrlich ; aber wir sehen, wie es sich von
Menschenopfern zu Tieropfern und schließlich zu symbolischen Opfer
gaben (z. B. Gebäck in Tierform) mildert. Ebenso ändern sich die Texte
der liturgischen Anrufungen. Die Kulte beeinflussen sich gegenseitig
positiv oder negativ, wie z. B. der Bilderdienst, den die Evangelischen
I
den Katholiken vorwerfen, zu einer weitgehenden Abneigung gegen jeden
Schmuck im Gotteshaus führt. Kurz, von dem allgemeinen »Gesetz deij
Umwandlung« ist die Religion nicht befreit, so gern das auch die Priester
zu allen Zeiten behauptet haben: die verhältnismäßig junge Sitte der
indischen Witwenverbrennung sollte uralt sein u. dgl. m.
Wenn wir also von der Religion etwa des skandinavischen Nordens
eine bestimmte Darstellung geben, so müssen wir immer mit der Möglich
keit rechnen, daß Dinge, die wir als gleichzeitig hinstellen, in Wirklichkeit
verschiedenen Momenten der Entwicklung angehören. Vor allem aber
müssen wir die religiöse Evolution innerhalb des weiten Zeitraumes, den
unsere Darstellung zu umspannen hat, stärker betonen, als dies zumeist
geschieht. Diesem Zweck dient eigens ein Kapitel über die Entwicklung
der germanischen Religion; aber auch sonst suchen wir die Ansätze
zu Fortentwicklungen nicht aus dem Auge zu verlieren und werden
manches in historische Ordnung zu stellen suchen, was gewöhnlich als
gleichzeitig behandelt wird.
') Über das Verhältnis von Mythus und Ritus vgl. meinen Aufsatz »Mytho-
logische Fragen«, Archiv f. Rel.-Wissensch. 9, 418 f.; Wim dt, a. a. O. S. 599;
vgl. dagegen Kauffmann und Schuck, Archiv f. Rel.-Wissensch. 11, 114.
Erstes Kapitel,
Allgemeine Voraussetzungen.
Die germanische Mythologie und die germanische Religion haben
zunächst Anteil an den Eigenschaften aller Mythologien oder Religionen;
sie sind weiterhin durch bestimmte historische Faktoren spezifisch bedingt.
Wir müssen über diese beiden Gruppen von Voraussetzungen , die all-
gemeinen und die speziellen, sprechen, ehe wir in die Darstellung der
germanischen Mythologie selbst eintreten *).
§ 2. Wesen und Begriff der Mythologie.
Wir pflegen die Gesamtheit der existierenden Dinge in zwei große
Klassen zu scheiden : solche, die sinnlich wahrnehmbar sind — Konkreta — ,
und solche, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind — Abstrakta. Diese
Scheidung ist uralt; schon die Indogermanen erkennen die Sonderstellung
gewisser Begriffe an, indem sie für dieselben besondere sprachliche Aus-
Irucksmittel (Abstraktsuffixe) verwenden. So sind Worte wie »Güte«,
»Falschheit« (in verschiedenen Sprachperioden) gebildet worden, um ge-
wisse Dinge zu bezeichnen, an deren Existenz niemand zweifelt, die aber
mit Auge, Ohr oder Tastsinn nicht zu erreichen sind.
Auf der Grenze beider Klassen stehen nun aber in unendlicher Zahl
die wichtigsten Erscheinungen. Zwar wir rechnen sie unbedenklich zu
den Abstraktionen; der primitive Mensch aber empfand ihre Wirkungen
so stark und unmittelbar, daß ihm die sinnliche Wahrnehmung dieser
Wirkungen zu dem Glauben an sinnliche Wahrnehmung ihrer Ursachen
wurde. Es handelt sich um das unbegrenzte Reich jener Dinge, die die
modern - wissenschaftliche Mythologie als »Kräfte« bezeichnet; es handelt
sich weiterhin um alle nicht wahrnehmbaren Ursachen starker Wirkungen.
Der Blitz schlägt ein — wir erklären das irgendwie mit den Gesetzen der
Elektrizität, der Naturmensch mit dem Willen irgendeiner Persönlichkeit,
die den Blitz schleudert. Ein Mensch wird plötzlich krank — die Bazillen,
') Vgl. allgemein M. Jastrow, The Study of Religion, London 1901.
*,
g Erstes Kapitel.
sagen wir; Verzauberung durch einen Hexenmeister, glaubt noch heute'!
abergläubisches Volk.
Die Mythologie ist weder geheimnisvolle Philosophie, wie die Roman
tiker glaubten, noch bloße Poesie, wie andere gemeint haben, noch bloß«
Torheit, wie die französischen Aufklärer annehmen mochten ; sie ist primitive
Wissenschaft, primitive Poesie und primitive Unfähigkeit im Denken au
einmal. Überall geht sie von Erfahrungen aus, von Erfahrungen des
Einzelnen, die sich denen seiner Genossen angliedern. (Man muß auf-
hören, mit dem unwissenschaftlichen Begriff des »Ersten« zu operieren
es gibt keine »erste Erfahrung«; der Mensch, der den »ersten Sonnen
Untergang« beobachtete, ist wie der »erste König« oder der »erste Schiff er<
ein poetisch-philosophisches Phantom der Aufklärungszeit. Jede Erfahrung
die ein Mensch macht, hat Vorgänger in den Erfahrungen seiner Vor
fahren.) Diese Erfahrungen geben uns ein Rätsel auf, ein durchaus prak
tisches: die angenehme Erfahrung, etwa einer erfolgreichen Jagd, weck
die Frage, wie er sie sich von neuem sichern kann; die schmerzliche
etwa ein Todesfall im Hause oder in der Familie, diejenige, wie er siel
davor schützen kann. Nun kennt der primitive Mensch, wie im Grund<
der moderne auch, die Ursache nur in einer begreiflichen Form: in de;
des Willens. Warum habe ich den Apfel gegessen? weil ich hungrig wa
und deshalb etwas essen wollte. Warum hat mein Herr meinen Mitsklavei
getötet? weil er zornig war und ihn deshalb töten wollte. Es ist als4
ein unvermeidlicher Analogieschluß, daß hinter jedem Ereignis ein Willi
gesucht wird. (Man sieht hier, wie primitiv der Grundgedanke in Schopen
hauers Philosophie ist!) Dieser Wille verlangt einen Träger, einet]
Wollenden. So erzeugt jedes unbegreifliche Geschehnis mythische Wesen]
Vor allem jede Störung des »normalen Verlaufs«, jedes Umbiegen de
geraden Linie: der Schlaf und gar der Tod, Krankheit, Sonnenfinsternis!
Man darf nun aber nicht an einen langsamen logischen Prozeß denken]
Vielmehr vollzieht sich diese Entwicklung mit größter Schnelligkeit. D
Primitive ist ganz auf Anschauung gestellt: hinter jeder Störung, hint
jedem unerwarteten Erfolg, schließlich hinter jedem Ereignis, das nichj
von ihm oder seinesgleichen unmittelbar abhängt, sieht er eine irgendwi
menschenähnliche Ursache1). Mythologie ist Anschauung des keiner A
schauung Fähigen und ist insofern auch Poesie, wie sie in dem Bestrebe
rerum cognoscere causas Wissenschaft ist. Vor allem ist sie Notwe
des Menschen gegen alles, was nicht seinesgleichen ist: indem er es sie
verähnlicht, macht er es sich zugänglich. Nun kann er gegen den Dämo
]j Wundts Mahnung (3, 643), der Mythus entspringe aus der Anschauung
nicht aus dem Nachdenken, ist, wie so oft, durch eine Verbindung beider Bd
griffe zu ersetzen.
§ 2. Wesen und Begriff der Mythologie. 9
kämpfen, zu dem Gott beten ; das ist seine Art, die Natur zu bezwingen
und ihre Gestalten sich Untertan zu machen.
In allen diesen Dingen stehen wir den »Naturmenschen« keineswegs
so fern, wie unser Hochmut wohl glaubt. Unsere erste Deutung unbegreif-
licher Phänomene ist auch heute noch mythologisch: das Kind schlägt
den Tisch, an dem es sich gestoßen hat, als habe »der böse Tisch« es
absichtlich gestoßen. Nur kommt bei uns die kontrollierende Tätigkeit
des Verstandes hinzu. Wie die mythenbildende Phantasie des Indianers
das Wunder der Schießwaffe zu anderen Wundern hinzudenkt, so
»apperzipiert« heute unser Verstand eine Explosion, deren Ursache wir
nicht kennen, zu anderen uns physikalisch verständlichen Phänomenen.
Sobald aber diese Kontrolle fehlt oder versagt, gerät auch noch heute das
Kind, der Schwärmer, der Geisteskranke unmittelbar in die vollste Mytho-
logie hinein *).
Die Mythologie setzt also jedesmal zwei Dinge voraus: ein »erregendes
Moment« , irgendeine (wirkliche oder vermeintliche) Tatsache als erstes,
und eine zu ihrer Erklärung erdachte oder vielmehr »erschaute« Gestalt
als zweites gerade wie jede menschliche Sprachäußerung zweierlei voraus-
setzt: eine Wahrnehmung — das Prädikat — und einen Träger der wahr-
genommenen Erscheinung — das Subjekt. Diese beiden sind für einen
»Mythus« unentbehrlich, aber sie genügen auch. »Es regnet«, das ist
eine Beobachtung; »Zeus regnet«, das ist ein Mythus. Ein Mythus ist ein
Eckchen Welt, angeschaut durch das Temperament eines primitiven Menschen.
Aber eben deshalb bleibt er bei der Hinzuerfindung einer lebendigen
Ursache zu einer unerklärlichen Erscheinung selten stehen.
Die unbekannten »Kräfte« sind von vornherein menschenähnlich, indem
sie das besitzen, was wir als unser wesentlichstes Eigentum empfinden:
einen bewußten Willen. Es ist weder richtig, wenn man von »Personi-
fikation« spricht, noch wenn man behauptet, für den ursprünglichen
Menschen sei alles belebt. Von Personifikation darf (in frühen Stadien;
späte Gottheiten wie Victoria oder Justitia sind gewiß Personifikationen)
nicht die Rede sein, denn der Neger »belebt« den Fluß nicht, sondern
hält ihn für lebendig. Aber auch das dürfen wir uns nicht denken, daß
1) Über die psychologischen Bedingungen der Mythologie vgl. besonders das
große Werk von W.Wun dt, Völkerpsychologie, Band II, Leipzig 1905. G. F. Lipps,
Mythenbildung und Erkenntnis, Leipzig 1909. Fr. Schultze, Psychologie der
Naturvölker, Leipzig 1900. Vgl. ferner Vierkandt, Naturvölker und Kultur-
völker, Leipzig 1906. Ed. Meyer, Elemente der Anthropologie (Gesch. d. Alter-
tums, 2. Aufl. I 1) Stuttgart 1907. H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur, Leipzig
und Wien 1900 (bes. S. 5521). — Meine Auffassung, daß sich die psychologischen
Probleme der Mythologie fast nur negativ (durch das Fehlen der Verstandes-
kontrolle) charakterisieren lassen, habe ich näher begründet in einem (noch nicht
erschienenen) Aufsatz des Arch. f. Rel.-Wissensch.
jq Erstes Kapitel.
der Mensch der mythologischen Perioden alles für lebendig gehalten habe.
Wohin hätte er sich retten sollen? er hätte kein Stück Holz anfassen, sich
auf keinen Stein retten dürfen. Vielmehr unterscheidet er bewußt zwischen
lebenden und unbelebten Dingen. Das tun manche Völker schon in der
Sprache; es ist das wohl auch von Anfang an die Meinung unseres
Neutrums« gewesen: die Indogermanen scheiden, was lebt, in männlich
und weiblich; was nicht lebt, gehört keinem von beiden Geschlechtern
an< _ Nun kann man in vielen Fällen wissen, ob es sich um lebendige
(d. h. »wollende«) Gegenstände handelt: Menschen und Tiere zeigen be-
stimmte Entschlüsse, machen Angriffe, wehren sich, sind also lebendig.
Von anderen Dingen kann man es nicht wissen: ob in einem Baum,
einem Fluß, einem Berg Willen steckt oder nicht, das ist nur durch Erfolg
auszumachen. Etwa wie die Gläubigen »Bilder ohne Gnad« von solchen
unterscheiden, die der Heilige mit einer Ausstrahlung seiner Wunderkraft
begnadigt — es gibt kein äußeres Kennzeichen ; hat das Bild Wunder, so
ist es eben ein Wunderbild *).
Wo nun aber einmal die Vermenschlichung durch Annahme eines
Willens stattgefunden hat, da schreitet sie auch weiter. Wie die Helden-
sage verschiedene Abenteuer, die eigentlich mehreren Helden gehören, dem
Einen Beowulf zuschiebt, oder auch wie unsere Wissenschaft verschiedene
Phänomene Einer Ursache (z. B. der Elektrizität) zuweist, so findet auch
hier eine Vereinfachung statt, indem die Beweger verschiedener Einzel-
tatsachen identifiziert werden. Es ist immer wieder derselbe Dämon, der
das Vieh verhext, oder derselbe Gott, der die Feinde schlägt. So wird
aus der immer noch ziemlich abstrakten lebendigen Ursache wirklich ein
lebendiges Wesen, dessen Zeit mit allerlei (wenn auch gleichmäßiger)
Tätigkeit ausgefüllt ist. Wir haben Gelegenheit, seine Taten zu vergleichen,
und haben Grund dazu, denn es ist für uns ungemein wichtig, zu wissen,
wann er das Vieh verhext, unter welchen Umständen er die Feinde schlägt.
So treibt schon der Urmensch jene »Psychologie de Dieu«, die P. Bourget
den Gelehrten seines Romans »Le dtsctple« aufstellen läßt. Und so ent-
steht dann wirklich aus Beobachtung und Vergleichung eine Psychologie
der Dämonen : einer ist boshaft, aber feig — man muß ihn schrecken ; ein
anderer ist dankbar, ein dritter höchst anspruchsvoll und empfindlich. So
schreitet der anthropomorphische Prozeß weiter; die lebhafte Phantasie
erschaut die Gestalten, bringt sie in Verbindung, läßt sie menschenähnliche
Schicksale erleben — kurz, die poetische Anschauung bildet jenen elemen-
taren Mythus der Gott regnet« zu einem romanhaften Mythus von ge-
stohlenen Regenkühen, Kampf und Befreiung aus2).
') Mehr hierüber s. unter > Animismus«.
2) Vgl. hierzu § 4 «Formenlehre der Mythologie «.
§ 2. Wesen und Begriff der Mythologie. 1 1
Ferner aber bildet sich aus jener Beobachtung und Vergleichung
auch die Lehre vom Umgang mit den Göttern heraus: es entstehen die
Kulte und Riten. Und es bilden sich aus jener Psychologie der Dämonen
gemütliche Beziehungen heraus: Haß, Furcht, Dankbarkeit, Liebe — Emp-
findungen, die in ihrer Anwendung auf übersinnliche Wesen religiöse
Gefühle werden. Wo auch nur das erste stattfindet (wir bemerkten aber,
daß es keineswegs immer stattzufinden braucht), da entsteht Religion1).
Durch die Ausbildung der Kulte wird nun aber etwas weiteres ge-
reizt und gefördert: die qualitative Vergleichung der »Kräfte«.
Wir kennen ja noch aus der Bibel von Moses und Pharao oder von
dem Propheten Elia den Wettkampf der Schutzgötter; wir wissen, daß
König Chlodwig seine Taufe von einer derartigen »Wette« abhängen
ließ. Solche Vergleichungen können nie gefehlt haben. Wie die Diener
in »Romeo und Julia« mit dem Ansehen ihrer Herren, so prahlen die
Gläubigen mit der Macht ihrer Schutzpatrone. Ferner: die Macht der
Verehrer strahlt auf die Verehrten aus. Ein Dämon, dem Häuptlinge
dienen, wird ein Häuptling unter den Dämonen; solche Umstände haben
noch in historischer Zeit die Vorherrschaft Wodans gefördert. Endlich
wirkt als allgemeines Mittel zur Orientierung auch hier die Analogie
menschlicher Verhältnisse mit. Auf Erden gibt es streng eingehaltene
Rangverhältnisse, gibt es Freundschaften, Sippen, Staaten; es wird unter
den übermenschlichen Wesen nicht anders sein. So bilden sich Rang-
stufen heraus, die für die Weiterentwicklung der Mythologie bedeutungs-
voll sind; so entstehen Ansätze zur Legendenbildung, indem Gottheiten
gruppenweise (etwa in Triaden) zusammengefaßt werden. Doch greift
dies schon in den Inhalt des nächsten Paragraphen über.
Dabei bleibt aber immer die Erfahrung der Hauptfaktor im Leben
der Mythologie. Ein jeder Kult, eine jede Kulthandlung ist ein Experi-
ment. Es gilt festzustellen, wie weit die Macht eines göttlichen Wesens
reicht. Es gilt festzustellen, welche Anforderungen ein jedes an seine
Diener stellt. Daher wird es wichtig, zu erkennen, welcher Gruppe,
welcher Klasse jeder Dämon angehört; zumal nachdem sich verschiedene
Stufen überirdischer Wesen ausgebildet haben. Es ist Sache des Anrufenden,
seinen Götzen richtig zu behandeln. Daher ist es wichtig, seine Klasse
festzustellen. Dem dienen die »mythologischen Rangzeichen«2).
Wie der Häuptling an seinem Federbusch, der Gemeindevorsteher an
seinem Stab , so ist der Gott an bestimmten Eigenschaften zu erkennen ;
x) Anderes über Religion im Verhältnis zur Mythologie M. Jastrow, The
Study of Religion S. 247, Schuck, Studier i Nordisk Litterater- och Religions-
historia, Stockholm 1904 S. lf.; vgl. Kauffmann, Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 113,
2) Vgl. meinen Aufsatz Zeitschr. für deutsche Philologie 31, 315, auch »Raub
des Rangzeichens« Arch. f. Rel.-Wissensch. 10, 88 f.
12 Erstes Kapitel.
gerade wie eine päpstliche Bulle bestimmte Bedingungen aufstellt, an derert
Erfüllung ein Heiliger zu erkennen ist1). Sind diese Eigenschaften mehr
abstrakter Art, weil sie nur die Klasse bezeichnen — Fähigkeit der Ver-
wandlung, Unverwundbarkeit, Allwissenheit und andere experimentell fest-
zukeilende Gaben — , so dienen der Erkenntnis individueller Gestalten die
Attribute, d. h. bestimmte konkrete Symbole: ein begleitendes Tier
(Odins Raben, die Tauben der Venus), ein tragbarer Gegenstand (Apfel,
Blitz, Schwert), eine körperliche Eigenheit (die Brüste der Fruchtbarkeits-
göttinnen, der Phallus der Fruchtbarkeitsdämonen) — genau wie solche
Attribute auch zur Individualisierung der Kirchenheiligen dienen2). Denn
zur Individualisierung treibt jener Prozeß der Beobachtung und Ver
gleichung mit derselben Notwendigkeit wie das Bedürfnis der An
schauung, und mit ihr erreichen wir die letzte Grenze der Mythologie,
soweit sie volkstümlich, soweit sie Lebensäußerung einer großen Kultur-
gemeinschaft ist.
Die Entwicklung der Mythologie besteht also in einem beständigen
Zuwachs von auf bestimmte Voraussetzungen gebauten Erfahrungen j
Daneben hat aber jede mythische Gestalt wie jede poetische ihr eigenes
Leben; praktische Rücksichten, z. B. das Interesse von Gemeinden und
Priesterschaften, wirken ein; fremde Einflüsse machen sich geltend. So
ist an eine logische Einheitlichkeit, an ein festes System nicht zu denken-
Die Mythologie ist, um einen Ausdruck Herders anzuwenden, ein
»System lebendiger Kräfte«, die denn auch gegeneinander wirken. Voi
allem haben wir uns deshalb vor einem prinzipiellen Eliminieren allei
Widersprüche zu hüten. Sie sind leicht wegzu interpretieren , aber zum!
Schaden der Wahrheit. Der Gott Odin bringt sich selbst zum Opfet
dar; ein anderer Gott stiftet die Klassen der »Gesellschaft», indem er bei|
ihren ältesten Vertretern einkehrt. Solche mythologischen Paradoxieni
kann die Logik so wenig auflösen wie die Antinomien neuerer Religionen
wir haben anzuerkennen, daß sie da sind. Ja, es gibt Fälle, in denen die
alte Überlieferung selbst sich am Spiel mit solchen Widersprüchen geüb
zu haben scheint, indem sie die Verwundung des Unverwundbaren, der
Tod des Unsterblichen, den Wettlauf der beiden schnellsten Tiere u. dgl
vorführte. Womit natürlich nicht jedem unerträglichen Widerspruch eir
Freibrief ausgestellt sein soll.
§ 3. Zur Formenlehre der Mythologie.
Wir sind bei unserer Auseinandersetzung über das Wesen der Mythologie
schon wiederholt in die »Entwicklung der Mythologie« übergeglitten
») Besonders die Wunderkraft; vgl. allgemein Görres, Christliche Mystik
Regensburg und Landshut 1836; H. Joly, Psychologie des Saints, Paris 1902.
2) J. v. Radowitz, Ikonographie der Heiligen, in seinen Schriften B 1, 1
§ 3. Zur Formenlehre der Mythologie. 13
beides läßt sich nicht streng trennen, denn das Wesen der Mythologie
'st wie das jeder lebendigen Macht Entwicklung. Ehe wir aber die Stufen
betrachten, in denen diese Entwicklung sich vollzieht, müssen wir noch
auf die Ausdrucksformen der Mythologie eingehen — ein Kapitel, das
man, sehr zum Schaden unserer Erkenntnis, viel zu sehr vernachlässigt
hat. Erst neuerdings zeigen sich in Dänemark Ansätze zum Studium der
mythologischen Morphologie; denn was dort an typischen Ausdrucksmittein
der »Heldensage« beobachtet wird, gehört vielfach ebenso der Mythen-
dichtung an x).
Es ist daran festzuhalten, daß die Mythologie, wie wir bereits be-
tonten, zwar ihrem Ursprung nach »Wissenschaft«, aber ihrer Form nach
»Dichtung« ist — womit durchaus nicht etwa metrisch geregelte Form
gemeint ist; denn die »innere Form« der Poesie ist wohl um Jahrhunderte
älter als die äußere. Die innere Form der Poesie aber wird dadurch
bedingt, daß die Dichtung Ausdruck gehobener Stimmung ist. Daher ist
dem naiven Menschen nichts weniger natürlich als der Naturalismus: die
Ausbildung einer »poetischen Sprache« ist überall selbstverständlich. Sie
gräbt sich so tief in das Bewußtsein des Volkes ein, daß man auf das
Gedicht die Terminologie des ältesten Kunstgewerbes anwendet: ein Ge-
dicht schmieden (ältestes Kunsthandwerk der Männer) oder weben (älteste
Kunstfertigkeit der Frauen). Auch für die Eigenart der poetischen Sprache
hat man eine so starke Empfindung, daß Hellenen und Germanen eine
»Sprache der Götter«, das heißt doch wohl: in der man zu den Göttern
spricht, von der Sprache der Menschen unterscheiden.
Auf die Einzelheiten, die diese poetische Sprache charakterisieren
(Bewahrung veralteter Formen, Streben nach schmuckvollen Klangwirkungen,
Durchführen symbolischer Nachbildung des Inhalts durch den Ausdruck)
haben wir hier nicht einzugehen, wohl aber auf gewisse Eigenheiten ihrer
Gesamthaltung, die für die Mythologie wichtig sind, weil oder insoweit
sie Poesie, und zwar alte, zum Teil primitive Poesie sind2).
Primitive Poesie ist idealistisch, d. h. jeder Gegenstand, jede
Person, die sie schildert, wird als in ihrer Art vollkommen dargestellt.
*) H. Gunkel, Genesis S. XVII f.: Kunstform der Sagen der Genesis (wichtig
und neu); Axel Olrik, Episke Love i Folkedigtninger (Epische Gesetze in der
Volkspoesie) Danske Studie 1908 S. 691; deutsch: Zeitschr. f. d. Alt. 51, 1 f. — Für
einige mehr äußerliche, aber doch nicht unwichtige Punkte R. Petsch, Neue
Beiträge zur Kenntnis des Volksrätsels, Berlin 1899; ders., Formelhafte Schlüsse
im Volksmärchen, Berlin 1900. Vgl. auch Müllenhoffs Einleitung zu seinen
Sagen, Märchen und Liedern aus Schleswig-Holstein und Lauenburg, Kiel 1845.
2) Über den Charakter der altgermanischen poetischen Sprache im Ver-
hältnis zu der altgermanischen Sprache überhaupt vgl. meine Altgermanische
Poesie, Berlin 1889.
14 Erstes Kapitel.
Die Poesie dieser Perioden hat es nur mit echten Repräsentanten des
Gattungscharakters zu tun.
Also: der König ist von unbegrenzter Macht, der Held von unver-
gleichlicher Tapferkeit; der Berg reicht bis zu den Wolken; ein Roß läuft
mit der Schnelligkeit eines Pfeils.
Hierher gehört vieles, was man als »märchenhaft« bezeichnet. Dieser
Ausdruck ist aber nur dann am Platz, wenn aus der hyperbolischen
Aussage Folgerungen gezogen werden, die überraschend wirken sollen.
Ob das der Fall ist, muß in jedem Einzelfall geprüft werden. Wenn ein
als Mensch verkleideter Gott acht Tage unverletzt zwischen zwei Feuern
sitzt, so ist das die einfache Konsequenz seiner göttlichen Natur; wenn
dagegen ein Riese eine Säule so wild ansieht, daß sie von seinem Blick
zerbirst, so ist das ein märchenhafter Zug, an dem die ungeheure Kraft
des Riesen frappant gezeigt werden soll x).
Es muß an dieser Stelle gleich einiges über das Verhältnis von
Mythus und Märchen bemerkt werden. Es ist in neuerer Zeit (besonders
von Wundt in seiner Völkerpsychologie) behauptet worden , das
Märchen sei als Gattung älter als der Mythus, v. d. Leyen (Sagenbuch)
setzt das als anerkannten Gewinn der Forschung voraus. Daß einzelne
Märchen älter sind als einzelne Mythen, braucht heutzutage nicht mehr
erst erörtert zu werden. Versteht man unter »Märchen« jede Erzählung
mit »unglaublichem« Inhalt, so stempelt man eben einfach den größten
Teil der Mythen zu Märchen; das aber darf man nicht, weil beide einen
völlig verschiedenen Stilcharakter haben. Versteht man aber (mit Wundt)
unter Märchen« das, was wir noch heute darunter verstehen: eine ab-
sichtliche Erfindung unmöglicher Dinge oder Handlungen, so halte ich
den Satz für durchaus falsch. Das Märchen als bewußte Erfindung ge-
hört, wie ich glaube, erst einer verhältnismäßig (verhältnismäßig!) jungen
Epoche an, als die Menschen aus dem träumerischen Glauben an die
Wirklichkeit aller Sinneswahrnehmungen zur Kritik überzugehen begannen.
Das Märchen setzt eine bewußte Unterscheidung des Möglichen und des
Unmöglichen voraus; für den Primitiven und für den Mythus gibt es
nichts Unmögliches. Das Märchen, das uns heute als Inbegriff der Naivität
erscheint, ist vielmehr die älteste nicht rein naive Dichtungsgattung ; es ist
von Anfang an, was es bei unseren Romantikern noch ist: eine Übung
der Phantasie, ein Spiel 2). Charakteristisch ist für das Märchen unter allen
Umständen, daß aus einer spezifischen Prämisse eine überraschende
Folgerung gezogen wird. Jedes Märchen hat gewissermaßen seine eigene
l) Vgl. allgemein v. d. Leyen, Das Märchen in den Göttersagen der Edda,
Berlin 1899; Gerland, Altgriechische Märchen in den Odyssee, Magdeburg 1869.
-) Vgl. meine Deutsche Stilistik § 180.
§ 3. Zur Formenlehre der Mythologie. 15
Mythologie, seine spezifischen Wunderwesen. Es gibt z. B. auch im
Mythus Dummheit : dumme Riesen werden von dem schlauen Loki betrogen,
törichte Weiber von anderen Göttern. Daß aber jemand so dumm ist
wie der Hans im Glück des Volksmärchens (denn für das Volk ist er
wirklich nur dumm, wenn er unserer gerührten Überbildung auch als
der wahrhaft Glückliche und deshalb Allergescheiteste erscheinen mag!)
— das ist außermythisch, das ist märchenhaft. Der Mythus will im-
ponieren, das Märchen will verblüffen.
Daher ihre Stilverschiedenheit, die wir so energisch betonen müssen,
weil wir sie späterhin öfters vorauszusetzen haben. Der Stil des Mythus
ist einfach; er enthält die epische Verknüpfung zweier Momente (z. B.
einer Not und einer Befreiung, einer Werbung und ihres Erfolges) und
bezieht sein Interesse aus der handelnden Persönlichkeit. Der Stil des
Märchens ist viel künstlicher; er enthält die epigrammatische Entwicklung-
eines Moments aus dem andern und bezieht sein Interesse aus der über-
raschenden Konsequenz seiner Prämisse. Der Mythus erzählt von einer
Jungfrau, die ein Gott in langen Schlaf versetzt hat; endlich kommt der
befreiende Held und erlöst sie vom Schlummer: der Mythus von der
Walküre Brunhild. Das Märchen führt zwei spezifische Bedingungen ein :
die Königstochter soll sich an einer Spindel stechen — und: sie soll
hundert Jahre schlafen. Nun muß also erstens in überraschender Weise
die Königstochter an die Spindel gebracht werden und zweitens das Jahr-
hundert des Schlafes vorgeführt werden (durch die verwilderte Hecke) —
das Märchen von Dornröschen. Mythen sind nicht epigrammatisch; sie
enthalten nichts, was nicht (vom Standpunkt ihrer Zeit!) als möglich ge-
dacht werden könnte; ihre Entwicklung besteht in rein epischer Ent-
faltung, nicht in logischer Auswicklung. In all diesen Punkten ist der
Stil des Mythus von dem des Märchens fundamental verschieden, was
natürlich Berührungen und Vermischungen x) nicht ausschließt, zumal mit
dem Fortschritt der Zeit unaufhörlich Dinge »unmöglich« werden, die
früher noch als »möglich« gedacht waren, bis schließlich kritischen Perioden
die ganze Mythologie »märchenhaft« scheint2).
Der Mythus also ist idealistisch und hyperbolisch, aber nicht märchen-
haft. Jene Tendenzen aber genügen, um ihn oft zu Superlativen gelangen
zu lassen, so daß es gleichzeitig mehrere »stärkste« oder »weiseste» Riesen
geben kann. —
Primitive Poesie ist ferner anschaulich, d. h. jeder Gegenstand,
jede Person, die sie schildert, wird phantasiemäßig wahrgenommen und
für das geistige Auge wahrnehmbar hingestellt.
*) Wie in Wundts überschätzten »Mythenmärchen«.
2) Unkritisch in der Verarbeitung guten Materials Fr. Linnig, Deutsche
Mythenmärchen, Paderborn 1889.
Iß Erstes Kapitel.
Hieraus vor allem ergeben sich eine Reihe von Ausdrucksmitteln, die
an den verschiedenen Enden der Welt mit überraschender Gleichmäßig-
keit wiederkehren, weil sie eben im Charakter der Mythologie als einer
primitiven Poesie begründet sind1).
Ich führe nur einige dieser Schemata an, die gerade auch für die
allgemeine Mythologie bedeutungsvoll sind.
Für das naive Bedürfnis nach Anschauung genügt die Aussage über
eine Eigenschaft nicht: man will Proben sehen. Wie es im modernen
Roman nicht genügt, wenn der Autor versichert, sein Held sei ein geist-
reicher Mann, sondern der Leser Beispiele verlangt, so muß sich auch
der starke oder weise Gott als stark oder weise legitimieren, und zwar
natürlich mit überzeugenden Proben. Derartige Belege brauchen mit der
eigentlichen Handlung nicht notwendig in Verbindung zu stehen. Die
Riesenstärke des als Braut verkleideten Thor wird an seinem Riesen-
appetit illustriert, wie das auch bei dem griechischen Herakles oder dem
indischen Pushan geschieht. Das ist eine Vorbereitung auf seine letzte
Kraftleistung, aber eben auch nur das, ohne selbständige Bedeutung.
Gerade aber hier ist auch wieder auf die Abgrenzung gegen das
Märchen hinzuweisen. Thors Appetit ist schon mit novellistischem Be-
hagen der Grenze genähert; dies ist eben auch nur ein schmückender)
Zug. Wenn dagegen ein bekanntes Märchen die Zartheit der Prinzessin
an der unter soundsoviel Matrazen und Betten versteckten Erbse offenbar
werden läßt, so ist das märchenhafte Übertreibung; natürlich hat nie
jemand das für möglich gehalten. So ist denn überhaupt ein Vergleich
der Klugheitsmärchen mit den Weisheitsmythen lehrreich: die märchen-
hafte Klugheit der Weinschnüffler bei Cervantes oder des Juden Abner,
der nichts gesehen hat, bei Hauff (bez. bei Voltaire) soll (wir wieder-',
holen unsere Schlagworte) verblüffen, die Weisheit Odins, der allein dad
kranke Roß zu heilen weiß, imponieren.
Wichtiger noch als diese Proben einer Eigenschaft ist die Um-
setzung einer Aussage in Handlung dann, wenn es sich um bestimmte
wichtige Momente handelt. Ein gutes Beispiel geben die »Vorzeichen des
jüngsten Gerichtes«.
Viele Völker haben die Vorstellung, daß ein Tag kommen werde, an
dem sich alles lockern werde, was jetzt als unerschütterlich gilt; besonders
auch (um es modern auszudrücken) in moralischer Hinsicht — eine Vor-
stellung, die als Konsequenz der unaufhörlichen Klage der nie fehlender
laudatores temporis acti leicht zu begreifen ist2). Diese Vorstellung wird
l) Vgl. meinen Aufsatz »Mythologische Schemata«, Arch. f. Rel.-Wissensch
10, 88. Legendenschemata: Saintyves, Les dieux S. 238 f., auch S. 261 f.
-) Vgl. Delbrück, Die gute alte Zeit, in seinen Erinnerungen, Reden und
Aufsätzen, Berlin 1902, S. 179.
§ 3. Zur Formenlehre der Mythologie. 17
nun aber nicht mit moderner Abstraktion ausgedrückt: »es lösen sich alle
Bande frommer Scheu«, sondern konkret und anschaulich, indem diejenigen
Dinge negiert werden, deren Existenz den ganzen moralischen Bau der
Gesellschaft verbürgt. Sie ist auf die Sippe gegründet; also ist das der
natürliche Ausdruck jener Vorstellung, daß die Edda sagt: »Es befehden
sich Brüder und fällen einander, die Bande des Bluts brechen Schwester-
söhne«. Das braucht also1) nicht aus Ev. Marc. 13, 12 zu stammen2).
Vielmehr ist beidemal nur der gleiche Gedanke mit poetischer Anschaulich-
keit ausgedrückt — der gleiche Gedanke, den Shakespeare im Lear3)
dramatisiert. Und weil er nur eine furchtbare Möglichkeit als erfüllt setzt,
kann er sich auch wirklich realisieren : der Papst, der Beatrice Cenci wegen
ihres am Vater begangenen Mordes begnadigen wollte, soll sie zum Tode
verurteilt haben, als ihm gleichzeitig von einem Vater gemeldet wurde, der
sein Kind tötete und (irre ich nicht) von einem dritten Mord innerhalb
der Sippe. »Sippe ist doch immer jedem das Liebste!« ruft noch ein später
christlicher altenglischer Schreiber4).
Und hier wieder illustrieren wir den Abstand von Mythus und Märchen.
Der Mythus setzt Dinge als wahr, die schwer glaublich, aber möglich sind.
Das Märchen spielt mit erfüllten Unmöglichkeiten: der Wald von Birnam
kommt auf Macbeth zu und ein sterblicher Mensch, den keine Mutter
gebar, tötet ihn.
Aus dem Bedürfnis der Anschaulichkeit folgt ferner die große Be-
deutung, die die Attribute im Mythus (und in der Heldensage) besitzen.
Zahlreiche Mythen beschäftigen sich mit Thors Hammer oder dem wunder-
baren Schmuck einer Göttin u. dgl. Nur aber wieder nicht so, wie im
Märchen (z. B. Tischlein deck dich), daß das Attribut sozusagen Haupt-
person wird, sondern so, daß es immer Objekt bleibt.
Spezieil für die Mythologie wichtig ist eine bestimmte Form der
Attributmärchen, die ich unter der Rubrik »Raub des Rangzeichens«5)
zusammenfasse. Die Stellung jedes göttlichen Wesens ist durch seine Klasse
bestimmt; diese wird durch ein Rangzeichen (d. h. ein generelles Attribut,
ein Attribut nicht der göttlichen Person, sondern der Götterklasse) be-
zeichnet. Verliert der Dämon sein Rangzeichen, so verliert er seinen Rang.
Davon handeln zahlreiche Mythen aller Völker: wie den Schwanen Jungfrauen
') Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 5, 21.
2) Wie E. H. Meyer, Völuspa, Berlin 1889, S. 184, annimmt: »Es wird aber
überantworten ein Bruder den andern zum Tode, und der Vater den Sohn, und
die Kinder werden sich empören wider die Eltern und werden sie helfen töten«.
3) Die Töchter wider Lear, Gloster wider seinen Sohn; Max Wolff,
Shakespeare 2, 190.
4) B ran dl, Altengl. Lit. S. 1079.
5) Arch. f. Rel.-Wissensch. 10, 88 f.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichle. 2
jg Erstes Kapitel.
das sie charakterisierende Federhemd geraubt wird, oder den Göttern das
Mittel unaufhörlicher Verjüngung u. dgl. Oder es wird ebenso das indi
viduelle Attribut geraubt: Thor, dem der Hammer gestohlen ist, ist nicht
mehr Thor1).
Gerade dies mythologische Schema (wie auch das vorige und das
folgende) haben zu unberechtigter Identifikation verschiedener Mythen ge
führt, die eben nur eine gemeinsame Einkleidung besitzen. Es ist — ich
muß mich selbst zitieren — , als erklärte man Johannisberger und Burgundej
für denselben Wein, weil sie in gleichartigen Flaschen aufgetragen werden
Häufig ist auch ein viertes Schema, bei dem wieder spezifisch
mythologische Motive anschaulich zu machen sind. — Eine große Zah
mythischer Figuren verdankt ihre Eigenheit nicht allgemein ihrem Wesens
sondern spezifisch einer einzelnen Tat, etwa ihrem Anteil an der Welt!
Schöpfung oder ihrer Tätigkeit in einem entscheidenden Moment (Noah)
Es entspricht den Forderungen der primitiv- poetischen Anschaulichkeit
daß die bedeutsame Singularität noch besonders hervorgehoben wircf
Dies geschieht durch die Formel: »Alle — außer«. Eine christlich
Legende erzählt, daß die Espe zum ewigen Zittern verurteilt sei, weil si
allein von allen Bäumen Christi Tod nicht beklagt habe. Ebenso spiel
in der altgermanischen Balderlegende der Umstand eine große Rolle, dal
von allen Wesen eines (der verkleidete Loki) über den Tod des hellet
Gottes zu klagen verweigerte.
Der Baidermythus enthält noch ein anderes Beispiel dieser mythische)
Schablone. Sie wird besonders häufig angewandt, um jene mythische:
Antinomien aufzulösen, von denen wir schon sprachen. Ein Held ist si
stark, daß ihn eigentlich niemand überwinden kann — außer einem. Eii
Gott kann eigentlich nicht sterben — außer wenn ... So entstehen di
Formeln der relativen Unverwundbarkeit. Achilleus wie Siegfried
sind nur an Einer Stelle verwundbar, ähnlich Isfendiar oder Frothos Drache2
Eine Tat kann nur mit Philoktets Bogen vollbracht werden; Balder kan
nur durch eine Waffe, die keine Waffe ist, getötet und Christus nach eine
spätjüdischen Sage nur an einem Baum, der kein Baum ist, gekreuzt
werden — alle außer diesem einen hat er »in Bann genommen«. Sigtryg
kann nur mit Gold getötet werden|3).
Ein anderes mythisches Lieblingsmotiv ist das von dem dienende
Gott, der sich für seine Knechtschaft rächt. Es beruht auf der Erfahrung
daß einem mächtigen Herrn sein Lieblingsgott jahrelang fast unbedingt z
l) Speziell hellenisch scheint dagegen das Mythenschema vom angemaßte
Rangzeichen, vgl. u.
) Saxo S. 38, Herr mann S. 77.
3) Saxo 1, 17; Herrmann S. 21.
§ 2. Zur Formenlehre der Mythologie. 19
gehorchen scheint — bis er ihn plötzlich umwirft. Napoleons Geschichte
würde in mythischer Formulierung lauten: er fesselte den Kriegsgott in
seinen Dienst, so daß Mars durch lange Jahre ihm gehorchen mußte;
schließlich empörte sich der Gott aber und schleuderte den Fürsten auf
eine einsame Insel, wo er zerbrach. — Übrigens kann auch dies mytho-
logische Schema bereits unter dem Einfluß der Heldensage stehen, in der
das Motiv vom dienenden und sich empörenden König naturgemäß be-
liebt ist1).
Endlich ist für jede Poesie unvermeidlich, daß sie eine Anzahl
symbolischer Handlungen einführt, die (anders als etwa jene Umsetzung
der moralischen Vorzeichen des Weltuntergangs in Handlung !) dem wirk-
lichen Zeremoniell annähernd entsprechen. Dahin gehören gewisse feier-
liche Begrüßungen, Ratsversammlungen der Götter in entscheidenden
Momenten, Verbrüderungen u. dgl. m. (Gerade solche rein typischen Hand-
lungen, wie z. B. die Handwaschungen, hat Jensen in den ungeheuerlichen
Mythenvergleichungen seines Buches »Gilgamesch in der Weltliteratur«
wiederholt zum Angelpunkt von Gleichsetzungen zweier Erzählungen
gemacht!). Oder es werden sonst typische Zustände durch symbolische
Handlungen (Verhüllen des Hauptes, Pfandsetzen u. dgl.) ausgedrückt. —
Poesie, selbst primitive Poesie, ist aber auch ferner an die Ent-
wicklung einer gewissen Technik gebunden. Soweit die Mythologie
Poesie ist, unterliegt sie mit zunehmender Entwicklung in zunehmendem
Grade den Gesetzen einer sich bildenden poetischen Kunst. Insbesondere
kommen von früh ausgebildeten technischen Hifsmitteln in Betracht:
1. die Erregung von Spannung durch retardierende Momente, indem
z. B. Thor den gestohlenen Hammer nicht sofort wieder erhält, nachdem
der Räuber gefunden ist, sondern erst noch schwierige Bedingungen
erfüllen muß;
2. die Steigerung durch zunehmende Verstärkung, z. B. die immer
schwereren Proben des Herakles. Die Steigerung geschieht in der Regel
in drei Stufen 2). Jedenfalls aber ist von mehreren parallelen Handlungen
die letzte die am stärksten betonte3);
3. die Zählung als Hilfsmittel wird gern auch da verwandt, wo es
sich nicht um Stufen der Steigerung handelt, und zwar werden nur typische
Zahlen4) verwandt.
Über den Ursprung und die Bedeutung der »heiligen Zahlen« ist
*) Saxo 1, 17; Herrmann S. 21.
2) Müllenhoff, a. a. O. S. XIII; vgl. auch Olrik, a. a. O. S. 81.
3) Olrik S. 83.
4) Über die typischen Zahlen der altgermanischen Dichtung — besonders
3 und 7 — vgl. meine Altgermanische Poesie S. 74 f.; allgemein Wundt S. 530 f.,
besonders S. 543.
2*
20 Erstes Kapitel.
in anderem Zusammenhang zu handeln; hier ist nur zu bemerken, daß
alle primitive Poesie (besonders auch die germanische) gern Gruppen von
drei Dingen (»Triaden«), von sieben Helden u. dgl. bietet. Ungerade
Zahlen werden durchweg bevorzugt (neben den Triaden Heptaden, Enneaden
mit 7 oder 9, d. h. dreimal drei u. a.).
Bei göttlichen Wesen ist die Zählung fast stets von allgemeiner
mythologischer Bedeutung: sie stellt eine Etappe auf dem Wege von un-
bestimmter Massen haftigkeit zu fest umschriebener Individualität dar. So
heben sich aus zahlreichen Dämonen Gruppen wie die der drei Schick-
salsschwestern, der neun Musen heraus (besonders charakteristisch die
7-8—12 Adityas1);
4. der Kontrast in der Zeichnung zweier Charaktere2). —
Die Mythologie ist aber nicht bloß Dichtung, sondern in gewissem
Sinne auch Wissenschaft. Einige Hauptformen des Mythus sind von hier
aus zu erklären.
Im allgemeinen führten wir den Ursprung eines Mythus auf eine
rätselhafte Naturerscheinung (das Wort im weitesten Sinne genommen)
zurück! Tod, Krankheit, Sieg sollen erklärt werden. Oft handelt es sich
aber um kleinere Probleme, Probleme von mehr zufälliger Art. Dahin
gehören drei Klassen von Mythen : die ätiologischen, ikonischen, etymolo-
gischen Mythen.
1. »Ätiologisch«, d. h. zur Begründung einer auffallenden Er
scheinung »erfunden«, sind eigentlich alle Mythen. Speziell nennt man
aber so diejenigen Mythen, die eine auffallende nicht typische Er-
scheinung, einen sonderbaren Brauch, kurz, etwas Singuläres erklären. Sie
sind namentlich bei den Kulturvölkern sehr beliebt, z. B. um seltsame
Eigenheiten von Tieren oder Pflanzen zu erklären, ebenso aber auch,
in der allgemeinen Mythologie: warum der Lachs am Ende schmal ist,
Solche »naturwissenschaftliche Sagen« dauern in der Gegenwart reich
lieh fort3).
Ebenso werden auch heute noch auffallende Eigenheiten mythisc
gedeutet: mehreren Prinzen, die auffallend hohe Halsbinden trugen, wurd
nachgesagt, daß sie eines Mordes wegen einen eisernen Ring um de
Hals tragen müßten, den das Tuch verberge u. dgl. m.
'jMacdonell, Vedic Mythology S. 130.
-) Olrik S. 77. Für weitere Einzelheiten der mythologisch-epischen Form
gebung verweise ich nochmals auf Olriks ausgezeichnete Studie.
)Dähnhardt, Naturwissenschaft. Volkssagen, 2. Aufl., Leipzig 1908
Sohns Unsere Pflanzen. Ihre Namenserklärung und ihre Stellung in der Mytho
logie und im Volksaberglauben, 4. Aufl., Leipzig 1907. v. d. Leyen, Sagen'
mVu' «m l\ ~ At,0,°gische Legenden: Saintyves, Les dieux, S. 151. - Zu:
Method.k Wundt 3, 303, 314, der diese Mythen »explikativ-biologisch« nennt.
§ 3. Zur Formenlehre der Mythologie. 21
Eine besondere, gerade im Norden reich entwickelte Gruppe der
ätiologischen Mythen bilden die besitzerklärenden Mythen, die
angeben, wie die Götter zu ihren Schätzen gekommen sind: Odin zur
Runenkraft und dem Dichtermeth, später auch zu Speer und Roß; Freya
zu ihrem Brustschmuck, Sif zu ihren goldenen Haaren. Nach der Methode
der Erklärung können sie freilich auch (wie vielleicht die beiden letzten)
ikonische Mythen sein : das hängt davon ab, ob die Tatsache des Besitzes
oder seine bildliche Darstellung zur mythischen Deutung gereizt hat.
Beliebt sind auch überall die Erfüllungsmythen, die eine Be-
dingung, einen Wunsch, eine Metapher in Wirklichkeit umsetzen1). Ein
Vater spricht den Fluch aus, der Sohn solle sich nicht von der Stelle
rühren können, und er bleibt durch Jahre an den Ort geheftet2); man sagt,
jemand sei so geizig, daß er keinen Schuh verschenken könne, ohne die
Riemen herauszuziehen — und das wird nun wirklich von einem König
erzählt3). Es sind gewissermaßen umgekehrte ätiologische Mythen.
Die ätiologischen Mythen werden im großen und ganzen nicht den
ältesten Perioden zuzurechnen sein, da sie schon ein eigentliches Nach-
denken über Einzelerscheinungen, ein Unterscheiden von normalen und
auffallenden Gestaltungen voraussetzen.
2. Das Gleiche gilt von den ikonischen Mythen schon deshalb,
weil sie die Anfänge einer bildenden Kunst voraussetzen. Irgendein auf-
fallendes Bild wird durch einen daran gehefteten Mythus erklärt. Auch
dies dauert bis in die Gegenwart fort; Th. Fontane erzählt noch von
einer Vergiftungssage, die durch ein Gemälde in einem märkischen Schloß
entstand 4).
Es ist aber nicht unmöglich, daß für die letzten Phasen der allgemeinen
Mythologie (Yggdrasill ?) die phantastische Ausdeutung von Skulpturen
und anderen Bildwerken bereits produktiv wurde.
3. Da in allen frühen Perioden der Eigenname eine große Rolle spielt
und Wortspiele mit Namen uralt sind5), so kommen denn auch etymo-
logische Mythen vor, die zur Erklärung auffallender Namen ersonnen
sind. Sie sind im Alten Testament nicht selten (vgl. auch im Neuen Testament
die Worte Christi an Petrus, den »Felsenmann«), gehören aber doch erst
J) Wundt, * Wunschmärchen« 3, 89 f.; Billiger, Die Materialisation reli-
giöser Vorstellungen, Tübingen 1905.
2) Deutsche Sagen I, 310.
s) Saxo: Hugletus S. 185; Herr mann S. 248; vgl. Eddica minora N. XXIII.
4) Vgl. meinen Aufsatz Ikonische Mythen, Zeitschr. f. deutsche Philologie
38, 169 f. ; Legenden: Delehaye, Les legendes hagiographiques, Bruxelles 1905,
S. 51, 92, 124 u. ö.; Saintyves. Les dieux, S. 122f.
5) Vgl. Altgerm. Poesie S. 296 f.
22 Ers tes Kapitel.
einer fast »gelehrten« Epoche an, die freilich auch in altgermanischer Zeit
schon hier und dort erreicht wurden x).
Die Etymologie besitzt übrigens auch außerhalb der Eigennamen
mythenbildende Kraft. Nicht selten geht die Mythologie auf den Pfaden
der Sprache, indem sie die wirkliche oder vermeintliche Urbedeutung eines
Wortes als Schlüssel für den Ursprung der Sache benutzt2). Was man
heutzutage »Volksetymologie« nennt: die Umbildung unverständlicher in
verständliche Worte reicht ebenfalls bis in die Urzeit zurück3) und ist früh
durch die »gelehrte* Tätigkeit der Mythologen unterstützt worden. (Be-
rühmtes Beispiel ragnarokkr »Götterverfinsterung«, seit Simrock Götter-
dämmerung«, für ragnarok »Göttergeschick« *).
Diesen drei Gruppen von Mythen ist ein gewisses Maß von Erfindung II
gemein. Eine Vermutung muß als solche zuerst ausgesprochen sein , ist
aber von späteren rasch als tatsächliche Begründung angesehen worden.
Ich hörte heute morgen, wie ein etwa vierzehnjähriger Junge seinen vom
Lande kommenden Eltern erklärte, der Berliner Tiergarten habe seinen
Namen von den »Tieren« auf dem Floraplatz: dort liegen nämlich große
Bronzefiguren vom Eber, Hirsch usw. von Siemering. Natürlich hat der Tier-
garten seinen Namen von den früher darin gehegten Tieren ; aber die neue
etymologische Deutung kann rasch zu einem geglaubten Mythus werden.
Solche Mythen haben daher auch in der Form meist etwas kunstmäßig Zu-
gespitztes: sie schließen fast stets mit einem Satz wie: »und deshalb heißt die
Stelle .... bis auf unseren Tag«, oder: »und deshalb haben die Ameisen
ein zerbrochenes Kreuz, wie man noch heute sehen kann«. Die unmittelbare
Erklärung eines Phänomens wird noch als Hauptsache empfunden, wogegen
bei den älteren Mythen das Bedürfnis nach Deutung einer Erscheinung
längst hinter dem Interesse an der mythischen Figur verschwunden ist. —
Dies dürften etwa die wichtigsten Eigenheiten der Formgebung in
der Mythologie sein. Man sieht, daß vieles einfach daraus zu erklären
ist, daß der Mythus eine Art Dichtung, ein Stück primitiver Wissenschaft —
und eben ein Teil der Mythologie ist. Deshalb ist jene Manier, die jede
Einzelheit ohne weiteres »deutet« und aus jedem Reflex der Kunstform
sofort einen »wichtigen Zug« macht, prinzipiell als voreilig und un-
wissenschaftlich zu verwerfen.
') Heiligenlegenden aus Lesefehlern: Saintyves, Les dieux, S. 97 f.; etymo-
logische Legenden: Delehaye a. a. O. S. 235; H.Günther, Legendenstudien,
Köln 1906 S. 72 (z. B. St. Expeditus!).
'-') Vgl. Zeitschr. f. d. Alt. 37, 4 f.
3) »Sündflut«, Flut zur Bestrafung der Sünde, für Sintflut »große Flut«; vgl.
allgemein Andresen, Deutsche Volksetymologie, Heilbronn 1883; O. Keller,
Lateinische Volksetymologie 1891.
4) Vgl. z. B. Mogk S. 882.
§ 3. Zur Formenlehre der Mythologie. 23
Endlich ist noch das stilistische Verhältnis der Mythologie zur Helden-
sage zu skizzieren.
Wir verstehen unter »Heldensage« die Gesamtheit jener epischen
Überlieferungen von den Taten und Schicksalen großer Vorfahren, die
fast jedes Volk in einem bestimmten Moment seiner Entwicklung aus der
Masse anders gearteter Traditionen heraushebt und als dichterische Kunde
von der vergangenen Heroenzeit fortpflanzt1).
Die Heldensage hat mit der Mythologie dies gemein, daß sie ihrer
inneren Form nach (auch sie nicht notwendig der äußeren Form nach!)
Poesie ist und daß sie sich dennoch als Bericht über wirkliche Ereignisse
gibt. Es ist ferner, wie beim Märchen, eine gewisse Berührung und Ver-
mischung mit der Mythologie eingetreten: mythologische Gestalten haben
(seltener als man früher annahm, aber in manchen Fällen zweifellos) Ein-
gang in die Heldensage gefunden, heroische Schemata und Ausdrucks-
mittel (detaillierte Kampfschilderungen, höhnisches Anreizen vor der Schlacht,
Festschilderungen u. a. ; besonders auch erotische Momente) hat die Helden-
sage mythologischen Dichtungen geliehen. Obwohl als Ganzes (wie das
Märchen) jünger als die Mythologie, ist die Heldensage doch wahrscheinlich
früher als die Mythendichtung zu fester Form (in Gestalt epischer Einzel-
lieder) gelangt; sie hat daher auf die uns erhaltene mythologische Poesie
noch einen starken Einfluß ausüben können, der sich besonders in der
Betonung moralischer Eigenschaften zeigt: treu und untreu; freigebig und
geizig; tapfer und feige2).
Trotz diesen Berührungen bleibt der Stilcharakter auch hier verschieden.
Insbesondere bleibt die Nähe der Heldensage zur Geschichte wichtig.
Sie zeigt sich namentlich in folgenden Punkten, die sämtlich für die
mythologische Erzählung im negativen Sinne charakterisiert sind:
1. die Heldensage haftet durchweg an einem bestimmten Ort, einer
genau bezeichneten Örtl ichkeit (Troja und das Schiffslager in der Ilias;
zahlreiche Örtlichkeiten in der Odyssee; der Wasgenstein in der Walthari-
sage, die Halle Heorot im Beowulf usw.). Die mythologische Erzählung
ermangelt zwar nicht durchweg lokaler Ausgangspunkte, gibt sie aber bald
auf oder läßt sie jedenfalls ganz unbetont; die ungeheure Mehrzahl der
Mythen aber besitzt überhaupt keinen lokalen irdischen Bodenpunkt-
1) W. Grimm, Die deutsche Heldensage, 2. Aufl., herausgegeben von
K.Müllenhoff, Berlin 1867. B. Symons Heldensage: in Pauls Grundriß der
germ. Phil., 2. Aufl. III 606 f. J. Grimm, Gedanken über Mythus, Epos und
Geschichte, Kl. Sehr. 4, 74. A. Heusler, Geschichtliches und Mythisches in der
germ. Heldensage, Berl. Sitzungsber. 1909, XXXVII. Allgemein vgl. W. Wundt,
Völkerpsychologie Bd. II.
2) Einfluß der heroischen Dichtung auf die mythologische auch sonst; vgl.
2. B. Drerup, Homer, München 1903, S. 110.
24 Erstes Kapitel.
Mythische Erzählungen, die an bestimmte Örtlichkeiten anknüpfen (wie
z. B. die Bergentrückungssagen vom Kyffhäuser und dem Unterberg), sind
von der Heldensage beeinflußt. Die einzige generelle Ausnahme bilden
Tempelsagen, die an einen bestimmten »Gnadenort« anknüpfen; aber auch
hier ist die Lokalisierung oft erst nachträglich eingefügt.
2. die Heldensage ist im gleichen Sinne auf einen bestimmten Zeit-
punkt festgelegt — natürlich den Zeitpunkt einer heroischen Zeitrechnung.
Gern wird durch Nennung von Namen, deren Träger an der Handlung
selbst nicht beteiligt sind (wie Odoaker im Hildebrandslied, Walter von
Aquitanien im Nibelungenlied) eine heroische Datierung angedeutet; oder
sie wird durch die Nennung des damals regierenden Herrschers gegeben.
Mindestens wird durch eine Einführung wie: »in alten Nachrichten steht« —
»alte Lieder erzählen« — eine Zurückschiebung auf der zeitlichen Bahn
betont. Dagegen spielt der Mythus im zeitlosen Raum. Die wenigen
Fälle, wo auch hier eine Anknüpfung an historische Daten vorliegt, sind
entweder durch Heroisierung geschichtlicher Persönlichkeiten (wie Hrölfj
Kraki) oder durch priesterliche Einfügung veranlaßt.
3. die Heldensage, als die heroisierte Erzählung von einer ganzen |
Geschichtsepoche, operiert mit einer großen Zahl von Personen
und liebt es, auch das einzelne »Ereignislied« mit Namen zu füllen. Die
mythologische Erzählung hat es dagegen nur mit wenigen Gestalten zul
tun. Ausnahmen finden sich auf beiden Seiten, aber immer motiviert:
eine »Götterparade« wie die Schilderung des letzten Kampfes muß natürlich
viele Namen bringen, und wenn Siegfried in der Einsamkeit aufwächst,
kann er nicht von vielen Helden umgeben sein.
4. die Heldensage hat überhaupt die Neigung zu detaillierter
Schilderung, insbesondere zur Beschreibung von Waffen und Kleidungen, j
Festen und Unterredungen. Wohl ist von dem knappen Stil der ältesten!
Einzellieder noch weit bis zu der epischen »Breite« der Volksepen1),
aber eine gewisse Neigung zum historischen Detail ist doch schon
den frühesten Urkunden eigen. In dem kurzen Hildebrandslied steht mehr
über die Ausrüstung der Helden als in der ganzen Edda über die der
Götter; wie Thors Hammer aussieht, erfahren wir nie, oft, wie ein Schwert!
geschmückt ist Es ist kein Zufall, daß fast überall heroische Epen ent-1
standen sind (Ilias und Odyssee; das persische Schahnahme; Mahabhärata;
bei uns Beowulf, Nibelungenlied, Kudrun), aber nur einmal unter ganz]
besonderen Umständen ein mythisches Epos: Kalewala bei den Finnen]
durch die Redaktionstätigkeit des gelehrten Lönnrot.
5. die Heldensage legt auf die gemütlichen Beziehungen der
l) Vgl. Ker, Epic and romance, London 1897; Heus ler, Lied und Epos.
Dortmund 1907; john Meier, Wesen und Werden des Volksepos, Halle 1909.
§ 3. Zur Formenlehre der Mythologie. 25
Menschen viel mehr Wert als der Mythus: Freundschaft, Haß, vor allem
aber Liebe sind in der Mythologie wohl überhaupt erst unter ihrem Ein-
fluß (wie schon bemerkt) zu einiger Entfaltung gekommen. Eigentliche
mythische Liebesgeschichten (Ares und Aphrodite in der Odyssee; Odins
Liebesabenteuer in den Hävamäl) stehen allemal unter dem Verdacht
später Entstehung oder sind (wie das nordische Gedicht Skirnisför) völlig
im heroischen Ton gehalten *).
Die Annäherung an den heroischen Stil würde in höherem Maße,
als es bisher geschehen, zur Deutung mythologischer Dichtungen benutzt
werden können — wenn wir nur über deren Entstehungszeit besser unter-
richtet wären!
Einige Momente, die auch für die Formengebung der Mythologie
nicht ohne Bedeutung sind, werden im nächsten Paragraphen noch zur
Sprache kommen. Jedenfalls aber genügt wohl schon, was wir anzuführen
hatten, um die methodische Wichtigkeit zu erweisen, die die viel zu wenig
gewürdigte Formensprache der Mythologie besitzt. Statt gleich
an die gefährliche »Deutung der Mythen« zu gehen, sollte man immer
erst ihre wissenschaftliche Interpretation versuchen. Was bedeutet es, wenn
eine bestimmte typische Handlung vorgenommen wird? was bedeutet
eine bestimmte Zahl bei Götternamen für deren Stellung in der Religions-
geschichte? sind bestimmte äußere Ursachen der Mythenbildung wahr-
scheinlich? Derartige Fragen, im Einzelfall natürlich häufig gestellt und
oft glücklich beantwortet, müssen generell gestellt und beantwortet werden^
wenn wir zu einer wirklichen »Grammatik der Mythologie«, zu einer
wissenschaftlich strengen Deutung der Mythen und Riten gelangen wollen,
wie vor allem Usener sie anstrebte.
Von größter Wichtigkeit ist dabei auch hier die Interpretation der
Texte — nicht bloß die sprachliche, sondern, wie gerade auch wieder
Usener betont , die psychologische. Moltke Moe hat vor kurzem 2)
einen Aufsatz über die »mythische Denkweise« veröffentlicht; in diese Art
des Denkens und mehr noch des Anschauens muß der Mythologe sich
eingewöhnen. Mehr noch! es genügt nicht, daß er »mythisch denken«
lernt — er muß sich auch die spezifische Anschauungsweise jeder einzelnen
mythologischen Periode anzueignen suchen, der fetischistischen wie der
animistischen oder götterverehrenden. Und endlich: er muß auch deren
Mischungen verstehen; denn kaum ein Mythus ist uns ja in »reiner« Form
erhalten — ganz »primitive Mythen« haben sich so wenig auf unsere Tage
x) Den Versuch, alle Heldensagen auf Mythologie zurückzuspitzen, machte
W. Müller, Mythologie der deutschen Heldensage, Heilbronn 1886. Mytho-
logisches im Epos vgl. z. B. W. Schwartz, Nachklänge prähistorischen Volks-
glaubens im Homer, Berlin; und besonders bei Rohde, Psyche.
2) In der Zeitschrift Maal og Minne, Kristiania 1909, S. 1 f.
25 Erstes Kapitel.
hin gerettet wie > jungfräuliche Urwälder«. Oft enthält ein Mythus in sich
bereits die Deutung, die eine spätere Epoche ihm gab: das animistische
Moment wird im Sinne der götterverehrenden Zeit umgedeutet und um-
gebogen, so daß wir es vergewaltigen, wenn wir diesen inneren Ent- [I
Wicklungen nicht nachgehen.
Hierin liegt eine böse Klippe für die Mythendeutung. Zunächst
verlangen viele Mythen überhaupt keine »Deutung«: sie sind ganz reine
Produkte der epischen Gestaltungslust, die mit gegebenen Personen und
Motiven erfinderisch schaltet. Soweit sie aber wirklich Deutung ver-
langen — und das bleibt wohl immerhin der häufigere Fall — , ist eben
die ursprüngliche Meinung nur zu oft von der jüngeren zu scheiden.
Auch im Altertum waren die Naturmythen einmal »Mode« und zwangen
manches in ihre Analogie, was von vornherein mit Sonne, Mond und
allen Sternen nichts zu tun hatte.
Edward Schröder hat seine epochemachenden Namenforschungen vor
allem auf den Grundsatz gebaut, daß wir zunächst die Eigennamen nicht
»erklären«, sondern ihre Gesetze ergründen sollten. Ähnliches gilt von der
Mythendeutung. Hauptgedanke muß deshalb bleiben, nichts zu isolieren,
aus dem Zusammenhang gerissen, verliert alles seine klare Erscheinung
und organische Struktur, und dann erhalten war die Mythenpräparate der
Stucken und Jensen statt lebendiger Mythen. Dies Verankern in Ort und
Zeit schützt auch vor dem allzu raschen Gebrauch der mythologischen
und folkloristischen Parallelen, durch den etwa Schwally seine »Semitischen
Kriegsaltertümer« sichtlich geschädigt hat1). Es gilt auch hier mit Ent-
sagung die ars nesciendi zu üben und die Dilettanten, die in der »rest-
losen Erklärung« eines alten Denkmals einen Triumph ihrer Methode sehen,
möge etwa H. Stuhls lustige »urdeutsche« Erklärung des altrömischen
Arvalliedes2) darüber belehren, daß eine lückenlose Deutung fast stets ein
Kriterium gegen die Richtigkeit der angewandten Methode ist!
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie.
Über einen der wichtigsten Punkte in der Entwicklung der Mythologie
mußten wir schon sprechen: wir sahen, wie fortwährend neue Mythen
entstehen und wie die Mythologie aus ihrem Vorrat beständig an die
Religion abgibt. Jede mythische Gestalt, die einen Kult erhält, jeder
Mythus, der zu einem Kult in feste Beziehung gebracht ist, ist von da
an bis auf weiteres gefestigt, der inneren Evolution anderer mythologischer
Gebilde entzogen. Freilich ist auch diese Festigkeit nur relativ; aber der
kultisch gesicherte Mythus hat doch dem »freien« Mythus gegenüber etwa
1) Vgl. auch Dibelius, Die Lade Jahwes, Göttingen 1903, S. 6.
2) Stuhl, Ein 3000 Jahre altes deutsches Sprachdenkmal, Würzburg 1909.
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 27
so viel mehr Bürgschaft der Erhaltung und etwa so viel mehr Schutz vor
Umformung wie das gedruckte Lied gegenüber dem nur mündlich über-
lieferten.
In diesem Sinne also gibt es unzweifelhaft eine typische Entwicklung
der Mythologie. Ist sie aber auch sonst, innerhalb der » eigentlichen«
Mythologie, vorhanden ?
Diese Frage ist ein Einzelfall des allgemeinen Problems, ob die Ent-
wicklung innerhalb der Menschheit im wesentlichen parallele Wege ver-
folgt oder nicht. Sie wird (von vermittelnden Richtungen abgesehen) in
zwei entgegengesetzten Meinungen beantwortet. Die psychologische
Richtung glaubt, daß aus der wesentlichen Gleichheit der Anlage und der
wesentlichen Gleichheit der umgestaltenden Faktoren sich für die nationale
Entwicklung im wesentlichen gleichartige Wege ergeben. (Die Wieder-
holung des Wortes »wesentlich« soll die Relativität dieser Gleichheit und
Gleichartigkeit unterstreichen.) Ihre Hauptvertreter innerhalb der Mythologie
sind jetzt die sog. Folkloristen (Man n hardt, Tyl or, Lang, Frazer u. a.).
— Die geographische Richtung glaubt, daß jede eigentümliche Bildung
das Produkt ganz spezifischer Bedingungen sei, die sich nur einmal und
an einem Punkte finden, und daß von hier dann durch Wanderung die
betreffende Bildung zu anderen Punkten gelangt sein müsse. Sie wurde
durch den berühmten Geographen Ratzel zu großem Ansehen gebracht,
ist jedoch in dieser Ausprägung innerhalb der mythologischen Forschung
nur schwach vertreten *). In naiver empirischer Weise aber wird die An-
sicht von der Ausstrahlung aller Religionen von einem Zentrum vielfach
vertreten, wie früher durch die romantischen Religionsvergleicher (Creuzer,
Kanne); so neuerdings besonders durch den »Panbabylonismus« der
Assyriologen (Hugo Win ekler2).
Zwischen beiden Ansichten steht die verhältnismäßig selten vertretene
Meinung, daß zwischen den Religionen der verschiedenen Völker über-
haupt keinerlei Beziehungen existieren, sondern jede an ihrem Ort boden-
ständig und selbständig erwachsen sei 3). Dieser Theorie, so geistreich sie
*) Am scharfsinnigsten durch O. Gruppe, Die griechischen Kulte und Mythen
in ihren Beziehungen zu den orientalischen Religionen, Bd. I, Leipzig 1887.
2) Vgl. allgemein Wund t, Völkerpsychologie; Edv. Lehmann, Die Anfänge
der Religion und die Religion der primitiven Völker in der Kultur der Gegen-
wart«, Berlin u. Leipzig 1906, Teil I, Abteilung III 1, S. 1 f . ; Breysig, Die Ent-
stehung des Gottesgedankens und der Heilbringer, Berlin 1905; dazu P. Ehren-
reich, Götter und Heilbringer, Berlin 1906. — Für die methodischen Hilfsmittel
zur Beurteilung der Streitfrage meine Kriterien der Aneignung, Leipzig 1906;
Wundt 3, 508 f.
8) Vodskov, Rig.-Veda og Edda, Kopenhagen 1890; vgl. die analoge Ab-
lehnung einer Vergleichung der verschiedenen Volksepen durch Nöldeke, Das
iranische Nationalepos, Straßburg 1896.
J
i
23 Erstes Kapitel.
verfochten worden ist, widersprechen zu laut die Tatsachen genauer Über a
einstimmungen zwischen national getrennten Gemeinschaften, als daß will
auf sie einzugehen brauchten.
Die geographische Erklärung ist in sehr vielen Einzelfällen unzweifel
haft allein berechtigt. Wanderungen von Kulten sind uns direkt bezeugt
wie aus dem römischen so aus dem germanischen Altertum. Eine jed<
Weltreligion ist durch Verbreitung von einem Zentrum entstanden, unc
gewiß hätten die Germanen so wenig das Christentum hervorgebracht wi< .
die Chinesen den Buddhismus, zu dem sie sich jetzt bekennen. Aber ej
ist doch auch bei Stämmen, die sich nie berührt haben, eine solche Über
einstimmung in gleichen Glaubensformen bei gleicher Kulturstufe be
obachtet worden, daß man mit der geographischen Methode allein nich
auskommt. Ferner hat man, was vor allem wichtig ist, eine überwiegende
Analogie in der Entwicklung auf den verschiedensten Gebieten nicht nui
behauptet, sondern auch erwiesen x).
Diese Analogien der Glaubensformen im Einzelnen sowie ihrer Ent
wicklung auf weitere Strecken sind für Mythologie und Religion durch
die Folkloristen« zur Evidenz gebracht worden, die in den volkstümlicher]
Überlieferungen der ganzen Erde wesentlich die gleichen Elemente unc
wesentlich die gleichen Tendenzen nachgewiesen haben2).
Es ist so eine »vergleichende Mythologie« neuen Stils entstanden, die
sich zu der früher so benannten verhält wie die Sprachvergleichung seit
J. Grimm und Bopp zu der vor diesen Meistern betriebenen: sie ver-
gleicht nicht mehr die fertigen Mythen, sondern deren Elemente und Ent
Wicklungstendenzen, wie jene nicht mehr die Worte, sondern die Wurzeln
und die flexivischen und syntaktischen Regeln. — Freilich fehlt noch viel,
daß die methodische Sicherheit der Linguistik erreicht wäre; Atavismen
1) Vgl. für frühe Stufen E. Grosse, Die Formen der Familie und der Wirt-
schaft, Leipzig 1895; Breysig, Der Stufenbau der Weltgeschichte, Berlin 1905;
für die Durchführung bis zur Gegenwart Lamprecht, Deutsche Geschichte,
Berlin 1891 f.; Breysig, Kulturgeschichte, Berlin 1900 f.; allgemein auch
H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur, Leipzig 1900.
2) Wichtig besonders W. Mannhardt, Wald- und Feldkulte, Leipzig 1875;
E. B. Tylor, Anfänge der Kultur, Leipzig 1873; J. G. Frazer, The golden
Bough, 2. Ausg., London 1900, 3. Ausg. im Erscheinen; Andrew Lang, Custom
and myth, 2 Ausg. 1885; R. Andree, Ethnographische Parallelen, Braunschweig
1878 u. 1889; die Flutsage ebd. 1891; Oobiet d'Alviella, La migration des
symboles, Paris 1891 (dem geographischen Standpunkt nahe). Für einzelne Er-
scheinungen z. B. Lukas, Die Grundbegriffe der Kosmogonien aller Völker,
Leipzig 1893; P. Saintyves, Les dieux successeurs des Dieux; Paris 1906; Les
Vierges meres, Paris 1908; A. van Gennep: Les rites du passages, Paris 1907.
Analyse der Grundelemente des religiösen Empfindens: W. James, The
vanet.es of rehgious experience, London 1902, deutsch von Wobbermin, Die
religiöse Erfahrung, Leipzig 1907.
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 29
dscher Vergleiche sind noch gar nicht ganz zu vermeiden, was auch für
ie oben genannten Schriften gilt *).
Wir stellen uns also auf den Boden dieser vergleichenden Mytho-
Dgie. Sie setzt im allgemeinen, wie schon betont, die überwiegende
jleichartigkeit sowohl der Völker als der Entwicklungsfaktoren voraus;
m einzelnen ist natürlich jedesmal zu prüfen, ob diese vorausgesetzte
Übereinstimmung nicht durch Störungen irgendwelcher Art (besonders
lurch Entlehnungen) getrübt ist. — Als besonderer Triumph der Methode
st es zu bezeichnen, daß schon wiederholt dunkle Punkte nationaler
Mythologien durch Vergleichung mit stammfremden Mythologien auf-
geklärt werden konnten 2).
Von den neueren Darstellungen der germanischen Mythologie ist die
roxi E. H. Meyer großenteils, die von Mogk durchweg im Sinne dieser
Anschauungen gehalten.
Was läßt sich nun ungefähr über diese typische Entwicklung
jer Mythologie aussagen 3) ?
Die folgende Entwicklung deckt sich mit keiner der von Wundt,
Edv. Lehmann oder anderen gegebenen Darstellungen, stimmt aber in den
Hauptpunkten mit diesen und der jetzt herrschenden Anschauung überein.
Es lassen sich etwa folgende Stufen der religiös-mythologischen Vor-
stellungen unterscheiden, deren Reihenfolge im ganzen eine Entwicklung
von Dunkelheit zu Klarheit und von völlig isolierten, weil individuellen
Konzeptionen zu zusammenhängenden Kollektivanschauungen darstellt:
1) Für die kritische Bearbeitung einzelner Mythen hat die klassische Philologie
bedeutendes geleistet; von hier gehen die wichtigen Schriften H. Useners zur
Mythenvergleichung und Religionsgeschichte aus. Für die altgermanische Philologie
ist die Bahn, trotz mancher bedeutender Vorläufer (Müllen hoff), eigentlich erst
durch Axel Olrik eröffnet.
2) Natürlich nicht immer durch Studien zur vergleichenden Mythologie,
sondern auch durch Werke nationaler Mythenforschung. Wichtig besonders
Robertson Smith, Religion der Semiten, übs. von Stube, Freiberg 1899;
Wellhausen, Prolegomena zur hebr. Religionsgeschichte, Göttingen 1878, 1895;
H. Gunkel, Die Genesis. 2. Aufl., 1902; Oldenberg, Die Religion des Veda,
Bd. 94; W. Röscher (u. A.), Ausführliches Lexikon der griechischen und römischen
Mythologie, Leipzig 1884 f.; Rohde, Psyche (zur griechischen Religionsgeschichte),
2. Aufl., Leipzig 1897; Usener, Götternamen, Bonn 1896, Die Sintflutsagen 1899,
Dreiheil 1903; Di eis, Sibyllinische Blätter, Berlin 1890; ferner die Schriften über
antik-christliche Religionsmischungen von Usener, Dieterich, Reitzen stein,
Wendland, Deismann u. a. Vgl. allgemein »Kultur der Gegenwart«, Teil I,
Abteilung III, 1: »Die orientalischen Religionen«.
Für die allgemeine Geschichte der Religionen: C. P. Tiele, Geschichte
der Religion im Altertum übs. von G, Gehrich, Gotha 1896; ders. , Kom-
pendium der Religionsgeschichte, 3. Aufl., bearbeitet von N. Süderblom,
Breslau 1903.
s) Vgl. Schrader, Sprachvergleichung unz Urgeschichte, S. 420 f.
«q Erstes Kapitel.
1. die ursprünglichste Gestaltung des religiösen Empfindens schein
zu sein, was Usener (»Götternamen«) entdeckt und »Augenblicks-
götter ' benannt hat. Irgendein beliebiger konkreter Gegenstand wird
unter dem Druck einer momentanen Erregung als »göttlich« angeschaut:
»in voller Unmittelbarkeit wird die einzelne Erscheinung vergöttlicht,
ohne daß ein auch noch so begrenzter Gattungsbegriff irgendwie hinein
spielte: das eine Ding, das du vor dir siehst, das selbst und nichts weiter
ist der Gott« 2). So eine Lanze, die den Feind getroffen hat; der Donner-
keil u. a. 3). Diese höchst primitive Form resp. Verehrung darf mit dem
äußerlich sehr ähnlichen Fetischismus nicht (wie es auch Usener tut) ver
wechselt werden : der Fetisch ist nur ein Sinnbild des Gottes, der als Augen
blicksgott verehrte Gegenstand der Gott selbst.
2. Wird nämlich diese mythologische Auffassung eines konkreten
Gegenstandes, mit der unmittelbar auch ein Kult verbunden ist, dauernd
festgehalten, über den erregten Moment hinaus gewahrt, so muß die un-
mittelbare »Anschauung des Gottes verloren gehen, und der Gegenstand
wird nur noch als Träger einer allverbreiteten geheimnisvollen göttlichen
Kraft angesehen. In gleicher Weise entsteht aber auch sonst unmittelbar
der Fetisch4). Als charakteristisch für den Fetisch erscheint mir5), daß
er mit bewußtem Willen eingesetzt ist: ein konkreter Gegenstand wird
zum Inhaber der göttlichen Kraft »gesalbt« 6). Der Fetisch kann daher'
auch, was sehr wichtig ist, abgesetzt werden: tut er seine Schuldigkeit
nicht, so wird er von dem Neger geprügelt und zerschlagen. — Allerdings
wird man aber annehmen müssen, daß zu der »Fetischisation« immer ein
besonderer Anlaß, eine Aufforderung vorlag : die merkwürdige Gestalt eines
Baumstumpfes oder Steins, seine wunderbare Herkunft7), sein Alter (er-
erbte Werkzeuge).
Der Fetischdienst ist über die ganze Welt verbreitet; der Speer des Mars
in Rom gehört hierher und wahrscheinlich auch der Hammer des Thor.
*) »Sondergötter« bei O. Schrader, Sprachvergleichung und Urgeschichte,
S. 435. Den Ausdruck hat auf Useners Veranlassung Edv. Lehmann zur
Wiedergabe des lat. dei certi geprägt.
2) Usener, S. 280.
3) S. 285 f.
4) Portugies. feitifao, Götze = facticium; vgl. Schrader, Reallexikon der
indogermanischen Altertumskunde I, 303; ders., Sprachvergleichung und Ur-
geschichte, S. 451; der Terminus wurde von dem geistreichen Franzosen de
Brosses in der Aufklärungsepoche eingeführt.
B) Vgl. Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 320.
6) Das Salben der Könige stammt vielleicht von dem ursprünglichen Putzen
des Fetisch; vgl. a. a. O.
7) Der schwarze Stein in der Kaaba zu Mekka wahrscheinlich ein Meteorstein;
Steinkultus auch bei Griechen, Germanen, Hunnen, Schrader, a. a. O. 2, 862.
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 31
Mit gereinigteren Empfindungen haben wir ähnlichen Kultus noch heute:
Fahnen, Reichsinsignien u. dgl. m. scheinen etwas von ihrer symbolischen
Bedeutung unmittelbar in ihren materiellen Bestandteilen zu bergen.
Der Augenblicksgott war individuell, der Fetisch ist zu allgemeinerem
Kult geeignet. Ein historisches Beispiel der Einsetzung eines Fetischs ist
uns vielleicht x) in der altnordischen Geschichte vom Völsi 2) erhalten.
Die große Ursprünglichkeit des Fetischdienstes wird durch die niedrige
Kulturstufe derjenigen Völker verbürgt, bei denen er (fast?) die einzige
Form der Religion ist. Daneben erhält er in der gleichsam symbolischen
Auffassung ein Element, das seine Fortdauer bis in die kultiviertesten
Zeiten ermöglichte. Man darf aber natürlich nicht an unseren Symbol-
begriff (die Ersetzung abstrakter oder doch nicht völlig realisierbarer Dinge
durch konkrete) denken. Allerdings ist der angebetete Stein für den Neger
nicht ein Gott, sondern ein Inhaber göttlicher Kraft, und diese wird an-
gebetet ; aber diese wird als ganz materiell in ihm anwesend gedacht. So
kommt auch in psychologischer Hinsicht das Primitive des Fetischismus
zum Ausdruck: eine gewisse Hilflosigkeit gegenüber den »Kräften«. Die
zugrunde liegende mythologische Anschauung ist einfach die, daß es ge-
heimnisvolle Mächte gibt — eine Erfahrung, die schon immerhin gegen-
über der naiven Anerkennung einzelner Götterdinger einen Fortschritt
bedeutet. Aber der Fetischist weiß nicht, wo dies geheimnisvolle Fluidum
zu fassen ist, und deshalb bannt er es an eine konkrete Stätte. Auch hier
die religiöse Paradoxie, daß der Gläubige sein eigenes Werk verehrt3)!
3. Wenn in dem Fetisch unklar die Macht angebetet wurde, so kann
eine weitergehende Abstraktion die Macht an sich verehren. Dies ist das
Wesen der zeitlich wohl am längsten ausgedehnten Religionsperiode: das
Wesen des vielfach ganz irrig beurteilten Animismus.
Wir sahen, daß die Scheidung des »Lebendigen« von dem »Un-
lebendigen« ein Urphänomen der Mythologie ist. Wert hat vor allem
das Lebende. Die Kraft nun, die das Lebende vom Toten scheidet, wird
verehrt. Das ist die mythologische Grundanschauung des »Seelenglaubens«
und »Seelenkults«.
Diese Kraft, die etwa eben unserem Begriff »Seele« entspricht, hat
viele Bezeichnungen. Sie versuchen eben alle, das Unfaßbare zu erfassen.
Diese Kraft heißt »Name« (weil erst mit dem Namen das Leben anerkannt
wird; vgl. die Benennung aller Tiere durch Adam oder die Namenverleihung
an die Urmenschen) oder »Geheimnis« (altgermanisch rund) oder »Seele»,
*) Gegen Heusler, Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 13, 30 vgl. Kauffmann,
Arch. f. Rel.-Wissensch. 8, 126.
2) Heusler a. a. O. S. 25 f.
3) Vgl. auch Hebbels Fragment »Moloch«, wo dem Motiv der Fetisch-
einsetzung allerdings eine andere Wendung gegeben wird.
32 Erstes Kapitel.
»Hauchs »Atem«. In der Mythologie ist es vielfach üblich gewordetl
fremde Ausdrücke dafür zu verwenden, um die Mißverständnisse ausj
zuschließen, die unsere einheimischen Benennungen erwecken. Zu einigdl
Berühmtheit hat es das orenda der Huronen gebracht1): >L'orendd\
c'est du pouvoir, du pouvoir mystique. II 7t' est rien dans la natur I
et, plus spicialement il n'est d'etre anime qui n'ait son orenda . . I
Les phenomenes naturels, comme l'orage, sont produits par Torendi *
des esprits de ces phenomenes«2). In Melanesien ist es3) das mana
das zugleich eine Eigenschaft (man könnte sagen: die Eigenschaft) un<
eine Substanz ist; es beherrscht die Dinge, läßt sich aber aus ihnen heraus
holen: »il est par natur e transmissible.« In Indonesien gibt es ein
Seele des Menschen, die identisch ist mit der »Lebenskraft, die die ganz<
Natur erfüllt«4). - Ebenso in den Religionen der alten Kulturvölker: »Der
Unterschied zwischen lebenden Wesen und unbelebten haben die Ägypte j
sich von jeher so gedacht, daß jenen eine besondere Kraft eingeflößt sei
die sie den Ka nennen«5); sie trennen den allgemeinen Ka von der indi
viduellen Seele, wie das früher für die Indonesier z. B. auch behaupte
wurde6).
Diese »Kraft« also ist es, die den Menschen zum Wollen und zum Handelr
fähig macht, ebenso aber auch alles, was sonst will und handelt, dazu be-
fähigt. Die Kraft also, diese allgemeine mythologische Konzeption, wird eine:
Kultus gewürdigt, sobald besondere Gründe vorhanden sind, die »Kraft
eines einzelnen zu fürchten oder von ihr etwas zu erhoffen. So wird die
animistische Mythologie zum religiösen Seelenkult namentlich bei folgenden
Kategorien von »Geistern«:
a) die Ahnen und überhaupt die Toten, auf deren Kult einzelne
Forscher (besonders J. Lippert) übertreibend alle Mythologie zurück
geführt haben. Die natürliche Ehrfurcht des abhängigen Kindes von dem
Vater überdauert das Grab; gleichzeitig aber besteht zwischen dem lebenden
Erben und dem gleichsam beraubten Vorbesitzer ein heimlicher Kampf.
Die mythologische Grundanschauung ist die, daß die Seele den (durch
ihr Entweichen leblos gewordenen) Körper noch längere Zeit umkreist:
sie kann sich schwer von ihm trennen. Daraus entsteht unter dem Ein-
*) Hubert et Mauss, Thiorie generale de la magie, in L'annee socio-
logique VII, Paris 1904, S. 113; vgl. Kauffmann, Aren. f. Rel.-Wissensch. 7, 132.
2) a. a. O.
8) Ebd. S. 108 f.
4) Juynboll nach Kruyl, Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 127.
*) Erman, Die ägyptische Religion, S. 88.
6) Über die beiden Arten, wie die folkloristische Mythologie die »Kraft« deutet,
vgl. van Gennep, Rites de Passage S. 8 (gegen Hubert und Mauss S. 3 Anm.;
vgl. auch S. 181).
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 33
iruck jener seelischen Störungen der aus Ehrfurcht und Furcht, ja fast
itwas wie schlechtem Gewissen wundersam zusammengesetzte Kult der
eigenen Ahnen und anderer für den Stamm wichtiger Toten. Unter den
Kulturvölkern haben die Römer ihn am kräftigsten entwickelt und am
reuesten bewahrt.
Der Ahnenkult ist von großer Wichtigkeit für die Fortentwicklung
jer Mythologie. Erstens wird hier zuerst eine regelmäßige Tradition
eingeleitet: jede festliche Gelegenheit zwingt, den Ahnherrn mit Opfern
i\x ehren, während die Anrufung des Fetisches vom Zufall des Bedürfnisses
ibhängig bleibt. Zweitens tritt hier auch zuerst die Pflicht des Kultus
ein: die Ehrung ist obligatorisch für den ganzen von dem Ahnen ab-
hängigen Stamm. So früh treten die Ansätze einer eigentlichen »Staats-
'eligion« hervor und so früh die Abhängigkeit jeder Kirche vom Staat1)!
Nur eine Spezialform des Ahnenkultes scheint der Totemismus zu
sein: die weit verbreitete Sitte, allerlei Tiere als Ahnherren des Stammes
mit Opfern und gesetzlichen Gebräuchen zu ehren. Die wahrscheinlichste
Erklärung der seltsamen Erscheinung ist doch wohl die, daß hier die
Vorstellungen von Totengeistern und Tiergeistern kombiniert sind: die
Seelen der Ahnen nahmen Tiergestalt an, und eine jener wunderlichen
Totemsäulen, auf denen von unten bis oben Wolf, Schlange, Adler usw#
übereinander geschnitzt zusammenhocken, würde also gleichzeitig einen
Stammbaum und einen Katalog der obligatorischen Totenopfer dar-
stellen. — Wie sich das aber auch verhalte, jedenfalls haben wir kein
Recht (wie das früher gern geschah), den Totemismus als eine mythologisch-
religiöse Durchgangsform anzusehen, die an innerer Notwendigkeit mit
den anderen auf gleicher Stufe stände.
b) Die Naturgeister, d. h. die Kräfte solcher Naturerscheinungen,
tie für den Menschen wichtig sind. Zunächst sind das wohl die »kleinen«,
die unmittelbaren Nachbarn und täglichen Besucher des primitiven Menschen:
der Strom, der überschwemmen und den Besitz wegreißen kann; der
Sturm, der die Hütte auseinanderreißt; die Regenwolke, der Blitz, das
Feuer, d. h. nicht das »Element«, sondern das einzelne im Wald oder auf
dem Heerd brennende Feuer. Erst später werden die »großen« Regula-
toren verehrt: Sonne, Mond, Himmel, Erde; jedem Bauern ist der Landrat
wichtiger als der Kaiser. Nach den Kompetenzgrenzen zwischen der Erde
und ihren Strömen, dem Himmel und seinen Planeten fragt dabei noch
keine überwitzige Theologie.
Durchaus muß aber betont werden, daß nicht die Naturerscheinungen
angebetet werden, sondern die in und über ihnen waltenden Kräfte.
*) Vgl. Sir A. C. Lyall, Presential Adress: Transactions of the 3. Congress
pr the History of Religions, Oxford 1908, I 1 f.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 3
«4 Erstes Kapitel.
Natürlich sind große Mißverständnisse möglich, wie sie noch heute ir
abergläubischem »Bilderdienst« begegnen: das Symbol wird für die Sach
selbst genommen. Sonst aber möchte man unseren guten alten Brocke
zitieren :
Fast die meisten Menschen meinen,
Wasser sei ein Element,
Das wir zwar nicht ganz verneinen;
Wenn mans aber recht erkennt,
Muß ja die Vernunft gestehen,
Daß, was wir von Wassern sehen,
Nur der Körper, der den Geist
Ganz verborgen in sich schleußt1).
Nur dieser » Geist des Wassers« wird verehrt. So bemerkt etwl
J. Raum2) für ein primitives Volk in Deutsch-Ostafrika: »Die Dschagg^
sind nun aber keineswegs, wie man gemeint hat, Sonnenanbeter, sondert
Ruwa ist ein geistiges Wesen, das auf der Sonne resp. auf dem Himmels
gewölbe seinen Sitz hat3).«
Schon deshalb führt von hier kein Weg zu dem Universalmittel dej
Erklärung aller Mythen als »Naturmythen«, wie C F. Dupuis4) si
zuerst in großem Maßstab versucht und später Max Müller (für dil
Sonne), Schwartz (für das Gewitter), La i st n er (für den Nebel) sie durch]
geführt haben; augenblicklich macht es Siecke und seine Gesellschal
für vergleichende Mythenforschung mit dem Mond und wird dabei voj
anthropologischer Seite ermutigt5). — Ein Beispiel für die Gefahren dd
Naturmythologie auch bei verständigerer Handhabung! Die vedische Gotj
heit Apäm napät wird6) gedeutet als eine Wassergottheit — eine Feueil
gottheit — der Mond — die Sonne — der Blitz! Die »Naturgeister,
sind eben völlig gleichartig mit anderen Geistern, und deshalb sind etw
die Laren oder Penaten so wenig auf Naturgottheiten zurückzuführen wi
umgekehrt; und gar jene »großen Naturgötter« sind (trotz einigen auf dil
Sonne deutenden Spuren) schwerlich als Mittelpunkte nationaler Mythologie]
denkbar: die sind partikularistisch und nicht kosmopolitisch und verlange
individuelle Beziehungen.
1) »Irdisches Vergnügen in Gott«, »Das Wasser«, S. 301, Str. 19 dd
4. Auflage.
2) Arch. f. Rel.-Wissensch. 10, 293.
8) Im Veda steht Sürya, der Sonnengott, noch neben einer rein sachliche
Behandlung der Sonne (Macdonell S. 31).
4) Origine de tous les cultes ou Religion universelle 1809; Neudruck Paris 186^
B) Vgl. Ehrenreich, Deutsche Literaturzeitung 1909, S. 753; s. dagege
über Sieckes Urreligion der Indogermanen , Breslau 1907, das sachverständig
Urteil von Detter, Ark. for nord. Fil. 17, 93.
6) Macdone1! S. 170.
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 35
c) Die wilden Tiere, zumal die gefährlichen, sind ebenfalls Be-
sitzer von Willen und Kraft. Die in ihnen hausenden Geister müssen
durch Kult besänftigt werden; zuerst gewiß wieder der Wolf, den man
wirklich im Walde heulen hört, das Krokodil, das gestern ein Kind ge-
raubt hat. In Ägypten, dem klassischen Lande des Tierkultus x) wird noch
in der Römerzeit einer erschlagenen Giftschlange eine gefühlvolle Grab-
schrift gesetzt2), gewiß um ihren Geist zu versöhnen; und wenn Christus
die Dämonen Besessener in die Säue fahren läßt, herrscht gewiß noch
die Anschauung vor, daß die unruhigen, schmutzigen Tiere die Behausung
von Dämonen sind.
Der Tierkult hat im allgemeinen schwerlich die gleiche Ausdehnung
besessen wie Ahnen- und Naturgeisterverehrung. Er ist auch zumeist
rasch überwunden worden : die Götter wurden (aus noch zu erörternden
Gründen) vielfach in Tiergestalt verehrt und lösten so die Tiergeister ab8)
wobei freilich Verwirrung nicht ausbleiben kann4). Die früheren Tier-
bilder der Götter sind dann später (s. u.) oft zu deren > Attributen« ge-
worden 5).
4. In diesen drei Stadien finden wir als gemeinschaftliche mytho-
logische Grundanschauung die einer Kraft«, die nützen und schaden
kann und auf die deshalb eingewirkt werden muß, damit sie nützt, und
vor allem, damit sie nicht schadet. Jede dahin zielende Tätigkeit wird zu
einem Kult; jeder Bericht über eine Leistung, die eine jener Kräfte voll-
bracht haben soll, wird zu einem Mythus.
Ferner aber ist der Phase der Augenblicksgötter, derjenigen des
Fetischismus und derjenigen des Animismus noch ein wichtiger Punkt
gemein: die lokale Gebundenheit der Kräfte. Der Gott sitzt in
dem Donnerkeil, in dem Pfahl, oder er ist mit dem Körper von Mensch
oder Tier verbunden (auch noch nach dem Tode, denn er hält sich in
dessen Bezirk); er wohnt im Strom. Aber schon so weit können wir
doch eine zunehmende Lockerung erkennen. Der Augenblicksgott ist mit
dem verehrten Objekt schlechterdings identisch ; der Fetisch schon ist nur
sein Aufbewahrungsort; der >Geist« aber hat eine relative Bewegungs-
freiheit, die bei den Totengeistern am deutlichsten hervortritt.
Der für die ganze Entwicklung der Mythologie vielleicht folgen-
reichste Schritt geschieht nun, indem diese materielle Gebundenheit völlig
!) Vgl. Erman, a. a. O. S. 176.
2) Ebd. S. 220.
3) Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums, 1. Aufl. 2, 98; Schrader, Real-
lexikon 2, 677.
4) Vgl. z. B. Erman, S. 25.
5) Eine sicher übertriebene Bedeutung legt dem Tierkult neuerdings Breysig,
Entstehung des Gottesgedankens, bei.
3*
oa Erstes Kapitel.
aufgehoben wird. Wohl bleibt noch lange ein Substrat für die göttliche
Kraft erwünscht; aber es erscheint als von ihr selbst willkürlich gewählt.
Aber an sich werden sie nun als »reine Kräfte« gedacht, die unfaßbar in
der Welt umherfahren: dies ist die Stufe des Dämon ismus.
Es ist die höchste Stufe, die von allen Völkern erreicht werden
kann. Die nächste, die der Götter, unterscheidet kulturfähige von dauernd
primitiven Völkern. Man faßt daher auch diese vier Stufen als die der
niederen Mythologie zusammen und stellt ihr die Götterverehrung
als höhere Mythologie gegenüber. In der Tat liegt aber zwischen
den drei ersten Phasen und dem Dämonismus eigentlich eine viel schärfere
Scheidung als zwischen den beiden höchsten Stufen.
Es handelt sich um einen Prozeß, der sich bei allen höheren Lebens-
äußerungen wiederholt. Es ist kaum zu bezweifeln, daß der primitive
Mensch wie das Tier nur sprach, wenn er auf eine Reizung unmittelbar
reagierte. Die Loslösung der Mitteilung von ihrem unmittelbaren Anlaß,
in der eigentlich der gesamte Vorzug der Menschen- vor der Tiersprache
besteht, mußte erst langsam errungen werden. — Ebenso hat namentlich
Herder oft betont, daß alle Poesie der Vorzeit unmittelbar an einen
bestimmten Anlaß gefesselt ist; erst die Bildungsdichter (auch schon des
Altertums) besingen längst vergangene Ereignisse. — So also ist auch die
Vorstellung der Kraft zunächst an einen bestimmten Träger gebunden, bis
sie sich loslöst und eine »reine Anschauung« möglich wird.
Natürlich darf man sich diese Entwicklung nicht als eine rein ge-
dankenmäßige, logische denken. Auch sie ist an bestimmte Erfahrungen
gebunden. Unerklärliche Störungen des normalen Verlaufs werden be-
obachtet, die doch durch eine ganz bestimmte Verletzung hervorgerufen
scheinen: beim »Hexenschuß« plötzlich eine Empfindung, als dringe ein
Pfeil in die Schulter, und nichts in der Nähe, was ihn entsandt haben
könnte; oder ein unerklärliches Geräusch u. dgl. Solche Dinge sind
wohl zuerst auf unsichtbare Kräfte — auf Dämonen — zurückgeführt
worden.
Die unermeßliche Bedeutung dieser Neuerung liegt nun aber wieder
in einer mythologischen Antinomie. Das Volk will eben sehen; das
Bedürfnis nach Anschauung liegt ja aller Mythologie zugrunde. Eine
abstrakte Kraft, eine Ätherwelle etwa mag sich der zur Abstraktion er-
zogene Mensch unserer Zeit vorstellen können (Gottfried Keller konnte
es nicht und sah die Begriffe der Anatomie, als er bei Henle in Heidel-
berg hörte, in Anschaulichkeiten verwandelt) — der Primitive kann es
jedenfalls nicht. Die Kraft, die sich bewegt, einen Willen hat, uns ver-
letzt, bedarf einer gewissen Körperlichkeit. So entsteht auf dieser Stufe
zuerst die Aufgabe, den übersinnlichen Wesen eine anschaubare Form zu
geben — die Aufgabe, aus der die höchste Kunstleistung der Welt, die
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 37
hellenische Skulptur, hervorgewachsen ist; freilich auch die Aufgabe, die
einen rein geistigen Theismus nahezu undurchführbar macht.
Die an ein Substrat gebundenen »Überwesen« haben eben schon eine
Form: die des Steins, des Stroms. Das ist freilich eigentlich nur ein
Kleid, das ihre wirkliche Form nur verbirgt; aber es genügt der Vor-
stellung. Wie aber soll ich mir die Macht vorstellen, die mir plötzlich
einen Schmerz in den Arm zaubert? Es bleibt nur möglich, zu den be-
kannten Gestalten anderer wollender Wesen seine Zuflucht zu nehmen:
tier- oder menschenähnlich werden sie wohl sein. Aber gleichzeitig er-
wartet man doch, daß sich ihr Wesen deutlicher in der Erscheinung aus-
spricht. Einen bösen Dämon stellt man sich mit bösem Ausdruck vor,
vielleicht wie ein tückisches Tier oder wie einen bösen Feind. Die Phy-
siognomik beginnt zu arbeiten, bis sie in den Göttergestalten des Olymps
für Weisheit, Jugendfrische, Kraft den denkbar höchsten Ausdruck — in
Menschenform gefunden hat.
Noch aber wirkt solcher Gestaltung eine wichtige Tatsache entgegen.
Unzählig drängen sich die Dämonen auf; sie erfüllen alles; nirgends ist
man sicher, daß nicht einer von ihnen lauert. (Man denke wieder an unsere
modernen Dämonen, die Bazillen !) Diese Massenhaftigkeit wirkt zunächst
einer strengen Durchbildung der Form entgegen. Auch konkurrieren noch
zu viele Versuche, das Unfaßbare zu fassen ; sie finden ihren mythologischen
Ausdruck in der Wandlungs- und Verwandlungsfähigkeit der Dämonen,
wie ihre ursprüngliche Formlosigkeit ihn in der Annahme von Riesen-
und Zwerggestalten findet.
Aber damit ist die Bedeutung des Dämonenglaubens für die Ent-
wicklung der Mythologie noch nicht erschöpft. Auch diejenige Auffassung
sprießt hier empor, die alle Religion umgestalten soll : die ethische Be-
wertung.
Die »Götter« der niederen Stufen sind wirklich »jenseits von gut und
böse« : es kommt lediglich darauf an, ob sie dem Opfernden günstig sind
oder nicht, und bei dem Fetisch noch darauf, ob er tüchtig ist, d. h.
leistet, was von ihm verlangt wird. Aber bei den Dämonen beginnt eine
objektive Scheidung: ganze Klassen werden als gütig oder bösartig an-
gesehen (altgermanische Licht- und Dunkelalfen), auch wohl im Kampf mit-
einander gedacht — eine Anschauung, aus der schließlich ein Dualismus
erwachsen kann (wie in der altpersischen Religion) oder die Vorstellung
eines letzten Kampfes zwischen den (altgermanischen) menschenfreundlichen
Göttern und menschenfeindlichen Riesen und Ungeheuern.
So sind wir in der Vorhalle zu der höchsten Form der Mythologie:
zu der Götterbildung 2).
*) Vgl. über den Ursprung der Göttervorstellungen Wundt 3, 403 f.
38 * Erstes Kapitel.
5. Aus der unendlichen Zahl der Dämonen treten allmählich einzelne
deutlicher hervor. Sie gewinnen an Macht; sie werden in ihren »Ressorts«
unbeschränkte, allgemein anerkannte Vorsteher. Gefördert wird diese Evo-
lution besonders auch durch den noch zu besprechenden häufigen Prozeß
der Kollektivierung, indem z. B. zahlreiche Walddämonen durch einen
einzigen Waldgott vertreten werden. Aber die Umwandlung liegt über-
haupt im Zug der mythologischen Entwicklung. Ihr Hauptkennzeichen ist die
entschiedene Individualisierung der Gestalten, und wir sehen, daß
bereits der Dämonenglaube diese Wege einschlägt. Ein äußeres Kennzeichen
dafür ist dies, daß bereits Dämonen nicht selten mit persönlichen Eigen-
namen begabt werden. Der Augenblicksgott hat eine sachliche Benennung,
der Fetisch und der Geist eine allgemeine (»Bei euch, ihr Herren, kann man
das Wesen gewöhnlich aus dem Namen lesen« — ), doch mögen schon Aus-
nahmen begegnen ; bei den Dämonen tritt neben eine solche Benennung be-
reits öfters der eigentliche Eigenname, d. h. die Anerkennung der individuellen
Persönlichkeit. Bei den Göttern aber ist dieser Besitz bereits etwas fast Selbst-
verständliches. Freilich kommen »unvollständige Namen« vor: Benennung
nach dem Ort (»die Göttin von Pessinus«) oder der Art (»der Krieger«,
oft: »der Herr«); dann sind die Götter eben erst frisch aus dem Dämonismus
herausgewachsen. Bald erhalten dann aber auch solche Benennungen (alt-
germanisch Balder, Frey) die volle Geltung von Personennamen.
Endlich findet erst innerhalb der Götterwelt die Moralisierung der
Religion ihre volle Geltung, indem die Menschheit ihrem Bedürfnis nach
ethischen Idealen genügt.
Was unterscheidet nun die Götter von den Dämonen *) ?
a) Innerliche Charakteristika.
Hauptkennzeichen des Gottes ist die bestimmte Umschrei-
bung seiner Tätigkeit. Der Augen blicksgott und der Fetisch können
alles, der Dämon immer noch mancherlei. Aber eben deshalb kann das- I
selbe, was der eine Fetisch oder Dämon kann, auch noch manch anderer
seinesgleichen. Für den Gott dagegen ist die Mitbewerberschaft entweder
lokal oder, was der wichtigere Fall ist, beruflich ausgeschlossen. Er ist
ein kosmischer Beamter, der dem Krieg, der Landwirtschaft, der Justiz,
dem Handel vorsteht wie ein moderner Minister. Dies ist wahrscheinlich
auch zumeist der Weg, wie der Dämon zum Gott wird: daß er alle
Konkurrenten um die Kundschaft (man soll sich hier lieber zu realistisch
ausdrücken als zu idealistisch!) aus dem Felde schlägt.
Hiermit hängt unmittelbar jene zunehmende Individualisierung
zusammen, die gern durch Epitheta, Attribute, Eigenheiten im Kultus unter-
strichen wird.
l) Für die Hellenen vgl. Preller I, 111; allgemein Wund t 3, 336; 395; 431.
I
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 39
Die ganze Entwicklung führt ferner zu einer zunehmenden An-
näherung an menschliche Formen, die in vollständiger Ver-
menschlichung endet — für unsere Begriffe vielleicht eine Herabsetzung des
»Geistes«, für die Völker das Höchste, was sie geben konnten: daß sie
(wie Lichtenberg zuerst das Bibelwort umgekehrt hat) nach ihrem Bilde
Gott schufen. Ein lehrreiches Beispiel ist die Entwicklung Thors und
Lokis in der altgermanischen Mythologie x).
Ein höheres geistiges Vermögen wird im allgemeinen voraus-
gesetzt Aber wenn ein Gott alles weiß wieVaruna2) und Frigg3) oder
alles sieht wie Pushan4), so muß das besonders hervorgehoben werden.
b) Äußerliche Charakteristika.
Als Rangzeichen der Götter können etwa angesprochen werden:
Der Besitz eines Eigennamens, oder mehrerer, weil der Gott
viele Dämonen aufzehrt; die Priester sind darauf stolz wie ein Herold auf
den großen Titel seines Fürsten5).
Der Besitz fester Kultusstätten. Der Fetisch ist Kultgegen-
stand und Kultstätte zugleich ; die Dämonen werden verehrt, wo man sie
trifft; der Gott hat wie ein Fürst Paläste, in denen er anzutreffen ist
Der Gott steht in bestimmten Beziehungen zu seines-
gleichen, Gegenüber dem Anarchismus der Dämonen haben wir hier
ein Abbild staatlich geordneter Verhältnisse. Zwar kann auf einem be-
stimmten Gebiet ein Gott zur alleinigen Anerkennung gelangen6); auch
Jehovah ist wohl • erst so zum alleinigen Gott geworden). Aber auch
dann bleibt die Vorstellung, daß es andere Götter gibt, die ihm gleich-
1) Nicht notwendig, aber häufig scheint die Anthropomorphisierung auf dem
Umweg über die Tiergestalt erreicht, so daß das formlose dämonische Wesen
zunächst in die physiologisch deutliche Erscheinung eines wohlbekannten Tieres
gebannt wird. So ist in Griechenland das zweite Jahrtausend vor Christi die
Blütezeit theriomorpher Göttervorstellungen : Athene als Eule, Hera als Kuh,
Dionysos als Stier, Zeus als Wolf verehrt (Solmsen, Zs. f. vgl. Sprachf. 42, 233).
Es ist aber z. B. für die Germanen nicht nachzuweisen, daß etwa Thor je in
Ziegengestalt verehrt worden wäre — von woher man seinen roten Bart deuten
könnte. Für den Veda vgl. Macdonell S. 147.
2) Macdonell S. 26.
3j Lok. Str. 26. .
4) Macdonell S. 35.
5) Re, der Gott mit den vielen Namen ohne Zahl«: Er man, Ägyptische
Religion, S. 61; die Namen Jehovas; Namen des keltischen Mars: Anwyl,
Celtic Religion, S. 39; der Namenskatalog, den Odin in den Grimnismäl her-
sagt; allgemein Usener, Göttliche Synonyme, Rheinisches Museum f. Philologie
1898, S. 323 f.
6) »Henotheismus- nach Max Müllers Ausdruck; das berühmteste Bei-
spiel die Neuerung, durch die ägyptische Könige den Sonnengott über alle
anderen hoben: Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums, 2. Aufl., I 2, 192.
4q Erstes Kapitel.
artig sind, nur daß man von ihnen kultisch keinen Gebrauch macht. E
ist gleichsam auf höherer Stufe eine Wiederholung der Fetischeinsetzung
der Ausstattung mit Machtfülle.
Vielleicht hat in indogermanischer Zeit und schon früher auf weiter
Bezirken der Wagen als ein äußeres Kennzeichen des Gottes gegolten; wi<
die Fürsten der Erde werden die Fürsten der Götterwelt durch den »be
weglichen Thron« geehrt. Wenigstens ist auffallend, daß wie ägyptische unc
persische Gottheiten, wie Jahve bei den Hebräern !) auch fast alle indischer
Götter Wagen besitzen, die oft ausführlich geschildert werden2), ebensc
viele hellenische und von den germanischen z. B. Odin, Thor, Frey. —
Der Wagen scheint ursprünglich eine bewegliche Kultstätte zu sein3)
dieser praktische Ursprung und die Vorstellung von der Vornehmhei
solcher rein passivischen Ortsveränderung mögen zusammengewirkt haben
um ihn den Göttern fast so unentbehrlich zu machen, wie es den Königer
der Thron ist. Allerdings scheinen nur die Inder dies Rangzeichen durch
geführt zu haben (doch haben auch sie in nachvedischer Zeit z. B. Vishnus
Wagen durch den Vogelkönig ersetzt, auf dem er reitet4). Bei den Hellener
haben nur Elementargottheiten den Wagen: Eos Helios Nyx Selene5)
gelegentlich aber fahren wohl auch andere6).
Ein besonderes Kennzeichen der indogermanischen Götter schein
ferner der Besitz einer eigenen Nahrung, eines Unsterblichkeits
tranks, der ihre ewige Jugend verbürgt oder erneut. Unmittelbar er
halten ist er bei Hellenen 7) und Indern 8) ; aber daneben ist er bei der
letzteren in den Opfertrank Soma9) verwandelt und scheint bei den Ger
manen in den Dichtertrank 10) übergegangen (in quandam similitudinem
vini corruptus!) zu sein. Vielleicht hat auch der Veda die ursprünglich«
Art gewahrt, und der »Unsterblichkeitstrank« ist nur rationalistische Um
deutung des Opfergetränks für die Götter.
Die Vorstellung einer besonderen Sprache der Götter ist zwa
Hellenen und Germanen gemein11) und fehlt12) auch den Indern nicht
*) Dibelius, Die Lade jahves, Göttingen 1906.
Macdonell S. 17; vgl. z. B. Savitri S. 32, die Acvins S. 50, Indra S. 55
Väya S. 82.
3) Vgl. die methodologisch ausgezeichnete Studie von Dibelius.
4) Macdonell S. 152, vgl. 39.
6) Vgl. Preller 1, 431. 433. 441. 444.
6) Vgl. allgemein J. Grimm, Mythologie 1, 273.
7) Nektar und Ambrosia: Prell er 113, 2.
8) amrta : ebd.
9) Vgl. Macdonell, Vedic Mythology, S. 104 f.
10) Vgl. unten.
n) J. Grimms Mythologie 1, 275 f.
12) Nach v. N egelein, Germ. Myth. S. 23.
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 41
scheint aber1) bloß eine Bezeichnung für Eigenheiten der poetischen
Sprache zu sein2).
Abzulehnen ist die Vorstellung von einer besonderen Heimat, einem
Land der Götter. Ich möchte zwar nicht mit J. v. Negelein3) glauben,
daß sie für die Alten einfach auf Erden lebten — sie »erscheinen« ja
immer erst und »verschwinden« wieder, wofür germanisch sogar ein be-
sonderer Terminus zu existieren scheint4) — , aber man gibt sich keine
Rechenschaft darüber, von wo sie kommen, wohin sie kommen — wie
der Wind nach dem Wort des Apostels. Noch in der alten Dichtung
bricht5) durch alle Lokalisierung in 'Asgard die alte Anschauung durch,
daß sie eigentlich einfach »irgendwo«, in Utgard, außerhalb der Welt
wohnen — gewiß nicht in einem geschlossenen Himmel, wie später6).
Alt ist dagegen ein anderer Zug, der der späteren Klassifikation
und Ethisierung vorarbeitet: als ein ungemein häufiges Kennzeichen der
Götter erscheinen siegreiche Kämpfe mit Dämonen. Da nun
diese Dämonen den Menschen feindlich waren, und der gegen sie sieg-
reichen, von den Menschen angerufenen Macht somit die Vertretung der
»guten Sache« zufiel, so erscheinen sie hier bereits avant la lettre
als Verfechter des »guten Prinzips«. In vielen Fällen wird geradezu die
vermeintliche Vernichtung böser Götter dazu geführt haben, daß Dämonen
zu Göttern »erhoben wurden«, etwa wie »Selige« nach der katholischen
Terminologie ihrer Wundertaten wegen als Heilige kanonisiert werden.
Solche »überdämonische Leistungen« scheinen insbesondere
Indras Sieg über Vrtra, Apollons Tötung des Python, Thors Riesen-
kämpfe. Natürlich dauert aber der Kampf mit den Unholden fort; Beowa
ist trotz seiner siegreichen Kämpfe mit Grendel und Grendelin kein Gott
geworden.
Ein eigentümlicher Zug solcher Dämonenkämpfe (der mythischen und
zum Teil noch der heroischen) ist die Verstümmelung. Der älteste
*) Nur eine Dichterfiktion nach Prell er a. a. O.
2) Meine Altgerm. Poesie S. 484 f. — Ihr seid ja Menschen — wollt Ihr denn
der Götter Sprache hören? (Platen.)
3) Germ. Myth. S. 26.
4) Altnordisch hverfa, Golther S. 198.
5) Vgl. Golther S. 200.
6) Bei den Juden scheint die Vorstellung von einem »Gottesberg im Norden«
sehr alt zu sein (Gunkel, Genesis, S. 33). Sie ist es auch bei den Hellenen,
wo aber dort nicht die Götter, sondern die seligen Heroen wohnen: »hoch über
dem nie erklommenen Hauptberg, oder einfach: über den Bergen, im Himmel«
liegt das Land der Hyperboreer, deren wahres Wesen Otto Schroeder (Arch.
f. Rel.-Wissensch. 8, 69 f., speziell S. 83) so schön aufgedeckt hat, der verklärten
Ahnen — der einzigen Götter einer noch götterlosen Zeit (vgl. auch Körte
ebd. 10, 152).
49 Erstes Kapitel
Kampf wird ohne Waffen geführt, weil diese hier versagen1), was dann
den Ruhm des Siegers steigert2). So zerreißen die Götter den Ymi8) wie
in ungezählten Kosmogonien Götter oder Urmenschen zerteilt werden; so
reißt Beowulf dem Grendel Glieder aus nach alter Sagenform4); so haut
Hadding die Gespensterhand ab5); so spielt der abgehauene Drachenkopf
u. dgl. noch in der Tristansage eine große Rolle. Aber auch Götter
werden in solchen Kämpfen verstümmelt: von einem anderen Gott, wie
Zeus den Kronos seines Gliedes beraubt, oder von den Dämonen, wie in
der altnordischen Mythologie der einhändige Ty — was sich wieder in
der Heldensage abspiegelt (Waltharius). Wie den Drachen, wird den
Feinden der Kopf abgesäbelt6), was denn freilich in Wirklichkeit, wie
noch neuerdings in den bosnischen Kämpfen der Österreicher, nicht selten
geschehen sein mag7).
Mit den Kämpfen (oder auch mit der Wagenfahrt?) hängt es viel-
leicht zusammen, daß die Götter oft von Dienern oder Dienerinnen
begleitet sind, die vorzugsweise Botendienste zu leisten haben (Iris bei
Zeus, Matrisvan bei Vivasvat, Skirnir bei Frey), doch zuweilen auch als
Schildhalter dienen (Thjälfi bei Thor). Einen ganzen weiblichen Haus-
staat hat Frigg um sich. Doch sind das oft späte Nachbildungen nach
dem Muster der Herolde und Waffenträger im Epos; so ist der altnordische
Götterbote Hermod gewiß jung, Freys Diener Byggvir ist es wahr-
scheinlich. — Aber kein Dämon hat Diener; es ist wieder ein soziales
Rangzeichen, wie der Wagen. —
Keins dieser Rangzeichen ist absolut unentbehrlich; doch wird das
dritte kaum je fehlen, das zwischen der charakterlosen Gleichheit der
Dämonenwelt und der strengen Isolierung des Monotheismus in der Mitte
des Weges steht. Aber der Typus des Gottes ist doch kaum je ver-
kennbar ; zumal der gesamte Habitus der Mythologie in einer bestimmten
Epoche uns zu Hilfe kommt.
Kennzeichen der Epoche der Götterverehrung sind nämlich
innerlich (wie schon erwähnt) die beginnende Ethisierung; äußerlich die
Entstehung eines Priesterstandes, der den spezifischen Kult des einzelnen
Gottes beherrscht, womit dann allmählich auch der Bau von Tempeln,
die Herstellung von typischen Weihegeschenken u. dgl. m. zusammen-
hängt.
') Vgl. Brau dl, Altengl. Lit., S. 995.
2) Ebd. S. 1014.
B) Gylf. c. S, Gering S. 303.
4) Laistner, Rätsel der Sphinx, S. 39; vgl. Brandl S. 993.
R) Saxo S. 23; Herr mann S. 28.
G) Waltheof, vgl. Brandl S. 1084.
7) Saxo 1, 32, Herrmann, S. 40.
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 43
Hiermit ist eigentlich die Entwicklung der Mythologie abgeschlossen.
£wei Stufen, die noch folgen können, liegen im Grunde schon jenseits
ier Mythologie; die eine ist ganz religiöser Natur, die andere von ge-
ehrter Art.
6. Die Ethisierung wird zwar nirgends (auch nicht im Alten
Testament) vollständig, aber doch in weitgehendem Maße durchgeführt,
indem die Menschheit selbst sich moralisch entwickelt, erzieht sie ihre
3ötter. Auf die Einwirkung der Heldensage ist dabei schon hingewiesen.
\uch die Durchführung staatlicher Organisationen fördert den Standpunkt
der sozialen Moral, auf den außerdem1) der Priesterstand Einfluß ge-
winnt. Allerdings ist diese Ausbildung vielfach bestritten worden: die
christliche Theologie glaubte eine Offenbarung der Moral annehmen zu
müssen und sah deshalb in den ethischen Tendenzen der heidnischen
Religionen nur Überreste älterer Vollkommenheit. Diese sogenannte
»Dekadenztheorie« ist neuerdings von dem geistreichen Andrew Lang2)
wieder aufgenommen worden; die Entwicklung mehr noch der >bösen
als der guten Götter (Loki) genügt fast allein zu ihrer Widerlegung.
7. Erst beim Absterben der Mythologie pflegt sich eine syste-
matische Kodifikation mit festen Zahlen (die zwölf olympischen
Götter), Aufteilungen der Reiche und Elemente (Zeus, Poseidon, Pluton),
symmetrischem Aufbau der ganzen Götterwelt herauszubilden. Ansätze
liegen weit zurück: in der Zählung als epischem Hilfsmittel (s. o.), in
den Kämpfen der Götter usw. Trotzdem gelingt die eigentliche Syste-
matisierung erst unter dem starken Einfluß der ausgebildeten Heldensage,
durchgebildeter staatlicher und sozialer Verhältnisse und einer über rein
praktische Bedürfnisse fortschreitenden wißbegierigen Wissenschaft. —
Dies mag ein ungefähres Bild der typischen Entwicklung geben, ohne
laß wir alles so genau zu wissen glauben! Natürlich wird, wie überall
eine völlig normale Entwicklung auch hier der seltenste Fall sein. Aber
im großen und ganzen dürfte diese Stufenfolge historisch wie psycho-
logisch so weit gestützt sein, als das einstweilen möglich ist.
Nun ist aber noch ein Satz zu betonen, auf dessen fundamentale Be-
deutung man erst neuerdings (in der germanischen Religion besonders
durch E. H. Meyer; aufmerksam geworden ist: diese Stufen schließen
sich nicht etwa aus, sondern keine Phase der Mythologie kommt rein
vor (außer natürlich der ersten). Die älteren Stufen dauern fort
(wie in den höheren Metaükulturen noch Werkzeuge der früheren Zeiten;.
Die niedere Mythologie lebt noch heute; und in der Verehrung auch des
einzigen Gottes fehlt es nicht an animistischen, sogar an fetischistischen Zügen.
!) Ed. Meyer a. a. O. S. 824 f.
2) The Making of religion, London 1906.
44 Erstes Kapitel.
Diese Mischungen sind (wie die Sprachmischungen und Mischsprache
erst seit kurzem eingehender studiert worden. Den klassischen Fall bilde
der > Synkretismus < der römischen Kaiserzeit1).
Doch liegen auch für die Mischung germanischen Heidentums m
dem Christentum interessante Zeugnisse und Untersuchungen vor, dere
Analogie für ähnliche Legierungen in früheren Perioden merkbar ist2).
Die Fortdauer überwundener mythologisch - religiöser Anschauunge
in höherstehenden Epochen bezeichnen wir als »Aberglauben« 3). —
Aber die prinzipielle Obereinstimmung zwischen den verschiedenste:
Mythologien ist nicht auf den allgemeinen Gang der Evolution beschränk
Auch innerhalb der Entwicklung wiederholen sich überall bestimmt
Umbildungen, die nicht gerade jedesmal eine neue Stufe herbeiführer
sie doch aber vorbereiten helfen. Vorzugsweise gehören sie überhaur.
erst der Stufe der Götterverehrung an. Die wichtigsten Prozesse diese
Art sind die folgenden, die ich zum Teil schon erwähnen mußte, hie
aber noch einmal zusammenstellen will:
1. Die Anpassung. Mythen und mythische Figuren, die dej
Stempel einer früheren Kultur- und Religionsperiode noch gar zu deutlic
tragen, werden selten aufgegeben, in der Regel vielmehr durch (unbewußte
Änderungen der jüngeren Empfindung angepaßt. Drei Hauptfälle sind]
die Umwandlung der ursprünglich verehrten Fetische oder Tiere i|
Attribute der Götter;
die Umwandlung der Opfer aus blutigen in unblutige, in der Rege
in der Folge Menschenopfer, Tieropfer, symbolische Opfer4);
die Umwandlung von Symbolen5).
2. Systole und Diastole — um Lieblingstermini Goethes anl
zuwenden — . Gestalt und Zahl der Götter sind in Fluß, und zwar ii
beiderlei Richtung:
verschiedene Dämonen wachsen gleichsam in eine Gestalt zusammen -
ein wichtiger, noch nicht genügend gewürdigter Prozeß, den wir ein
Vorstufe zur Götterbildung nannten. Ich bezeichne diesen Vorgang al
i) Wendland, Die hellenisch-römische Kultur, Tübingen 1907.
-) Bernoulli, Die Heiligen der Merowinger (Fortdauer uralter heidnische
Vorstellungen im christlichen Kult), Freiberg 1897 (vgl. auch Trede, Das Heider
tum in der katholischen Kirche, Gotha).
3) C. Meyer, Der Aberglaube des Mittelalters und der folgenden Jahrhundert«
Basel 1884; Ad. Wuttke, Der deutsche Volksaberglaube der Gegenwart, 3. Auf
bes. von E. H. Meyer, Berlin 1900; Roch holz, Glaube und Brauch im Spiege
der heidnischen Vorzeit, Berlin 1867. — Viel Material in volkskundlichen Samm
lungen und Zeitschriften, bes. Zeitschrift des Vereins für Volkskunde, Berlin.
4) Tiere in Gebäckform, Blumen u. a. vgl. Mogk, Menschenopfer, S. 601
r) Vgl. Gobletd'Alviella, La migration des symboles, Paris 1891, S. 2171
§ 4. Typische Entwicklung der Mythologie. 45
(ollektivierung. Eine Zwischenphase ist die, daß ein Dämon sich
Js »Fürst« über seinesgleichen erhebt;
oder ein Gott wird nach seinen Funktionen in verschiedene Gestalten
:erlegt, z. B. der Kriegsgott in den des Fern- und den des Nahkampfes:
Jpaltung der Göttergestalten *). Begünstigt wird sie durch die
verschiedenen Namen und Beinamen der Götter2). Die neuen Gestalten,
lue so entstehen, pflegt man (seit Usener) als »Hypostasen« zu bezeichnen;
I ilso etwa: der Heilgott ist eine Hypostase des Weisheitsgottes.
3. Systematisierung: die Beziehungen der Götter zueinander
werden in immer deutlichere Formen gebracht, wobei (unter vorbildlicher
:iiife der Heldensage) besonders benutzt werden:
die Genealogie: ein Gott wird zum Vater oder Erben oder Bruder
des andern; ebenso werden Ehen gestiftet3);
i die soziale Ordnung: der Hauptgott wird »König der Götter«,
rdeinere Götter werden zu »Dienern« der größeren;
Freundschaft und Gegnerschaft (Thor und Loki).
4. Historisierung: die mythischen Gebilde werden immer näher
an die heroischen und historischen herangebracht. Insbesondere kommen
in Betracht:
die historische Konzentration: ein typischer oder periodischer
Vorgang wird als einmaliges historisches Ereignis aufgefaßt. In gewissem
Sinne ist das ja bei jedem Mythus der Fall, indem etwa der periodische
Sonnenuntergang auf irgendweiche Flucht der verfolgten Sonne in eine
dunkle Höhle gedeutet wird. Aber dabei bleibt man doch im Zeitlosen;
leu ist, daß eine wirkliche Datierung, ein Unterbringen innerhalb der Ge-
schichte versucht wird. Auf die Wichtigkeit dieses Prozesses hat zuerst
vieder der große Erneuerer der Mythologie, H. Usener, hingewiesen4);
iO sind etwa mythische Vorstellungen mit der Sage von Ilions Fall 5) kom-
biniert worden;
der Euhemerismus: so nennen wir nach dem Namen des
griechischen Mythendeuters Euhemeros die Methode, die Götter für
historische Persönlichkeiten zu erklären. So hat bei uns Saxo Gram-
maticus Odin für einen alten König ausgegeben. — Der Euhemerismus
ist allerdings vorzugsweise gelehrten Ursprungs, doch kommt auch volks-
tümliche Umdeutung von mythischen in historische Gestalten vor6).
x) Vgl. z. B. Erman, Kultur der Gegenwart I, III, S. 31.
2) Vgl. Saintyves, Les dieux, S. 283 f. (sehr lehrreich).
3) Vortrefflich hierüber im einzelnen Macdon eil, Vedic Mythology, S. 11.
4) »Heilige Handlung«, Archiv f. Rel.-Wissensch. 7, 381 f.
5) Ebd. S. 333.
6) Vgl. Edv. Lehmann, Guder og helte Kjöbenh. 1898, S. 1 f .
46 Erstes Kapitel.
5. Umgekehrt wieder kommt auch Myth isierung der Religions
geschichte vor: ihre historischen Vorgänge werden dem mythischer
Stil angepaßt. Insbesondere werden
Kämpfe oder Gegensätze zwischen religiösen Parteien als Götter
schlachten gedeutet. So scheint der altgermanische Mythus vom Vanen
krieg entstanden. Ähnlich verfuhr z. B. auch der Gnostizismus, indem d
die heidnischen Götter als wirklich existierende, aber von der christliche:
Gottheit besiegte Wesen auffaßte (Mythen von Zeus und Kronos);
die Priester, die in symbolischen Handlungen den Gott zu ver
treten haben, werden mit ihm völlig identifiziert, so daß z. B. der Ver
treter des bösen, dunkeln Gottes wirklich getötet wird (altgermanische
Kult der Nerthus). Diese Gleichsetzung von Gott und Prieste
kann bis zu der Fetischverehrung des höchsten Priesters führen *).
6. Nochmals ist an die von uns schon betonte Loslösung vo
der Gelegenheit zu erinnern. Sie führt (wie überall in der Welt]
dazu, daß das Mittel zum Zweck, die Hauptsache zur Nebensache wir
Insbesondere kommt hier der Kult in Betracht und zwar
mit der Erstarrung des Rituals. Kultgebräuche, Gebete, Fest
die ursprünglich an bestimmte Gelegenheit geheftet waren, werden zu
ständigen Bestandteil anderer Riten ; Lieblingszeremonien werden bei aller
Gelegenheiten durchgeführt ;
mit der Periodisierung der Opferfeste. Die großen Moment«
der Begegnung von Mensch und Gott werden ursprünglich nur bei be
stimmtem Anlaß gefeiert, etwa nach einem Sieg, bei der Ernte. Allmählich
wird (wohl ohne Zweifel durch die Priester) ein ewiger Festkalender ein]
geführt, der bestimmte Feiern ein- für allemal auf bestimmte Jahreszeiter;
oder (nach Durchführung eines allgemeinen Kalenders) auf bestimmte Tage
festlegt. Dies ist erst möglich, wenn der Kultus eine nationale Bedeutung
und die nationale Organisation eine gewisse Festigkeit erlangt hat. Die
altgermanische Religion hat im Norden auch diese Stufe der Regulierung
erreicht.
Halten wir uns neben dieser halben Zwölfzahl von mythologisch-
religiösen Umbildungen noch die allgemeinen Tendenzen der Heroisierung
Ethisierung, Zählung und Kodifikation gegenwärtig, so dürften die|
Faktoren, denen die Mythengeschichte ihre Entwicklung verdankt, mit leid
licher Vollständigkeit aufgezählt sein, und wir können nun zu dieser
selbst übergehon.
J) Klassisches Beispiel der Dalai Lama; vgl z. B. Grünwedel, Der
Lamaismus, Kultur der Gegenwart, Teil I, Abt. III, S. 147 f.
Zweites Kapitel.
Spezielle Voraussetzungen.
Die typische Entwicklung ist natürlich überall durch ethnographische
und historische Entwicklung modifiziert. So denn auch bei den Indo-
germanen und den Germanen.
Über die »arische Rasse«, wenn es eine (oder zwei) gab, wissen wir
wenig; die Urheimat ist uns unbekannt, und damit die ältesten ethno-
graphischen und geographischen Einflüsse; erst recht sind uns die ältesten
Schicksale dieser Kulturgemeinschaft (und damit die frühesten historischen
Einwirkungen) verborgen. Was wir etwa wissen können, hilft uns wenig:
Ursprung in der gemäßigten Zone, große Wanderungen, Kämpfe mit
fremden Völkern. Über die Eigenheit der Indogermanen können wir uns
auch nur aus ihrer Sprache — und ihrer späteren Entwicklung einiger-
maßen deutliche Vorstellungen machen. Eine allgemeine Tendenz auf
Vereinfachung, Konzentration scheint den beiden großen Sprachgemein-
schaften, den Indogermanen und den Semiten, gemein ; sie zeigt sich auch
in der Mythologie als eine Richtung auf den Monotheismus (die aber
auch sonst, z. B. bei den Ägyptern, den Indianern begegnet).
Die letzte Charakteristik der Indogermanen hat Ed. Meyer *) ge-
geben :
»Eine gewaltige schöpferische Kraft der Phantasie, welche bei aller Kühnheit
doch Maß zu halten weiß, und daneben die Gabe des Enthusiasmus können als
das charakteristische Erbteil der Indogermanen gelten. Auf ihnen beruht es, daß
die Empfindungs- und Denkweise zwar schwerlich an Tiefe und Leidenschaftlich-
keit, wohl aber an Innigkeit und Naturwahrheit den anderen Völkern überlegen
ist, daß, wie die indogermanischen Sprachen vielseitiger ausgebildet und ge"
staltungsfähiger sind als irgendwelche andere, so auch in der Kultur, in der Fort-
entwicklung des geistigen Lebens der Menschen indogermanische Völker schließ-
lich die Führung übernommen und weit ältere Kulturvölker überall zurückgedrängt
haben. In diesem geschichtlichen Prozeß offenbart sich zugleich die Fähigkeit,
fremdes Gut aufzunehmen und weiterzubilden, welche die Indogermanen vor
anderen Völkern auszeichnet: sie haben zur Entwicklung der universellen Kultur
J) Gesch. d. Altertums, 2. Aufl. I 2 S. 782.
48 Zweites Kapitel.
vielleicht ebensoviel durch diese Aneignung und schöpferische Assimilation fremder
Anregungen, als durch unabhängige Neuschöpfungen beigetragen. Diese Freiheit
und Beweglichkeit des Geistes, der sich nicht durch feste Schranken gegen das
Fremde absondert, ebensowenig aber es sklavisch nachahmt, sondern es erwirbt
und neu gestaltet, hängt aufs engste mit der universellen Richtung zusammen,
welche die Gestaltung der indogermanischen Religion beherrscht.«
Aus dieser nationalen Charakteranlage geht denn auch der allgemeine
Charakter der indogermanischen Religion hervor, den derselbe Kenner1)
wie folgt charakterisiert:
»So stark auch oft in der Sonderentwicklung der Einzelvölker die Stammes-
götter und die lokalen Kulte hervortreten, so behalten die indogermanischen
Götter doch immer einen universellen Zug. Sie sind immer Mächte, die trotz
des Lokalkultus, der eine bestimmte Gruppe an sie bindet, weit über diese hinaus_
greifen und in der ganzen Welt wirken, die man daher unbedenklich auch in
den gleichartigen Gottheiten der anderen Völker wiederfindet, in scharfem Gegen-
satz z. B. zu der Exklusivität der semitischen Götter; daher finden die religiösen
Bewegungen, welche von Indogermanen ausgehen, niemals an den Grenzen des
eigenen Volkstums eine unübersteigbare Schranke, sondern setzen sich immer
über diese hinweg und sind ihrer Tendenz nach durchweg universell.«
Ist hiermit für die Eigenart der indogermanischen Religion vielleicht
das erlösende Wort gesprochen, so kann ich mich dagegen der weiteren
Behauptung Ed. Meyers nicht anschließen, der indogermanischen An-
schauung sei die Scheidung zwischen dem toten Stoff und der in ihm
wirksamen Lebenskraft fremd, die uns in dem religiösen Denken der
Ägypter und Semiten entgegentritt; für sie sei vielmehr jede Natur-
erscheinung die Manifestation einer göttlichen Kraft, »so daß Gott und
Welt vollkommen identisch und in ihrer Entstehung eins sind« 2). Dies
scheint mir mit den Beseelungssagen nicht vereinbar, wie sie nicht
nur in der (vielleicht christlich beeinflußten) altgermanischen Legende von
Ask und Embla, sondern auch bei den Hellenen (Deukalion) und sonst
begegnen. Diese Ansicht scheint mir überhaupt durch die Masse der
animistischen Bekundungen widerlegt, die überall auch bei den Indo-
germanen die göttliche Lebenskraft von dem toten Stoff unterscheiden;
ja schon die Existenz des Neutrums in der Grammatik scheint mir die
Anerkennung unbelebten Stoffes zu erweisen.
Die Hauptsache bleibt, daß keine Mythologie eine gleiche Ausbildungs-
fähigkeit bewiesen hat wie die der Indogermanen. Wenn man gesagt
hat, Genie sei Entwicklungsfähigkeit, so sind eben sie die Träger des
Genies in der Weltgeschichte — in der Weltgeschichte wie in der Religion3).
') a. a. O. S. 776.
*) a. a. O. S. 776.
3) Für die Religion der Indogermanen verweise ich nur auf O. Schrader,
Reallexikon der indogermanischen Altertumskunde, Leipzig 1901, und Eduard
Meyer, Geschichte des Altertums a. a. O.; kurze Übersicht vom indischen
Standpunkt aus bei Macdon eil S. 8.
§ 14. Zaubermenschen. 129
die Deutung aus Maske und Wolfspelz1). Dagegen könnten Atavismen
aus kannibalischen Perioden im Blut nachwirken2).
Die Gestalt hat ein grausiges Interesse bis auf unsere Tage hin3).
Es ist der Zwang zum Übeltun, die »Wut zur Wut«, was hier als
beunruhigendes Rätsel in die Erscheinung tritt. Wir haben hier durchaus
das, was wir noch heute »das Dämonische« nennen4).
Der Werwolf ist also ein Mensch, den in bestimmten Zeiten die Wut
packt. Es geschieht immer nur bei eintretender Dunkelheit, zuweilen auch
nur in den Zwölfnächten, zumal wenn auch sein Geburtstag in diese Zeit
fällt. Wenn es ihn packt, muß er Blut haben. Manchmal lebt er auch
sieben oder neun Jahre als Wolf (vgl. das Märchen vom Bärenhäuter),
wird aber geheilt, wenn er neun Jahre lang kein Menschenfleisch nahm 5).
Der Werwolf wird wie die Hexe für seine Untaten verantwortlich ge-
macht. Noch im 16. — 1 7. Jahrhundert begegnen uns Werwolf sprozesse; 1589
wurde Peter Stube, der Werwolf von Epprath, in Köln hingerichtet, weil er
bekannte, in Wolfsgestalt 1 3 Kinder zerrissen und ihr Gehirn aus dem Kopf
gefressen zu haben; 1610 ebenso in Lüttich zwei Werwolf e6). — Der
Aberglaube besteht noch heute besonders in Nord- und Ostdeutschland 7),
ebenso in England8). Eine Abart ist der vampyrartig auftretende west-
fälische » Boxen wolf», der Begegnenden aufhockt und ihr Gesicht zer-
fleischt9).
Der Obergang in den Tierzustand wird durch Zaubermittel bewirkt,
besonders durch den »Wolfsgürtel«; dieser Zauber macht sie dann auch
»gefroren«, d. h. für gewöhnliche Waffen unverletzlich10).
Schutz vor Werwölfen gewährt die Anrufung mit dem Taufnamen
(vgl. die Vertreibung des Alps durch den Schrei); ein Wurf mit Stahl
oder Eisen ; eine Verwundung, an der der nicht verwandelte Mensch dann
später wieder zu erkennen ist11).
An diese periodisch zu niederer Stufe herabsinkenden Werwölfe kann
man diejenigen Menschen anschließen, die periodisch zum ragr, zum
Weibmenschen, zu werden verdammt sind, wie jener Refr, der jede neunte
!) Vgl. Wundt 1, 379.
2) Vgl. Andree, Die Anthropophagie, S. 1885.
3) Prosper Merimee, Lokis; vgl. Filon, Merimee, Paris 1898; S. 148.
4) Zola, la bete humaine.
5) Meyer S. 85.
6) Vgl. Andree a. a. O. über moderne Fälle von Anthropophagie.
7) Wuttke S. 259f.
8) Mogk S. 272.
9) Meyer S. 86, Mogk S. 272.
10) Mogk S. 272.
n) Meyer S. 85.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 9
■
joq Drittes Kapitel.
Nacht zum Weibe wurde *). Doch ist dies wohl nur eine Formel für ein
Laster, dem der Unglückliche immer wieder unterliegt; man denke an
»Quartalssäufer« wie den armen Fritz Reuter!
Verzauberung von Menschen in Tiergestalt durch Götter oder Zauberer
in anderen Mythologien häufig, kommt in der germanischen Mythologie
nie vor. —
Die Berserker2) stehen den Werwölfen, wie schon erwähnt, seh
nahe; die Weiber der Berserker3) werden »Wölfinnen« genannt4). SU
sind aber eine spezifisch germanische Erscheinung, gleichsam eine Ver
körperung des furor teutonicus. Allerdings begegnet der plötzliche Zu
stand wilder Wut, den wir nach seiner klassischen Vertretung bei der
Malayen »Amoklaufen« nennen, auch sonst bei primitiven Völkern unc
Menschen 5). Das Eigenartige bei den Berserkern aber ist, daß diese Wut
anfalle in den Dienst des Krieges gestellt werden6).
Die Berserker »sind Menschen, stärker und wilder als andere, dii
in Berserkerwut geraten und über die Menschen wie wilde Tiere her
fallen. Dann sind sie unwiderstehlich, sie scheuen weder Eisen nocl
Feuer» 7). Sie beißen in der Wut in die Schilde und gebärden siel
wie Wahnsinnige. Nachher sind sie machtlos und erschöpft, wie di
Hexen nach dem Ritt. — Die »Berserker«, d. h. »Bärengewandskerle<
werden ursprünglich wohl wirklich als Bärenmenschen, den Wer
wölfen entsprechend, gedacht worden sein; sie heißen auch gelegentlicl
ülfhednar, »Wolfsgewandige« 8). Später wird ein ekstatischer Krampf
zustand nach dem Muster solcher fabelhafter Zaubermenschen syste
matisch erzielt worden sein. Könige halten sich eine Garde voi
solchen Bärenmützen; berühmt sind die zwölf Berserker Hrolf Kraki«
die des Harald Schönhaar (um 900). Wiederum ist an Starkad9) zu er
innnern.
Die Sage lebt in Norwegen fort, sogar häufiger als die von de
Wolfsverwandlung. Beides ist, wie man sieht, nicht ganz gleichartig: da
Werwolfstum ist eine Krankheit, ein Fluch, das Berserkertum eine zweel
dienliche Begabung. Auch unterscheidet sie, daß die Werwölfe nur vei
1) Vgl. u., auch Lok. Str. 23. 33.
2) Mogk S. 273, Golther S. 102, Meyer S. 86f., 227.
8) Härb. Str. 37.
*) Ebd. 39.
B) Vgl. o. S. 128; Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1897 S. 342 f.
6) Schilderung bei Saxo S. 222, 223, H ermann S. 295, 297, vgl. Olril
Danmarks Heltedigtning S. 201 f.
7) Mogk a. a. O.
8) Golther S. 103.
■) Siehe o. S. 123, auch Lok. Str. 23. 33.
§ 14. Zaubermenschen. 131
einzelt (oder höchstens paarweise wie Sigmund und Sinfjötli), die Berserker
in geschlossenen Gruppen auftreten x). Werwolf und Berserker scheinen
immer männlich zu sein2). —
Gestaltentauscher kann man die Menschen nennen, die frei-
willig Tiergestalten annehmen können wie die Werwölfe unter dem Fluch ;
sie sind nach nordischem Ausdruck eigi einhamir, nicht eingestaltig, und
fähig at skipta hömum, die Gestalten zu tauschen, at hamask, die Hülle
zu wechseln usw. 3). So sitzt der Jarl Fränmar 4) in Adlergestalt verwandelt
auf einem Haus, um die Frauen durch Zaubermacht zu schützen.
Der viel umstrittene B i 1 w i s 5) kann ebenfalls ein Zaubermensch sein,
ein »männliches Gegenstück der Hexe«. Er reitet zu gegebenen Zeiten,
namentlich in der Nacht vor Walpurgis oder (wie die Hexen) vor Johannis-
abend auf einem Bock durch die Saat, die er mit einer Sichel am Fuß
zerschneidet. Das Dämonische besteht in der Unfaßbarkeit und dem selt-
samen Reittier. — Schutzmittel: Knabenkleider am »Pilbisbaum« aufhängen6),
was wohl eine Art Vogelscheuche vorstellt7). —
Hexen8). Althochdeutsch hagazussa, mittelniederländisch haghe-
tisse (zu hag Wald)9) bedeutet ursprünglich »Gauklerin«10). Daneben
kommt von anderen Terminis besonders unholda, »Feindin«, in Betracht11);
altnordisch tünridur, althochdeutsch gunriten, Zaunreiterinnen, weil sie
auf dem Pfahl reiten ; lateinisch zumeist striga.
*) Aus anderen Mythologien sind am ersten^die Mänaden (Preller 1, 694) in
ihren orgiastischen Exzessen vergleichbar: sie zerreißen lebende Tiere, überfallen
auch Menschen. Doch sind diese Erregungen an bestimmte Feste gebunden
\Schwally, Semitische Kriegsaltertümer, Leipzig 1901, 1, 101 vergleicht Simson,
auch Tydeus und Polyneikes. — Die pathologischen Wutanfälle irischer Helden
and ihrer nordischen Schüler wie Egill (vgl. Olrik, Nordisches Geistesleben,
S. 81, 139) stellen einen Berserkerzustand dar, der aber keine allgemeine Eigenart
der betreffenden Persönlichkeiten ausmacht.
2) Doch vgl. die zitierte Stelle aus dem Härbardslied und Lex salica, Tit. 64
(bei Franck, Geschichte des Wortes Hexe S. 16): »si Stria hominem come-
derit«, dagegen aber Kap. 376 (ebd. S. 17): »quod christianis mentibus nullatenus
credendum est, nee possibile ut mulier hominem vivum intrinsecus possit
comedere.« (Andere Parallelstellene ebd.)
3) Golther S. 100.
4) zu Helg. Hjorv. Str. 5.
5) Siehe o. S. 111, Meyer S. 164, Golther S. 158, Mogk S. 273.
6) Meyer a. a. O.
7) Eine römische Gottheit, die der Saat feindlich ist: Lua Mater (Wissowa
>S. 171).
8) Mogk S. 274, 278, Golther S. 116, Meyer S. 133.
9) Nach Kluge, Etym. Wb., S. 167.
10) Nach Francks (auch inhaltlich wichtiger) Geschichte des Wortes Hexe,
Bonn 1900.
n) Kauffmann, PBB. 18, 151; Franck S. 14.
9*
132 Drittes Kapitel.
Die christliche Vorstellung ist von der heidnischen zu scheiden. Abed
Hexen im spezifischen Sinne, d. h. Menschen mit dem Vermögen zu
hexen, sind schon im 6. Jahrhundert bezeugt1). — Die Hexe der alten
Anschauung ist ein Weib, das nach eigenem Willen sich den weib-
lichen Dämonen (Unholden) anschließt2), mit ihnen den Scharen des
wilden Heeres sich zugesellt. Aus dieser Gemeinschaft kommen
zunächst ihre bösen Kräfte: die Hexen machen Wetter, weil sie nun
— zeitweilig — zu den Wettergeistern gehören; sie verderben die Milch
weil die Gewittergeister sie gerinnen machen; sie bringen Krankheit, wie
die Dämonen den » Hexenschuß « verursachen. Auch die Fähigkeit
sich in Nachttiere (Katzen, Kröten, Eidechsen, Eulen, doch auch
Hunde und andere Seelentiere) zu verwandeln3), haben sie von der
Elementargeistern (daher isländisch hamhleypa , die in anderer Gestal
Laufende) 4).
Erst später kommt statt der Aufnahme in das wilde Heer der Pak
mit dem Teufel und das widerlich pervers-erotische (»satanische«) Elemen
in die Hexenvorstellung.
Die Hexe ist wie der Alpreiter vorbestimmt: zusammengewachsene
Brauen, rote Triefaugen, watschelnder Gang sind Indizien5). Aber dazt
muß sie doch eigenen Willen fügen, muß von alten Hexen lernen unc
sich salben lassen. Die Salbung ist eine Parodie der feierlichen Salbung
von Priestern, Königen, Sterbenden: eine »schwarze Messe«. — Danr
fährt sie in die Hexenkraft und kann nun (wie die Walküre) durch die
Luft reiten. Dies ist an die Nacht und zumeist noch an bestimmte Nächte
(Walpurgis) gebunden. Diese Feste sind für den Massencharakter der Hexe
besonders charakteristisch; sie wählen dazu Berge, die ursprünglich wohl;
vom Wütenden Heer umtobte Totenberge sind (Brocken als Blocksberg)6). — \
Sonst ist die Hexe der Mahrt ganz ähnlich 7).
Wie furchtbar sich der Hexenglaube entwickelt hat 8), ist weltbekannt
Für die mittelalterliche Hexe ist dann — außer den teuflischen Zere
monien — bezeichnend, daß sie durch Zauber sich Dinge dienstbar
machen kann: sie melken Mich aus Brettern, reiten auf Besen, doch
auch (wie die Zwerge und der Bilwis) auf Böcken. Aber nur das Reiten
auf Holzpfählen ist ursprünglich. Doch schon das isolierte Auftreten
J) Franck S. 18.
2) Vgl. Golther S. 656.
3) Mogk S. 276, Wuttke S. 155, 173, 217.
4) Golther, Mythus u. Rel. d. Germ. S. 16.
B) Mogk S. 277; nach späten Zeugnissen.
ü) Vgl. Mogk S. 277 f.
7) Meyer S. 133, Golther S. 117..
8) Vgl. z. B. Meyer S. 30 f., 63 f.; J. Hansen, Zauberwahn, Inquisition
und Hexenprozesse, Bonn 1901.
§ 14. Zaubermenschen. 133
der christlichen Hexe widerspricht ihrem ursprünglichen Charakter. —
Schutz vor dem Behexen gewähren Zauberrunen x).
Zauberer2). Das Wort und der Begriff sind in neuerer Zeit etwas
mißbraucht worden; namentlich der um die Aufklärung mexikanischer Riten
verdiente G. Th. Preuß neigt dazu, alle ursprüngliche Religion, ja fast alle ur-
sprüngliche Tätigkeit unter die Rubrik »Zauberei« zu fassen, und W. Wundt
ist ihm darin in bedenklichem Maße gefolgt. Ich habe meinen Wider-
spruch gegen diese mythologische Mode3) ausführlich begründet und darf
mich hier auf die Erklärung beschränken, daß ich Wort und Bedeutung in
dem früher üblichen Umfang gebrauche4). Ich verstehe also unter Zauber
die Mittel, Dinge zu vollbringen, die eigentlich »über unsere Kraft«
hinausgehen, indem man sich einen Anteil an der Kraft höherer Mächte
verschafft.
Hierbei sind w zu scheiden: allgemein zugängliche und nur einzelnen
zugängliche Zaubermittel. Wer die ersteren besitzt, steht zeitweilig, wer
die letzteren besitzt, dauernd den »Dämonen« nahe; die Besitzer der
reservierten Zaubermittel, die Zauberer, sind (wie die Hexen) menschliche
Dämonen.
1. Unter den allgemein zugänglichen Zaubermitteln sind zunächst die
Runen zu nennen. Sie sind jederzeit verwendbar. »Der Besitz der Rune
gibt eine ganz begrenzte, auf einen bestimmten Zweck eingeschränkte
Wunderkraft« 5). Die Rune als das Geheimnis der Dinge, die Seele auch
der Gegenstände gibt dem, der sie kennt, Macht über das Ding oder
die Person. Die wichtigsten Runen dieser Art werden aufgezählt in den
rünatal 6).
Die Runen stehen unter Odins Schutz7), sind aber jetzt, nachdem er
sie fand, allgemein zugänglich, etwa wie das Feuer seit Prometheus. Sie
*) Vgl. Golther S. 119, Häv. Str. 154: Einen zehnten (Spruch) kenn' ich,
wenn Zauberweiber im Fluge durchfahren die Luft.
2) Vgl. Gering, Über Weissagung u. Zauber, Kiel 1902.
3) Arch. f. Rel.-Wissensch. 9, 418; 10, 88 f.
4) Vgl. Zeitschr. f. d. Phil. 31, 319.
5) a. a. O. S. 317.
6) Häv. Str. 145 f. (Sprüche gegen Kummer, Krankheit, Gefahr in der Schlacht,
Brand, Streit an der Tafel — crebrae . . . rixae raro conviciis saepius caede et vulne-
ribus transiguntur, Tac. Germ. c. 22 — , Seesturm, Hexerei; am Ende ein paar
positive Sprüche für Zauber, Patenschaft, Erwerbung von Gunst), Sgdm. Str. 6 f.
(ebenfalls hauptsächlich defensiv gegen Gift, Seesturm, Krankheit; positiv für
Sieg, Entbindung schwangerer Frauen, Beredsamkeit) und Rig. Str. 44 f. (defensiv
gegen Waffen und Seesturm, Feuer und Krankheit; positiv zum Verständnis der
Vögel, d. h. zur Mantik); vgl. auch Gripisspä Str. 17. (Allgemein vgl. in eine
Altgermanische Poesie S. 23 f.).
7) Golther S. 340.
J34 Drittes Kapitel.
müssen, wie die Hexenkunst, erlernt werden; die Hauptsache ist dabei
ein bestimmtes Runenwort, ohne Zweifel oft identisch mit den als
Runennamen verwandten Worten wie altnordisch fd, Besitz, Tyr Name
des Kriegsgottes. Der Spruch wird dann feierlich »geraunt«1): das ist ein
Carmen, ein feierlich vorgetragener Zauberspruch. (»Beschwören« heißt
ursprünglich »besummen«.)2) Vielleicht unterschied man Runen von ver-
gänglicher und solche von dauernder Kraft3).
Die Rune als Zauberspruch besteht aus zwei Teilen : einem allgemeinen
und einem speziellen, durch dessen Hinzufügung der Zauber erst »perfekt<
wird. Ausführlich ist das in dem Eddagedicht Skirnismäl4) beschrieben:
der Götterbote Skirnir hat einen Zauberzweig, den er mit feierlicher Rede
weiht; dabei schnitzt er in ihn ein Zeichen ein, das sich auf die zu be-
zaubernde Gerd bezieht, und wendet damit den Spruch gegen sie. Er
kann aber den Zauber aufheben, indem er die auf sie bezügliche nota
wieder wegschneidet5). Das eigentlich Zauberkräftige ist dabei die Rune;
aber eine Verbindung von Wort und Tat — Spruch und symbolischer
Gebärde — ist allem Zauber unentbehrlich. — Oder der Skalde Egil
Skallagrimsson errichtet gegen den König Eirik eine »Neidstange« und
spricht dazu Zauberworte, die den König aus seinem Reich treiben6):
auch hier sind die Worte, und unter ihnen wieder die Rune mit der An-
wendung auf Eirik, die Hauptsache, die Neidstange ist nur das Werk-
zeug der Übermittelung. Oder Thorleif will sich an dem Jarl Häkon
rächen: »er kommt verkleidet in seine Halle und trägt ein Gedicht vor, das
,das Nebellied' genannt wird. Infolgedessen wird es in der Halle dunkel,
die Waffen rühren sich und töten viele Leute, der Jarl wird krank; Bart
und Haupthaar fallen aus.« Man braucht das gewiß nicht mit Alexander
Bugge7) auf irischen Einfluß zu schieben: es ist runischer Wetterzauber.
So macht Thorgerd Hölgabrud8) Hagel — und eine Rune heißt »Hagel
so ist der Gebetzauber für Regen besonders altertümlich9). Und die
ägyptischen und hebräischen Zauberer vor Pharao 10) werden es nicht anders
gemacht haben, wenn auch nur der Stab erwähnt wird und weder der
Spruch noch die symbolische Handlung. Dergleichen ist universaler Aber-
glaube, weder bei den Germanen spezifisch noch bei den Iren.
*) Vgl. Golther S. 629; zu griechisch tgefw.
2) Kögel, Oesch. d. d. Lit. 1, 81.
8) Vgl. Rig. Str. 44 (anders Heinzel-Detterz. d. St.).
4) Gering Edda S. 52f.
5) Str. 37.
6) Vgl. Olrik, Altnordisches Leben, S. 136; Golther S. 642.
"') Zs. f. d. Alt. 51, 33.
8) Golther S. 485.
9) J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 439 f.
10) 2. Mos. Kap. 7.
§ 14. Zaubermenschen. 135
Nur eine Abart des Runenzaubers x) ist der Namenzauber2).
Der Namen ist die individuelle Rune einer Person, er drückt ihr Wesen
aus, was durch die ausnahmslos bedeutungsvollen Eigennamen erleichtert
wird. Jeder Eigenname ist ein Wunsch: der Sohn soll ein Held im
Kampf sein, die Tochter Friedens- und Zauberkraft besitzen; erst recht
gilt das von denen der Götter: einer soll der »gnädige Herr«, eine andere
»die Spenderin der Fülle« sein. Hier kann also z. B. der Segen oder
die Verwünschung leicht anknüpfen. — Vielleicht hängt auch die Rune
der Namengebung 3) hiermit zusammen4).
Die Rune läßt sich verschenken und rauben5). Ohne ihren Besitz
sind in bestimmten Fällen selbst die Götter ohnmächtig; so versteht nach
dem Merseburger Zauberspruch nur Wodan das Roß zu heilen, weil nur
er die richtigen Worte besitzt.
Schutz vor Runenzauber verleiht allgemein die Benennung mit -run
(oder soll sie Runenkraft verleihen?). Sie wird nur bei Mädchen an-
gewandt, da nur die Frau sanctum quoddam et providum aliquid
besitzt6): die Tochter Sigrun, Hildrun, Ortrun, Friderun, Runhild schützt
dann wohl das ganze Heim 7). Spezieller wirken Gegenrunen , wie wir
solche gegen Hexerei8) treffen9); daher können je nach der Art der An-
wendung Runen schaden oder helfen 10).
Der Runenzauber bedarf aber der Verbindung einer Handlung mit
einem Spruch l x). Dieser kann gesteigert werden zu dem Zauberlied12).
Das Wort, feierlich gesprochen, macht erst das Zeichen lebendig, fügt das
»Wort« zum »Werke« 18). Aber das Zauberlied unterscheidet sich von dem
Runenspruch dadurch, daß der Art des Vortrags, der Melodie mit ihrer
1) Vgl. Brandl, Altengl. Lit. S. 1129 allgemein.
2) Nyrop Navnets magt, Mindre afhandl. udg. af det phil.-hist. samf., Kopen-
hagen 1887, S. 118 f.; vgl. Kahle, Anz. f. d. Alt. 29, 300.
3) Häv. Str. 157.
4) Der Namenzauber ist überall verbreitet, sehr stark z. B. bei den Hebräern :
Zauber mit dem wundertätigen Namen Gottes (auf einen Zettel geschrieben und
in die Gehirnschale gelegt, stattet er einen Menschen aus Lehm mit dem Schein
des Lebens aus: »Golem«); Namenstausch, um den Todesengel zu täuschen usw.
5) Meine Altgermanische Poesie S. 48.
6) Tac. Germ. Kap. 8.
7) Vgl. Golther S. 643.
8) Häv. Str. 154.
9) Vgl. Golther S. 642.
10) Ebenda.
xl) Vgl. Brandl, Altengl. Lit., S. 955 f.
12) Vgl. Golther S. 644, Mogk S. 404.
13) Häv. Str. 141, also nicht mit Meyer S. 379 aus Ev. Joh. 1, 1—3 abzu-
leiten. Vgl. Müllenhoff und Liliencron, Zur Runenlehre.
136 Drittes Kapitel.
symbolischen Auf- und Abbewegung eine selbständige zaubermäßige Be-
deutung zugeschrieben wird. Es ist also hier die »Handlung«, das »Werk«
in den Vortrag des Wortes selbst hineingetragen. — Hierfür haben wir
feste Termini: galdr, angelsächsisch gealder, althochdeutsch galster,
scheint mehr das gesungene, althochdeutsch spell, altnordisch spjall1)
das rezitierte Zauberlied zu bedeuten2). — Wenn finnisch runo »Zauber-
lied< heißt3), so setzt dies wohl eine mittlere Form voraus.
Statt mit der Rune (die die Seele des Dinges selbst gibt), kann der
Spruch oder Gesang mit einer symbolischen Handlung verbunden werden,
die die gewünschte Besitzergreifung u. dgl. darstellt. Dies ist dann der
eigentliche Zauberspruch, bei dem nicht mehr das eine Zauberwort,
auch nicht mehr der zauberkräftige Vortrag, sondern die symbolische, von
den Worten nur verdeutlichte Handlung den Hauptteil des Zaubers aus-
macht4). Der Zauberspruch, die häufigste Form des Redezaubers, kann
die Rune entbehren, weil er sie durch eine symbolische Handlung ersetzt.
In Skirn.5) werden die Runenzeichen »Wollust, Wahnsinn, Wut« eingekerbt
und gesprochen: das ist Runenzauber. Statt dessen wäre nun eine sym-
bolische Handlung denkbar, die durch Gebärden die Wollust, den Wahn-
sinn, die Wut darstellte und dies durch die begleitenden Worte wiederum
verdeutlichte: das wäre dann Spruchzauber. Einer der ältesten Zauber-
sprüche lautet z. B.: »Bein fügt sich zu Beine, als wenn sie geleimt wären.«
Dabei fügt der Arzt die auseinander gerissenen Glieder in die richtige
Ordnung. Für unsere Anschauung ist das die Hauptsache; aber der
Primitive denkt nicht, daß eine Störung der Ordnung ohne göttliche Hilfe
geheilt werden kann. Er tut also das nur scheinbar, was die Heilgötter
in Wirklichkeit tun sollen, und verdeutlicht dies durch die Worte, deren
genau berechnete Anordnung wieder seine Handlung nachbildet. Ich
wenigstens vermag den »sympathischen Zauber«, der eine so ungeheure
Ausdehnung — auch noch im heutigen Aberglauben 6) — in allem Zauber-
wesen hat, nur so zu verstehen: es wird den Mächten, die allein das
Gewünschte leisten können, vorgemacht, was sie tun sollen. Ein Bild
des Verhaßten wird durchbohrt — damit sie ihn selbst durchbohren.
Später freilich geht dies Zwischenglied verloren und man meint mit dem
Abbild den Gegenstand selbst zu treffen7).
*) Edw. Schröder, Ztschr. f. d. Alt. 37, 241 f.
2) Ein solches in der Herraudsaga, vgl. M[ogk S. 405.
3) Comparetti, Kalewala, Halle 1892, S. 240 f.
4) Allgemeines über »Sympathetic Magic« z. B. Fräser 1 8 f.
B) Str. 37.
«) Wuttke S. 185 f.
7) Solche Zaubersprüche besitzen wir schon aus indogermanischer Zeit, viel-
leicht gar aus noch früherer, denn sie begegnen zum Teil auch schon bei den
§ 14. Zaubermenschen. 137
Hauptzweck ist das Heilen (d. h. das Rückgängigmachen dämonischer
Verletzungen) und das Schützen (d. h. ihre Verhinderung). Die typische
Form ist die, daß ein epischer Bericht vorangeht, der von früherer glück-
licher Anwendung der Formel erzählt und dadurch den vergangenen
Moment erneuert : hierdurch wird der damals tätige Gott gleichsam herbei-
gezaubert, und nun folgt in seiner Gegenwart die Vornahme der sym-
bolischen Handlung unter Begleitung der symbolischen Worte l). Der epische
Bericht dient also ursprünglich nicht bloß zur Beglaubigung, sondern un-
mittelbar zur Übertragung der göttlichen Wunderkraft auf den Sprecher,
der sich als Stellvertreter des Gottes gibt.
Der Zauberspruch setzt unmittelbare Anwendung voraus; daher die
Praepositionen bei den betreffenden Worten : InMuv incantare btgalan 2).
Er wird durch seine Nominalform als Werkzeug bezeichnet: Carmen hat
das Suffix für selbsttätige Werkzeuge (wie z. B. die den Teig in die Höhe
treibende »Bärme«). — Man muß sehr genau sein: nur wer den Spruch
Mola conda , genau gelernt hatte, konnte ihn heilkräftig anwenden.
Während Rune und Zauberlied gern auch schlimmen Zwecken dienen,
wird der Zauberspruch wenigstens vorzugsweise zur »weißen Magie« ge-
braucht.
Wird endlich die symbolische Handlung zur Hauptsache, der be-
gleitende Text zur Nebensache, so entsteht die Zauberhandlung oder
das, was man im engeren Sinne »Zauber« nennt.
Vorzugsweise ist das allerdings den eigentlichen Zauberern reserviert;
doch kann viel davon auch der Laie erlernen und nachahmen. Übrigens
oind auch hier die Grenzen flüssig. Bei Egil ist offensichtlich der Spruch
noch die Hauptsache; später kann das Setzen der Schimpfstange (nidstöng)
dafür gehalten werden. — Nun gibt es auch Fälle, wo die Wirkung
durch einen weiten Zeitraum von der Handlung getrennt ist. f?s wird
z. B. in der »Judenbuche« von Annette v. Droste erzählt , wie in einen
Baum eine Verfluchung gegen einen Mörder eingeschnitten wird: »Wenn
du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan
Assyrern (vgl. Goedeke, Grundriß z. Gesch. d. d. Lit. § 10, 2; Kuhn, Ztschr.
f. vergl. Sprachforschung 13, 49 f., 113 f.; Scherer, Gesch. d. d. Lit. S. 15; auch
kKaegi, Der Rigveda, Leipzig 1881, Anm. 12, Anm. 105 und allgemein Anm. 82,
Anm. 95). — Ein solcher Spruch auch Adams Gruß an Eva 1. Mos. 2, 23: »Bein
von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch.«
*) Treffliches Beispiel der erste Merseburger Spruch, Müllenhoff und
Scherer, Denkmäler IV, 1. Beispiele der symbolischen Handlung: Fortwerfen des
Pfeils, damit der Dämon den unsichtbaren Pfeil beseitigt, den die Hexe in den
Körper geschossen hat ; oder Loslösung eines Bandes, damit die Walküren einen
gefesselten Freund befreien u. dgl. m.
2) Golther S. 628.
138 Drittes Kapitel.
hast«1). Dies ist kein Runenzauber: es enthält kein Zauberwort; kein
Lied oder Spruch trägt den Zauber, sondern die Handlung der Einkerbens
selbst. Sobald der Mörder dem Baum naht, wird dieser sprechen und
rächen. Das ist also reiner Zauber: der Baum wird mit der Kraft des
Rachegottes ausgestattet. —
Jedem zugänglich, aber nur in erhöhten Momenten2) sind ferner
solche Zauberkünste, die schon für die Vorbereitung (nicht bloß für die
Vollendung) göttlicher oder dämonischer Unterstützung bedürfen. Sie
haben statt an absolut bestimmten Zeiten: viele Zaubergebräuche haften
an gewissen Nächten (seltener Tagen), Konstellationen usw., weil die
Dämonen besonders in den Zwölfnächten zugegen sind oder zu be
stimmten Fristen vorzugsweise gnädig scheinen3); oder an relativ be
stimmten Zeiten, die wir schon aufgeführt haben und die die Ekstase
begünstigen; sie haben die Kraft von Segen und Fluch, ja machen diese
erst zauberkräftig4).
Hauptfälle der unter solchen Umständen allgemein zugänglichen
Zauberformen sind erstens Segen und Fluch, zweitens Weissagung. Doch
geht die letztere allmählich fast vollständig, die erstere in bestimmten
Fällen an die Priester über.
Segen und Fluch sind von den übrigen »Zaubersprüchen« da-
durch unterschieden, daß sie nicht etwas Einzelnes bezwecken, sonderr
ganz allgemein jemanden der Gunst oder dem Zorn der Götter an
empfehlen. Oder vielmehr: für unsere heutige Empfindung handelt es
sich nur um eine Empfehlung — für die primitive Anschauung um einer
Zwang: der Gott muß erfüllen, was man in der richtigen Form er-
beten hat5).
*) Vgl. das Motiv der Kraniche des Ibykus : der Täter wird — geistig odei
wirklich — an den Tatort gezwungen und dort gleichsam in flagranti bestraft
2) Vgl. o. S. 78.
3) Vgl. Wuttke S. 56f. : »Die zauberischen Zeiten«. — Das Gleiche gilt voi
den »zauberischen Orten«, vgl. ebd. S. 89: Kreuzwege § 108; Schwelle, Herd usw
4) Vgl. Golther S. 628 f.
B) Den stärksten Ausdruck findet diese Vorstellung von der zwingender
Macht des Gebets bei den Indern: die Götter zittern vor der Gebetskraft eine
Frommen; ja die Kraft der Andacht wird sogar in einem eigenen Gott, Brhaspat
(vgl. Macdon eil, S. 104) verkörpert. Ebenso bei den buddhistischen Chinesen
Wünsche, vorausgesetzt, daß sie ehrlich gemeint sind, haben wirkende Kraft
(de Groot, Kultur der Gegenwart, a. a. O. S. 189). — Aber es ist bekannt, daf
noch z. B. Martin Luther die gleiche Anschauung hegte. Als er 1540 für dei
kranken Melanchthon betete: »mußte unser Herrgott herhalten, denn ich war
ihm den Sack vor die Tür und rieb ihm die Ohren mit allen Verheißungen de
Gebets, die ich aus der heiligen Schrift zu erzählen wußte, so daß er mich an
hören mußte, wenn ich anders seinen Verheißungen trauen sollte«. (Vgl. z. B
§ 14. Zaubermenschen. 139
Segen und Fluch sind Zauberhandlungen, insofern ihre Wirkung auf
höhere Wesen als sicher angenommen wird ; im übrigen tritt das Zauber-
mäßige in ihnen so stark zurück, daß sie in abgeschwächter Form in der
Religion der Gegenwart fortdauern. Freilich eben heute nur noch als
Anrufungen der Himmlischen, während in der ältesten Zeit auch hier
erstens eine das Wort stützende symbolische Handlung, zweitens eine be-
stimmte symbolische Wortfolge oder die Anwendung eines bestimmten
»starken« Wortes erforderlich sind1).
In dieser Gefahr, durch einen unvorsichtigen Ausdruck Gutes in
I Böses zu verwandeln, liegt wohl auch eine der verbreitetsten und hart-
näckigsten Formen des Aberglaubens begründet: die Vorstellung vom
»Berufen«2). Indem man den einen Gott zu unbedingt lobt, verletzt
man andere (Motiv der Hippolytos - Legende) ; man muß deshalb jedem
lobenden Wort eine Verwahrung beifügen8). Die rationalistische Vor-
stellung vom Neid der Götter (Herodot) bringt gewiß erst eine jüngere
Spekulation; ursprünglich zürnten Apollon und Artemis den Niobiden
schwerlich, weil Niobe sich der Leto gegenüber überhoben hatte, sondern
weil sie sich ohne Verwahrung gerühmt hatte4).
G. Freytag, Bilder aus der Vergangenheit, Werke 19, 131). Im Grunde hegt
wohl jeder, dessen Gebet unerfüllt bleibt, die heimliche Vorstellung, er habe
nicht richtig gebetet (vgl. auch James, Religious experience, S. 466 f.; über die
Wichtigkeit des richtigen Betens de Maistre, Soirees de St. Petersbourg, N. VI).
x) Symbolische Handlung: Fast überall wird eine bestimmte Haltung beim
Gebet vorgeschrieben; dazu kommen bestimmte Riten für jede Anrufung, z. B.
bei den Ägyptern (Erman, Ägyptische Religion, S. 156), bei den Indern (H ille-
brandt S. 171 f.), den Römern (Wissowa, S. 332, 6). Die unmittelbare Zauber-
gewalt der symbolischen Handlung beim Segen ausdrücklich bezeugt 2. Mose 17, 11 :
»Und dieweil Mose seine Hand empor hielt, siegte Israel; wenn er aber seine
Hand niederließ, siegte Amalek.« — Das starke Wort: beim germanischen Segen
scheint das Wort »heil« Kernwort zu sein (meine Altgermanische Poesie S. 384).
Sonst ist die Reihenfolge die Hauptsache; so bei den lateinischen indigitamenta
(Wissowa S. 333). »Das Wort kann in feierlicher Fassung zu Fluch oder Segen
werden« (Hillebrandt S. 169): ein berühmtes Beispiel für die Wandlung der
Fluch — Segen Bileams (4. Mose, Kap. 23), den freilich der biblische Geschichts-
bericht rationalisierend in eine Änderung des gewünschten Textes verwandelt,
während ursprünglich die Verfluchung wohl gegen den Willen Sprechenden durch
die Art des Vortrags zum Segen wurde.
2) Vgl. Wuttke, Register s. v.
3) Wuttke, S. 282.
4) Die alte Vorstellung Häv. Str. 144: »Im Unmaß opfern ist ärger als gar
nicht beten, Gabe schielt stets nach Entgelt«. Übrigens ist diese Vorstellung so
fest in der menschlichen Ängstlichkeit begründet, daß noch eben Otto Ludwigs
Tochter ihr auf Grund ihrer Verbreitung einen transzendenten Wert zuerkannt
wissen wollte (*quod semper, quod ubique, quod ab omnibus ...«): Ludwig
Eccard, Erlebte Gedanken, Dresden 1909 Pierson, S. 15.
140 Drittes Kapitel.
Beispiele von Segen und Fluch sind in der altgermanischen Literatur
mehrfach und zum Teil sehr ausführlich erhalten x). Hauptfälle der wirk-
samen Anwendung sind: zunächst privater Anwendung in Verfluchung
oder Segenserteilung durch den Geschädigten oder seine Gönner; entweder
bei besonderer Gelegenheit (Segen beim Abschied) oder, in der Regel, bei
bestimmendem Anlaß und unter dessen unmittelbarer Wirkung (so die
feierliche Verfluchung Hedins)2) — im Typus mit dem großen Kirchen-
bann noch heute übereinstimmend3).
Ist zu Fluch und Segen so jeder berechtigt (und daher auch fähig),
so bildet sich allmählich doch die Anschauung heraus, daß bestimmte
Persönlichkeiten hierzu besondere Kraft besitzen4). Sobald ein Priester-
stand entsteht, kann der Priester auch für den einzelnen diese Akte über-
nehmen 5). Endlich wird der Priester, als zeitweiliger Vertreter der Götter,
offiziell damit betraut, Segen über die eigene, Fluch über die feind-
liche Volksgemeinde zu sprechen6).
Ich behandle Segen und Fluch an dieser Stelle, weil sie mir dem
Zauber näher zu stehen scheinen als dem Kultus; eine Zwischenstellung
ist nicht abzuleugnen. Aber während Kulthandlungen wirklich nur eine An-
rufung des Gottes bedeuten, wird hier, wie bei anderen Zauberhandlungen,
das unmittelbare Erzwingen der Wirkung vorausgesetzt. Wie beim Zauber,
gibt es auch hier besonders geeignete Persönlichkeiten, symbolische Hand-
lungen, endlich die charakteristische Dämonisierung der Dinge.
Wie wir sahen, daß es für die Hexen charakteristisch ist, daß sie unbelebte
Gegenstände in Dienst nehmen, so fordert Sigrun7), daß den Hedin die
Eide, die er brach, beißen sollen, und daß das nicht Metapher ist, zeigen
Analogien wie 5. Mose 28, 45: »Und werden alle Flüche über dich
kommen und dich verfolgen und treffen, bis du vertilget werdest« Ebenso
gehen im Weingartner Reisesegen8) von jedem segnenden Finger elf
Engel aus 9).
*) Meine Altgermanische Poesie, S. 48 f.
2) Helg. Hund. Str. 29; Gering, Edda, S. 178.
3) Analoge Fälle sind in der Bibel die Verfluchung Kains, der Segen an
Jakob, die Verfluchung des Feigenbaums. — Noch Walther v. d. Vogelweide in
seinem Dank an Ludwig (18, 15) bewahrt formelhafte Wendungen feierlicher
Segenssprüche.
4) Klassisches Beispiel wieder Bileam, der 4. Mose, Kap. 22 zur Verfluchung
der Israeliten eingeladen wird. — Vgl. B. Du hm, Die Gottgeweihten, Tübingen
1905, S. 8.
fi) Vgl. Meyer S. 303. «) Meyer S. 31-33; 58.
7) Helg. Hund. 2, 29.
8) Müllenhoff und Scherer, Denkmäler IV, 8.
9) Die Erinnyen, vgl. Preller 1, 835, erscheinen als Verkörperungen dieser
verfolgenden Flüche, gerade wie die Litai (ebd. 534) die Gebete verkörpern;
ebenso der lOQxoq selbst (vgl. R. Hirzel, Der Eid, Leipzig 1901); und das
§ 14. Zaubermenschen. 141
Dem Fluch und Segen sind durch ihren Charakter von Anrufung
und Beschwörung nach verwandt Eid und Gelübde1), die wir aber ihres
feierlicheren Charakters wegen bei den Kulthandlungen besprechen. —
Auch die Weissagung ist ursprünglich eine an relativ bestimmte
Zeiten geknüpfte Form des Zaubers — wenn sie auch später gleichfalls,
nachdem die Priester sich ihrer bemächtigt hatten, in den regelmäßigen
Kultus aufgenommen wurde2). Schon Nietzsche hat mit Recht betont,
daß Prophezeien nichts anderes ist als ein Binden und Festlegen der Zu-
kunft, und daß es in alten Zeiten auch nicht anders aufgefaßt wurde3).
Die Weissagung ist also gewissermaßen eine in die Zukunft verschobene
Form von Segen oder Fluch.
Die ursprüngliche Vorstellung des Weissagens werden wir uns ganz
körperlich vorstellen müssen. Der Mensch macht die Erfahrung, daß er
etwas Herannahendes vorher wahrnimmt, z. B. aus dem Staub auf der
'Straße heransprengende Reiter; oder daß von einem Wartturm her schon
Dinge gesehen werden können, die man sonst erst später entdecken würde.
Diese Erfahrung wird gesteigert: es hat jemand so scharfe Augen, daß
er die Feinde schon sieht, während sie eben erst aufbrechen und erst in
Tagen oder Wochen mit gewöhnlichen Augen wahrgenommen werden
können; dann besitzt er eben das »zweite Gesicht«, die Gabe des Voraus-
sehens. Sie gilt unter den schottischen und westfälischen Bauern — wo
diese Leute Kieker heißen — als weit verbreitet4). Mit Recht wird diese
Gabe, mit der Verborgenes zu erkennen (z. B. versteckte Schätze), zu-
sammengestellt 5).
Zunächst also erscheint das Voraussehen nur als eine gesteigerte
körperliche Funktion (und das Voraussagen als der Bericht darüber). Nun
soll erstens dies Voraussehen erzwungen werden und zwar auf unerhörte
Entfernungen in Raum und Zeit ; dazu ist ein Anteil an der prophetischen
Gabe der Dämonen (besonders der Geister des fließenden Wassers; denn
dies versinnbildlicht den ununterbrochenen Fluß der Dinge6) erforderlich.
häufige Sagenmotiv, daß ein böser Fürst, wie Kambyses oder Geiröd in den
Grimnismäl in sein eigenes Schwert stürzt, ist vielleicht nur Umsetzung einer
Verfluchung wie Helg. Hund. 2, 31 — »nicht schneide das Schwert, das du
schwingst im Streite, es singe denn, Mörder! dir selber ums Haupt!« — in epische
Wirklichkeit (vgl. Saxo über Hading, S. 30, Hermann, S. 37).
*) Vgl. z. B. Vkv. Str. 33.
2) H. Gering, Über Weissagung und Zauber, Kiel 1902.
■) »Die fröhliche Wissenschaft« , S. 106 ; vgl. meine Altgermanische Poesie, S. 50.
4) Vgl. Wuttke, S. 321 f.; über das Wahrsagen überhaupt ebd. S. 193 f.
5) Wuttke, a. a. O. ; »Fernsehen im Raum und Vorschauen in die Zeit«,
G ö r r e s, Christliche Mystik 2, 129 f . ; J o 1 y, Psychologie des Saints, Paris 1902, S. 77. —
Eine prachtvolle Veranschaulichung des sinnlichen Voraussehens in C. F. Meyers
Gedicht »Der Mönch von San Bonifacio«; im Märchen: Brüder Grimm 1, 375.
6) Vgl. Mogk, S. 4001; Meyer, S. 306f., 327; Golther, S. 646 f.
142 Drittes Kapitel.
Und zweitens soll das Erschaute festgelegt werden, so daß auch kein
Gott es mehr ändern kann — und deshalb muß auch die Verkündigung
in feierlicher Weise erfolgen.
Man ersieht aus dem allen, daß die Prophetie ein schwierigerer und
zaubermäßigerer Akt ist als Segen und Fluch. Besonders gern überläßt|
man sie denn auch wirklich den Zauberern x). Auch überwiegt hier die
öffentliche, sozusagen staatliche Anwendnng von allem Anfang an be-
deutend. — Nötig aber ist beides nicht. Es gibt auch private Befragung
der Zukunft, und sie steht jedem offen, freilich nur unter bestimmten Be
dingungen. Eine völlige Loslösung von aller zeitlichen Gebundenheit, wie
bei der Astrologie des 16. und 17. Jahrhunderts, ist noch nicht denkbar.
Die private Anwendung ist für die ältere Zeit nur aus dem Volksglauben]
belegt2). Aber schon früh wird man aus dem Rauhreif oder der Stern
zahl die Ernte prophezeit haben, und gewiß sehr alt ist der Nacktheits
zauber: vom Kreuzweg3) oder in der Stube4) sieht man in bestimmten
Nächten die Zukunft, wenn man sich völlig entkleidet und bestimmte
symbolische Handlungen vornimmt5). Die Bedeutung der Nacktheit is
trotz mancher Versuche nicht völlig aufgeklärt.
Eine Mittelstufe zwischen staatlicher und private
Prophetie ist das Befragen eines offiziellen Wahrsagers, eines Zauberers
bei den Skandinaviern gern eines zauberkundigen Finnen6).
Bei öffentlicher Anwendung7) befragt der Priester für das Volk
die Götter und zwar durch
a) die Runen, d. h. durch ein allgemein zugängliches Zaubermittel
zu dessen richtiger Anwendung und Auslegung man aber der doppelten
Weihe der Person (Priester) und des Moments bedarf8).
b) Loosen auf Ja oder Nein? auf bestimmte Personen9).
c) Auspicia 10), d. h. Befragung von Dingen, auf deren Gestaltung
der Mensch gar keinen Einfluß hat. Diese Form der Weissagung beruht
ursprünglich wohl auf der Geisterbeschwörung »): die (selbst wahrsagenden)
x) Vgl. z. B. Meyer S. 42 306 f.
a) Vgl. Wuttke S. 329 f.
3) Meyer S. 327, vgl. 308.
4) Wuttke S. 350.
5) Vgl. Weinhold, Znm altgerm. Ritus.
6) Golther S. 306.
7) Mogk S. 400.
8) Über die Form der Befragung vgl. Müllenhoff und Liliencron, Zur
Kunenlehre; meine Altgermanische Poesie, S. 494 f.; Mogk, S. 401.
") Mogk S. 176; vgl. z. B. bei den Chinesen: de Groot, ' Kultur der
Gegenwart III 1, 176.
,0) Tac. Germ., Kap. 10: auspicia sortesque ut qui maxime observant.
») Vgl. Golther S. 65 Anm.
§ 14. Zaubermenschen. 143
Geister werden veranlaßt, sich zu äußern. Dies tun sie aber nur in feier-
lichen Momenten, nach Anrufung, die z. B. in der Handlung des Opfers
an sich liegt, so daß die Befragung von Opfertieren (durch Deutung der
Eingeweide: haruspictn1) möglich ist. Sie geschieht »nach einem
komplizierten System vielfach sich auch kreuzender Lehrsätze und Regeln«
und kann als die frühest ausgebildete wissenschaftliche Technik bezeichnet
werden.
Bei den Germanen scheinen unter den vielerlei möglichen Arten der
auspicia die akustischen über die optischen überwogen zu haben. Arten
der Auspicien sind gerichtet auf:
a) das Wiehern heiliger Rosse (wie bei den Persern): wenn sie
schnauben und wiehern, spricht der Gott aus ihnen 2),
b) den Flug der Vögel, wohl besonders der heiligen Raben (sie fliegen
etwa auf die Beute zu3),
c) Richtung und Geräusch des Windes,
d) den Klang des barditus4): sunt Ulis haec quoque carmina
quorum relatu, quem barditum vocant, accendunt animos futuraeque
pugnae fortunam ipso cantu angurantur terrent enim trepidantve
prout sonuit acies5). Der angerufene Kriegsgott spricht aus dem
Widerhall6),
e) die Träume: die Seele im freien Zustand gewinnt Geisteskraft7).
Durchaus aber sind all diese Weissagungen an den »pathetischen
Moment« gebunden. Er kann sich von selbst einstellen, durch die Er-
regung vor der Schlacht, die Feststimmung, den nahenden Tod; oder er
wird vorbereitet durch allerlei Mittel des Rausches usw.8).
J) Vgl. Wissowa, S. 470f.
2) Tac. Germ., Kap. 10: proprium gentis equorum quoque praesagid ac
monitus experiri. Solche heiligen Rosse werden in Drontheim für Frey gezüchtet.
Mogk, S. 402.
3) Vgl. Tac: avium voces volatusque interrogare ; Indic. superstit. 13; Zeitschr.
f. d. Phil. 16, 186. 191. — Vögelsprache Fäfnismäl Str. 32 f. und im Märchen. —
Meyer, S. 306.
4) Tac. Germ., Kap. 3.
5) Trotz der letzten Auslegung von Brückner, Festschrift zur Baseler
Philologen- Versammlung 1907, S. 65 f., bleibe ich bei der alten Deutung «Schild-
gesang*; vgl. Häv. Str. 155: »ich raun' in die Schilde«; Rambaud, Geschichte
Rußlands, Berlin 1887, S. 44.
6) Psychologische Grundlage in der Stimmung des Heeres. Der blinde
Harald erkennt die Niederlage aus dem traurigen Gemurmel der Seinigen (G ol t h e r,
S. 331). — Zu Thor bringt den barditus in Beziehungen Mogk, Sammlung
Göschen, S. 61.
7) Golther, S. 659.
8) Vgl. o. S. 78. Über Wahrsagerei wie über Zauber enthalten alle folklo-
ristischen und mythologischen Werke ein unerschöpfliches Material, das aber doch
144 Drittes Kapitel.
2. Aber neben den allgemein zugänglichen Zaubermitteln gibt es
Zaubermittel, die nur Einzelnen zugänglich sind. Diese Einzelnen sind
Priester oder Zauberer.
Die Priester sind durch ihr Amt, die Zauberer durch persönliche
Begabung oder Erwerbung im Besitz übernatürlicher Kräfte, weil sie Anteil
an der Macht der Götter oder Dämonen empfangen haben.
Bei dem Priester ruht die Kraft in der ein für alle Mal vollzogenen
Weihe ; sie bezieht sich zunächst nur auf einzelne Funktionen, greift dann
immer weiter, bis schließlich die Lamas leibhafte Fetische werden1). —
Der Zauberer empfängt entweder ebenfalls die Weihe, nämlich indem er
von einem anderen eingeführt wird (»apostolische Sukzession« : dieser kirch-
lichen Lehre liegt noch die Vorstellung von der Unersetzbarkeit der un-
mittelbaren Übertragung zugrunde), oder er erwirbt sie selbst (wie sein
Schutzgott Odin 2). Er steht in der Mitte zwischen bösen Zaubermenschen
(Werwolf, Hexe) und Priestern als Vertretern der weißen Magie: er kann
seinen Zauber zum Guten und zum Bösen verwenden.
Die Priester also beziehen ihre Zauberkraft aus dem Kultus und sind
deshalb an anderer Stelle zu besprechen. Der Zauberer aber ist eine
Hauptfigur der niederen Mythologie3).
Über die ganze Welt ist die Vorstellung verbreitet, daß gewisse (meist
männliche, doch gerade im germanischen Norden oft auch weibliche)
Persönlichkeiten durch ihre besonderen Beziehungen zu den Dämonen auf
diese einen (gewöhnlichen Sterblichen versagten) Zwang auszuüben ver-
mögen. Man nennt sie »Medizinmänner« (weil sie besonders auch zur
Heilung von Krankheiten berufen werden), Zauberer, vor allem mit einem
von sibirischen Urvölkern stammenden Terminus »Schamanen«4).
Die Vorstellung hat mancherlei Wurzeln in Erfahrung und Psychologie:
ekstatische, auch kranke Personen üben auf bestimmte Kranke einen
»dämonischen« Einfluß aus5); deshalb stellt der altnordische Ausdruck
trolldom für Zauberei den (gefährlichen) Zauberer mit den Unholden
auf eine Stufe6). Dazu kommen zufällige Erfolge, vom Eigennutz aus-
fast immer nur die überall gleichen Hauptlinien bestätigt. Ich verweise hier nur
des Beispiels wegen für Vorzeichen auf Hillebrandt, S. 183, und allgemein
auf H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur, S. 590f. — Zeus wie Odin Schutzherr
der Mantik: Preller 1, 142.
l) Vgl. Frazer 1, 42f.
'-) Häv. Str. 138 f.
*) Allgemein vgl. Edv. Lehmann, Kultur der Gegenwart, S. lOf. und von
der dort zitierten Literatur besonders H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur.
S. 595 f.
*) Vgl. Edv. Lehmann a. a. O. S. 15.
5) Björnson, Über unsere Kraft.
6) Golther S. 648.
§ 7. Die Quellen. 65
für sein Alter mehr auszusagen, als seine Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Schicht von Überlieferungen1).
Im übrigen müssen wir für Auffassungen und Darstellungen der ger-
manischen Mythologie auf unser Schlußkapitel verweisen. Wir selbst
stellen uns etwa auf den Standpunkt eines aufgeklärten Heiden, der sich
(wie der König in der Prosa-Edda) die Eigenart der allgemeinen Mytho-
logie von einem Priester erklären läßt — für den wir freilich moderne
Termini voraussetzen müssen!
J) Nachstehend eine kurze Übersicht der wichtigsten heute noch brauchbaren
Darstellungen. Grundlegend und unentbehrlich bleibt J. Grimm, Deutsche
Mythologie. Von neueren Darstellungen scheint mir die vorzüglichste die von
Mogk in Pauls Grundriß der germ. Phil., 1. Aufl. 1, 982f.; 2. Aufl. 1, 230f.
Die beiden Bücher von E. H. Meyer, Germanische Mythologie, Berlin 1891 (Rec.
Mogk, Indogermanische Forschungen, Anzeiger 3, 22) und besonders Mythologie
der Germanen, Straßburg 1903, sind wertvoll namentlich in der Darstellung der
niederen Mythologie, aber wegen ihres einseitigen Standpunktes (von dem aus
der gelehrte Verfasser überall christliche und gelehrte Einflüsse wittert) nur mit
Vorsicht zu bemerken. Diesen Standpunkt teilt die geschickte Materialsammlung
von W. Golther, Handbuch der germanischen Mythologie, Leipzig 1895 (Rec.
R. M. Meyer, Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde 1896, S. 87 f.). Oberflächlich ist
seine populäre Schilderung Religion und Mythus der Germanen, Leipzig 1909. —
Lehrreich durch den religionsvergleichenden Standpunkt Chantepie de la
Saussaye, Religion of the Teutons (Handbooks of the History of Religion III),
Boston 1902; in kürzerer Form holländisch erschienen: Geschiedenis van den Gods-
dienst der Germanen, Haarlem 1900. — Neue Gesichtspunkte bringt Fr. v. d. Ley e n,
Deutsches Sagenbuch I, Leipzig 1909 (Rec. A. Brandl, Arch. f. n. Spr. 121, 467). —
Von den kürzeren populären Darstellungen scheint mir nur die von Mogk (in
?der »Sammlung Göschen«), obwohl zu »folkloristisch« gestimmt, empfehlenswert.
Die nordische Mythologie allein stellt A. W. Craigie, The Religion of ancien
the Scandinavia, London 1906, dar. Eine historische Entwicklungsgeschichte der
germanischen Mythologie sucht außer Chantepie de la Saussaye und
v. d. Leyen zu geben Noreen, Spridda Studier, Stockholm o. J., 1, 19 f. ; vgl.
auch Symons, Ontwikkelingsgang der Germaansche Mythologie, Groningen 1892.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte.
Drittes Kapitel.
Niedere Mythologie.
Die niedere Mythologie reicht nach unseren Ausführungen bis zu den
Anfängen des Götterglaubens. Ihre wichtigsten Quellen liegen in dem
vorsichtig auszudeutenden »Aberglauben« und den damit zusammen-
hängenden Sitten und Gebräuchen, die sich (freilich überwiegend ohne
Erinnerung an ihre ursprüngliche Bedeutung) oft merkwürdig treu bis in
die neuere Zeit, wenigstens bis zu der Aufklärungspolizei des aufgeklärten
Despotismus, erhalten haben. Daneben hat die Erschließung aus der
Analogie gerade hier kräftig mitzuarbeiten, da die primitiven Völker der
Gegenwart (»Naturvölker«) sich zumeist noch auf der Stufe der niederen
Mythologie (besonders des Animismus) befinden und (s. o.) auch die Indo-
germanen vor der Völkertrennung dort gestanden zu haben scheinen.
§ 8. Die untersten Stufen.
1. »Augenblicksgötter« sind kaum nachzuweisen. Vielleicht
kann man die Erzählung von dem Isländer Thorolf hier anziehen. Dieser!}
Verehrer Thors wanderte aus Norwegen aus und brach dabei einen Thors-1
tempel ab; den Pfeiler, in den das Bild des Gottes geschnitzt war, war!
er voraus in die See, und wo dieser ans Land stieß, baute er sich an —
die gleiche Form des Orakels wie oft in Kirchen- und Klostergründungs
sagen. Dort stand ein Vorgebirg und auf ihm ein Berg; »dem wandt«
Thorolf so große Verehrung zu, daß niemand ihn ungewaschen anseher
durfte, und weder Tiere noch Menschen sollten auf dem Berge getöte
werden«1). Wahrscheinlich bedeutet das nur, daß der Berg »tabu« wurde
eine heilige Stätte, durch Thor geweiht; denkbar wäre aber auch, daß e:
als Haupt des Vorgebirges, das die Auswanderer aufnahm, selbst für göttlicl
erachtet worden wäre: dahin deutet das Verbot, ihn ohne Reinigung zi
betrachten (gleichsam mit den Augen zu »betreten«)2).
') Golther S. 122, 249.
-) Über Brynhilds »Anrufung von Tag und Nacht« (Sgdr. Str. 3) vgl. u.
§ 8. Die untersten Stufen. 67
2. »Fetischismus« ist natürlich viel stärker vertreten, schon wegen
der größeren Festigkeit der Oberlieferung.
Albrecht von Halberstadt hat — freilich nicht aus wirklicher
Kenntnis ! — den Fetischismus und Animismus seiner Vorfahren anmutig
geschildert:
holze und steine
ir oppher sie brachten . . .
sie wären unversunnen
und geloubten an die brunnen
und an die boume in dem walde1).
Auch die Wissenschaft hat auf diese Fortdauer des Fetischismus sehr
früh geachtet. Rühs2) sagt: »Es finden sich die unzweideutigsten Spuren,
daß ungeachtet man bereits Hauptgötter und Nationaltempel hatte, manche
Individuen noch ihre besonderen Fetische verehrten; so opferte z. B. ein
norwegischer Stammkönig Rogwald einer Kuh, ein Isländer Brandr seinem
Roß Freyfor . . .«
Die ausführliche Schilderung der Einsetzung eines Fetisches sehe ich
(gegen Heusler) in der Erzählung vom Völsi3).
Heusler4) möchte nur an einen alten Ritus glauben, bei dem der
Phallus als Opfergabe herumgereicht wurde; der christliche Bericht-
erstatter erst habe daraus einen Fetisch gemacht. Ist aber etwas, was
täglich umhergereicht wird, eine Opfergabe? Mir scheint alles klar,
wenn die Bauern das — etwa besonders starke — Glied zum Fetisch
machen, es bekleiden und benennen (mit dem unverständlichen Namen
»Mörnir«) und ihm jeden Abend eine Strophe als symbolische Opfer-
J) Prolog der Metamorphosen, vgl. Edw. Schröder, Gott. Ges. d. Wiss.
1909, S. 77 f.
2) Die Edda, 1812, S. 13.
3) Heusler, Zeitschr. d. Ver. f. Volkskunde, 13, 24 f. Im nördlichen Nor-
wegen, in abgelegener Gegend, stand ein Bauerhof, bewohnt vom Bauer mit
seiner Frau, mit Sohn und Tochter, Knecht und Magd; zu denen war der neue
Glaube noch nicht gedrungen. Einmal . . . starb der fette Lasthengst, und als man
ihn ausbälgte, um nach der Sitte der Heiden sein Fleisch zu genießen, da schnitt
ihm der Knecht das Zeugungsglied ab und wollte es wegwerfen ; der Bauernsohn
aber nahm es und wies diesen , Völsi' (»starkes Glied« ? vgl. Heusler S. 34) unter
Gelächter den drei Frauensleuten vor. . . . Die Mutter nahm den Völsi an sich,
trocknete ihn, wickelte ihn in ein Tuch und legte Kräuter dazu, damit er nicht
faule. Durch die Kraft des Teufels wuchs der Völsi und erstarkte. Die Bäuerin
wendete ihm all ihren Glauben zu und hielt ihn als ihren Gott; auch die Haus-
genossen verleitete sie zu diesem Irrglauben. Jeden Abend wurde der Völsi herein-
getragen, von dem einen zum anderen gereicht, und jedes sprach eine Strophe
über ihn.« — Das erfährt dann der fromme König Olaf, geht verkleidet zu diesem
Abendgottesdienst, und wirft schließlich den Völsi dem Haushund vor, zum Ent-
setzen der fanatischen Bäuerin.
4) a. a. O. S. 31.
5*
58 Drittes Kapitel.
gäbe bringen. Phallische Züge fehlen keiner Mythologie1), auch nicht
(wie Heusler selbst anmerkt) der altgermanischen. — Hier hätten wir also
die bewußte Einsetzung eines zufälligen Gegenstandes, das als Symbol der
Fruchtbarkeit zum Hausgott wird2).
Fetischismus liegt wohl auch noch in einigen Fällen vor, in denen
E.H.Meyer3) und Mogk4) Baumkult animistisch deuten. Die Obergänge
sind ja sehr fein; der Unterschied liegt einerseits in der von uns kaum
je kontrollierbaren Einsetzung, andererseits darin, daß nicht lokalisierte
Geister (wie beim Animismus), sondern allgemeine Kräfte, die hier nur
> deponiert« sind, Verehrung genießen. In diesem Sinne haben wir wohl
Fetischismus, wenn verehrt werden :
Steine. Der heilige Eligius verbietet ad petras luminarias facere;
der Indiculus superstitionum — ein Verzeichnis abergläubischer Gebräuche,
auf deren Ausrottung die Geistlichen halten sollen — spricht de Ms, qttae
faciunt super petras. Die Steinfetische werden geschmückt und gesalbt.
Burchard von Worms gegen die vota ad lapides: Gelübde, dem Stein-
götzen dargebracht.
In Giljä im Norden von Island stand ein Stein, in dem der Fetisch
der Familie Codrans wohnte; er ließ sich erst taufen, als der Bischof den
Stein durch seinen beschwörenden Gesang zerbrochen hatte. Ein anderer
Isländer verehrte die »Kriegssteine«, die wohl einmal in einem Kriege
Dienste getan hatten5).
Gewählt werden wohl besonders Steine von auffallender, besonders von
menschenähnlicher Form. An solche knüpfen noch spät Sagen : sie sollen
versteinerte Menschen darstellen6); so der bekannte Hans Heiling bei)
Karlsbad. Solche Versteinerungen (durch den Tagesanbruch) erzähltei
eddische Gedichte7).
Felsen erfahren gleiche Verehrung; sie sind ja große Steine. S<
das von Thorolf verehrte Vorgebirge Thorsnaes 8). Vielleicht knüpfen dii
Brockensagen an solchen Kultus des seltsam gelagerten Berges an9).
*) Reiche, aber unkritische Aufzählung bei J. A. Dufaure, Des divinites
generatrices, Neudruck Paris 1905.
-) Aufzählung der altindischen Fetische bei Macdon eil S. 154 f.
3) So zitiere ich die Mythologie der Germanen; S. 151.
4) a. a. O. S. 387.
5) Craigie, Religion of Ancient Skandinavia, S. 37.
6) Wie die Salzsäule Lots Weib: Gunkel, Genesis S. 193.
7) Helg. Hjörv. Str. 3, Alv. 36.
8) Gother S. 122, 248; s. o. S. 66.
9) Könnte die ägyptische Göttin, die »die westliche Spitze« heißt (Erman
Ägyptische Religion S. 79) nicht ursprünglich wirklich der Fetisch eines Felsen!
gewesen sein? — Fetischismus von Steinen bei den finnischen Nachbarn beliebt
Castren, Finnische Mythologie S. 223. — Von ferneren Beispielen nenne ich nui
i
I
§ 8. Die untersten Stufen. 69
Eine Hauptklasse der Fetische bilden die Pfähle und Baum-
stümpfe1). Von hier kommt vielleicht unser Wort »Götze«2). — Über
den Zusammenhang der roten Pfahlfetische mit den geschnitzten Götzen-
bildern am Hauptpfeiler der Tempel 3) ist später zu handeln 4).
Wohl die weiteste Ausdehnung hat der Kult der Bäume5). Er ist
von der späteren Verehrung des Wald- und Feldgeistes zu scheiden6):
nicht ein Geist im Baume wird verehrt, sondern dieser selbst 7). Vielleicht
ist der Wodanskult (s. u.) aus der Verehrung breiter laubreicher Bäume er-
wachsen. Besonders hohe und breite Bäume genossen jedenfalls be-
sonderer Verehrung. Dahin gehört die berühmte sächsische Irminsul
bei Eresberg (heute Stadtberge), das nationale Hauptheiligtum des Stammes 8),
das 772 von Karl dem Großen zerstört wurde; er fand dort Silber und
Gold (Votivgaben? Schmuck? wie Xerxes einen prächtigen Baum, zum
Hohngelächter der Hellenen, schmücken ließ). Als eine mythische Steigerung
solcher Götterbäume faßt man gewöhnlich die Weltesche Yggdrasill
auf, wie ich glaube, mit Unrecht.
Der heilige Baum heiligt seine Umgebung9). So entstammt die Heilig-
keit des berühmten Haupttempels zu Upsala wahrscheinlich dem daneben
stehenden Riesenbaum10), und er ist vielleicht nur an diesen angebaut,
die Kaaba in Mekka, den Nabel der Erde in Delphi, einen weißen Stein, J. Grimm,
Kl. Sehr. 2, 70; vgl. Goldziher, Kultur der Gegenwart I; III, 1, S. 90 und den
Lapis manalis der Römer, Wissowa S. 106. Allgemein vgl. P. Saintyves,
Les vierges meres, Paris 1908, S. 19 f. (unkritische Materialsammlung).
*) Über die »Säule« (d. h. den zurechtgestutzten Pflock) als indogermanisches
Kultobjekt vgl. Schrader, Reallexikon 2, 860; Meringer Indogermanische
Forschungen 18, 277 f., Much, Wörter und Sachen 1, 39 f.
2) Vgl. Meringer S. 280.
3) Vgl. auch Much a. a. O.
4) Der Pfahl ist Urform sowohl der griechischen Herme (s. o.) als auch wahr-
scheinlich der Totem -Säulen: die erst nur symbolisch verstandene Tier- oder
Menschenähnlichkeit wird deutlicher ausgearbeitet. Der Kult geht vielleicht von
den durch den Blitz abgestumpften und abgeschälten Bäumen aus, in die der
Blitz hineingefahren war. Ein heiliger Pfahl neben dem Altar in Jerusalem
2. Könige 23, 6 (vgl. Giesebrecht, Grundzüge der israelitischen Religions-
geschichte, S. 31), den die Eiferer beseitigten wie die presbyterianische General-
versammlung das katholische Kreuz aus der Kirche: vgl. Brand 1, Altengl. Lit.
; S. 1030.
5) Mannhardt, Baumkultus der Germanen, Berlin 1875, grundlegend; vgl.
E. H. Meyer S. 20, 26, 30, 150f., Mogk S. 293.
6) Golther S. 152f.
7) Frazer, The golden bough 1, 64: »der Baum wird bald als der Körper,
bald nur als das Haus des Baumgeistes betrachtet«; nur im ersten Fall haben
■ wir Fetischismus.
8) E. H. Meyer S. 25, 312; vgl. Much S. 40.
9) L. Castren, Finnische Mythologie, S. 206, 226.
10) Golther S. 598.
70 Drittes Kapitel.
etwa um die Weihegaben1) aufzunehmen, wie man noch jetzt in der
Nähe italienischer Wallfahrtskapellen (z. B. bei Brissago am Lago Maggiore)
derartige Depothäuser findet. — Durch diese Emanation der Heiligkeit
wird aus dem heiligen Baum ein heiliger Hain: die Irminsäule wird bald
als »Idol«, bald als »Hain« bezeichnet. Doch ist es wohl möglich, daß
der Hain auch unmittelbar verehrt wurde. Jedenfalls stand er schon bei
den Urgermanen in Verehrung2).
Ein Fortleben des Baumkultus nimmt man gewöhnlich in den »Mai
bäumen« der Frühlingsfeste an, indem ein ausgewählter Baum mit Bändern
und anderem Schmuck behangen wird3); auch an den geschmückten
Weihnachtsbaum hat man gedacht, der aber nicht vor 1605 nachzuweisen
ist4). — Die mythologischen Beziehungen zwischen Mensch und Baum,
auf die Much 6) verweist, haben zu dem Baumkultus schwerlich beigetragen ;
denn die Auffassungen des Menschen als eines rein vegetativen, früchte-
tragenden Wesens sind der des Baumes als eines göttlichen, willensbegabten
Wesens fast entgegengesetzt6).
Die zweite Hauptkategorie der Fetische sind wohl die Waffen;
bei ihnen tritt wieder die Verwandtschaft mit den »Augenblicksgöttern
besonders deutlich hervor.
Tacitus7) erwähnt, daß die Germanen zum Kriege effigies et signa
quaedam detracta lucis in proelium ferunt. Man hat die effigies
die Tacitus an anderer Stelle 8) ferarum imagines nennt, als Symbole
der den Göttern heiligen (Totem?) Tiere, die signa als deren Attribute
aufgefaßt9). Aber die Aufbewahrung im heiligen Hain läßt an Fetische
denken: Wodans Speer, Donars Hammer, Tius Schwert werden als wirk-
liche Helfer herausgebracht.
*) E. H. Meyer S. 316.
2) Tacitus, Germ. 9: »lucos ac nemora consecrant deorumque nominibu
appellant secretum illud quod sola reverentia videnH ; vgl. Mogk S. 396.
3) So Mogk und Much, a. a. O.
*) Tille, Geschichte der deutschen Weihnacht, Leipzig 1893, S. 257; Kron-
feld, Der Weihnachtsbaum, Oldenburg u. Leipzig 1907, S. 156 f.
5) a. a. O.
6) Primitiver Baumkultus : Fraze r 1,48 f.; Bei den Indern :Macdonel IS. 154
Menschen als Bäume keine primitive Vorstellung, sondern erst aus den Anfänger
des Götterkultes: so griechisch bei den als erste Menschen »wie Bäume von dei
Erde emporgetriebenen« Kureten (Preller 1, 641), so bei vielen anderen Völkerr
(P. S a i n ty v e s , Les Vierges Meres S. 56 f.). Diese Vorstellung von den Menscher
als »Naturprodukten« scheint eine Scheidung der mechanisch arbeitenden »Natur«
von der Geisteswelt» vorauszusetzen, die schwerlich sehr frühen Kulturperioder
zuzutrauen ist. Vgl. auch Lukas, Kosmogonien S. 253.
7) Germ. c. 7.
8) Hist. 4, 23.
9) Golther S. 602.
:
§ 8. Die unterste Stufe. 71
Jedenfalls sind alle drei ursprünglich Fetische gewesen, besonders der
Hammer — ob er nun ursprünglich als Waffe oder als Werkzeug ver-
ehrt wurde. Noch spät wird er als Signum, als Amulet und Talisman
verwandt1). Thor »weiht«, weil er den Hammer besitzt2). Eine phallische
Bedeutung3) braucht man trotz seiner Verwendung zur Hochzeitsweihe
nicht anzunehmen. Ebensowenig ist die Erklärung, daß der Hammer der
Donnerkeil sei, weil er immer wieder in die Hand Thors zurückkehrt4),
zwingend. — So häufig war die Verwendung des Hammers, daß später
Verwechslung mit dem Kreuzeszeichen eintrat5).
Man hat für den heiligen Hammer ein vorgermanisches Alter an-
genommen. In Kreta war schon lange vor der mykenischen Kultur das
Doppelbeil Symbol des Donnergottes und »auf seinem Wege nach dem
Norden, wo er dreitausend Jahre später als Thorshammer erscheint«6).
Die labrys1) »war nicht ein Symbol, sondern das unmittelbare Bild der
Gottheit; die übernatürliche Macht wohnte in ihm«8). Also ein vor-
germanischer Fetisch, und doch zugleich Sinnbild schon eines Gottes?
Jedenfalls scheint es einfacher, anzunehmen, daß ursprünglich der heilige
Hammer lediglich wirklich ein solcher mit Fetisch eigenschaften war, der
dann später auf den Donnergott und sein Symbol, den einschlagenden
Blitz, bezogen wurde. Kann die gleiche Wandlung sich nicht aber im
Norden selbständig vollzogen haben? Ist der Thorshammer notwendig
von der kretischen Labrys abzuleiten ? 9) Kann nicht eben jeue Verwechslung
mit dem Kreuz bedenklich stimmen? Ich möchte jedenfalls glauben, daß
überall der Werkzeug- oder Waffenfetisch das Ursprüngliche ist und nicht
die Symbolbeziehung. Ob die Amulette (Bernsteinhammer u. dgl.) schon
auf Thor Bezug haben, bleibt gleichfalls fraglich 10).
Die bedeutendste Rolle unter den Warf enfeti sehen spielt aber das
J) Golther S. 251, 2.
2) Thrymsk. Str. 30.
3) E. M. Meyer, Germanische Mythologie, S. 212.
4) Ders., Myth. d. Germ., S. 159.
5) Goblet d'Alviella, Migration des symboles, S. 21 u. ö.
6) S. Müller, Urgeschichte Europas, S. 59.
7) a. a. O. S. 69.
8) a. a. O. S. 151.
9) Ebd. S. 186; dagegen Much, Gört. Gel.-Anz. 1909, Nr. 2, S. 95 f.
10) Heilige Speere finden sich auch in Ägypten (Er man S. 214) und werden
dort gleichfalls in verkleinertem Abbild als Amulette getragen. Heilige Waffen,
besonders Bogen, im Veda Macdonell S. 155. Heilige Speere, ebenfalls in der
Mehrzahl, und heilige Schilde (ancilia) bilden einen Hauptgegenstand im Kult
des Mars (Wissowa S. 131). Über die heilige Lanze, ein Abzeichen des
(deutschen) Reichs A. Hofmeister, Breslau 1908 — sie bezeichnet bereits den
(häufigen) Übergang von Waffen zu Insignien.
72 Drittes Kapitel.
Schwert. Der Schwertdienst ist bei den Quaden ausdrücklich bezeugt1)
ebenso heißt bei den Sachsen die Hauptwaffe, das kurze Schwert, sahs
und der Kriegsgott Saxnot — mag er nach dem Schwert oder nach dem
Volk benannt sein oder dies nach dem Stammheiligtum. Auch sons
fehlt es2) nicht an Spuren des Schwertkultes in der germanischen Mytho
logie. Eine ursprüngliche Beziehung des Schwertes auf die Sonne3
möchte ich auch hier bezweifeln ; später wird auch hier der Fetisch zun
Attribut4).
Sehr nahe liegt die Fetischisierung von Insignien, wie dem Szeptei
von Chaeronea5), dem Mantel des Elia6) und hebräischen Feldzeichen7).
Wir finden in der germanischen Mythologie keine Analoga; Thors Kraft|
gürtel ist von ganz anderer Art. — Zu den heiligen Opfergefäßen dei
Inder8) ist an die altnordischen Namen mit -ketill »Kessel« zu erinnern
Den Waffen stehen die Werkzeuge nah (s. o. zum Hammei
Thors). Wir wissen nicht, ob von den zahllosen Grabfunden nicht manch<
Spindel u. dgl. eine Fetischbedeutung hatte; die Wundermittel de
Grottasöngr 9) sind rein märchenhaft wie der Besen von Goethes Zauber
lehrling.
Schon in der Geschichte vom Völsi trafen wir eine letzte Kategori«
von Fetischen: Körperteile. »In der fabelhaften Erzählung von J)or
stein Boejarmagn besitzt König Geirrodr ein Trinkhorn, an dessen Spitz*
sich ein Menschenhaupt mit Fleisch und Mund befindet, das dem Köni^
zukünftige Dinge prophezeit. Ebenso besaß ferner nach einer alten Ober
lieferung ein Isländer namens Thorleifur den Kopf eines ertrunkenen Manne
(nach anderen den eines Kindes), den er in einer Kiste aufbewahrte
Dieser offenbarte ihm alles, was er zu wissen wünschte« 10). Daß das Hau
e
*) Mogk S. 317.
2) S. ebd.
8) Mogk a. a. O.: »das Schwert kann nichts anders als die leuchtend
Sonne sein.«
4) Vgl. auch zur Etymologie von hamar und sahs Much, Abhandlunge
zur germanischen Philologie, Festgabe f. Heinzel, Halle 1898, S. 232, Anz. f. d
Alt. 28, 306. — Schwertfetischismus zeigt sich z. B. bei den Chinesen in dei
Legenden von der Verwandlung der Seelen in Schwerter (Pfitzmaier
Sitzungsber. Wiener Akad. 1878). Auch die Sichel des Kronos ist »das gewöhn
liehe Krummschwert« (Preller 1, 53) und wohl erst später Attribut geworden
woraus sich dann äthiologische Mythen entwickeln konnten.
B) H. Diels Berliner Rektorrede 1905.
6) 2. Könige 2, 8; vgl. 1. Könige 19, 19.
7) Seh wally, Semitische Kriegsaltertümer, S. 16.
8) Macdonell S. 154.
9) Gering, Edda, S. 377; vgl. v. d. Leyen, Märchen in der Edda, S. 58
') Mogk S. 306.
§ 9. Die Seelen. 73
des Toten guten Rat erteile und die Zukunft künde, ist auch sonst alter
Volksglaube1). Mit dem Mythus von Mimirs Haupt möchte ich das aber
lur so weit in Verbindung setzen, als dieser alte Naturmythus vielleicht
im Sinne jenes fetischistischen Aberglaubens gedeutet wurde2). Dagegen
ist an o!as Märchen vom sprechenden Pferdehaupt (Falada) zu erinnern3).
Nächst dem Kopf ist der Schädel zum Fetischdienst geeignet; die
grausige Sitte, aus dem Schädel erschlagener Feinde zu trinken (Alboin!),
stammt vielleicht von hier: der Fetisch wurde zunächst geschmückt, in
Gold gefaßt, mußte dann den Trank weihen4).
Der Kult des Fetisches hat überall seinen Mittelpunkt in dessen Be-
kleidung5) und Ausschmückung. (Auch dies ist beim Völsi angedeutet).
§ 9. Die Seelen.
Animismus und Dämonismus sind ohne eine Auseinandersetzung über
die Psychologie der Naturvölker, d. h. ihre Anschauungen von der Seele,
nicht zu verstehen6).
Das Grundproblem aller Psychologie ist auch schon für die Primitiven
(und gerade für sie) in aller Stärke vorhanden: das Rätsel, was das
»Lebendige« von dem »Unbelebten« unterscheide. Wir sahen schon, daß
der Begriff des Lebens für die primitive Erfahrung mit dem des Wollens
zusammenfällt. Irgend etwas also ist da, das im Menschen, ebenso aber
auch im Tier, im bösen oder guten Geist wirkt. Wir nennen es »Seele«.
Es entsteht ein weiteres Problem. Zunächst wird diese Seele als
etwas rein Individuelles vorgestellt; jedes Wesen hat seine eigene Seele.
Weiter aber wird auch die Gleichartigkeit dieser Seelen empfunden, so
daß z. B. die Indonesier die Einzelseele nur als Teil der das Universum
durchdringenden Lebenskraft ansehen 7) , wie der einzelne Bach ein Teil
des Wassers ist. — Indeß scheinen solche Spekulationen den ältesten
*) Mogk S. 381.
2) Vgl. ebd. S. 374 f.
3) Man denke an die abergläubischen Gebräuche mit Körperteilen erhängter
Verbrecher. — Die Medusa hat vielleicht auch fetischistische Züge (vgl.
'Preller 2, 641 f.).
4) Über Phallusdienst s. o. (Dufaure, Divinites generatrices ; vgl. Florenz,
Über shintoistischen Phalluskult : Kultur der Gegenwart S. 219 ; ebenso z. B. Arch.
f. Rel.-Wissensch. 11, 549 über die Bavumba). Bei ityphallischen Gottheiten
(Frey — Priapus) ist der Fetisch wieder zum Attribut umgewandelt. Ein aus-
gestopftes Robbenfell als Fetisch in Tanara, Kern, Arch. f. Rl.-Wissensch. 10,82.
5) Godden, Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 1895, S. 100.
6) F. Schul tze, Psychologie der Naturvölker; vor allem aber Frazer 1, 121 f.;
Wundt2, lf. — Ein Beispiel dieser Psychologie mein Aufsatz »Begriff des
Wunders in der Edda«, Zeitschr. f. d. Phil. 31, 315.
7) Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 127.
•74 Drittes Kapitel.
Phasen und so auch der altgermanischen Religion auf animistischer und
dämon istischer Stufe noch fernzuliegen.
Die germanischen Ausdrücke für die Seele sind denen anderer Sprachen
analog: west- und ostgermanisch saivala wohl zu gotisch saivs — »See
das Bewegliche (»Des Menschen Seele gleicht dem Wasser«, Goethe;
>mein Herz gleicht ganz dem Meere«, Heine); altnordisch önd zu an,
hauchen«; altnordisch hugr: »Gedanke«1). Das Merkwürdigste wäre
unser »Geist«, wenn es wirklich2) zu einem Verb »wüten, lebhaft erregt
sein« gehört — wie der Name Wodan zu »wüten«.
Das Leben also ist an den Besitz dieser Seele gebunden — eine
Konzeption, die in erneuter Form noch der junge Alexander v. Humboldt8)
teilte und die der moderne »Neovitalismus« auffrischt. »Das physische
Leben selber war ein Wesen das im Tode sich löste« 4).
Die Seele hat zwei Hauptvermögen, die die mittelhochdeutsche Sprach
als muot (Begehren, Wollen) und stnne (Denken, Verstand) unterscheidet
Sie ist also einfach eine Verkörperung der Kausalität: etwas geschieht
weil etwas gewollt wurde; etwas wurde gewollt, weil etwas gedacht wurde
Dieser Prozeß wird sehr oft vorgeführt, besonders in der Heldensage;
man denke an die inneren Dialoge des Odysseus mit seinem göttlichen
Herzen5). Oder er wird mythisch umkleidet, wie wenn die Gedanken!
Sigurds (in den Fafnismäl) als sprechende Vögel verkleidet sind (Odins
Raben heißen Sinn und Gedanke!). Oder eine besonders wichtige OberJ
legung wird in die symbolische Handlung einer ganzen Ratsversammlung
umgesetzt: wenn Odin nicht weiß, was er tun soll, um die von Baldrs
Träumen vorverkündeten Ereignisse abzuwehren, beruft er eine Götter-i
Versammlung — hier wird das Denken laut, — und befragt eine Seherin — ,
hier soll das Wollen offenbart werden (Vegtamskvida). — Diese Grund-j
anschauung hat nun aber eine wichtige praktische Konsequenz. Alles*
Wollen müßte eigentlich vernünftig, zweckentsprechend sein. Die tägliche
Erfahrung aber von der unvernünftigen Vernunft, dem schädlichen Wollen
ist da; sie kann nur so erklärt werden, daß die Seele nicht vollkommen
leistungsfähig ist: Besessenheit, Verzauberung, Entfernung der Seelenkraft
dienen der Erklärung.
Wie nun aber die Energie der Menschen (und anderer Wesen) ver-
schieden ist, so müssen auch die Seelen verschiedene Kraft besitzen. Es
») Meyer S. 72, Golther S. 89.
2) Nach Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 5. Aufl. S. 132.
') In seiner Fabel von der »Lebenskraft«, »Ansichten der Natur«.
*) Meyer S. 71.
5) Aus solchen inneren Zwiegesprächen ist, wie eben jetzt J. Leo dargetan
hat, der Monolog in der dramatischen Weltliteratur hervorgegangen.
§ 9. Die Seelen. 75
sind also Rangstufen vorhanden von den blöden Toren späterer Eddalieder
oder dem Knecht der Rigsfmla bis zu göttlichen Wesen herauf. Die
Seele handelt ein- für allemal nach Maßgabe ihrer Kraft — es sei denn
eben, daß Trunkenheit, Müdigkeit, Verzauberung sie lähmen *). — Sie kann
aber (und dies ist eine spezifisch altertümliche Vorstellung) auch durch
ihr Übermaß behindert werden2). — Besonders die keltische Heldensage
arbeitet mit dieser Kraftüberfrachtung der Helden. In der alten Mythologie
tritt sie mehr bei Göttern hervor, insbesondere bei Thor: um nicht
immerfort Schaden anzurichten, tut er den Überschuß für gewöhnlich ab
und »fährt hinein«, sobald es nötig wird; gerade wie Aphrodite ihre Anmut
zum Teil in ihrem Gürtel versteckt.
Dies also sind die Grundanschauungen der primitiven Seelenlehre.
Wir haben auf Grund dieser Voraussetzungen von jetzt ab für jede Kategorie
von Wesen die »Seele«, die »Kraft« zu. prüfen.
Zunächst für den Menschen; denn von seiner inneren Erfahrung
geht die ganze Vorstellung aus.
1. Gestalten der Seele. Sie ist ein »Geist« und deshalb normaler-
weise unsichtbar; das ist ja eben die Grundanschauung, daß hier etwas
wirkt, das sinnlich nicht wahrnehmbar ist. Sie ist ferner an einen Ort
gebannt, nämlich an den Körper des Menschen. Nur wenn sie ihr Ge-
fängnis verläßt, wird sie sichtbar. Dann aber in vielen Formen, von denen
jedoch jede elementare als die einzige, sei es dieser Seele, sei es der Seele
überhaupt, gilt (anders ist es bei den Tiergestalten, s. u.):
Als leichte Elementarerscheinung: als Rauch (hebräisch ruach,
lateinisch ammus3). So steigt sie als schwarzer Rauch aus dem Halse
der schlafenden (und träumenden) Magd. Dies »luftige Gebilde« steht
an der Grenze der Wahrnehmbarkeit; man denke auch daran, wie
bei scharfem Frost der Atem sichtbar wird (an »Rauch des Lebensfeuers«
ist schwerlich zu denken); als Wind4), d. h. als unfaßbare, bewegende
Kraft; als Wölkchen, gewissermaßen eine Kombination von Rauch und
Wind: ein zusammengeballter, vom Wind getriebener Hauch. (Dies gibt
zuerst Gelegenheit zu Differenzierungen: »nach dem neueren germanischen
Aberglauben schwebt in Tirol die Seele eines Tugendhaften als weißes
*) In der Ritterzeit wird diese Lähmung des Wollens durch die Liebe ein
beliebtes Thema; das »verligen« z. B. in Hartmans v. Aue Erec.
2) Mythologisch märchenhafter Ausdruck der schädlichen Überkraft im Grotta-
söngr, wo die Mühlen so viel Salz mahlen, daß die Schiffe sinken; man denke
an die Erfahrung, die Chamissos Schlemihl im Anfang mit den Siebenmeilen-
stiefeln macht.
3) Vgl. Golther S. 80.
4) Mogk S. 255, Meyer S. 72.
7ß Drittes Kapitel.
Wölkchen aus dem Munde«)1); als Flämmchen2): Emanation der Lebens-
kraft , der »Seelenwärme< . Besonders beliebt ist die Vorstellung, »daß
sich die Geister als Flammen auf den Grabhügeln oder in ihrer Nähe auf-
hielten, daß sie sich als Flammen in den Lüften zeigten. In der alt-
nordischen Hervararsage wird erzählt, daß die Seele Angantys und seiner
Brüder allnächtlich auf ihren Gräbern erschienen seien«. »Hierin wurzeln
die vielen Erscheinungen, die die deutsche Volkssage als Feuermänner,
Leuchtemännekens, feurige Mannen usw. kennt« 3). Diese Lieblingsvorstellung
wird durch Erscheinungen wie die Irrwische, durch allerlei unerklärliches
Aufleuchten im Dunkel u. dgl. genährt, vor allem aber wohl durch die
Analogie in dem plötzlichen Aufzucken und Erlöschen; ist doch noch
uns dies Erlöschen der Lebensflamme eine unentbehrliche Metapher.
In Tiergestalt: Diese Gestalten sind den vorigen wahrscheinlich nicht
völlig gleichzustellen. Jene einfachen Formen sind unmittelbarer Aus-
druck der Lebensvorstellung; die Tiergestalt4) ist angenommen und
setzt also die Verwandlungsfähigkeit der Seelen voraus5). Sie nehmen
(wie die Verwandlungsmenschen, s. u.) die Gestalt an, die sie gerade
brauchen. Die Seele erscheint: als Vogel, um davonzufliegen, und zwar
wieder gern mit Differenzierung: dunkle Seelen als Raben und Krähen,
helle als Tauben und Schwäne6); als Schmetterling, Motte, Biene, Käfer,
um ihr altes Heim zu umflattern; als Schlange7) für einen Weg am
Boden, wie in der berühmten Sage vom Frankenkönig Guntram8);
als Maus oder Ratte, um sich unmerklich durchzuschleichen; so sind
») Meyer S. 79; vgl. Golther S. 81.
2) Mogk S. 266, Meyer S. 75, Golther S. 81.
3) Mogk S. 260.
*) Golther S. 81.
B) Vgl. Meyer S. 82.
6) Ebd. S. 76.
7) Meyer S. 79.
8) Golther S. 83, Mogk S. 262 nach Paulus Diaconus 3, 34. Der
König war auf die Jagd gegangen. Er schlief ein; nur sein treuer Diener war I
bei ihm. Als er nun entschlafen war, schlich aus Guntrams Munde ein Tierlein
hervor in Schlangenweise, lief fort bis zu einem nahe fließenden Bach, an dessen
Rand stand es still und wollte gern hinüber. Das hatte alles des Königs Gesell,
in dessen Schoß er ruhte, mit angesehen, zog sein Schwert aus der Scheide und
legte es üher den Bach hin. Auf dem Schwerte schritt nun das Tierlein hinüber
und ging zum Loch eines Berges, da hinein schlopf es. Nach einigen Stunden
kehrte es zurück und lief über die nämliche Schwertbrücke wieder in den Mund
des Königs. Der König erwachte und sagte zu seinem Gesellen : Ich muß Dir
meinen Traum erzählen und das wunderbare Gesicht, das ich gehabt. Ich er-
blickte einen großen, großen Fluß, darüber war eine eiserne Brücke gebaut; auf
der Brücke gelangte ich hinüber und ging in die Höhle eines hohen Berges; in
der Hohle lag ein unsäglicher Schatz und Hort der alten Vorfahren. Da erzählte
§ 9. Die Seelen. 77
noch in der (späten) Sage vom Rattenfänger von Hameln die Ratten
eigentlich Seelen, die in den Totenberg geholt werden x).
In anderen Formen. Was es bedeutet, wenn eine Seele einem
Tannenzapfen oder einer Artischocke ähnlich sein soll2), weiß ich nicht;
wohl etwas Allegorisches.
2. Bewegung der Seele. Diese Epiphanien der Seele »bei
lebendigem Leibe« sind an bestimmte Bedingungen geknüpft. Die Seele
wird nur sichtbar, wie wir schon sagten, wenn sie den Körper verläßt.
Das tut sie immer beim Tod (»die Ratten verlassen das Schiff«); sonst
aber in zwei Fällen: dem leichteren und regelmäßigen des Traums, dem
schwereren und selteneren der Ekstase.
Der Schlaf ist ein rätselvolles Problem. Das Leben ist gleichsam
suspendiert, und beim Erwachen ist alles, wie es gewesen. (Der Gedanke
ist märchenhaft ausgemalt im Märchen vom Dornröschen: die erstarrte
Ohrfeige des Kochs; poetisch vergegenwärtigt in den mythisch ent-
sprechenden Sigrdrifümäl.)
Nun aber vollends der Traum verdoppelt das Rätsel: das Leben ist
aufgehoben — und doch geht die Empfindung weiter; es ist, als wäre
eine andere Walze in die Maschine eingeschoben. Das Rätsel des Traums
beschäftigt ja heute noch die Psychologie fast unverändert, nur daß
sie heute mit der Technik des Traums arbeitet wie einst mit seiner
Symbolik3).
Es ist begreiflich, daß der Traum schon die Primitiven stark be-
schäftigt. Auf Traumerscheinungen wie den Alpdruck hat Laistner4)
der Gesell ihm alles, was er unter der Zeit des Schlafes gesehen hatte, und wie
der Traum mit der wirklichen Erscheinung übereinstimmte. Darauf ward an
jenem Ort nachgegraben und in dem Berg eine große Menge Goldes und Silbers
gefunden, das vor Zeiten dahin verborgen war.«
*) Alle diese Erscheinungsformen sind über die ganze Welt verbreitet, be-
sonders die der Schlange (z. B. bei den Hellenen Meyer S. 77), deren sonder-
bare gelenklose Bewegung sie besonders unheimlich macht, und des Vogels
(z. B. Frazer 1, 124).
2) Deutsche Sagen I, IV 186.
3) Artemidoros, Symbolik der Träume, übs. m. Anmerkungen von Fr. S.
Krauß, Wien 1881; vgl. dazu Th. Gomperz, Traumdeutung und Zauberei,
Wien 1866; Gotthilf Heinr. v. Schubert, Symbolik des Traumes, 1814;
Sante de Sanctis, Die Träume, übs. v. O. Schmidt nebst Einführung von
P. J. Möbius, Halle 1901; Sigm. Freud, Die Traumdeutung, Leipzig 1900. —
In der altnordischen Literatur wird die Symbolik des Traums gern in den Dienst
der gleichen Technik gestellt ; vgl. meine Altgerm. Poesie S. 68 ; H e n z e n , Die
Träume in der altnordischen Prosaliteratur.
4) Das Rätsel der Sphinx, Berlin 1889.
7g Drittes Kapitel.
fast die ganze Mythologie aufgebaut1), und v. d. Leyen2) ist ihm darin
gefolgt. Ich glaube aber, daß man hierbei das moderne, ich möchte sagen
literarisch und künstlerisch gebildete Träumen zu unmittelbar in die ein-
facheren Verhältnisse der Urzeit überträgt. Nicht was er träumt — daß
er träumt, ist für den Primitiven das Merkwürdige. Es läßt sich auf
zweierlei Weise erklären. Entweder: die Seele wandert und sieht ferne
Dinge3) — oder umgekehrt fremde Geister packen den (unverteidigten)
Körper. Der letzte Fall gehört dem Dämonenglauben, der erste in die
Seelenlehre: die Seele erzählt dem Körper, was sie auf ihren Wanderungen
erblickt.
Es gibt aber Fälle, in denen die Trennung der Seele vom Körper
unmittelbar gefühlt wird. Wir nennen solche Fälle die der Ekstase,
d. h. des Aufenthalts der Seele außerhalb des Körpers4). Der Begeisterte
ist »außer sich« und bleibt sich doch seiner Seele bewußt; sie tritt gleich-
sam nur an das Tor, ohne den Körper ganz zu verlassen, der aber doch
in den stärksten Momenten mit seinen -verglasten Augen, mit der Starrheit
der Verzückung (»Trance< in der neueren Suggestionsliteratur) fast dem
eines Toten gleicht.
Die Ekstase ist an bestimmte Momente geknüpft5). Es sind Momente,
die auch auf uns noch »berauschend« wirken:
Der Rausch selbst, die Trunkenheit; durch vorbereitende Mitte
(Einsamkeit, Fasten, rhythmische Bewegung) gesteigert das Hauptmittel der
Zauberer, um sich in ekstasische Zustände zu versetzen6); der geistige
Rausch, die Übermacht eines einzelnen Gefühls, besonders des Zorns7)}!
die Nacht mit ihrer betäubenden Stimmung8) und besonders heiligeJ
Abende und Nächte wie der Jul-Abend9); der Tod als Abend desj
Lebens: dem Sterbenden verdoppeln sich die Kräfte10), besonders auch]
die des Geistes: der Fluch des Sterbenden hat wunderbare Macht11), der)
J) Vgl. Golther S. 73.
2) Arch. f. n. Spr. 113, 249f., 114, 1 f., 115, 1 f .
3) Wie in Guntrams Fall; vgl. allgemein Mogk S. 261.
4) Achelis, Die Ekstase, Berlin 1882; Edv. Lehmann, Mystik in Heiden
tum und Christentum, Leipzig 1908, S. 7 f.: Ekstase für den christlichen Heiligen
Görres, Christliche Mystik, S. 245 f.
B) Vgl. meinen Aufsatz Zeitschr. f. d. Phil. 31, 325.
6) Vgl. Edv. Lehmann a. a. O.
7) Berserker im Norden und ihre Weiber, Härbardslied Str. 39; vgl. di<
wütende Raufsucht der bayerischen Dorfleute, Zeitschr. d. Ver. f. Volksk. 1897
S. 243.
8) Problematische Behauptungen über Mondzauber bei Falk, Arck. f. nord
Phil. 6, 276.
9) Helg. Hjorv. zu Str. 31 ; vgl. das christliche Pfingstwunder.
10) Sigurds Tod, Sigurd en skamna Str. 22—23
u) Fäfn. zu Str. 2.
§ 9. Die Seelen. 79
Sterbende erblickt die Zukunft1); der Abend aller Abende, der
letzte Tag2).
Es sind Zeiten, in denen das Chaos, die Rückkehr des Lebens ins
Ungeformte, einzutreten scheint: alle Formen verschwinden und die Seele
nähert sich ihrer ursprünglichen Ungebundenheit.
3. Verdoppelung derSeele. Schon hier beobachtet der Mensch
seine eigene Seele und sieht mit Staunen, wie sie über ihn herauswächst.
Diese Erfahrung oder vielmehr dieser Eindruck kann sich aber noch steigern :
es gibt Menschen, die beständig die Empfindung einer mehrfachen Seele
haben. Sokrates sah die Eingebungen seines Geistes als Einflüsterungen
seines »Dämoniums« an und ihm folgt Platen:
Wie? mich selbst je hätt ich gelobt? Wo? wann? es entdeckte
Irgendein Mensch jemals üble Gedanken in mir?
Nicht mich selber, ich rühmte den Genius, welcher besucht mich,
Nicht mein sterbliches, mein flüchtiges, irdisches Nichts !
Weil ich bescheiden und still mich selbst für viel zu gering hielt,
Staunt' ich in meinem Gemüt über den göttlichen Geist.
Von solchen Eindrücken geht die Vorstellung einer doppelten (oder
noch mehrfachen) Seele aus3).
Diese zweite Seele kann nun, wie die erste, sichtbar werden, aber
auch sie scheint hierin an die hohen Momente (besonders Fest und Tod)
gebunden. Wir wissen von dieser Vorstellung Näheres nur aus dem
Norden, wo sie sich in vollkommener Deutlichkeit kristallisiert hat.
Sie heißt dort Fylgja4) oder Fylgj ukona5). Sie ist weiblich
(während sonst die innewohnende Seele, wenn überhaupt, als ein Miniatur-
bild des Körpers aufgefaßt wird) 6) und kann wieder Tiergestalt annehmen,
besonders die von Haustieren (Geißbock, Hengst) oder von wilden Tieren
(Wolf, Bär). Sie besucht den Menschen, wenn er zugänglich ist: im
Rausch wie Hedin 7), kurz vor dem Tod : Thidrandi, sieht in einer mond-
hellen Nacht die neun Schutzgeister der Geschlechter in weißen Gewändern
und auf weißen Rossen gegen neun andere in schwarzen Gewändern
J) Sig. sk. Str. 52f.; vgl. Altgerm. Poesie S. 51.
2) Vol. Str. 45; vgl. Helg. Hund. 2, 39.
3) Sie ist z. B. bei den Ägyptern kanonisiert: neben der Seele, die den Leib
des Sterbenden in Vogelgestalt verläßt, noch das Ka, die Lebenskraft? (Er man,
Ägyptische Religion S. 88, 109). — Die »Außenseite«' wird oft märchenhaft mate-
rialisiert: in Meleagers Holzblock, in des Nisus Goldhaar steckt die Lebenskraft
(Frazer 1, 305), während sie doch außerdem wie andere Menschen leben,
denken, handeln.
4) Vgl. Mogk S. 271.
5) »Folgerin, Folgefrau«, E. H. Meyer S. 262.
6) Frazer 1, 122.
7) Helg. Hjorv. zu 31.
gQ Drittes Kapitel.
reiten, von denen er getötet wird1). Hier haben wir gleich die weitere
Spaltung: Gisli hat zwei Traumweiber, deren eine wohlwollend gesinnt!
ist, die andere ungünstig2) — das sind zwar keine eigentlichen Fylgjur,
aber doch Traumgeister, die diesen angenähert sind. Übrigens könnte
diese Einteilung in helle und dunkle Schutzgeister auf christlichen Ein-
fluß zurückgehen (Bürgers Ballade vom wilden Reiter); freilich gibt es
auch helle und dunkle Elfen.
Während die Fylgja nur eben die Verkörperung der entwickelten
Seele ist, die Unglaubliches rät, ob nun Gutes oder Böses, hat die
hamingja völlig den Charakter des »Schutzengels«. Mogk3) faßt die
hamingja als identisch mit der Fylgja: sie sei nur die mit einer Hülle
(altnordisch hamr), z. B. der Tiergestalt, bekleidete Fylgja4). Aber daß
sie immer gütig scheint5), bedeutet doch wohl nur einen Unterschied: sie
ist die ethisch umgedeutete Fylgja 6).
Sie wird so persönlich vorgestellt, daß man über sie (wie über einen
Schatten) stolpern kann7). Auf Denksteinen wird sie abgebildet8). Einen
Kultus genießt sie nicht, sie ist ja ein Teil des eigenen Selbst. Nicht
jeder besitzt eine Fylgja 9) : sie ist ein individueller Vorzug.
4. Die Seele nach dem Tode. Die Seele kann also bei Leb-
zeiten sichtbar werden und zwar auch Unbeteiligten: die hugir fremder
Männer erscheinen10) als Wölfe, die den Träumenden überfallen. Damit
ist ihr Benehmen nach dem Tod vorgezeichnet11).
Sie bleibt zunächst einen Augenblick in der Nähe des Leibes, nament-
lich so lange dieser noch warm ist12). Dann aber »kehrt sie in die ewig
belebte Natur zurück«13), in die große Vorratskammer der Existenz
(Die Vorstellung, daß sie zur Wiedergeburt aufbewahrt werde scheint
jünger und vereinzelt.) Sie kann einfach spurlos in die Natur aufgehen,
x) Olafsaga Tryggvasonar K. 215, Golther S. 99.
'-') Golther, ebd. nach Gislasaga Sürssonur 41.
3) S. 271.
4) Andere Etymologie bei E. H. Meyer S. 262.
5) Vigaglumssaga c. 9.
6) Den Unterschied sucht mehr in der allgemeinen Schicksalsbedeutung dei
hamingja, während die Fylgja »nur eben den Begriff der Begleitung« aus-
drücke, Rieger, Zs. f. d. A. 42, 277f.; vgl. auch Grönbech, Lykkmand og
Niding, S. 189.
7) Mogk S. 271.
8) Rosenberg;, Nordboernes Aandsliv 1, 49.
9) Vgl. Golther S. 99 f., Mogk S. 251, 271, Meyer S. 262.
10) Mogk S. 271.
n) Ebd.
1-) Vgl. Meyer S. 71.
13) Ebd.
§ 9. Die Seelen. 81
wie der Chor in Goethes Helena1). Häufiger aber sucht sie eine neue
»Haut«, eine Bekleidung, gewissermaßen eben als Schutz gegen dies Auf-
gehen 2)i Im ersten Fall bleiben die Seelen eben unsichtbar oder werden nur
noch innerhalb einer Übergangsperiode vorübergehend in jenen Gestalten
als Flamme, Rauch, Vogel, Schlange usw. erblickt. Im anderen fahren sie
zwar in ganz ähnliche Kleider, aber in individuellerer Ausprägung.
Die Tiergestalt wird dann symbolisch gefaßt, so daß sie das Wesen
der darin hausenden Seele offenbart3): »es ist der Geist, der sich den
Körper baut«. Dies geschieht im Sinne jener uralten Tierphysiognomik,
die in dem Fuchs das Sinnbild der Schlauheit, in dem Adler das der
Stärke erblickt. Diese Anschauung dauert bis auf die Gegenwart: listige
Männer gehen als Füchse um, grausame als Wölfe, Geizhälse, Missetäter als
schwarze oder feurige Hunde4). Dabei ist christlicher Einfluß nicht aus-
geschlossen, die Grundlage aber uralt.
Nun aber, in solche Hüllen gekleidet, haben die Seelen völlige Frei-
heit der Bewegung. Demnach können sie schaden; und daß sie dem
Erben schaden wollen, der in ihrem Bezirk wohnt, ist wahrscheinlich. Es
gilt sich also zu schützen: der Totenkult wird erfordert.
Wir verfolgen zunächst die weiteren Schicksale der freigewordenen
Seele.
Sie fährt umher, zunächst auf bestimmten Wegen und zu bestimmten
Zeiten 5) : es sind wieder Nacht und Winter (die Nacht des Jahres) ; außer-
dem gibt es besondere Gespensterzeiten. Ebenso steht es mit den Örtlich-
keiten : Kreuzwege (warum eigentlich ?). Daher treffen sie sich und bilden
dann ein Heer 6) : das »wilde Heer«7). Weniger 8) sucht den Glauben
an das wilde Heer schon für urgermanische Zeit zu erweisen, und
nach Olrik9) war Odin von vornherein sein Führer; ich möchte im
Gegenteil glauben, daß er das erst spät wird 10). Er wird erblickt, wenn
der Sturm die Wolken (== Seelen) umhertreibt; dann glaubt man auch
Schlachten in der Luft zu sehen11), die in der Heldensage ein Abbild
finden (Kampf zwischen Hagen und Hetel in der Kudrun) nnd vielleicht
J) Am Schluß des dritten Aktes von Faust, II. Teil.
2) Mogk S. 254, 263, Golther S. 80, Meyer S. 71 f.
3) Vgl. Mogk S. 303.
4) Wuttke, Volksaberglaube, § 75.
5) Mogk S. 259.
6) Meyer S. 255.
7) Mogk S. 255, Meyer S. 66, 73, 180, 328, 3831, Golther S. 283f.
8) Arch. f. Rel.-Wissensch. 9, 221,
9) Nordisches Leben S. 22, 26.
10) Auch bei den Indern führt die Seelen kein Gott, sondern der erste Mensch,
Yama: Macdonell S. 173.
k11) Mogk S. 255, Golther S. 89.
Meyer, Altgermanische Religfonsgeschichte. 6
§2 Drittes Kapitel.
auf den Mythus von dem beständigen Kampf der Einherier (Geister der
auf dem Schlachtfeld Gefallenen) Einfluß geübt haben. (Auch besondere
weibliche Heere mit Holle oder Perchta als Führerin werden gebildet, s. u.)
Die Einherier also haben einen ganz bestimmten Weg: ihre Seelen ziehen
nach Walhall1). Erst von hier aus, glaube ich, wird Odin Führer der
wilden Jagd, der große Reiter Hackelberend 2).
Schließlich also findet auch die »bekleidete« Seele ein neues Heim
aber es ist kein individuelles, wie der Menschenleib, sondern die neue
Herberge ist ein Gesamtheim ; ein Gesamtkörper gleichsam, der die ruhe-
lose Seele aufnimmt3). Doch kamen auch hier wohl Differenzen vor.
Ertrunkene müssen ihre Seelen im Wasser lassen 4) : der Seelenvogel mag
in den Wolken, die Seelenschlange in Brunnen und Gewässern ver-
schwinden 5). Im allgemeinen ist aber diese Differenzierung abzulehnen : die
Seelen gehen zur Ruhe in die Berge6). Das ist eine sehr natürliche An-
schauung. Der Berg erscheint als großer Grabhügel, und der Horror
vacui der Volksphantasie will diese großen Hohlräume ausfüllen. Dazu
kommt, daß «in Höhlen wohnt der Drachen alte Brut« 7).
Nordische Sagen erzählen 8) anschaulich von dem Leben der Seelen
im Berg: ein Knecht sieht, wie ein Berg sich öffnet, er sieht darin Feuer,
hört Lärm und Hörnerklang, und wie die drin im Berg seinen Herrn
Thorstein begrüßen — er hat mit dem »zweiten Gesicht« die Ankunft
von Thorsteins Seele in dem Totenberg vorausgesehen. An den Ratten-
fänger von Hameln wurde schon erinnert.
Selbst für die Einherier scheint der Berg zuweilen notwendiger Durch-
gang: so muß9) König Svegdir erst dorthin, um zu Odin zu gelangen. —
Eine heroische Umdeutung dieses Eingangs der Helden ist die berühmte
Sage von der Bergentrückung großer Fürsten10):
»Im Kyffhäuser sitzt Friedrich IL, später Friedrich Barbarossa, derselbe,;
Friedrich in einer Felsenhöhle bei Kaiserslautern, Wittekind in einem Hügel beim
x) Vaf. Str. 40f., Grim. Str. 18f., Mogk S. 256, Golther S. 313f., Meye
S. 292 f.
2) Golther S. 286, s. u.
3) Mogk S. 256, Golther S. 83.
4) Golther S. 90.
5) Mogk S. 358 nach Mannhardt, Germ. Myth., S. 95, 271 f. Allgemeir
vgl. Bastian, Die Verbleibungsorte der abgeschiedenen Seelen.
6) Mogk S. 287.
7) Ebenso z. B. indisch (Oldenberg, Religion des Veda, S. 242, 255)
griechisch (Rhode, Psyche S. 104).
8) Golther S. 88.
9) Heinskringla S. 12.
10) Kampe rs, Die deutsche Kaiseridee in Prophetik und Sage; ders.
Kaiserprophetien und Kaisersagen. Münehen 1895, S. 133 f.
§ 9. Die Seelen. 83
westfälischen Dorfe Mehnen, Siegfried im Bergschloß Geroldseck, Heinrich der
Vogler im Sudemerberge bei Goslar, Karl im Untersberg bei Salzburg, Holger
Danske unter dem Fels von Kronborg bei Kopenhagen, Olaf in Schweden usw.
Die einzelnen geschichtlichen Gestalten sind meist spät und auf gelehrtem Wege
in die Volkssage gelangt« x). — Solchen bergentrückten Helden widmen die
Griechen einen Kult2).
Mit Odin haben diese Sagen nichts zu tun3); es ist eben nur vor-
nehmen Herren ein eigener Berg eingeräumt worden. Die Erwartung
ihrer Wiederkehr aber hängt mit einer anderen mythologischen Vorstellung
zusammen, der nämlich, daß »die Geister der Verstorbenen zu gewissen
Zeiten wieder die Oberwelt heimsuchen«4). Davon berichten manche
Sagen; so die Chronik von Ursperg5) von den animae militum inter-
fectorum bei Worms 1223. Oder es kehren wenigstens einzelne Seelen
zurück, etwa zu Gedenktagen, oder durch Sehnsucht herbeigerufen (schönstes
Beispiel in der Heldensage von Helg. Hund. Str. 38 f.; dazu die Sage
vom Thränenkrüglein) 6). Zu dieser Vorstellung haben unzweifelhaft die
Träume viel beigetragen, die das Bild der Verstorbenen vor die Augen
zaubern7), daneben aber auch die Erscheinung eines psychologisch-
optischen »Nachbildes«, indem jemand, den man sich oft und viel ver-
gegenwärtigt, plötzlich leibhaft dazustehen scheint8).
Diese Geister, die von der Totenheimat zu den Lebenden beurlaubt
sind, werden objektiv »Wiedergänger« (dies auch der einheimische Titel
von Ibsens »Gespenstern«; französisch »revenants«), subjektiv »Ge-
spenster« (Trugbilder) genannt. Meist erscheinen sie in reduzierter Wirk-
lichkeit, als Schattenbilder oder noch häufiger als Nebelgestalten (die
Seelen wölkchen in menschenähnlicher Gestalt), oft »von Grabesdunst um-
wittert, entstellt oder verklärt, zuweilen ins Riesenhafte ausgereckt« 9). Der
Gespensterglaube hat sich mit großer Hartnäckigkeit bis in die Gegen-
wart behauptet und sogar durch den Spiritismus neue Nahrung erhalten.
Die Gespenster erscheinen fast stets bei Nacht 10).
Wenn die Toten periodisch wiederkehren, hat dies weniger Be-
unruhigendes, als wenn solche einzelnen Seelen anklopfen. Dies erregt
!) Golther S. 89.
2) Rohde, Psyche, S. 111.
3) Mogk S. 257.
4) So bei den Römern: Wissowa S. 188.
5) Mon. Germ. 8, 261.
6) Vgl. allgemein Meyer S. 91 f.
7) Vgl. Rohde, Psyche 679, 2.
8) Interessantes Zeugnis bei v. Krosigk, Generalfeldmarschall v. Steinmetz.
Berlin 1900, S. 147; ich habe selbst kürzlich Verstorbene wiederholt auf der
Straße zu erkennen geglaubt.
9) Meyer S. 93.
10) Helg. Hund. 2, 50.
6*
84 Drittes Kapitel.
Besorgnis; es entstehen ätiologische Mythen. Bei den Primitiven wie bei
den Indern, Persern u. a. *) glaubt man, die Toten wollten die Lebenden
plagen. Besonders kehren die Seelen der Ermordeten wieder, um Rache zu
fordern (Hamlet); das tun sie auch im »Bahrrecht«, wenn sie bei der An-
näherung des Mörders an die Leiche das Blut fließen lassen, d. h. auf einen
Augenblick den Körper wieder beleben2), um Anklage zu erheben.
Diese Vorstellungen steigern sich zu denen von den »Nachzehrern« oder
>Neuntötern«, die erst beruhigt sind, nachdem sie eine heilige Zahl von
Opfern ins Grab nachgezogen haben. Slawisch und erst im 18. Jahr
hundert nach Deutschland gedrungen ist die spezifische Form, daß der
Tote nach dem Blute des Lebenden verlangt, um sich noch eine kurze
Lebenszeit zu sichern3).
Erst aus diesen Gespenstererscheinungen wird sich, glaube ich
die Vorstellung von der Wiedergeburt4) gebildet haben, d. h. der
periodischen Wiederkehr der Seele in ihre Sippe. Sie wird durch allerle
Erfahrungen begünstigt: die Ähnlichkeit von Enkel und Großvater:
wiederkehrende Gewohnheiten; selbst jene merkwürdigen Erinnerungs-
vorstellungen, in denen man noch nie Gesehenes wiederzuerkennen^
glaubt, und die schon bei Piaton eine Rolle spielen. Die häufige (auchi/
z. B. in Athen gefestigte) Sitte, den Enkel nach dem Großvater zu be
nennen, anfänglich eine Huldigung, kann später diesem Glauben Vorschuh fl
geleistet (und wiederum von ihm Förderung erfahren) haben. Daß abeil
diese Sitte den Glauben an die Wiedergeburt schon voraussetzt5), scheint mh
so unwahrscheinlich, wie daß sie »der eigentlich heidnische Unsterblichkeitsj
glaube< gewesen sei6). Die Zeugnisse7) scheinen mir in doppelter Weis*1»
einer einschränkenden Interpretation zu bedürfen. Erstens sind die Zeug
nisse fast ganz auf den Norden beschränkt; denn wenn Asinius Pollicl
von den Germanen des Ariovist als Ursache der Todesverachtung di^
iXnlg dpaßuootcog angibt, kann diese Hoffnung auf Wiederbelebung siel
allerdings auf Walhall und die Einherier8) beschränken. Wichtiger abe
scheint mir, daß nirgends von einer allgemeinen Wiedergeburt di<
') Meyer S. 93.
2, Meyer S. 85.
3) Stefan Hock, Die Vampyrsage und ihre Verwertung in der Literatur
Stuttgart 1900.
4) Mogk S. 257.
5) Olrik S. 17.
6) Ebd. S. 101.
7) Bei Golther S. 96; Mogk a. a. O.; allgemein vgl. Jiriczek, Seelen
glaube und Namengebung, Mitteilungen d. Schles. Ges. f. Volksk. 1 (3) 30, mi
nur aus dem kurzen Referat der Jahresberichte für germanische Philologie 1
(1895) S. 146 Nr. 37 bekannt.
8) Wie auch Golther anheim gibt.
§ 9. Die Seelen. 85
Rede ist. In der berühmten Eddastelle1) heißt es nur: »das war in alter
Zeit Glaube, daß Menschen wiedergeboren werden könnten; jetzt aber
heißt das alter Weiber Wahn« 2). Ja, die wichtigen Stellen, in denen Geister
»um des Namens willen kommen« 3), d. h. bitten, daß einem erwarteten Kind
ihr Name beigelegt werde, beweisen doch wohl, daß ohne besondere Ver-
anstaltung die Wiedergeburt nicht erfolgte. Der Name ist ja mit geheimnis-
voller Kraft verbunden ; mit seiner Erneuerung (wie wenn Helgi Hundingsbani
als Helgi Haddingjaskati wiedergeboren wird; seine Geliebte Sigrun aller-
dings als Kara) wird die Seele erneuert. Es ist eine Vorstellung, wie
auch der alte Goethe sie hegte: daß die Natur auserlesenen Geistern
ein Weiterwirken »schuldig sei«; gestützt durch metaphorische Vergleiche,
wie wenn von einem »zweiten Judas« gesprochen wird, und vielleicht zu-
weilen auch von den Dichtern künstlich zur Verbindung zweier Sagen
benutzt4). Dem widerspricht auch nicht, daß Hagen5) ausdrücklich der
Brynhild die Wiedergeburt verwünscht: von ihr könnte man sich der
Wiederkunft versehen. (Macbeth zu seiner Lady: »Gebär mir keine Töchter!«,
gerade wie auch Lear den Schoß seiner undankbaren Tochter verflucht.)
Ich glaube also, etwa dies läßt sich annehmen: die Seelen begehren
oft wieder zum Leben, aber nur wenigen wird die Wiedergeburt gewährt,
und zwar scheint dabei zumeist noch Hilfe der Lebenden erforderlich. Der
Name wird dabei als die Hülle, in die die Seele einschlüpfen kann, dar-
geboten.
Golther wirft6) die Wiedergeburt mit der Seelenwanderung
zusammen. Aber unter »Seelen Wanderung« versteht man die periodische
Wiederkehr der Seele (nicht die einmalige), und zwar in einer geordneten
Folge wechselnder Gestalten 7). Für die Existenz dieses Glaubens bei den
alten Germanen fehlt jeder Anhalt; die Tiergestalten der Totengeister
haben in ihrem Mangel einer geordneten Folge durchaus nichts mit der
Seeienwanderung zu tun.
Dem entspricht es, daß auch über die Präexistenz der Seele
keinerlei Vorstellungen zu herrschen scheinen: ihre Existenz ist eben, wie
die der Menschen selbst, ein einmaliges, durch Anfang und Ende be-
grenztes Faktum. Der Ammenglauben vom Holen der Kinder aus dem
J) Zu Helg. Hund. 50.
2) Gering, Edda S. 182.
3) Maurer, Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1895, S. 99.
4) Vgl. Heinzel und Detter, Saemundar Edda, Leipzig 1993; 2, 364.
•) Sig. sk. Str. 45.
6) a. a. O. S. 96.
7) Paradigma die buddhistische Seelenwanderung mit schon vedischen An-
sätzen, Oldenberg, Religion des Veda, S. 561 ; in der Kultur der Gegenwart I, III,
S. 61; vgl. allgemein Bertholet, Seelenwanderung, Tübingen 1904.
§5 Drittes Kapitel.
Teich1) ist nur die Umdeutung einer realistischen Tatsache; ebenso muß
man 2) jeden Zusammenhang des wohl erst aus gelehrten Reminiszenzen
erwachsenen mittelalterlichen »Jungbrunnens« mit dem Seelenglauben ab-
weisen. Soweit man sich in alter Zeit über diese Probleme Gedanken macht
(welche geringe Rollen spielen sogar in der theologischen Spekulation des
Christentums Theorien wie die des Traducianismus!), denkt man wohl
einfach an eine vorherige Gestaltung der Körper, denen dann die Seele
zuerteilt wird, durch die Götter3), durch die Paten bei der Namens-
verleihung 4) oder wie sonst. Von einer Präformation oder Präexistenz der
Seele findet sich keine Andeutung; es sei denn in der späten Spekulation
von Utgard, dem Reich der Seelen 5). Oder hat Hoenir die Verteilung der
Seelen unter sich?1
Dies dürfte etwa die altgermanische Lehre von den Seelen sein; sie
stimmt in den wesentlichen Punkten, wo wir sie prüfen können, mit der
anderer Völker auf gleicher Kulturstufe überein und hat, wie bei ihnen
zur praktischen Folge den Ahnen- oder Totenkult, den Animismus, und
in weiterer Ausbildung den ihm eng verwandten Dämonismus.
§ 10. Ahnengeister und Totenkult6).
Wir haben schon die Anschauung abgewehrt, daß für die animistische
Weltanschauung die ganze Welt belebt sei. Es ist vielmehr nur eine
freilich unbegrenzte Anzahl von Seelen da, die sich irgendwo niederlassen
oder niedergelassen haben können. Man kann neunundneunzig Bäume
fällen — und im hundertsten sitzt plötzlich eine Hamadryade. Man kann
Dutzende von Wölfen töten, aber einer ist ein Werwolf. Das kann man
nie vorher wissen; so wenig, wie etwa heute, wo in einem Bergwerke
Goldadern sind. Anzeichen besitzt man; Gewißheit gibt erst die Er-
fahrung.
Genau weiß man eigentlich nur an Einer Stelle, daß eine »freie« Seel
da weilt: an der Leiche des eben Gestorbenen. Freilich ist sie nur relativ
>frei<, aber doch fähig, uns zu schaden. Sie sieht zu, was wir tun; wii
müssen ihre Empfindungen schonen7). Daher auch der Spruch: de
J) Mogk S. 358; vgl. auch Saintyves, Les Vierges meres, S. 39f.
2) Mit Mogk S. 259.
3) Vgl. Vol. Str. 18.
4) Vgl. Helg. Hjörv. zu Str. 6.
B) Gylfaginning Kap. 46 f., s. u.
«J Mogk S. 249 f.; E. H. Meyer S. 681; Golther S. 72f.; Chanfepi
de la Saussaye S. 289f.; W. Wundt 2, 142 f.
7) Maupassants köstliche Satire »En famille« übersetzt die Situation ii
modernen Realismus.
§ 10. Ahnengeister und Totenkult. 87
mortuis nil nisibene ; die Pietät der natürlichen Menschen ist auf Furcht
gegründet.
Hieraus gehen wichtige Pflichten hervor — vielleicht die ältesten,
bei denen dieser Begriff überhaupt erwachte und den Menschen zum Be-
wußtsein kam.
Zunächst hat man Pflichten gegen den Körper des Verstorbenen.
Man muß ihn zur Ruhe bringen (altn. hylja). Vor allem muß dieser
letzte und wichtigste Besitz des Toten vor jeder Verletzung gehütet werden.
»Mit solcher Strenge wahrt das bajuwarische Volksrecht die Unverletzlich-
keit der Toten, daß selbst derjenige, der beim Wegschießen der Aasvögel
die Leiche mit dem Pfeil verwundete, in Todesstrafe verfiel« l). Es wird
daher auch die äußerste Pietätlosigkeit durch symbolische Handlungen so
ausgedrückt, daß der Sohn nach der Leiche des Vaters schießt (in einer
Variante der Erzählung von den drei Ringen) oder die Witwe an dem
Körper des Verstorbenen Leichenschändung begeht2). Die Zeremonien
des Schließens von Auge und Mund, des Waschens und Kleidens sind
genau geregelt 3).
Diese Sorgen um den Körper schließen mit der Beisetzung ab,
die in ihren beiden wechselnden Hauptformen — Verbrennen und Be-
graben— auf die völlige Unschädlichmachung des Seelenhauses abzielt4).
Die Gräber sind oft prunkvoll5); in späterer Zeit gilt ein Denkstein
im Norden als unentbehrliche Ehre6). Die meisten uns erhaltenen Runen-
inschriften sind solche Denkmäler (nicht notwendig am wirklichen Grab).
Über die ganze Welt ist dabei der Brauch verbreitet, den Toten aus-
zustatten: man gibt der Frau Schmuck und Werkzeuge der Handarbeit
mit , dem Mann Waffen , dem Häuptling auch noch Gefolge und Roß 7).
Man erklärt diese Sitte — von der Spuren noch fortleben — zumeist
dahin, daß dem Toten im Jenseits die Ausrüstung nicht fehlen soll8),
') E. H. Meyer S. 96.
2) Motiv der «Matrone von Ephesus«; vgl. Grisebach, Die treulose Witwe,
Berlin 1873.
3) E. H. Meyer, Deutsche Volkskunde, S. 370. — Am weitesten haben die
Ägypter die Sorge um den Körper des Toten getrieben; vgl. Erman, Ägyptische
Religion S. 115 f.; demnächst die Chinesen; vgl. de Groot, Kultur der Gegen-
wart a. a. O. S. 170. Von Griechen übernommen: Hackl, Arch. f. Rel.-
Wissensch. 12, 195. Aber auch z. B. bei den Indern ist der Ritus sehr genau
ausgearbeitet, vgl. Hillebrandt, Ritualliteratur S. 87 — wohl nicht ohne be-
wußte Mitwirkung einer interessierten Priesterschaft.
4) Über die indogermanischen Bestattungsformen Ed. Meyer S. 271 , über
die germanische Mogk S. 251, Meyer S. 107.
5) Meyer S. 111.
6) Hävamäl Str. 72.
7) Vgl. z. B. Gudmundsson in Pauls Grundriß, 2. Aufl. 3, 427 f.
8) Vgl. auch Mogk S. 251 f.
g3 DHttes Kapitel.
und dieser Gedanke ist unzweifelhaft herrschend geworden ; aber in der
Urzeit, in der die Vorstellung von der scharfen Scheidung zwischen
Körperlichem und Geist lebendig war, wird man wohl eher an eine sym-
bolische Abfindung des Erblassers gedacht haben. Daher auch die genaue
Bemessung der Totenaussteuer *). — Dem entspricht es auch, wenn Jüng-
lingen und Mädchen, die vor der Ehe gestorben sind, symbolisch Bräutigam
oder Braut angetraut werden, um die Forderungen des unvollendeten Lebens
(die Braut von Kotinth und das Lenorenmotiv ; Klage der sterbenden
Antigone) abzufinden2)!
Sodann haben die Überlebenden vielfach noch an sich selbst allerlei
Zeremonien zu vollziehen, deren Grundgedanke der der Reinigung ist;
sie sind wohl nur in priesterlich verwalteten Religionen — in denen der
Kultus der Reinigungen immer besondere Ausdehnung findet — fest aus-
gebildet3).
Auf einen längeren Zeitraum aber erstreckt sich der wichtigste Teil
des Bestattungsritus: die Sorge um dieSeele des Toten. Dies ist der
Totenkult, der eine Zeitlang für die Wurzel aller Religion galt4), und
der jedenfalls wirklich den ersten festen, dogmatisch und rituell erhärteten
Kern des Kultus überhaupt bildet.
Wenn schon der Moment des Sterbens besondere Kraft verleiht, wie
viel mehr ist die ganz befreite Seele zu fürchten!
Man macht ihr den Weg frei, damit sie ja nicht im Heim bleibt:
das Fenster wird geöffnet, die Töpfe umgekehrt, damit sie nicht in ihnen
hängen bleibt oder sich versteckt.
Die Rückkehr wird ihr erschwert. Vielleicht gehört dazu auch das
Schließen des Augfes5). Die Leiche wird so herausgetragen, daß ihre
Füße in der Tür bleiben; so wird sie den Rückweg nicht finden. So lag
schon Patroklus' Leichnam mit dem Gesicht der Zelttür zugewandt6)-
Doch spielt auch der Gedanke mit, daß der Tote freiwillig aus dem Haus
zu gehen scheint.
Öfters wird die Seele »gebadet«, indem man ihr Wasser ans Fenster
setzt; soll sie damit für ihren Weg gerüstet werden?
Es folgt die Toten klage als Abschiedsgruß 7). Dies ist ein besonders
*) Meyer S. 114.
2) O. Schrader, Toterihochzeit, Leipzig 1905. Vgl. Mogk S. 251 f., Meyer
S. 103, Chantepie S. 306.
3) Vgl. Hillebrandt a. a. O. S. 89.
4) Vgl. Ed. Meyer, Register s. v.
5) Golther S. 91.
6) Meyer S. 104.
7) Vgl. Müllenhoff, De antiquissima Germ, poesi chorica, Kiel 1845,
Meyer S. 105.
§ 10. Ahnengeister und Totenkult. 89
wichtiger Akt. Vielerlei wirkt zu seiner Bedeutung zusammen. Zunächst
ist es eine pflichtmäßige Huldigung, zugleich aber auch die Stilisierung
einer naturgemäßen Empfindung; es ist weiterhin aber auch durch den
Grad seiner Intensität ein Gradmesser der sozialen Stellung des Gestorbenen :
Knechte werden noch im Mittelalter nicht beklagt, nur Ritter1). Endlich
aber ist die Totenklage auch auf den Toten selbst berechnet, dem sie
nachdrücklich den Abschied gibt. Sie wird deshalb nicht bloß durch die
wirklich Beteiligten, sondern auch noch durch bezahlte Klageweiber aus-
geübt — ein uralter, noch heute bestehender Brauch 2). — Anderseits muß
man sich vor zu wilder Klage hüten: sie beschwert den Toten3).
Der Tod wird verkündet: man sagt ihn den Haustieren, den Bienen an.
Diese Tod es ansage ist ein Akt der Erbübernahme und zugleich der
Courtoisie4).
Den Schluß bilden Leichenwache und Leichenschmaus (im
Nibelungenlied drei Tage und drei Nächte der Wache, jetzt meist zwei
Nächte). Die Wache bedeutet Abwehr des Geistes, der noch die Bahre
umkreist; der Schmaus seine definitive Verabschiedung: »die Seele des
Verstorbenen galt als anwesend, ja als der Gastgeber« 5). Der Umfang des
Schmauses6) entspricht wieder der dem Toten zuzumessenden Ehre7):
1000 — 1500 Gäste werden auf Island vermeldet8); Maßregeln gegen sie
werden auch in Hellas und Rom erforderlich.
Nun werden die Spuren vertilgt: Leichenstreu und Leichenbrett
(rebrett) verbrannt9).
Hiernach beginnt erst der eigentliche Totenkult. Meyer unter-
scheidet »Seelenpflege« und »Seelenabwehr« , aber die Pflege dient auch
der Abwehr: die Seele darf nicht erzürnt werden.
Der wichtigste Akt sind die nirgends fehlenden Toten o pf er 10):
Stiere und Böcke11), erneutes Totenmahl; noch 1000 eifert Burchard von
Worms gegen die oblationes, quae in quibusdam locis ad sepulchra
*) Veldekes Enit v. 6425; vgl. Allgemeine Deutsche Biographie 39, 569-
2) Vgl. z. B. E. H. Meyer, Badisches Volksleben S. 585, 594.
3) Ritter Aage u. a. Sagen, vgl. Meyer S. 100; als z. B. bei den Hellenen
Rohde, Psyche S. 206, 2.
4) E. H. Meyer, Deutsche Volkskunde S. 269. — Wird so der Tod des
großen Pan angesagt? vgl. Prell er 1, 745, Anm. 6.
B) Rohde S. 213.
6) Vgl. Meyer S. 116.
7) Mogk S. 253.
8) Ähnliche Übertreibungen z. B. in der Oberpfalz ; E. H. Meyer, Deutsche
Volkskunde S. 274,
9) Ebd. S. 271.
10) Meyer S. 115.
n) Nach Bericht des Papstes Zacharias um 748.
gQ Drittes Kapitel.
mortuorum fiunt. Insbesondere scheinen am Ende der Trauerzeit1)
die Zeremonien erneut zu werden.
Endlich folgen periodische Erinnerungsfeste, zunächst für den
einzelnen am »Jahrestag«2), später in Form einer gemeinsamen Feier der
Ahnen durch drei Generationen3).
Mit diesem Ritual ist die Seele »abgefunden«. Freilich braucht man
sie unter Umständen noch einmal: sie behält die Gabe der Weissagung
vom Tode her bei und läßt sich deshalb befragen4). Dazu dienen die
dadsidas 5). Sie begegnen öfters in der Edda (Gröagaldr) und altnordischen
Sage (Hervararsaga) und haben auch eigenen Zauberritus:
So kann ich ritzen und Runen färben,
daß vom Stamme der Gestorbene steigt
und Worte wechselt mit mir6).
Aber im ganzen ist und bleibt man gern von den Toten geschieden
Indem aber dieser Totenkult durch Generationen fortgeführt unc
bei jeder Bestattung erneuert wird — die Toten werden, wie bei unserer
Leichenreden, heraufbeschworen, bei den Römern sogar bildlich ver
gegenwärtigt — wird er zum Ahnenkult7). Besonders sollen die Seeler
der großen Ahnen helfen (der tote Cid). Man läßt sie bei feierlicher
Gelegenheiten8) begrüßen; etwa wie bei jedem Appell des Regiment«
dem Latour d'Auvergne, der »erste Grenadier Frankreichs«, angehör
hatte, mit dem Aufruf begonnen werden mußte: «Latour d'Auvergne?;
y>Mort sur le champ d'honneur«. Man sucht das Leben des großei
Toten fortzusetzen9).
*) Durch die Erbteilung bezeichnet: im Norden am 7. oder 30. Tage, Meye
S. 117; in Athen Opfer am 3., Opfermahl am 30. Tage, Rohde S. 214; in Indier
nach der Person des Toten abgestuft Hillebrandt S. 89; andere Völker vg
Meyer S. 118.
2) B.W. Leist, Alt-arisches Jus gentium, Jena 1889, S. 202; für die Hellenei
vgl. Rohde S. 215.
■) Meyer S. 119, 121. Vgl. die periodische Verjagung der bösen Geiste
bei den Australiern, Frazer 2, 163.
4) Mogk S. 253; allgemein Tylor, Ursprung der Kultur 1, 436; 2, 23 u. a.
Rohde S. 313; Saul und der Geist Samuels. — Noch jetzt in der Bretagne? vg
Ztschr. f. d. Ver. f. Volksk. 19 (1909) S. 202.
5) Indic. superstit: »de sacrilegio super defunctos id est dadsidas«) Burchar
von Worms : carmina diäbolica qui supra mortuum noctumis horis cantantur. -
Kögel, Gesch. d. altdeutschen Lit. 1, 50 f. faßt sie irrig als Bannlieder auf.
6) Häv. 156, Gering.
7) Golther S. 92f.; Meyer S. 122 f. ; Chantepie S. 300.
s) Z. B. bei der Vermählung durch das Brautpaar: indisch, griechisch
römisch, deutsch. Meyer S. 122.
9) König Svein als Knuts Erbe, Meyer S. 123; vgl Wilib. Alexis, De
falsche Woldemar.
§ 10. Ahnengeister und Totenkult. 91
Schließlich werden hervorragende Ahnen ausdrücklich vergöttert1).
Die Apotheose bleibt in der Regel auf Könige beschränkt und
scheint bei den Ostgermanen am häufigsten vorgekommen zu sein2).
Von den Schweden werden mehrfach Vergötterungen berichtet, darunter
eine feierliche Einsetzung des Königs Erich auf eine Vision hin. Solche
Apotheose kann unmittelbar an den Tod eines verehrten Fürsten an-
schließen3). Aber in der Regel gilt sie längst verstorbenen Königen: die
Fürsten wollen von Göttern abstammen — entweder indem sie solche an
die Spitze der Stammbäume setzten 4) oder eben indem sie die wirklichen
Ahnen vergötterten.
Als Kult sind bei König Olaf Fruchtbarkeitsopfer bezeugt5).
Ausnahmsweise wird Vergötterung auch von Nicht -Fürsten belegt:
Thorolf, Thorsteins Sohn freilich, dessen Großvater Grim nach seinem Tode
mit Opfern verehrt wurde6), war ein Häuptling. Aber der Dichter Bragi 7)
könnte höchstens ein »König der Sänger« heißen; nur ist es nicht sicher,
ob er mit dem Gott Bragi identisch ist8).
Solche, wenn auch vereinzelte, Fälle stützen dann den Euhemerismus
der christlichen Mythologen, denen etwa (in der Ynglingasaga) Frey als
vergötterter König gilt.
Schließlich geht die Abstraktion über die Ahnenpersönlichkeiten hinaus.
Wie wir von einem »Geist der Hohenzollerndynastie« sprechen, so gibt
es eine kyn- und aettar-fylgja9), einen Schutzgeist von Sippe und
Geschlecht. So teilt schon Helgi Hjorvardsson in dem nach ihm be-
nannten Eddagedichte seine Folgegeister mit Hedin: anders als durch
solche Gemeinschaft ist es schwerlich zu erklären, daß Hjörvards fylgjur
dem Hedin in einem verhängnisvollen Moment begegnen10). Schließlich
x) Dies sind die indischen »Väter«, worunter auch die Helden des Schlacht-
feldes. Vgl. Macdonell S. 170.
2) Zeugnisse bei Golther S. 93: »Nach Jordanes werden die Ahnen der
gotischen Königsgeschlechter als höhere Wesen beobachtet, ja geradezu als
Götter bezeichnet«.
3) Ebd. S. 94.
4) Wie die Julier in Rom ; angelsächsische Stammtafeln : J. G r i m m , Mytho-
logie 3, 379.
5) Golther S. 34, Mogk S. 385.
6) Golther S. 94.
7) Mogk S. 366, vgl. u.
8) Der angeblich 500 Jahre alte Riese Gudmund, Meyer S. 247, ist kein
vergötterter Mensch, sondern genießt als Riese Kultus. Heroen bei den Hellenen:
Roh de, Psyche S. 1371; bei den Indern: Macdonell S. 146; bei den Juden:
Gunkel, Genesis S. 51. Vgl. allgemein Edv. Lehmann, Guder og helte
Köb. 1898.
9) Meyer S. 264; Mogk S. 271.
10) Zu Str. 34 a. a. O.
92 Drittes Kapitel.
verdünnt sich der Begriff ganz und verliert als bloße Abstraktion die
Kultfähigkeit.
Allerdings ist es auch möglich, daß derartige »abstrakte Ahnen-
geister« zur Verehrung gelangen, und zwar in Tiergestalt: im Tote-
mismus. Die Meinung, daß die effigies der kämpfenden Germanen1),
die ferarum imagines2) so aufzufassen seien, haben wir aber bereits
abgelehnt. Nirgends ist eine Abstammung von einem Totem-Tier bezeugt;
und die mit den Namen heiliger Tiere (wie Wolf und Rabe; beides ver-
eint in mittelhochdeutsch Wolfram) gebildeten Eigennamen lassen sich
auf keinen bestimmten Bezirk einschränken und sind deshalb als allgemein
religiöse Namen anzusehen. Wir wissen nichts von einem altgermanischen
Totem ismus 3).
Etwas anderes ist, daß aus den Waffen der Tiere Amulette gemacht
werden: die Klaue des Bären, der Schnabel des Adlers: hier sitzt die
Kraft des Tieres, seine Seele4); wer sie sich aneignet, besitzt sie5),
v. d. Leyen6) denkt allerdings an Totemismus.
§11. Naturgeister und Naturkuli
Wir müssen nochmals auf gewisse durchgreifende theologische Ver-
schiedenheiten der Naturgeister von den Totengeistern hinweisen: Die
letzteren sind obligatorisch, die Naturgeister fakultativ zu verehren. Weder
kann man von vornherein wissen, wo ein Naturgeist steckt, noch ob man
zu ihm in ein bestimmtes Verhältnis treten muß: die meisten gehen den
einzelnen gar nichts an und er hat zu ihnen nicht mehr Beziehungen als
etwa ein frommer Katholik zu der überwiegenden Masse der Heiligen.
Nur die »großen Heiligen« sind ihm wichtig — und sein persönlicher
Schutzpatron.
Dafür liegt in dem Kult der Naturgeister von vornherein ein kollek-
tives Element, das einen wichtigen Schritt in der gemeinschaftlichen (und
schließlich staatlichen) Aneignung der Numina bedeutet. Denn das per-
sönliche Interesse, das etwa ein Flußgott erweckt, ist allen Anwohnern
des Flusses gemein: so entstehen hier »Amphiktyonien«, wenn auch im
kleinsten Maßstab, Kult- und Gebetgemeinschaften, die über den Rahmen
der Sippe herausgehen. Der Fetisch gehört dem einzelnen, die Manen
^Oolther S. 602; vgl. Müllenhoff, Poesis chorica S. 13, Linden-
schmit, Handbuch d. d. Altertumskunde 1, 278.
2) Tacitus Hist. 4, 22.
und erst recht der semitische (vgl. z. B. Mein hold, Deutsche Literaturzeitung
1909 S. 2226).
8) Ebenso zweifelhaft ist der altindische Totemismus (Macdonell S. 153)
*) Vgl. Häv. Str. 15-18.
r>) v. d. Leyen, Sagenbuch S. 69. vgl. 69.
ü) a. a. O. S. 71.
§11. Naturgeister ;md Naturkult. 93
dem Geschlecht, die Naturgeister einer »freien Gemeinde« ; mit den Göttern
wird die volle Nationalisierung der Religion erreicht.
Auch das glauben wir wiederholt betonen zu müssen, daß der Natur-
geist an einem bestimmten Stück Natur haftet. »Der Mythus ist
ein Stück Natur, angesehen durch ein primitives Temperament.« Es gibt
keinen allgemeinen Geist des Wassers, des Himmels,
sondern nur einenDämon, der über das Wasser gesetzt ist,
einen göttlichen Herrscher über dem Himmel — und auch
das sind schon spätere Einrichtungen 1). Erst bei den Göttern wird diese
Bindung gelöst: Poseidon wohnt für gewöhnlich in seinem Element,
kann es aber verlassen ; Pluto kann auf die Erde kommen, um Proserpina
zu rauben. — Eine Ausnahme macht vielleicht der Feuergeist ; aber
auch er ist wohl erst gebundener Dämon, später ungebundener Gott.
Naturgeister sind also Seelen, die in Wald, Feld, Wasser, Wind, Berg,
Gesteinen usw. wohnen; diese Behausungen bedeuten für sie etwa, was
der Körper für den Menschen. Aber sie sind stärker als die Menschen-
seelen, wie ihr »Haus« größer ist als das unserer Seele.
Der Ursprung dieser Vorstellung und des daraus resultierenden Kults
liegt wieder in der Erfahrung (schädliche und günstige Winde usw.), die
freilich bereits in der fertigen Form der Seelenlehre »apperzipiert« wird.
Berührungen mit dem Fetischismus (heilige Steine, Berge, Bäume) sind
unvermeidlich. Doch bleibt im ganzen der Unterschied bestehen, darin
begründet, daß die Kompetenz des Naturgeistes viel stärker individualisiert
ist. Der als Fetisch verehrte Baum kann im Prinzip alles leisten; der in
einem Baum hausende Geist nur Dinge, die unmittelbar mit seinem Wesen
zusammenhängen. So wenig wie man Trauben vom Dornbusch lesen
kann, so wenig kann man etwa von einem Gewittergeist Heilung einer
Krankheit erflehen.
Für die Psychologie der Naturgeister gilt der allgemeine Satz, daß
sie den Charakter ihrer Behausung annehmen — man könnte von einer
»Milieu -Lehre« sprechen. Windgötter sind wild, Wassergeister leicht
elegisch, Hausgeister gemütlich usw. ; gerade wie die poetische Einfühlung
noch heute solche Wesen anschauen wird. Fouques Undine und
Andersens Seejungfer2) sind von Goethes Erdgeist (im »Faust«) elementar
geschieden; und umgekehrt nehmen Gestalten wie Otto Ludwigs Erb-
förster oder Scheffels Mann in der Höhle infolge der Durchführung
x) Schon im alten Ägypten des 15. Jahrhunderts vor Christi betont Amenophis
ausdrücklich, »daß man nicht das Gestein selbst verehre, sondern das Wesen,
das sich in ihm offenbart« (Erman, Ägyptische Religion S. 66).
2) Über die in diesem Sinne G. Brandes sehr geistreich geschrieben hat:
Moderne Geister«, Frankfurt a. Main 1882, S. 123 f.
Q4 Drittes Kapitel.
ihrer Psychologie fast den Charakter vermenschlichter Wald- oder Höhlen
dämonen an.
Die Naturgeister treten einzeln auf (wenigstens in der Regel), setzet
aber die Existenz von mehr ihresgleichen voraus. — Als ihre Rang
zeichen lassen sich etwa angeben: besondere Neigung zum Gestalten
tausch J), besonders aber der nahe Verkehr mit den Menschen. (Doch sine
einige auch menschenscheu.)
Ich unterscheide erstens Geister der unkultivierten Natur: Wald, Wasser
Wind usw.; zweitens der kultivierten Natur: Feld, Haus usw. Daß di<
letzteren — herkömmlicherweise — unter den BegriTff »Naturgeister« mit
gefaßt werden, ist berechtigt, weil eben für die primitive Anschauung eil
Haus so gut ein Stück »Natur« ist wie eine Höhle, und ein Feld wi<
ein Berg; aber aus der anderen Stellung der Menschen zu diesen Objekter
ergeben sich doch sekundäre Verschiedenheiten in ihrem Verhältnis zi
den »Kulturgeistern«2).
I. Geister der unkultivierten Natur.
1. Waldgeister3). Sie wohnen zunächst im einzelnen Baum
Der Baum ist besonders leicht dem menschlichen Körper zu vergleichen 4)
die Äste als Arme, das »Haupt«, die Wurzeln als Füße. Daher wird die
Menschenähnlichkeit besonders betont: der Baumgeist blutet, wenn sein
Baum verwundet wird — Blut als Zeichen der Menschenähnlichkeit
Gedacht ist dabei wohl zunächst an das herausfließende Harz oder den
heraustretenden Saft. — Sie werden meist weiblich gedacht5), wie auch
das grammatische Geschlecht der Baumnamen meist weiblich ist: Ursache
ist die Anschauung der Fruchtbarkeit. Das gleiche Verbum drückt in
den indogermanischen Sprachen das »Tragen« des Baumes und des
Weibes aus.
Vielleicht schon einen Schritt weiter bedeutet die häufige Benennung
nach einer Baumart6): Hollunderfrau in Schonen, Eschenfrau7). Sie sind
vielleicht bereits kollektiviert: Hüterinnen einer (aus irgendeinem Grunde
*) Der Robbengott Proteus als sprichwörtlicher Verwandlungskünstler; vgl.
Preller 1, 609.
2) Reiches Material besonders bei Frazer, vgl. Register, s. v.
3) Mogk S. 293, Golther S. 152, Meyer S. 151f., der sie mit Unrecht
»Elfen« nennt.
4) Golther S. 153.
5) Wie die griechischen Hamadryaden, Preller 1, 723.
6) Mogk S. 294.
7) Anders die Urmenschen Ask und Embla, Esche und Erle, Vol. Str. 17.
§ 11. Naturgeister und Naturkult. 95
ielleicht besonders wertvollen?) Baumart; vielleicht aber haben sie ein-
ach nach dem Baum, in dem man sie traf, ihren Namen *).
Der Kult dieser Baumgottheiten besteht in Opfer und Gebet 2). Daß
*r sich mit dem Ahnenkult verquickt habe und schwedische Familien sich
lach einem Baum benannt hätten3), ist abzuweisen, weil von solchem
3aum-Totemismus ältere Zeugnisse nicht vorliegen und die Benennung
ein lokal zu fassen sein wird, wie etwa der Name des bekannten Biblio-
graphen von der Linde (französisch Duchene u. dgl.).
In der Regel aber werden sie dem ganzen Wald zugewiesen und
danach Waldleute, WJld-, Holz-, Moosleute benannt, oder auch wieder
mit Betonung des weiblichen Geschlechts Waldfänken in Oberdeutsch-
land, Buschfräulein in Mitteldeutschland, Laubfrau in Schweden u. dgl. m.
Beliebt sind auch enkomiastische Benennungen wie »salige Fräulein« (Tirol).
Die Waldfrau ist im Typus von der Baumnymphe durch geringere
Zartheit unterschieden ; daher begegnet auch hier viel öfter der männliche
Geist neben dem weiblichen. — Ihre Erscheinung ist vorzugsweise der
von alten, bemoosten Bäumen angeglichen: behaarter Körper, altes
runzliges Gesicht, Moos als Bekleidung bei den männlichen, langes
flatterndes Haar (Moosflechten), große herabhängende Brüste bei den
weiblichen, zuweilen auch hohler Rücken4). Übrigens tritt auch hier
das Gesetz der Anpassung in Wirksamkeit: »Im hochstämmigen, sturm-
bewegten, schaurigen Bergwald werden mehr Riesen hausen, im lichten,
freundlichen, sonn- und mondbeglänzten Hain treiben Elbe ihr Wesen« 5.
Solche Waldriesen (diese häufiger als Waldriesinnen) erscheinen wie große
Pichten, und haben wohl noch einen weiteren Baumstamm als Attribut in
der Hand6). »Je höher wir in das Gebirge hinaufsteigen, desto über-
menschlicher werden diese Gestalten der Volksdichtung« 7).
Sie treten gern zu den Menschen in Beziehung: an dem lokalen
Waldriesen Rübezahl aus dem Riesengebirge ist dieser Charakter des
neckenden Dämons uns am meisten vertraut, weil Johannes Praetorius8)
sein Homer und Musaeus (in den »Volksmärchen«) sein Virgil geworden
*) Eichen-Geister bei den Kelten: Anwyl, Celtic Religion, S. 32, davon
die »Druiden« benannt, ebd. S. 44.
2) Meyer S. 90.
3) Wie die des Linnaeus nach der Linde, ebd.
4) Vgl. das Gespräch zwischen Mephisto und der Hexe in der Walpurgis-
nacht des »Faust«.
B) Golther S. 153 — wobei freilich der Hain etwas Matthissonisch senti-
mentalisiert ist!
6) Golther S. 188; die «wilden Männer« im Preußischen Wappen.
7) Ebd. 194.
8) Vgl. Zarncke, Allgemeine Deutsche Biographie 26, 250; über seine Vor-
läufer Zacher, Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 16, 473.
Ii
96 Drittes Kapitel.
ist Im Grunde sind sie gutmütig; besonders empfehlen oder reichen si<
heilende Kräuter1). Aber sie ärgern und necken die Menschen gern
sie führen sie in die Irre; auch daß sie Seuchen schicken, freilich auch bei
sänftigen, wird ihnen zugetraut2). Sie können unsichtbar bleiben oder ir
allerlei Verwandlungen auftreten 8), z. B. als Würmer, Schmetterlinge, Un
geziefer verkleidet4). Wie andere Naturgeister (besonders die des Wassers
begehren sie nach menschlicher Liebe und erzeugen Kinder mit den Sterb
liehen: ein Ausdruck ihrer Menschennähe. Mit anderen Naturgeisterri
teilen sie auch die Gabe der Weissagung 5). Berührungen dieser scharen!
weise auftretenden Walddämonen mit den Seelen6) sind unausbleiblich
So erwächst aus dem Grab des Toten ein belebter Baum u. dgl. m. Doch
fehlt ihnen im allgemeinen das Feierliche der Totengeister durchaus.
Wir sahen den Spielraum der Waldgeister sich ausdehnen: si
wohnen erst nur in einem bestimmten Baum, dann in den Bäumen einei
bestimmten Art, dann in einem bestimmten Wald 7). Nun tritt der mytho-
logische Prozeß der Kollektivierung ein, und alle Dämonen des Waldes
werden in der Gestalt Einer Waldfrau zusammengefaßt. Sie vertritt den »Geis
des Waldes < als Ganzes. Sie existiert vielleicht schon in indogermanische!
Zeit, wie Meyer8) anzunehmen scheint; ich halte vielmehr nur diese
Evolution zur Zeit des berühmten vedischen Liedes an die Waldfrau 9
schon für abgeschlossen, während sie bei uns erst in historischer Zeit dies
Ziel erreicht: da haben wir z. B. eine schwedische Waldfrau. Übrigens
schließt die Existenz dieses Kollektivgeistes (wie auch sonst in analoger
Fällen) die von Einzelgeistern keineswegs aus.
Auch ein männlich kollektiver Waldgeist wird von Saxo10) bezeugt
Kauffmann hat einen »großen Waldgott der Germanen« nachzuweisen*'
versucht11).
An die Waldgeister, wie an alle mit dem Menschen in engen Be-
ziehungen stehenden Dämonen, knüpft die mythologische Novellistik an
»Überall verbreitet ist der Mythus, daß der Sturm, der wilde Mann oder
T) Wate hat Kudrun Str. 529 von einem wilden wibe die Heilkunst erlernt,
vgl. Meyer S. 195.
-) Golther S. 294.
3) Golther S. 154.
4) Ebd. S. 194.
8) Mogk S. 294.
6) Golther S. 155.
7) Umgekehrte Entwicklung nimmt Thümmel, P.B.B. 35, 117, an.
8) S. 191.
9) Rigveda 10, 145; Rig-Veda, übs. von Graßmann, Leipzig 1887, 2, 415.
,0) Vgl. Meyer S. 395.
") P.B.B. IS, 157f., bes. 175.
§11. Naturgeister und Naturkult. 97
der wilde Jäger das Waldfräulein verfolgt«1): die »Windsbraut«. Es ist
ein Einzelfall jener poetischen Kombination von mythologischen Einzel-
gestalten, wie wir sie schon besprochen haben.
Der »Waldkult«2) gilt nicht diesem Wesen, sondern unmittelbar
dem fetischistisch verehrten Hain3).
Blumengeister kennt das Altertum nicht ; die anmutigen Blumen-
mädchen des Alexanderliedes4) gehören erst dem Mittelalter5); antike Märchen
ähnlicher Art sind allerdings vorhanden, aber gerade das charakteristische
Moment, daß die Mädchen mit den Blumen sterben, fehlt ihnen. Die
sentimentale Beseelung der Blumen in Freiligraths »Der Blumen
Rache« ist aber ganz im Geiste solcher späteren ritterlichen Mythen-
dichtung 6).
2. Windgeister berühren sich vielfach mit den Waldgeistern ; daher
auch jener novellistische Mythus von der Windsbraut. Im ganzen sind
sie aber natürlich lebhafter, wilder: »»Im Riesengebirge stürzen sich die
Rüttelweiber im Wirbelwind auf die Wiesen und werfen das Heu um-
einander« 7). Sie sind in der Mythologie vieler Völker stark vertreten ; so
spielen die Maruts, die Sturmgötter8) im Veda eine große Rolle; auch die
Gandharven scheinen Winddämonen 9). In der altgermanischen Mythologie
sind sie weitverbreitet10); größere Bedeutung erwuchs dem Wind aber erst
mit der lebhafter betriebenen Seefahrt.
Götter der einzelnen Winde sind kaum (oder höchstens als
Augenblicksgötter) denkbar. Dafür ist z. B. bei den Hellenen, doch erst
spät als »»Seemärchen« n) die Verteilung der Windrichtungen an einzelne
Götter aufgekommen (oder hing sie mit der Einteilung des Himmels zu
Wahrsagezwecken zusammen?); sie hat keine gemeingermanische Ent-
sprechung12). Die herrschende Vorstellung ist vielmehr die, daß eine
Anzahl von Windgeistern ein- für allemal vorhanden sind, die sich in dem
einzelnen Sturm nur offenbaren ; denn da er sich auflöst, haben sie nicht,
wie die Wald- oder Wassergeister, ein festes Heim.
1) Mogk S. 294.
2) Mogk S. 296.
8) Siehe o. S. 70.
4) Lamprechts Alexander her. K. Kinzel, Halle 1884, v. 51571
5) Vgl. ebd. S. 497; Rud. Ottmann, Das Alexanderlied, Halle o.J., S. 263.
6) Vgl. Golther S. 157, Mogk S. 293, Meyer S. 91; Koberstein,
Weimarisches Jahrbuch 1, 72.
7) Meyer S. 193.
8) Macdonell, Vedic Mythology, S. 77 f., vgl S. 81.
9) Ebd. S. 137.
10) Mogk S. 307, Golther S. 180, Meyer S. 163f.
") Preller 1, 630.
12) Vgl. Werle, Ztschr. f. d. Wortforschung 7, 61 f.; 221 f.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 7
ng Drittes Kapitel.
Die Anschauung wird naturgemäß von dem starken Wind, dem
Sturm, beherrscht. Sein psychologischer Eindruck, der des Schreckens,
vermehrt die Berührungen mit dem Seelenglauben1), wie besonders im
, Wütenden Heer« anschaulich wird. Es sind deshalb vorzugsweise Wind-
riesen in der Mythologie tätig. Uhland faßte alle riesischen Gegner
Thors so auf2), aber mit Unrecht, denn die Windriesen gehören zu Thors
eigenem Geschlecht: Vingnir »der Schüttler«, Hlora »die Tosende« 3). Denn
neben den Riesen begegnen wieder die Riesinnen 4). Die Namen, häufiger
als bei anderen Naturgeistern individualisierend, haben durchweg Bezug
auf die Sturmesnatur: der »Brecher«, der »Schaden«, der »Brüller« oder
symbolische Tiernamen wie Hund und Wolf5). Ebenso werden sie in
Märchen umschrieben6).
Einen Schritt weiter geht die Individualisierung bei dem Winter-
sturm Käri, dem Vater des Frostes und Schnees. Solche etwas frostigen
Allegorien wiederholen sich noch später: so im Heldenlied die Riesen
Velsenstöz, Glockebös, Kling elbolt1) — Namen von der Prägung der
>drei Gewaltigen« im zweiten Teil des »Faust«. Ähnlich wird es im
Norden mit Vindsvalr »Wind kühl«, mit Lokis Vater Fdrbauti »der ge-
fährliche Schlagende« u. a. stehen: die früh eingeschlagene Bahn zu
poetisch-charakterisierender Benennung wird mit Bewußtsein fortgesetzt.
Als den Wirbelwind faßt Meyer8) den Bilvis auf, den wir zu
den Dämonen rechnen 9). — Finnischen Ursprungs scheint die Göttin des
eiskalten Nordwinds Skadi. Ein wilder Windgeist, der die Äste von den
Bäumen schlägt, scheint Lokis Adoptivvater Färbautt10).
Wie die indischen Maruts sich in dem Sturmgott Rudra (»der
Heuler?«)11), die hellenischen Winde in Atolos konzentrieren, so entsteht
auch altgermanisch ein kollektiver Winddämon: der »wilde Jäger«,
nach Mogk12) nicht immer als Wodan aufzufassen. Ich glaube aber,
daß es sich um eine Zweiteilung handelt: der Sturmgott ist einerseits zu
Wodan, andrerseits zum Anführer der vom Wind gepeitschten Wolken
!) Mogk S. 307.
2) Vgl. Mogk S. 309.
3) Vgl. Golther S. 282.
4) Meyer S. 236f.
B) Vgl. Golther S. 182.
8) Moltke Moe, Maal og Minne, Kristiania 1909, S. 6.
7) Virginal v. 732, vgl. Golther S. 184.
8) S. 164.
9) Vgl. Golther S. 184.
10) Siehe unten.
n) Macdon eil, Vedic Mythology, S. 74 f.; andere Auffassungen ebd. S. 77.
12) S. 302.
§ 11. Naturgeister und Naturkult. 99
geworden J). Denn er ist immer auf der Jagd : hinter dem Wald-
fräulein, hinter dem Wild (der Wolke). So ist er eine Lieblingsgestalt
der ausmalenden Volksphantasie geworden, wie schon seine Namen-
fülle zeigt: als Schimmelreiter, Rodensteiner (oberdeutsch), Hackelbernd
(norddeutsch), heroisiert als Dietrich von Bern usw. nähert er sich schon
fast der Bestimmtheit eines Gottes. Und wie oft den Göttern, wird auch
ihm ein weibliches Wesen zur Seite gegeben : die Windin (wie Freyja zu
Frey), die Windesgenossin2) — wobei an Dantes grandioses Gemälde
des im Liebessturm dahinrasenden Paares Francesca und Paolo erinnert
werden mag.
Die letzte Stufe ist endlich erreicht, wenn statt dieses Windgeistes
wirklich ein Windgott erscheint, d. h. ein Herr über den Wind: der
Riese Hraesvelg (der »Leichenverschlinger«, so mit einer Umschreibung
für seine Adlergestalt benannt?), der in Adlergestalt am Rand des Himmels
sitzt und mit seinen Schwingen den Wind erregt, wie auch der Sturm-
riese Thjäsi die Gestalt des mit Windesschnelle dahinfahrenden Königs
der Vögel annimmt3). Ob aber dieser nur in dem Gedicht Vafthrüdnis-
mäl4) bezeugte Gott wirklich der lebendigen Mythologie angehört, bleibt
fraglich: vieles in diesem Gedicht ist gewiß späte Spekulation5).
Der Sturm empfängt Opfer zur Abfindung, wie noch in spätem
Volksglauben6). Oder »Windspenden und Windfütterungen« mit Getreide
und Mehl »weisen auf einen Kult des unpersonifizierten Elements hin«7).
3. Auch die Gewittergeister stehen mit den Windgeistern natür-
lich in Verbindung8).
Die Einzelgeister sind auch hier Riesen und Riesinnen, die mit
Thor, soweit er Gott des für die Ernte günstigen Gewitters ist, als
schädlich tosende Unholde im Kampf stehen 9). Solche Riesenkämpfe sind
Bit Dietrich in die Heldensage gedrungen 10). — Doch wird das Gewitter
*) Für die Parallele mit Rudra vgl. v. Negelein, Germanische Mytho-
logie, S. 13.
2) Vgl. Golther S. 184.
3) Vgl. Golther S. 182. — Irrig glaubte man früher eine Anspielung
hierauf noch bei Heinrich v. Veldeke zu finden: Minnesangs Frühling 66, 5.
4) Str. 37.
5) Schoning, Dodsrig, S. 13 erklärt Hraesvelg für einen an der Grenze
des Totenreiches sitzenden Leichendämon; wie kommt der dazu, Wind zu
machen ?
6) Golther S. 182; Schiller im »Teil«: »da rast der — vom Wind ge-
peitschte — See und will sein Opfer haben«.
7) Mogk, Germanische Mythologie. Sammlung Göschen Nr. 15 S. 28.
8) Meyer S. 15; vgl. Golther S. 183f.
9) Thrymskvida; vgl. Golther S. 183.
10) Sijmons in Pauls Grundriß 2, 696.
7*
IOQ Drittes Kapitel.
auch von Menschen erzeugt: von Hexen, die den Donnerstein schießen und
Wetter machen x).
Auch hier scheint in dem Riesen Hrungnir2) ein Kollektivdämon
entwickelt, dessen Ausmalung aber sicher späterer Zeit gehört. Sein Wett-
ritt mit Odin ist Nachbildung heroischer Wettkämpfe3). Vielleicht ist
es auch ein alter Sturmgott wie Odin selbst, der sich mit ihm mißt. —
Die Mythen klingen fast parodistisch wie manches im Härbardslied.
Ein Kult der Wetterriesen4) ist schwach bezeugt; man opferte ihnen
für günstiges Reisewetter.
Der Gewitter g ott ist dann Thor, was Kämpfe mit übermütigen
Vasallen nicht ausschließt5).
4. Wolkengeister6) sind den Seelen verwandt, manchmal auch wie
die Baumgeister gestaltet. Ihre Hauptfunktion ist natürlich das Spenden
des Regens, das freilich den alten Germanen nicht so wichtig ist wie der
altindischen Mythologie. Wie in vielen Mythologien, wird auch bei uns
der Regen in einem Gefäß aufbewahrt gedacht; ist es in dem berühmten
peruanischen Volkslied, das schon Montaigne und Herder übersetzten,
ein Krug, so ist es bei den Germanen ein Kessel (Hymiskvida).
Auch die Wolkengeister sind oft riesisch7): das sind die schweren
dunklen Wolken, die Sonne oder Mond überziehen. Zumeist aber sind
die Regengeister (wie überall) weiblich. Bezeichnend ist dann für sie der
Schleier8).
Kollektivgeist der Wolken ist wohl Hymir, Gestalten wie dem
Hrungnir analog; sein Kampf mit Thor scheint wieder eine theologische
Dichtung, die den älteren (dem Animismus entsprechenden) Riesen mit
dem jüngeren (dem Götterglauben angehörigen) Gott kämpfen läßt9).
x) Meyer S. 155.
■> Vgl. Meyer S. 231; Golther S. 182.
3) Meyers Erklärung als Kampf zweier Gewitter scheint mir ein Musterfall
der unrichtigen detaillierenden Mythendeutung.
*) Golther S. 190, Meyer S. 247.
5) Ein ursprünglicher Gewittergott ist auch Jahwe, vgl. z. B. Giesebrecht
Grundzüge der israelitischen Religionsgeschichte, Leipzig 1904, S. 30.
6) Meyer S. 168.
7) Meyer S. 229.
8) Meyers Versuche einer im einzelnen ausdeutenden Mythen-Interpretation
kann ich wieder nicht folgen, wenn er in der Elfin, die sich mit goldenem Kamm
die Haare strählt, die durch die »zinkenartig erglänzenden Regenstrahlen«
scheinende Sonne erblickt. Ich kann in solchen mythologischen Genrebildern nur
heroisch-novellistische Ausmalung älterer Situationen erblicken.
9) Hymiskvida, voll märchenhafter Motive, vgl. v. d. Leyen, Märchen inj
der Edda, S. 46f.; Meyer S. 238.
§ 11. Naturgeister und Naturkult. 101
Endlich haben wir auch hier den Gott oder vielmehr zwei: den
Gewittergott (Thor) und vor allem den Himmelsgott1).
5. Berggeister sind von anderer Art: es fehlt die für die bis-
herigen Kategorien bezeichnende Beweglichkeit ; nur ausnahmsweise machen
sie sich bemerklich: durch Steinfall, Bergrutsch, Lawine2). Sie sind auch
mehr den »reinen Riesen« als den eigentlichen Naturgeistern zuzurechnen3).
Doch faßt Meyer4) sie als ursprüngliche Sturmriesen, die in (Wolken-
bergen oder wirklichen) Bergen hausen wie in der Edda Suttung, Thjäzi,
Skadi, und Steine schleudern oder brechen wie Hrungnir. Wie er rechnet
auch Golther5) die Märchenriesinnen Fenja und Menja hierher, wenn
sie sich wie Bergriesinnen gebärden, die Felsblöcke herabstürzen und
Bergrutsche verursachen. Ich halte anderen Ursprung dieser Gestalten für
wahrscheinlicher.
Über Bergformen, die als Versteinerungen (von Riesen) aufgefaßt
wurden 6) haben wir schon gesprochen ; dahin gehören der Watzmann und
die Frau Hitt in Tirol 7), Hans Heiling in Böhmen. Das können aber nie
Geister gewesen sein — Geister sterben nicht und kristallisieren nicht in
Steinform — , sondern höchstens Zauberer und Hexen8).
Auf der Grenze zum Schneedämon steht Bard, der in den Snaefell-
gletscher auf Island einging und zum kräftigen, mit Gelübden anzurufenden
Schutzgeist wurde9); er genoß also eines starken Kults. —
Eine höhere Stufe nehmen die eigentlichen »Elementargeister« ein,
von denen einer — Loki, wenn Feuerdämon — sogar schon Gott ge-
worden ist. Die Annäherung an die Menschengestalt und Menschenart
ist bei ihnen noch weiter gediehen.
6. Wasser- und Meergeister10) gehören wieder zu den be-
sonderen Lieblingen der Volksphantasie. An die merkwürdige Erscheinung
des Fließens, das weder Stillstand noch Veränderung ist und deshalb allen
Sprachen eine fast unentbehrliche Metapher für den (nach Goethe) dem
Menschen versagten Begriff des Werdens darbietet, an die eigentümlichen
leisen harmonischen Geräusche des bewegten Wassers, schließlich auch
an die Spiegelbilder im Wasser (Narzissus) knüpfen volkstümliche An-
*) Vgl. allgemein Laistner, Nebelsagen, Stuttgart 1879, besonders S. 117f.
2) Vgl. z. B. Saxo S. 220; Herrmann S. 232.
3) Vgl. Mogk S. 308, Golther S. 185.
4) S. 240.
5) S. 187.
6) J. Grimm, Deutsche Mythologie S. 518, 3, 158; Ztschr. f. d. Alt. 4, 533 f.;
Golther S. 185, Meyer S. 240.
7) Vgl. Laistner S. 15.
8) Vgl, Hrimgerd in Helg. Hjörv. III, Str. 12f.
9) Golther S. 191.
10) Mogk S. 295, 301, Meyer S. 241, Golther S. 146 f.
102 Drittes Kapitel.
schauungen schon so gern an, um märchenhaft fortzuspinnen, wie es noch
moderne Dichter und Maler (Undine, Melusine, Andersens Seejungfrau) tun.
Die Physiognomie der Wassergeister ist daher eine schon ziemlich
bestimmt ausgeprägte. Sie sind sanft, leicht elegisch wie ihr Element,
musikalisch (sie singen, spielen Saiteninstrumente, hören gern Musik); be-
sonders wird auch das Erotische bei ihnen betont und zwar nicht, wie
bei den wild überwältigenden Wald- und Sturmriesen, als rein animalische
Gier, sondern mit einem früh sentimentalen Beigeschmack1).
Das erotische Element wird durch die Zweigeschlechtigkeit der Wasser-
geister stark zum Ausdruck gebracht.
Geister der einzelnen Gewässer2). Männlich: der Nök,
Nix8), auch Meermännlein und mit zahlreichen anderen, oft lieb-
kosenden Namen benannt. — Sie besitzen die Gabe der Weissagung4),
wohl weil das fließende Wasser sich besonders zum Befragen und
Losen eignet (noch Goethe hat es so befragt, ob er Maler oder Dichter
werden solle), und erteilen Rat. — Ihre Gestalt ist zwischen Mensch und
Fisch: Fischschwanz, grüne Zähne5) — Mischformen, die noch Böcklin
zum Weitergestalten anregten, wie denn seine »Meeresidylle« über die
Eigenart dieser Elementargeister mehr lehrt als der ausführlichste Kommentar.
Doch kommt auch Roßgestalt vor6).
Weiblich: die Nixe, die Meerminne, die Wasser elbin 7). Ihre
zaubermäßige Schönheit wird gern ausgemalt; sie kämmen die goldenen
Haare, wie Mädchen, denen der Bach als Spiegel dient. Der Fischschwanz
scheint gelehrte Entlehnung; »wenigstens weiß die unverfälschte Sage
nichts davon8). Im übrigen teilen sie die Eigenschaften, die das feuchte,
fließende Element symbolisieren, mit den männlichen Wassergeistern.
*) Höchst charakteristisch ist das bei den indischen Apsarasen ausgeprägt, die
freilich schon im Rigveda »fast völlig von ihrer physischen Grundlage getrennt
sind« (Macdon eil S. 134). Nicht minder deutlich bei den griechischen Nymphen,
die allerdings ebenfalls (Preller S. 718) nicht mehr ausschließlich an das feuchte
Element gebannt scheinen. Midas zugleich Quelldämon und Flötenspieler: Jessen
in Roschers Lexikon 2, 2, 2439. — Keltische Flußgeister Anwyl, Celtic Reli-
gion, S. 37.
'-') Sarasvati, ursprünglich Göttin eines bestimmten Stroms: Macdonell S. 87.
3) Golther S. 146f.
4) Golther S. 149, Mogk S. 297.
*) Golther S. 146.
6) Z. B. in den Alpen, Mogk S. 301. — Der Zusammenhang des Wassers
mit dem Roß begegnet in vielen Mythologien ; so hat auch Poseidon seine Rosse
(Preller S. 568), Hufschlag weckt Quellen (Losch, Baldr und der weiße Hirsch,
Stuttgart 1892, S. 461), so der des Pegasos (Prell er 2, 79) Die germanischen
Küstenvölker erblickten die Rosse des Wassergottes (Tacitus Germ. cap. 45),
wobei doch interpretatio Romana mitspielen kann.
7) Golther S. 146, Mogk S. 297.
8) Golther S. 147.
§ 11. Naturgeister und Naturkult. 103
Geister bestimmter Gestaltungen des Wassers. Allgemeiner
ist die Verehrung der Quellen von der der Gewässer oft schwer zu unter-
scheiden ; denn häufig wird einfach der Geist des Baches oder Flusses an
seiner Geburtsstelle verehrt. Der Quellengeist geht dann auch als Brunnen-
geist1) in die Geister der kultivierten Natur über2). — Der Kult der
Quellen mit Kränzen, Lichtern, Brunnenhäusern ist von den Hellenen am
weitesten getrieben3), aber auch von den Germanen lebhaft und bis auf
die Gegenwart gepflegt worden4). — Von einer Hindeutung auf die
himmlischen Gewässer wie bei den Indern5) findet sich keine Andeutung6).
Die Quellengeister sind kollektiviert in dem großen Quellendämonen
Mimir 7), in dem deshalb auch die Gabe der Wahrsagung zentralisiert ist.
Über ihn ist bei der Besprechung Odins weiter zu handeln.
Die Alemannen verehren nach Agathias die Flußwirbel8).
Ein Geist des Wasserfalls scheint Andvari9), der in Hechtgestalt
in dem Wasserfall Andvarafors weilt und Schätze hegt; auch er spricht10)
eine Weissagung aus.
Die kleineren Seen und Teiche haben, weil sie sich nicht be-
wegen, keine eigenen Dämonen; doch wohnen in ihnen oft die Geister
der einfließenden Gewässer. Nur Seen, die aufkochen wie der Mummel-
see, scheinen eigene Geister zu besitzen. — Ebensowenig haben die großen
Meere eigene Herren: sie werden als Teile des »Wassers« überhaupt auf-
gefaßt, gerade wie die Wassergeister auch »Meermänner« und »Meer-
weiber« heißen.
Als Geist des Eismeers wird vielfach Hymir »der Dämmerer«
aufgefaßt11) — schwerlich mit Recht, da der toten unbewegten Masse kein
Geist zuzutrauen ist.
Kollektivgeist des feuchten Elements scheint Agir (vgl. die
Ägisdrekka in der Edda), mit der Göttin Rdny der Herrin des Seetodes 12)
vermählt13). Er ist heiter wie ein Kind und blinzt mit den Augen, wie
!) Mogk S. 297.
2) Vgl. S. 107 Anm. 5.
3) Preller 1, 553f.
4) Mogk S. 296.
5) Macdon eil S. 85: äpah.
6) Bei den Hebräern ist die Verehrung der Quellen durch eine Verehrung
Gottes an den Quellen ersetzt worden ; vgl. Giesebrecht, Israel. Rel.-Gesch., S. 30.
7) Vgl. Mogk S. 305f., Golther S. 179f. 346f.
8) Golther S. 149.
9) Reginsmäl Einleitung.
10) Reg. Str. 5.
u) Vgl. Golther S. 175, Mogk S. 303.
12) Meyer S. 291.
13) Spätere Ausführung: die Wogen, ihre Töchter usw.; vgl. Golther
S. 175, 177.
104 Drittes Kapitel.
der Zwerg Otr im Wasserfall, wobei wohl an das Spiegelbild im Wasser
zu denken ist1); oder ist er nach den ihn verehrenden Fischern stilisiert2)?
Attribut des Wassergottes ist der Kessel, d. h. das Gefäß für feuchten
Inhalt; ursprünglich ist das Meer selbst als dieser Kessel angeschaut. —
Weitere Züge (Lokasenna, Einleitung) sind märchenhafte Ausschmückung3).
In naher Beziehung zu den Wassergeistern scheinen auch die
Schwanen Jungfrauen4) zu stehen.
7. Geister für Schnee und Schneewirbel sind weiblich: die Riesin
Drifa »Schneetreiben«5); später genrebildmäßig ausgeführt: wenn es schneit,
macht Frau Holle ihr Bett6). — Eine späte Abstraktion ist der Riese
Jökull »der Eisberg« samt seiner ganzen Sippe7).
8. Sumpfgeist ist nach der herkömmlichen Deutung Grendel im
Epos von Beowulf8), der allnächtlich kommt und sich seine Opfer holt.
Nach Mogk 9) wäre eher an einen Einbruch des Meeres zu denken, der aber
doch kein periodischer Vorgang ist10). Auch spricht die Analogie der von
Herakles getöteten lernäischen Schlange11) für die übliche Interpretation. —
Wir kommen endlich zu denjenigen Naturgeistern, welche die Vor-
stellungen der früheren Mythologen beinahe ausschließlich beherrschten,
während sie in der mythologischen Epoche selbst keineswegs Haupt-
personen waren : zu den Geistern der Gestirne und Tagzeiten. Golther sagt
mit Recht: »Die nordischen Nacht- und Tag-, Mond- und Sonnenriesen sind
jüngere poetische Gebilde ohne eigentlich mythisches Leben, weshalb auch
in der Volksüberlieferung kaum Spuren davon zu finden sind« 12). Nicht
viel besser steht es mit den nicht riesischen Vertretern dieser Begriffe.
9. Gestirne13). Sonne und Mond: Sophus Müller14) leugnet die
Verehrung der Sonne für die alten Germanen, soweit sie über die — fetisch
l) Vgl. Mogk S. 303, Golther S. 172.
-) Golther faßte (S. 180) Mimir als Herrn der Brunnengewässer, was mir
eine zu künstliche Abstraktion scheint.
3) Vgl. v. d. Leyen, Märchen in der Edda.
4) Siehe u. S. 162.
5) Meyer S. 139.
y) Mogk S. 279.
7) Meyer S. 227. Ähnlich griechisch Chione die Schneejungfrau, »das wahre
Kind des stürmischen Nordwinds und der kalten Bergluft« Preller 2, 149; vgl.
Laistner, Nebelsagen S. 113.
8) Meyer S. 242.
9) a. a. O. S. 302.
10) Vgl. auch Golther S. 172.
") Preller 2, 192.
12) Golther S. 242.
13) Vgl. allgemein Preller 1, 429 f.
u) Urgeschichte Europas S. 117, 151.
§ 11. Naturgeister und Naturkult. 105
artige? — Sonnenscheibe hinausging. Hiergegen hat Much1) begründete Ein-
wände erhoben. Zwar die Riesen Söl und Mäni2) sind junge Bildungen3) und
die Sunna des Merseburger Spruches 4) hat ganz untergeordnete Bedeutung,
wie die Sonnengöttin sie nicht haben könnte. Aber Cäsar s Zeugnis5)
läßt sich so einfach nicht abtun, um so mehr als es noch später durch
volkstümliche Zeugnisse über Herr Sonne oder Frau Sonne gestützt wird 6).
Der heilige Eligius predigt im 7. Jahrhundert unter den Franken: nullus
dominos solem aut lunam vocet neque per eos iuret. — Danach kann
man vielleicht etwa folgende Evolution annehmen: für die älteste Zeit
fetischistische Verehrung von »Sonnenscheiben« (wie von Amulett-Lanzen
oder Hämmern), wobei die aus dem Süden eingeführten Sonnenwagen
benutzt werden konnten 7) ; Herausbildung der Vorstellung von einem die
Sonne beherrschenden Geist (und ebenso einem Herrscher des Mondes) in
der animistischen Periode ; Abblassen in der Götterzeit ; Versuch einer Neu-
belebung in der romantischen Restaurationsepoche, der Dichtungen wie
Vafthrüdnismäl gehören.
Daß eine indogermanische Sonnenjungfrau früh völlig in der Helden-
sage versinken konnte8), ist ein kräftiges Zeugnis gegen lebhaften Sonnen-
kultus. Man wird eben wohl von Geistern gesprochen haben, die die
Gestirne beherrschten; aber zu göttlicher Verehrung kamen diese fernen
Kräfte so wenig wie der Mann im Mond. — Wo das Gebiet der Germanen
in das fremder Völker übergeht, im Land der Mitternachtssonne, glaubte
man die Sonnenrosse und das strahlende Goldhaar des Helios zu sehen 9) —
die indogermanische Vorstellung, die einen Kultus nicht beweist, an dieser
Stelle sogar ausschließt. Das Sonnenroß selbst ist urindogermanisch 10).
Aber die kühnen Hypothesen über die magische Absicht des Sonnen-
wagens von Trundholm, die Edv. Lehmann11) unter der Zustimmung
Mogks12) ausspricht, muß ich für durchaus unerwiesene folkloristische
Dogmen halten 13). Und die späten Spuren eines höchst primitiven
') Gott. Gel. Anz. 1909, Nr. 2, S. 95 f.
2) Vafthrüdnismäl Str. 20, 37.
3) Mogk S. 310.
4) Vgl. Golther S. 437.
5) Bell. Gall. 6, 21 : deorum summos eos solos ducitnt, quos cernunt et quorutn
aperte opibus tuvantur, Solem et Vulcanum et Lunam.
6) Vgl. Golther S. 487.
7) Abbildung des berühmten Sonnenwagens von Trundholm bei S. M ü 1 1 e r
S. 117.
s) Vgl. u. S. 106.
9) Vgl. Tac. Germ. c. 45.
10) Vgl. z. B. für den Veda Macdonell S. 149.
") Danske Studier 1, 75 f.
12) Menschenopfer S. 605.
13) Vgl. auch Much, Gott. Gel.-Anz. 1909 S. 96.
I06 Drittes Kapitel.
Sonnenkults in Norwegen1) können nicht mit irgendwelcher Sicherheit
auf altgermanische Zeit zurückgeleitet werden; ob hier nicht etwa Ein-
fluß der finnisch-lappischen Nachbarn anzunehmen ist?
Sterne2). Bis auf die seltsame Nachricht eines Arabers, die Be-
wohner der Stadt Schleswig beteten den Sirius an3), ist von einem
Kultus der Gestirne oder auch nur von Vorstufen dafür nichts belegt.
Was man dafür angezogen hat (besonders die Namen der Wochen-
tage), hat nicht die geringste beweisende Kraft. Nur scheint sich jener
vielleicht indogermanische Kult von Morgen- und Abendstern4)
bei den Germanen (speziell bei den Vandiliern, mit dem religiösen
Zentrum der Nahanarvali) lange erhalten zu haben, bis er später in die
Heldensage aufging5). Doch schon in der Zeit des Tacitus6) war
dieser Übergang eingeleitet und (wie in der Sage) mehr ihr Verhältnis
als Brüder, mehr ihre Erscheinung als Jünglinge betont, denn das
Göttliche. Es bleibt die Frage, ob diesem uralten Brüderpaar wirklich
Sterne zugrunde lagen? Ob zwei nie gleichzeitig erscheinende Gestirne
der naiven Phantasie Brüder sein konnten? Die Acvins wurden schon
von den ältesten Kommentatoren auch als Himmel und Erde oder Tag
und Nacht gedeutet7); die Dioskuren erklärt Preller8) als »streitende
Mächte des Lichts«. In der Tat scheint mir dies das Wahrscheinlichste,
daß sie Emanationen des Himmelsgottes sind: wie solche so oft als »Söhne«
bezeichnet werden, heißen auch sie »Söhne des Zeus«. Jedenfalls aber
sind sie schon in indogermanischer Zeit der Götterbildung sehr nahe, die
sie nach der Völkertrennung bei Indern, Hellenen, Germanen innehaben 9).
Vielleicht eine ursprüngliche Göttin der Morgenröte, ebenfalls
auf indogermanischer Basis, ist die früh verschollene Frühlingsgöttin
Auströ 10).
Der »Panbabylonismus« hat alle Religionen der Kulturvölker von der
babylonischen »Astralreligion« ableiten wollen — die selbst noch auf
Überschätzung gewisser Einzelheiten gegründet scheint11) und im wesent-
x) Butteropfer: Mortenssen und Olrik, Danske Studier 2, 115f.; im
höheren Norden feierliche Begrüßung der wiederkehrenden Sonne.
2) Vgl. J. Grimm, D. Mythol. 2, 582 f., bes. S. 602 f.
3) G. J acob , Ein arabischer Berichterstatter über Fulda usw., Berlin 1890, S. 12.
4) Siehe o. S. 52; Preller S. 447.
5) Sijmons in Pauls Grundriß 3, 677.
6) Germ. c. 43.
7) Macdon eil S. 53.
«0 2, 94.
9) Vgl. u.
10) Mogk S.374. Ushas noch durchsichtig als Göttin der Morgenröte Mac-
donell S. 46; ebenso Eos, Preller 1, 446.
-1) Vgl. Ed. Meyer S. 529f.
ii
§11. Naturgeister und Naturkult. 107
liehen modern - wissenschaftliche Mythologie ist. Was aber von Gestirn-
geistern und Gestirnkult übrig bleibt, ist minimal; die Sterne haben ja
auch erst für die ausgebildetere Seefahrt praktische Bedeutung ! — Denkbar
wäre ein indogermanisch-astraler Hintergrund immerhin bei Aurvandil,
dem von Thor getragenen Riesen *).
Tag und Nacht als elementare Erscheinungen haben ebensowenig
in der altgermanischen Mythologie kenntliche Spuren; denn die schöne
Anrufung der erweckten Sigrdrffa2):
Dem Tage Heil und des Tages Söhnen,
der Nacht und der Tochter demnächst
scheint entweder ein poetischer Ausdruck der Formel : »alles, was da lebt,
sei gegrüßt«, oder eine Anrufung dieser Erscheinungen als »Augenblicks-
götter« 3).
Der Tag als Raum der Tätigkeit scheint dagegen in Rig-Heimdall
einen »Kulturgott« erweckt zu haben, der aber jung ist wie der etwa ver-
gleichbare indische Savitar.
Im ganzen ist hier vor der Vermischung von poetischer Schöpfung
mit mythologischer Gestaltung besonders zu warnen. Gerade was unserer
»mythenbildenden Phantasie« das Nächstliegende scheint, ist es für die der
Urzeit schwerlich, die von praktischen Bedürfnissen und täglichen Er-
fahrungen befruchtet wurde, nicht von sentimentalen Betrachtungen über
das Weltgebäude4). —
Auf der Grenze zwischen beiden Kategorien der Naturgeister würden
Brunnengeister stehen, wenn sie als besondere Klasse anzusehen sind 5).
IL Geister der kultivierten Natur.
Natürlich sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen Geister-
kategorien enge; man sollte aber doch nicht (mit Mogk) Wald- und
Feldgeister zusammenwerfen, Bäume und Gartenpflanzen. Es ist ein Unter-
schied wie zwischen Wolf und Haushund: diese Geister sind sozusagen
die Haustiere unter den Dämonen. Daher tritt auch an Stelle des gelegent-
lichen Kultes ein regelmäßiger Dienst: neben dem Ahnenkult haben wir
hier die zweite Wurzel des periodischen »Gottesdienstes«. — Besonders
charakteristisch ist die Verschiedenheit zwischen den beiden Erdgöttinnen6).
*) Vgl. u.
2) Sgdm. Str. 31.
3) Siehe unten. Auch in die indische Mythologie dringen sie erst später durch
theologische Systembildung, vgl. Macdon eil S. 25.
4) Eine rein geographische Auswahl der Naturgeister ist für den nüchternen
Geist der Chinesen bezeichnend; vgl. de Groot, Kultur der Gegenwart a.a.O.
S. 166.
5) Vgl. Eddica minora S. LXXXIII.
6) Vgl. u.
103 Drittes Kapitel.
1. Feldgeister1) sind in ihrer Bedeutung von Mannhardt2) für
die griechische, lateinische, slawische, germanische Mythologie entdeckt
worden 8).
Sie berühren sich besonders mit den Windgeistern: »Das Innerfeld-
mandl sieht der Tiroler Hirte sich im Wirbelwind um die Füße der
Rinder drehen und ihnen in die Ohren blasen, die Saugen Fräulen (Wind-
geister) helfen beim Heuen, beim Flachsjäten oder Kornschneiden« 4); das
ist dann der wohltätige kühlende Wind.
Die Feldgeister erscheinen meist in Tiergestalt: Roggenwolf, Korn-,
Roggenhund, Heupudel, Haferbock, Roggensau; auch menschenähnlich:
Kornfrau, Kornmutter, Korn-, Roggenmuhme, Hafermann, der Alte, und
wieder Korn-, Ährenkind5). Erklärt sich dies aus Zusammenhang mit den
Seelen6)? Oder einfach aus der an das Tierreich gefesselten Phantasie
der Ackerbauer? Sie werden auch einfach als Hasen oder Hirsche vor-
gestellt: Erfahrung an Tieren, die unter den Ähren auftauchen.
Sie machen zunächst den Eindruck böser Geister. Sie fordern
Tribut: sie überfallen den Arbeiter (die Mittagsgöttin) und lähmen ihn;
sie machen krank; auch tauschen sie Kinder um7), was denn wie Mythi-
sierung kulturgeschichtlicher Anekdoten klingt. — Tatsächlich sind sie
doch gute Geister: der Grundgedanke ist, daß sie die Ähren vor
dem Schnitter schützen. Deshalb flüchtet der Feldgeist immer tiefer
ins Getreide und wird mit dem letzten Halm gefangen und gebunden.
Deshalb auch bekämpft er den Erntearbeiter oder sucht ihn abzuschrecken
(der Bilvis). Man denke daran, wie noch Lenau die Art, wie der deutsche
Ackerbauer die Mutter Erde würgt und ihr die Ernte abzwingt, grausam
fand. — Deshalb also muß der Feldgeist als Herr des Getreides mit einer
Gabe abgefunden werden, zumeist mit einer symbolischen Natural 1 eistung :
der letzten Ähre. — Ein Dämon des vom Erntegott bedrohten Getreides
scheint auch Gerds).
Daneben ist aber auch der Standpunkt des Erntenden zu seinem
Recht gekommen in guten Geistern, die die Äcker und Wiesen
gedeihen lassen. Diese sind meist weiblich und haben gewöhnlich
1) Meyer S. 209 f., Mogk S. 295, 308, Golther S. 156 f.
2) Roggenwolf und Roggenhund 1865, Die Korndämonen 1867, Antike Wald-
und Feldkulte 1877.
3) Für die indische Mythologie vgl. Macdonell S. 138.
4) Meyer S. 210.
5) Golther S. 156; unzureichende Erklärung der Tiernamen Mogk S. 308.
6) Ebd. S. 157.
7) Br. Grimm, Deutsche Sagen Nr. 90.
8) Skirnismäl; vgl. u.
§ 11. Naturgeister und Naturkult. 109
Menschengestalt1). — Gehört hierher Garmangabis2), der Sueben um
250 n.Chr. als der »bereiten Reichtum Spendenden« einen Stein setzten?
Als abstrakter Dämon des Getreides selbst kann SceäfB) (»Garbe«)
angesehen werden, wenn dieser »heroische Gründer des Ackerbaus« nicht
zu dem Typus der »Heilbringer«4) gehört. »Als neugeborener Knabe, in
einem steuerlosen Schiff auf einer Garbe schlafend, von Waffen umgeben,
wurde er hilflos ans Land getrieben« : ein Mythus von der geheimnisvollen
Ankunft eines segenbringenden Königs, der wohl 5) auf uralte Vorstellungen
zurückgehen kann6).
Zweifelhaft ist es, ob der Bilvis7) hierher gehört. Er reitet an
heiligen Tagen mit Messern oder Sicheln an den Füßen durch die Felder
und zieht so einen wellen- oder bockssprungförmigen Schnitt, einen fuß-
breiten Streifen der Verwüstung, durch das Getreide. Er ist doch wohl
eher (mit Meyer) als ein Zauberer aufzufassen, der die Ernte schädigt;
doch könnte er auch ein besonderer Feind der Schnitter sein8).
2. Hausgeister: Geister, die sich in dem Haus eine Heimat zurecht
gemacht haben wie andere in Baum oder Feld 9). Man darf natürlich nicht
an unsere Mietshäuser denken : es sind Erbhäuser, die wie ein Stück Natur
wirken 10).
Die überall (auch in der Sprache) durchgeführte Analogie von Haus
und Leib bringt auch diesen »Geist des Hauses« den Seelen nahe. Er
wird wohl auch geradezu z. B. im Vogtland als Geist eines ungetauften
Kindes gedeutet11). Wie die Totengeister erscheint er gern als Hausotter,
Schlange12); sonst gern in Kindergestalt und Kinderart: zappliges, un-
ruhiges Wesen ist für ihn bezeichnend, wie wir uns noch heute den
x) Meyer S. 213.
2) Vgl. Golther S. 470, Kauffmann, PBB 20, 526.
3) Vgl. Meyer S. 212.
4) Breysig, Die Entstehung des Göttergedankens und der Heilbringer,
Berlin 1905; wie griechisch Kadmos und Erichthonios.
5) Wie der Runenvers von Ing, vgl. J. Grimm, Deutsche Mythologie 1, 286.
6) Vgl. u.
7) Mogk S. 272, Golther S. 157 Anm. 2, besonders Meyer S. 164, 202.
8) Landwirtschaftsdämonen in Tiergestalten wie die Kelten (Anwyl, Celtic
Religion S. 24 : Tarvos der Stier, Mocco das Schwein, Danona Göttin des Viehs ;
vgl. S. 27) scheint die altgermanische Religion nicht zu kennen.
9) Meyer S. 153 f., 213 f., auch S. 30, 65, 1781, Golther S. 141, Mogk S. 291.
10) Die lateinischen Penaten wohnen ursprünglich in der Vorratskammer
(Wissowa S. 145). — Der indische Vastos pati ist dagegen fast ganz seinem ur-
sprünglichen engen Besitz entrückt (Macdon eil S. 138). — In China sind die
Hausgötter differenziert und jede Gottheit kann in ihre Zahl aufgenommen werden
(de Groot, Kultur der Gegenwart S. 178).
n) Meyer S. 214.
12) Meyer S. 78.
j j q Drittes Kapitel.
Kobold1) vorstellen. Er führt diminutive menschliche Eigennamen: Hinze
(zu Heinrich), Wolterken, Robin. Oder er ist von seinem lauten Wesen
als Poltergeist onomatopoetisch benannt: Rumpelstilz, Bullermann; Butze-
mann, weil er Schreck erregt.
Hier zuerst tritt uns ein koloriertes Bild der Erscheinung entgegen.
Er trägt Hütchen, wie die Kinder (danach wird er ebenfalls, wie in
C. F. Meyers Gedicht, benannt), oft von roter Farbe, und Stiefel. Der Hut
ist sein Rangzeichen: wer sich dessen bemächtigt, ist Herr über ihn. —
Doch hat er oft auch dauernd jene Tiergestalt von Schlange, Marder, Katze
und anderen das Haus umschleichenden Tieren ; oder er bleibt unsichtbar.
Er ist ein guter Schutzgeist, verlangt aber Pflege, und seine Gunst
muß dadurch erkauft werden, daß man allerlei kleineji Schabernack duldet.
Er verlangt gute Behandlung und wandert sonst aus. Im ganzen sind
Züge des Zwergs mit denen des treuen alten Dieners vermischt.
Er genießt einen regelmäßigen Kult: man setzt ihm trank- und
speisebesetzte Tische, Spielzeug, Stiefel (wie für Kinder) hin2); im Norden
einen Topf mit Grütze. Zu Weihnachten macht man ihm den Herd frei,
damit er selbst kochen kann. Jeden Donnerstag erhält er Kuchen und
Bier; ein sauber gemachtes Bett steht für ihn auf dem Boden bereit usw.3).
3. Schiffsgeister: Hausgeist des Schiffes ist der Klabauter-
mann4). Er besteigt das Schiff, sobald das letzte Stück Holz angebracht ist; er
reinigt, klopft, poltert — Vorstellungen, die wohl auf unerklärliche Geräusche
zurückgehen. — Auch bei ihm wird die Verwandtschaft mit den Seelen
betont; aber daß er aus der Seele eines zum Schiffsbau benutzten Baumes
stamme5) klingt nicht ursprünglich.
Er empfängt als Kult ein Schälchen mit Milch. Kleider und Schuhe
faßt er sonderbarerweise als consilium abeundi auf — vielleicht weil er
auf dem Schiff unbekleidet und barfuß hantiert?
4. Schatzgeister, Hüter vergrabener Schätze sind die Alraunen
(Wurzelmännchen »in Westdeutschland von der Schweiz bis nach Fries-
land herab, östlich dazu von Tirol bis nach Ostpreußen die feurigen
Drachen«6). Ob diese mythischen Gebilde wirklich erst im Christentum
entstanden, scheint doch fraglich.
5. Als Bergbaugeister amtieren die Zwerge7).
*) »Hüttenwalt«: Golther S. 141, oder Hausbold: Kluge, Etymologisches
Wörterbuch, S. 206.
2) Meyer S. 30.
8) Meyer S. 214.
4) Mogk S. 292, Golther S. 149, Meyer S. 214.
5) Meyer a. a. O.
6) Mogk S. 293.
7j Vgl. Meyer S. 173.
§ 12. Die Dämonen. 111
Blicken wir zurück, so sehen wir die » Naturgeister « freilich nicht in
dem vornehmen Glanz, in den die neuere Mythologie sie vielfach recht
eigentlich »gehüllt« hat. Es sind im Gegenteil die Proletarier des Götter-
reichs; freilich eben darum in ihren schönsten Vertretern der Volks-
phantasie lieb und vertraut, sonst aber auch scheu gemieden:
Berufe nicht die wohlbekannte Schar,
Die strömend sich im Dunstkreis überbreitet,
Dem Menschen tausendfältige Gefahr
Von allen Enden her bereitet!
Anhangsweise versuchen wir noch die Frage der altgermanischen
Tiergeister zu erledigen.
6. Ein »Tiergeist« wäre ein Geist, der in einem bestimmten Exemplar
einer bestimmten Tiergattung seinen Sitz hatte; wie der Apisstier der
Ägypter1) oder der weiße Elefant in Siam. Solche Tiergeister sind nicht
zu verwechseln mit Seelen oder Naturgeistern, die nur vorübergehend
Tiergestalt angenommen haben.
Wir haben keinen Anhalt für die Existenz solcher Tiergeister bei den
alten Germanen. Die dichteriche »Beseelung« von Roß oder Hund in
der Heldensage ist von der etwa des Schiffes nicht zu trennen, oder sie
geht (s. o.) auf Fetischismus zurück. Die mittelalterlichen Tierprozesse2)
hat man ebenfalls zu unrecht herangezogen ; es kann ja in jedes Tier, das
Schaden angerichtet hat, ein Dämon gefahren sein. Übrigens gehen sie
nicht auf älteste Grundlage zurück. — Die Wundergeschöpfe der eddischen
Märchendichtung: sprechende Vögel, Wunderziege und Wunderhirsch
u. dgl. 3) werden eben als solche aufgefaßt ; ihr Vorhandensein kann deshalb
geradezu als ein weiteres Zeugnis gegen die Annahme altgermanischer
Tiergötter dienen.
§ 12. Die Dämonen.
Unter »Dämonen« im spezifischen Sinne verstehen wir Geister, die
den Naturgeistern sonst vergleichbar, aber an keinerlei greifbares Substrat
gebunden sind.
Bezeichnend für sie ist die Un Sichtbarkeit oder Verwandlungsfähig-
keit: sie scheinen gar kein festes Kleid zu haben. — Bezeichnend ist
ferner die unbegrenzte Zahl und die Neigung, bestimmte Klassen, oft
unter einem Oberhaupt, zu bilden.
Wenn auch nicht an einen bestimmten Raum, sind doch einige an
eine bestimmte Zeit oder eine gewisse Situation, eine Bedingung gebunden :
*) Er man, Ägyptische Religion, Register s. v.; besonders S. 176.
2) v. Amira, Tierstrafen und Tierprozesse München 1891.
3) Vgl. Ztschr. f. d. Phil. 31, 323.
j 1 2 Drittes Kapitel.
so erscheinen die Traumgeister eben nur, wenn der Mensch schläft. —
Übrigens ist der Grad der Ähnlichkeit mit anderen Geisterkategorien ver-
schieden; die »Holden« sind von Naturgeistern oft kaum zu unterscheiden •
Am freiesten sind die Elfen l).
1. Traumgeister.
Wir erinnern uns: im Traum verläßt die Seele den Körper. Dadurch
wird er »frei« und andere Geister können in ihn, wie in ein leeres Ge-
häuse, hineinschlüpfen. Solche Schmarotzer, wie der Einsiedlerkrebs, sind
die Traumgeister. Daß eigentlich doch wieder eine Seele nötig wäre, um
den fremden Gast wahrzunehmen, kommt der naiven Psychologie nicht
zum Bewußtsein.
Es gibt zwei Gruppen: die mehr körperlich beschwerenden (Alp-
geister) und die mehr geistig beunruhigenden 2).
Dem Alp3) zugrunde liegt eine Druck- und Angstempfindung, wie
von einer körperlichen Last4) und schon den Indogermanen bekannt5),
da »die überreichliche Mahlzeit in einem dumpfen Schlafraum«6) unseren
wenig hygienischen Vorfahren solche üblen Schlafzustände erleichtern
mußte. — Man erklärt sich den Druck einfach durch ein auf uns
lastendes Wesen. Wir haben hier also die mythologische Antinomie
eines »Geistes«, der doch körperliche Schwere besitzt; jedoch wird
der Druck vielfach auch auf besondere Bewegungen des Dämons zurück-
geführt.
In Mittel- und auch großenteils in Oberdeutschland heißt der Dämon
»Alp« , «Quälgeist« (eigentlich wohl »Truggeist«). Mit den indischen
Ribhus, ursprünglichen Elfen, die dann kunstgewandte Gnomen werden 7),
haben die Alpe höchstens den entfernteren Ursprung und den Namen
gemein, nicht das Wesen. Anderseits ist ihr Name nicht mit »alf«, dem1
der »Elfen« zu verwechseln8). Alemannisch trut, ebenso österreichisch,
*) Wie Meyer S. 1441 irreführend alle Geister nennt; vgl. allgemein
ebd. S. 28 f. Zu vergleichen sind besonders die — bösen — indischen Rakshäsas,
Macdonell S. 162f.
2) Literatur zum Traum vgl. o. S. 77, 3. Verkörperungen der Träume selbst
und ihres Herrn Morpheus wie bei den Hellenen (Preller 1, 846) sind wohl erst
dichterische Erfindung.
3) Meyer S. 128f., Mogk S. 2661, Golther S. 731; Überschätzung ihrer
mythologischen Bedeutung bei Laistner, Rätsel der Sphinx, Berlin 1889; vgl.
z. B. Golther S. 74 Anm., Mogk S. 268.
4) Gut beschrieben von Meyer S. 129.
5) Ebd. S. 130.
6) Ebd. S. 128.
7) Macdonell S. 131, 134.
8) Den Mogk S. 268 zu allgemein als »seelisches Wesen schlechthin»
definiert.
§ 12. Die Dämonen. 113
gehört zu trudan treten1), weil sie den Fuß lastend aufsetzen. Sonst
herrscht oberdeutsch der Ausdruck schrat , Deminutiv schreitet zu alt-
nordisch skratti Gespenst, ahd. scrati ,pilvisus\ behaartes Waldgespenst2)?
Der altgermanische Name ist aber ahd. und altnordisch mara , zu mar
hindern, hemmen3); dazu englisch nigthmare, französisch cetuchemar
(erste Hälfte wieder zu calcare, treten). — Ferner begegnen abwehrende
Kosenamen : Druckerle, Nachtmännle; Tiernamen wie alemannisch Lork,
Kröte. Zunehmende Vermenschlichung zeigen Namen wie Nachtfräule in
Zürich, Waldriderske in Oldenburg4).
Der Alp wird in seiner äußeren Erscheinung anschaulich gemacht.
Bezeichnend ist der breite Gaißfuß 5), sonst noch der große schwere Kopf,
die glühenden Augen 6). So wird er ein rechtes Musterbild jener phantasti-
schen Ungeheuer, die der geistig bildenden Kunst primitiver Menschen aus
dem Dunkel, aus unklaren Umrissen, aus optischen Nachbildern erwachsen 7).
Sie erinnert an die wilden Nachtmahrphantasien unserer Romantiker, be-
sonders E. Th. A. Hoffmanns, oder an die höllischen Figuren des
»Höllenbreughel<.
Die Erscheinung gilt für sehr gefährlich: sie tritt dem König Vanlandi
erst die Beine fast entzwei und drückt ihm dann den Schädel ein 8), wohl
indem sie ihn aus der Bettstatt stürzt9). Sie »reitet« oder »tritt« auch die
Haustiere, so daß sie des Morgens schweißtriefend und zitternd dastehen ;
nur das Schwein bleibt (am Lechrain) unversehrt.
Als Schutz gilt prohibitiv: brennende Kerze, Waffe auf der Brust;
so würde sie sich verbrennen oder schneiden; defensiv: Zaubersprüche,
die zum Teil noch jetzt 10) in Gebrauch sind n). Im ganzen hilft schon das
Erwachen, namentlich wenn es sich durch lauten Schrei verrät 12). Um den
Alp dann dauernd unschädlich zu machen, packt und drückt man, was
man irgend beim Erwachen in der Hand hält, Strohhalm, Faden, Bett-
feder, und nagelt ihn fest, um damit sympathetisch die Trud zu bannen 13).
*) Meyer S. 131.
2) Vgl. Golther S. 125 und besonders Mogk S. 268.
3) Mogk S. 267.
4) Meyer S. 131.
5) »Drudenfuß«, Meyer S. 139.
6) Ebd. S. 133.
7) Vgl. Wundt, Völkerpsychologie, 2, 2.
8) Ynglingatal c. 16, Meyer S. 131.
9) Ähnliches droht die Hexe Hrimgerd dem Atli an, Helg. Hjörv. Str. 22.
10) Wie die im »Romanusbüchlein«, Meyer S. 132.
u) Vgl. ebd. S. 134, 136. Ein ausführlicher Nachtsegen dieser Art bei
Franck, Geschichte des Wortes Hexe, S. 28; Kern S. 29: »Noch mich die mare
drücke «.
12) Golther S. 79, Meyer S. 135.
13) Meyer ebd.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 8
] 1 4 Drittes Kapitel.
Zum gleichen Zwecke sucht man ihrer nach dem Erwachen habhaft
zu werden; man sucht auf dem Heuboden, in Gräbern. Da stellt sich
denn manchmal heraus, daß die Mar kein eigentlicher Geist war, sondern
ein »Wiedergänger« (s. o.) in mancherlei Verkleidung, besonders auch als
Katze, Hund, Maus1) — oder auch die Seele einer lebendigen Person2).
Solche Personen müssen im Besitz einer bestimmten Disposition sein3);
erkannt werden sie wohl, wenn Nachbarn uns im Traum in einer alp-
bedrückten Nacht erscheinen4). Solch eine »Mahrt« ist an den zusammen-
gewachsenen Augenbrauen zu erkennen: sie ist ein »Rätsel« wie Goethes
Freund Lenz. Mythologisch ist solche Persönlichkeit wohl zu erklären
als ein Mensch, in dem ein Alpgeist Unterkunft gefunden hat5). Er gilt
aber als mitschuldig6).
Der Kult beschränkt sich überwiegend auf die Abwehrmaßregeln;
doch erhalten die Schretlein in der Dreikönigsnacht Speise7).
Die zunächst recht primitive Vorstellung hat eine reiche Entwicklung
durchgemacht 8). — Erotischen Charakter scheint sie erst in der Erhitzung
der Hexenjagd angenommen zu haben (incubus); sie hat sich dann auch
mit dem Vampyrglauben vermischt9).
Andere Traumgeister10) gibt es eigentlich nicht; denn was uns im
Traum erscheint, sind die wandernden Seelen anderer, ihre hugir11).
Sie sind da von Raum und Zeit frei; deshalb vermögen wir im Traum
künftige Ereignisse zu erblicken. Das Auslegen der Träume ist Sache
der geübten Wahrsager, wie im Altertum (Josef in Ägypten, Daniel), so
bei den Germanen 12).
2. Holden13) scheinen ihrem Ursprung nach freigewordene Seelen
Verstorbener zu sein. »Aus dieser Schar der Holden ist in später, vielleicht
erst in christlicher Zeit und zum Teil unter dem Einfluß fremden Volks-
glaubens eine Führerin entstanden ..., die Frau H ol le unserer Märchen« u>
Also wieder eine Kollektivierung.
x) Mogk S. 267.
2) Ebd.; Meyer S. 138f., 141 f.
3) Meyer S. 139.
4) Vgl. Golther S. 78.
5) Vgl. u. »Zaubermenschen«.
6) Prozeß gegen einen Alpmenschen, Mogk S. 267.
7) Meyer S. 222.
8) Vgl. Golther S. 76, nach Laistn er; im jetzigen Aberglauben: Wuttke,
Volksaberglaube, § 40 2 f.
9) Vgl. Golther S. 78.
10) Mogk S. 268, Meyer S. 128 f., Golther S. 74.
11) Vgl. o. S. 83.
12) Golther S. 659.
la) Meyer S. 278, Meyer S. 147, 195.
14) Mogk S. 279.
§ 12. Die Dämonen. 115
Sie wohnt im Berg wie alle ethnischen Wesen und hat ein Gefolge
von Seelen, ist aber selbst ganz elfenartig gestaltet: sie macht ihr Bett
(wenn es schneit), spinnt und prüft das Spinnen der Mädchen. Ihre
Epiphanie fällt in die Zeit der Zwölfnächte. — Ähnlich herrscht in ganz
Oberdeutschland Frau Perchta, Bertha; ihr Gebiet reicht im Vogtland
und in Nordbayern in das der Holle hinein1); nach ihr ist Berchtesgaden
benannt. Sie hat vorzugsweise Kinderseelen im Gefolge. — Andere ähnliche
Gestalten heißen Fru Harke, Fru Gode usw.2). Sie werden gelehrt
umgedeutet als Herodias u. a.3). Überall haben sie einen gutartigen, haus-
frauenmäßigen Charakter.
Kult: es wird ihr das festliche Perchtenlaufen in Tirol und der Schweiz
geweiht4): man läuft verkleidet durch die Straßen und ahmt so den Umzug
der Frau Holle nach. Auch wird ihr Fastenspeise dargebracht. — Auch
diese Feste gleichen den Totenfesten und beweisen, daß die Holden Toten-
geister sind, die zu frei treibenden Dämonen werden. Die Analogie mit
dem (vorzugsweise männlichen) Wütenden Heer liegt auf der Hand.
3. Elfen5). — Altn. älfr. ags aelf, »Atem«, »Seele«?6).
Die Elfen besitzen ein besonderes »Reich« wie die Zwerge, Riesen,
Götter (vgl. Alvfssmäl). Dies ist aber nicht in irdischer Räumlichkeit
vorzustellen, sondern rein begrifflich als das Reich der völlig un-
gebundenen Geister7).
Sie sind nicht Naturgeister, wie Meyer8) will, sondern Geister
schlechtweg, die allerdings9) »die ganze Natur erfüllen«. Mit den Seelen
sind auch sie verwandt10), aber wir besitzen kein Recht, sie (wie die
Molden) schlechtweg animistisch abzuleiten. — Eine gewisse Zartheit ist
hnen überwiegend eigen, doch nicht so ausgesprochen wie den Wasser-
bauern Man hat diese Feinheit sogar in den Benennungen gesucht, die
m den Alvfssmäl den Elfen zuerteilt werden : der Himmel heißt bei ihnen
»das schöne Dach«, die Sonne »das schöne Rad« u. a.
Sie werden formelhaft den Göttern zugesellt (aesir ok alfar
altnordisch — ese and ylfe angelsächsisch)11), als zweite Haupt-
*) Mogk a. a. O.
2) Mogk S. 281.
3) Vgl. Heine im Atta Troll.
4) Mogk S. 280.
5) Meyer S. 144, Golther S. 113, Mogk S. 285f., Chantepie S. 18.
«) Mikkola vgl. Uhlenbeck, PBB 35, 163.
7) Vgl. Mogk S. 287.
8) a. a. O. S. 144.
9) Golther S. 122.
10) Ebd. S. 123.
u) Golther S. 124.
8*
1 1 ß Drittes Kapitel.
kategorie der wirkenden Mächte — allerdings unter Mitwirkung de I
Stabreimes x).
Die Elfen sind klein, beweglich, meist schön, doch zuweilen aucl|
häßlich. — Ihr Name althochdeutsch alp , mittelhochdeutsch alp , PluiT
elbe, neuhochdeutsch Elb ist seit Wielands Shakespeare (Sommernachtsl;
träum!) durch unser »Elf« ersetzt2). Als Seelen wohnen sie in Bergeii
und unter der Erde, aber auch in der Luft. Mit dieser Scheidung del
Wohnorts — der aber nirgends fest lokalisiert scheint — hängt wohB
auch die Zweiteilung in Licht- und Dunkelelfen zusammen3), die vielli
leicht erst nachträglich ins Moralische umgedeutet wurde.
Die Lichtelfen sind zart, schlank wie eine Lilie, weiß wie Schnee4
so daß es höchstes Lob wird : schön wie eine Elfin (wie wir sagen : schö
wie ein Engel); vgl. in dem mittel lateinischen Gedicht Ruodlieb5) di
Charakteristik der Zwergin : parva, nimis pulchra sed et auro vestequ
compta6). Die Stimme ist lieblich, verlockend 7); die skandinavische Volks
dichtung hat gern davon gefabelt. An göttliche Erscheinung mit vei
nichtender Wirkung (Semele: wer Gott sieht, stirbt) erinnert es, daß, we
sie sieht, sterben muß 8). Man muß sich deshalb hüten, in den Elfenrinj
zu treten, d. h. in die symbolische Bezeichnung ihres Reiches, die späte
realistisch als ein Kranz (weißlicher) Pilze aufgefaßt wurde.
Die Dunkelelfen heißen auch Wichte (gotisch vaihts , althoch
deutsch wikt, »kleines Wesen« — zu einer Wurzel »bewegen«?9) ode
einfach »Ding« 10) (wie in unserem »nicht« = »kein« Ding). Diese Wichtel
männchen sind zwergartige »Teufelchen«, können aber auch gutartig sein
skandinavisch hollar vaettir, »gute Dinger« (dagegen »Bösewicht«).
Die Elfen haben keine feste Heimat; daher nehmen sieden Charakte
ihres jeweiligen »Klimas« an und erscheinen als Licht-, Luft-, Erd-
Haus-, Wasserelfen11). Von den eigentlichen Geistern dieser Bezirk
*) Hübsche Gesamtcharakteristik bei Mogk, S. 285; auch Meyer S. 148
2) Vgl. Br. Grimm, Deutsches Wörterbuch 3, 400; Mogk S. 286.
3) Snorra Edda, cap. 17; vgl. Mogk S. 281.
4) Golther S. 126.
6) her. v. Seiler, Halle 1882; 18, 27.
6) Auch bei vielen fremden elfenartigen Wesen wird die Schönheit gerühm
so bei den Nereiden, vor allem den indischen Apsarasen (Meyer S. 149); gei
manisch ist sie aber spezifisch den eigentlichen Elfen eigen.
"') Wie bei den Sirenen, die aber Meerfrauen sind: Prell er 1, 614.
8) Man vergleiche die Legende von Aktaeon, die allerdings Prell er 1, 456
ganz anders erklärt; ist die Strafe für das Erblicken der Nacktheit nicht ers
rationalistische Umdeutung?
9) Mogk S. 289.
9) Kluge, Etymol. Wb., S. 405.
*) Meyer S. 146, Mogk S. 287.
10)
in
>in
§ 12. Die Dämonen. 117
d sie kaum zu unterscheiden, sobald sie in der Luft, in Höhlen,
Wäldern , Gewässern wohnen. Sie sind ja auch schließlich nichts
mderes als solche Geister mit Loslösung von deren charakteristischer
Ortsgebundenheit. Aber eben aus dieser Freiheit erwachsen ihnen be-
sondere Kennzeichen.
Äußeres Rangzeichen ist oft (wie bei den Hausgeistern) der Hut,
mit dessen Ergreifen man sie in seine Gewalt bringt. Noch mehr aber
kennzeichnet sie die Organisation: sie haben Könige (Alberich:
Ortnit in der Nibelunge Not; Laurin Walberan Goldemar)1); sie arbeiten in
£uter geordneter Schar2). — Inneres Rangzeichen ist die häufige Übung
des Zaubers3). Wahrscheinlich deshalb sind die Eigennamen mit Alf-
>o beliebt: Albhart, Albwin, altenglisch Alfred, Älfric u. a. 4) — weib-
lichen Eigennamen mit -rün (Gudrun, Ortrun) entsprechend. Diese
Namen sind protreptisch gemeint: sie sollen vor Bezauberung schützen.
Denn die Elfen zaubern aus lauter Lust an der Sache; sie verwandeln
sich auch gern (mythische mirnicry: sie sind im Wald moosfarbig usw.)5).
Auch der Hut wird hierher gezogen : er wird als Tarnkappe gedacht,
als Mittel, sich unsichtbar zu machen.
Diese schwebende Mittelgattung hält sich aber nirgends ganz selb-
ständig. Im Norden werden sie an die Wanen, überall an die Zwerge
herangebracht. Beim Spiel der Volksphantasie werden sie z. B. auf Island
immer menschenähnlicher6). Von den Zwergen erben sie auch die Kunst-
fertigkeit, die später als besonders charakteristisch gilt, und die sie als
Zauberer nicht brauchen. Doch könnte sie dennoch ihr Urbesitz sein,
Jenn auch den Ribhus eignet die Kunstfertigkeit und auch ihnen wird,
vie den kunstfertigen Zwergen, sogar Wettkampf in der Kunstgewandtheit
nacherzählt 7).
Keine Gruppe der Geister ist so schwer zu fassen wie diese; und
vielleicht liegt eben in diesem Zerfließen ihr Wesen. Die Mythologen
haben öfters8) ihren Namen schlechtweg als einen Gesamtbegriff ge-
*) Vgl. Golther S. 133; auch die indischen Ribhus haben einen guten
König.
2) Kollektivierung indischer Elfen ist vielleicht der Gott Tvastri, erst ihr König?
vgl. Macdonell S. 116.
3) Golther S. 123, 128; Heinrich von Morungen: von der elbe wird entsin
vil manic man; das Lied vom Erlkönig, eigentlich Elfenkönig, Meyer S. 166.
4) Golther S. 124, Meyer S. 150.
5) Golther S. 127.
6) Golther S. 133.
7) Meyer S. 157 f. Ist Wieland — den man mit Daidalos vergleicht, z. B.
ebd. S. 163 — wirklich ein heroisierter Elf?
s) So Meyer S. 152f.
Hg Drittes Kapitel.
nommen, unter den besonders auch die Zwerge fallen; aber es gibl
Zwerge, die gar nichts Elfisches haben. Am besten charakterisieren wii
sie vielleicht als ein vergeistigtes Menschenvolk (der Auffassung
nicht dem Ursprung nach), zwischen den materielleren Zwergen und der
immaterielleren Geistern in der Mitte; sehr geeignet, allerlei Märchen und
Spukgeschichten1) auf sich zu nehmen; arbeitsam und regelmäßige
Beschäftigung zugetan ; den Menschen, denen sie nahe verwandt sind, über
wiegend gewogen2). Allerdings ist dies Element und die erotische Seitt
der Elfennatur später von den Forschern und Dichtern3) öfters erst hinein
getragen worden.
Elfenkult ist schon durch die Namengebung (s.o.) erwiesen. Mar
bringt ihnen Opfer: streut Speise, auch Salz und Brot, in die Luft, trag
Blumen in den Bach, legt Beeren auf den Stein, schenkt auch Puppe unc
Spielzeug4). Zuweilen haben sie feste Zeiten: in Schonen wird den gutei
Wichtern am Abend der drei hohen Feste am Herdfeuer geopfert; Haupt
feier aber während der Zwölfnächte zwischen Weihnachten und Drei
königen: das Alfablöt5). Man bewirtet sie, fast wie Gäste6).
In den Elfen ist die höchste Unbestimmtheit mythischer Gestalten er
reicht, was durch ihre Zauberlust symbolisch ausgedrückt wird. Um s<
deutlicher ist die nächste Gruppe dämonischer Wesen : Riesen und Zwerge
freilich auch sie, wie wir schon sahen, vor Berührungen mit Naturgeistern
Dämonen usw. nicht zu schützen 7).
*) Meyer S. 183 f.
2) Ebd. S. 1851
3) Z. B. Herder; vgl. Heinzel-Detter, Edda 2, 427.
4) Meyer S. 220.
B) Mogk S. 385.
6) Meyer S. 222, vgl. S. 30.
7) Gelegentlich streift die Art der Elfen (wie der Nymphen) schon an die jene
hellenischen Dämonen, die ich Stimmungsgötter nennen möchte, weil si
weniger ein bestimmtes Substrat zu beseelen, als vielmehr die durch eine Natui
gewalt erregte Stimmung auszudrücken scheinen. (Schön sagt Graf Keßlei
Neue Rundschau, Mai 1909, S. 730: »So entstand eine Welt von Halbgöttern, vo
halbgeformten, halb noch nebelhaften Wesen, deren Gestalten unbestimmt warei
während die Stimmungen, die sie verkörperten, feststanden« »das ist ihr
Substanz, diese Stimmung, diese Gefühlsmasse . . .«). Dahin gehören die Graee
und Gorgonen, Keto »die personifizierte Ungeheuerlichkeit des Meeres und der Flut
(Prell er 2, 62; Ran, die germ. Göttin des Meerestodes, hat eine viel konkreter
Grundlage), auch die Chariten — erst viele, dann drei (ebd. 1,482) — Gottheite
aller guten Dinge, und schließlich Pan; ja auch die Musen gehören in diesen Bezirl
Freilich können sie alle reine Elementargeister oder Dämonen gewesen sein, di
erst später in diesen abstrakteren Charakter hineinwuchsen; fanden wir doch etwa
davon auch bei uns, so daß die Nymphen elegische Temperamentsgottheiten wurder
§ 13. Riesen und Zwerge. 119
§ 13. Riesen und Zwerge.
Die alte Theologie (Alvfssmäl) unterscheidet die Zwerge von den
Elfen und macht aus den Riesen trotz allen Gewitter-, Wind- und Berg-
riesen eine eigene Kategorie. Man kann diesen späten Systembildungen
alle Autorität absprechen ; aber Riesen und Zwerge sind in der Tat eine
Gruppe für sich, und von eigenem Ursprung. Geister können riesisch
oder zwerghaft sein — ihr eigentliches Wesen steckt anderswo. Diese
hier aber sind eben durch ihre Größe oder Kleinheit charakterisiert, und
alles weitere erfließt von da.
Nicht das Größenmaß an sich ist entscheidend, sondern die Ab-
weichung von der Menschengestalt als der natürlichen Norm. Wie Asyndeton
und Polysyndeton durch ihren gemeinschaftlichen Gegensatz gegen die
normale Fügung viel mehr als durch ihre augenfällige Verschiedenheit
Untereinander bestimmt sind, so auch hier. Riesenwuchs und Zwerggestalt
sind zwei Fälle der Formlosigkeit, in der sich noch immer bis in
die größte Menschenähnlichkeit hinein das Geisterwesen verrät. Sind die
formlosen Menschen besonders stark, so sind sie Riesen (doch gibt es
auch riesenstarke Zwerge wie Alberich im »Laurin«); sind sie besonders
gewandt, so sind sie Zwerge. Es sind gleichsam Geister auf dem Weg
zur völligen Menschwerdung.
Natürlich werden sie als Pendants empfunden, aber selten zusammen-
gestellt. Auf der Stufenleiter der Wesen stehen die Riesen den Göttern
näher, die Zwerge den Menschen. Zwischen Göttern und Riesen gibt es
connubium (wogegen sich freilich das Gedicht Thrymskvida wehrt!),
zwischen Göttern und Zwergen keineswegs (Alvfssmäl). — Die Riesen sind
natürlich vereinzelter, die Zwerge treten massenhafter auf.
1 . Riesen1).
Die Riesen sind Lieblingsgestalten der kämpfenden Volksphantasie,
die hier ebensosehr auf ihre Rechnung kommt wie ihre zartträumerische
Seite bei Nixen und Wassermännern.
Wir sprechen an dieser Stelle nur von denjenigen Riesen, die keine
Naturgewalt haben, nicht von den riesisch gedachten Geistern gewaltiger
Naturerscheinungen. Früher erklärte man allerdings alle Riesen für solche
— Den vollkommensten Ausdruck solcher Verkörperung der Naturstimmung gibt
Goethes »Fischer«; doch auch an den »Erlkönig« ist zu erinnern — der ja
eigentlich ein Elfenkönig ist ! — Der Zauber der unberührten Natur, wie ihn die
Sagen vom Elfenring und Elfentanz andeuten, ist ein Lieblingsgegenstand auch
in T i e c k s Märchen.
x) Wein hold, Die Riesen des germanischen Mythos, Sitzungsber. Wiener
Akad. XXVI S. 2251, 1858; Meyer S. 226 f., Mogk S. 309f., Golther S. 159 f.,
Chantepie S. 328.
J20 Drittes Kapitel.
Geister1). Diese einheitliche Erklärung ist ebenso abzuweisen wie die
entgegengesetzte ethnologische, die in Riesen (und Zwergen) nur Über-
bleibsel vorindogermanischer Rassen sieht. Wir haben nach allen archäo-
logischen Funden kein Recht, die Vorbewohner Europas (oder überhaupt
der von den Indogermanen okkupierten Gebiete) den Germanen gegenüber
für Riesen zu halten.
Rangzeichen der Riesen ist natürlich die Größe und die damit ver-
bundene Kraft. (Diese letztere aber fehlt selbstverständlich dem nachgemachten
Lehmriesen Mökkurkalfi, dem Koloß auf tönernen Füßen 2). Freilich ist er
wohl überhaupt ein nachgemachtes Gebilde; übrigens eine lustige Vor-
deutung der »künstlichen Menschen«, der Romantik, z. B. in Immermanns
»Tulifäntchen«.) Ihr allgemeiner Charakter3) ist davon beherrscht. Später hat
die altnordische Systembildung sich gerade auch dieser Lieblingswelt be-
mächtigt und sie genealogisch geordnet4); für die ältere Mythologie be-
deutet das kaum mehr als moderne Klassifikationen auch5).
Die Benennungen gehen durchweg von ihrem charakteristischen Merk-
mal oder unmittelbar abgeleiteten Eigenschaften aus: altnordisch jötun
(ins Lappische als jetanas übernommen, also sehr alte Bezeichnung), alt-
englisch eoten , altsächsisch etan (in Ortsnamen) »Fresser«; davon die
altnordische Riesenwelt jötunheimr ; altnordisch thurs (finnisch tursas),
ein durch die Aufnahme unter die Runennamen in seiner Wichtigkeit an-
erkannter Ausdruck, angelsächsisch thyrs , mittelhochdeutsch tiirse (in
Ortsnamen wie Tursinriut, Tirschenreut, des trefflichen Germanisten
Seh melier Geburtsort) aus thurisas zu sanskrit turas , > stark«6). —
Mittelhochdeutsch ein neuer Name: hiune , neuhochdeutsch »Hüne«
(»Hünengräber«) zu huna, altnordisch hüna, kräftig?7). Deutsch Riese,
althochdeutsch risi , altsächsisch wrtsil , zu sanskrit vrsan , stark.
Bairisch eng, angelsächsisch ent: Präfix in der Bedeutung »ungeheuer«.
Dazu früh das Fremdwort gigant. — Die große Häufigkeit der älteren
Worte in Ortsnamen und Eigennamen (Turisind, Hunimund, Hunolt u. a.)
erklärt sich aus der Beliebtheit der Riesensagen.
Die Gestalt ist die eines zur Formlosigkeit ausgewachsenen Menschen,
wie in gewissen (nicht antiken) Herkulesfiguren; besonders werden die
starke Nase8) und der Bart als Kennzeichen der Männlichkeit betont.
1) So Unland im »Mythus von Thor«, Wein hold a.a.O.; vgl. MogkS. 309.
2) Snorra Edda, Gering S. 359—360.
3) Vgl. Golther S. 159, der aber auch die Naturriesen mitnimmt.
A) Golther S. 169.
6) Vgl. Meyer S. 226.
6) Kögel, Anz. f. d. Alt. 18, 49 (in Völkernamen wie Hermunduri,
Thur-ingi).
7) Anders Kluge, Etym. Wb. S. 75; Golther S. 161 Anm. 3; Berneker.
8) Golther S. 163.
§ 13. Riesen und Zwerge. 121
Zuweilen sind sie schön, was von ihren Töchtern Gerd (Skfrn.) und Skadi,
junnlöd (Hävamäl) allgemein gilt; es erklärt sich hier einfach daraus, daß
Mythen über Liebesgeschichten zwischen Göttern und Riesen entstanden *),
md daß für den poetischen Stil des Altertums Liebe Schönheit voraussetzt ;
nythische Hintergründe braucht man dabei nicht zu suchen. Viel häufiger,
and in der Tat ihrem Wesen angemessener, ist aber Mißgestaltung, besonders
Hypertrophie einzelner Körperteile 2) : drei, sechs, neunhundert Köpfe, acht
Hände3).
Eine ganz neue Riesenhypothese hat neuerdings Sc ho n in g4) aufgestellt,
r erklärt sie für — Leichendämonen; worin ihm verwunderlicherweise Mogk
/öllig zustimmt. Schoning geht von dem Namen jötun, Esser aus und vergleicht
Nidhögg5), der doch kein Riese ist, und den Windriesen mit dem problematischen
Namen Hraesvelg% der allerdings Leichenfresser« bedeutet. Überhaupt fällt bei
ihm, wie bei vielen Folkloristen, neben der Energie der mythologischen die
Schwäche der literarischen Kritik auf, mit der er jeden Namen in Grim. und jede
Aussage in Gylf. gläubig annimmt, die Fjölsvinnsmäl 7), ein Gewächs der isländischen
Schreibzeit8), wie eine echte Urkunde verwertet und nur gegen die — Thrymskvida9)
vom Standpunkt seiner Hypothese aus Bedenken hegt. Und wenn er auf die
(längst bekannte) Schilderung des Polarreiches10) hinweist, die unzweifelhaft von
dem Bilde des Totenreiches angefärbt ist (nicht einmal die Goldbrücke fehlt,
über die Hermod reitet!), so scheint es ihm natürlicher, diesen chthonischen
Charakter von der Nähe des Riesenreiches abzuleiten, als von der dort herrschenden
Kälte und Dunkelheit (die er doch selbst11) als Hauptkennzeichen der Unterwelt
anführt!). Und die leichenfressenden indischen jPisäcas12) sind wiederum keine
Riesen usw.
Ließe sich für jene Auffassung der Riesen noch einiges aufführen — zwar
gewiß nicht, daß alle Riesen von vornherein Leichendämonen sind, wogegen der
Typus der ungeheuren Mehrzahl in allen Mythologien spricht, wie auch das un-
entbehrliche und sie wieder fordernde Gegenbild der Zwerge; aber doch, daß
iie ursprünglichen Leichendämonen riesischer Natur sind, d. h. formlos, ungeheuer»
bedrohlich — , so scheint mir der Gipfel der Konsequenzenmacherei erreicht, wenn 13)
mch Loki ein alter Leichendämon sein soll14)! Hierfür bringt Schoning eigent-
lich nur zwei Argumente, denen beiden ich gern zugestehe, daß sie geistreich
J) Vgl. Gen. 6, 2: »Da sahen die Kinder Gottes zu den Töchtern der
Menschen, wie schön sie waren, und nahmen zu Weibern, welche sie wollten«.
2) Golther S. 169.
3) Ebenso die griechischen Hekatoncheiren mit 50 Köpfen und 100 Armen:
Preller 1, 48.
4) Dödsriger i Nordisk Hedentro: Totenreiche im nordischen Heidentum,
Kopenhagen 1903.
5) S. 14. 6) S. 13. 7) S. 29.
8) Heusler, Arch. f. n. Spr. 116, 266.
9) S. 22.
10) Saxo S. 286, Hermann S. 384 f.
n) S. 4.
12) Macdonell S. 164.
18) S. 27 f. 14) S. 29.
j22 Drittes Kapitel.
sind auf den ersten Augenblick sogar blendend — aber auch nicht auf länger
Daserste ist1) die Anrede des Wächters an Skirnir2): «Bist du zum Sterben be
stimmt, oder ein zurückkehrendes Gespenst?« Schoning meint, dies beweise
daß Skirnir in das Totenreich eindringen will, in das nur Tote gehören. (Dem
die Waberlohe S. 23 beweist nichts, da nirgends geschrieben steht, daß eim
solche gerade nur die Unterwelt umgebe ; es ist ja auch davon weder Vaf. Str. |
noch Helr. die Rede, vgl. u.) Aber nun versetze man sich in die Situation
der Wächter sieht einen Reiter kommen — und soll in ihm einen Gast der He
vermuten? Ja, wenn es noch zu Valhöll ginge! Ferner: wie soll man sich das
vorstellen, daß der Dichter der Skirn, der sonst Gymirs Reich gewiß nicht meh
als Totenreich ansieht — wie wäre sonst der Fluch Str. 26 f. möglich! — um
der »die alte Riesin« und Teufelsgroßmutter3) zu Gerd verjüngt hat, gleichzeiti
durch diese Worte sich noch der alten Bedeutung des Riesenreiches bewußt zeigt
Wir werden also wohl dabei bleiben müssen, mit Heinzel und Detter4) zi
übersetzen: »Du hast wohl kein Leben mehr zu verlieren?«, wozu allein dam
auch Skirnirs Antwort paßt. — Nicht minder ist5) das Wettessen bei Utgardaloki6
aus dem Zusammenhang gerissen. Loki verzehrt alles Fleisch bis auf die Knochen
Logi aber hat auch -noch die Knochen verschlungen. Ich kann es Schoning nach
fühlen, daß er das gesperrt druckt und7) noch zweimal als Haupttrumpf aus-
spielt. Aber man darf doch diese Kraftprobe nicht von den beiden anderer
isolieren ! Es sind drei Wetten auf Schnelligkeit im Essen, Laufen, Trinken. Also
nicht daß Loki die Knochen übrig läßt, sondern daß er sie noch nicht gegesser
hat, macht den Unterschied. Drei mythologische Persönlichkeiten werden dre
Abstraktionen gegenübergestellt: dem Feuer, dem Gedanken (schneller als dei
Blitz; vgl. Lessings Vorspiel zum »Faust«), dem Alter. Thor ist durch Appetil
und Stärke berühmt, und ursprünglich wird wohl auch er gegessen haben; da
bleiben seinen Begleitern die typischen Tätigkeiten des Dieners: dem guten die
Geschwindigkeit, dem bösen die Freßlust. In Ribbecks Lehre von den komischen
Typen gehört das eher als in die eigentliche Mythologie.
Wenn also Schoning8) noch einmal versichert, die Riesen seien Leichen'
dämonen, und alle »»Doppelnatur« Lokis erkläre sich9) ebenfalls aus diesem Ur
sprung, so vermögen wir dieser so wenig wie in seinen Datierungen zu folgen
wenn Angrboda10) alt sein soll, die neun Töchter der Ran aber (die durch den
«Heimdallszauber« gestützt scheinen) jung11) und wenn Idun12) als echte alte
Gestalt behandelt wird; oder wie in seinen psychologischen Motivierungen, die
den Ursprung von Valhöll13) in eine Auflehnung des Wikingerstolzes gegen di
Herrschaft eines Weibes, der Hei, setzt — um sie dafür dann die submarine
Unterwelt mit Ran als Herrscherin14) wählen zu lassen.
Wir werden also weder die Riesen unter die Dämonen noch Loki (der als
»Schließer« einfach »»der Tod« sein soll, wieder eine geistreich - anachronistische
Deutung)15) unter die Riesen aufnehmen dürfen.
J) S. 22 f. 2) Skern. Str. 12. 3) S. 39.
4) Zur Stelle, nach Lüning.
5) S. 39.
6) Gylf. c. 46, Gering S. 338.
7) S. 33, S. 40 f. gegen Bugge, Olrik, Kock.
8) S. 48. 9) S. 32. io) S. 39.
») S. 45. 12) S. 52. 13) S. 43.
14) S. 44. i5j S. 31.
§ 13. Zwerge und Riesen. 123
Wie bei den Elfen lassen sich zwei Typen unterscheiden, die aber
nicht, wie bei diesen, zu mythologischen Sondergruppen geworden sind:
Da ist einerseits der weise (oder schlaue) Riese, mit eddischen
Epithetis hundviss, fjölkunnigr, Vafthrudnir heißt alviss »allkundig« ;
hierher gehören auch die kunstfertigen Riesinnen Fenja und Menja. Da
man ihnen hohes Alter zuschreibt (denn sie stammen aus den fernsten
Perioden, wie hohe Bäume) *), wissen sie viel. — Auf der andern Seite steht
der törichte Riese, in dem allein die plumpe Masse zum Ausdruck kommt:
Hymir (vgl. den altdeutschen Tu mbo); sein Erbe ist der »dumme Teufel«.
Man darf dies nicht schlechtweg2) für eine jüngere Auffassung halten.
Durchweg haben sie in ihrem Wesen etwas Altmodisches, das auch
in Kleidung und Waffen3) hervortritt; dieser Typus wird konzentriert in
dem (ursprünglich achthändigen Riesen) Starkad (s. u.). Ihre Formlosig-
keit zeigt sich auch psychologisch: Neigung zu überschäumender Wut,
zu toller Heiterkeit4). Sie tragen bezeichnende Eigennamen (etwa wie
die Teufel der Fastnachtsspiele5); so Schwarzkopf, der Zottige, Eisen-
schädel u. dgl. m. 6). Sie leben7) auf einzelnen Höfen; aber das Riesen-
land (König Rother v. 767) ist doch wohl das älteste »Heim«, die älteste
Vorstellung eines geschlossenen, von einer bestimmten Kategorie von
Wesen bewohnten Gebietes außerhalb der Welt. Denn unter anderen
Wesen könnten die Riesen nicht lange existieren.
Bei Frauen erscheinen die unsympathischen Eigenschaften der Riesen
besonders mißfällig; daher sind (zwar nicht die Töchter der Riesen 8), aber
sonst) die Riesinnen schlimme hexenartige Ungeheuer (flagd, skessa
altnordisch 9).
*) Golther S. 170.
2) Mit Golther S. 164.
3) Golther S. 163; vgl. S. 171.
4) Vgl. Golther S. 163*.
5) Vgl. Weinhold in Gosches Arch. f. Lit.-Gesch. 1, 1; W. Arndt, Die
Personennamen in den deutschen Schauspielen des Mittelalters, Marburg 1904.
6) Golther S. 163.
7) Wie die Zyklopen: Prell er 1, 622.
8) Siehe o. S. 121.
9) Golther S. 168, Meyer S. 228. Aufs Genaueste entsprechen in den
Grundzügen die griechischen Riesen. Auch sie sind formlose Überreste der
frühesten Menschenbildung, gleichsam Entwürfe zum Menschen, bei Homer »ein
wildes und riesiges, gewaltige Felsblöcke schleuderndes Urvolk« (Prell erl, 66;
vgl. 621). Die mißgestalteten Zyklopen sind »übermütig, gewaltsam, riesig,
fürchten nichts, selbst Zeus und die Götter nicht« (S. 622); Söhne der Erde
(S. 635). Man sollte deshalb auch sie nicht (mit P r e 1 1 e r 1 , 49) durchweg als
Naturgeister erklären. Solche riesischen Geister, z. B. von Strömen (e b d. S. 475)
fehlen auch hier nicht; übrigens auch hier nicht (S. 77) die euhemeristische
Deutung auf ein Riesenvolk (die Kelten).
124 Drittes Kapitel.
An diese Gestalten schließt sich eine reiche Sagenbildung, die
durchweg an ihre Stärke anknüpft. Sie treten in den Dienst der Menschen,
was nicht sowohl in tiefsinniger Symbolik den Sieg des Menschen über
die ungebändigten Naturgewalten ausdrückt, als vielmehr ein märchen-
haftes Spiel mit der Vorstellung grenzenlos gesteigerter Kraft. Sie sind
die primitiven Maschinen, die freilich noch nicht nach Pferdekraft, sondern
nach Menschenkraft berechnet wurden. Besonders wünscht man sie sich
als Hilfe beim Heben schwerer Lasten und realisiert diese Vorstellung in
den beliebten Legenden von Riesenbaumeistern, den Schöpfern der alten
Riesenmauern l). Phantastische Bergformen wie in der Sächsischen Schweiz,
besonders aber große Brücken gelten als ihr Werk. Um den Lohn werden
sie meist betrogen, wie schon Odin die Riesentochter betrügt; auch hierin
beerbt sie der Teufel.
Diese Mythen vom Riesenbaumeister2) haben noch vielfach alter-
tümliches Gepräge; auch paßt das Zusammenfügen ungeheurer Stein-
massen so gut zu dem Wesen der Riesen wie zierliche Handarbeit zu
dem der Zwerge. Auch daß sie in den Dienst der Menschen treten (be-
sonders in Tiroler Sagen)3), erscheint echt und wird durch die Analogie
von Herakles' Diensten bei Eurystheus gestützt. Sicher mythisch sind
vollends (wie die hellenische Gigantomachie) die Erzählungen von ihren
Kämpfen mit den Göttern, besonders dem Vertreter des riesischen Wesens
unten den Äsen: Thor; so kämpft Thjäzi mit Loki gegen die Äsen; so
hat Thor den Hymir zu bezwingen. (Doch steht Thjäzi schon selbst der
Götternatur nahe4). — Die Verwandlungsfähigkeit 5) endlich teilen sie
mit allen dämonischen Wesen, üben sie aber seltener, da ihnen für
gewöhnlich die Kraft genügt.
Später aber sind mit der märchenhaften Logik der primitiven Fabulier-
kunst allerlei Hyperbeln aus ihren Grundeigenschaften herausgezogen
worden. So in Bezug auf ihre Größe: die anmutige Sage vom Riesen-
spielzeug (Chamissos Burg Niedeck); auf die Härte ihres Körpers: er
empfindet Mühlsteine als Sandkörner6); auf ihre Wut: »wenn die Riesen
im Zorne entbrennen, so schleudern sie Felsen, reiben Flammen aus Steinen,
drücken Wasser aus Steinen, entwurzeln Bäume«7); ihren Appetit8), wie
ihn Herakles und der indische Pushan ebenfalls entwickeln; ihre innere
1) Golther S. 165; enta geweorc Beow. v. 2718: »zyklopische Mauern«.
2) Golther S. 166 Anm., Meyer S. 234.
3) Meyer S. 228, Golther S. 168.
4) Mogk S. 312.
») Mogk S. 310, Meyer S. 229, Golther S. 169; Thjäzi als Adler.
6) Golther S. 167.
7) Golther S. 163.
8) Daher der Name jötun ; vgl. Meyer S. 230.
§ 13. Zwerge und Riesen. 125
Härte: das steinerne Herz. (Daneben dauert freilich die Vorstellung von
ihrer Gutmütigkeit x) und Treue 2) fort.) Die Verkörperung aller dieser
Hyperbeln ist der groteske Riese Hymir, ein Holofernes, halb von Hebbel
und halb von Nestroy gezeichnet. — Solche Folgerungen ergeben sich
für die anschauende Phantasie des Volkes so notwendig wie für Swifts
Gulliver oder Voltaires Micromegas; mit der eigentlichen Mythologie
aber haben solche Fortbildungen kaum mehr zu tun als Goethes »Faust«
oder »Pandora« : sie sind nur Zeugnisse für die Auffassung der Charaktere.
Ein Riesenkult8) ist nur für die riesischen Naturgeister 4) bezeugt;
wo Riesen angerufen werden, geschieht es wegen ihrer sonstigen
Qualitäten5). Tumbo, der in einem altdeutschen Segen6) angerufen wird,
ist wohl nur eine Verkörperung des in das Innere der Hand (wie sich
ein Kind in die Vaterarme verkriecht) hineingesteckten Daumens, den man
so lange hält, bis er abstirbt (»einschläft«)7). —
Zu den Riesen gehören außerdem auch die Riesentiere, soweit
sie nicht Verwandlungsprodukte sind: der Fenriswolf, die Midgard-
schlange und andere apokalyptische Ungetüme, die denn (Hymiskvida)
mit den Riesen auch sonst in Verbindung stehen.
2. Zwerge8).
Hier geht die Formlosigkeit nach der anderen Richtung: als hätte der
Stoff nicht gereicht, um ganze Menschen zu bilden. — Wie nahe sie den
Elfen stehen9), wurde schon betont. Aber sie sind der Menschennatur
am stärksten genähert und haben von allen Dämonen am wenigsten
animistischen Charakter.
Wir sprechen also hier wieder nur von den »reinen Zwergen«, nicht
von Hausgeistern oder Elfen in Zwergenformat. — Ihre Gestalt ist natür-
lich klein, oft von Daumengröße (»Däumling«); meist werden sie als
weißbärtige Greise (mit flechtenartig hängendem Bart), grau, dickköpfig
(nach Art der Embryonen?) gedacht10). Jünger ist die Anschauung von
schönen Zwergen, so in dem mittelhochdeutschen Laurin.
x) Golther S. 167.
2) Ebd. S. 169.
3) Golther S. 190.
4) Siehe oben S. 119.
5) Vgl. Meyer S. 247.
6) MSD. IV 6; vgl. Golther S. 191.
7) Anders Helm, Hessische Blätter f. Volkskunde, 8, 133. — Über die Be-
deutung der Riesenmythologie allgemein Meyer S. 247.
8) Mogk S. 289, Meyer S. 62f., 173f., Golther S. 134 f., Chantepie
S. 318 f.
9) Zu denen Meyer sie rechnet; vgl. Golther S. 135.
10) Meyer S. 173.
125 Drittes Kapitel.
Gemeingermanischer Name althochdeutsch twerg , mittelhochdeutsch
getwerg, angelsächsisch dweorh, altnordisch dvergre zu drug, trügen?
Vielleicht auch »der Verschobene, Zusammengedrückte«,
Sie wohnen, ihrer Figur entsprechend, der Erde nahe, in kleineren
Bergen, auch gern unter der Erde (daher auch Bergbaugeister, s. o.);
hiervon heißen sie Bergmännlein, Erdleute usw. Altnordisch heißt das
Echo »Sprache der Zwerge«, weil es aus der Bergwand wiedertönt.
Rangzeichen ist neben der Kleinheit die Kunstfertigkeit und Ge-
wandheit (schon in der Sprache verwandte Begriffe: neuhochdeutsch Mein,
englisch clean). Dazu gehört auch die besonders entwickelte Kunst, sich
unsichtbar zu machen, der die Tarnkappe dient — wohl kein Zauber-
nebel l) , sondern eben ein zauberkräftiges Attribut wie die Schwanen-
hemden der Schwanen Jungfrauen 2). Wer diese Mütze faßt, macht sie sichtbar
und kann sich ihrer bemächtigen3). Zuweilen tragen sie als zweites
äußeres Rangzeichen einen Kraftgürtel4), in dem die Stärke deponiert ist,
für welche ihr schmächtiger Körper keinen Raum bietet.
Sie treten im Gegensatz zu den Riesen gern in Massen auf und haben
wie die Elfen organisierte Staaten mit Königen (Nibelunc und Schilbunc
im Nibelungenlied). Ihr unsichtbares Reich ist eine große Schatzkammer
voll von Prunkstücken, besonders aus Gold — alles was unter der Erde
wächst, gehört ihnen. An das Dunkel gewöhnt, sind sie oft (wie
Matthissons Elfen) lichtscheu; ja man kann sie durch den Schein der
Sonne erstarren lassen (Alvfssmäl). Die Klassifikation der Alvissmäl kenn-
zeichnet sie dadurch: der Mond ist (wie es im Räuberlied Schillers
heißt) ihre Sonne5), die Sonne ihr »Verdruß«6).
Auch sie lieben, wenigstens vielfach, die Gemeinschaft der Menschen
und verkehren mit diesen in der Art der Hausgeister. Doch gehen aus
diesem Verkehr auch Wechselbälge hervor: alt aussehende Kinder, Miß-
geburten; oder sie entführen Menschenkinder. Sollte hier an die klein-
gewachsenen Finnen als »Zigeuner« der altgermanischen Zeit zu denken
sein7)? Umgekehrt helfen die Menschen der zwergischen Kindbetterin 8).
Wieder heftet sich ein Kranz von Sagen an diese Gestalten. Jung
ist schon der eddische Mythus vom Ursprung der Zwerge: sie seien
Maden in Ymis Fleisch gewesen 9). Auch der lange Zwergkatalog 10) zeugt
*) Golther S. 135.
2) Vgl. den Helm des Aidoneus, der den Perseus unsichtbar macht.
3) Meyer S. 173.
4) Ebd.; Oolther S. 153.
5) Alv. Str. 15. 6) Alv. Str. 17.
7) Vgl. Meyer S. 181.
8) Ebd.
9) Golther S. 140, Mogk S. 292.
10) dvergatal: Vol. Str. 10 f.
§ 14. Zaubermenschen. 127
von der Beliebtheit dieser Geisterchen; wie bei den Riesen fehlen auch
hier nicht scherzhaft charakterisierende Namen wie »Erzdieb« und »Hügel-
dieb«. — Dann blühen die Zwergsagen besonders in den Alpenländern
und dem mitteldeutschen Bergbaubezirk1). Den riesischen Baumeister-
sagen entsprechen zwergische »Schmiedesagen«2), die schon bei den
indischen Ribhus Analogien haben. — Ein anderes Hauptmotiv ist der
Kampf zwischen Menschen (oder Göttern) und Zwergen um Schätze (Regins-
mäl) und weiterhin ihre Verdrängung durch die Menschen 3). Gern wird
der geschmückte Saal ihres unterirdischen Hauses geschildert4), ihre Feste,
ihre Schätze. Sie erhalten gern einen leicht komischen Zug5); man könnte
noch eher tragikomisch sagen, besonders wenn man ihre Welt mit der
elegischen der Wassergeister, der grotesk-komischen der Hausgeister und
Riesen, der erotisch-sentimentalen der Elfen vergleicht.
§ 14. Zaubenuen sehen.
All diese Klassen von »Dämonen« sind menschenähnlich, aber doch
von den Menschen unterschieden. Von Geburt (und Tod) ist höchstens
bei der menschennächsten Kategorie, den Zwergen, die Rede ; die anderen
sind immer dagewesen und bleiben unsterblich. Vor allem aber sind sie
alle von vornherein kraft ihres Wesens selbst im Besitz übermenschlicher
Kräfte und Eigenschaften.
Diese übermenschlichen Kräfte und Eigenschaften kann nun aber
unter Umständen auch der Mensch erlangen. Ich schlage für die sehr
verschiedenen Kategorien solcher Menschen die Gesamtbenennung »Zauber-
mensch en« vor (die »Zauberer« sind nur eine einzelne Gruppe, wenn
auch bei weitem die wichtigste). Sie setzen sich — für immer oder auf
teit — in den Besitz dämonischer Eigenschaften; ein solcher Mensch
tonn weise wie ein Gott werden oder stark wie ein Riese oder ver-
wandlungsfähig wie ein Elf; kann dem Wetter, dem Wasser oder Feuer
wie ein Elementargeist gebieten6).
Durch irgend eine Handlung wird der Mensch in eine höhere
Kategorie übergeleitet, so daß er gleichsam ein »relativer Dämon« wird;
gerade so, wie durch Wunder Tiere der menschlichen Sprache teilhaftig
werden. Es gibt dabei mancherlei Formen; wir ordnen nach der Aus-
dehnung des dämonischen Vermögens.
1) Meyer S. 173.
2) Meyer S. 175 f.
3) Ebd.
4) Golther S. 136.
R) Wie die Pygmäen: Prell er 2, 219.
6) Vgl. Ztschr. f. d. Phil. 31, 317f.
123 Drittes Kapitel.
Es
1. Zu den Traumgeistern stehen in naher Beziehung die Menschen, di
andere mit Alpdruck plagen können *); man könnte sie Alpreiter nenner
Es ist eine angeborene Fähigkeit, für deren Ausübung aber der Mensel
verantwortlich bleibt.
2. Prädestiniert ist man ganz entsprechend zum Werwolf: de
siebente Sohn wird Werwolf, wie die siebente Tochter Mahrt2). Dies abe
ist eine viel wichtigere Form3). Es ist eine schon indogermanische Vor
Stellung, wie die Übereinstimmung von Xvxdv&QtüTiog mit werwol
(= Mannwolf) beweist; dem entspricht genau der indische Tigermensch 4
Das Wort ist ein sogenanntes Dvandva-Kompositum und bezeichnet eil
Wesen, das zugleich Mensch und Wolf ist. Die Vorstellung gehört auc
den Kelten an5), fehlt aber bei den asiatischen Indogermanen 6) ; dagegei
trifft man sie nicht selten auch auf nichtindogermanischem Boden7).
Die Grundvorstellung ist die der Ekstase8): die Seele fährt au
dem Körper und macht der eines wilden Tieres Platz. Die psychologisch
Erfahrung von unerklärlichen Wutanfällen und anderen animalischei
Momenten bei sonst friedlichen Menschen9), die wir heute mit den
»Doppel-Ich« erklären (und die z. B. der englische Romanschriftstelle
Stevenson in der fesselnden Erzählung Mr. Hyde and Mr. Jekyll schildert)
wird von der primitiven Psychologie unter dem Gesichtspunkt der Ver
Wandlungsfähigkeit angesehen. Eine ganz ähnliche Form ist die de
Berserker10), die aber die Menschengestalt bewahren.
Mitwirkend mag die Erfahrung wirklicher Verwilderung u) hinzulj
zuziehen sein; besonders bei Verbannten, die sprichwörtlich als »Wölfe
(vargr i vdum) bezeichnet werden, wenn sie »in den Busch gehen« wie di
sizilianischen Banditen oder die korsischen Männer der Vendetta (Sinfjötlalok)
Schließlich kommen noch Wahnsinnsanfälle hinzu 12) Rationalistisch schein
*) Meyer S. 139, vgl. o. S. 112f.
2) Meyer S. 139.
3) W. Hertz, Der Werwolf, 1862; Meyer S. 83f.; Mogk S. 272f.; Golthe
S. 101 f.; Carl Meyer, Aberglaube des Mittelalters, S. 286 f.; Andree, Ethno
graph. Parallelen 1, 62 f.
4) Macdonell S. 153.
B) Vgl. Meyer S. 86.
6) Ebd.
7) Andree, Ethnograph. Parallelen; 1, 92 f.
8) Siehe o. S. 78.
9) Bekannt vor allem das Amoklaufen der Malaien; vgl. K. Fr. v. Kl öden!
Jugenderinnerungen, Leipzig 1874, S. 27.
10) Siehe u.
n) Raub er, Homo sapiens ferus.
lt) Der Troubadour Peire Vidal lief in die Wälder und heulte dort wie ein
Wolf; der rasende Roland; man denke auch an die Nebukadnezarfabel.
§ 14. Zaubermenschen. 129
die Deutung aus Maske und Wolfspelz1). Dagegen könnten Atavismen
aus kannibalischen Perioden im Blut nachwirken2).
Die Gestalt hat ein grausiges Interesse bis auf unsere Tage hin3).
Es ist der Zwang zum Übeltun, die »Wut zur Wut«, was hier als
beunruhigendes Rätsel in die Erscheinung tritt. Wir haben hier durchaus
das, was wir noch heute »das Dämonische« nennen4).
Der Werwolf ist also ein Mensch, den in bestimmten Zeiten die Wut
packt. Es geschieht immer nur bei eintretender Dunkelheit, zuweilen auch
nur in den Zwölfnächten, zumal wenn auch sein Geburtstag in diese Zeit
fällt. Wenn es ihn packt, muß er Blut haben. Manchmal lebt er auch
sieben oder neun Jahre als Wolf (vgl. das Märchen vom Bärenhäuter),
wird aber geheilt, wenn er neun Jahre lang kein Menschenfleisch nahm 5).
Der Werwolf wird wie die Hexe für seine Untaten verantwortlich ge-
macht. Noch im 16. — 17. Jah rhu ndert begegnen uns Werwolf sprozesse; 1589
wurde Peter Stube, der Werwolf von Epprath, in Köln hingerichtet, weil er
bekannte, in Wolfsgestalt 13 Kinder zerrissen und ihr Gehirn aus dem Kopf
gefressen zu haben; 1610 ebenso in Lüttich zwei Werwolf e6). — Der
Aberglaube besteht noch heute besonders in Nord- und Ostdeutschland 7),
ebenso in England8). Eine Abart ist der vampyrartig auftretende west-
fälische » Boxen wolf», der Begegnenden aufhockt und ihr Gesicht zer-
fleischt9).
Der Obergang in den Tierzustand wird durch Zaubermittel bewirkt,
besonders durch den »Wolfsgürtel«; dieser Zauber macht sie dann auch
»gefroren«, d. h. für gewöhnliche Waffen unverletzlich10).
Schutz vor Werwölfen gewährt die Anrufung mit dem Taufnamen
?vgl. die Vertreibung des Alps durch den Schrei); ein Wurf mit Stahl
?der Eisen ; eine Verwundung, an der der nicht verwandelte Mensch dann
später wieder zu erkennen ist n).
An diese periodisch zu niederer Stufe herabsinkenden Werwölfe kann
man diejenigen Menschen anschließen, die periodisch zum ragr, zum
Weibmenschen, zu werden verdammt sind, wie jener Refr, der jede neunte
*) Vgl. Wundt 1, 379.
2) Vgl. Andree, Die Anthropophagie, S. 1885.
3) Prosper Merimee, Lokis; vgl. Filon, Merimee, Paris 1898; S. 148.
4) Zola, la bete humaine.
6) Meyer S. 85.
6) Vgl. Andree a. a. O. über moderne Fälle von Anthropophagie.
T) Wuttke S. 259f.
8) Mogk S. 272.
9) Meyer S. 86, Mogk S. 272.
10) Mogk S. 272.
") Meyer S. 85.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 9
130 Drittes Kapitel.
Nacht zum Weibe wurde1). Doch ist dies wohl nur eine Formel für ein
Laster, dem der Unglückliche immer wieder unterliegt; man denke an
»Quartalssäufer« wie den armen Fritz Reuter!
Verzauberung von Menschen in Tiergestalt durch Götter oder Zauberer,
in anderen Mythologien häufig, kommt in der germanischen Mythologie
nie vor. —
Die Berserker2) stehen den Werwölfen, wie schon erwähnt, sehr
nahe; die Weiber der Berserker3) werden »Wölfinnen« genannt4). Sie
sind aber eine spezifisch germanische Erscheinung, gleichsam eine Ver
körperung des furor teutonicus. Allerdings begegnet der plötzliche Zu
stand wilder Wut, den wir nach seiner klassischen Vertretung bei den!
Malayen »Amoklaufen« nennen, auch sonst bei primitiven Völkern und
Menschen 5). Das Eigenartige bei den Berserkern aber ist, daß diese Wut-
anfälle in den Dienst des Krieges gestellt werden6).
Die Berserker »sind Menschen, stärker und wilder als andere, did
in Berserkerwut geraten und über die Menschen wie wilde Tiere her-|
fallen. Dann sind sie unwiderstehlich, sie scheuen weder Eisen noch
Feuer» 7). Sie beißen in der Wut in die Schilde und gebärden sicrJ
wie Wahnsinnige. Nachher sind sie machtlos und erschöpft, wie did
Hexen nach dem Ritt. — Die »Berserker«, d. h. »Bärengewandskerle«]
werden ursprünglich wohl wirklich als Bärenmenschen, den WerJ
wölfen entsprechend, gedacht worden sein; sie heißen auch gelegentlich!
ülfhednar, »Wolfsgewandige« 8). Später wird ein ekstatischer Krampf -
zustand nach dem Muster solcher fabelhafter Zaubermenschen systej
matisch erzielt worden sein. Könige halten sich eine Garde von
solchen Bärenmützen; berühmt sind die zwölf Berserker Hrolf Krakis
die des Harald Schönhaar (um 900). Wiederum ist an Starkad9) zu er-l
innnern.
Die Sage lebt in Norwegen fort, sogar häufiger als die von deii
Wolfsverwandlung. Beides ist, wie man sieht, nicht ganz gleichartig: das
Werwolfstum ist eine Krankheit, ein Fluch, das Berserkertum eine zweck-
dienliche Begabung. Auch unterscheidet sie, daß die Werwölfe nur ver
*) Vgl. u., auch Lok. Str. 23. 33.
2) Mogk S. 273, Golther S. 102, Meyer S. 86f., 227.
8) Härb. Str. 37.
*) Ebd. 39.
ß) Vgl. o. S. 128; Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1897 S. 342 f.
6) Schilderung bei Saxo S. 222, 223, H ermann S. 295, 297, vgl. Olrik
Danmarks Heltedigtning S. 201 f.
7) Mogk a. a. O.
8) Golther S. 103.
9) Siehe o. S. 123, auch Lok. Str. 23. 33.
§ 14. Zaubermenschen. 131
einzelt (oder höchstens paarweise wie Sigmund und Sinfjötli), die Berserker
in geschlossenen Gruppen auftreten x). Werwolf und Berserker scheinen
immer männlich zu sein2). —
Gestaltentauscher kann man die Menschen nennen, die frei-
willig Tiergestalten annehmen können wie die Werwölfe unter dem Fluch ;
sie sind nach nordischem Ausdruck eigi einhamir, nicht eingestaltig, und
fähig at skipta hömum, die Gestalten zu tauschen, at hamask, die Hülle
zu wechseln usw.3). So sitzt der Jarl Fränmar4) in Adlergestalt verwandelt
auf einem Haus, um die Frauen durch Zaubermacht zu schützen.
Der viel umstrittene B i 1 w i s 5) kann ebenfalls ein Zaubermensch sein,
ein »männliches Gegenstück der Hexe«. Er reitet zu gegebenen Zeiten,
namentlich in der Nacht vor Walpurgis oder (wie die Hexen) vor Johannis-
abend auf einem Bock durch die Saat, die er mit einer Sichel am Fuß
zerschneidet. Das Dämonische besteht in der Unfaßbarkeit und dem selt-
samen Reittier. — Schutzmittel: Knabenkleider am »Pilbisbaum« aufhängen6),
was wohl eine Art Vogelscheuche vorstellt7). —
Hexen8). Althochdeutsch hagasussa, mittelniederländisch haghe-
tisse (zu hag Wald)9) bedeutet ursprünglich »Gauklerin«10). Daneben
kommt von anderen Terminis besonders unholda, »Feindin«, in Betracht11);
altnordisch tünridur, althochdeutsch sunriten, Zaunreiterinnen, weil sie
auf dem Pfahl reiten ; lateinisch zumeist striga.
x) Aus anderen Mythologien sind am ersten ^die Mänaden (Preller 1, 694) in
ihren orgiastischen Exzessen vergleichbar: sie zerreißen lebende Tiere, überfallen
auch Menschen. Doch sind diese Erregungen an bestimmte Feste gebunden
(Schwally, Semitische Kriegsaltertümer, Leipzig 1901, 1, 101 vergleicht Simson,
auch Tydeus und Polyneikes. — Die pathologischen Wutanfälle irischer Helden
und ihrer nordischen Schüler wie Egill (vgl. Olrik, Nordisches Geistesleben,
S. 81, 139) stellen einen Berserkerzustand dar, der aber keine allgemeine Eigenart
der betreffenden Persönlichkeiten ausmacht.
2) Doch vgl. die zitierte Stelle aus dem Härbardslied und Lex salica, Tit. 64
(bei Franck, Geschichte des Wortes Hexe S. 16): »si stria hominem come-
derit«, dagegen aber Kap. 376 (ebd. S. 17): »quod christianis mentibus nullatenus
credendum est, nee possibile ut mulier hominem vivum intrinsecus possit
comedere.« (Andere Parallelstellene ebd.)
3) Golther S. 100.
4) zu Helg. Hjorv. Str. 5.
ö) Siehe o. S. 111, Meyer S. 164, Golther S. 158, Mogk S. 273.
6) Meyer a. a. O.
7) Eine römische Gottheit, die der Saat feindlich ist: Lua Mater (Wissowa
S. 171).
8) Mogk S. 274, 278, Golther S. 116, Meyer S. 133.
9) Nach Kluge, Etym. Wb., S. 167.
10) Nach Francks (auch inhaltlich wichtiger) Geschichte des Wortes Hexe,
Bonn 1900.
X1) Kauffmann, PBB. 18, 151; Franck S. 14.
9*
132 Drittes Kapitel.
Die christliche Vorstellung ist von der heidnischen zu scheiden. Aber
Hexen im spezifischen Sinne, d. h. Menschen mit dem Vermögen zu
hexen, sind schon im 6. Jahrhundert bezeugt1). — Die Hexe der alten
Anschauung ist ein Weib, das nach eigenem Willen sich den weib-
lichen Dämonen (Unholden) anschließt2), mit ihnen den Scharen des
wilden Heeres sich zugesellt. Aus dieser Gemeinschaft kommen
zunächst ihre bösen Kräfte: die Hexen machen Wetter, weil sie nun
— zeitweilig — zu den Wettergeistern gehören ; sie verderben die Milch,
weil die Gewittergeister sie gerinnen machen; sie bringen Krankheit, wie
die Dämonen den » Hexenschuß « verursachen. Auch die Fähigkeit,
sich in Nachttiere (Katzen, Kröten, Eidechsen, Eulen, doch auch
Hunde und andere Seelentiere) zu verwandeln3), haben sie von den
Elementargeistern (daher isländisch hamhleypa , die in anderer Gestalt
Laufende) 4).
Erst später kommt statt der Aufnahme in das wilde Heer der Pakt
mit dem Teufel und das widerlich pervers-erotische (»satanische«) Element
in die Hexen Vorstellung.
Die Hexe ist wie der Alpreiter vorbestimmt: zusammengewachsene
Brauen, rote Triefaugen, watschelnder Gang sind Indizien5). Aber dazu
muß sie doch eigenen Willen fügen, muß von alten Hexen lernen und
sich salben lassen. Die Salbung ist eine Parodie der feierlichen Salbung
von Priestern, Königen, Sterbenden: eine »schwarze Messe«. — Dann
fährt sie in die Hexenkraft und kann nun (wie die Walküre) durch die
Luft reiten. Dies ist an die Nacht und zumeist noch an bestimmte Nächte
(Walpurgis) gebunden. Diese Feste sind für den Massencharakter der Hexe
besonders charakteristisch; sie wählen dazu Berge, die ursprünglich wohl
vom Wütenden Heer umtobte Totenberge sind (Brocken als Blocksberg)6). -
Sonst ist die Hexe der Mahrt ganz ähnlich 7).
Wie furchtbar sich der Hexenglaube entwickelt hat8), ist weltbekannt.
Für die mittelalterliche Hexe ist dann — außer den teuflischen Zere-
monien — bezeichnend, daß sie durch Zauber sich Dinge dienstbar
machen kann: sie melken Mich aus Brettern, reiten auf Besen, doch
auch (wie die Zwerge und der Bilwis) auf Böcken. Aber nur das Reiten
auf Holzpfählen ist ursprünglich. Doch schon das isolierte Auftreten
J) Franck S. 18.
2) Vgl. Golther S. 656.
3) Mogk S. 276, Wuttke S. 155, 173, 217.
4) Golther, Mythus u. Rel. d. Germ. S. 16.
5) Mogk S. 277; nach späten Zeugnissen.
6) Vgl. Mogk S. 277 f.
7) Meyer S. 133, Golther S. 117..
8) Vgl. z. B. Meyer S. 30 f., 63 f.; J. Hansen, Zauberwahn, Inquisition
und Hexenprozesse, Bonn 1901.
§ 14. Zaubermenschen. 133
der christlichen Hexe widerspricht ihrem ursprünglichen Charakter. —
Schutz vor dem Behexen gewähren Zauberrunen *).
Zauberer2). Das Wort und der Begriff sind in neuerer Zeit etwas
mißbraucht worden; namentlich der um die Aufklärung mexikanischer Riten
verdiente G. Th. Preuß neigt dazu, alle ursprüngliche Religion, ja fast alle ur-
sprüngliche Tätigkeit unter die Rubrik »Zauberei« zu fassen, und W. Wundt
ist ihm darin in bedenklichem Maße gefolgt. Ich habe meinen Wider-
spruch gegen diese mythologische Mode3) ausführlich begründet und darf
mich hier auf die Erklärung beschränken, daß ich Wort und Bedeutung in
dem früher üblichen Umfang gebrauche4). Ich verstehe also unter Zauber
die Mittel, Dinge zu vollbringen, die eigentlich »über unsere Kraft«
hinausgehen, indem man sich einen Anteil an der Kraft höherer Mächte
verschafft.
Hierbei sind zu scheiden : allgemein zugängliche und nur einzelnen
zugängliche Zaubermittel. Wer die ersteren besitzt, steht zeitweilig, wer
die letzteren besitzt, dauernd den »Dämonen« nahe; die Besitzer der
reservierten Zaubermittel, die Zauberer, sind (wie die Hexen) menschliche
Dämonen.
1 . Unter den allgemein zugänglichen Zaubermitteln sind zunächst die
Runen zu nennen. Sie sind jederzeit verwendbar. »Der Besitz der Rune
gibt eine ganz begrenzte, auf einen bestimmten Zweck eingeschränkte
Wunderkraft« 5). Die Rune als das Geheimnis der Dinge, die Seele auch
der Gegenstände gibt dem, der sie kennt, Macht über das Ding oder
die Person. Die wichtigsten Runen dieser Art werden aufgezählt in den
rünatal 6).
Die Runen stehen unter Odins Schutz7), sind aber jetzt, nachdem er
sie fand, allgemein zugänglich, etwa wie das Feuer seit Prometheus. Sie
x) Vgl. Golther S. 119, Häv. Str. 154: Einen zehnten (Spruch) kenn' ich,
wenn Zauberweiber im Fluge durchfahren die Luft.
2) Vgl. Gering, Über Weissagung u. Zauber, Kiel 1902.
3) Arch. f. Rel.-Wissensch. 9, 418; 10, 88 f.
4) Vgl. Zeitschr. f. d. Phil. 31, 319.
5) a. a. O. S. 317.
6) Häv. Str. 145 f. (Sprüche gegen Kummer, Krankheit, Gefahr in der Schlacht,
Brand, Streit an der Tafel — crebrae . . . rixae raro conviciis saepius caede et vulne-
ribus transiguntur, Tac. Germ. c. 22 — , Seesturm, Hexerei; am Ende ein paar
positive Sprüche für Zauber, Patenschaft, Erwerbung von Gunst), Sgdm. Str. 6 f.
(ebenfalls hauptsächlich defensiv gegen Gift, Seesturm, Krankheit; positiv für
Sieg, Entbindung schwangerer Frauen, Beredsamkeit) und Rig. Str. 44 f. (defensiv
gegen Waffen und Seesturm, Feuer und Krankheit; positiv zum Verständnis der
Vögel, d. h. zur Mantik); vgl. auch Gripisspä Str. 17. (Allgemein vgl. meine
Altgermanische Poesie S. 23 f.).
7) Golther S. 340.
134 Drittes Kapitel.
müssen, wie die Hexenkunst, erlernt werden; die Hauptsache ist dabei
ein bestimmtes Runenwort, ohne Zweifel oft identisch mit den als
Runennamen verwandten Worten wie altnordisch fe, Besitz, Tyr Name
des Kriegsgottes. Der Spruch wird dann feierlich »geraunt«1): das ist ein
Carmen, ein feierlich vorgetragener Zauberspruch. (»Beschwören« heißt
ursprünglich »besummen«.)2) Vielleicht unterschied man Runen von ver-
gänglicher und solche von dauernder Kraft8).
Die Rune als Zauberspruch besteht aus zwei Teilen : einem allgemeinen
und einem speziellen, durch dessen Hinzufügung der Zauber erst »perfekt«
wird. Ausführlich ist das in dem Eddagedicht Skirnismäl4) beschrieben:
der Götterbote Skirnir hat einen Zauberzweig, den er mit feierlicher Redej
weiht; dabei schnitzt er in ihn ein Zeichen ein, das sich auf die zu be
zaubernde Gerd bezieht, und wendet damit den Spruch gegen sie. Er!
kann aber den Zauber aufheben, indem er die auf sie bezügliche notä
wieder wegschneidet5). Das eigentlich Zauberkräftige ist dabei die Runej
aber eine Verbindung von Wort und Tat — Spruch und symbolischer
Gebärde — ist allem Zauber unentbehrlich. — Oder der Skalde Egilj
Skallagrimsson errichtet gegen den König Eirik eine »Neidstange« undj
spricht dazu Zauberworte, die den König aus seinem Reich treiben6):!
auch hier sind die Worte, und unter ihnen wieder die Rune mit der An-|
wendung auf Eirik, die Hauptsache, die Neidstange ist nur das Werk-I
zeug der Obermittelung. Oder Thorleif will sich an dem Jarl Häkon
rächen: »er kommt verkleidet in seine Halle und trägt ein Gedicht vor, das
,das Nebellied' genannt wird. Infolgedessen wird es in der Halle dunkel,
die Waffen rühren sich und töten viele Leute, der Jarl wird krank; Bari*
und Haupthaar fallen aus.« Man braucht das gewiß nicht mit Alexander
Bugge7) auf irischen Einfluß zu schieben: es ist runischer Wetterzauberj
So macht Thorgerd Hölgabrud8) Hagel — und eine Rune heißt »Hagel«
so ist der Gebetzauber für Regen besonders altertümlich9). Und die
ägyptischen und hebräischen Zauberer vor Pharao 10) werden es nicht anden
gemacht haben, wenn auch nur der Stab erwähnt wird und weder dei
Spruch noch die symbolische Handlung. Dergleichen ist universaler Aber
glaube, weder bei den Germanen spezifisch noch bei den Iren.
*) Vgl. Golther S. 629; zu griechisch igefw.
2) Kögel, Gesch. d. d. Lit. 1, 81.
8) Vgl. Rig. Str. 44 (anders Heinzel-Detterz. d. St.).
*) Gering Edda S. 52f.
5) Str. 37.
6) Vgl. Olrik, Altnordisches Leben, S. 136; Golther S. 642.
7) Zs. f. d. Alt. 51, 33.
8) Golther S. 485.
9) J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 439f.
10) 2. Mos. Kap. 7.
§ 14. Zaubermenschen. 135
Nur eine Abart des Runenzaubers J) ist der Namenzauber2).
Der Namen ist die individuelle Rune einer Person, er drückt ihr Wesen
aus, was durch die ausnahmslos bedeutungsvollen Eigennamen erleichtert
wird. Jeder Eigenname ist ein Wunsch: der Sohn soll ein Held im
Kampf sein , die Tochter Friedens- und Zauberkraft besitzen ; erst recht
gilt das von denen der Götter: einer soll der »gnädige Herr«, eine andere
»die Spenderin der Fülle« sein. Hier kann also z. B. der Segen oder
die Verwünschung leicht anknüpfen. — Vielleicht hängt auch die Rune
der Namengebung 3) hiermit zusammen4).
Die Rune läßt sich verschenken und rauben5). Ohne ihren Besitz
sind in bestimmten Fällen selbst die Götter ohnmächtig; so versteht nach
dem Merseburger Zauberspruch nur Wodan das Roß zu heilen, weil nur
er die richtigen Worte besitzt.
Schutz vor Runenzauber verleiht allgemein die Benennung mit -run
(oder soll sie Runenkraft verleihen?). Sie wird nur bei Mädchen an-
gewandt, da nur die Frau sanctutn quoddam et providum aliquid
besitzt6): die Tochter Sigrun, Hildrun, Ortrun, Friderun, Runhild schützt
dann wohl das ganze Heim7). Spezieller wirken Gegenrunen, wie wir
solche gegen Hexerei8) treffen9); daher können je nach der Art der An-
wendung Runen schaden oder helfen 10).
Der Runenzauber bedarf aber der Verbindung einer Handlung mit
einem Spruch l *). Dieser kann gesteigert werden zu dem Zauberlied12).
Das Wort, feierlich gesprochen, macht erst das Zeichen lebendig, fügt das
»Wort« zum »Werke« 18). Aber das Zauberlied unterscheidet sich von dem
Runenspruch dadurch, daß der Art des Vortrags, der Melodie mit ihrer
') Vgl. Brand 1, Altengl. Lit. S. 1129 allgemein.
2) Nyrop Navnets magt, Mindre afhandl. udg. af det phil.-hist. samf., Kopen-
hagen 1887, S. 118 f.; vgl. Kahle, Anz. f. d. Alt. 29, 300.
3) Häv. Str. 157.
4) Der Namenzauber ist überall verbreitet, sehr stark z. B. bei den Hebräern :
Zauber mit dem wundertätigen Namen Gottes (auf einen Zettel geschrieben und
in die Gehirnschale gelegt, stattet er einen Menschen aus Lehm mit dem Schein
des Lebens aus: »Golem«); Namenstausch, um den Todesengel zu täuschen usw.
5) Meine Altgermanische Poesie S. 48.
6) Tac. Germ. Kap. 8.
7) Vgl. Golther S. 643.
8) Häv. Str. 154.
9) Vgl. Golther S. 642.
10) Ebenda.
n) Vgl. Brandl, Altengl. Lit., S. 955 f.
12) Vgl. Golther S. 644, Mogk S. 404.
18) Häv. Str. 141, also nicht mit Meyer S. 379 aus Ev. Joh. 1, 1—3 abzu-
leiten. Vgl. Müllenhoff und Liliencron, Zur Runenlehre.
136 Drittes Kapitel.
symbolischen Auf- und Abbewegung eine selbständige zaubermäßige Be-
deutung zugeschrieben wird. Es ist also hier die »Handlung«, das »Werk«
in den Vortrag des Wortes selbst hineingetragen. — Hierfür haben wir
feste Termini: galdr, angelsächsisch gealder, althochdeutsch galster,
scheint mehr das gesungene, althochdeutsch spell, altnordisch spjall1)
das rezitierte Zauberlied zu bedeuten2). — Wenn finnisch runo »Zauber-
lied« heißt3), so setzt dies wohl eine mittlere Form voraus.
Statt mit der Rune (die die Seele des Dinges selbst gibt), kann der
Spruch oder Gesang mit einer symbolischen Handlung verbunden werden,
die die gewünschte Besitzergreifung u. dgl. darstellt. Dies ist dann der
eigentliche Zauberspruch, bei dem nicht mehr das eine Zauberwort,!
auch nicht mehr der zauberkräftige Vortrag, sondern die symbolische, von
den Worten nur verdeutlichte Handlung den Hauptteil des Zaubers aus-
macht4). Der Zauberspruch, die häufigste Form des Redezaubers, kann
die Rune entbehren, weil er sie durch eine symbolische Handlung ersetzt.
In Skirn.5) werden die Runenzeichen »Wollust, Wahnsinn, Wut« eingekerbt]
und gesprochen : das ist Runenzauber. Statt dessen wäre nun eine sym-
bolische Handlung denkbar, die durch Gebärden die Wollust, den Wahn-
sinn, die Wut darstellte und dies durch die begleitenden Worte wiederum
verdeutlichte: das wäre dann Spruchzauber. Einer der ältesten Zauber- 1
Sprüche lautet z. B.: »Bein fügt sich zu Beine, als wenn sie geleimt wären.«
Dabei fügt der Arzt die auseinander gerissenen Glieder in die richtige
Ordnung. Für unsere Anschauung ist das die Hauptsache; aber der
Primitive denkt nicht, daß eine Störung der Ordnung ohne göttliche Hilfe
geheilt werden kann. Er tut also das nur scheinbar, was die Heilgötter j
in Wirklichkeit tun sollen, und verdeutlicht dies durch die Worte, deren \
genau berechnete Anordnung wieder seine Handlung nachbildet. Ich |
wenigstens vermag den »sympathischen Zauber«, der eine so ungeheure;
Ausdehnung — auch noch im heutigen Aberglauben 6) — in allem Zauber-
wesen hat, nur so zu verstehen: es wird den Mächten, die allein das
Gewünschte leisten können, vorgemacht, was sie tun sollen. Ein Bild
des Verhaßten wird durchbohrt — damit sie ihn selbst durchbohren.
Später freilich geht dies Zwischenglied verloren und man meint mit dem
Abbild den Gegenstand selbst zu treffen7).
1) Edw. Schröder, Ztschr. f. d. Alt. 37, 241 f.
2) Ein solches in der Herraudsaga, vgl. M'pgk S. 405.
3) Comparetti, Kalewala, Halle 1892, S. 240 f.
4) Allgemeines über »Sympathetic Magic« z. B. Fräser 1, 8f.
B) Str. 37.
6) Wuttke S. 185 f.
7) Solche Zaubersprüche besitzen wir schon aus indogermanischer Zeit, viel-
leicht gar aus noch früherer, denn sie begegnen zum Teil auch schon bei den
§ 14. Zaubermenschen. 137
Hauptzweck ist das Heilen (d. h. das Rückgängigmachen dämonischer
Verletzungen) und das Schützen (d. h. ihre Verhinderung). Die typische
Form ist die, daß ein epischer Bericht vorangeht, der von früherer glück-
licher Anwendung der Formel erzählt und dadurch den vergangenen
Moment erneuert: hierdurch wird der damals tätige Gott gleichsam herbei-
gezaubert, und nun folgt in seiner Gegenwart die Vornahme der sym-
bolischen Handlung unter Begleitung der symbolischen Worte l). Der epische
Bericht dient also ursprünglich nicht bloß zur Beglaubigung, sondern un-
mittelbar zur Übertragung der göttlichen Wunderkraft auf den Sprecher,
der sich als Stellvertreter des Gottes gibt.
Der Zauberspruch setzt unmittelbare Anwendung voraus; daher die
Praepositionen bei den betreffenden Worten : In&huv incantare bigalan 2).
Er wird durch seine Nominalform als Werkzeug bezeichnet: Carmen hat
das Suffix für selbsttätige Werkzeuge (wie z. B. die den Teig in die Höhe
treibende »Bärme«). — Man muß sehr genau sein: nur wer den Spruch
uola conda , genau gelernt hatte, konnte ihn heilkräftig anwenden.
Während Rune und Zauberlied gern auch schlimmen Zwecken dienen,
wird der Zauberspruch wenigstens vorzugsweise zur »weißen Magie« ge-
braucht.
Wird endlich die symbolische Handlung zur Hauptsache, der be-
gleitende Text zur Nebensache, so entsteht die Zauberhandlung oder
das, was man im engeren Sinne »Zauber« nennt.
Vorzugsweise ist das allerdings den eigentlichen Zauberern reserviert;
doch kann viel davon auch der Laie erlernen und nachahmen. Übrigens
sind auch hier die Grenzen flüssig. Bei Egil ist offensichtlich der Spruch
noch die Hauptsache; später kann das Setzen der Schimpfstange (nidstöng)
dafür gehalten werden. — Nun gibt es auch Fälle, wo die Wirkung
durch einen weiten Zeitraum von der Handlung getrennt ist. Es wird
z. B. in der »Judenbuche« von Annette v. Droste erzählt, wie in einen
Baum eine Verfluchung gegen einen Mörder eingeschnitten wird: »Wenn
du dich diesem Orte nahest, so wird es dir ergehen, wie du mir getan
Assyrern (vgl. Goedeke, Grundriß z. Gesch. d. d. Lit. § 10, 2; Kuhn, Ztschr.
f. vergl. Sprachforschung 13, 49 f., 113 f.; Scherer, Gesch. d. d. Lit. S. 15; auch
Kaegi, Der Rigveda, Leipzig 1881, Anm. 12, Anm. 105 und allgemein Anm. 82,
Anm. 95). — Ein solcher Spruch auch Adams Gruß an Eva 1. Mos. 2, 23: »Bein
von meinem Bein, Fleisch von meinem Fleisch.«
J) Treffliches Beispiel der erste Merseburger Spruch, Müllenhoff und
Scherer, Denkmäler IV, 1. Beispiele der symbolischen Handlung: Fortwerfen des
Pfeils, damit der Dämon den unsichtbaren Pfeil beseitigt, den die Hexe in den
Körper geschossen hat ; oder Loslösung eines Bandes, damit die Walküren einen
gefesselten Freund befreien u. dgl. m.
2) Golther S. 628.
138 Drittes Kapitel.
hast«1). Dies ist kein Runenzauber: es enthält kein Zauberwort; kein
Lied oder Spruch trägt den Zauber, sondern die Handlung der Einkerbens
selbst. Sobald der Mörder dem Baum naht, wird dieser sprechen und
rächen. Das ist also reiner Zauber: der Baum wird mit der Kraft des
Rachegottes ausgestattet. —
Jedem zugänglich, aber nur in erhöhten Momenten2) sind ferner,
solche Zauberkünste, die schon für die Vorbereitung (nicht bloß für die
Vollendung) göttlicher oder dämonischer Unterstützung bedürfen. Sie
haben statt an absolut bestimmten Zeiten: viele Zaubergebräuche haften
an gewissen Nächten (seltener Tagen), Konstellationen usw., weil die
Dämonen besonders in den Zwölfnächten zugegen sind oder zu be-
stimmten Fristen vorzugsweise gnädig scheinen3); oder an relativ be-
stimmten Zeiten, die wir schon aufgeführt haben und die die Ekstase
begünstigen; sie haben die Kraft von Segen und Fluch, ja machen diese
erst zauberkräftig4).
Hauptfälle der unter solchen Umständen allgemein zugänglichen
Zauberformen sind erstens Segen und Fluch, zweitens Weissagung. Doch
geht die letztere allmählich fast vollständig, die erstere in bestimmten
Fällen an die Priester über.
Segen und Fluch sind von den übrigen »Zaubersprüchen« da-
durch unterschieden, daß sie nicht etwas Einzelnes bezwecken, sondern
ganz allgemein jemanden der Gunst oder dem Zorn der Götter an-
empfehlen. Oder vielmehr: für unsere heutige Empfindung handelt es
sich nur um eine Empfehlung — für die primitive Anschauung um einen
I
Zwang: der Gott muß erfüllen, was man in der richtigen Form er-
beten hat5).
*) Vgl. das Motiv der Kraniche des Ibykus: der Täter wird — geistig oder
wirklich — an den Tatort gezwungen und dort gleichsam in flagranti bestraft.
2) Vgl. o. S. 78.
3) Vgl. Wuttke S. 56 f.: »Die zauberischen Zeiten«. — Das Gleiche gilt von
den »zauberischen Orten«, vgl. ebd. S. 89: Kreuzwege § 108; Schwelle, Herd usw.
4) Vgl. Golther S. 628f.
B) Den stärksten Ausdruck findet diese Vorstellung von der zwingenden
Macht des Gebets bei den Indern: die Götter zittern vor der Gebetskraft eines
Frommen; ja die Kraft der Andacht wird sogar in einem eigenen Gott, Brhaspati
(vgl. Macdonell, S. 104) verkörpert. Ebenso bei den buddhistischen Chinesen:
»Wünsche, vorausgesetzt, daß sie ehrlich gemeint sind, haben wirkende Kraft«
(de Groot, Kultur der Gegenwart, a. a. O. S. 189). — Aber es ist bekannt, daß
noch z. B. Martin Luther die gleiche Anschauung hegte. Als er 1540 für den
kranken Melanchthon betete: »mußte unser Herrgott herhalten, denn ich warf
ihm den Sack vor die Tür und rieb ihm die Ohren mit allen Verheißungen des
Gebets, die ich aus der heiligen Schrift zu erzählen wußte, so daß er mich an-
hören mußte, wenn ich anders seinen Verheißungen trauen sollte«. (Vgl. z. B.
§ 14. Zaubermenschen. 139
Segen und Fluch sind Zauberhandlungen, insofern ihre Wirkung auf
höhere Wesen als sicher angenommen wird ; im übrigen tritt das Zauber-
mäßige in ihnen so stark zurück, daß sie in abgeschwächter Form in der
Religion der Gegenwart fortdauern. Freilich eben heute nur noch als
Anrufungen der Himmlischen, während in der ältesten Zeit auch hier
erstens eine das Wort stützende symbolische Handlung, zweitens eine be-
stimmte symbolische Wortfolge oder die Anwendung eines bestimmten
»starken« Wortes erforderlich sind1).
In dieser Gefahr, durch einen unvorsichtigen Ausdruck Gutes in
Böses zu verwandeln, liegt wohl auch eine der verbreitetsten und hart-
näckigsten Formen des Aberglaubens begründet: die Vorstellung vom
»Berufen«2). Indem man den einen Gott zu unbedingt lobt, verletzt
man andere (Motiv der Hippolytos - Legende) ; man muß deshalb jedem
lobenden Wort eine Verwahrung beifügen3). Die rationalistische Vor-
stellung vom Neid der Götter (Herodot) bringt gewiß erst eine jüngere
Spekulation ; ursprünglich zürnten Apollon und Artemis den Niobiden
schwerlich, weil Niobe sich der Leto gegenüber überhoben hatte, sondern
weil sie sich ohne Verwahrung gerühmt hatte4).
G. Freytag, Bilder aus der Vergangenheit, Werke 19, 131). Im Grunde hegt
wohl jeder, dessen Gebet unerfüllt bleibt, die heimliche Vorstellung, er habe
nicht richtig gebetet (vgl. auch James, Religious experience, S. 466 f.; über die
Wichtigkeit des richtigen Betens de Maistre, Soirees de St. Pe'tersbourg, N. VI).
x) Symbolische Handlung: Fast überall wird eine bestimmte Haltung beim
Gebet vorgeschrieben; dazu kommen bestimmte Riten für jede Anrufung, z. B.
bei den Ägyptern (Erman, Ägyptische Religion, S. 156), bei den Indern (H ille-
brandt S. 171 f.), den Römern (Wissowa, S. 332, 6). Die unmittelbare Zauber-
gewalt der symbolischen Handlung beim Segen ausdrücklich bezeugt 2. Mose 17, 11 :
»Und dieweil Mose seine Hand empor hielt, siegte Israel; wenn er aber seine
Hand niederließ, siegte Amalek.« — Das starke Wort: beim germanischen Segen
scheint das Wort »heih Kernwort zu sein (meine Altgermanische Poesie S. 384).
Sonst ist die Reihenfolge die Hauptsache; so bei den lateinischen indigitamenta
(Wissowa S. 333). »Das Wort kann in feierlicher Fassung zu Fluch oder Segen
werden« (Hillebrandt S. 169): ein berühmtes Beispiel für die Wandlung der
Fluch — Segen Bileams (4. Mose, Kap. 23), den freilich der biblische Geschichts-
bericht rationalisierend in eine Änderung des gewünschten Textes verwandelt,
während ursprünglich die Verfluchung wohl gegen den Willen Sprechenden durch
die Art des Vortrags zum Segen wurde.
2) Vgl. Wuttke, Register s. v.
3) Wuttke, S. 282.
4) Die alte Vorstellung Häv. Str. 144: »Im Unmaß opfern ist ärger als gar
nicht beten, Gabe schielt stets nach Entgelt«. Übrigens ist diese Vorstellung so
fest in der menschlichen Ängstlichkeit begründet, daß noch eben Otto Ludwigs
Tochter ihr auf Grund ihrer Verbreitung einen transzendenten Wert zuerkannt
wissen wollte (>quod semper, qnod ubique, quod ab omnibus . . .«): Ludwig
Eccard, Erlebte Gedanken, Dresden 1909 Pierson, S. 15.
I4Q Drittes Kapitel.
Beispiele von Segen und Fluch sind in der altgermanischen Literatur
mehrfach und zum Teil sehr ausführlich erhalten x). Hauptfälle der wirk-
samen Anwendung sind: zunächst privater Anwendung in Verfluchung
oder Segenserteilung durch den Geschädigten oder seine Gönner; entweder
bei besonderer Gelegenheit (Segen beim Abschied) oder, in der Regel, bei
bestimmendem Anlaß und unter dessen unmittelbarer Wirkung (so die
feierliche Verfluchung Hedins)2) — im Typus mit dem großen Kirchen-
bann noch heute übereinstimmend3).
Ist zu Fluch und Segen so jeder berechtigt (und daher auch fähig),
so bildet sich allmählich doch die Anschauung heraus, daß bestimmte
Persönlichkeiten hierzu besondere Kraft besitzen4). Sobald ein Priester-
stand entsteht, kann der Priester auch für den einzelnen diese Akte über-
nehmen 5). Endlich wird der Priester, als zeitweiliger Vertreter der Götter,
offiziell damit betraut, Segen über die eigene, Fluch über die feind-
liche Volksgemeinde zu sprechen6).
Ich behandle Segen und Fluch an dieser Stelle, weil sie mir dem
Zauber näher zu stehen scheinen als dem Kultus; eine Zwischenstellung
ist nicht abzuleugnen. Aber während Kulthandlungen wirklich nur eine An-
rufung des Gottes bedeuten, wird hier, wie bei anderen Zauberhandlungen,
das unmittelbare Erzwingen der Wirkung vorausgesetzt. Wie beim Zauber,
gibt es auch hier besonders geeignete Persönlichkeiten, symbolische Hand-
lungen , endlich die charakteristische Dämonisierung der Dinge.
Wie wir sahen, daß es für die Hexen charakteristisch ist, daß sie unbelebte
Gegenstände in Dienst nehmen, so fordert Sigrun7), daß den Hedin die
Eide, die er brach, beißen sollen, und daß das nicht Metapher ist, zeigen
Analogien wie 5. Mose 28, 45: »Und werden alle Flüche über dich
kommen und dich verfolgen und treffen, bis du vertilget werdest.« Ebenso
gehen im Weingartner Reisesegen8) von jedem segnenden Finger elf
Engel aus 9).
1) Meine Altgermanische Poesie, S. 48 f.
2) Helg. Hund. Str. 29; Gering, Edda, S. 178.
3) Analoge Fälle sind in der Bibel die Verfluchung Kains, der Segen an
Jakob, die Verfluchung des Feigenbaums. — Noch Walther v. d. Vogelweide in
seinem Dank an Ludwig (18, 15) bewahrt formelhafte Wendungen feierlicher
Segenssprüche.
4) Klassisches Beispiel wieder Bileam, der 4. Mose, Kap. 22 zur Verfluchung
der Israeliten eingeladen wird. — Vgl. B. Du hm, Die Gottgeweihten, Tübingen
1905, S. 8.
5) Vgl. Meyer S. 303. 6) Meyer S. 31—33; 58.
7) Helg. Hund. 2, 29.
8) Müllenhoff und Scherer, Denkmäler IV, 8.
9) Die Erinnyen, vgl. Preller 1, 835, erscheinen als Verkörperungen dieser
verfolgenden Flüche, gerade wie die Litai (ebd. 534) die Gebete verkörpern;
ebenso der 'Oqxos selbst (vgl. R. Hirzel, Der Eid, Leipzig 1901); und das
§ 14. Zaubermenschen. 141
Dem Fluch und Segen sind durch ihren Charakter von Anrufung
und Beschwörung nach verwandt Eid und Gelübde1), die wir aber ihres
feierlicheren Charakters wegen bei den Kulthandlungen besprechen. —
Auch die Weissagung ist ursprünglich eine an relativ bestimmte
Zeiten geknüpfte Form des Zaubers — wenn sie auch später gleichfalls,
nachdem die Priester sich ihrer bemächtigt hatten, in den regelmäßigen
Kultus aufgenommen wurde2). Schon Nietzsche hat mit Recht betont,
daß Prophezeien nichts anderes ist als ein Binden und Festlegen der Zu-
kunft, und daß es in alten Zeiten auch nicht anders aufgefaßt wurde3).
Die Weissagung ist also gewissermaßen eine in die Zukunft verschobene
Form von Segen oder Fluch.
Die ursprüngliche Vorstellung des Weissagens werden wir uns ganz
körperlich vorstellen müssen. Der Mensch macht die Erfahrung, daß er
etwas Herannahendes vorher wahrnimmt, z. B. aus dem Staub auf der
Straße heransprengende Reiter; oder daß von einem Wartturm her schon
Dinge gesehen werden können, die man sonst erst später entdecken würde.
Diese Erfahrung wird gesteigert: es hat jemand so scharfe Augen, daß
er die Feinde schon sieht, während sie eben erst aufbrechen und erst in
Tagen oder Wochen mit gewöhnlichen Augen wahrgenommen werden
können; dann besitzt er eben das »zweite Gesicht«, die Gabe des Voraus-
sehens. Sie gilt unter den schottischen und westfälischen Bauern — wo
diese Leute Kieker heißen — als weit verbreitet4). Mit Recht wird diese
Gabe, mit der Verborgenes zu erkennen (z. B. versteckte Schätze), zu-
sammengestellt 5).
Zunächst also erscheint das Voraussehen nur als eine gesteigerte
körperliche Funktion (und das Voraussagen als der Bericht darüber). Nun
soll erstens dies Voraussehen erzwungen werden und zwar auf unerhörte
Entfernungen in Raum und Zeit ; dazu ist ein Anteil an der prophetischen
Gabe der Dämonen (besonders der Geister des fließenden Wassers; denn
dies versinnbildlicht den ununterbrochenen Fluß der Dinge6) erforderlich.
häufige Sagenmotiv, daß ein böser Fürst, wie Kambyses oder Geiröd in den
Grimnismäl in sein eigenes Schwert stürzt, ist vielleicht nur Umsetzung einer
Verfluchung wie Helg. Hund. 2, 31 — »nicht schneide das Schwert, das du
schwingst im Streite, es singe denn, Mörder! dir selber ums Haupt!« — in epische
Wirklichkeit (vgl. Saxo über Hading, S. 30, Hermann, S. 37).
x) Vgl. z. B. Vkv. Str. 33.
2) H. Gering, Über Weissagung und Zauber, Kiel 1902.
3) »Die fröhliche Wissenschaft«, S. 106 ; vgl. meine Altgermanische Poesie, S. 50.
4) Vgl. Wuttke, S. 321 f.; über das Wahrsagen überhaupt ebd. S. 193 f.
5) Wuttke, a. a. O. ; »Fernsehen im Raum und Vorschauen in die Zeit«,
G ö r r e s, Christliche Mystik 2, 129 f . ; J o 1 y, Psychologie des Saints, Paris 1902, S. 77. —
Eine prachtvolle Veranschaulichung des sinnlichen Voraussehens in C. F. Meyers
Gedicht »Der Mönch von San Bonifacio«; im Märchen: Brüder Grimm 1, 375.
6) Vgl. Mogk, S. 4001; Meyer, S. 306 f., 327; Golther, S. 646 f.
142 Drittes Kapitel.
Und zweitens soll das Erschaute festgelegt werden, so daß auch kein
Gott es mehr ändern kann — und deshalb muß auch die Verkündigung
in feierlicher Weise erfolgen.
Man ersieht aus dem allen, daß die Prophetie ein schwierigerer und
zaubermäßigerer Akt ist als Segen und Fluch. Besonders gern überläßt
man sie denn auch wirklich den Zauberern J). Auch überwiegt hier die
öffentliche, sozusagen staatliche Anwendnng von allem Anfang an be-
deutend. — Nötig aber ist beides nicht. Es gibt auch private Befragung
der Zukunft, und sie steht jedem offen, freilich nur unter bestimmten Be-
dingungen. Eine völlige Loslösung von aller zeitlichen Gebundenheit, wie
bei der Astrologie des 16. und 17. Jahrhunderts, ist noch nicht denkbar.
Die private Anwendung ist für die ältere Zeit nur aus dem Volksglauben
belegt2). Aber schon früh wird man aus dem Rauhreif oder der Stern-
zahl die Ernte prophezeit haben, und gewiß sehr alt ist der Nacktheits-
zauber: vom Kreuzweg3) oder in der Stube4) sieht man in bestimmten
Nächten die Zukunft, wenn man sich völlig entkleidet und bestimmte
symbolische Handlungen vornimmt5). Die Bedeutung der Nacktheit ist
trotz mancher Versuche nicht völlig aufgeklärt.
Eine Mittelstufe zwischen staatlicher und privater
Prophetie ist das Befragen eines offiziellen Wahrsagers, eines Zauberers,
bei den Skandinaviern gern eines zauberkundigen Finnen6).
Bei öffentlicher Anwendung7) befragt der Priester für das Volk
die Götter und zwar durch
a) die Runen, d. h. durch ein allgemein zugängliches Zaubermittel,
zu dessen richtiger Anwendung und Auslegung man aber der doppelten
Weihe der Person (Priester) und des Moments bedarf8).
b) Loosen auf Ja oder Nein ? auf bestimmte Personen 9).
c) Auspicia10), d. h. Befragung von Dingen, auf deren Gestaltung
der Mensch gar keinen Einfluß hat. Diese Form der Weissagung beruht
ursprünglich wohl auf der Geisterbeschwörung "): die (selbst wahrsagenden)
*) Vgl. z. B. Meyer S. 42 306 f.
*) Vgl. Wuttke S. 329f.
3) Meyer S. 327, vgl. 308.
*) Wuttke S. 350.
5) Vgl. Weinhold, Znm altgerm. Ritus.
6) Golther S. 306.
7) Mogk S. 400.
8) Über die Form der Befragung vgl. Müllenhoff und Liliencron, Zur
Runenlehre; meine Altgermanische Poesie, S. 494 f.; Mogk, S. 401.
9) Mogk S. 176; vgl. z. B. bei den Chinesen: de Groot, Kultur der
Gegenwart III 1, 176.
°) Tac. Germ., Kap. 10: auspicia sortesque ut qui maxime observant.
") Vgl. Golther S. 65 Anm.
§ 14. Zaubermenschen. 143
Geister werden veranlaßt, sich zu äußern. Dies tun sie aber nur in feier-
lichen Momenten, nach Anrufung, die z. B. in der Handlung des Opfers
an sich liegt, so daß die Befragung von Opfertieren (durch Deutung der
Eingeweide: haruspicm1) möglich ist. Sie geschieht »nach einem
komplizierten System vielfach sich auch kreuzender Lehrsätze und Regeln«
und kann als die frühest ausgebildete wissenschaftliche Technik bezeichnet
werden.
Bei den Germanen scheinen unter den vielerlei möglichen Arten der
auspicia die akustischen über die optischen überwogen zu haben. Arten
der Auspicien sind gerichtet auf:
a) das Wiehern heiliger Rosse (wie bei den Persern): wenn sie
schnauben und wiehern, spricht der Gott aus ihnen 2),
b) den Flug der Vögel, wohl besonders der heiligen Raben (sie fliegen
etwa auf die Beute zu3),
c) Richtung und Geräusch des Windes,
d) den Klang des barditus*): sunt Ulis haec quoque carmina
quorum relatu, quem barditum vocant, accendunt animos futuraeque
pugnae fortunam ipso cantu angurantur terrent enim trepidantve
prout sonuit acies5). Der angerufene Kriegsgott spricht aus dem
Widerhall 6),
e) die Träume: die Seele im freien Zustand gewinnt Geisteskraft7).
Durchaus aber sind all diese Weissagungen an den »pathetischen
Moment« gebunden. Er kann sich von selbst einstellen, durch die Er-
regung vor der Schlacht, die Feststimmung, den nahenden Tod; oder er
wird vorbereitet durch allerlei Mittel des Rausches usw.8).
*) Vgl. Wissowa, S. 470f.
2) Tac. Germ., Kap. 10: proprium gentis equorum quoque praesagid ac
monitus experiri. Solche heiligen Rosse werden in Drontheim für Frey gezüchtet.
Mogk, S. 402.
3) Vgl. Tac: avium voces volatusque interrogare ; Indic. superstit. 13; Zeitschr.
f. d. Phil. 16, 186. 191. — Vögelsprache Fäfnismäl Str. 32 f. und im Märchen. —
Meyer, S. 306.
4) Tac. Germ., Kap. 3.
5) Trotz der letzten Auslegung von Brückner, Festschrift zur Baseler
Philologen- Versammlung 1907, S. 65 f., bleibe ich bei der alten Deutung «Schild-
gesang*; vgl. Häv. Str. 155: »ich raun' in die Schilde«; Rambaud, Geschichte
Rußlands, Berlin 1887, S. 44.
6) Psychologische Grundlage in der Stimmung des Heeres. Der blinde
Harald erkennt die Niederlage aus dem traurigen Gemurmel der Seinigen (G ol t h e r,
S. 331). — Zu Thor bringt den barditus in Beziehungen Mogk, Sammlung
Göschen, S. 61.
7) Golther, S. 659.
8) Vgl. o. S. 78. Über Wahrsagerei wie über Zauber enthalten alle folklo-
ristischen und mythologischen Werke ein unerschöpfliches Material, das aber doch
144 Drittes Kapitel.
2. Aber neben den allgemein zugänglichen Zaubermitteln gibt es
Zaubermittel, die nur Einzelnen zugänglich sind. Diese Einzelnen sind'
Priester oder Zauberer.
Die Priester sind durch ihr Amt, die Zauberer durch persönliche
Begabung oder Erwerbung im Besitz übernatürlicher Kräfte, weil sie Anteil
an der Macht der Götter oder Dämonen empfangen haben.
Bei dem Priester ruht die Kraft in der ein für alle Mal vollzogenen
Weihe; sie bezieht sich zunächst nur auf einzelne Funktionen, greift dann
immer weiter, bis schließlich die Lamas leibhafte Fetische werden1). —
Der Zauberer empfängt entweder ebenfalls die Weihe, nämlich indem er
von einem anderen eingeführt wird (»apostolische Sukzession« : dieser kirch-
lichen Lehre liegt noch die Vorstellung von der Unersetzbarkeit der un-
mittelbaren Übertragung zugrunde), oder er erwirbt sie selbst (wie sein
Schutzgott Odin 2). Er steht in der Mitte zwischen bösen Zaubermenschen
(Werwolf, Hexe) und Priestern als Vertretern der weißen Magie: er kann
seinen Zauber zum Guten und zum Bösen verwenden.
Die Priester also beziehen ihre Zauberkraft aus dem Kultus und sind
deshalb an anderer Stelle zu besprechen. Der Zauberer aber ist eine
Hauptfigur der niederen Mythologie3).
Über die ganze Welt ist die Vorstellung verbreitet, daß gewisse (meist
männliche, doch gerade im germanischen Norden oft auch weibliche)
Persönlichkeiten durch ihre besonderen Beziehungen zu den Dämonen auf
diese einen (gewöhnlichen Sterblichen versagten) Zwang auszuüben ver-
mögen. Man nennt sie »Medizinmänner« (weil sie besonders auch zur
Heilung von Krankheiten berufen werden), Zauberer, vor allem mit einem
von sibirischen Urvölkern stammenden Terminus »Schamanen«4).
Die Vorstellung hat mancherlei Wurzeln in Erfahrung und Psychologie:
ekstatische, auch kranke Personen üben auf bestimmte Kranke einen
»dämonischen« Einfluß aus5); deshalb stellt der altnordische Ausdruck
trolldom für Zauberei den (gefährlichen) Zauberer mit den Unholden
auf eine Stufe6). Dazu kommen zufällige Erfolge, vom Eigennutz aus-
rast immer nur die überall gleichen Hauptlinien bestätigt. Ich verweise hier nur
des Beispiels wegen für Vorzeichen auf Hillebrandt, S. 183, und allgemein
auf H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur, S. 590 f. — Zeus wie Odin Schutzherr
der Mantik: Prell er 1, 142.
*) Vgl. Frazer 1, 42f.
2) Häv. Str. 138 f.
3) Allgemein vgl. Edv. Lehmann, Kultur der Gegenwart, S. 10 f. und von
der dort zitierten Literatur besonders H. Schurtz, Urgeschichte der Kultur»
S. 595 f.
4) Vgl. Edv. Lehmann a. a. O. S. 15.
5) Björnson, Über unsere Kraft.
6) Golther S. 648.
§ 14. Zaubermenschen. 145
gebeutet1); überraschende Leistungen fremder Volksangehöriger (wie die
Finnen) ; und das überall verbreitete Bedürfnis nach Mittelspersonen zwischen
Himmel und Erde tut das Letzte. — Wir müssen uns das Zauberwesen
überall sehr ausgedehnt vorstellen, etwa wie das Kirchenwesen im späteren
Mittelalter und den Ländern der Gegenreformation ; freilich auch nicht so
alltäglich, wie Preuß annimmt, denn der Begriff des Zaubers setzt Un-
gewöhnliches voraus.
Germanische Benennungen2) beziehen sich besonders auf die Weis-
sagekunst: althochdeutsch wisago , altnordisch spämadr und späkona,
forspär; auch das Loswerfen gehört dazu: althochdeutsch hhozari =
lateinisch sortilegus. Vom Zauberlied ist der althochdeutsche kalstarart
benannt. Unerklärt ist noch altnordisch völva, Prophetin. — »Zauber« 3)
scheint ursprünglich »Geheimschrift« zu bedeuten. Dazu altnordisch
taufr, Amulet4).
Wie erlangt man die Zauberkraft? Manches ist angeboren,
»dem Kind in die Wiege gelegt«5). Meist aber wird die Kunst erlernt:
von den Schamanen der Lappen und Finnen 6), von älteren Meistern ; ent-
weder durch wirklichen Unterricht oder durch Belauschen und Nach-
ahmen, was aber mit Gefahren verbunden ist. Die Legende weiß auch
von gewaltsamem Raub der Zauberkunst, wofür jedoch altgermanisch kein
Beispiel bekannt ist. Man erlangt sie auch durch glücklichen Zufall: wer
z. B. eine Schlangenkrone findet, kann zaubern7).
Wirkung der Zauberkraft ist allgemein die Ausstattung mit über-
menschlicher Kraft, spezieller die Begabung mit der Kraft bestimmter
Dämonen 8). Sie besteht in dauernder Befähigung zu solchen Dingen, die
sonst nur durch Runen oder andere Zaubermittel ermöglicht werden, wie
Heilung von Kranken und Behexen von "Gesunden, Erregung von Sturm,
Bannung von Waffen9), Finden verlorener Dinge10). Sie besteht ferner
in der Kunst Kunst des Wahrsagens und des Gestalten wechseis.
Aber auch der Zauberer kann nicht aus dem Stegreif zaubern. Vor-
bereitung ist nötig und zumeist eine recht umständliche, in der das Be-
x) Humoristische Schilderung im Märchen von »Doktor Allwissend«,
Br. Grimm, Kinder- und Hausmärchen Nr. 98.
2) Golther a. a. O.
3) Kluge S. 414.
4) Vgl. allgemein Golther S. 646f.; Meyer S. 309f.; Mogk S. 403f.
5) Vgl. Golther S. 642.
6) Meyer S. 309.
7) Wuttke S. 521.
8) Vgl. Zeitschr. f. d. Phil. 31, 318.
9) Vgl. meine Altgermanische Poesie, S. 49 f.
10) Saxo S. 218. Herrmann S. 289; ebenso besitzt diese Kunst der hl. An-
tonius von Padua, vgl. Immermanns Gedicht (Werke, her. Boxberger, 11,94).
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 10
I4ß Drittes Kapitel.
dürfnis, sich selbst zu »montieren«, und die Notwendigkeit, dem Publikum
zu imponieren, zusammentreffen. Man nähert sich in der Erscheinung den;
dämonischen Wesen oder sucht wenigstens die menschliche Erscheinung j
zu verbergen; man wählt feierliche Orte — man macht den Erfolg von|
bestimmten Hilfsmitteln ') und wieder von Wort und Handlung ab-
hängig.
Was die Methode des Zaubers betrifft, so wird der Zauberer
in der Regel erst herbeigeholt, gern aus einiger Ferne; der Prophet gilt
nichts im Vaterlande. Er erscheint in einem abenteuerlichen Aufzug,
in dem zu der Anähnlichung an die Dämonen gern noch eine An-
passung an fremdes Kostüm tritt, namentlich an das zauberkundiger Völker
wie der Finnen 2). Solches Kostüm wird uns genau in der Eirikssage be-j
schrieben3):
»Gegen Ende des 10. Jahrhunderts herrschte in Grönland großer Notstand,
Hunger und Siechtum. Infolge starken Unwetters waren Jagd und Fischerei
wenig ergiebig gewesen. Da lebte eine weise Frau (spdkona) mit Namen
Thorbjorg, die kleine Völva genannt. Von neun Schwestern war sie allein amj
Leben geblieben. Thorbjorg pflegte im Winter auf Gastgebot umherzufahren.
Diejenigen, welche Unterweisung über ihr Schicksal und über das bevorstehende
Jahr wünschten, entboten sie zumeist zu sich. Thorkel, der größte Bauer der
grönländischen Siedelung, wollte wissen, wann das herrschende Mißjahr zu Ende
gehen werde. Da lud er die weise Frau zu sich ein und rüstete ihr guten
Empfang, wie er beim Besuch solcher Frauen üblich war. Ein Kissen mit Hühner
federn gefüllt wurde auf den Hochsitz gelegt, als sie abends mit dem ihr entgegen-
gesandten Mann eintraf. Sie war also gekleidet: sie trug einen dunkelblauen
Mantel, der am Rand von oben bis unten mit Steinen besetzt war. Um den
Hals hatte sie Glasperlen. Auf dem Kopfe hatte sie eine Mütze von schwarzem
Lammsfell, mit weißem Katzenpelz gefüttert. In der Hand trug sie einen Star,
mit einem messingbeschlagenen, steinverzierten Knopfe. Sie hatte einen Gürtel
um, an dem ein großer Beutel hing, der das nötige Zauberzeug (taufr) enthielt;
An den Füßen hatte sie Schuhe aus rauhem Kalbsfell mit langen und starker
Riemen, an deren Enden große Messingknöpfe saßen. An den Händen hatte sie'
Handschuhe aus Katzenpelz, innen weiß und zottig. Sie wurde ehrerbietig be
grüßt und von Thorkel zum Hochsitz geleitet. Er bat sie, Herde, Vieh und Haus
in Augenschein zu nehmen. Sie sprach bei allem nur wenig. Abends wurder
Tische aufgetragen. Thorbjorg bekam Grütze mit Gaismilch gekocht; ihre Speis(
war aus den Herzen aller Tiere, die es an Ort und Stelle gab, zubereitet. Si(
gebrauchte einen messingnen Löffel und ein ehernes Messer mit einem Heft aus
Wallroßzahn; die Spitze war abgebrochen. Als die Tische abgetragen waren
fragte Thorkel, wie es ihr mit dem Haus und den Leuten schiene, und wann si<
Offenbarung erhielte über das, worüber er sie getragt hatte und was das Volk zi
wissen wünschte. Sie erwiderte, sie könne das nicht vor dem nächsten Morgei
sagen, nachdem sie die Nacht darüber geschlafen. Andern Tags gegen Abem
J) Zauberstab: Hillebrandt S. 175.
2) Vgl. Mogk S. 404.
8) Golther S. 649.
§ 14. Zaubermenschen. 147
ward alles in Stand gesetzt, daß sie Zauber (seid) üben könnte. Sie verlangte,
man solle ihr Frauen, die sich auf die zum seid nötigen Lieder (froedi), die so-
genannten vardlokkur (d. i. Geisterlockungen?) verstünden, herbeischaffen; da fand
sich niemand, der sie wußte, obschon in den nächstliegenden Höfen nachgefragt
ward. Da sagte Gudrid: Zwar bin ich weder zauberkundig noch eine weise
Frau; aber meine Pflegemutter auf Island lehrte mich Lieder, die sie vardlokkur
nannte. Die Lieder und was dazu gehört, sind aber derart, daß ich sie als
Christin nicht ausüben kann. Da bat Thorkel so lange und inständig, bis sis
endlich doch einwilligte. Thorbjorg setzte sich auf den Zaubersessel (seidhjallr)
und die Frauen bildeten einen Kreis darum. Gudrid sang das Lied so schön
und gut, daß niemand von den Anwesenden jemals einen schöneren Gesang
gehört zu haben glaubte. Auch die Wahrsagerin meinte, der Sang sei schön an-
zuhören, und dankte ihr, als sie zu Ende war; sie sagte, nun seien viele Geister
(natürur) erschienen, denen das Lied wohlgefiel, und die zuvor keinen Beistand
noch Gehorsam hätten leisten wollen. Nun sind mir auch viele Dinge ersichtlich,
die mir und anderen zuvor verborgen waren. Ich kann dir sagen, Thorkel, daß
das Hungerjahr nur noch den Winter über dauern und im Frühling Besserung
eintreten wird. Auch die Seuche, die hier geherrscht hat, wird sich über Er-
warten schnell bessern. Der Gudrid weissagte sie eine ansehnliche Heirat. Dann
gingen die Leute zu der Weissagerin und jeder fragte das, was er am meisten
zu wissen verlangte. Sie war gut mit ihren Aussagen und es schlug wenig fehl,
was sie sagte. Hierauf begab sie sich wieder auf einen anderen Hof, wo man
ihrer Dienste bedurfte.«
Typisch ist hier der unentbehrliche Zauberstab; auch der Gürtel mit
dem Zaubergerät fehlt selten. Drittens ist auch der Zaubersessel ein
häufiges Requisit (der Dreifuß der Pythia in Delphi); er soll offenbar die
Zauberin isolieren. — Andere Einzelheiten sind spezifischer Natur, wie
denn z. B. manches Stück der Kleidung zufälliger Aufputz sein wird;
dagegen ist es wieder ein ständiger Zug, daß Werkzeuge aus veraltetem
Material — wie hier das Bronzemesser — benutzt werden x).
Eine Hauptform des Zaubers ist der sympathetische in zwei Formen:
erstens ein passiver, indem einem Symbol etwas angetan wird, die häufigere
Form; zweitens ein aktiver, indem das Symbol etwas tut. Im ersten Fall
wird eine Art negativer Fetisch angefertigt: eine rohe Andeutung
der gemeinten Persönlichkeit (Ähnlichkeit wird gar nicht erstrebt) 2). Diesem
tut man dann an, was dem Menschen geschehen soll : man macht es den
Göttern vor. »So ritzte (drö) ein gewisser Tiörvi auf Island die Umrisse
seiner Geliebten Astrid und des ihr aufgezwungenen Mannes auf seine
Kammerwand, und jeden Abend spuckte er beim Schlafengehen dem
Manne ins gemalte Gesicht und küßte das Bild der Astrid, bis sein Oheim
Hroar diese Zeichnungen abkratzte, um Lärm und Streit zu verhüten«3).
*) Vgl. z. B. die Schilderung des sibirischen Schamanen bei Edv. Lehmann,
Mystik, S. 11.
2) Yryö Hirn, Ursprung der Kunst, Leipzig 1904, S. 288.
3) Wein hold, Altnordisches Leben, S. 427.
10*
143 Drittes Kapitel.
— Im andern Falle wird das Symbol fetischartig mit einer Kraft begabt,
die etwa ein an eine Stange befestigter Zettel mit Zeichen enthält1).
Um jenes Prachtstück einer Schilderung nicht zu zerreißen, haben
wir gleich auch die Beschreibung der Zauberhandlung selbst mitgeteilt»
Zunächst aber kommt es noch an auf
Ort und Zeit2), die natürlich bei allem Zauber eine große Rolle
spielen. Besonders beliebt ist das ütiseta: unter freiem Himmel, also den
Dämonen zugänglich sitzen3). Sehr wichtig ist deshalb die »Tagwählerei« 4).
Alle diese Vorbereitungen sind geeignet, die Stimmung zu steigern, so-
wohl bei dem Schamanen wie bei der Zuhörerschaft. Nebenbei sichern
sie dem Zauberer noch bei Mißerfolg einen Rückzug: es hat irgend-
etwas bei der Zurüstung nicht gestimmt. — Endlich kommt er zur Sachej
selbst.
Die Beschwörung bildet den Hauptteil der Zeremonie. Entweder!
wird wirklich ein Dämon angerufen, oder es wird der Ritus der Anrufung!
doch nachgeahmt. Der Vortrag und die Anordnung der Worte sowie die
symbolische Handlung (Ausräuchern böser Geister, Herbeiwinken guter!
u. dgl.) sind natürlich von der gleichen Wichtigkeit wie beim allgemeinen
Zauber (s. o.). — Besonders häufig wendet man sich an die Totengeisten
daher valgaldr Totenlied, haljaruna gotisch, althochdeutsch hellirüna]
Unterweltszauber5). — Die Beschwörung wird verstärkt durch die Anwendung
von zauberkräftigen Dingen (altnordisch taufr, angelsächsisch Uafon
Amulet). Vor allem sind es Bestandteile des menschlichen Körpers6)]
Blut (was mit Blut bestrichen wird, erhält den Anschein des Lebens; dafüi
stellvertretend die rote Farbe, Mennige) 7), Speichel, aber auch abgeschnittene
Haare oder Nägel8).
Übrigens wenden die Zauberer auch einfach die allgemein üblicher1!
Zaubermittel an: Raunen und Singen von Zaubersprüchen, Losen usw.9)
1) Vgl. z. B. ebd. S. 298 und zu der dazu gehörigen nidvisa, dem Lied dei
Hasses, S. 342.
2) Golther S. 656.
8) Vgl. Völ. Str. 28 »einsam saß ich außen«. Vielleicht liegt dem Nackt
heitszauber ein ähnliches Motiv zugrunde.
4) Vgl. Meyer S. 20, allgemein Andree, Ethnograph. Parallelen 1, 1 f.
5) Golther S. 645; vgl. Diels Sibyllinische Blätter S. 69.
6) Wuttke S. 6321
7) Golther S. 648, Wuttke Register s. v., vgl. z. B. Hillebrandt S. 17
8) Vgl. das Schiff Naglfari, Gylf. c. 51, Gering S. 348; die Hexen am Kesse
in Shakespeares Macbeth.
9) Klassisches Beispiel die Buslubaen, Bitte der Busla, vgl. Golthe
S. 653: eine feierliche Verfluchung unter Anwendung von Runen und mit An
gäbe der wirksamen Zeit (»nicht ists erlaubt, sie nach Sonnenuntergang hei
zusagen«).
<
§ 14. Zaubermenschen. 149
Die Gesamtheit der Zauberkunst heißt im Norden setdr1); wer sie ver-
geht, rühmt sich dessen und empfiehlt sein Können 2).
Abwehr des Zaubers3) wird im allgemeinen durch Mittel gleicher
\rt geübt: Gegenbeschwörung4); Amulette, d.h. zauberkräftige Dinge, in
der Regel durch Inschriften beseelt 5), so daß der Zettel gewissermaßen den
Schutzsegen hersagt. Prohibitive Hauptform des Gegenzaubers ist die Be-
lennung mit -rün6). Vielleicht gibt es auch besondere Schutzgöttinnen: die
Saitchammae7). Defensiv setzt man einen Gegenzauberer in Bewegung 8) ;
man gebraucht Schutzrunen9). Oder man wendet Gewalt gegen die Zauberer
in, was freilich gewagt ist. Schon sie nicht aufzunehmen bringt Gefahr 10).
Schließlich wagt man es doch, sie zu vertreiben n) oder gar zu töten. Harald
tiärfagri soll den eigenen Sohn Röguvald und 80 Zauberer getötet haben12).
Mit dem Träger der dämonischen Kraft erlischt dann auch diese. Man
muß aber natürliche Helfer des Todes wählen, indem man steinigt13) oder
den ertränkt: Waffen können sie durch ihren Fluch schaden14). Auch sind
sie oft »fest«, d. h. durch menschliche Waffen nicht zu töten. Die aggressive
\bwehr endlich besteht darin, daß man die schwache Stelle des Zauberers
herausfindet. Seine Unverwundbarkeit ist nur relativ: macht er die (ge-
wöhnlichen) Waffen untauglich, so hilft die Keule15); oder man muß ihn
mit Staub besiegen, den er getreten hat 16), oder mit Gold 17) usw.
Dies alles setzt bereits den allgemein üblichen Gegensatz von weißer und
schwarzer Magie voraus 18). Zunächst ist natürlich für den naiven Menschen
!) Golther S. 654.
2) Häv. 146 f., vgl. Mogk S. 404.
3) Vgl. allgemein Wuttke S. 279 f.
4) Hillebrandt S. 177.
5) Wuttke S. 178 f.
6) Vgl. o. S. 117.
7) Much, Zeitschrift f. d. Alt. 35, 322; s. u.
8) Der Kampf zweier Zauberer ist ein Lieblingsmotiv im Märchen; solutus
ambulat veneficae scientioris carmine Horaz ep. 5, 71, vgl. Sudhaus Arch. f.
Rel.-Wissensch. 9, 194.
9) Z. B. gegen Gift als Zauber: Sinfjötlalök.
10) Golther S. 651.
") Ebd. S. 657.
12) Mogk S. 405.
13) Vgl. allgemein R. Hirzel, Die Strafe der Steinigung, Leipzig 1909, wo
das Steinigen überhaupt als schützende Abwehrmaßregel gefaßt wird.
u) Vgl. Meyer S. 310.
16) Saxo S. 219, Herrmann S. 291.
16) Den Boden unter ihm wegziehen? Vgl. die Antäus - Fabel ; ebd. S. 118,
Herrmann S. 157.
17) Ebd. S. 17, Herrmann S. 22.
18) Vgl. Golther S. 655 f., der aber S. 657 das ethische und ethnologische
Moment {seidr, »Hexerei«, als finnische Magie) zu stark betont.
150 Drittes Kapitel.
der Zauber gut, der ihm dient, schlecht der, der ihm schadet. Allmählich
entwickelt sich aber eine Empfindung für das Bedenkliche des Zaubers
überhaupt: als eines Mißbrauches des Kults zu eigennützigen Zwecken
und gegen Bezahlung — was man im Mittelalter »Simonie« nennt. Dann
gilt fast aller Zauber — schon vor dem Christentum — als bedenklich;
angerufen wird er deshalb doch. —
Neben den Zauberern von Beruf gibt es noch Menschen, die man
gewissermaßen als »unfreiwillige Zauberer« bezeichnen könnte:
sie sind zwar im Besitz von gewissen Zauberkräften, aber nicht Herr über
deren Verwendung. In gewissem Sinne kann man schon Alpreiter, Wer-
wölfe, auch Berserker hierher rechnen; doch sahen wir, daß diese von
der Volksanschauung für ihre Taten verantwortlich gemacht werden. Dies
ist dagegen wenigstens überwiegend nicht der Fall bei den Inhabern des
»bösen Blicks«1).
Die Gabe, durch das bloße Hinsehen Schaden zu stiften, wird be-
sonders in den romanischen Ländern sehr vielen Menschen (»jeltatori«)
zugetraut. Sie gilt allerdings ursprünglich als böse Zauberkraft, als zu^
erst bewußt z. B. zum Stumpfmachen der Waffen2) (was sonst Zauber
tut)3), dann aber unbewußt ausgeübte Eigenheit. Nach deutschem Aber-!
glauben gehört sie allerdings vorzugsweise bösen Menschen 4) ; aber gerade!
in den Ländern, wo dieser Aberglaube den größten Umfang gewonnen
hat, wird diese Kraft lediglich als eine unheimliche Funktion auch im
Besitz von verehrten Persönlichkeiten (wie den beiden letzten Päpsten]
angesehen. Sie dringt bis in die Mythologie: wenn Hymir5) einen Balkerj
in Stücke blickt, bedeutet das schwerlich, wie Gering6) mit Uhlanc1
annimmt, die »zersprengende Gewalt des Frostes«, vielmehr nur eint
hyperbolische Anwendung des bösen Blickes7); in Italien könner
Leute mit ihrem Blick Marmor spalten8). Die Vorstellung entspring
wohl Erfahrungen von der wirklichen psychologischen Kraft dejj
Auges, z. B. über wilde Tiere. Kaum ein Aberglaube hat so viel Ab
wehrmaßregeln aufgebracht wie dieser9). Übrigens gibt es auch einer
J) Vgl. jetzt S. Seligmann, Der böse Blick und Verwandtes, 2 Bde
Berlin 1910.
2) Saxo S. 187, Herrmann S. 250, 297 f.
8) Ebd. S. 242, Herrmann S. 323.
•) Vgl. Wuttke S. 265.
B) Hym. Str. 12.
6) Edda S. 25.
7) v. d. Leyen, Märchen in der Edda S. 49.
8) Rud. Müller, Gartenlaube 1909, Heft 13, S. 267; vgl. z. B. M. Orun
wald, Jettatura, Vosstsche Zeitung 27. März 1907.
9) Vgl. z. B. R. Müller a. a. O. S. 269.
§ 14. Zaubermenschen. 151
»guten Blick«, der z. B. den Kiebitz beim Kartenspiel erwünscht machen
kann *).
Unfreiwillige Wahrsager ohne jede Verantwortung sind die Wahn-
sinnigen, die als solche besonders im Orient und bei den Slawen2) Ver-
ehrung genießen, zum Teil fast in den Formen des Dämonenkults. Offen-
bar beruht diese Anschauung auf der Verwandtschaft der prophetischen
Ekstase mit der Gestörtheit, d. h. auf einer unwissenschaftlichen Ver-
allgemeinerung von derselben Art wie heut die Lombrososche Gleich-
stellung von Genie und Wahnsinn. — In der altgermanischen Mythologie
(oder Heldensage) spielt der Rasende keine Rolle; doch ist auch hier an
die schillernde Gestalt Starkads zu erinnern. —
Werfen wir zum Schluß auf die »Dämonischen « einen Blick zurück,
so treten als gemeinschaftliche Züge hervor:
1. als unterscheidend von den Menschen: unheimliche Macht, be-
sonders des Gestaltwechsels und des Blickes in die Zukunft;
2. als unterscheidend von den Göttern: Formlosigkeit (Mißgestalten;
auch das entstellende Kostüm des Zauberers gehört hierher) — kein eigenes
»Reich« — kein allgemeiner Kult. Aber die Grenzen fließen; auch unter
den Göttern begegnen dämonische Gestalten.
*) Wuttke S. 410. Allgemein vgl. W. Hertz, Die Sage vom Giftmädchen,
Ges. Abhandlungen, her. Fr. v. d. Leyen, Stuttgart 1905, S. 180f. ; v. d. Leyen,
Märchen in der Edda a. a. O.; R. Andree, Ethnograph. Parallelen 1, 45 f.
2) Vgl. z. B. Andree, Ethnograph. Parallelen, Leipzig 1889; 2, 41 f.
Viertes Kapitel.
Höhere Mythologie.
Wohl fehlt es auch bei den Göttern an völlig durchgreifenden Unter-
schieden ; wie wäre das auch wohl bei dem langsamen Übergang x) anders
möglich! Aber tatsächlich wird eine bestimmte Anzahl übermensch-
licher Wesen als zusammengehörige Aristokratie empfunden; diese gött-
liche Adelskaste bildet den Inhalt der höheren Mythologie. Wie der
menschliche Adel ist auch dieser ungleichen Ursprungs, und neben Persön-
lichkeiten von uraltem Stammbaum (wie Tyr) stehen Parvenüs und ein
künstlicher »Briefadel« (Bragi, Idun); erst recht sind sie ungleich an Macht
und Beliebtheit — aber nach außen bilden sie eine geschlossene Gemein-
schaft mit nur selten Fremden gewährtem commercium und connubium.
Rangzeichen der Götter2) sind besonders die idealisierte
Menschenähnlichkeit; die feste Umgrenzung der Kompetenz; die Viel-
namigkeit; später auch ein fester, von Priestern geleiteter Kult mit
lokalem Mittelpunkt und einigermaßen fester lokaler (oder sozialer) Um-
grenzung.
Ein Numen steht um so höher, je näher es dem Menschen steht —
in der Form. Sonst aber sind sie exklusiver; der gemütliche Verkehr der
niederen Geister mit den Menschen ist bei ihnen eingeschränkt. Ge-
wöhnlich kommen sie nur, wenn gerufen: durch Beschwörung vermag
man sie absichtlich, durch böse oder (seltener) gute Taten unabsichtlich
herbeizurufen. Allerdings wandern Odin, Rig, vor allem Thor, aber sie
besuchen fast nur Sterbliche, zu denen bestimmte Beziehungen bereits
existieren. Deshalb werden Tempel und Priester nötig, wo man sie trifft
und durch die man zu ihnen spricht. — Und diese Organisation eines
festen »Reiches der Götter« wird dann das letzte und wichtigste Gesamt-
kennzeichen.
») Vgl. S. Müller, Urgeschichte Europas, S. 149 f., dessen Anschauungen
ich mir freilich im einzelnen nicht anzueignen vermag.
2) Siehe o. S. 38 f.; vgl. Zeitschr. f. d. Phil. 31, 320; J. v. Negelein, Germ.
Mythologie, Leipzig 1906, S. 16 f., R. M. Meyer, Intern. Wochenschr. 3, 1581.
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 153
Wenn dagegen Negelein 1) geneigt scheint, die sonderbare Ver-
stümmelung mehrerer Äsen (Wodan hat nur ein Auge, Ziu eine Hand,
Donar »zeichnet sich durch eine Schädel Verletzung aus« — ) als ein be-
sonderes Kennzeichen aufzufassen, so ist nicht nur einzuwenden, daß das
zum Teil jüngere Züge zu sein scheinen, sondern auch vor allem, daß sie
verschiedenen Ursprungs und deshalb nicht als gemeinsames Merkmal
verwendbar sind. Es sind ja nicht alles »im Kampf erworbene Ab-
zeichen«, wenn sie auch zum Teil nach heroischem Muster (man denke
an den Waltharius) so erklärt werden mögen.
Die Götter sind aber noch von Wesen umgeben, die selbst zu
den »Dämonen« gehören, aber in die Götterwelt geraten sind, wie
Ministerialen in den hohen Adel, und die wir deshalb an dieser Stelle
behandeln.
I § 15. Halbgöttliche Wesen.
»Heroen« oder »Halbgötter« im antiken Sinne des Wortes2) bilden
eine vermittelnde Kategorie zwischen Menschen und Göttern, und zwar
in zeitlicher Sonderung: bis zum Tode Menschen, nach dem Tode Götter3).
Bei den Germanen ist diese Kategorie nicht vorhanden; denn die ver-
göttlichten Menschen bilden hier in keiner Weise eine innerlich geschlossene
Gruppe.
Dagegen ist die Kategorie der »Umgebungsgötter«, wie man diese
halbgöttliche Umgebung der eigentlichen Götter nennen könnte, überall
vorhanden. Gestalten wie die Moiren, die Musen, wie Hebe und Ganymed
werden zwar zu den Göttern gerechnet, weil sie sich auf dem Olymp
(wenigstens teilweise) aufhalten, auch die göttlichen Rangzeichen der fest-
umschriebenen Kompetenz und der menschlichen Form teilen, unter-
scheiden sich aber dennoch von Gestalten wir Zeus, Hera, Aphrodite,
Hermes deutlich durch geringere Wichtigkeit und untergeordnete Stellung,
Zum Teil sind sie (wie Ganymed) nicht der Menschen, sondern lediglich
der Götter wegen da; zum Teil besitzen sie wie die Dämonen, wenn
auch in verminderter Zahl, den charakteristisch die Individualität ab-
stumpfenden Massencharakter (drei Charitinnen, neun Musen); zum Teil
sind sie ganz blasse Abstraktionen geblieben.
Die Sonderstellung der hierher gehörigen germanischen Gottheiten
erkannte schon W. Müller4).
*) a. a. O. S. 16; vgl. o. S. 41.
2) Vgl. allgemein Edv. Lehmann, Guder og helte, Kjobenhoven 1808.
3) Klassischer Typus Herakles.
4) Geschichte vom System der altdeutschen Religion S. 344 ; vgl. Meyer
S. 249.
154 Viertes Kapitel.
Wir können drei Gruppen unterscheiden:
göttliche Wesen, die beinahe die göttliche Reife erreicht haben: Nornen;
göttliche Wesen, die in das Gefolge der Götter gehören: Walküren,
Schwanenjungfrauen ;
Mittelstufe zwischen beiden: Mimir.
1. Die Nornen oder Schicksalsschwestern1) sind gleichsam die
Elementargeister des »Geschehens«; sie wohnen im Fluß der Dinge wie
die Stromgeister im Strom. Bereits indogermanisch ist2) die Vorstellung
des Schicksals, d. h. einer fest bestimmten Ordnung der Dinge. Aber
wenigstens in der europäischen Kulturgemeinschaft3) scheint sich diese
Vorstellung mit der Idee einer lebendigen, sie beherrschenden Kraft,
eines »Geistes« zu erfüllen. Daneben tritt vielfach eine Mehrheit solcher
Geister auf, so die hellenischen Moiren4); schließlich gelangt man zu der
Dreizahl. Die herrschende Anschauung ist, daß ursprünglich nur Eine
Schicksalsgöttin vorhanden gewesen sei. Sie scheint mir allen Analogien
zu widersprechen.
Wir müssen von dem überall vorhandenen abstrakten Begriff des
Schicksals ausgehen: altnordisch urdr, Geschick; althochdeutsch wurt
fatum, besonders Tod; altsächsisch werd, Tod, todbringende Schicksals-
macht; angelsächsisch wyrd, Verhängnis; ferner angelsächsisch meotod,
altnordisch mjötudr, messende, verhängende Macht5). — Diese Begriffe
sind inhaltlich wie formell singularia tantum. Aber sie lassen, wie etwa
der abstrakte Begriff des Wassers, unzählige Emanationen zu. So werden
denn Ableitungen als pluralia tantum gebildet: würdigt-, metodo-giscapu,
regano giscapu: Bestimmungen der bestimmenden Macht6). Jeder hat
sein eigenes Schicksal7). Daraus bildet sich die Vorstellung ungezählter
Schicksalsgottheiten 8), die in mythologischer Symbolik erst zu drei
Scharen 9) , dann zu drei Gottheiten vereinfacht werden. Aber etwas
von der alten Vorstellung lebt noch spät in dem Versuch fort, jedem
Dämonengeschlecht, den Äsen, Alfen, Zwergen eigene Nornen (nach Art
der aettarfylgjur) zu geben10). Endlich entsteht wieder eine Kollektiv-
göttin, die den alten Namen Urd fortführt, als Geist des Werdens
") Mogk S. 281. Golther S. 104, Meyer S. 251.
2) Siehe o. S. 54.
3) Meyer S. 259; vgl. S. 261.
4) Preller 1, 530f.
5) Mogk S. 281, 283; vgl. Vilmar, Deutsche Altertümer im Heliand, Mar-
burg 1845, S. 8 f.
6) Vgl. die fylgjur; s. o. S. 79 f.
7) Meyer S. 252.
8) Vgl. Mogk S. 284; man denke an Goethes »Mütter im »Faust«.
9) Väf. Str. 49.
10) Fäfnismäl Str. 13; vgl. Mogk S. 284, Meyer S. 253.
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 155
über allen Wesen gebietend. Daneben dauert die Dreizahl fort, wie hellenisch
die eine Moira neben drei oder vier Moiren x) ; und spät werden sie
nun mit grammatischer Mißdeutung des Namens Urd als Verdandi
und Skuld neben dieser benannt: Gegenwart und Zukunft neben der
Vergangenheit2) — eine kahle Allegorie, die von der gleichfalls wohl
jungen, aber lebensvollen der drei Spinnerinnen Klotho, Lachesis, Atropos
formlos absticht. Gelehrter Einfluß der Antike3) ist mir aber nicht wahr-
scheinlich; denn da auch unsere Schicksalsgöttinnen »spinnen«, wären
dann wohl die antiken Namen nachgebildet worden. Auch sind die drei
weird sisters im englischen Volksglauben nachgewiesen 4), ebenso deutsch
drei »Heßrätinnen« 5) — ohne jede Verteilung, als unteilbare Trias, wie
das einer solchen mythologischen Obergangsformation entspricht.
Rangzeichen ist einfach die unbedingte, schon durch indo-
germanische Spruchweisheit anerkannte Macht. Daher sind sie auch schwer
zugänglich, keinem Zauber unterworfen, außer dem der Wahrsagung, in
keinen Tempel gebannt.
Sie »schaffen« zunächst der in den Körper geschlüpften Seele das
Verhängnis, daher althochdeutsch Skeffarun, Skephentu, Schepfen, noch
bei Michael Behaim »Geschöpfen«*): »es ist die alte Prädestinationslehre
unserer Vorfahren«7); daher auch die Ergebenheit in das »Kismet«8). —
Die von ihnen verhängte Vorherbestimmung wird angedeutet durch ge-
wisse Zeichen, wie weiße Flecke auf den Nägeln: nornaspur, Nornen-
marke 9).
In dem Moment, in dem sie schaffen, dem der Geburt, sind sie allen-
falls noch zu beeinflussen, da erhalten sie deshalb Speiseopfer 10) ; sonst sind
sie beleidigt, wie das das Märchen oft in der Erzählung von den ge-
kränkten Feen widerspiegelt. (Doch ist die Nornagestsaga mit ihrer ent-
sprechenden Motivierung vielleicht von der Meleagersage beeinflußt11).
Die Kindbetterin ißt auf den Faröern ihre »Nornengrütze« (Grütze mit
Honig) als erste Speise, um sich die Nornen beim gemeinschaftlichen
Mahl zu verpflichten 12).
*) Prell er 1, 533.
2) Vgl. Golther S. 108, Meyer S. 254, Mogk S. 281.
3) Vgl. Golther S. 108.
*) Golther S. 104.
5) Meyer S. 252 f.
6) Meyer S. 252.
7) Mogk S. 283.
8) Vgl. z. B. Helg. Hjörv. Str. 33.
9) Mogk S. 283.
10) Meyer S. 257, Mogk S. 283.
J1) Meyer S. 256, Mogk S. 283.
!) Vgl. Meyer S. 257, Golther S. 107.
12
j56 Viertes Kapitel.
Nachher spinnen die Nornen nur noch das Schicksal ab. Natürlich
ist es unlogisch, daß man das feststehende Schicksal doch noch durch
Gebet und Opfer, Entschluß und Gelübde zu ändern sucht; aber so un-
logisch ist man überall bei Prädestinationsglaube und islamitischem
Fatalismus. — Das Schicksal ist das Abgesponnene1). Sie begleiten so
den Menschen mit ihren Bestimmungen, ihrem urlagu, dem jeden ein-
zelnen »Auferlegten«; über jedem hängt ihr gewiofu, Gewebe2). Da
sie das Geschick ungleich verteilen, sind sie dem Unterliegenden »böse
Schicksalsgöttinnen«3): sie lassen den Krieger straucheln und fallen, sie
entscheiden über seinen Ausgang. All das tun sie kollektiv; sie nach
Art der Elfen4) in gute und böse Nornen zu teilen, sind wir nicht be-
rechtigt.
Ihre Erscheinung ist die heiliger großer Frauen; »mächtige
Mädchen« werden sie in der eddischen Weltgeschichte genannt, für die
mit ihrem Erscheinen die prähistorische, schicksalslose Zeit aufhört5).
Später wird ihr Sitz am Urdarbrunnen unter Yggdrasill, der Welteschd
ausgemalt6), eine charakteristisch junge Anschauung: während ursprünglich
die Nornen (wie noch im Märchen die Feen) an die Wiege des Neu-
geborenen treten, so daß ihre Wohnung gleichgiltig ist wie die der
Dämonen, richtet die ordnungsliebende Theologie der christlichen Periode
ein Schicksalsbureau ein und zentralisiert die Verteilung der Geschicke!
Eine solche zentrale »Weltpost« hat freilich Carl Spitteler, der
Schweizer Dichter, geistvoll erfunden7) — aber das ist eben »kosmische
Dichtung« modernen Stils ; wie viel tiefer erfaßte der mythologische Sinn
Goethes8) die Bedingungen der Schicksalsmächte, als er9) die »Mütter«
»in ewig leerer Ferne« thronen ließ, dort, wohin man weder sinkt noch
steigt — im raumlosen Raum. Weder die Moiren 10) noch die leise um-
gehende Ate n) oder Aisa oder ihre römischen Nachbildungen 12) haben
einen festen Sitz; sie schweben in der Luft, wie noch für unsere Vor-
stellung ein Verhängnis »über uns hängt«, sie existieren sozusagen nur, wenn
sie erscheinen und wirken. Und so werden sie natürlich nur in jenen
x) Vgl. Helg. Hund. 1, 2; Mogk S. 282, Meyer S. 256.
2) Golther S. 105.
3) tälar disir, Reg. Str. 24.
4) Mit Golther S. 105.
B) Vol. Str. 8.
6) Vol. Str. 20; vgl. Golther S. 106, Meyer S. 253.
7) »Balladen«, Zürich 1896, S. 9.
8) Vgl. Brunnhofer, Goethes Bildkraft.
9) Faust II v. 1627 f.
10) Preller 1, 530f.
11) Ebd. S. 539.
12) Wissowa S. 213.
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 157
pathetischen Momenten sichtbar, in denen auch wir das Schicksal am
Werk sehen: Geburt, Hochzeit, Schlacht, Tod1); und dann in feierlicher
Weise2).
Sie haben Verwandtschaft im Wesen mit den Fylgjur und mit den
Walküren als Bestimmerinnen des Todes3), aber sie sind allgemeiner,
gewissermaßen nur »Geister des persönlichen Schicksals«. An die
Elementargeister, zu denen sie in gewissem Sinne gehören, erinnern sie
durch ihre Formlosigkeit, an die Götter schon durch die moralische An-
färbung, mehr noch durch ihre Macht und deren Alleinbesitz.
Im Norden entwickelt sich Urd in weiterer Spezialisierung geradezu
zur Todesgöttin; ebenso wird auch im Heliand ihr Name verwandt4).
Andere Spezialisierungen begegnen im Volksglauben: in Bayern soll von
ihnen eine weiß, eine halb weiß halb schwarz, eine ganz schwarz sein5).
Besonders merkwürdig, aber gewiß jung ist jener Versuch, das erste
Auftreten der Nornen zu datieren; mit dem Erscheinen der drei über-
mächtigen Mädchen aus dem Riesen lande beginnt eine neue Epoche der
Weltgeschichte 6) : das Chaos wird durch eine strenge Folge der Ereignisse
ersetzt. — Jung ist auch die Übertragung anderer Funktionen an die hohen
Gottheiten: sie sollen für Fruchtbarkeit, Ehe7) u. a. sorgen.
Natürlich bemüht man sich, den Entschluß der Nornen zu erraten.
Im Grund versucht das jede Wahrsagerei ; speziell ist aber ein halbmond-
förmiger Schein an der Hauswand als Vorzeichen großen Sterbens8) als
Urdarmdni, Urds Mond, benannt9).
2. Göttliche Wesen, die in das Gefolge der Götter gehören 10) sind
die Walküren.
Sie sind vielleicht erst eine jüngere Entwicklung aus den — noch
ganz unbestimmt gefaßten, ungezählten — Nornen. Sie bilden ein be-
sonders schwieriges Problem der altgermanischen Religionsgeschichte11).
Wie die Nornen verhängen auch sie Schicksal — aber nur in Einer
x) Vgl. Preller S. 530.
2) Golther S. 106, Meyer S. 254.
3) Mogk S. 283.
4) Golther S. 107.
5) Meyer S. 252.
6) Vol. Str. 8.
7) Meyer S. 258 f.
8) Vgl. die feurige Schrift an der Wand bei Belsazars Festmahl.
9) Meyer S. 258.
10) Vgl. allgemein Prell er 1,475 f.: die Hören, Chariten, Musen, Nike, Iris,
Hebe, Ganymedes u. a. : Wissowa S. 120 f.
n)Golther S. 109, 315, Meyer S. 267, Chantepie S. 304, Mogk S. 269;
ferner Golther, Der Valkyrjenmythus , Abh. Münch. Akad. d. Wiss., Bd. 18;
2, 4011, Schullerus, PBB. 12, 221 f.; vgl. Hoffory, Eddastudien, S. 126f.
I^g Viertes Kapitel.
Form: als Tod, und zwar noch weiter spezialisiert: als Schlachtentod.
Wie sie durch die Luft reiten und töten, erinnern sie an die Hexen1)
und die Maren, die » Walriderske «, Totenreiterinnen, von denen Mogk 2)
sie ganz und gar — unter Bezugnahme auf die kriegerischen Frauen
des germanischen Altertums — ableitet, wie Golther3) von den Nornen.
Ich glaube, daß wir sie auf eine andere Entwicklungsbasis stellen müssen.
Es scheint möglich, folgende Entwicklung zu verfolgen:
a) Gemeingermanisch ist die Vorstellung von »weisen Frauen«
vorhanden: altnordisch disir, althochdeutsch idisi4). Sie sind Göttinnen
des Heeres- oder Schlachtenschicksals, also Nornen für das Gesamt-
schicksal einer Heeresgemeinde. Wir verstehen sie als solche
aus einer Zeit, die für jedes Einz^lschicksal noch an besondere Nornen
glaubte, wie für jeden Strom, jede Wolke an eine eigene Gottheit.
So schildert sie der berühmte erste Merseburger Spruch 5) — eins der
so ungemein spärlichen, ganz sicheren Denkmäler altgermanischen Heiden-
tums auf deutschem Boden6). Sie werden hier vorgeführt, wie sie
kollektiv jenes Gesamtschicksal entscheiden; sie weben dem Heer das
Schicksal, genau wie anderwärts7) die Nornen dem Einzelnen8). Sie
sitzen, jedenfalls über dem Heere, zu Haupt der Kämpfenden ; wer sie er-
blickt, den schlagen sie mit panischem Schrecken 9). Hier und dahin ver-
teilt, bereiten sie den Sieg des einen Heeres vor (und zwar10) wohl des
befreundeten), indem die eine Gruppe Fesseln bereitet, um die (am
weitesten vorgedrungenen) Feinde zu fesseln, die zweite Gruppe die Masse
des andringenden Heeres zum Stehen bringt, die dritte sich mit den
Fesseln der (hinter der Front des feindlichen Heeres befindlichen) Ge-
fangenen zu tun macht — woran dann der Segen anknüpft, der irgend-
einem befreundeten, von den Feinden gefangenen Krieger zur Freiheit
verhelfen soll11). Sie beschäftigen sich also mit drei entsprechenden
s) Mogk S. 271.
2) S. 269; vgl. Golther S. 119. 3) S. 109.
4) Golther S. 104 f., Mogk S. 270.
B) Müllenhoff und Scherer, Denkmäler IV 1.
6) Vgl. Meyer S. 270, Golther S. 110, Koegel, Gesch. d. d. Lit., Straße
bürg 1894; 1, 85; v. Grienberger, Zeitschr. f. d. Phil. 27, 433f.; Helm,
PBB. 35, 312.
7) Helg. Hund. 1, 2 f.
8) Helgi, vgl. Eddica Minora S. Lf.
9) Häv. Str. 128.
10) Gegen MSD. 3 Anm. S. 44 und Wallner, Zeitschr. f. d. Phil. 50, 214,
wo übrigens eine interessante tschechische Parallele. Die schönste Schilderung
in dem Walkürenlied der Njälssaga.
n) Häv. Str. 149. Dieser Zauber zur Befreiung Gefangener ist im Altertum
so besonders beiiebt, »daß sich ein eigener terminus technicus (feapolvra) für
sie bildete. Reitzenstein, Arch. f. Rel.-Wissensch. 8. 181.
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 159
3ruppen: der Vorhut, dem Heer, der Nachhut mit den Gefangenen.
Überall ist aber ihre Tätigkeit wesentlich von der gleichen Art: wie die
dornen »spinnen«, so »binden« sie, binden den Feind oder das Heer,
binden die Fesseln des gefangenen Freundes los1); und so entscheiden sie
die Schlacht. — Nach solchen Schlachtjungfrauen2) heißt die älteste
benannte Schlachtstätte der einheimischen deutschen Kriegsgeschichte:
Idisiaviso, die Wiese, über der die Schlachtgöttinnen gewaltet haben —
campus Martins.
b) Von diesen un charakterisiert auftretenden — vielleicht dreimal
drei3) — weiblichen Dämonen, den Idisen, hat sich nun nach allge-
meiner, unzweifelhaft zutreffender Meinung eine Gruppe später zu vollerer
Individualität ausgebildet. Der Schaar nämlich, die das feindliche Heer
hemmt, entspricht die altnordische Herfjötur, die Göttin des panischen
Schreckens, der das Heer lähmt, wenn er plötzlich über einen "kommt4).
Sie ist also aus einer Idisengruppe oder aus diesen überhaupt kollekti-
viert; erst in späterer Zeit scheint aus den »Heerfesslerinnen« die eine
»Heerfessel« geworden zu sein5). Solche Einzelgestalten scheinen aber
schon früh mehrfach aus den Idisen entwickelt. Derartige individualisierte
Schlachtengottheiten sind vielleicht dieVihansa (in Tongern), der Schild
und Speer geweiht werden; die Hariasa (in Köln), die Harimella
(am Hadrianswall) ; die Baduhenna, der die Friesen 28 n. Chr. im
Hain 900 Römer schlachteten — Feinde, um deren Fesselung sich also
die Idise erfolgreich bemüht hatten6). Von der gleichen Art ist aber
auch im Norden Thorgerd, eine Göttin, die das feindliche Heer durch
Gewittersturm hemmt 7).
Am wahrscheinlichsten ist es, daß dies die individualisierten Gott-
heiten einzelner Schlachten waren; etwa wie Epaminondas Leuktra und
Mantinea als seine überlebenden Töchter bezeichnete. So werden bei den
Römern die Victorien der einzelnen Feldherren »als Verkörperung ihrer
persönlichen Siegesskraft gefaßt« 8), und so möchte jene Thorgerd Hölga-
brud9) ursprünglich »die Geliebte des Feldherrn Helgi« sein, einer Victoria
Sullana genau entsprechend10).
*) Man denke noch an Schillers Jungfrau von Orleans im Gefängnis.
2) Zur Ethymologie von idis vgl. v. Grien berger a. a. O. S. 440.
3) MSD 3 S. 44 vgl. Mythologie S. 392.
4) Golther S. 113f., Meyer S. 270.
B) Problematisch sind die »Götter der zitternden Angst und des blassen
Schreckens« bei den Römern, Pavor und Pallor (Wissowa S. 135).
6) Vgl. für diese Gottheiten Meyer S. 267 f.; s. u.
7) Vgl. Meyer S. 273; s. u.
8) Wissowa S. 128.
9) Golther S. 482.
10) Napoleon nannte den Marschall Massena »Venfant cheri de la victoire«.
150 Viertes Kapitel.
Diese Schlachtengöttinnen sind also Nornen, und man darf nicht mit
Koegel J) sagen, sie seien Walküren. Denn die Idise sind ja noch nicht
Todesbotinnen, vielmehr zum Teil sogar in rettender Tätigkeit dargestellt.
Aber sie werden Walküren. Später allerdings treten die Walküren in diese
individualisierte Funktion ein nnd werden in dem Liede von der Brävalla-
schlacht direkt nach Orten benannt2). Diese gemeingermanischen Gott-
heiten werden wie die Nornen 3) nach der Analogie der weiblichen Hand-
arbeit geschildert: daher heißt ihre Arbeit »Siegesgewebe«, »Speergewebe«.
Mit irischem, phantastischem Realismus wird das in dem Liede auf die
Schlacht von Clontarf zwischen Brian von Irland und seinem Sohn
Sigtrygg4) geschildert:
»Ein Mann zu Caithnes in Schottland sah zwölf Frauen in eine Kammer
reiten und darin verschwinden. Durch ein Fenster beobachtete er, wie die Frauen
ein Gewebe aufgespannt hatten, wobei Menschenhäupter als Gewichte, Menschen-
därme als Aufzug und Einschlag, Schwerter als Spule und Pfeile als Kamm
dienten. Bei ihrem Geschäfte sangen sie unter anderem: »Mit Schwertern
schlagen wir dieses Siegesgewebe. Hildr, Hjorthrimul, Sangridr, Svipul kamen
zu weben mit gezogenen Schwertern. Schaft wird zerkrachen, Schild zerbersten,
die Axt in die Rüstung dringen. Winden wir, winden wir das Gewebe des
Speeres! Folgen wir dem König (dem siegreichen Sigtrygg)! Blutige Schilde
wird man sehen, da Gunnr und Gonduli dem Könige halfen. Winden wir, winden
wir das Gewebe des Speeres, das der junge König vor sich hatte ! Voran wollen
wir gehen und in die Schlachtreihe schreiten, wo unsere Freunde die Waffen
kreuzen. Winden wir, winden wir das Gewebe des Speeres, wo die Fahnen
kämpfender Männer wehen! Nicht lassen wir zu, daß sein (Sigtryggs) Leben
vergehe. Die Walküren haben des Kampfes Kür (eigu valkyrjur vals um kosti).
Die Nordleute sollen siegen und die Iren unterliegen. Das Gewebe ist gewoben,
das Feld gerötet. Schrecklich anzusehen ziehen blutige Wolken am Himmel.
Wohl sangen wir dem jungen König viele Siegeslieder. Nun reiten wir auf den
Hengsten mit gezogenen Schwertern fort von hier.« Da rissen sie das Gewebe von
oben herunter und jede behielt, was sie festhielt. Hierauf bestiegen sie ihre
Hengste, sechs ritten südwärts, sechs nordwärts.«
Allerdings ist hier, wie schon die Benennung der Walküren zeigt,
der Obergang zu dieser spezifisch nordischen Bildung bereits vollzogen.
Schon für die Idise wird man als Rangzeichen annehmen dürfen,
daß sie durch Luft und Meer reiten5), d. h. daß sie überall reiten können;
wo sollten sich sonst die Gottheiten des Merseburger Spruches aufhalten? —
Sie genießen als Kult die in den Sagas oft erwähnten dfsablöt,
l) a. a. O. S. 89. PBB. 16, 502.
*) Haidr von Hedeby, Vebjörg von Viborg: Olrik, Ark. f. nord. Fil. 10,
N. F. 6, S. 277. — Über antike Personifikation von Örtlichkeiten Steudig in
Roschers Lexikon 2, 2, 2078.
3) Golther S. 111.
4) Ebd.
5) Mogk S. 270.
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 161
Opfer an heilige Frauen *), nicht selten, wie Thorgerd, grausige Menschen-
opfer.
c) Aus diesen Heer-Nornen, die auch nach der individualisierenden
Hypostase einzelner (wie etwa der Harimella) fortdauern, entwickelt sich
die altnordische valkyrja, angelsächsisch waelkyrje2); daneben auch
angelsächsisch sigewif, altnordisch sigrmeyjar , siegspendende Frauen,
geirvif, hjdlmvitr, Speerschwingerinnen, Helmträgerinnen 3). — Es scheint
mir nicht nötig, sie an Amazonen und weibliche Kämpferinnen4) anzu-
lehnen. Vielmehr scheint einfach eine Entwicklung vorzuliegen, die der-
jenigen der reinen Nornen parallel läuft: wie diese aus Schicksalsgott-
heiten Todesgottheiten werden, so werden die Schlachtenjungfrauen Gott-
heiten des Schlachtentodes. Daß sie etwas nach den wirklich kämpfenden
»Schildmädchen« der Norweger und Dänen5) stilisiert werden, ist damit
gewiß nicht ausgeschlossen; ebenso erstreckt sich die Namengebung mit
Kriegsworten (-wig, -hild, -gund, hadu-) und Waffenbezeichnungen (ger,
Speer, briinne, Panzer, heim) sowohl auf menschliche Jungfrauen wie
auf Walküren.
Die Walküren verkünden (im Traum)6) und geben den Schlachtentod.
In dieser Funktion sind sie erst der späteren Entwicklung der heroischen
Zeit bei Angelsachsen und Skandinaviern eigen.
Erst nachdem der Wodankult herrschend geworden war, werden sie zu
ihm als Dienerinnen des Schlachtgottes7) in nähere Beziehungen
getreten sein. Freilich gehört Nike von Anfang an zu Zeus8) und soll
Victoria nur eine Emanation des Juppiter sein9); aber diese allegorischen
Abstraktionen sind eben mit den pluralischen »Siegesgöttinnen« nicht ein-
fach gleichzusetzen. — Nachdem sich vollends das Dogma festgesetzt hat,
nur der Schlachtentod führe zu den Göttern, werden sie Lieblinge der
Sagenbildung; man könnte sie in diesem Sinne die Nymphen der Wikinger
nennen. Das heroische Lieblingsmotiv von dem wegen Ungehorsam ver-
bannten Helden (Cid, Herzog Ernst) wird nun (wie ich glaube) im Norden
auf die Heldenmädchen übertragen, um den alten Mythus von der durch den
Drachentöter befreiten Sonnenjungfrau 10) psychologisch zu verdeutlichen.
!) Mogk S. 385.
2) Mogk S. 269; der altenglische Ausdruck vielleicht aus dem altnordischen
entnommen, Golther S. 109.
3) Ebd.
4) Vgl. Mogk S. 269, Golther S. 323.
5) Meyer S. 268.
6) Golther S. 113.
7) Weinhold bei Golther S. 328 Anm.
8) Preller 1, 494.
9) Wissowa S. 127.
10) Hartland, The legend of Perseus.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 11
]62 Viertes Kapitel.
Freilich war dieser für heroische Umformung besonders geeignete Mythus
vielleicht schon vorher durch die Anpassung an die Sagen vom berg-
entrückten Helden (lectulus Brunihildae, der Feldberg) hindurchgegangen
aber das Ungehorsamsmotiv scheint spezifisch nordisch. (Eine religions-
geschichtliche Reminiszenz: Widerstand der ursprünglichen freien Göttinnen
gegen den neuen Obergott, möchte ich in diesem Motiv nicht erblicken.)
Ferner (oder gleichzeitig) hängt sich auch an sie (wie an die Nymphen)
erotische Novellistik : sie kommen in Liebesabenteuer zu Helden *) oder
Einheriern 2). Wie die Riesen und andere Lieblingsgestalten der Volks-
phantasie erhalten sie bezeichnende Einzelnamen3). Im übrigen sind sie
noch immer die alten Nornen und weben das Gewebe der Schlacht4);
daher haben sie auch noch immer Verwandtschaft mit den Elementar-
geistern und träufeln Blutregen herab.
d) Jung scheint das Maß der Verehrung, durch das Einzelwalküren
wie Thorgerd und Irpa (wenn sie so aufzufassen sind) fast zu göttlicher
Höhe aufwachsen. Doch ist vielleicht schon die alte Gottheit Badu-
henna 5) so zu erklären. Zweifelhaft bleibt auch das Nachleben der
Walküre in der heiligen Gertrud6), die freilich einen Walkürennamen
trägt7). —
Schwanenjungfrauen8) sind halbgöttliche Wesen mit dem Rang-
zeichen des Schwanenkleids (das die Wanengöttin Freyja ebenfalls besitzt9),
der Gabe des Gestaltentausches und der Wahrsagung, und mit großer An-
näherung an Menschenart. Golther10) erklärt sie für Walküren, und un-
zweifelhaft stehen sie diesen nahe; aber während der Walküre die Gabe,
durch Luft und Meer zu reiten, immanent ist H), bleibt sie bei den Schwanen-
jungfrauen an ihr zaubermäßiges Attribut gebunden. Da Gestalten dieser
Art sich über die ganze Welt verbreitet finden12), wird man sie für
*) Sigdrm; vgl. Golther S. 320.
2) Helg. Hund. 1, 39; vgl. ebd. S. 323.
8) Mogk S. 271.
4) Valkyrjenlied der Njälssaga ebd.
5) Siehe u. ,
6) Meyer S. 271.
7) Eine streng systematische Anordnung müßte die Walküren den Schwanen-
jungfrauen nachstellen, weil sie näher in die Umgebung der Götter gehören;
doch ist das Wesen der Schwanenjungfrauen nur zu verstehen, wenn man sich
zuvor über dasjenige der Walküren klar geworden ist.
8) Mogk* S. 284, Meyer S. 272, Golther S. 114 f., 321, Chantepie S. 304,
Gering, Weissagung und Zauberei, S. 15.
9) Thrymskvida Str. 3 f.
10) S. 321.
»1 Helg. Hund. 2 zu Str. 5.
12) Zeitschr. f. d. Phil. 32, 137; vgl. für den Raub des Rangzeichens Wundt,
2, 3, 149.
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 163
älter als die spezifisch nordischen Walküren halten müssen. Dafür
spricht noch manches: eben das Zaubermäßige; der Massencharakter1);
endlich das Schwanken zwischen Tier- und Menschengestalt. Auch
fehlt ihnen recht im Gegensatz zu den auf den Kampf eingeschränkten
Walküren jede spezielle Kompetenz; es sei denn, daß es die der Wahr-
sagung wäre.
Man könnte sie vielleicht als ursprüngliche Wasserfrauen auffassen;
wie denn auch die mit ihnen gewiß verwandten Hadburg und Siglint im
Nibelungenlied, die Hagen durch Wegnahme des Vogelgewandes zum
Prophezeien zwingt2), »Meerweiber« genannt werden3). Sie wären dann
wohl Nymphen stiller, von den Schwänen belebter Gewässer; und auch
der Schwan selbst gilt als Sänger und Verkünder4). Vielleicht sah man
in den Schwänen Hypostasen der sonst unsichtbaren Wasserjungfrauen, die
nur in diesem Kleid ihre volle Bewegungsfreiheit besaßen.
Jedenfalls aber sind sie früh in die stärkere Kategorie der Walküren
aufgegangen; in der Prosa vor der Völundarkvida heißt es geradezu: »in
der Nähe lagen ihre Schwanenhemden , denn sie waren Walküren« —
und doch spinnen sie Flachs, was gewiß kein Geschäft für Walküren ist.
Ebenso denkt sich der Dichter der Helreid Brynhild als Walküre, wenn
er5) erzählt, wie ein König sie und ihre Schwestern zwang, indem er
ihre Schwanenhemden verbarg. — Nur aus dieser Identifizierung ist es
auch zu erklären, daß die drei Schwanenjnngfrauen der Vkv. (alle mit
»Walkürennamen«) schließlich doch fortfliegen, obwohl ihnen das Schwanen-
kleid fehlt; oder soll man denken, es sei in sieben Wintern nach-
gewachsen 6) ?
Auch das teilen sie mit den Walküren, daß sie in Liebesabenteuer
Üit sterblichen Männern verwickelt werden ; doch auch hier wieder bleibt
iarieben ein Gegensatz: die Walküren werben, die Schwanenjungfrauen
werden umworben und ergeben sich ungern. Zu den Göttern stehen
sie nicht (wie Thorgerd zu Thor, die anderen Walküren zu Odin) in Be-
ziehung. — Zusammenfassend definieren wir sie vielleicht am besten als
ursprüngliche Flußnymphen, die wegen der Ähnlichkeit ihrer novellistischen
Schicksale (Liebe^, Verbannung, Befreiung) den Walküren angeglichen
wurden.
*) Bei den Banks-Insulanern sind es »einige Frauen«, in unserer Völundar-
<vida in mythologischer Arithmetik drei, Helr. Str. 7 acht.
2) Wie Menelaos ähnlich den Meergeist Proteus, vgl. Prell er 1, 609.
3) Vgl. Meyer S. 272; die Namen sind wohl »echte Walkürennamen«, aber
doch vor allem den heroischen Namen der Krimhild und Brünhild angepaßt.
4) Müllenhoff, Deutsche Altertumskunde 1, 2.
B) Helr. Str. 7.
6) Vgl. Niedner, Ztsch. f. d. Alt. 33, 27.
164 Viertes Kapitel.
Es wäre aber nicht unmöglich, daß in die gleiche Kategorie mit den
drei Schwan enmädchen der Völundarkvida auch Völund selbst gehörte.
Sind sie nämlich ursprünglich Elementargeister des fließenden Wassers, so
ist für diese ja das Vorhandensein männlicher neben weiblichen Dämonen
überall bezeugt. Für »Schwanenjünglinge« fehlt allerdings ein direkter
Beleg. Denn die Sage vom Schwanenritter ist »für mythologische Zwecke
unverwendbar« *), mag sie auch auf ältere Züge zurückgehen. Unter diesen
sind nun freilich einige mythischen Ursprungs dringend verdächtig: dei
Ritter mit dem Schwan war vorher Ritter und Schwan zugleich2), wie
bei solchen Attributgeschöpfen ja fast a priori zu behaupten wäre; unc
Märchen wie das schöne von den sieben Raben3) und besonders vor
den sechs Schwänen4) hängen wohl unzweifelhaft mit den Schwanen
Jungfrauen zusammen 5). Und so könnte auch Wieland selbst eir
Schwanenjüngiing gewesen sein. Der »elfische« Ursprung6) ist ja un-
bestritten ; die Kunstfertigkeit des Meisterschmieds hat man immer darau
zurückgeführt. Man kann, glaube ich, in der mythischen Rekonstruktion
weitergehen.
Uraltes indogermanisches Motiv ist die Legende von dem dienender
Gott oder Halbgott, der sich rächt. Ich führe nur einige Bei-
spiele an : Simson bei den Philistern, Jahve selbst bei ihnen 7), Poseidon
und Apollon bei Laomedon8) und Sigurd bei Regin. In der Regel wirc
die Knechtschaft durch eine Schuld motiviert, so bei Apollon9), oder die
Knechtschaft ist vom Schicksal verhängt wie bei Herakles. Als Variante
des Dienstes tritt die Gefangenschaft auf, wieder mit (späterer) Schuldsage
kombiniert oder vielmehr motiviert bei Ares10), ohne sie bei der Ver-
bannung des Hephaistos und seinem Höhlenleben n). Das letztere hai
man ja mit Völunds Leben längst kombiniert 12), und in der Tat sind die|
Übereinstimmungen schlagend und zahlreich: die gewaltsame Lähmung,
der einsame Verbannungsort, die kunstreiche Arbeit des Verbannten, viel i
leicht (ich glaube es nicht) auch die Nachstellung, durch die er Athen(
überwältigt wie Völund die Baduhild. So wird eine uralte mythische
Grundlage kaum zu bezweifeln sein. Aber welche Form besaß sie? unc
') Blöte, Ztschr. f. d. Alt. 42, 44.
2) Ebd. S. 20 Anm. 4.
3) Kinder- und Hausmärchen N. 25. 4) Ebd. N. 49.
5) W. Grimm ebd. B. 3 zu N. 49.
6) Vkv. Str. 11: »der Eibenfürst«.
7) Dibelius, Die Lade Jahves, Göttingen 1906, S. 18.
8) Preller 2, 234.
9) Wogegen sein Hirtenleben bei Admet nach starker Betonung der Frei
Willigkeit als Freundschaft aufzufassen ist; ebd. 1, 270; 2, 316.
,0) Ebd. 1, 105. ») Ebd. 1, 175.
ia) Vgl. z. B. Niedner, Zschr. f. d. Alt. 33, 46; Much, Himmelsgott, S. 235
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 165
gehörten Hephaistos, der Feuerdämon, und Wieland, der Eibenfürst und
Schütze1), wirklich gleichem Ursprung an?
Einige wichtige Züge unterscheiden doch beide Mythen. Eins vor
allem: bei Hephaistos (wie bei Ares) fehlt die Rache, die bei Poseidon,
Ares, Sigurd, Völund die eigentliche Pointe bildet und in dem Erschrecken
des Eurystheus vor dem von Herakles gebrachten Höllenhund wenigstens
angedeutet scheint. Sie ist auch vorhanden in jenem anderen griechischen
Mythos, den man oft mit dem von Wieland verglichen hat, dem von
: Daidalos 2). Auch dieser kunstfertige Wundermann ist in der Verbannung
bei König Minos, flieht von ihm und verursacht den Tod seines Ver-
folgers8). Und zwar entflieht er wie Wieland durch die Luft. Kann man
zweifeln, daß die Wachsflügel späte rationalistische Antwort auf die Frage
sind, wie er fliegen konnte? und weshalb er sich nicht eher rettete, wenn
er es konnte? — dieselben Fragen, die die Völundarkvida aufwerfen läßt.
Ich glaube, die Urgeschichte Völunds4) läßt sich nunmehr rekonstruieren.
Sie scheint mir durch folgende Phasen zu laufen:
1. Ein elfischer Goldschmied wird von einem König in seine Dienste
gezwungen, indem dieser ihn seines Schwanenhemdes beraubt. Nun sitzt
er auf der einsamen Insel und arbeitet für den König. Aber er kommt
wieder in den Besitz der Flügel. Nun kann er sich an dem König rächen
und dann entfliehen — indogermanischer Mythos.
2. Die Gefangennahme, die Rache, der Wiedergewinn der Flugkraft
werden ausgemalt. So bei den Hellenen: Vorgeschichte des Daidalos.
So bei den Germanen : Fesselung an den Sehnen — märchenhafte Rache
(das Motiv des Machandelbooms; die Überwältigung der Königstochter in
typischer Weise5), Schilderung des aufsteigenden Völund) urgermanischer
Mythos6), (Daß Daidalos sowohl wie Wieland7) vorher einen Mord be-
gehen, wird zufällige Übereinstimmung sein.)
3. Hinzutreten weiterer Märchenmotive. So bei den Hellenen 8) ; so bei
den Germanen: die Episode von den 700 Ringen9). — Insbesondere
J) Vgl. Niedner S. 34.
2) Preller 2, 498. 3) Ebd. 2, 122.
4) Zum Namen vgl. Much S. 238.
5) Vgl. Niedner S. 40; Häv. Str. 105.
6) Vgl. den angelsächsischen Bericht und dazu Niedner S. 36.
7) Vgl. ebd. S. 36. 38.
8) Kallimachos : Prell er 2, 123 Anm. 2.
9) Vgl. Niedner S. 26. Ursprünglich war der eine geraubte Ring wohl
ein vervielfältigender Zauberring wie der Andvaris (Reg. zu Str. 4) und die anderen
werden abgestreift, um ihn ausfindig zu machen. Es läge dann das Märchen-
motiv der Vervielfältigung eines gesuchten Gegenstandes vor, wie in der Ring-
parabel oder dem Märchen von der Bienenkönigin (KHM. N. 62; Parallelen bei
Reinhold Köhler, Schriften 1, 403), wie mir J. Bolte nachweist.
Ißß Viertes Kapitel.
werden verwandte Motive adoptiert: von dem Ikaros, der zum Himmel
fliegen wollte; von dem Wunderschützen Egil — altnordische Legende.
4. Schließlich wird noch die alte Sage von dem Schwanenjüngling|
mit der von dem Schwanenmädchen kombiniert. Deörs Klage weiß noch!
nichts davon1), und so erklärt sich auch die Verwirrung in den Doppel-!
namen der Schwanenjungfrauen 2) am einfachsten. Daß er »um einesl
Weibes willen« verbannt worden sei, ist im altgermanischen Lied nur
eine Konjektur Greins, die allerdings auch Niedner3) billigt. Müssen
wir nicht auch gestehen, daß das Motiv des in einsamer Sehnsucht nach
dem Weibe sich verzehrenden Mannes, so stark es auch gerade auf uns
wirkt und der Völundarkvida besondere Gunst sichert, schwerlich viel
älter sein kann als die wunderschöne, aber doch entschieden (die Stoß-
seufzer!) romantisch sentimentale Völundarkvida selbst? Die Klage der
Frau kennt das indische Gedicht Meghadhuta so gut wie das so benannte
angelsächsische Gedicht ; aber ein Held, der sich nach der Geliebten sehnt
wie Epimetheus nach Pandora — kann das ein alter Sagenzug sein ? Wie
»Witwe« ein indogermanisches Wort ist, »Witwer« eine junge Nach-
bildung, so scheint die Sehnsucht des Mannes der der Frau nach-
gebildet — nachgebildet erst, als die Völundarkvida alte Lieder von den
Schwanenjungfrauen und von Völunds Rache an Nidhod4) verschmolz;
wobei noch besonders an den erotischen Ton der Legenden von Wasser-
dämonen zu erinnern ist, und für die Verführung der Baduhild noch besonders
an die von den »Elfen« eingeschmuggelten Wechselbälge5). Und so also
wäre als jüngstes Produkt der Bildung, in dem die Erzählungen von
Schwanenjungfrauen sich merkwürdig genug wieder mit denen von einem
ursprünglichen Schwanenjüngling zusammenfinden, unsere Völundarkvida
entstanden.
Uns kommt es ja an dieser Stelle nur darauf an, in Wieland einen
ursprünglichen Halbgott von der Art der Schwanenjungfrauen nach-
zuweisen: wie diese durch sein Rangzeichen (Schwanenhemd, Schwanen-
ring, Schwanenflügel) des Fliegens fähig und wie sie nach der erzwungenen
Verbannung unter den Menschen in die himmlische Heimat zurück-
kehrend ; anderen Dämonen nahe verwandt wie Daidalos dem Hephaistos,
aber von ihnen durch die starke Menschenähnlichkeit, durch die Individuali-
sierung und psychologische Ausmalung und Ausdeutung der Schicksale (die
doch typisch bleiben)6) unterschieden. — Zu den »Elfen« gehört Völund
nicht: die sind nicht so stark und grausam; die Beziehung zum Element
*) Niedner S. 35.
2) Vgl. ebd. S. 26. 3) S. 38.
4) Niedner S. 44.
fi) Vgl. z. B. Meyer S. 154. 181.
6) Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 40, auch S. 477.
§ 15. Halbgöttliche Wesen. 167
ist ganz gelockert; heroische Motive (Liebe zur Königstochter; die neidische
Königin) sind hineingetragen — aber das Entscheidende blieb : Verbannnug
(d. h. Aufenthalt unter den Menschen wie bei Hephaistos und Othinus),
Kunstfertigkeit, die Rache — und vor allem die Flugkraft. —
Die letzte hierher gehörige Figur ist vielleicht Mimir1). Der Name
ist wohl mit memor verwandt: der »Denker« oder der »Sinnende«2),
Er ist3) ursprünglich wohl ein Quellgeist, und zwar, da er bei Saxo
als Quellgeist auftritt, der Geist der still rauschenden Waldquelle. Später,
nur im Norden, wird seine Waldquelle an die Esche Yggdrasill (Mima-
meidr , Mimirs Baum) verlegt und er selbst wird der Aufbewahrungs-
ort der Weisheit Odins — der Fetisch des Gottes. Auf die mytho-
logische Dittographie wiesen wir schon hin, daß das »Haupt« des Flusses,
die Quelle, also Mimir selbst, in das »Haupt Mimirs« verwandelt wird4). —
Bereits gemeingermanisch aber ist seine Verehrung durch Ortsnamen wie
Mimigerdaford (Münster), Mimileba (Memleben an der Unstrut) bezeugt 5).
Neben diesem Mimir geht wieder ein Schmied Mime einher6); sind
sie verwandt? wäre auch dieser Wassergeist ursprünglich kunstfertig ge-
wesen ?
Ein nordischer Mythus erzählt nun auch, wie Odin sich Mimirs
Weisheit gesichert habe: indem er sein eines Auge hergab7). Aber ur-
sprünglich hat er Mimirs Haupt ganz anders zum Sprechen gebracht8):
durch Bedrohung mit Helm und Schwert. Man wird deshalb v/ohl die
naturmythische Deutung auf die versinkende Sonne9) ebenso entschieden
abweisen müssen wie die euhemeristische Erzählung der Heimskringla10),
die den fetischistischen Charakter des Hauptes ausarbeitet: die Äsen hätten
dem ihnen feindlichen weisen Ratgeber der Wanen das Haupt abgeschlagen,
Odin aber habe es einbalsamiert. Vielmehr wird in jener »Pfandsetzung«
des Auges lediglich ein mythologisch-symbolischer Ausdruck für Odins
Selbstaufopferung um der Runenfindung willen n) zu sehen sein.
Rekapitulieren wir, so erscheint als sicher, daß Mimir ein gemein-
germanischer kollektiver Geist der wahrsagenden Waldquellen war, und
daß er erst im Norden zum geistigen Schwerthalter oder Büchsenspanner
Odins wurde. Wahrscheinlich mußte der höchste Gott ihn zum ersten
») Meyer S. 275, Golther S. 179 f. 346, Mogk S. 305, U hl and,
Schriften 6, 199.
2) Golther S. 179. 3) Siehe o. S. 103.
4) »Mimling«, Sohn des Mimo oder Mimilo, ein Flüßchen im Odenwald.
Golther S. 179.
5) Ebd.
•) Golther S. 180, Meyer S. 280, Mogk S. 305.
7) Vgl. Mogk S. 342. 8) Sgdr. Str. 14.
9) z. B. Mogk S. 342. 10) Ebd. S. 306.
") Vgl. Häv. Str. 138f.
158 Viertes Kapitel.
Öffnen des Mundes zwingen, wie Proteus und andere prophezeiende
Wassergeister durch Gewalt zum Reden gebracht werden müssen: Odin
stand auf dem Berg (wo die Waldquelle entspringt?) in voller Rüstung und
bedrohte den Geist wie Skfrnir die Gerd x) mit dem Schwert bedroht 2). —
Meyer zieht3) auch Loki hierher; wir rechnen dies »absonderliche
Mittel wesen« doch lieber zu den Göttern. Freilich hat er kein eigenes
»Heim« in der Edda4); aber dies Rangzeichen der Götter ist jung und
fehlt auch Nebengöttern wie Sif. — Dagegen wären Nebengötter wie
Skfrnir oder Fulla eigentlich hier zu behandeln, die wir aber über-
sichtlicher ihren Gottheiten zuordnen5).
§ 16. Die Götter.
Die Götter6) heißen gelegentlich »allmächtig«, sind aber tatsächlich in
bestimmte Grenzen gebannt, selbst abgesehen von der auch für sie un-
verbrüchlichen Herrschaft des Schicksals. (Wie diese mit dem »freien
Willen« der Götter sich verträgt, darüber haben natürlich die altgermanischen
Theologen noch nicht spekuliert!) Potentiell sind sie stärker als andere
') Skirn. Str. 23 f.
2) Heinzel-Detter, Edda 2, 432, werfen sogar die Frage auf, ob Odin
Mimirs Haupt abgeschlagen habe; aber sollte das Haupt eines sprachkundigen
Dämonen im Augenblicke des Todes zum erstenmal reden? Anders wäre es bei
nicht sprechenden Geschöpfen, wie Falada im Märchen. — An das Haupt der
Medusa wurde schon insofern erinnert, als sein Gebrauch zu Zauberzwecken — .
es versteinert den Gegner — zu der fetischistischen Auffassnng von Mimirs Haupt
in der Heimskringla stimmt. Wenn das Medusenhaupt dann als »Kern der
Aegis« (Preller 1, 193) der schreckende Brustschmuck der Athena wird, so liegt
hier allerdings eine Verbindung zwischen dem Dämonenkopf und einer Haupt-
gottheit vor, die an die zwischen Mimirs Haupt und Odin merkwürdig erinnert,
aber doch ohne daß eine innere Übereinstimmung vorhanden wäre.
3) S. 275. 4) Grim. Str. 4f.
B) Eine besondere merkwürdige Gruppe von halbgöttlichen Wesen fehlt der
germanischen wie den meisten indogermanischen Mythologien. Der hellenischen
Mythologie ist nämlich eine Kategorie eigentümlich, die man als die der Sehe in -
götter bezeichnen könnte: Menschen, die sich Attribute der Gottheiten anmaßen
und dafür zugrunde gehen: Ikaros (die Flugkraft), Semele (das Schauen der un-
verhüllten Gottheit), Kapaneus, diese seltsame komödiantische Figur mit ihrem
Theaterdonner (Zeus' Donner und Blitz), Tithonos (Unsterblichkeit), Sisyphos
und Ixion (die sich an Gottheiten vergreifen) — endlich als höchster Typus der
Gattung Prometheus, für den auch Ad. Kuhn bei seiner Gleichsetzung mit dem
indischen Mätaricvan — an die wir schwerlich noch glauben dürfen — wenigstens
eine geistigere Bedeutung nicht leugnet (Mytholog. Studien 1, 19). — Wenn uns
früh von Religionsspöttern im Norden erzählt wird, so ist das natürlich etwas
anderes.
6) Allgemeine Charakteristik bei W. Müller, Gesch. u. System der altd.
Religion, S. 147f., J. v. Negelein, Germ. Mythologie, S. 12f.; vgl. J. Grimm,
Mythologie 1, 81 f.
§ 16. Die Götter. 169
Wesen, aber nur wenn sie im Vollbesitz ihrer Kraft sind ; dazu muß ins-
besondere Thor in seine Asenkraft fahren x) — was die Berserker nur
im Rausch der Wut erlangen, ist für die starken Götter eigentlich das
Normale. Ebenso sind sie potentiell allwissend, aber auch hier muß zu
der allgemeinen Anlage die Erfüllung einer speziellen Bedingung hinzu-
treten: sie müssen ihren Wartturm Hlidskjälf2) besteigen, dann übersehen
sie die Welt wie der Schustermeister Pfriem im Märchen, wenn er am
Himmelsfenster sitzt. — Aber auch diese allgemeinen Eigenschaften sind
vorzugsweise in einzelnen Göttern domiziliert: die Kraft in Thor (und
Widar), die (relative) Allwissenheit in Odin (und Heimdall).
Es gibt also kein ausschließlich den Göttern eigenes Rangzeichen
(wie daß die indischen Götter nicht schwitzen, die hellenischen in Nebel
erscheinen und verschwinden); denn Stärke, Wissen, Weisheit eignet auch
Riesen und Dämonen, so daß sogar die Götter selbst zu ihnen Zuflucht
nehmen (Mimir; Vafthrüdnir ist stark und weise zugleich). Aber ihre
höchsten Leistungen übersteigen alles, was andere Wesen vermögen; so
die Weltschöpfung, die Runenfindung, das Herstellen von wunderbaren
Tieren (wogegen wunderbare Dinge auch von Elfen und Zwergen ge-
schaffen werden). Vielleicht darf man sagen, daß ihnen das bewußte Neu-
schaffen vorbehalten ist; wie nach mittelalterlicher Anschauung der Teufel
»auch keine Laus schaffen kann«3). Doch ist nicht jeder Gott schaffend;
man könnte fast die indische Dreiteilung nachahmen und die Götter in
schaffende (Odin, Frey); erhaltende (Thor) und zerstörende (Loki) ein-
teilen. — Doch treffen unsere allgemeinen Regeln über Götterkennzeichen 4)
wenigstens für die meisten Götter zu. Insbesondere besitzen sie fast aus-
nahmslos Attribute, deren Bestimmtheit und Singularität sie charakterisiert.
Doch macht auch hierin wieder Loki eine Ausnahme.
Die Götter werden nur in lebendiger Tätigkeit (oder deren Vorbereitung:
in der Ratsversammlung, beim Festmahl) gesehen 5). Diese Tätigkeit ist wie
bei den Menschen vorzugsweise eine kriegerische sei es im Interesse des
J) Vgl. z. B. Gering, Edda, S. 362.
2) Vgl. z. B. die Einleitung zu Grim., Gering S. 69.
3) Vielleicht ist ein Nachhall dieser Anschauung darin zu sehen, daß die
ägyptischen Zauberer nicht wie Moses als Gottes Vertreter Mücken schaffen
können (2. Mos. 8, 14) ; freilich machen sie Schlangen und Frösche, aber das sind
Thiere, die am Boden haften, gleichsam nur halb lebendige Geschöpfe. — Heine,
Schöpfungslieder (Werke her. v. E 1 s t e r 2, 252) :
Und der Gott sprach zu dem Teufel:
Ich der Herr kopier' mich selber . . . .
Nach den Menschen mach ich Affen;
Aber du kannst gar nichts schaffen.
4) Siehe o. S. 38 f.
) Deshalb sind ihre Namen gern partizipial. Siehe u.
j7Q Viertes Kapitel.
Götterstaates, sei es einzelner zu ihnen in Beziehung stehender Menschen.
Doch sehen wir sie auch im geistigen Kampf, in heilbringender Tätigkeit, in
Liebesabenteuern. Ihr Leben gleicht dem der Edelinge, und die Schilderung
des Konr ungr1) umschreibt im wesentlichen auch ihre Arbeit: sie zaubern
mit Runen und streiten um deren Kunde2), verstehen die Sprache der
Vögel, stillen Meer und Feuer, heilen Schmerzen, ziehen umher (besonders
Thor). Wenn Herman Grimm die Olympier mit den Aristokraten des
Anden regime verglichen hat, sind die Äsen eher mit einem patriarchalischen
Landadel zu vergleichen. Wie die Landedelleute (und überhaupt die freien
alten Germanen des Tacitus) sind sie viel in beschaulicher Ruhe; nur
Thor ist immer geschäftig, ist wie Uhlands Schenk von Limburg nie zu
Hause, und Loki macht sich immer zu schaffen. Der moralische Grundzug
ist viel stärker als bei den Göttern Homers ausgeprägt; wie auf Erden
wurzelt er in dem Gedanken der Sippentreue, der freilich so wenig
zwischen Odin und Thor wie zwischen Arminius und seiner Sippe Haß
und Anfeindung ausschließt. — Die Vorstellung ihrer »Heime«, freilich
gewiß jünger, ist ganz die eines adligen Geschlechts, das über ein weites
Gebiet verstreut, jeder auf seinem eigenen Hof und doch alle in festem
Zusammenhang, auf ererbtem Boden sitzt und seine Untergebenen regiert8).
Diese Geschlossenheit des Götterstaates ist ein letztes wichtiges
Kriterium. Man gehört eben entweder dazu oder nicht — den einzigen
unfaßbar hin und her schlüpfenden Loki ausgenommen. Die Götter eint
bei schroffen inneren Gegensätzen doch ein starkes Stammgefühl — auch
dies wie bei einem Adel mit lebhaften Intrigen innen und lebhafterem
esprit de corps nach außen.
Immerhin werden jene Gegensätze stark gefühlt und »durch die
ganze Eddamythologie geht das Bestreben, die wichtigsten Göttertypen
zu charakterisieren: Thor ist durch seine Stärke ausgezeichnet, aber ihm
fehlt Überlegung und Geistesgegenwart; Odin tritt dem gegenüber als
Gott der Klugheit auf« 4). Überall hat sich aus einer Reihe von Göttern
allmählich ein einigermaßen geschlossenes System psychologischer Typen
gebildet: der Starke, der Schlaue, der Schnelle; die Liebende, die Kühle;
der Heitere, der Düstere — eine Gruppe, wie Goethe sie in den Römischen
Elegien geschildert — eine Truppe, wie er in »Wilhelm Meister« sie als
Abbild der menschlichen Gesellschaft angestellt hat5).
*) Rig. Str. 44 f. '-') Vaf., Alv.
8) Vgl. u. Kap. VI: Weltregierung«.
4) Olrik, Danske Studier 1908, S. 135.
B) Im finnischen Epos heißt Lemminkäien immer »der frohe, der muntere«
(J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 90). In der Edda heißen Ägir (Hym Str. 2) und,
sonderbar genug, Eggther (Völ. Str. 42) »heiter«. Vgl. auch u. §. 32 »Charakte-
ristik der Götter«.
§ 16. Die Götter. 171
In ihrem Verkehr mit den Menschen gebrauchen sie vor allem ihre
physische und geistige Überlegenheit; daneben aber auch wie die Menschen
selbst menschliche Mittel: Kampf, Überredung, List1), Allianzen; zauber-
hafte Mittel2): Runen, Sprüche8). Vorzugsweise ist der Zauber bei ihnen
auf die Belebung gerichtet: der Wundereber erneut sich selbst4),
Andvaris Ring tropft seinesgleichen 5), das Bier trägt sich selbst auf 6), die
Äcker werden einst unbesät tragen 7).
Wie unter dem Adel sind auch hier noch Stufen zu unterscheiden
und der engere Kreis des Odin, des Thor, des Frey dominiert so stark
wie die Richelieu und Rohan im alten Frankreich oder die Mocenigo und
Morosini im alten Venedig. Wir müssen deshalb hier nochmals Haupt-
und Nebengötter scheiden, obwohl sich die Trennung nicht überall sicher
durchführen läßt. Die Untergötter stellen wir, wie die Vasallen zu ihren
Feudalherren, zu ihren Obergöttern.
Es bleibt noch einiges zur allgemeinen Charakteristik zu be-
merken 8).
Der vermenschlichte Gottesbegriff ist gegenüber dem form-
losen Geisterbegriff ein Fortschritt wie später der »reine« Monotheismus
gegenüber dem anthropomorphisierenden Polytheismus. Dieser Gegen-
satz zwischen Göttern und bloßen Dämonen wird von den Germanen
stärker empfunden als irgend sonst9); sei es, weil bei uns die Gestalt-
losigkeit der Geister noch weiter hinter menschenähnlicher Form zurück-
bleibt als bei den Hellenen (aber freilich weniger als bei Indern und
Römern), sei es, weil die Germanen immer scharfe Scheidung der Rang-
stufen lieben, im staatlichen und gesellschaftlichen Leben wie in der
Sprache (Akzentgesetz!) Diese scharfe Scheidung zeigt sich vor allem in
dem letzten Kampfe, wo die beiden »Ordnungsparteien«, Götter und
Menschen, in bewußter Solidarität allein zusammenstehen, während die
Dämonen teils feindlich, teils neutral sind 10). Übrigens gilt es den Ger-
manen nicht, wie später den Hellenen, als »Sünde«, dem kämpfenden
x) Odinschwank; Thrymskvida.
2) Vgl. Ztsch. f. d. Phil. 37, 323.
3) Merseburger Spruch; Häv.
4) Grim. Str. 18.
5) Reg. Str. 6.
6) Einleitung zu Lok.
7) Vol. Str. 62; anderes von märchenhaftem Charakter v. d. Leyen S. 56 f.
8) Vgl. Golther S. 192f., Meyer S. 283f., Mogk S. 312f., Chanteprie
S. 282f., W. Müller s. o. Vgl. z. B. für die vedischen Götter Macdonell S. 15.
9) Verhältnis zu den Naturgeistern Meyer S. 283.
10) Dagegen können die Olympier den Sieg über die Giganten nur mit Hilfe
zweier von sterblichen Müttern geborenen Helden, Dionysos und Herakles, ge-
winnen; Preller 1, 73.
172 Viertes Kapitel.
Gott kämpfend entgegenzutreten: fas est belligerum hello prostemere
divum l).
Es gibt kein indogermanisches Wort2) für »Gott«3); doch bringt
Brugmann gotisch guth, althochdeutsch god , altnordisch gud mit freög
deus zusammen4). Andere stellen die germanische Benennung wohl
besser zu sanskritisch ghü anrufen oder der Wurzel hu opfern. Die
Götter als die, die man anruft — das wäre wohl die beste Bezeichnung,
weil nur sie von Staatswegen angerufen werden : opfern kann jeder einzelne
jedem Geist. — Das Wort hat ein sekundäres »motiviertes« Femininum,
»Göttin«, von alter Zeit her neben sich.
Spezifisch germanisch ist sicher das vielumstrittene Wort Sing, dss,
Plur. aesir, angelsächsisch Plur. 4se , als gemeingermanisch aber auch
durch Eigennamen mit Ans- hochdeutsch (Ansgar), Os- niederdeutsch
(Oskar), As- altnordisch bezeugt. Es bezeichnet jedenfalls eine spezielle
Kategorie von Göttern, die von den gleichfalls göttlichen Wanen (alt-
nordisch vanir zu altsächsisch wanami, Tageshelle? ; jedenfalls bedeutet
der Name »die Hellen«, »die Glänzenden«)5) scharf geschieden werden.
Wir haben zwar die Nachricht, daß die Goten ihren Adel auf die »Halb-
götter, die sie Äsen nennen« (semideos id est ansis, Jordanis)6) zurück-
führen, aber diese Benennung ist wohl euhemeristisch zu verstehen: alle
alten Hauptgötter gehören zu den Äsen. Man stellt das Wort zu sanskritisch
dsu, altpersisch anhu, » Lebensgeist '« bez. »Herr«1), zu gotisch ansts,
»Gnade«: »die Gnädigen«, oder auch zu gotisch ans, Balken, Trag-
balken — sei es, daß dabei an ein wirkliches Tragen des Himmels-
gewölbes8) zu denken wäre oder an den Tragbalken des Tempels. Aber
die Äsen tragen den Himmel nicht, und das Wort ist wohl älter als die
festen Tempelbauten (und überdies waren die Götterbilder nicht an den
Tragbalken angebracht).
Andere Bezeichnungen sind tivar, die Glänzenden / regin, rögn,
die Berater (der Senat der Welt), band, hapt, Fesseln — was etwa
das bedeuten soll, »was die Welt im Innersten zusammenhält«, und somit
der metaphorischen Bedeutung von ans bedenklich nahe käme9). Viel-
leicht beziehen sich diese Skaldenausdrücke auch auf das Fesseln im
1) Saxo her. Holder 66, 23; vgl. meine Altgerm. Poesie S. 457.
2) Golther S. 195, Meyer S. 285; vgl. Mogk S. 312f.
3) Vgl. o. S. 51 f.; Mogk a. a. O.
4) Vgl. auch Hench, PBB. 21, 562.
B) Vgl. Golther S. 220 Anm.
6) Vgl. ebd. S. 194; auch S. 93 Anm.
7) Mogk S. 313.
8) Wie bei Atlas, Preller 1, 561.
9) Vgl. Mogk S. 312-13, Meyer S. 285, Golther S. 194 f.
§ 16. Die Götter. 173
heiligen Hain1). Daneben herrschen allerlei Ausdrücke, die von ihrer
Schicksalsmacht entlehnt sind wie metod u. dgl. 2).
Die Gestalt8) ist ausgesprochen menschlich; kraftvoll, doch ohne
riesische Formlosigkeit4). Dennoch stehen sie den Riesen und Dämonen
nicht in göttlicher Schönheit gegenüber wie auf dem Fries von Pergamon ;
vielmehr ist ihre Gestalt öfters entstellt: »Wodan hat nur ein Auge, Ziu
eine Hand, Donar zeichnet sich durch eine Schädelverletzung aus5), die
Bewährung von Tapferkeit und Hingabe wird stärker gewertet als die Voll-
kommenheit der Erscheinung6), das Ethische höher als das Ästhetische7).
Übrigens sind sie in Typen abgestuft, freilich nicht zu einer so voll-
kommen abgerundeten Tonfolge wie die Olympier8). Aber von dem
trotzigen Bauernhelden Thor führt doch über den strengen Heerkönig Odin
zu dem schönen Jüngling Frey und dem strahlenden Liebling Balder
eine Stufenreihe auch des ästhetischen Empfindens; und zwar ist sie wie in
aller Mythologie bei den Göttern stärker nuanciert als bei den Göttinnen —
bei denen selbst in Hellas das Urteil des Paris die Schwierigkeit der
ästhetischen Wertbemessung zeigt9).
Die Götter besitzen die Fähigkeit der Verwandlung; besonders treten sie
in menschlichen Rollen auf: Odin als Kämpfer, Bettler, Ferge. Der eigent-
liche Verwandlungskünstler ist aber Loki. Diese Kunst wird humoristisch
ausgebeutet in dem alten Mythus der Hamarsheimt. — Besonders Loki
nimmt gern auch Tiergestalt an, mehr in märchenhaft freier Erfindung
als in dämon istisch er oder animistischer Symbolik. Häufiger aber tritt die
Tiergestalt komitativ auf: begleitende Tiere werden zu Attributen (Odins
Raben, Thors Ziegenbock, Freys Eber usw.), doch sind sie zuweilen auch
von anderen Göttern begleitet 10). Noch wichtiger aber als Attribute sind
die belebten Gegenstände, die oft an ihre (fetischistische) Urgestalt er-
x) Tac. Germ. cap. 39; vgl. u.
2) Siehe o. S. 54.
3) Meyer S. 285, Golther S. 196.
4) Keine Mehrhäuptigkeit und Mehrarmigkeit (Meyer S. 283), wie sie doch
bei indischen Gottheiten die Regel ist; hat sich doch selbst bei den Hellenen
»das Wesen, an dem wir die Breite der Gottheit lesen« in seiner Vielbrüstigkeit
erhalten.
B) Negelein S. 16.
6) Übrigens soll es auch einen Zeus ohne Ohren gegeben haben: Preller
1, 155.
7) Es sind typische Verluste in der heroischen Sage; vgl. Heinzel, Über
die Walthersage, Wiener Sitzgs.-Ber. 1888, S. 86. Asmond lähmt Haddings Bein,
Saxo S. 27 Herr mann S. 331.
8) Goethes elfte Römische Elegie.
9) Vgl. allgemein Golther S. 197.
10) Meyer S. 286.
174 Viertes Kapitel.
jnnern: der Hammer Thors, Odins Speer, die Äpfel der (jüngeren) Idun.
Die Götter als die höchsten Erscheinungen der mytho-
logischen Welt haben in der Regel auch die längste Vor-
geschichte; daher darf man sich nicht wundern, bei ihnen zuweilen
Atavismen zu treffen, die in fernere Epochen zurückführen, als bei
niedriger stehenden Geistern vorkommt. — Zuweilen dienen die Attribute
auch einem theologischen Zweck: ein Teil der göttlichen Kraft ist in
ihnen deponiert, Odins Schnelligkeit in seinem (ungestalten, achtbeinigen)
Roß Sleipnir, Thors Stärke in seinem Gürtel und Handschuh, auch Odins
Weisheit zum Teil in Mimirs Haupt1).
Was die Erscheinungsform2) der Götter betrifft, so gehen sie
unter den Menschen zuweilen »inkognito« um, besonders Odin, auch
Heimdall-Rig. Zumeist aber erscheinen sie »offiziell«; ein solches Offenbar-
werden bezeichnen wir als »Epiphanie« des Gottes. Sie reiten oder gehen,
nur Thor fährt. Ein besonderer Glanz geht von ihnen nicht (wie oft von
griechischen oder indischen Gottheiten) aus; dagegen machen sie sich
akustisch bemerkbar, und die Erde erdröhnt von ihrem Ritt oder ihrer
Fahrt. Niemals, außer im letzten Kampf, treten sie in größeren Gruppen
auf, selten (wie in der Thrymskvida) zu zweit; nur über die Brücke Bifröst
reitet Odin mit großem — aber nicht göttlichem — Gefolge in die Toten-
halle. Sie können wie alle Geister auf Anruf erscheinen oder aus eigenem
Willen. Wenn sie verkleidet erscheinen, verschwinden sie plötzlich, ohne
die von Lessing im Laokoon erörterten Hilfsmittel des Nebels usw. Wie
Golther bemerkt, scheint es dafür einen gemeingermanischen Terminus
gegeben zu haben: hverfa altnordisch, eine kreisförmige Bewegung
machen, sich wenden.
Ihr Leben ist verschieden: nur zum Teil sind sie von vornherein da,
zum Teil werden sie geboren (wie Zeus und viele Gottheiten). Aber sie
wachsen nach der Geburt schnell und überspringen das Knaben- und
Mädchenalter; sobald sie die dx/nrj erreicht haben, bleiben sie in ihr stehen.
Sie schlafen — so Thor auf seinen Fahrten — : daß Heimdali fast keinen
Schlaf braucht, wird besonders hervorgehoben. Sie leiden unter wechselnden
Stimmungen, Zorn (Thor), Liebe (Frey), auch Furcht (Thor in Utgard)
und Besorgnis (die Äsen bei den Anzeichen des Weltgerichts); eigentliche
Krankheiten aber schreibt ihnen wohl erst die Zeit des Snorri zu3). Sie
brauchen Nahrung, und zwar dieselbe wie die Menschen: Thor verzehrt4)
nicht Ambrosia, sondern einen Ochsen und acht Lachse nnd trinkt nicht
*) Vgl. Meyer a. a. O.
2j Golther S. 198.
3) Vgl. allgemein J. Grimm, Mythologie 1, 275.
4) Thrymskv. Str. 24.
§ 16. Die Götter. 175
Nektar, sondern drei Tonnen Met; und bei Ägirs Gastmahl trägt das Bier
sich selbst auf. Heimdali trinkt in Behagen vergnüglich den guten Met l).
Auch die Einherier freuen sich an dem würzigen Speck des unsterblichen
Ebers2). Hier aber wird für Odin eine Ausnahme gemacht: »doch von
Wein allein lebt der waffengeschmückte Odin alle Zeit« 3) — was schon
unseren Strachwitz belustigte:
Ihm dient zu Speis' und Tranke
Der flüssige Rubin —
Das war kein schlechter Gedanke,
Du alter Herr Odin!
In der Tat ist das wohl ein jüngerer Zug, ersonnen, als eine theologisch
angefärbte Epoche die Majestät des Obergottes glaubte erhöhen zu müssen ;
denn in dem wunderbaren Liede von der Runenfindung4) klagt der
Gott, man habe ihm weder ein Hörn zum Trinken noch Brot zum Essen
gereicht5). Und es wird ihm ja sogar6) nacherzählt, er habe sich be-
trunken — wie Indra7) — und doch wohl in Bier8). Wohl scheinen
diese Schwanke jünger, aber wenn Odin nur Wein tränke, hätten sie auf
ihn so wenig erfunden werden können wie auf Johannes Baptista — es
sei denn von einem ungeschickten Aufschneider wie in dem Heriger-
Schwank9). — Wenn das Härbardslied 10) in burlesker Spottlust Thor Hafer-
grütze und Hering essen läßt, ist das natürlich kein ernstes Zeugnis.
Indra ist vom Opfertrank berauscht, und auch die hellenischen Götter
sprechen gern von der Opfernahrung; bei den altgermanischen Göttern
ist davon nicht die Rede.
Ihr Leben dauert viel länger als das der Menschen, ist aber nicht
unbegrenzt ; die Verjüngungsäpfel der Idun und den — problematischen —
Verjüngungstrank Odrerir11) halten wir für ganz junge Erfindungen. Denn
auch die Götter stehen unter dem Spruch der Nornen und müssen ein-
mal vergehen.
*) Grim. Str. 13.
2) Grim. Str. 18; vgl. Gering S. 329.
3) Grim. Str. 19.
4) Häv. Str. 138 f.
5) Dies bleibt doch wohl die natürlichste Auffassung, trotz Heinzel-Detter
Edda 2, 141; der Einwand: »was bedarf ein Gehängter Speise und Trank?« wird
ja schon durch die Passionsgeschichte beantwortet. — Nur bildlich heißt es Völ.
Str. 38, Odin trinke Met aus Mimirs Quelle.
6) Häv. Str. 14.
7) Rigveda 20, 119: Geldner-Kaegi, 70 Lieder des Rigveda, S. 81.
8) Häv. Str. 11.
9) Müllenhoff und Scherer Denkmäler N. XXV.
10) Str. 13.
n) Vgl. Golther S. 197.
176 Viertes Kapitel.
Wohnung haben sie im Himmel oder auf Bergen. Zunächst besitzen
sie auch ein gemeinschaftliches Heim, Asgard, das inmitten der Erde steht
wie der Olympos1); vielleicht dachte man es sich im Norden, wohin die
Nordleute bei Gebet und Opfer schauten 2) wie die Mohamedaner gen
Mekka. — Jünger scheint die Verteilung auf »Heime« — das »heilige
Land« der Götter wird8) »eine weite mit Burgen besetzte Landschaft von
durchaus nicht isländischem oder norwegischen, sondern altirischen Stil«.
Diese Götterstadt setzt bereits die Zwölfzahl der Hauptgötter voraus und
kann schon deshalb erst in die Periode der Systematisierung fallen, was
das höhere Alter eines oder des anderen »Heims« nicht ausschließt. So
hat Heimdall, der Wächter der Götter, wohl früh sein eigenes Heim ge-
habt; für Thor wird es wenigstens durch die Alvfssmäl vorausgesetzt.
Die Heime sind nach dem Muster von Tempeln der betreffenden Götter
stilisiert4). — Das Luginsland der Götter, Hlidskjälf, wird als allgemein
zugänglich gedacht5), es ist wohl als ein Berg in Asgard vorzustellen6).
Eine Obersicht der Heime gehört an andere Stelle7).
Die Zahl ist zunächst unbestimmt8), bis sich allmählich (wohl sicher
nach antikem Vorbild) die Zwölfzahl durchsetzt9). Nach den Grimnismäl
sind es neun Götter und drei Göttinnen: Thor, Ullr, Frey, Odin, Balder,
Heimdall, Forseti, Njörd, Widar — Saga, Freyja, Skadi, »wobei nament-
lich die Abwesenheit Tyrs und Friggs auffällt, wenn diese nicht in
der Saga verborgen ist« 10). Alt dagegen scheint (wie bei den Hellenen :
Zeus, Athena, Apollon bei Homer11) die Dreizahl der »Schwurgötter«.
Thor, Odin, Frey12), wie denn auch sonst (wie überall) Triaden be-
gegnen.
Ebenso schwankt die Rangordnung13): Tyr ist vom Hochsitz ver-
drängt, Odin und Thor kämpfen um den Vorrang. — Rangzeichen
der Hauptgötter ist Macht über die anderen; doch hat in der parti-
*) Golther S. 200.
2) Meyer S. 292.
3) Ebd.
4) Ztsch. f. d. Phil. 38, 174.
5) Einl. zu Grim, zu Skirn.
6) Vgl. Gylf. cap. 19; bei Gering S. 304.
') Siehe u. § 27.
8) Meyer S. 289, Golther S. 199.
9) Siehe u. § 33.
10) Meyer S. 291. Das olympische System umfaßt sechs Götterpaare
(Prell er 1, 119); auch bei den Indern kommt die Zwölfzahl als Durchgang von
sechs zur Vielheit vor (Meyer S. 291).
») Preller a. a. O.
12) Meyer S. 290.
n) Golther S. 199. h
§ 16. Die Götter. 177
kularistischen Anschauung der Germanen Odin entfernt nicht die Ober-
macht des Zeus und würde keinen Hephaistos aus dem Olymp entfernen
können — von der goldenen Kette gar nicht erst zu reden. Entsprechend
ist das Rangzeichen der niederen Götter ihr dienendes Ver-
hältnis zu anderen: »Skirnir ist Freyrs Schutzknecht, Fulla der Frigg
Kammermagd« *). Oft sind das aber .nur frühere Gestalten der Haupt-
götter.
Die Gemütsart der Götter wird von Meyer2) und Golther3) gut
charakterisiert. Es sind freundliche Aristokraten, weise, aber nicht über-
weise; in ihren Gemütsäußerungen durchaus menschlich: Thor lacht und
zürnt und hat Gesten des Unwillens wie die irischen Helden4); Frey
sehnt sich5) wie ein verliebter Jüngling; Odin und Frigg zanken und
intrigieren gegeneinander6). Überhaupt sind die im Himmel geschlossenen
Ehen bei den Germanen so oft unglücklich wie bei den Hellenen (Zeus
und Hera, Aphrodite und Hephaistos), was freilich bei der aus Staats-
räson (wie am Ende der Kudrun- und sonst in der Heldendichtung)
bewirkten Verbindung des Wanen Njörd mit der (finnischen?) Riesen-
tochter Skadi 7) nicht befremden kann. — Freundschaftsverhältnisse mit
Menschen bringen es nicht (wie bei Apollon und Admet) zu hohen
Jahren 8).
Das Verhältnis der Menschen zu den Göttern darf man sich nicht
zu romantisch vorstellen. Praktische Rücksichten und offizielles Pflicht-
gefühl haben gewiß hier schon ihren Anteil an Kult und Gebet. Enthusiasmus
scheinen nur Odin und Thor, vereinzelt auch persönliche Patrone wie die
Thorgerd erweckt zu haben. Dagegen ist ein gemütlich-despektierliches
Verhältnis wie in den Scherzlegenden des Mittelalters, wo St. Petrus den
Thor beerbt, nicht selten; mögen auch Hymiskvida, Härbardsljöd,
Lokasenna verhältnismäßig jung sein — sie waren doch wohl schon
in heidnischer Zeit möglich (was von der Geschichte von Utgard schwer-
lich gilt). In der Thrymskvida (und auch den Alvfssmäl) mischt sich
diese heitere Vertraulichkeit echtgermanisch mit schöner Freude an der
hohen Göttergestalt, etwa wie bei den Anekdoten von Friedrich dem
Großen 9).
') Golther S. 199.
2) S. 287.
3) S. 197.
4) Olrik, Nordisches Leben, S. 81. 139.
5) Skirn.
6) Sage vom Ursprung des Langobardennamens ; Grim.
7) Gylfag. cap. 23; bes. Gering S. 317.
8) Vgl. Grimnismäl ; Völsungensage.
9) Vgl. meine »Deutsche Charaktere« S. 25 f..
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 12
♦
17$ Viertes Kapitel.
§ 17. Hauptgötter.
Wir versuchen die Hauptgötter in historischer Folge vorzuführen J).
Von den Indogermanen stammt der Himmelsgott *Tiwaz; anderen
germanischen Göttern kann indogermanischer Ursprung nur insofern zu-
geschrieben werden, als sie aus Fetischen oder Geistern der ältesten
Periode hervorgegangen sein können.
Sicher gemeingermanisch sind außer Tiwaz-Tyr noch Wodan,
Thonar, Frigg; wahrscheinlich ist es auch Balder, für den jedoch auch
rein nordischer Ursprung behauptet wird.
Nur einem Teil der Germanen außerhalb des Nordens scheinen die
Wanen gehört zu haben, die dann nach Skandinavien kommen.
Endlich spezifisch westgermanisch sind die (vermutlich vom römischen
Kult beeinflußten) Gottheiten der Grenzgebiete (besonders die »Matronen«);
spezifisch nordisch eine ganze Reihe von Gottheiten der Edda, die zum
Teil sogar auf noch engere Gebiete beschränkt scheinen.
Es versteht sich, daß diese Angaben »nur bis auf Widerruf« giltig
sind: so könnte eines Tags etwa Frey oder Heimdali auf westgermanischem
Boden nachgewiesen werden. Doch scheint dies bei einigen Gottheiten
fast undenkbar; besonders bei den von finnischem Einfluß nicht freien
wie Skädi.
Tyr2).
Urgermanisch *Tiuz. Fest steht zweierlei: der germanische *Tiuz
ist identisch mit dem indischen Djaus, griechischen Ztvg, lateinischen
Ju-piter. Allerdings ist auch dies angefochten worden: Bremer3) setzt als
germanische Urform *Tiwaz = lateinisch divus, indisch diva »Gott«, was I
Koegel4) mit gutem Grunde zurückweist5). Dies ist der indogermanische,]
Gott des Himmels, vor allem des hellen Tageshimmels. Ferner steht fest, j|
daß bei den Germanen der entsprechende Gott zum Kriegsgott (alt- \
nordisch Tyr) geworden ist. Schon Tacitus hat 6) die Dreiheit Mercurius, I
Mars, Herkules, die kaum anders als auf Wodan, Tyr, Thor gedeutet werden
kann. Hierzu stimmen auch alle Zeugnisse aufs beste; so auch besonders,
daß der dies Martis (französisch Mardi) von den Germanen dem Tiu,
althochdeutsch Zio, geweiht wurde: Ziestag, später Dienstag7).
*) Vgl. Mogk S. 312 u. s. u. Kap. VII.
2) Hoffory, Eddastudien, S. 144 f.; Golther S. 200f.; Meyer S. 338 f.;
Mogk S. 313 f.; R. Much, Der germ. Himmelsgott: Abhandlungen zur Germ.
Phil., Halle 1898, S. 189f.
2) Idg. Forsch. 3, 301 f.
8) Gesch. d. d. Lit. I, 14.
*) Ebs. Meyer a. a. O.; Much S. 190; vgl. Golther S. 200 Anm.
5) Germ. cap. 9.
«) Vgl. Deutsches Wörterbuch 2, 1119, Andresen, Ztsch. f. d. Alt. 30, 415,
Golther a. a. O.
§ 17. Hauptgötter. 179
Wie vollzog sich diese keineswegs ohne weiteres verständliche Ver-
änderung? Es ist damit nicht getan, daß man auf den besonders kriegerischen
Sinn der Germanen hinweist. Denn davon abgesehen, daß die Römer
und die Perser eben auch keine Friedensvölker waren, erscheint doch als
die einfachste Art, solchen Sinn mythologisch zu betätigen, die, daß man
den Kriegsgott zum Hauptgott macht (wie es Mars in gewissem Sinne in
Rom war1). Weshalb aber dem Himmelsgott diese Funktion geben?
Und entspricht es wirklich dem »besonders kriegerischen Sinn" der alten
Germanen, daß dieser Gott dann vielfach (nicht überall, z. B. nicht bei
den Sueben) hinter einem anderen zurücktritt?
Konstruktionen sind natürlich überall möglich, wenn man Götter-
gestalten so gewaltsam etymologisieren darf, wie ihre Namen es gewohnt
sind2). Versuchen wir statt dessen die historische Entwicklung zu lesen
und zu deuten.
Der indogermanische Himmelsgott ist überall zugleich Gewitter-
gott, gekennzeichnet mit dem Attribut des Blitzes oder Donnerkeils, der
als Versteinerung des Blitzes gilt3). Was ist also genau genommen seine
Funktion ? Wie kommt es, daß er sich überall zum »Vater« und weisen
Hauptgott ausgebildet hat? Ich muß gestehen, daß ich an einen primären
Himmelsgott (wie man ihn allgemein vorauszusetzen scheint) nicht zu
glauben vermag. Der »Himmel« bewegt sich nicht, oder doch nicht für
einfache Wahrnehmung; er kommt mit den Menschen nicht in Berührung;
er ist dem naiven Menschen durchaus uninteressant. Aber aus ihm! heraus
wirken göttliche Wesen, die den Menschen sehr nahe angehen: Wolken-
geister, Gewitterdämonen, vielleicht auch Herren der wichtigeren Gestirne
Wie aus den Wald- oder Wassergeistern, so bildet sich (glaube ich) auch
lier ein »König«, ein »Vater« (was, wie schon bemerkt, weniger ein
moralisch-sentimentaler Ausdruck ist als ein rein genealogischer: er trägt
die anderen in seinem Schoß) — und dieser Herrscher über den
Himmel ist Zeus, der Strahlende.
Man wird einwenden, erstens sei das ja selbst »Konstruktion«, und
zweitens käme es etwa auf die übliche Meinung heraus. Das letztere ist
schließlich richtig: schon für die proethnische Periode der Indogermanen
war dieser Gott der »Himmelsgott«; nur glaube ich, daß er das nicht
von vornherein war, sondern erst wurde: daß auch er animistischen
Ursprungs ist. — Und soweit das Konstruktion ist, stellt es sich wenigstens
in eine Reihe gut bezeugter Analogien. Im übrigen leugne ich das
x) Vgl. Wissowa S. 129f.
2) Vgl. meinen Aufsatz »Die Deutung von Göttergestalten«, Internat
Wochenschrift 3, 1581 f.
3) Vgl. Andree, Ethnograph. Parallelen 2, 30 f.
12*
130 Viertes Kapitel.
Hypothetische meiner Annahme nicht, die auch für das Folgende nicht
absolut nötig ist.
Der »Himmelsgott« steigt zur Erde herab im Blitz (Zeus Keraunos)1).
Seine Spur ist der Donnerkeil, der deshalb heilig ist: in der uralten
römischen Kapelle des Juppiter feretrius steht der heilige Feuerstein (silex)
als Abbild des Donnerkeils (weil er Feuer in sich hegt wie der Blitz) in
göttlicher Verehrung: daher Juppiter Lapis2). Auch bei den Griechen
wird der Blitz selbständig verehrt als »das stärkste göttliche Wesen neben
Zeus«3). Zeus, der Gewittergott, ist also selbst nichts anderes als die
Kollektivierung der einzelnen Blitz-Gelegenheitsgötter. Wir fassen demnach
den indogermanischen Zeus-Jupiter-Tiu als den himmlischen (strahlenden)
Herrn über die Himmelsgeister auf — womit seine Weiterentwicklung
ganz anders verständlich wird, als wenn er ein Naturgeist wäre.
Urgermanisch steht er in höchster Verehrung nach Tacitus. Undenkbar
wäre es nicht, daß er auch mit Sol bei Caesar4) gemeint wäre: Sol als
Herr des hellen Tageshimmels, Luna als Herrin des dunklen Nacht-
himmels5) und zu ihnen vermittelnd der Feuergott. (Man könnte aber auch
in Vulcanus den Thor — um des Hammers willen — sehen.). Aber Tyr ge-
nießt diese Verehrung bei uns von Anfang an — als Kriegsgott. Wie die
Römer umschreiben ihn die Germanen auf ihren Opfersteinen0): Mars
Halamardus, dem ein germanischer Centurio der 29. Legion unter Claudius
einen Stein widmet, ist7) »der männerfällende Tiwaz« ; auf römischen
Votivsteinen im germanischen Gebiet steht er fast durchaus an erster
Stelle8), aber nur als Mars. Als Mars beweist ihn jene Benennung des
Dienstag 9) oder Ziestag, bayrisch Ertag (zu Er, Ear sächsisch-bayrisch
== arya, »zugetan«?)10). Noch im späten Mittelalter übersetzt ein
Isländer in templo Martis mit i Tys hofi, im Tempel des Tyr11). Es
ist also nicht daran zu zweifeln, daß Tyr Kriegsgott war, ausschließlich
Kriegsgott: nichts deutet mehr auf seine Funktion als Himmelsgott (es sei
denn etwa jene interpretatio Romana Caesars als Sol, die ich nicht für
wahrscheinlich halte).
Aber auch das steht fest, daß bei den Germanen der ältesten Zeit
Tyr noch der Hauptgott war: praecipuus deorum Mars12); bei den
*) Vgt. Usener, Keraunos, Rheinisches Museum LX, S. 9.
2) Wissowa S. 103.
3) Vgl. Usener S. 2. *) B. Gall. 6, 2.
5) Vgl. die Anrufung Sgdr. Str. 3.
6) Mogk S. 317.
7) v. Grienberger, Ztsch. f. d. Alt. 37, 389.
8) Zangemeister, Neue Heideb. Jbb. 5, 46f.; Meyer S. 343.
9) Meyer S. 339, Golther S. 206, bes. S. 201 Anm.
10) Mogk S. 316. ") Mogk S. 314.
12) Tac. Ann. 4, 64.
§ 17. Hauptgötter. 181
Skandinaviern war ebenso1) 'AQrjg S-eog ^uyiozog2). Noch in einem Liede
zur Erinnerung an die Schlacht bei Flodden (1513) soll ein Lied mit dem
Kehrreim »Tyr habe uns, Tyr und Odin!« gesungen worden sein, so daß
er noch hier durch Stellung und Doppelnennung vor Odin rangieren
würde3); dies Zeugnis ist freilich schon deshalb bedenklich, weil es von
dem Phantasten Stephens stammt.
Wir haben also nun drei Stufen festgestellt: 1. Tyr Haupt- und
Himmelsgott; 2. Tyr Haupt- und Kriegsgott; 3. Tyr Neben- und
Kriegsgott4).
Ich gehe von der letzten Tatsache aus: von der Entthronung Tyrs
durch Odin. Wir haben für sie eine Parallele an der Verdrängung Thors
aus dem Hochsitz durch Odin, die zu eigentlichen (vielleicht unblutigen?)
Religionskämpfen geführt hat5). An einen solchen Kampf zwischen Tyr-
und Odinverehrern muß man denken ; und tut man das, so erhalten zwei
Volksnamen neue Bedeutung. Zwar daß die Benennung der Suäpa als
Ziuleute alt ist, wird6) mit beachtenswerten Gründen angezweifelt; aber
es wird durch ein Gegenstück gestützt: durch die Benennung der Sachsen.
Daß diese von ihren Dolchschwertern benannt sind, steht fest und ward
noch lange gefühlt, so daß sich Sagen daraus bildeten7). Fest steht aber
auch der Zusammenhang dieses Volksnamens mit dem des Gottes Saxnöt
und weiter dessen Identität mit Tyr8). Nur ist die Art des Zusammen-
hangs fraglich : nennt sich das Volk nach dem Schwert des Gottes 9) oder
heißt er nach seinem Volk10)? Ich glaube: beides fällt zusammen. Nach
einem heiligen Schwert, wie es uns mehrfach bezeugt ist11), hieß der
Gott »Schwertgenoß«; nach diesem Fetisch, der gleichsam der Abgott
ihrer Stammwaffe war, nannte sich das Volk: die Genossen des heiligen
Schwertes. Man wählt in dieser Zeit keine Namen nach interessanten
folkloristischen Eigenarten, und um zum Spitznamen zu dienen (wie die
Hosen der Gallia braccata) war die Waffe zu ernst. Es ist ein Heilig-
tum wie das kreuztragende Schwert der mittelalterlichen Schwertbrüder.
Ziuwäri und Saxones sind Völker, die zu Tyr gegen Odin stehen.
*) Nach Procop. 2) Mogk S. 314.
3) Golther S. 214.
4) Solche Verschiebungen sind nichts Außergewöhnliches. Dyaus scheint
auch bei den Indern durch Indra verdrängt (Macdon eil S. 66) oder dieser hat
Varuna beiseite geschoben (S. 65).
5) Härb.; vgl. u.
«) Golther S. 205; vgl. Mogk S. 314.
7) Much, Ztsch. f. d. Wortforschung 1, 326.
«) Vgl. z. B. Golther S. 213.
9) Mogk S. 317; vgl. Meyer S. 344.
10) Golther S. 214.
n) Mogk S. 317; vgl. o. S. 72.
132 Viertes Kapitel.
Gegen Odin? Allerdings; denn auch nach seiner heiligen Waffe
nennt sich ein Volk: die Langobarden, das Volk der Streitaxt. Barden,
nicht Langobarden ist der echte alte Name x), und von der althochdeutschen
barta, der Hellebarde, ist er abzuleiten2). Die Sage von den »Langen
Barten« also ist erst aus dem späteren Namen herausgesponnen — gerade
wie jene Legende von den verräterischen Dolchen der Sachsen3); und
konnte man diese alte Anekdote4) je für etwas anderes halten als für
eine etymologische Legende5)?
Damals, als Sachsen und Langobarden Nachbarn waren, vor dem
5. Jahrhundert, da muß zwischen ihnen der religiöse Gegensatz bestanden
haben, der sie veranlaßte, sich nach ihren Göttern zu nennen : hie Schwert-
diener — hie Lanzknechte! ein Bekenntnis, das in dem Namen der
Ziuwäri ein Echo fand. Odin erhob sich gegen Tyrs Vorherrschaft, das
tatkräftige junge Langobarden volk leistete ihm Gefolgschaft. Denn — er
hatte ihm eine neue, furchtbare Waffe geschenkt6). Schon die alten
Germanen besaßen einen Spieß, die »framea« : zu fr am, vorwärts;
der Name soll einen Spieß mit kurzem und schmalem, aber sehr scharfem
Eisen bezeichnet haben, der zum Nah- und Fernkampf tauglich war. Wie
sich davon der »ger« unterscheidet, ist unbekannt; das Wort ist auch
gallisch, gaesum, also vielleicht von dort entlehnt« 7). Dies ist die Auf-
fassung auch von Schrader8), der aber gleichzeitig das Wesen des Gers
erklärt: es ist der eiserne Speer, der von den Kelten kommt.
*) Bremer in Pauls Grundriß 1, 949.
2) Vgl. z. B. C. Meyer, Sprache der Langobarden, S. 294; anders Brückner,
Sprache der Langobarden, S. 276.
3) Much a. a. O. 4) z. B. bei Golther S. 299.
5) So Müllenhoff, D. A. 4, 462, gegen J. Grimm, Myth. S. 112.
6) An sich, als Jagdspeer, leichte Lanze, ist die Waffe ja schon uralt, wie
die ältesten Felszeichnungen zeigen. — Ob nicht auch bei Apollon seine Fern-
waffe, der Pfeil, eine ähnliche Bedeutung hat? Pfeil und Bogen sind (neben der
Phorminx) seine gewöhnlichen Symbole (Prell er 1, 289), und schon an dem
ungeformten Fetischpfeiler sind Bogen und Lanze angebracht (S. 244). Er ver-
jagt, als Lykios, den Wolf von der Herde (S. 253), der dann auch sein heiliges
Tier wird (S. 292); oder ward er es, wie bei Odin, als der Waffengott Todes-
gott geworden war? (S. 274). Mit den Pfeilen, den ersten, die der Neugeborene
erhält (S. 237), erlegt er den Drachen (S. 239) — gewiß eine bedeutungsvolle
Sage! Die Deutung auf den Lichtgott (S. 230) könnte sekundär sein (»Strahlen« —
Pfeile« noch mittelhochdeutsch), und denkt man an die berühmten Verse, wie
die Pfeile von des Zürnenden Schulter abschwirrten, so möchte man fast die
Vermutung wagen, auch die Leier des Gottes sei ursprünglich nur der Bogen
mit aufgesetztem Pfeil gewesen; ist doch so nach der Annahme der Ethnologen
das Saiteninstrument überhaupt entstanden (vgl. z. B. Stumpf , Internat. Wochen-
schrift 3, 1607).
7) H. Fischer, Deutsche Altertumskunde, S. 124.
8) Reallexikon 2, 787.
§ 17. Hauptgötter. 183
Dies ist eine typische Erscheinung. Die Verbesserung der Wurf-
waffen hat für die alte Kriegskunst die Bedeutung wie die der Kanonen
für die moderne. Kaum ist das Eisen eingeführt, so werden schleunigst
die alten Bronzeformen in Eisen nachgeahmt1). Neben die spezifisch
germanische framea 2) stellt sich das keltische gaesum. In der Zeit der
Merowinger und Karolinger verdrängt der Spieß die alte Framea völlig3),
»ohne Zweifel, weil die alte dürftige Waffe . . . allmählich durch eine
bessere von vollkommenerer Technik verdrängt wurde« 4). Denn die
Wurfwaffe entscheidet den Krieg5). Die älteste Waffe aber, mit der man
hauen und werfen konnte, war die Streitaxt, die Barte 6) ; später erst (als
»Hellebarte«) ward sie durch einen langen Stil zur reinen Stoßwaffe um-
gestaltet.
Nun ist Odin so unzweifelhaft der Gott des Speers wie Tyr der des
Schwertes. Tyrs Rune ^ tir ist gewiß anfänglich das Zeichen des
Schwertes, später erst als Pfeil gedeutet; denn das Schwert ist sein
Symbol 7), nicht der Pfeil. Odins Opfer wird mit der Lanze durchbohrt ;
den Schaft schleudert er, um den Krieg zu eröffnen8). Ist es zuviel ver-
mutet, wenn man sagt: der Sieg Odins über Tyr ward durch den Sieg
der Lanze über das Schwert entschieden? Die ritterlichen Sachsen mochten
sich als Schwertgenossen trotzig zusammentun wie die Polen vom vierten
Regiment —
In Warschau schwuren Tausend auf den Knien;
Kein Schuß im heil'gen Kampfe sei getan,
Tambour schlag an! zum Blachfeld laß uns ziehn,
Wir greifen nur mit Bajonetten an! —
die Lanzentaktik der Langobarden war mächtiger. Ihnen hatte der Sturm-
gott die Waffe des Fernkampfes beschert, die sie (vermuten wir) erst ein-
fach weiter als »Streitaxt« bezeichneten, wie sie ältere Form nachbildete;
dann als »lange Streitaxt« — »Eisen am Spaten« möchte Schrader9) die
framea übersetzen. Und nun hießen die Barden Langobarden . . .
Odin als Herr der framea, der Sturmgott, hatte über Tyr als Herr
des sähs, den Gott des hellen Himmels, gesiegt, weil Tyr sich nicht des
x) K. Forr er, Urgeschichte des Europäers, Stuttgart, o. J., S. 505.
2) Müllenhoff, S. Alt. 4, 623. .
3) Alwin Schultz in Pauls Grundriß. 1, 124.
4) Müllenhoff, D. Alt. 4, 629.
5) »»Es scheint, daß jede Waffe, deren Gewicht und Form nur einigermaßen
dazu einlud, auch bald als Wurfwaffe gebraucht und dann entsprechend um-
gestaltet worden ist«: Schurtz, Urgeschichte der Kultur, S. 337.
6) D. Wb. 1, 1144.
7) Mogk S. 317.
8) Vol. Str. 24; vgl. u.
9) a. a. O.
134 Viertes Kapitel.
Wurfspeers zu bemächtigen wußte wie Mars *) : sobald eine wahre Kriegs-
kunst entwickelt ist, muß der Kriegsgott die Lanze führen wie Ares2).
Tyr aber blieb beim Schwert; mit ihm verharrten primitive Völker beim Kult
des Schwertes : die Hunnen Attilas, die Quaden 3) ; und so unterlag er dem
Wodan, wie die römischen und germanischen Götter bei der Mulvischen
Brücke und bei Tolbiacum dem Christengott4).
Mag aber selbst unsere artilleristische Hypothese sich nicht be-
haupten — die Grundzüge der Geschichte Tyrs glauben wir festgelegt
zu haben. Der indogermanische Himmelsgott wird überall zum Gott
auch des Blitzes; und der Gott des Blitzes wird überall zum Siegesgott,
d. h. zum Entscheider der Schlacht, die immer noch von anderen Göttern
(Ares unter Zeus ! Athene neben Ares !) geleitet werden mag. Dem Sieges-
gott werden bei den Germanen die Schwertfetische geheiligt: das Schwert
ist ein kurzes Dolchmesser, kann zwar geworfen werden5), ist aber doch
eine ausgesprochene Nahwaffe. Die Kerntruppe seiner Verehrer bilden
die süddeutschen, herminonischen Völker; darunter die aus den Semnonen
erwachsenen Schwaben 6). — Aber am Unterrhein, wohl unter römischem
Einfluß, kommt ein neuer Kriegsgott auf. Die Istväonen 7) verehren den
Wodan am innigsten — einen alten Sturmdämon, der als solcher zum
Schutzherrn des Fernkampfes, der neuen Lanzentaktik geworden war. Aber
nun greift der religiöse Gegensatz über die Stammesgrenzen. Die Lango-
barden nennen sich nach der Barte und stehen zu Langbardr8) wie die
Sachsen zu Saxnöt, wenn auch freilich Langbardr9) nur der »Langbart«
sein kann. Jedenfalls der Kampf entscheidet gegen Tyr : Odin wird Haupt-
gott, Tyr ihm untergeordnet als Kriegsgott wie Ares dem Zeus.
Der altgermanische Tyr also ist ungeordneter Kriegsgott. Der Haupt-
sitz seiner Verehrung ist bei den Semnonen10; wenigstens nimmt
*) Wissowa S. 131.
2) S. 337.
3) Ammian. Marceil. 17, 17; vgl. Mogk S. 317.
4) Ist es doch dem alten Kriegsgott Thersites (vgl. z. B. Gercke. Deutsche
Rundschau, Juni 1909, S. 358) bei den Hellenen noch ärger gegangen — er ward
eine Spottfigur, ärger als Thor in dem Lied der Odinspropaganda (Härb.).
Sein Nachbar Achilleus (Usener, Stoff des Griechischen Epos, Wiener Sitzungs-
berichte 1897, S. 57) ist ihm verhängnisvoll geworden (vgl. ebd. S. 47) — nach
Usener (S. 58) der Sommer gegenüber dem Winter, aber, wenn die Deutung
aus dem Namen recht behält (zu &£\>aos), vielleicht ebenfalls ein stärkerer Kriegs-
gott, der den schwächeren besiegte und verächtlich machte!
B) Vgl. Müllenhoff, D. Alt. 4, 622.
6) Ebd. S. 523.
7) Vgl. z. B. Golther S. 296.
8) Müllenhoff S. 462.
9) Vgl. Myth. 1, 123; 2, 796.
,0) Tac. Germ. cap. 39; vgl. Meyer S. 341, Golther 202, 2.
§ 17. Hauptgötter. 185
man allgemein an, daß der regnator omnium deus, der hier in einem
heiligen Hain der heutigen Mark Brandenburg verehrt wurde, Tiuz war.
Wahrscheinlich mit Recht; schon weil die Semnonen der vornehmste
Stamm des tyrverehrenden Suevenvolkes sind. — Tacitus berichtet, daß
dort in einem seit Alters heiligen Hain ein Menschenopfer dargebracht
wurde; der Hain selbst aber werde noch in der Weise geehrt, daß man
ihn nur gefesselt betreten durfte, und wer zu Boden fiel, durfte nicht auf-
stehen, sondern mußte sich auf der Erde herauswälzen. Was bedeutet
dieser Brauch ? Jedenfalls wohl zunächst, wie es z. B. auch Golther deutet,
daß man sich völlig in die Gewalt eines Herren über Leben und Tod
gibt. Aber es liegt wohl weiter eine »heilige Handlung« im Sinne Useners1)
vor: die ganze Heergemeinde ergibt sich in ihren Vertretern dem Kriegs-
gott auf Gnade und Ungnade. Wer fällt, den hat er zum Opfer erwählt,
und er muß sich gleichsam heimlich fortstehlen. Und vielleicht ist bei
Tacitus ein Hysteronproteron anzunehmen: daß wirklich einer der Ge-
fallenen (vielleicht auch einer, der vorher bestimmt war und deshalb einen
Stoß erhielt, daß er fiel: caeso homine) als Ersatz für das ganze Heer
geopfert wurde2)?
Hierher könnte dann auch der nach allgemeiner Annahme dem Tiuz
heilige »Schwerttanz« gehören3). Nackte Jünglinge tanzen zwischen
Schwertern und aufgerichteten Lanzen; nachher bilden sie (wenigstens in
mittelalterlichen Fortsetzungen des uralten Brauches) eine »Rose« aus
ihren Schwertern, auf die der Anführer gehoben wird (wie Radetzky auf
dem Prager Denkmal auf die Schilde). Daß dies Spiel ursprünglich
»mimetischen« Charakter hat, bezweifelt seit Müllenhoff4) wohl kaum
jemand. Sollte aber nicht ursprünglich auch hier eine kunstvolle Parade
vor dem Schwertgott gemeint sein, bei der der Fallende als Opfer dem
Gott dargebracht wurde? Man denke, wie noch im 18. Jahrhundert die
Gäste des Kaisers von Persien ihm übermütig widersprechen durften;
»zuletzt wurde denn freilich der überheitere Tischgenosse bei den Füßen
weg und am Fürsten nahe vorbeigeschleppt, ob dieser ihn vielleicht be-
gnadige? Geschah es nicht, hinaus mit ihm und zusammengehauen5)!«
Solche Probe kriegsfrohen Übermuts liegt vielleicht beidemal vor: wer
bei dem gefesselten Gang fällt (man denke noch an das volkstümliche
Spiel des Sackhüpfens), der gehört dem Gott, wenn er ihn nicht be-
*) Arch. f. Rel.-Wissensch. 7, 297 f.
2) Siehe o. S. 159. — An die Walküre »Heerfessel« ist nicht zu denken.
3) Tac. Germ. cap. 24; Müllenhoff, Über den Schwerttanz, Berlin 1871,
in den Festgaben für G. Homeyer; J. Meier bei Paul 2, 1, 835; Golther
S. 203.
4) a. a. O., bes. S. 8.
5) Ooethe, Noten und Abhandlungen zum Divan: »Gegenwirkung«.
186 Viertes Kapitel.
gnadigt. Später wird dann das Opfer abgelöst, und aus der Darbringung
an den Himmelsgott ein symbolisches Präsentieren des Anführers.
Möglich ist aber, daß auch einfach nur die Heiligkeit des Raumes
bezeichnet wurde. Man darf ihn nur in feierlich gebundener Haltung
durchschreiten; wer den Boden mit dem Knie berührt, ist unwürdig, ihn
weiter zu durchwandeln. Hierin freilich würde ein Bezug auf den Kriegs-
gott und den Stammesgott schwer zu erkennen sein. Oder sollte der
Boden, der tamquam initia gentis aufgefaßt wurde, den mütterlichen
Schoß darstellen und seinen Kindern hier nur eine gebundene, embryonen-
hafte Bewegung gestattet sein1)?
Neben den Semnonen mit ihren suebischen Abkömmlingen2) und
den Tencterern3) sind die Friesen4) eifrige Verehrer des Tyr. Wenn die
Chatten einen Eisenring tragen, bis sie einen Feind niedergeschlagen
haben5), so deutet Meyer6) auch das auf Tyrkultus — wahrscheinlich
mit Recht; es wäre dann mit jener Fesselung im heiligen Hain zusammen-
zuhalten: Tyrs Verehrer sind seine Knechte, bis sie sich durch ein
Menschenopfer losgekauft haben. — Von den Haruden leitet Olsen 7) den
Tyrkultus auf der großen Insel ab, die heute Tysnesoen genannt wird8).
Aber daß Tyr damals noch als Himmelsgott neben der Erdgöttin
Nerthus gestanden habe, ist ein zwar bestechend geistreicher Gedanke,
gegen den aber doch alle anderen Zeugnisse von dem altgermanischen
Tyr sprechen. — Als besondere Tyrverehrer sind ferner alle »Schwert-
völker« anzusprechen: die Quaden, Sachsen, Thüringer9).
Eine Spezialisierung des Kriegsgottes Tyr scheint der viel
umstrittene Mars Thingsus10). Man fand am Hadrianwall einen Altar,
den Germanen aus Twenthe, die im cuneus Frisiorum standen, dem
Marti Thingso et duobus Alaisiagis Bedae et Fimüenae stifteten.
Ob das Marsbild mit dem Vogel (Gans? Schwan?) und zweier weib-
lichen Figuren auf sie zu beziehen oder römisch auszulegen ist11), bleibt
x) Vgl. allgemein Dieterich, Mutter Erde.
2) Zyuwäri, siehe o. S. 181; Augsburg: Ciesburg, vgl. Golther S. 205.
3) Tac. Hist. 4, 64.
4) Meyer S. 343.
8) Tac. Germ. cap. 31. 6) a. a. O.
7) Del gamle norske önavn Njardalög, Christiania 1905.
8) Vgl. Helm, Lit.-Bl. f. germ. u. rom. Phil. 1907, S. 268; siehe u.
9) Mogk S. 317.
10) Mogk S. 316 mit reichen Literaturangaben; bes. Scherer, Kleine
Schriften, Berlin 1893, 1, 532; Heinzel, Wiener Sitzungsberichte 119, 50f.;
Hoffory, Eddastudien, S. 145; Kauffmann, PBB. 16, 206f.; Siebs, Ztschr.
f. d. Phil. 24, 433; Hirschfeld, Westd. Ztschr. 1898, S. 19. — Ähnliche An-
passungen an Mars bei dem keltischen Tontates: Wissowa S. 138 Anm. 7.
n) Golther S. 204 Anm. 2.
§ 17. Hauptgötter. 187
zweifelhaft. Sicher ist dagegen, daß Mars Thingsus ein einheimischer
Gott der cives Tuihanti war; Kluge1) hat sogar — schwerlich mit Recht —
von seinem Namen die Benennung Dingstag für Dienstag ableiten wollen,
was denn auf weite Verehrung des Mars Thingsus deuten würde2).
Da Heinzel nachgewiesen hat, daß es bei den Friesen zwei Formen
der Volksversammlung gab, Bedel- und Fimelthing, so kann ein Zu-
sammenhang zwischen diesen Benennungen und denen der beiden
»Alaisiagen « des Thing-Gottes wohl nur von der Hyperkritik bezweifelt
werden 3). Wir trafen schon wiederholt auf Spuren , daß die Heeres-
gemeinde als Einheit gefaßt wird: prout sonuit acies wird aus dem
barditus der Ausgang der Schlacht prophezeit; die Disen nahmen wir
als Nornen des Heeres. So ist der Mars Thingsus der Gott der Heeres-
gemeinde, wenn sie zu richten hat, der richtende Gott des Kriegerthings
in seiner regelmäßigen und außerordentlichen Gestalt; die numina
Augustorum treten als Verkörperung der Gerechtigkeit der höchsten
Kriegsherren zu ihm in eine natürliche Verbindung 4). Der cuneus
Frisiorum als ein Teil der acies per cuneos composita5) ist ein Teil
des Things; nicht zufällig geht Tacitus6) von den duces, qui ante aciem
agunt, zu der Strafgewalt der Priester über, die selbst nur eine Emanation
der Strafgewalt der Volksgemeinde ist: die Heeresgemeinde wie die Volks-
gemeinde 7) richtet in gegebenem oder gebotenem Thing, gerade wie noch
spät das Freigericht der Feme8).
Indem wir also die Deutungen von Scherer und Hoffory (Gott der
Volksversammlung) und Weinhold (Gott des Gerichts) kombinieren, er-
klären wir den Mars Thingsus für den germanischen Gott der Heeres-
gemeinde, den die cives Tiuhanti dem römischen Mars anähnlichen, wie
sie ebenfalls seine Begleiterinnen den traditionellen Genossinnen des Mars,
den Victorien, angleichen. —
Tyr scheint im Norden als Kriegsgott anfangs in großem Ansehen
gestanden zu haben : die Heerfahrt und das Treiben der Wikinger ward
*) PBB. 35, 141.
2) Ebenso erklärt Kluge a. a. O. die bayrische Benennung Erchtag (vgl.
Golther S. 213) aus einem durch die Goten vermittelten ZiQ&wg tj/u^a.
3) Henning, Zschr. f. d. Alt. 42, 193.
4) »Die Versammlung der Krieger ist die politische Versammlung«; Hintze,
Staatsverfassung und Heeresverfassung, Dresden 1906, S. 4. — Allgemein vgl.
v. Domaszewski, Über die Religion des Römischen Heeres.
5) Tac. Germ. cap. 4. 6) a. a. O.
7) Vgl. v. Amira in Pauls Grundriß 2. Aufl. 1, 203.
8) Lindner, Die Feme, S. 407. — bodthing (Richthofen, Altfriesische Wb.,
S. 657) gebotenes Gericht; fimelthing (ebd. S. 740) »hieß das Gericht, welches
die im bodthing nicht zu Ende gebrachten Sachen verhandelte«, also ordentliche
und außerordentliche Tagung.
188 Viertes Kapitel.
nach Zimmer1) von den Irländern »Tyverk«, Taten wie Tyr sie liebt,
benannt. Danach wäre er im 9. Jahrhundert noch Hauptgott wenigstens
der umherfahrenden Nordleute gewesen. Dann tritt er ganz
zurück. — Wohl bleibt ihm die Siegesrune geweiht 2) und die Waffenrune
heißt nach ihm; aber wirksam erscheint er nur im letzten Kampf3). Hier
knüpfen märchenhafte Züge an4): er soll zur Fesselung des Fenriswolfes
die rechte Hand geopfert haben 5), was wir wieder nur als mythologische
Metapher deuten möchten, wie das von Odin zum Pfand gesetzte Auge.
Man dichtet ihm Verwandtschaft an: eine namenlose buhlerische Gattin6),
den riesischen Vater Hymir — was wohl nur den alten Gott von
riesischer Abstammung kennzeichnen soll; man macht ihn zur Folie der
Riesenstärke Thors bei dessen Fahrt zu Hymir (Hymiskvida) 7). Das sind
wohl alles spätere Züge; die von der verlorenen Hand allerdings immerhin
so alt, daß sie auf den »irischen Mars« abfärben konnte, der im Kampf
mit den Dämonen seine Hand verliert und durch eine silberne er-
setzen läßt8).
Schließlich wird Tyr der bloße abstrakte »Kriegsgott«, von dem
Könige abstammen9). Bei der Aufteilung der Götter im letzten Kampf
wird er10) mit dem Höllenhund Gorm abgepaart, wie Thor mit der
Midgardsschlange. Auf alten mythischen Drachenkampf etwa des lichten
Himmelsgottes mit einem Sturmungeheuer wage ich das nicht11) zu be-
ziehen, obwohl zu solcher Interpretation stimmen würde, daß auch dem
Dämon Grendel von Beovulf ein Arm ausgerissen wird. Tyr mußte dann
wohl aber ursprünglich das böse, etwa von Thor oder Odin besiegte
Prinzip sein. Einfacher ist die Annahme, die Abenteuer Tyrs mit dem
Fenriswolf und dem Höllenhund beide erst der späteren Zeit zuzuschreiben,
die die Kollektivkämpfe der Dämonen gegen die Götter in heroische
Zweikämpfe auflöst und ritterliche Anschauungen (Schonung des Wolfes
aus Ehrfurcht vor heiliger Stätte)12) in den rücksichtslosen Kampf der
Götter und Ungeheuer trägt. Einfluß jenes einhändigen keltischen Gottes
J) Vgl. Golther S. 212.
2) Sgdr. Str. 6.
3) Golther S. 211, Mogk S. 316, Meyer S. 344.
4) Vgl. v. d. Leyen, Der gefesselte Unhold, Festschrift für Joh. v. Kelle,
Prag 1908, S. 1 f.
B) Lok. Str. 38, Gylfag. cap. 25: Gering S. 319.
6) Lok. Str. 40.
7) Vgl. v. d. Leyen, Märchen in der Edda, S. 46.
8) Meyer S. 346.
9) Golther S. 211 Anm. 2.
10) Gylfag. cap. 51: Gering S. 349.
11) Mit Meyer S. 346.
12) Gylfag. cap. 34: Gering S. 326.
§ 17. Hauptgötter. 189
Nuada1) ist nicht unwahrscheinlich. Allerdings hatMuch2) in geistreicher
Weise die Einhändigkeit des Kriegsgottes schon bei den Skythen nach-
zuweisen gesucht.
Wirkliche oder angebliche Emanationen Tyrs sind (außer den
Spezialisierungen Mars Thingsus, Halamardus u. dgl.) Freyr und Heim-
dall8); vor allem aber Irmin, den wir mit seinen Brüdern zusammen
besprechen müssen.
Kult des Tyr ist schon in (indogermanischer Zeit bezeugt: er be-
vorzugt Pferdeopfer, was in urgermanischer Zeit fortdauert4). Deshalb
werden ihm heilige weiße Rosse gehalten, aus deren Wiehern geweissagt
wird5). Die weiße Farbe braucht man nicht auf den »lichten Himmels-
gott« zu beziehen: sie kann einfach die Unberührbarkeit des geheiligten
Thors symbolisieren (wie bei dem »weißen« Elefanten in Siam?); aber es
ist auch möglich, daß hier eine Erinnerung an Tyrs frühere Funktion
fortlebt. Ferner gilt ihm der Schwerttanz6). — Tyr gilt, als Kriegsgott,
nicht bloß für besonders stark, sondern auch für sehr klug7); Namen
nach ihm zu geben ist nicht sehr häufig.
Ingo. Isto. Irmino8).
Tacitus nennt drei Söhne des Urmenschen Mannus als Eponymi der
germanischen Völkerschaftsgruppen: e quorum nominibus proximi
Oceano Ingaevones, medü Herminones, ceteri Istaevones vocentur.
Müllenhoff zuerst deutete dies so, daß Gruppen der westgermanischen
Völker drei »Amphiktyonien« bildeten, Kultusbezirke unter dem Schutz
je eines Hauptpatrons. Laistner9) hält allerdings umgekehrt den Volks-
namen für primär10): die Ingvaeonen »die Einheimischen«, die Erminonen
»das Großvolk«, die Istvaeonen »die Ersten« ; daraus sei (wie oft z.B. bei
den Hebräern) der Stammesgott herausgezogen n). Da wir von Kollektiv-
namen altgermanischer Stämme aus so früher Zeit kein Beispiel haben
!) Vgl. Much S. 217.
*) a. a. O.
3) Siehe u. — In einer Jugendschrift erklärte E. H. Meyer den Helden
Roland für eine Emanation oder Parallelform Tyrs; vgl. Pf äff , Alemannia 1909, S.76.
4) Golther S. 201; ebenso bei Frey und Heimdall, aber auch bei Balder,
ebd. S. 203.
5) Tac. Germ. cap. 10; Golther S. 203.
6) Siehe o. S. 181.
7) Gylfag. cap. 25: Gering S. 319.
8) Golther S. 207; Mogk S. 314 nach Tac. Germ. cap. 2 vgl. Plinius
hist. nat. 4, 99; Müllenhoff, D. Alt. 4, 519f., 5871; Much, Himmelsgott,
S. 198f.; Koegel, Gesch. d. d. Lit. 1, 13f.; andere Literatur bei Golther 207, 1.
9) Germ. Götternamen : Württemberg. Vierteljahrshefte f. Landesgesch. 1892, 1 f.
10) Vgl. das Problem Saxnot und die Sachsen, siehe o. S. 181.
n) Ähnlich Bremer bei Paul 21, 923.
190 Viertes Kapitel.
(wohl später: Allemannen), so entscheiden wir uns1) für Müllenhoff:
Völkergruppen sind nach ihrem Zentralheros benannt wie später die
Ziuwäri-Suapa 2). Die Ingvaeonen auf der Halbinsel zwischen Ost-
und Nordsee haben den Kult der Nerthus ; die Ingvaeonen an der Küste,
Angeln, Sachsen, Dänen 3) verehren Ing; die Skandinavier Yngvi, nach dem
sich die schwedischen Könige als Ynglinger benennen. — Die Irminonen,
die Binnengermanen, Sueven, Marcomannen, Quaden haben in ihrer Mitte
den Tyrdienst der Semnonen ; bei den Hermunduren Wodan und Tiuz. —
Die Istvaeonen am Rhein sind die Völker, die den Wodandienst auf-
brachten. — Abseits stehen die Van di Her (also auch die Skandinavier)4)
mit dem Heiligtum der Alces5).
Was bedeuten diese drei heiligen Brüder? Die Namen machen
Schwierigkeiten. Müllenhoff erklärt6) Irmin als »erhaben«, Isto als »er-
wünscht«, »verehrt« 7), Ing8) als den »Begehrten, Erwünschten« — was ihm
aber selbst mit dem Namen Istos fast identisch scheint, und sollten gerade
hier, wo drei Völkerschaften eine Trias zur Unterscheidung schaffen, so
wenig bedeutende Namen gewählt sein? Er zieht deshalb selbst die Be-
deutung »der Gekommene«9) vor, die zu der Strophe des angelsächsischen
Runenliedes vortrefflich stimmt10). Scherer faßt Isto als den Gott des
Herdfeuers, Hoffory als den Flammenden11). Aber hier, wo drei Namen
gleichsam als Waffennamen geschlossener Gemeinschaften bewußt gewählt
zu sein scheinen, wird man von der Forderung eines inneren Zusammen-
hanges zwischen ihnen kaum absehen dürfen.
Auszugehen ist von folgenden Tatsachen: die drei Namen sind in
urgermanischer Zeit als die göttlicher Stammväter überliefert, die gleichen
Ursprung (von Mannus und Tuisco) haben12). Aus späterer Zeit ist der
Name Irmin in unzweifelhaft mythologischer Verwendung und mit deut-
lichem Inhalt (als Name des Kriegsgottes) bezeugt. Der Name Ing ist in
kaum zu bezweifelnder mythologischer Verwendung, aber ohne deutlichen
Inhalt bezeugt, der Name Isto ist überhaupt nicht belegt.
*) Trotz Kossinna, F. F. 7, 276.
2) Über die Art der grammatischen Ableitung vgl. Müllenhoff, D. A. 4, 598,
doch auch Sievers, Ber. d. Sachs. Gesellsch. d. Wiss. 1894.
8) Die danach Beov. 1045, 1320 Ingwine, Ing-Freunde, heißen wie die Sachsen
Sachs-Genossen.
4) Trotz Yngvi? siehe u.
8) Sijmons bei Paul 1, 678 f.
6) a. a. O. S. 590.
7) S. 595. 8) S. 596. 9) S. 526.
10) Auch zu Müllenhoffs Auffassung des Sceäf im Beovulf vgl. o. S. 59.
n) Vgl. Golther S. 208; noch andere Deutungen bei Mogk S. 315.
12) Ähnlich in der Bibel Noahs Söhne Sem, Harn, Japhet (1. Mos. 9, 18); vgl.
dazu Holzin ger, Genesis, S. 92.
§ 17. Hauptgötter. 191
Tacitus also berichtet, Tuisto, deus terra editus habe zu seinem
Sohn den Mannus, von dem wieder die Stammväter der Ingaevonen,
Herminonen, Istaevonen stammen. Über Mannus herrscht kein Zweifel:
er ist die Verkörperung der Menschheit, der Urmensch, wie der indische
Manu, Vivasvants Sohn l). Tuisto oder Tuisco aber macht große Schwierig-
keiten. Neuerdings hat ihn Kluge2) als Tiviskö, Sohn des Tiwas gedeutet:
von Tivos stamme Tiviskö, von diesem Mannus, von ihm die Manniskönes,
die Menschen. Schrader3) hat diese Erklärung durch den Hinweis auf
den thrakisch-griechischen »Himmelssohn« Dionysos gestützt, der Sohn
des Zeus und der Semele, einer thrakisch-phrygischen Erdgöttin, wäre4). —
Aber ist Kluges geistreiche Erklärung nicht doch für so frühe Zeit zu
»gelehrt«? Darf man den Parallelismus Tivos-Twisko-Mannus-Manniskones
schon einer so systemlosen Zeit zuschreiben? Ferner: von Mannus
stammen ja gewiß die Menschen, in dem Taciteischen Stammbaum aber
doch zunächst drei Eponymi mit ganz anders gearteten Namen. Endlich
glaubten wir Bremers Etymologie von Tivas, auf die Kluge sich stützt,
nicht annehmen zu können. — Ich selbst habe5) Tuisco mit dem Ymi
der nordischen Mythologie 6) identifiziert, dem Urriesen und Vater der ge-
formten Materie; aber auch hier bleiben Schwierigkeiten7). Es werden
wohl irgendwie Mythendoubletten kontaminiert sein, wie im Veda die
der Urmenschen Manu und Yama (der, wie vielleicht Tuisco und sein
Sohn Tveggr-Odin »Zwilling« heißt8) oder wie in der Bibel die doppelte
Fassung der Schöpfung der Menschen9).
Wir können also aus Tacitus nur dies mit Bestimmtheit herauslesen-
die drei Völkergruppen führen ihre Stammväter unmittelbar auf den Urvater
der Menschheit zurück — gerade wie die angelsächsischen Stammtafeln 10).
*) Macdonell S. 214.
2) Bunte Blätter, Freiburg 1908, S. 119.
3) D. Lit-Zg. 1909, 931.
4) Nach Kretschmer, Einleitung in d. Gesch. d. griech. Sprache, Göttingen
1896, S. 241.
5) Arkiv for nordisk Filologi 23, 247.
6) Grim. Str. 21, 40.
7) Vgl. ebd. 25, 333.
8) Oldenberg, Vedische Religion, S. 275.
9) Sollte nicht auch Adam das Weib ursprünglich selbst gezeugt haben?
Wäre das nicht die einfachste Erklärung der »Rippe«, die auch Gunkel (Genesis,
Göttingen 1901, S. 10) nur notdürftig erklärt? und die Verse, die er dann spricht —
»Bein von meinem Bein und Fleisch von meinem Fleisch« — gehören zu der
urältesten liturgischen Art. Auch die schaffende Namengebung stimmt dazu.
Dann wäre die Analogie zu Ymi, der aus der Achselhöhle und den Füßen Menschen
zeugt (Gylfag. cap. 5: Gering S. 302) und mit Yama, dem »Zwilling«, d. h. dem
ursprünglich doppelgeschlechtigen Stammvater der Menschheit, noch stärker.
10) J. Grimm, Mythologie 3, 379.
192 Viertes Kapitel.
Was lehren die drei Namen oder Gestalten?
I r m i n J) ist sicher Tiu. »Hirmin Mars dicitur«, sagt Widukind2). Aller-
dings könnte in dem Bericht des Chronisten3) ein Umstand bedenklich
stimmen : nach dem Sieg an der Unstrut über die Thüringer befestigen die
Sachsen einen Adler an der Ostpforte (des Tempelraums): ad orientalem
portam ponunt aquilam. Der Adler aber, Odins heiliger Vogel, ist am Tor
der Odinsburg (d. h. des Odinstempels) 4) angebracht, während westlich am
Tor ein Wolf hängt 5). Dennoch darf man den hier verehrten Gott nicht 6)
für Wodan halten. Ein Idol7) war aufgerichtet, von zwei »columpnae
umgeben, d. h. rechts und links ein tre'niadr8), eine pfahlartige Dar-
stellung anderer Götter, wie in den Tempeln der Germanen, so oft der
Hauptgott zwischen zwei anderen steht9). Dies Idol war die Irminsul,
also auch eine columna, die den Hauptgott symbolisierte. Und da die
andere Irminsäule an der Diemel auf dem Eresberg lag, so gehörte sie
dem gleichen Gott wie der Er tag, dem Er-Tyr10). Es kann daher
die an der Unstrut keinem anderen Gott geweiht gewesen sein. Irmin
wird auch bei den Thüringern verehrt, deren letzter König Irminfried 531
von den Sachsen besiegt wird. — Wenn der Große Bär — das »alte
Wahrzeichen der Germanen« in Gottfried Kellers letztem Gedichtentwurf —
Irmineswagen heißen soll11) oder Hildebrand im alten Liede beim Irmingot
schwört12), so ist beides nicht mit Sicherheit auf den Gott zu beziehen:
es kann einfach »der Große«, »der Hohe« gemeint sein, welcher Gott
das denn auch sein mag.
I n g 13) ist ausdrücklich noch bezeugt durch die merkwürdige Strophe
des angelsächsischen Runenliedes: »Ing wurde zuerst bei den Ostdänen
gesehen, bis er darauf (ostwärts?) über das Meer zog; der Wagen rollte
nach«14). So nannten die Helden — wohl die ostdänischen15) — den
*) J. Grimm, Mythologie 1, 290 f.
2) Golther S. 210, 1.
3) Den Müllenhoff, D. Alt. 4, 521, ausführlich bespricht
4) Ztsch. f. d. Phil. 38, 172.
B) Grim. Str. 10.
6) Mit J. Grimm.
7) Vgl. Müllenhoff a. a. O.
8) Häv. Str. 49.
9) Nichts anderes werden die Herculis columnae, Tac. Germ. cav. 34, ge-
wesen sein; doch vgl. Kauf f mann PBB. 16, 223.
10) Müllenhoff S. 523.
n) Vgl. I. Grimm, Mythologie 1, 295.
l2) Mogk S. 315.
,3) J. Grimm S. 286f.; Müllenhoff, D. Alt. 4, 595f,
u) So ten Brink, Gesch. d. engl. Lit., Berlin 1877, 1, 83.
16) Doch vgl. Müllenhoff S. 597.
§ 17. Hauptgötter. 193
Heros.« — Ferner gibt es theophore Namen mit Ingu-1). — Endlich
besteht kein Zweifel über die Identität des angelsächsischen Ing mit dem
alten Yngvi, als dessen Nachkommen die schwedischen Könige Ynglingar
(= Ingvaeones) heißen 2), und wiederum, daß Yngvi mit Freyr zusammen-
fällt, geht aus dessen Bezeichnung als Yngvi oder Yngvi-Freyr hervor3).
Wie Ing kommt Sceäf4) in steuerlosem Schiff auf einer Garbe
schlafend, ans Land geschwommen, wird König der Angeln, und fährt als
Leiche wieder auf seinem Schiff von dannen5). Müllenhoff erkannte
seine mythische Natur: wir faßten ihn6) als Getreidedämon. Mit Ing hat
er die Ankunft aus der Fremde und die geheimnisvolle Rückkehr gemein —
die doch wohl mit dem Vers »der Wagen rollte nach« angedeutet ist;
freilich sind das Züge, die auch den »Schwanenjünglingen« eignen, Wieland,
Lohengrin 7).
Weiter könnte man eine wunderliche Nachricht des Tacitus8) hierher
beziehen :
ceterum et Ulixem quidam opinantur longo Mo et fabuloso errore in hunc
Oceanum delatum adisse Germaniae terras Asciburgiumque , quod in ripa Rheni
situm hodieque incolitur, ab Mo constitutum nominatumque . . . aram quin etiam
Ulixi consecratam adiecto Laertae patris nomine eodem loco olim repertam, monu»
mentaque et tumulos quosdam Graecis literis inscriptos in confinio Germaniae
Raetiaeque adhuc extare.
Allerdings hat für den Ulixes Müllenhoff9) an irgendeinen keltischen
Ulohoxsis gedacht, Kauffmann 10) dagegen an eine massiliotische Weih-
inschrift. Ich glaube aber, man muß die Nachricht doch germanisch
deuten. Asciburgium heißt > Schiff statte« n) und »Schiff statte« heißt
Noatün, das Heim Njörds 12). Auch Njörd kommt aus der Ferne, von
den Wanen, und kehrt nach drei Nächten in Noatün immer wieder
nach Thrymheim zurück 13). Ihm mag jener Altar errichtet sein, und die
1) Müllenhoff, Ztsch. f. d. Alt. 9, 250.
2) Golther S. 208; vgl. Helg. Hund. I, 56, Reg. Str. 14.
3) Henning, Ztschr. f. d. Alt. 41, 156; Olrik, Heltedigtning, S. 226f.
4) Sijmons bei Paul 2. Aufl. 1, 645; Kögel, Gesch. d. d. Lit. 1, 104.
8) Golther S. 209. 6) Siehe o. S. 109.
7) Auch Dionysos kommt »in dem durch keine menschliche Hand bewegten
Schiffe« über das Meer (Usener, Sintflutsagen, S. 116): aber das gehört wohl
zum Typus des »Heilbringers«. Sonst spielt das Fahren im steuerlosen Schiff in
der Mythologie die größte Rolle bei ausgesetzten Kindern und Verbrechern (die
Lade des Kypselos; germanische Beispiele bei J. Grimm, Rechtsaltertümer 2, 701;
vgl. Brand 1, Altengl. Lit, S. 1087). In der Moses-Sage treffen beide Motive
zusammen : die Aussetzung des Kindes und die Ankunft des Heilbringers. Ähnliche
Kombination im finnischen Epos J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 87.
8) Germ. cap. 3. 9) D. Alt. 2, 191. ]0) PBB. 16, 223.
11) Müllenhoff a. a. O. — Auch Bethania heißt »Haus des Schiffes«; vgl.
dazu Eisler, Südd. Monatsh. Dez. 1909 S. 651.
12) Grim. 16. 13) Gylf. cap. 23: Gering S, 317.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 13
IQ4 Viertes Kapitel.
Erzählung von seinen beständigen Irrfahrten kann den Anlaß zu einem
Vergleich mit Odysseus gegeben haben — freilich war Skadi gerade keine
sehnsüchtige Penelopeia! Noch wahrscheinlicher aber ist mir, daß Njörd
und Frey *) ursprünglich identisch sind, und so wäre denn Yngvifreyr
der Gast aus Wanaheim, der an der Flußmündung an der Schiffsküste
landet und wieder verschwindet, und dessen Epiphanie ein Denkstein feiert,
vielleicht schon mit Runen beschrieben. Denn wie leicht Runen für
griechische Buchstaben gelesen werden können, hat noch zwei Jahrtausende
später die Lesung yalqt ym\ ntvt auf den Goldring von Pietroassa (statt
Gutanio wi hailag) bewiesen 2). Ein ähnliches Denkmal an einer anderen
Schiffsstätte wären wohl jene »Herkulessäulen«, als die Tacitus3), gerade
wie Widukind an der Irminsäule, zwei heilige Bäume oder Pfähle deutete.
Es liegt also ein segenspendender »Kulturgott« vor4), von dem ver-
schiedene Mythen in leichten Varianten erzählen. Er kommt aus der
Fremde (aus Wanaheim; von jenseits des Meeres) in seinem Fahrzeug
(Ings Wagen, Sceafs Wunderschiff; Njörds Wagen)5) angefahren und
bringt einem germanischen Volk6) Segen. Von da geht er wieder ge-
heimnisvoll (der Wagen rollt nach, das Schiff ist wieder an der Küste)
in seine Heimat zurück — sei es für immer7), sei es, um periodisch
wiederzukehren8). — Die älteste Form der Sage ist gewiß die mit dem
Wagen, dessen Altertümlichkeit schon J. Grimm betonte: das eben ist
den Wanderern eigen, daß sie über Meer fahren wie über trockenes Land.
Das steuerlose Schiff9) im Märchen ist bereits eine Rationalisierung, ebenso
wie das Altern des »Heilbringers«, der sich dann in heroischer Weise auf
dem Schiff beisetzen läßt Ing ist also Freyr, der Gott des Ackerbaues und
des Friedens. Ob er eine Emanation von Tiuz ist, was wir bestreiten 10), oder
eine schwedisch-norwegische Hypostase11) ist an anderer Stelle zu prüfen.
Für I s t o haben wir keinen direkten Anhalt als den, daß Wodan von
den istvaeonischen Völkern herkam12). Daß der Name auf Tuisto reimt,
*) Siehe u.
2) Vgl. meine Runenstudien I; PBB. 21, 182.
3) Germ. cap. 34.
4) Vgl. allgemein Breysig, Gottesbegriff und Heilbringer.
5) Siehe u.
6) Ing den Ostdänen, Sceäf den Angeln: vgl. Golther S. 269; Yngvifrey den
Schweden.
7) Sceäf; Ing? 8) Njörd.
9) In der Heldensage: Tantris kommt swebende üf dem wilden se nach Irland
an: Trist, v. 7497. Noch George Eliots Romola muß auf steuerlosem Schiff
treiben.
10) Golther S. 208.
") Mogk, Menschenopfer, S. 365.
12) Vgl. Golther S. 210, Mogk S. 315.
§ 17. Hauptgötter. 195
deutet auf nähere Beziehungen zwischen Vater und Sohn J). — Da uns
aber noch im Norden die Trias Thor, Odin, Frey mehrfach bezeugt ist2)
und Thor als spezifisch nordischer Gott den Tyr verdrängt haben wird,
ist auch von hier aus wahrscheinlich, daß der dritte Gott Wodan war.
Wie ist nun das Verhältnis der drei Götter zu einander aufzu-
fassen? Zumeist 3) werden alle drei Brüder als Emanationen oder Speziali-
sierungen Tyrs aufgefaßt. Das ist an sich denkbar, wie denn z. B. bei den
Chinesen jede Dynastie ihren eigenen Kriegsgott zu besitzen scheint4). So
also stände neben dem Tyr-Irmin als Kriegsgott der Mittelgermanen ein Tyr
der Angeln, Sachsen, Dänen: Ing, ein dritter anderer Völker: Ist. Aber
Ing-Freyr läßt sich nicht von dem Himmels- oder Kriegsgott ableiten: er
ist, wie Wodan, ein zum Gott gewordener Naturdämon. — Es sind also
drei selbständige Götter zu Patronen der Verbände gewählt
worden — was besondere Verehrung anderer Götter auf ihrem Gebiet so
wenig ausschließt, als etwa in Bayern, das der Maria patrona Bavariae gehört,
Wallfahrten zu anderen Heiligen verboten sind. Aber in den Anordnungen
der drei Namen ist gewiß irgendein orientierendes Merkmal enthalten.
Am einfachsten läßt sich ein geographisches vermuten, wie solche geo-
graphische Unterscheidungen denn bei den Germanen uralt sind5) und
früh auch für Volksnamen und Eponymi verwandt6). Aber ich sehe
keine Möglichkeit, auch nur den Namen Isto mit einer Himmelsrichtung
zu verbinden. So muß man sich denn wohl dahin bescheiden, eine rein
praktische Ursache der Benennung anzunehmen: unter den Namen der
drei Götter wurden die gewählt, die alliterierten7); vielleicht wurde dazu
auch »Isto« nach »Tuisto« neugebildet, wie bei der Dreiheit Wodan-
Wili-We8) solche Umstände gewiß mitgewirkt haben.
Wir besäßen dann also in Ingo, Irmin, Isto drei urgermanische
Hauptgötter9), die nur in ihrer Eigenschaft als Kultvorsteher
spezifische Namen führen. Die Kultverbände haben sich früh aufgelöst10);
dabei geht die Gründungssage (Tuisto-Mannus — die drei Söhne) ver-
loren. Andere religiöse Interessen verdrängten die Dreiteilung in Acker-
bau — Krieg — Runenweisheit (wenn man will: Nährstand, Wehrstand,
x) Vgl. meinen Aufsatz Ark. for nord. Fil. 23, 247.
2) Vgl. z. B. Golther S. 605.
3) z. B. von Golther.
4) de Groot, Kultur d. Gegenwart, S. 167.
5) Wehrle, Ztsch. f. d. Wortforschung 7, 61 f.
6) Ostrogotha: ders. ebd. 8, 337.
7) Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 148 f.
8) Lok. Str. 26, Gylf. cap. 6: Gering S. 302.
9) Mercurius, Mars, Hercules (Tac. cap. 9) entsprechen allerdings eher Odin,
Tyr, Thor als Frey, Tyr, Odin.
,0) Mogk S. 315.
13*
196 Viertes Kapitel.
Lehrstand). Neben ihnen mag früh ein vandilischer Verband (mit Thor?)
gestanden haben; als dieser sich löste, erbten Ing — Freyr (in Schweden)
und Odin (überall sonst auf gemanischen Boden).
Saxnöt.
Auch hier liegt die Sache nicht so einfach, wie sie gewöhnlich *)
dargestellt wird. Die Identität mit Tyr geht allerdings aus der altsächsischen
Abschwörungsformel vom Jahre 772 hervor: der Täufling entsagt Thuner
ende Woäen ende Saxnote. Er ist also der sächsische Tyr, Tyr als
Stammgott der Sachsen2). Aber in der ostsächsischen Stammtafel heißt
er Wodans Sohn, was Tyr ursprünglich gewiß nicht ist. In späterer Zeit,
wo die genealogischen Ämter der Theologen überall Filiationen herstellen,
hätte das wenig zu sagen; aber die Stammtafel von Essex muß älter sein3).
Immerhin ist an die Deutung der drei Eponymi als Söhne eines Tiu-
Sohnes Tiuisco4) zu erinnern.
Frey 5).
Was seine ursprüngliche Bedeutung betrifft, so wird allgemein der
Zusammenhang mit Tyr behauptet; Golther faßt ihn als eine Hypostase
des alten Himmelsgottes auf6), Mogk nennt ihn7) einen Himmels- und
Sonnengott (was schon zweierlei ist). Wäre Freyr aus dem Himmelsgott
Tyr hervorgegangen, so müßte er älter sein als dessen urgermanische
Geltung als bloßer Kriegsgott. Aber er gilt im Norden selbst als ein
jüngerer Gott, was dadurch ausgedrückt wird, daß er Njörds Sohn heißt;
und auch objektive Kriterien sprechen dafür, daß er erst an dem Ausgang
der gemeingermanischen Zeit ein selbständiger Gott wurde. Denn in
Taciteischer Zeit ist Ing-Freyr, wie wir gesehen haben, noch mit alter-
tümlich-dämonischen Zügen ausgestattet : der Wagen hat fast fetischistischen
Charakter, Sceafs Schlaf auf der Garbe zeigt ihn noch als Naturgeist.
Daher stimmt denn auch, daß wir von dem Gott Freyr nur aus dem
Norden Kenntnis haben 8) ; er galt sogar einst als ein schwedischer Gott 9),
allerdings mit Unrecht. Vielleicht zeugt die Benennung einer Gruppe von
Runennamen nach ihm sogar für hohes Alter des urgermanischen
Fruchtbarkeitsgottes Freyr10).
*) Meyer S. 344, Golther S. 2131
2) Über den Namen siehe o. S. 181 ; Zweifel äußert Much , Himmelsgott, S. 225.
3) J. Grimm, Mythologie 3, 378.
4) Kluge, siehe o. S. 191.
5) Mogk S. 318f., Meyer S. 362t, Golther S. 218f.
6) Ebenso v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 104.
7) S. 321. 8) Meyer S. 36-41, doch vgl. S. 362.
9) Vgl. Uhland, Schriften 7, 344.
10) Vgl. u. § 28.
§ 17. Hauptgötter. 197
Himmels- oder Sonnengott könnte Frey auch bei späterer Ent-
wicklung sein. Was aber Mogk dafür anbringt, sind Züge von zweifel-
hafter Altertümlichkeit: das Wunderschiff, das sich in der Tasche tragen
läßt, wenn man es nicht braucht, sonst aber Platz für alle Äsen hat *), ist
wohl nur eine märchenhafte Umgestaltung von Ings altem Wagenschiff,
entstanden aus der Lust der Wikinger, sich eine einstweilen nur im Traum
mögliche Vervollkommnung der Fahrgeschwindigkeit und Schiffsbe-
weglichkeit auszumalen. Daß ein Schiff, das man in die Tasche stecken
kann (nach Mannhardt) , als die Wolke aufzufassen sei, scheint mir ein
Beispiel jener mythen deuten den Taschenspielerei, die es mit den Wunder-
schätzen der Götter2) wohl aufnehmen kann. Und darf man der Tracht
der alten Germanengötter überhaupt Taschen zutrauen? — Alf heim ist,
wie alle »Heime«, dem Gott erst spät zugewiesen3); er erhält es, weil
er eben heiter und freundlich ist. Schirmgott und Schutzherr der Edel-
priester4) wird er aber aus seiner Funktion als Friedensgott5).
Wir sehen also seine ursprüngliche Bedeutung in der Identität mit
Ing und Sceaf verbürgt. (Das Verhältnis zu Njörd lassen wir einstweilen
beiseite.) Frey ist zunächst ein Dämon des Getreidebaues, dessen Kult
durch fremde Einwanderer mit der Einführung des Ackerbaues von den
Schiffsstätten her sich verbreitete — ein ursprünglicher primitiver Dämon
wie Erichthonius. der »Genius des fruchtbaren Bodens der Gegend von
Athen« 6), der altattische deus terra edüus, der in seiner Schlangengestalt
den dämonischen Ursprung noch so deutlich am Leibe trägt, wie in der
lokalen Gebundenheit seiner Verehrung die Analogie mit dem Heim der
Schiffsstätte. Seine Bedeutung wächst mit der des Ackerbaues und des
durch ihn geforderten »Friedens«, d. h. staatlich garantierte Rechts-
verhältnisse7).
Der Name Frey = gotisch frauja, althochdeutsch Fr 6, angelsächsisch
fred bedeutet »Herr«, wie Balder und viele andere Götternamen bis zu
unserem »Herr« für Gott. Dies bedeutet vielleicht, daß er einmal auf
einem bestimmten Gebiet höchster Gott war, vielleicht auch das nicht;
keinesfalls8) daß er je Tiwaz war.
Er hat wenig Synonyma. Dagegen erhält sein Name gern verdeut-
lichende Zusätze: norwegisch Ingvifreyr, Ingunarfreyr dänisch, angel-
*) Gylf. cap. 43: Gering S. 333.
2) v. d. Leyen, Märchen, S. 56 f.
3) Grim. Str. 5.
4) »Goden«: Mogk S. 322. 5) Siehe u.
6) Preller 2, 138; vgl. 1, 169.
7) Haltlos scheint der Versuch von Detter und Heinzel (PBB. 18, 560),
ihn mit Lödur (s. u.) zu identifizieren.
8) Mit Mogk S. 319.
198 Viertes Kapitel.
sächsisch frea Ingwina »Herr der Ingvaeonen«, Ingvina ärfreyr
»Gott der Fruchtbarkeit bei den Ingvaeonen«1): die Erinnerung an die
lokale Gebundenheit des Dämons hat sich bei diesem ältesten Kultgott der
Germanen merkwürdig lange erhalten. — Andere Ehrentitel heben seine
besondere Beziehung zu der kollektiv gefaßten Menschheit (dem ackerbau-
treibenden Volk) hervor: folkvaldi goäa2): »Herr, Vertreter der Menschen
bei den Göttern«3); veraldar god, »Gott aller jetzt lebenden Menschen4).
Dieser letztere Titel geht bei den Lappen angeblich auf Thor über5).
In seiner Entwicklung ist also Freyr eine vom Vegetationsdämon zum
Gott aufgestiegene Gottheit. Er bildet mit Njörd und Freyja, die mit
ihm aufs engste zusammengehören, die Gruppe der Wanen, der lichten
Kulturgottheiten von westlichem Ursprung; die Verschiedenheit von den
auf urgermanischem Boden wurzelnden Äsen wird deutlich empfunden
und bildet ein weiteres Argument gegen Freys Ableitung von dem
urgermanischen Haupt-Asen Tyr. Der Ackerbaudämon wird zum Gott des
Friedens und damit zum Spender von »Glück«, d. h. Wohlstand, Reichtum,
Ordnung. Freys Friede ist in Schweden sprichwörtlich, wie der Frödis
in Dänemark6). Als Gott der Erdkultur bringt er auch Regen und
Sonnenschein und günstigen Wind7). — Gelegentlich wird er, wie alle
Spezialpatrone, aus seiner schimmernden Funktion heraus auch Kriegsgott8),
was man nicht auf eine ältere Funktion zurückbeziehen darf.
Der Gott der Fruchtbarkeit erscheint wie seinesgleichen in aller Welt,
cum ingenti priapo 9). Seine freundliche heitere Art wird besonders be-
tont. — Unter seinen Attributen ist das älteste eben der Phallus selbst,
nachgebildet in den »heiligen weißen Steinen« in norwegischen Distrikten10).
Aber alt scheint auch das Schwert — womit meines Erachtens die
J) Kock; vgl. Mogk S. 320, Golther S. 233.
2) Skirn. Str. 3.
3) Denn »Fürst der Götter, wie Gering S. 52 übersetzt, ist er nie gewesen;
Skirn. Str. 3 hebt eben hervor, daß der Gott — der nach Str. 6 eine Riesin
liebt — unter den Göttern den Sterblichen am nächsten steht; folk bedeutet
»Volk als politischer Verband« (Gering, Vollständ. Wörterbuch zu d. Liedern
d. Edda, Halle 1903, S. 281).
4) Anders Mogk S. 322.
5) Krohn, Lappische Beitr. zur germ. Mythol.: Finnisch-ugrische Forschungen
1908, S. 169.
6) Mogk S. 322. — Auch Janus, dessen Tempelschließung für glückliche
Zeiten bezeichnend ist, wird (Wissowa S. 95) mit Unrecht als ursprünglicher
Sonnen- oder Himmelsgott gedacht.
7) Gylf. cap. 24 — Gering S. 318.
8) Lok. Str. 37; vgl. Mogk S. 322.
9) Adam von Bremen cap. 4.
*) Vgl. Mogk, Menschenopfer, S. 634.
i<h
§ 17. Hauptgötter. 199
Identität Freys mit Odin1) schon ohne weiteres ausgeschlossen ist: der
Speergott ist nirgends auch Schwertgott! Dies Schwert schwingt sich
(märchenhaft) von selbst 2), womit wohl nur seine Trefflichkeit ausgedrückt
ist (Im Stil der alten Mythendeutung könnte etwa das automatisch wirkende
Gesetz verstanden werden!) Wenn Loki8) behauptet, Frey habe sein
Schwert verschenkt, um Gerd zu erlangen, so liegt möglicherweise nur
eine falsche Interpretation von Skirn. Str. 25 vor4); oder aber wieder ein
späterer Legendenzug, der Freys Opferbereitschaft in Form einer sym-
bolischen Handlung ausdrückt. Die spätere Spekulation folgert dann
daraus, daß er am jüngsten Tag ohne Schwert kämpfen muß5). — Mogk6)
bezieht auch dies Schwert auf Tyr; aber von Tyrs Schwert wird nichts
Zauberhaftes ausgesagt7).
Frey erscheint (wie Ing, aber auch wie Thor) im Wagen fahrend,
von einem Eber mit goldenen Borsten (Gullinbursti, Symbol des frucht-
baren Ackers) gezogen. Doch ist er auch8) der beste aller Reiter, viel-
leicht auch, nachdem er eine Lieblingsgestalt der Wikingerphantasie ge-
worden war.
Der Hauptsitz seines Kults ist Schweden, wo in Altuppsala sein
berühmter Tempel steht mit seinem Götterbild zwischen denen von
Thor und Odin: er also als Hauptgott über den anderen Haupt-
göttern9). Seine besonderen Verehrer sind die schwedischen Könige; des-
halb heißt er auch Svia god, Schwedengott. Die Schweden hatten die
kulturelle Führung im Norden 10) und zuerst feste staatliche Ordnung.
Von hier geht seine Verehrung (d. h. sein Kult als des Hauptgottes) zu
den Norwegern in die Provinz Drontheim, wo ein Tempel für die ganze
»Amphiktyonie« n) mit geweihten Rossen (wie bei Tyr) steht12) und das
Volk ihn um Frieden und Fruchtbarkeit anruft, sowie um die Zukunft
befragt. Von Norwegen geht der Kult nach Island, wo Hrafnkell 18) ihm
') Mit der auch Mogk in seiner wichtigen Untersuchung über die Germ.
Menschenopfer operiert: ebd. S. 635.
2) Skirn. Str. 9.
3) Lok. Str. 42. Wie die Zeile »Mit Gold erwarbst du Gymirs Tochter«, direkt
auf Skirn. Str. 19 zurückgehen kann.
4) Gylf. cap. 37: Gering S. 329, und cap. 51: Gering S. 349.
5) a. a. O. S. 321.
6) a. a. O. S. 224.
7) Vielleicht ist bei Frey an ein Sichelschwert zu denken, wie es Ammon-Re
besitzt? Er man, Ägypt. Rel., S. 61.
8) Meyer S. 366.
9) Adam von Bremen beschreibt ihn kurz vor 1000; vgl. Mogk S. 367;
Ph. W. Kohlmann, Adam von Bremen, Leipzig 1908, S. lf.
10) Olrik, Nordisches Geistesleben, S. 1.
n) Mogk S. 319.
12) Golther S. 229. 13) Ebd. S. 226.
200 Viertes Kapitel.
einen Tempel errichtet, Thorkell1) ihm; einen Ochsen opfert, so daß Frey
in Familien mit Wodansreligion (Hrafnkell nach dem heiligen Raben be-
nannt) und Thorverehrung (der theophore Name Thorkell; ebenso Thor-
grim) den Sieg davongetragen zu haben scheint. Thorgrim opfert ihm
regelmäßig und Frey zeigt sich dankbar, indem er die Umgebung seines
Grabhügels vor Sonne und Frost schützt, d. h. fruchtbar erhält 2). Über-
haupt ist er der eigentliche »Opfergott«, weil seine Gunst der Einzelne
unmittelbar erprobt; seine Lieblinge bilden eine eigene Kategorie und
nennen sich selbst Freys vtnir (angelsächsisch Freavine, althochdeutsch
Fröwiri) 3). Daher entwickelt sich auch gerade ihm gegenüber besonders
deutlich das naive Gegenseitigkeits Verhältnis. »Wir haben dem Frey
lang gedient«, sagen 998 die Männer von Throndheim zu König Olaf,
»und er hat sich uns gegenüber bewährt. Oft hat er mit uns gesprochen
und uns die Zukunft vorher gesagt; und Frieden und Fülle hat er uns
verliehen.«
Ihm gilt auch das große Winteropfer: an seinem Tempel4) wird dann
sein Bild umhergefahren5): in Form einer »heiligen Handlung« wird
seine ursprüngliche Ankunft (auf Ings Wagen in der Fahrt von West
nach Ost) nachgebildet6).
Ein Beweis für die Verbreitung seines Kultes sind die kleinen Frey-
bilder, wie das silberne, das ein nordischer Wiking von König Harald
geschenkt erhält und das sich dann einen Tempelplatz auf Island auswählt7).
Auch in Deutschland hat man Spuren seines Kultes8) finden wollen, mit
zweifelhaftem Recht9). Dagegen ist es sicher, daß sein Bild noch in
christlicher Zeit lebendig war und Wunder wirkte:
Gunnar Helmingr, ein des Totschlags beschuldigter Mann, flüchtete aus
Norwegen nach Schweden. Damals wurde noch den Göttern geopfert, vor allem
dem Frey. Das Götzenbild des Frey redete mit den Leuten, auf Eingebung des
bösen Feindes berichtet der Sagaschreiber, und hatte ein junges Weib zu seinem
Dienst. Sie galt als des Gottes Frau und war über Freys Heiligtum gesetzt
Gunnar flehte sie um Schutz an. Obwohl der Gott dem Fremdling nicht günstig
schien, behielt ihn die Priesterin doch bei sich. Die Zeit kam heran, da die Frau
das Götzenbild auf einem Wagen im Lande herumführen sollte, damit Frey den
Leuten fruchtbares Jahr bringe. Die Priesterin saß beim Gott auf dem Wagen,
die Dienstleute, unter ihnen Gunnar, gingen zu Fuß voraus. Als sie einmal
übers Gebirge fuhren, erhob sich ein großes Unwetter. Nach und nach ließen
1) Ebd. S. 227, Mogk S. 322; ebenso Oddr: Golther S. 228.
2) Golther S. 227.
3) Ebd. 4) Siehe u.
B) Mogk S. 322. 367.
«) Golther S. 208 Anm.
7) Golther S. 231.
8) Im Straßburger Blutsegen: Müllenhoff und Scherer, Denkmäler IV, 6.
9) Vgl. Golther S. 227 Anm.
§ 17. Hauptgötter. 201
alle bis auf Gunnar den Wagen im Stich. Gunnar führte die Zugtiere, als er
aber müde wurde, setzte er sich auf den Wagen. Die Frau sagte : Sieh zu, sonst
erhebt sich Frey gegen Dich! Gunnar versuchte noch einige Zeit zu gehen, als
er aber wieder müde ward, sprach er: So will ichs versuchen, Frey zu wider-
stehen, wenn er mich angreift. Er ringt mit Frey und ist nahe daran, zu unter-
liegen. Da gelobt er, nach Norwegen zurückzukehren, mit König Olaf sich zu
versöhnen und den wahren Glauben anzunehmen, und es glückt ihm, Frey zu
fällen. Der böse Geist lief aus dem Götzenbild, das Gunnar in Stücke schlug.
Dann ging er zum Wagen und befahl der Frau, sie solle ihn für den Gott aus-
geben, wozu sie gern bereit war. So fuhr Gunnar als Frey zu den Leuten. Das
Wetter hellte sich auf und sie kamen zu dem Gastgebot, das ihnen angerichtet
war. Dort waren viele von den Leuten, die zuvor dem Wagen nachgelaufen
waren. Dem Volke dünkte es viel wert, wie Frey seine Macht zeige, daß er in
solchem Unwetter, wo alle ihn verließen, doch mit seiner Frau zu den Höfen
käme, und daß er nun unter den Leuten wandle und wie andere Menschen
trinke. So besuchten sie den Winter über die Gasterejen. Frey redete fast allein
mit seinem Weib, nur wenig mit anderen, er wollte kein blutiges Opfer an-
nehmen, sondern nur Gold und Silber, schöne Gewänder und andere Kostbar-
keiten. Mit der Zeit wurde Freys Weib schwanger. Das galt für ein gutes
Zeichen. Die Witterung war gut und alles deutete auf ein fruchtbares Jahr.
Weithin verbreitete sich die Kunde, wie mächtig der Schwedengott sich zeige.
Auch König Olaf vernahm davon, ihm ahnte die Wahrheit. Er schickte Gunnars
Bruder Sigurd nach Schweden, und der erkannte alsbald, wer Frey war. Bei
Nacht und Nebel entwich Gunnar mit seinem Weib und allen Kleinodien nach
Norwegen und ließ sich dort taufen1).
Wie Golther bemerkt, ist der Freykult der Umfahrt mit der Priesterin
hier noch in der Erinnerung bewahrt, wenn auch in böswilliger Ent-
stellung 2).
Geopfert werden ihm (neben dem Pferd und dem Ochsen, den
Haustieren des Landmanns) vorzugsweise Eber, als Sinnbild der Frucht-
barkeit. Im Spätwinter zum Opferschmaus wird der größte und schönste
cber dargebracht: sonargöltr, der » H erden eber « 3). Bei diesem feier-
ichen Hauptopfer werden Gelübde abgelegt, vorzugsweise wohl um
»Glück«4). Auch diese Sitte dauert noch lange fort: in Schweden,
England, Deutschland ist der Schweinskopf Weihnachtsgericht. »Alt scheint
auch der Brauch, Juleber aus Kuchenteig zu backen« — symbolische
Opfertiere — »und so unter die Frucht zu reiben, damit die nächste
Aussaat kräftig aufgehe« 5). Dagegen hat die berühmte Eberkopf-Phalanx,
J) Golther S. 229.
2) Kunstvolle Spekulationen über das »Frey-Ritual« bei Schuck, Studier
i nordisk Literatur- og Religionshistoria 2, 2481; vgl. Kauffmann, Arch. f.
Rel.-Wissensch. 11, 116.
3) Sievers, PBB. 16, 542; früher nach Analogie der »Sündenböcke«, vgl.
Frazer 2, 194 f., fälschlich als »Sühneber« gefaßt, während er doch nur um
Fruchtbarkeit geopfert wird.
4) Helg. Hjörv. zu Str. 31.
B) Meyer S. 327.
202 Viertes Kapitel.
haben die Eberhelme der Angelsachsen, haben Namen wie Hildisvin und
Hildigöltr , Kriegseber1), mit dem Friedensgott schwerlich etwas zu
schaffen.
Später wird er noch als Schutzherr der Hügelgräber angesehen2);
wohl weil er zum Gott der Erde geworden war. Schwerlich wird das
Beisetzen unter der Erde mit dem Ausstreuen der Saat verglichen.
Von der jüngeren Mythenbildung wird Frey als Spender des
Reichtums ein Liebling auch der vom Ackerbau zum Raubzug flüchtenden
Wikinger. In diesen Kreisen scheint sich der von Gold und Glanz
starrende Schatz Freyrs angehäuft zu haben3). Der Eber, einst vielleicht
Bild des Dämon Freyrs4), erhält goldene Borsten5), und sein Glanz, wie
der von Freys Schwert, erhellt die Nacht. Das Schiff Skidbladnir6), von
den Zwergen verfertigt und von Loki dem Freyr gegeben 7), hat stets
günstigen Fahrwind und jede gewünschte Form8). Schließlich wird ihm
auch noch der tropfende Ring Draupnir zugeteilt9), den eigentlich Odin
erhielt l0), und die Äpfel der Idun n) — der Reiche kann alles haben.
Meyer12) deutet das ins einzelne naturmythisch aus; besser betont man wohl
nur den Gesamtcharakter: es sind lauter »Glücksgaben« märchenhafter
Art, die ein paradiesisches Schlaraffenland darstellen, in dem sich das
Schwert von selbst schwingt, der Ring sich von selbst mehrt, das Schiff
seinen Wind und seinen Raum selbst bestimmt, gerade wie auch die
Ähren auf unbesäetem Acker wachsen werden 13).
Nur aus Anspielungen wissen wir, daß Freyr »der weiße Würger
des Bell« 14) war. Er soll ihn mit der Faust erschlagen haben, weil er
sein Schwert dem Skirnir gegeben hatte 15). Dagegen streitet, daß Gerd ls)
in Skirnir, der auf dem Vorplatz steht, ihres Bruders Mörder fürchtet;
T) Golther S. 224.
2j Chadwick, The cult of Odin, S. 59f.; vgl. die Legende von Thorgrim
o. S. 200.
3) Vgl. v. d. Leyen S. 56f.
4) Wie des keltischen Moccus; Anwyl, Celtic Religion, S. 30, vgl. S. 24.
5) Gylf. cap. 49: Gering S* 345; vgl. Meyer S. 158.
«) Vgl. o. S. 197.
7) Gylf. cap. 43: Gering S. 333; Skäldskap. cap. 3: Gering S. 365.
8) Vgl. Meyer S. 159.
9) Skirn. Str. 21.
10) Meyer S. 158.
n) Skirn. Str. 19.
12) S. 159.
13) Vol. Str. 62.
,4) Vol. Str. 53.
15) Gylf. cap. 37: Gering S. 329.
16) Skirn. Str. 16.
§ 17. Hauptgötter. 203
oder ist ihr prophezeit, daß ihn ein Reiter töten wird x), und wehrt sie
sich deshalb so heftig gegen den Fremdling, der sie mit goldenen
Äpfeln bestechen will2)? Beli war jedenfalls ein Riese, mit dem Freyr
ringen mußte wie Thor mit Hrungnir3), woraus dann vielleicht die
Legende entstand, er habe zweimal ohne Schwert kämpfen müssen. —
Derartige Mythen, die die Götter noch in einem rohen Ringkampf
zeigen4), haben immer die Annahme hohen Alters für sich. So muß
auch Beowulf mit dem Ungeheuer ringen. Die älteste Vorstellung ist die,
daß das Schwert gegen Dämonen versagt5); daraus entwickelt sich dann
ein ätiologischer Mythus vom Verlieren des Schwertes bei Frey (wie bei
Rüdiger von Bechelaren ?), des Hammers bei Thor. So muß auch Tyr
dem Fenriswolf in den Rachen greifen. — Da einmal der Mörder Belis
besonders »der glänzende« heißt6), war wohl Beli ein dunkler Dämon,
den der helle Fruchtbarkeitsdämon töten mußte.
Emanationen Freys sind seine Diener: Byggwir und Beyla7)>
wohl nichts anderes als der typische »Oberknecht« des Ackerbaugottes
und die »mistbesudelte« Magd8).
Wohl nur aus der Anlehnung an die Heldensage ist Skirnir ge-
boren9), der die Erntejungfrau Gerd aus der Gewalt der Reifriesen be-
freit (?): das Gedicht Skirnisför bringt jedenfalls den Mythus in rein novel-
listischer Form. Das erotische Moment lag bei dem Gott der Fruchtbar-
keit nahe. — Nachher wird Skirnir allgemeiner Götterbote10). Olrik11) hält
solche Götterdiener für eine typische Erscheinung und vergleicht Thors
Thjälfi und Freys Byggwir, der aber doch nur schlecht bezeugt ist12).
*) Skirn. Str. 15.
2) Str. 19; wie Eriphyle durch Gold bestochen wird: Preller 2, 351.
3) Skäldsk. cap. 1 : Gering S. 360.
4) Vgl. z. B. den Kampf Indras mit Vritra MacdonellS. 60; doch wandelt
auch dieser sich in einen Fernkampf wie der Apollons mit Python, Preller
1, 239. 287.
5) Brandl in Pauls Grundriß 2 2, 995.
6) Vol. Str. 53; nicht in dem Fragment bei Heinzel-Detter 1, 195, wo
sein Roß »mit blutigen Hufen« erwähnt wird.
7) Lok. Str. 43—46. 56; vgl. Golther S. 234.
8) Oder ist an Consus und Ops zu erinnern, die uralten römischen »Götter
des Erntesegens« (Wissowa S. 166)? Daß der Altar des Consus unterirdisch
war, weil man das Getreide unter der Erde bewahrte, könnte mit Lokis Spott
(Str. 46) gemeint sein: »im Stroh des Estrichs lagst du versteckt, als die Krieger
zogen zum Kampf«. Die Alliteration der Namen entspräche der von Consus und
Ops Consiva (Wissowa S. 168).
9) Doch vgl. Mogk S. 321 nach Niedner, Zschr. f. d. Alt. 30, 135f.
10) Gylf. cap. 34: Gering S. 324.
n) Danske Studier 2, 139.
32) Vgl. allgemein o. S. 42.
204 Viertes Kapitel.
Njörd1).
Njörd bietet — vielleicht neben Balder — das schwierigste Problem
der altgermanischen Mythologie, gerade auch deshalb, weil neben den
dunklen Punkten völlig helle liegen. Dazu gehört vor allem der Zu-
sammenhang mit Frey. »Njörds Wesen deckt sich mit Freyr«, wie
Golther2) grammatisch anfechtbar, inhaltlich zutreffend sagt. Die alte
Mythologie erkennt das noch in ihrer Weise an: sie macht Njörd zum
Vater des Freyr, d. h. sie sieht die beiden Gestalten als wesensgleich an,
Freyr aber als die jüngere Entwicklung. — Freyr und Njörd werden fast
stets zusammengenannt und »durch prädikativen Singular gewissermaßen
als Einheit aufgefaßt«3), wie indisch Mitra und Varuna. Sie sollen
Reichtum spenden ; sie werden bei Schwur und Gelübde gemeinschaftlich
angerufen. Sie besitzen gemeinschaftliche Haine und Ortschaften4) »haupt-
sächlich in Uppland, in Schweden und den angrenzenden Gauen und
einem großen Teile Norwegens, namentlich im Throndheimer Gebiete.«
Natürlich gibt es auch Stätten, in denen (wie sonst der im Norden
mächtigere Frey) Njörd dominiert, so5) die Insel Njardarlog mit einem
heiligen See6). »Reich wie Njörd«, eine sprichwörtliche Wendung, be-
zeichnet auch ihn wie Freyr als Herrn des Reichtums. — Endlich bilden
die beiden mit (der sekundären) Freya die Gruppe der Wanen, der
Kulturgötter von Westen.
Njörd ist aber weiter auch ohne Zweifel identisch mit der Nerthus
des Tacitus7). Dieser berichtet von einer Reihe die Langobarden um-
wohnender Stämme: »sie haben nichts gemein, außer daß sie einen ge-
meinschaftlichen Kult der Nerthus, d. h. der Mutter Erde, besitzen und
meinen sie greife in die Angelegenheiten des Einzelnen wie der Völker
ein. In einer Insel des Ozeans ist ein unberührbarer Hain (castum
nemus: der Hain ist tabu); in ihm ein geweihter Wagen, mit einem
Kleid überdeckt. Nur der Priester darf ihn berühren. Dieser erkennt j
die Herankunft der Göttin und folgt verehrungsvoll ihrer Umfahrt, die
mit Kühen geschieht. Dann sind Festtage, und jeder Ort feiert, den sie
ihrer Ankunft oder gar ihres Aufenthaltes würdigt. Dann wird kein Krieg
begonnen, die Waffen ruhen; alles Eisen liegt versperrt; dann, nur dann
kennt und liebt man den Frieden. Bis derselbe Priester die Göttin, die
des Verkehrs mit den Sterblichen ersättigt ist, wieder in den Tempel bringt;
dann werden Wagen und Kleider und, wenn man das glauben darf, die
Gottheit selbst in einem verborgenen See abgewaschen. Sklaven leisten
*) Meyer S. 363; Mogk S. 323; Golther S. 218f., 238i; M. Olsen, Det
gamle norske önavn Njardarlog, Christiania 1905.
■) S. 225. *) Mogk a. a. O.
4) Mogk S. 323. «) Olsen S. 13.
6) a. a. O. S. 15. 7) Germ. cap. 40.
§ 17. Hauptgötter. 205
dabei Dienste, die dann gleich der See verschlingt. Das bringt einen
geheimen Schrecken hervor und ein frommes Bangen: was das wohl
sein möge, was man nicht sehen darf, ohne zu sterben x).
An der Deutung der Nerthus als Terra mater liegt kein Grund vor
zu zweifeln ; das gleiche ist gemeint, wenn Tacitus 2) einen Teil der Sueben
der Isis opfern läßt. Auch ist die Bedeutung dieses Zeremoniells längst
mit Sicherheit gedeutet. Nur muß man bei Isis, Nerthus, Terra mater
nicht an eine Gottheit der abstrakten, dem »Himmel« adäquaten »Erde«
denken, sondern an die »Göttin des Saatfeldes«, das den Samen aufnimmt
und in seinem Schöße sich entwickeln läßt3).
Die Göttin der fruchtbaren Erde ist an irgendeiner Stätte zu den
Menschen gekommen; diese Stätte ist dadurch geheiligt. Sie liegt an
einem See, gewiß weil die Göttin mit ihrem Wagen über das Wasser an
die »Schiffsstätte» 4) gefahren kam — wie Ing-Frey. Dieser Wagen ist
der Fetisch, dem zu Ehren Priesterschaft und Fest gegründet sind 5). Aus
bestimmten Merkmalen, etwa dem Sprossen des ersten Grün, schließt der
Priester, die unsichtbare Gottheit habe sich auf den Wagen niedergelassen,
der sonst unberührt dasteht, mit Kleidern (und Zierrat) bedeckt wie andere
Fetische ö). Sobald diese Zeichen sich gezeigt haben, wird in Form der
heiligen Handlung der erstmalige Umzug der befruchtenden Göttin wieder-
holt. Wohin sie kommt, dahin bringt sie den Segen der Fruchtbarkeit7).
Dies ist heilige Zeit: die Göttin bringt den Frieden Freys. Endlich ist der
Umzug vollendet und im Allerheiligsten des Tempels findet eine Schluß-
zeremonie statt. Die Analogie anderer Kultusgebräuche läßt vermuten,
daß ein Sklave als Stellvertreter des männlichen Fruchtbarkeitsgottes mit
dem Symbol der Göttin — etwa einem Baumstumpf mit Andeutung
x) Mannhardt und nach ihm neuerdings Mogk (Menschenopfer S. 631)
haben den Bericht des Tacitus beanstandet: er sei durch die römischen Opfer-
feste der Magna Mater beeinflußt. Mir scheint kein Grund, an der kultischen
Übereinstimmung gerade hier zu zweifeln, wo an sich nicht unwahrscheinliche
Berichte durch die Analogie der späteren Frey-Umzüge gestützt werden.
2) Germ. cap. 9.
3) WissowaS. 159; Dieterich, Mutter Erde, scheidet beide Anschauungen
nicht immer streng genug. Die abstrakte Erdgöttin z. B. indisch Prthivi (Mac-
don eil S. 88), griechisch Gaea (Prell er 1, 634); ihr entspricht altgermanisch
Jörd (siehe u.).
*) Noatün Grim. Str. 16 — Asciburgium, siehe o. S. 193.
5) Es ist der »leere Götterthron«, auf den sie sich wieder niederlassen soll
wie Jahve auf seine Lade (Dibelius, Die Lade Jahves, S. 5, vgl. 27; übrigens
wird Jahves »tragbarer Thron « — S. 46 — auch »Wagen« genannt, vgl. S. 43).
6) Siehe o. S. 30.
7) Sie befruchtet das Land, wie der umherziehende Faunus die Frauen, die
er berührt oder durch seine Diener berühren läßt; Wissowa S. 173.
206 Viertes Kapitel.
weiblicher Geschlechtsteile — einen ItQÖg yäfiog1) vornehmen mußte, um
die Göttin und durch sie das Land zu befruchten; danach wurde er ge-
tötet Eine Reinigungszeremonie mag die Feier beendigt haben2).
Der weiblichen Nerthus steht nun der männliche Njörd gegen-
über, der aber noch immer einen femininen Namen hat und merkwürdiger-
weise eine Gattin mit masculinem Namen und Wesen — Skadi. — Olrik
erklärte Njörd früher für einen alten Sturmgott, den lappischen Bigga-
galles3), den die ursprünglich nicht seefahrenden Lappen übernommen
hätten4); doch scheint er ihn jetzt auch nur als »Gott der Seefahrer und
des Wohlstandes« anzusehen5), und sollte ein solcher sich aus einem
Sturmgott entwickeln können, der nur zu schaden versteht6), nicht zu
nützen? — Endlich Mogk7) deutet den Ritus als Regenzauber, wozu
meines Erachtens die ganze feierliche Haltung nicht paßt: der Regen-
zauber scheint überall einen fröhlichen Charakter zu haben und durchaus
weder Priester- noch Menschenopfer zu erfordern. Sein Charakteristikum
ist besonders die Nacktheit8).
») Vgl. z. B. Eisler, Südd. Monatsh. Dez. 1909 S. 646.
2) Die letzten Vermutungen stützen sich auf die vielfachen neueren Be-
obachtungen über Befruchtungszauber; vgl. z. B. 1. Moses 30, 3, wo Bilha auf
Raheis Schoß gebären soll, um sie fruchtbar zu machen, und allgemein Dieterich,
Mutter Erde; dagegen wurde die Bedeutung des Umzugs auf Grund anderer
solcher Umzüge von Vegetationsdämonen schon von Mannhardt, Wald- und
Feldkulte 1, 567 f. erkannt. — Schucks Auffassung der Nerthus als einer
chthonischen Gottheit (Studier i Nordisk Literatur- og Religionshistoria 1, 115 f.)
kann ich mich so wenig wie den anderen Spekulationen seines Göttermets an-
schließen. Vgl. übrigens schon Koegel, Gesch. d. d. Lit. 1, 21 f.: die Göttin
der Fruchtbarkeit kehre in die Unterwelt zurück. Aber Persephone wird ge-
raubt, Nerthus kommt und geht freiwillig. Allerdings stützt sich die chthonische
Deutung auf beachtenswerte Etymologien: Noreen (Abriß d. urgerm. Lautlehre
S. 209) und Kögel (Gesch. d. d. Lit. 1, 22) stellen Nerthus mit v^raQoi,
»untere Götter, Götter der Unterwelt«, zusammen. Dies hat Le'itzmann
(PBB. 32, 60 f.) aufgenommen und von hier das dunkle angelsächsische Wort
neorxnawong für das Paradies geistreich als »Wiese der Unterirdischen« gedeutet
(S. 65). Nur wage ich einer Etymologie noch nicht beizustimmen, gegen die
die Beziehungen von Nerthus— Njörd zu dem priapischen Gott Frey so kräftig zu
sprechen scheinen. Die Erdgöttin ist freilich als solche in gewissem Sinne immer
chthonisch; ihre Kraft wohnt unter der Erdoberfläche; aber im theologischen
Sinn darf so bloß eine Gottheit heißen, deren Wirken an die Unterwelt ge-
bannt ist.
3) Danske Studier 2, 51 f., vgl. S. 42; dazu Olsen a. a. O. S. 27 Anm.
4) Vgl. K. Krohn, Finnisch-ugrische Forschungen 1908, S. 173.
5) Olrik, Nordisches Geistesleben, S. 36.
6) Lappischer Windzauber bei Krohn a. a. O.
7) Menschenopfer S. 632.
8) Wein hold, Zur Geschichte des heidnischen Ritus, Berliner Sitzungs;
berichte 1896, S. 1—50.
§ 17. Hauptgötter. 207
Der gemeinschaftliche Name altgermanisch nerthus äst noch nicht
►icher erklärt; nertu, »guter Wille«1)? keltisch nerth, »Kraft, Macht?«2).
Wahrscheinlich ist es, wie Frey, ein eukomiastischer Titel.
Die Göttin Nerthus hat einen Priester zur Seite, der Gott Frey eine
Driesterin3). Offenbar war früh aus einem doppelgeschlechtigen Vegetations-
iämon ein Paar geworden, wie gerade unter diesen häufiger4). Die ursprüng-
iche Einheit wird noch gefühlt, wenn »Frey und Njörd durch prädika-
iven Singular gewissermaßen als Einheit aufgefaßt werden«5). Nach der
Spaltung muß jedesmal Priester oder Priesterin den fehlenden Teil ersetzen:
in der Legende von Gunnar Helmingr 6) sitzt die Priesterin bei dem Gott
uif dem Wagen, wie bei Tacitus der Priester die Göttin begleitet. Ursprüng-
ich hatten wohl sie die heilige Hochzeit zu vollziehen, die dann wegen
des Privilegium odiosum der ihr folgenden Opferung auf Sklaven ab-
gewälzt wurde.
Wir nehmen also an: Frey ist ursprünglich mit Njörd-Nerthus identisch.
Wie kommt es aber zu der Spaltung7)?
Es ist oft betont worden, daß wir hier den ersten ausgebildeten Kult
bei den Germanen treffen. Bei Tacitus begegnen hier zuerst Priester und
feierlicher Ritus; beides bleibt bei Frey gewahrt, weit über die allgemein
üblichen Maifeste heraus. Besonders wichtig ist ferner die Zentralisierung
*) Golther S. 219. a) Mogk S. 367.
3) Vgl. Golther a. a. O. Ähnlich durften dem Fest des Faunus keine
Weiber, dem der Fauna keine Männer beiwohnen: Wissowa S. 147.
4) Römisch Pales männlich und weiblich, Pomonus und Pomona: Wissowa
;». 165; auch Isis und Osiris (Er man, Ägypt. Rel., S. 34) sind Geschwister-
fcatten wie »Njörd mit seiner Schwester den Frey erzeugt« (Golther S. 219).
Man denke auch an indisch Yama-Yami.
5) Mogk S. 323, wie Indravaruna indisch; schon urarisch: Ed. Meyer,
Gesch. d. Alt. 2 1, 2; S. 580.
6) Siehe o. S. 200.
7) Axel Kocks Versuch, eine Entstehung des männlichen Njörd aus der
weiblichen Nerthus auf rein grammatische Weise zu erklären (Ztschr. f. d. Phil.
28, 289 f.), ist wohl außer von Krohn (Finnische Beitr. zur Germ. Myth. S. 244)
von niemandem gebilligt worden. Wie viele Eigennamen mit weiblichen
Endungen führen z. B. bei den Römern Männer! Eher könnte man noch an
eine ikonische Mythe denken: wie der sacerdos muliebri ornatu bei den Naha-
narvalen (Germ. cap. 43) oder wie jenes Kultbild des in wallende Kleider ge-
hüllten Christus, aus dem die Kümmernis-Legende entstand (vgl. Bernoulh,
Heilige der Merowinger, S. 172) zu Umdeutungen aus dem männlichen ins weib-
liche Geschlecht, so könnte eine rohe alte Fetischgestalt zu entgegengesetzter
»Motion« geführt haben. Indes wir haben hierfür keinen Anhalt; auch würde
ich mich wohl trauen, einzelne Mythen, nicht aber ganze Göttergestalten so ab-
zuleiten. — Ob der feminine Name neben dem masculinen , wie (mit anderer
Entwicklung) Freyja neben Frey noch lebte, als Loki seine Schelte (Lok. Str. 32. 36)
sprach ?
208 Viertes Kapitel.
des Kults bei Nerthus wie bei Frey in Uppsala — die anderen Tempel
erscheinen nur als dessen Ableger, etwa wie im Frankenreich die Martins-
kirche von Tours dominiert x). Sollten diese sonst verfrühten Erscheinungen
nicht auf fremden Einfluß zurückgehen? Olsen meint, daß die Charuden
den Nerthuskult nach Hordeland getragen und dort die Ursprungstätte an
einem heiligen See Vevatn3) nachgebildet haben; aber ebenso könnte
schon der Taciteische Brauch Nachbildung sein. Sein merkwürdiges
Fortleben — noch im 12. Jahrhundert fährt in den Niederlanden der
Maiwagen um3) — beweist hohes Alter nicht für die rituellen Einzel-
heiten, nur für die Frühlingsfeier als solche. Seefahrer und Fischer rufen
vorzugsweise Njörd an; Beherrscherin des Meeres und Beschützerin der
Seefahrer ist Isis4), zu Tacitus Zeit längst in Rom rezipiert samt ihrem
Frühlingsfest mit dem Prunkschiff an der Tibermündung. Ebenso fährt
die Terra Mater am 27. März mit Rindern um. Weshalb also den Tacitus
anzweifeln, der5) erzählt: »pars Sueborum et Isidi sacrificat ; unde
causa et origo peregrino sacro partim comperi, nisi quod Signum
ipsum in modum liburnae figuratum docet advectam religionem?<
Irgendeine derartige Gottheit, deren Attribute, deren Wirksamkeit und
deren mannweibliche Art an Ing-Frey erinnerten, wurde von- den Germanen
rezipiert und als weibliche Hypostase des Fruchtbarkeitsgottes verehrt.
So wäre denn bei der altgermanischen »Erdgöttin«6) die Zentralisation
des Kultes, die Bewahrung eines festen Rituals, und als beider Wirkung
und Förderung zugleich die Einsetzung von Priestern zu erklären, wobei
nochmals daran erinnert sei, daß die isländischen Goden sich nach Frey
benannten.
Dieser Kult baut sich also auf alter dämonischer Grundlage (Umzug)]
unter Benutzung fremder Riten (Priestertum ; hyög ydjuog? Ablution) auf.l
Da Njörd und Frey identisch sind, ist ihr Kult es auch: Njörd ist nachj
unserer Meinung nur der Name, den Frey als Gatte der Nerthus führt,
nachdem diese von ihm differenziert worden war. Daneben besteht der
alte männliche Frey fort. Wie er in Uppsala seinen Tempel hat, besitzt Njörd
seinen heiligen Hain als zentrale Kultusstätte7) vielleicht auf Seeland, der
Insel der Gefjon8). Mogk9) deutet den Bericht des Tacitus auf Menschen-
') Bernoulli, Die Heiligen der Merovinger, S. 222f.
2) a. a. O. S. 23.
3) Für spätere Bräuche vgl. Meyer S. 331, Mogk S. 368.
4) Wissowa S. 295.
5) Germ. cap. 9.
6) Mogk S. 367, Golther S. 456, Meyer S. 420.
7) Nach Much, PBB. 17, 195 vgl. Mogk S. 367; ders. Menschenopfer S. 632f.
8) Die starke Verbreitung seines Kults bezeugt die Interpolation Väf. Str. 38 :
Njörd . . . der ob tausend Altaren und Tempeln waltet.
9) S. 367.
§ 17. Hauptgötter. 209
opfer, was über das Opfer des Gottes-Stellvertreters heraus nicht richtig
zu sein braucht1).
Die religionsgeschichtliche Stellung der beiden Wanen ist
durch den Mythus vom Wanenkrieg 2) erhärtet. Dieser »älteste Kult, der
sich im mittleren Skandinavien klar erkennen läßt«, ist dort jünger als die
Thor-Religion, älter als die Odins und hat wohl auch eine nationale
Färbung: Schwedengötter gegen norwegisch-dänische Gottheiten3). Daß
der Kult von Njörd und Frey zu den Finnen gedrungen ist, hat zwar
nichts Uuwahrscheinliches, ist aber meines Erachtens durch K. Krohn4)
nicht bewiesen worden. Eher könnten die Beziehungen der Skadi5) auf
einen mythologisch -kultischen Tauschverkehr schließen lassen. Beide
Götter haben vielleicht auf eine Gestalt des finnischen Kalewala gewirkt6).
Eine Emanation der Nerthus scheint Nehalennia7).
Skadi8).
Skadi gehört wieder zu Njörd, wie dieser zu Frey. Nach altnordischen
Berichten — und sie ist nur in Skandinavien verehrt worden — ist sie eine
Tochter des Riesen Thjazi 9) ; deshalb wohnt sie auch später in der Riesen-
welt Thrymheim 10). Sie ist als Geisel ausgetauscht worden, als die Äsen
ihren Vater getötet hatten. Aber in Wirklichkeit ist sie eine finnische
Götttin11). Der norwegische Mythus läßt die als Mannweib gedachte und
daher masculinisch, wohl im Sinne von altsächsisch scatho, angelsächsisch
sceada latro, hostis benannte Göttin Skadi im alten Reiche ihres Vaters,
des Riesen Thjazi, auf dem Gebirge ganz nach Finnenart als Jägerin auf
Schneeschuhen hausen. Als Vertreterin des Finnentums wird sie an-
gesehen, wenn sie mit Odin außer anderen Ahnen edler Geschlechter
vor allem den Säming, den Ahnen der Herrscher von Halogaland, also
derjenigen Landschaft, wo Lappen und Germanen zusammen lebten wie
*) Der berühmte Sonnenwagen aus der älteren Bronzezeit (S. Müller,
Urgeschichte Europas, S. 117) könnte allenfalls auch den Wagen der Nerthus
vorstellen und die vergoldete Scheibe die ährentragende Erde; nur ist das vor-
gespannte Tier ein Roß und keine Kuh.
2) Siehe u. § 28.
3) Vgl. Mogk S. 323, Golther S. 121 f.
4) Finnische Beitr. zur germ. Mythol., Helsingfors 1906, S. 244 f.
5) Siehe u.
6) K. Krohn, Finnische Beitr. zur germ. Mythol., Helsingfors 1906, S. 231 f.
7) Siehe u.
8) Golther S. 238. 480; Meyer S. 363; Mogk S. 311.
9) Mogk S. 311.
10) Ebd. S. 329.
u) Wie schon W. Müller (Mythol. der Heldensage, S. 101) und besonders
Müllenhoff (D. Alt. 2, 55f.; vgl. Golther S. 481) ausführten.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 14
210 Viertes Kapitel.
nirgendwo sonst, erzeugt haben soll. Denn altnordisch Sämr ... scheint
durchaus dasselbe mit lappisch Säbme plur. Samek, wie die Lappen sich
selbst benennen . . . x). In diesen Mythen tritt uns unverkennbar die Ansicht
entgegen, daß Lappen und Finnen die älteste Bevölkerung des Landes
waren, die durch die im Dienste der Äsen und Wanen stehende der
Nordmannen zurückgedrängt wurde.« Ein Mythus aus dem Kampf
zwischen finnischen und germanischen Gottheiten wäre dann also wohl mit
dem Mythus vom Krieg zwischen Äsen und Wanen kontaminiert worden.
Skadi begegnet auch als Windname2) und ist von Much3) gewiß
zutreffend als die Verkörperung des aus dem Norden einfallenden kalten
Windes gedeutet worden. Sie wäre also ursprünglich eine finnische
Göttin, die dem wilden Eiswind gebietet, und vor der das Schiff ge-
schirmt werden muß4), Frey aber gibt günstigen Fahrwind (Skidbladnir!).
Nun ist mit ihr ein seltsamer Mythus verbunden: der von der Mißehe
mit Njörd. Sie verträgt die Küste mit den krächzenden Vögeln nicht, er
nicht die Berge mit dem Geheul der Wölfe. Deshalb vergleichen sie
sich dahin, daß sie neun Nächte in der Riesenheimat wohnt und dann
drei in Noatun. Ein seltsamer Ausgleich! Bliebe sie fort, wie die
Schwanenjungfrauen , wäre es verständlicher. Denn wenn Persephone
einen Teil des Jahres an die Oberwelt zurückkehren darf5), so ist das
anders: die Teilung des Aufenthalts zwischen Ober- und Unterwelt be-
gegnet auch sonst (man denke nur an die Dioskuren), aber Skadi ist keine
chthonische Gottheit, und dieser Ortswechsel läßt sich nicht so auslegen.
Ich habe deshalb6) an eine ikonische Mythe gedacht: Überführung eines
Götzenbildes der Finnen nach Noatun, das dann nach einem Krieg die
Residenz bei Finnen und Germanen teilte. Ursprünglich würde es sich
wohl aber um einen Austausch gehandelt haben, wie Loki 7) andeutet: Njörd
wurde zu dem Eisriesen geschickt, dessen Töchter ihn verhöhnten8.
Für singulären Ursprung der Aufnahme Skadis sprechen auch die
märchenhaften Züge, die sich daran knüpfen9). Ihr Vater soll Idun —
eine späte Gottheit — entführt haben; dafür wird er von den Äsen ge-
tötet: ätiologischer Mythus als Urgeschichte. Nun hat Skadi eine Buße
zu fordern: sie darf einen Äsen als Gemahl wählen; aber sie soll nur
J) Doch vgl. Much, Zur Rigsthula, Festschr. f. J. v. Kelle 1, 235 f.
2) Mogk S. 307, Meyer S. 236.
3) Ztschr. f. d. Alt. 36, 127.
4) Häv. Str. 153.
5) Prell er 1, 763, vgl. 784, auch 405.
6) Ztschr. f. d. Phil. 38, 171.
7) Lok. Str. 37.
8) Anders Golther S. 240.
9) Vgl. v. d. Leyen S. 35f.
§ 17. Hauptgötter. 211
die Füsse der Auszuwählenden sehen. Bei dieser Kotillontour vergreift
sie sich und wählt Njörd statt Balder: ätiologischer Mythus zur Erklärung
der unglücklichen Ehe1). Außerdem werden Thjazis Augen2) an den
Himmel versetzt. Aber noch bleibt sie finster3), bis Loki sie durch einen
derben phallischen Schwank zum Lachen bringt4). Dies krause Durch-
einander scheint sich erst zu lichten, wenn man in der einen Bedingung
(Gattenwahl) eine Doublette der anderen (erstes Lachen) sieht. Die Winter-
göttin, die die Tochter des strengen, die Götter selbst schaudern lassenden
Winters (daher später die verjüngende Idun hineingezogen ?) ist, soll zum
Lachen gebracht werden: das Lachen der Sonne als Zeichen des Winterendes.
Das ward nun wohl bei der heiligen Handlung an ihrem Fest durch groben
Spaß bewirkt, der, jedesmal neu improvisiert, die Darstellerin der Skadi zum
Lachen reizen mußte5); oder auch durch ein Spiel wie die Fußwahl, die
vielleicht zuerst zum Bestimmen der »Mailehen« galt: noch jetzt wird die
Maifrau im Amte Gifhorn ausgeloost wie sonst ersteigert6). Solche Fest-
gebräuche wären dann in den Mythus geraten. »Thjazis Augen« aber waren
wohl ein Sternbild, das die Jahreszeit des »Winteraustreibens« anzeigte.
Auf jeden Fall scheint die echte alte Gattin Njörds Gerd7) gewesen
zu sein, ein riesischer Dämon des Erntefeldes.
Skadi, nach der schwerlich Scadinavia heißt8), hat noch weitere
Verwandtschaft9): ihr Sohn Säming vertritt10) die finnische Urbevölkerung,
»schwärzlich von Aussehen«.
Weitere Sagen knüpfen sich auch an diese Gestalt. Sie soll
mit Loki gebuhlt haben11), was sich aber bei allen Göttinnen von
selbst versteht; aber sie wird auch zu Lokis Bestrafung in besondere
Beziehung gebracht: nur sie beteiligt sich daran (sonst werden nur »die
Äsen« genannt), indem sie die giftige Schlange über Lokis Antlitz be-
festigt, deren Gift wieder Sigyn auffängt12). Ich habe auch dies13) als
einen Mythus aufgefaßt, der aus alten Götzenbildern herausgedeutet
J) Nach späterem Mythus wird Njörd einst ganz heimkehren, Vaf. Str. 19.
2) Wie Aurvandils Zeh, Golther S. 269.
3) Als Wintergöttin: Much, Ztschr. f. d. Alt. 36, 126f.; Mogk S. 351.
4) Märchenmotiv von erzwungenem Lachen : v. d. L e y e n S. 37. Man denke
noch an Mörikes Schöne Lau!
5) Vgl. meinen Aufsatz a. a. O. S. 169. Lachen als Teil feierlicher Kult-
gebräuche kommt z. B. bei den Römern vor; vgl. Di eis, Sibyllinische Blätter,
S. 69, 2; Wissowa S. 173.
6) Meyer, Deutsche Volkskunde, S. 161, vgl. S. 145; ders., Badisches Volks-
leben, S. 224 f.
7) Meyer S. 365 f.
8) Müllenhoff, D. Alt. 2, 357f.
9) Golther S. 481.
10) Siehe o. S. 210. X1) Lok. Str. 52.
12) Lok. nach Str. 35. 18J a. a. O.
14*
212 Viertes Kapitel.
wäre. Daß Loki J) bei Thjazis Tod der erste und letzte Angreifer ge-
wesen wäre — er rühmt sich dessen mit trotzigem Hohn wie Hagen vor
Kriemhild der Ermordung Siegfrieds — ist dann wohl wieder erfunden,
um ihren besonderen Haß auf Loki zu motivieren. Denn bei jenem
phallischen Spiel ist ihr ja der Schalk unter den verneinenden Geistern
noch keineswegs verhaßt!
Anzumerken ist, daß Skadi nicht die einzige Gottheit finnischer
Herkunft ist: auch Ullr, Thorgerd, Irpa gehören vielleicht hierher. Viel
stärker ist die umgekehrte Beeinflussung2).
Freyja3).
Njörds zweites Kind, Freyja4), scheint ausschließlich norwegisch-
isländisch5) und selbst bei den Norwegern noch wenig bekannt. Das
Paar Freyr-Freyja ist gewiß nicht so alt wie das Paar Njörd-Nerthus ;
vielmehr ist Freyja eine sekundäre Bildung zu Frey (und zugleich eine
Abspaltung von Frigg?); ihr Name Freyja — frouwe, Herrin ist einfach
moviert wie gydja Göttin zu Gott.
So ziemlich alle Züge Freyjas sind solchen Freys nachgebildet. Man
muß wohl annehmen, daß die Frauen ihre besondere Wohlstandsgottheit
haben wollten; da ward sie denn dem Frey gesellt und an die erste
charakterisierte Göttin Frigg angelehnt. So ward sie Göttin der weiblichen
Fruchtbarkeit und der Liebe. Hilfsbereitschaft in Liebes- und Geburts-
nöten6) sind ihr eigentliches Gebiet. — Doch deuten ihre unerklärlichen
Beinamen7) wohl darauf, daß sie auch ältere selbständige Dämonen
(weibliche Hausgeister?) in sich aufgenommen hat8). Auch mit walkyrischen
Zügen ist ausgestattet: mit dem Falkengewand9), daß sie auch verleiht;
mit dem Schenkenamt10).
Als Hauptgöttin oder als Erbin Friggs erhält sie in ihrem Heim
Folkwang11) die Hälfte der toten Helden12). Daher heißt sie auch vanadis,
Schicksalsfrau aus dem Wan engeschlecht, oder vanabrüdr. Mogk 13) meint
x) Lok. Str. 50.
2) Olrik, Danske Studier 1905; 1, 39f.; Krohn a. a. O.
3) Golther S. 414, 437 f.; Mogk S. 371; Meyer S. 362.
4) Gylf. cap. 24: Gering S. 318.
B) Mogk a. a. O., Golther S. 437.
6) Golther S. 437.
7) Gefn, Hörn u. a.: Mogk S. 373; vgl. Golther S. 447.
8) Doch schreibt Müllen hoff (Ztschr. f. d. Alt. 30, 218) diese der Frigg
als alten Besitz zu.
9) Thrymskv. Str. 3.
10) Golther S. 439.
X1) Grim. Str. 14; der Name ist dem des folkvaldr goda Frey nachgebildet
Vi) Golther S. 437. 13) S. 373.
§ 17. Hauptgötter. 213
also mit Recht, Freyja habe von Frigg chthonische Züge ererbt. Nur
kann ich diese weder in dem Namen Folkwang noch in dem ihres
Saales Sessrymnir »der an Sitzen reiche« sehen; der erste charakterisiert
sie als Freys Schwester, der zweite ist aus dem Vers: »Freyja entscheidet,
wer die Sitze dort fülle im Saal« unter Anlehnung an die Namen
Andhrimnir, Eldhrimnir, Sährimnir1) gebildet. Ebenso scheint es mir
natürlich, daß der Weg, auf dem ihr Ottar zu der toten Hyndla2) folgt,
der Todesweg genannt wird8); Tote zu erwecken aber ist nicht Aufgabe
von Unterweltsgottheiten : die vermehren das Reich der Toten und mindern
es nicht auch nur auf Zeit. Sonst wäre auch Orpheus eine chthonische
Gottheit! Vielmehr funktioniert Freyja hier als Göttin der ehelichen
Fruchtbarkeit. Gewiß war sie es ursprünglich selbst und nicht eine
Seherin, die dem Ottar ein Register seines Geschlechtes gab mit dem
Refrain: all die gehören mit dir dem gleichen Blute an — und du
Schwachkopf kannst noch zweifeln, welches Geschlecht das vornehmste sei !
Aber die Totenbeschwörungen waren eine Modeform geworden: etwa
gleichzeitig mit dem Hyndlulied entsteht Grögaldr4); Balders Draumar5)
gehören in denselben Kreis. So wird denn Freyja verdoppelt; sie scheint
irgendwie den Beinamen »Hündin« geführt zu haben, der dann als Schelte
gegen sie gewandt wird6), und danach heißt dann die Seherin, die Freyja
höchst überflüssigerweise (oder vielmehr aus rein literarischen Gründen:
damit die Gruselromantik der Totenbeschwörung, wie in den Ritterromanen
des 18. Jahrhunderts, möglich sei!) aus dem Grabe heraufruft7), »Schwester
Hyndla«, »Mithündin« 8).
Wirklich chthonische Züge aber verbürgt neben der zweifelhaften
Nachricht, daß ihr die Hälfte der Gefallenen gehört9), die Geschichte
von Thorgerd, Egils Tochter 10). Ihr Vater will sich tothungern ; da erklärt
»ie gleichfalls: »Ich habe kein Nachtmahl zu mir genommen und werde
keines mehr nehmen als bei Freyja«. Wie die Helden bei Odin zu Gast
*) Grim. Str. 18. 2) Siehe u. § 31.
3) Hyndl. Str. 6.
4) Nach 950: Jönsson, Oldnord. Lit. Hist. 1, S. 202 bez. S. 232.
5) Gegen 900: ebd. S. 148; ich möchte das Gedicht allerdings mit Heusler
(Ztschr. f. d. Phil. 116, 269) für jünger halten.
6) Von dem Christen Hjallti vgl. Golther S. 439.
7) Anders Müllenhoff, D. Alt. 5, 9.
8) Nach Detter-Heinzel ist systir hier ein Schmeichelwort; mir scheint
es hier wie in der angezogenen Stelle Vkv. Str. 3 nur bedeuten zu können »von
der gleichen Art«. Wölunds Gattin war wie die Egils schön und trug wie die
Slagfids ein Schwanengewand. Ebenso hier Hyndl. Str. 1 : »erwache, die du wie
ich benannt bist!«
9) Edda 2, 616.
10) Grim. Str. 14; vgl. u.
11) Golther S. 440.
214 Viertes Kapitel.
sein wollen (eine Formel auf indogermanischer Grundlage) J), so will sie zu der
Totengöttin der Frauen. Ferner stammt wohl von Frigg das Brisingamen 2).
Schließlich tritt Freyja deren Erbschaft ganz an: sie wird Odins Gattin.
Von dem Bruder Freys stammt (außer der Benennung »Folkwang«)3)
als Pendant zu dem Goldeber Gullinborsti ihr Goldeber Hildisvini. Wie
Freyr fährt sie, aber mit Katzen, dem Sinnbild der Fruchtbarkeit4). War
sie etwa noch besonders Herrin der Haustiere im engeren Sinne und
deshalb auch »Hündin« genannt? Oder soll auch dies nur ihre Lüsternheit
ausdrücken5), wie sie ihr nicht nur Loki6), sondern auch die Doppel
gängerin Hyndla7) nachsagt? — Man denke an Freys Phallus!
Wie Frey Opfergott, ist sie Opfergöttin. Beiden wird der Erinnerungs-
trank geweiht und auch ein Eber dargebracht8). Wie er schön ist, so
ist sie die schönste Göttin9) — deshalb begehrt der Riese Thrym gerade
sie zur Gattin — und bekommt den verkleideten Thor, wie Skadi den Njord
statt des begehrten Balder.
Ferner wird sie, wie er, mit kostbaren Kleinodien ausgestattet: das
Brisingamen 10) , an das sich allerlei Sagen knüpfen11). Vermutlich ward
das Bild der Liebesgöttin mit Votivgeschenken überhäuft: ihr Schmuck-
reichtum wird verkörpert in den Töchtern Hnoss und Gersinni, «Schmuck«
und »Kleinod«12).
Ihr Kult ist dem ähnlich der Frigg13): sie wird in Kindesnot an-
gerufen ; Ottar verglast die Altarsteine für sie mit Opferblut 14), wofür sie,
wie Frey in gleichem Fall, sich dankbar erweist. Ihre besondere Be-
liebtheit schließt Golther15) daraus, daß der über vergebliche Bekehrungs-
versuche erzürnte Christ Hjallti Skeggjason in einem Schmähvers erst Freyja,
dann nochmals Odin und Freyja beschimpft; aber er fügt selbst hinzu, daß
dies wohl schon die spätere Auffassung von Freyjas Ehe mit Odin10)
voraussetzt17). — Eine Emanation der Freyja ist vielleicht Gefjon 18).
J) J. Grimm' Kl. Sehr.; vgl. Golther S. 327.
2) Siehe u. 8) Siehe o. S. 212.
4) Much leitet diese in den Mitteilungen der Anthropol. Gesellsch. Wien
XXXVIII 6 1908, S. 6, recht unwahrscheinlich von dem Löwen der Magna Mater ab.
5) »Freyja als Venus vulgivaga«, Golther S. 443.
6) Lok. Str. 30. 32. 7) Hyndl. Str. 47-48.
8) Hyndl. Str. 46. 9) Mogk S. 372.
10) Meyer S. 419, Golther S. 441.
1!) Siehe u. 12) Mogk S. 372.
1?) Golther S. 445, Meyer S. 420. u) Hyndl. Str. 10.
15) S. 439. 16) Siehe u.
17) Zu dem Schmähvers vgl. Golther a. a. O. Anm.
18) Mogk S. 375, Golther S. 446; vgl. u. — In die christliche Legende soll
sie als Frau Verena, die Patronin der öffentlichen Dirnen, eingegangen sein:
Bernoulli, Die Heiligen der Merowinger, S. 189.
§ 17. Hauptgötter. 215
An die junge, aber rasch zu großer Beliebtheit gelangte Gestalt
knüpfen sich zahlreiche Mythen. Vielleicht alt und auf sie dann erst
später übertragen ist jener Mythus von Brisingamen, dem »Kleinod der
Breisinger« 1). Schon in dem alten Gedicht Thrymskvida besitzt Freyja
diesen kostbaren Schmuck: er zerspringt2), als sie vor Zorn schnaubt. Es ist
also ein Brustschmuck wie die Aegis der Athena3), das »funkelnde Sturm-
schild«, das ursprünglich die Donnerwolke war4), später aber ein Prunk-
stück des Hephaestos wird5). Doch wird bei Athena mehr das runde
Mittelstück des Schmucks hervorgehoben, bei Freyja das »breite Hals-
band«, was vielleicht einige naturmythische Auslegungen6) gleich aus-
schließt 7).
Der Schmuck hat nun eine Vorgeschichte, die J. Grimm8) für indo-
germanisch hielt, Müllenhoff9) wenigstens für urgermanische Ausbildung
einer indogermanischen Grundlage, wobei der Mythus von der Sonnen-
göttin Frija-Frigg, der Gemahlin des Irmintiu-Zeus, auf Freyja übertragen
worden wäre. Die indogermanische Grundlage und eine starke germanische
Umbildung halte ich auch für bewiesen ; im einzelnen aber hege ich
gegen Müllenhoffs mit vollstem Recht berühmten Aufsatz mancherlei Be-
denken. Gewiß ist nie ein kunstvolleres Gebäude mythologisch-heroischer
Konstruktion aufgeführt worden. Nirgends zeigen sich die Gaben, die
der große Forscher in unerreichtem Maße besaß, so wirksam vereint, wie
hier: ungeheure, sichere Kenntnis des Materials; geniale Kombinations-
gabe; einfühlende Phantasie. Was sonst etwa Jacob Grimm, Hermann
Usener, Ludwig Laistner einzeln besitzen, vereint er — aber fehlt nicht
ein wenig das Element Axel Olrik, die sicher scheidende Kritik?
Auch Müllenhoff scheint hier in der älteren Methode (die wieder die
neueste geworden ist, noch mehr in der Heldensage als in der Mytho-
logie) befangen: alle Motive als gleichartige Mosaiksteine zu verwerten
und über den Unterschieden der äußeren Chronologie die der inneren
zurückzustellen. Daher werden seine Gaben verhängnisvoll : der zu große
Reichtum an Zügen läßt fast jede Annahme mit erwünschten Belegen
ausstatten, die zu kühne Kombinationsgabe zu entfernte Dinge verbinden,
die zu starke Phantasie eigene Mythen ersinnen. Freilich wirken sie mit
2) Müllenhoff, Ztsch. f. d. Alt. 12, 304 und 30, 320; Golther S. 441 f.,
452 f.; Mogk S. 372; Meyer S. 419.
2) Thrymskv. Str. 12. ' 3) Preller 1, 191. 229.
*) Ebd. S. 119. 5) Ebd. S. 126.
6) Vgl. Mogk S. 372: Golther u.a.: die Sonne; W.Müller: der Mond;
U hl and: Morgen- und Abendstern; Mannhardt: Morgenröte.
7) Dagegen wäre E. H. Meyers Deutung auf den Regenbogen so weit
haltbar.
8) Mythol. 1, 284; Golther S. 452.
9) Ztschr. f. d. Alt. 30, 219.
216 Viertes Kapitel.
bestechender Gewalt. Zumal die Forscher auf dem Gebiet der Helden-
sage haben kaum zu widerstehen gewagt : fast nur Heinzel l) hat gegenüber
Müllenhoffs Geschichte der germanischen Dioskuren jenen methodischen
Gesichtspunkt betont, den wir von ihm und ten Brink (in seinem
»Beovulf«) als ein neues Hilfsmittel zu denen der Wolf-Lachmannschen
Epenvergleichung hinzugelernt haben: daß es in der Mythengeschichte
nicht nur ein Nacheinander gibt, sondern auch ein Nebeneinander, und
neben den Filiationen (die freilich selbst zu Doubletten führen) primäre
Doubletten.
Allerdings haben sich die Forscher gerade gegenüber dem mytho-
logischen Unterbau, der doch für Müllenhoff die Hauptsache war, reser-
vierter benommen. »Die Entwicklung des Dioskurenmythus zur Helden-
sage entzieht sich im einzelnen unserer Kenntnis ; und ebensowenig läßt
sich über die ursprüngliche Bedeutung des von Müllenhoff rekonstruierten
Mythus mit Sicherheit urteilen«, sagt Sijmons2), der aber doch gleich
hinzufügt, bei der Sage von den Harlungen sei alte Beziehung zum
Himmelsgott noch erkennbar3). Jiriczek4) bezweifelt den mythischen
Ursprung des getreuen Ratgebers Eckehart5). Panzer6) geht auf Heinzeis
Weg der Motivvergleichung weiter und gelangt dabei zu anderen Bedenken.
Fundamental aber ist Jiriczeks Einspruch, wenn er7) die Verbindung
der Ermanarichssage mit dem Dioskurenmythus lediglich auf Namen-
gleichheit begründen will; und allgemeine Bedenken formuliert nicht
übel Golther8): »Ober Vermutungen gelangt der Versuch, germanische
Tiuzsagen wieder herzustellen, nicht hinaus. Sehr gewagt scheint es,
Sagenzüge, die längst alle Beziehungen und allen Zusammenhang ver-
loren, wieder an den Himmelsgott anzuknüpfen. Denn keine Gewähr ist
vorhanden, daß diese Stoffe einst wirklich ... zu Tiuz und den Alkiz
gehört haben.«
Ich glaube, daß in die dicht verzweigten Urwälder der germanischen
Heldensage Licht erst dann kommen wird, wenn von der altgermanischen
Literatur- und Stilgeschichte aus die Auffassungen und Formgebungen
verschiedener Perioden strenger gesondert werden können ; unsere Sagen-
konstruktionen sind gewiß oft so anachronistisch zusammengeschweißt wie
*) Über die Walthersage z. B. S. 95 ; über die ostgotische Heldensage
z. B. S. 7.
2) Bei Paul 1, 679. 2) Vgl. S. 685.
4) Deutsche Heldensage, Straßburg 1888; 1, 101.
*) Über andere Widersprüche Jiriczeks gegen Müllenhoff vgl.
Sijmons S. 686; andere Einwände von Sijmons selbst, z. B. betreffs der
Beowulfstelle, S. 684.
6) Hilde-Gudrun, Halle 1901, S. 153 f.
7) S. 100. 8) S. 217.
§ 17. Hauptgötter. 217
Wilhelm Jordans Nibelungen. Hier wage ich nur die mythische Geschichte
des Brfsingamens zu skizzieren , wie sie sich mir aus den einigermaßen
verbürgten Obereinstimmungen zu ergeben scheint. Nur Diaskeuast ver-
suche ich zu sein — so schön es freilich ist, Homeride zu sein, auch nur
als letzter1).
Festgestellt scheinen etwa folgende Tatsachen:
In indogermanischer Zeit werden zwei göttliche Jünglinge verehrt, die
besonders dadurch gekennzeichnet sind, daß sie Brüder sind, als Reiter
auftreten, atmosphärischen Charakter haben 2).
Mit diesen indogermanischen »Dioskuren« sind — nach Müllenhoffs
glänzendem Nachweis3) — die »Alces« identisch, die4) bei den Naha-
narvalen verehrt werden5); sie gehen als Haddingjar6) in den Norden,
als Harlunge in die Heldensage über.
Der Grundzug ihres Wesens ist überall, daß sie »reisige Jünglinge<
sind; danach heißen sie bei den Indern »die Roßherrn«, danach7) ihre
heroischen Deszendenten Sarus und Ammius bei den Germanen.
Bereits in indogermanischer Urzeit sind sie Träger eines Mythus : die
beiden Reiter werben um die Sonne. Sie besteigt ihren Wagen und ist
beider Gattin nach eigener Wahl: indisch8). Die Gottessöhne freien um
die »Sonnentochter«, die nur eine Emanation der Sonne ist: lettisch9).
Die Dioskuren sind vermählt mit den beiden Töchtern des Leukippos 10),
*) Als eine wirkliche Fehlerquelle bei Müllenhoff ist seine Über-
schätzung der Namen zu bezeichnen. Mythische und heroische Eigennamen
Jhaben fast stets eine prägnante Bedeutung, die aber keineswegs immer appella-
tivisch gefaßt werden darf: die wirklichen Menschen hießen eben damals auch
•Dietrich und Ermenrich. Vgl. allgemein meine Kriterien der Aneignung, Leipzig
1906, S. 35; Günter, Legendenstudien, S. 72.
2) Indisch sind es die Acvins (Myriantheus, Die Acvins oder arischen
Dioskuren, München 1876; v. Bradke, Dyaus Asura und die Acvins; K. Jaisle,
Die Dioskuren als Retter zur See bei Griechen und Römern und ihr Fortleben
in christlichen Legenden, Tübingen 1907; vgl. auch Wundt S. 280 f.). Die
atmosphärische Natur wird angezweifelt von Geldner, sonst allgemein anerkannt
(Macdon eil S. 53). Lettisch: die »Gottessöhne, die auf ihren Rossen geritten
kommen, um die Sonnentochter zu freien« (Oldenberg, Rel. d. Veda, S. 213;
Macdonell a. a. O.). Griechisch: die Dioskuren (Prell er 2, 91).
3) Ztschr. f. d. Alt. 12, 346.
4) Tac. Germ. cap. 43.
5) Vgl. u., wo auch weitere Literatur.
6) Hyndl. Str. 22.
7) Wie Roediger, Ztschr. a. Ver. f. Volksk. 1, 248, schön nachwies.
8) Macdonell S. 51. Daneben ist die Sonne noch mit dem Mond ver-
mählt (Oldenberg a. a. O.).
9) Oldenberg S. 214.
10) Preller S. 94.
218 Viertes Kapitel.
Lichtgöttinnen *) ; ihre Schwester Helena die Morgenröte oder der Mond 2) :
griechisch8).
Auch dieser Mythus ist von den Germanen übernommen worden.
Denn in der Tat scheint es uns nicht zweifelhaft, daß die Harlunge
Ambrico und Fridila im Grunde die beiden Zeussöhne, die Acvins sind,
die nicht nur die Sonne oder die Tochter im Wettlauf4) ersiegten, sondern
auch prangend im Goldschmuck, die Brust bedeckt mit breitem Ge-
schmeide, dieselben auf ihren Wagen nehmen«5). Beweisgründe sind
folgende Obereinstimmungen: 1. Die Harlungen sind reisige Brüder von
ausgeprägt jugendlichem Typus6). 2. Sie werben um die Besitzerin des
großen Brustschmucks, d. h. die Sonnengöttin, und erlangen ihren Besitz7).
Eine jüngere, aber vielleicht noch immer indogermanische Entwicklung
scheint8) die Sage, daß die Acvinen die Sonne nicht für sich, sondern für
einen anderen Gott werben — wohl für den Mond, mit dem 9) auch die
lettische Sonnentochter vermählt ist10) Diese Entwicklung beruht wohl
schon auf ethischen Einwirkungen: die Doppelehe der Göttin erschien
verletzend. Dazu kam dann die inzwischen erfolgte Ausbildung deut-
licherer Naturgötter. Es entstand nun aber eine doppelte Überlieferung:
die Roßherren einerseits Freiwerber, anderseits selbst Freier. Sie wird,.
wie es scheint, erst auf germanischem Boden ausgeglichen, indem das
uralte Novellenmotiv vom ungetreuen Werber eingeführt wird n).
1) Ebd. S. 98. 2) S. 109.
3) Die griechische Vorstellung ist wohl doch auch nur dureh die Ersetzung
einer weiblichen Sonnengöttin mittelst des männlichen Sonnenbeherrschers zu
erklären; vgl. Oldenberg S. 214.
4) Vgl. Müllenhoff S. 218.
5) Müllenhoff S. 223.
6) Müllenhoff S. 222; vgl. Wolfskehl, Germ. Werbungssagen, Darm-
stadt 1893.
7) Über die Besitzerin des Brustschmucks siehe u.
8) Macdonell S. 51.
9) Oldenberg S. 213.
10) Soma wird (ygl. Macdonell S. 213), allerdings nur mit zweifelhaftem
Recht, als der Mond gedeutet: vielmehr hängt seine Beziehung zu den Acvinen.
vielleicht mit deren stark betontem Honig-Symbol (ebd. S. 49) zusammen. Ähnlich
fällt von den Mähnen der Walküren fruchtbarer Tau in die Täler; vgl. Golther
S. 316: die Acvinen schütten Honig aus.
11) Das Motiv vom ungetreuen Brautwerber wurzelt gewiß in historischen
Erfahrungen. Der Verdacht, dem Wielands Kombabus ausweicht, konnte so
manchen Boten treffen, als die Königstöchter aus weiter Ferne geholt und per
procurationem vermählt wurden — gewiß ein alter symbolischer Gebrauch der
Besitzergreifung (entartet zu den berüchtigten »Probenächten« deutscher Bauern-
mädchen?). Noch bei dem dramatisch oft behandelten Stoff der Elfride (Erich.
Schmidt, Charakteristiken, Berlin 2, S. 442) kann man zweifeln, ob es sich
um Wahrheit oder Legende handelt; und man denke noch daran, wie König
§ 17. Hauptgötter. 219
Hiermit war also erreicht, daß die Reisigen Freier und Freiwerber
zugleich waren. Diese Gestalt des Mythus setzt die Harlungensage voraus J).
Sie ist als altmythisch verbürgt durch die Benenung des alten Schatzes
der Harlunge als Brisingamene 2) und durch die weite Verbreitung von
Bergen und Burgen, die nach ihnen benannt sind3).
Dieser Mythus von den treulosen beiden Werbern um die strahlende
Jungfrau wird schon vor dem siebenten Jahrhundert4) an die ostgotische
Ermenrichsage geknüpft. Ursache der Verbindung waren doch wohf
historische Ereignisse am Hof des Ermanaricus, etwa wie der Tod Attilas
in die Nibelungensage hineinspielt5), denn ein mythischer Hermanarich
ist nirgends bezeugt und weder von Müllenhoff noch von Rödiger6)
mit Wahrscheinlichkeit erschlossen; die Möglichkeit, daß der Gott, für
den sie werben, so geheißen hätte, genügt nicht. Dazu kommt, daß der
Himmelsgott in keiner alten Gestalt des Mythus eine Rolle spielt.
Nicht für Irmintiu-Tyr wird geworben, denn nirgends entspricht dieser
dem Mondgott7); nirgends haben wir bei den Germanen eine Spur von
einer Gattin Tyrs; die Ehe des Zeus ist schwerlich proethnisch. Für
die Identität der Umworbenen mit Dione-Juno8) sprechen keinerlei ge-
nügende Kriterien. Ebensowenig ist es ein ausweichendes Moment, daß
die Alemannen, in deren Mitte sich der Verbreitungsherd der Sage be-
findet, Ztuwärt sind9).
Aus der Heldensage mit ihrer beliebten Formulierung ethischer Gegen-
sätze10) stammt dann der gute Ratgeber11) und der böse Verleumder12)
und die Ausmalung der Intrige. Weiterhin verschmilzt dann die zyklische
Tendenz der Heldensage die Hartungensage mit der von den Nibelungen
(Hamdfsmäl). — Ob die »nur äußerlich an die Geschichte geknüpften«
Sagen von Walthari und Hilde wirklich »aus einem gemeinsamen Grund-
Karl VIII. von Frankreich die Braut Kaiser Maximilians trotz freiem Geleit »unter-
schlug«. — Ob nicht auch bei Apollos Werbung für Admet, deutlicher noch bei Sieg-
frieds für Günther dies das ursprüngliche, später nach ritterlich-moralischer An-
schauung umgebogene Motiv war?
J) Vgl. Sijmons S. 685.
2) Müllenhoff S. 221. 3) Ebd.
4) Müllenhoff S. 221 nach dems. Ztschr. f. d. Alt. 12, 279.
5) Vgl. Sijmons S. 621.
6) a. a. O. S. 249. 7) Indisch; lettisch.
8) Müllenhoff S. 219. 9) Ebd. S. 221.
10) Ekkehart-Sibiche usw. (Müllenhoff S. 242) wie Beovulfs Gefolgsmänner
beim letzten Kampf; oder wie Keie im Erec, der betrügerische Seneschal im
Tristan usw. mit ihren Gegenspielern; vgl. über Treu und Untreu im Epos
Uhland, Schriften 1, 303.
») Eckewart: Müllenhoff S. 225 f., 236.
12) Ebd. S. 241.
220 Viertes Kapitel.
mythus entwickelt sind«1), stehe dahin; mir persönlich scheint das Motiv
von der gemeinschaftlichen Flucht des heroischen Paares2) von dem der
Werbung unterschieden.
Neben dieser Reihe von Mythen, die die Eroberung (oder Wieder-
eroberung) der Sonne (oder des Mondes) in die Form einer Werbung
hüllen, geht nun ein anderer Stamm von Mythen, der sie als Befreiung einer
gebundenen oder sonstwie gefangenen Jungfrau darstellt.
An der indogermanischen Existenz ist nicht zu zweifeln: griechisch z. B.
Perseus und Andromeda3); germanisch Brynhild in der Waberlohe — Dorn-
röschen. Diese Reihe hängt mit der vorigen insofern zusammen, als in
einem hierher gehörigen Mythus wiederum das Schmuckstück als Kenn-
zeichen der Lichtjungfrau besonders betont wird. Es ist die alte Fabel von
Menglöd: »die mit dem Halsschmuck Beladene« 4) oder »Halsbandfrohe«5)
wird von Svipdag befreit6). Ein näherer Zusammenhang mit der Werbungs-
sage besteht jedoch nicht. Alle Eigenheiten der Agvinen fehlen dem Befreier,
der nur Einer ist, zu Fuß kommt7), bei dem die Schwierigkeiten des
Weges (in märchenhafter Ausmalung) das Hauptinteresse bilden usw.
Man hat also auch kein Recht, Svipdag aus Tiuz abzuzweigen8), da
nirgends Zeus oder Jupiter oder Tyr mit der Mission betraut sind, die
gefesselte Jungfrau zu befreien: der »Sonnenheld« ist mit dem »Himmels-
gott« nirgends identisch.
In beiden Reihen dient der Schmuck lediglich (gerade wie in nach-
vedischer Zeit der Brautschmuck kaustubha bei Vishnu)9) als kenn-
zeichnendes Attribut; es mag wohl auf der Brust des rohen Holzbildes,
das die Sonnengöttin etwa vorstellte, eine Sonnenscheibe befestigt gewesen
sein, und warum sollte die bei besonders geehrten Figuren nicht kost-
baren Glanz besessen haben?10) Das Prachtstück wäre dann der »Schmuck
der Breisinger« ll) gewesen.
Nun heftet sich aber in einer bestimmten Epoche ein Hauptinteresse
an die kostbaren Besitztümer der Götter12). Damit gewann Brisingamen
eine neue Wichtigkeit: es wurde der Göttin des Reichtums zugeteilt,
während es vorher der Frigg gehört hatte, wenn diese Sonnengöttin
!) Sijmons S. 621 gegen Müllenhoff S. 235f.
2) Vgl. schon Jakobs Flucht vor Laban 1. Mos. 31.
3) Preller 2, 72. 4) Mogk S. 373.
5) Golther S. 451.
6) Vgl. Golther ebd. und S. 237 nach Müllenhoff S. 219.
7) Fjölsv. Str. 1. 8) Mit Golther S. 453.
9) Macdonell S. 39.
10) Vgl. Saxo bei Müllenhoff S. 220.
») Vgl. ebd. S. 221.
12) Vgl. für diese v. d. Leyen, Märchen, S. 221.
§ 17. Hauptgötter. 221
war1). Nun heißt sie auch Mardöll, »die Meeresperle« 2), »die über das
Meer Glänzende«3), weil ihr Schmuck widerstrahlt wie die Sonne über
dem Meer? Die isländische Märchen Jungfrau Maerthöll, die goldene
Tränen weint, wird man mit Golther4) gegen Mogk5) nicht heranziehen
dürfen, nicht zwar weil sie gelehrten, aber weil sie rein märchenhaften
Ursprungs zu sein scheint. — Die Thrymskvida setzt (wie erwähnt) bereits
Freyjas Besitz des Schmuckstücks voraus.
An den Erwerb des Schmucks knüpfen fabulierende Vor-
geschichten an wie an Sifs goldenes Haar oder das Schiff Skidbladnir.
Wohl die älteste Sage vom Brisingamen ist die, die im zehnten Jahr-
hundert die Husdrapa bezeugt6): Loki stiehlt den Schmuck und verbirgt ihn
auf einer Meeresklippe, aber Heimdali schlich in Robbengestalt hinzu und
nimmt ihn dem in gleiche Gestalt verwandelten Loki ab. — Die Legende
ist leicht naturmythologisch zu deuten 7) , aber ihr hohes Alter ist damit
noch nicht bewiesen, und Müllenhoffs Sagen paral 1 el en 8) scheinen es mir
ebensowenig zu verbürgen. Die Gegenüberstellung Loki - Heimdali darf
auch der von Sibech und Ekkehart schwerlich gleich gestellt werden, ob-
wohl Eckart-Eckewart 9) v i e 1 1 e i c h t eine heroische Hypostase Heimdalls 10)
ist. Loki vertritt wohl das »dunkle Prinzip«, aber nie die Dunkelheit, wie
die sonnenraubenden Mächte.
Liegt es nicht näher, an eine Dublette jener Lokifabel zu denken, die
den Prolog zu Reg. bildet (d. h. die Einleitung zu den eddischen Einzel-
liedern der Nibelungensage)? Andvari und Otr erscheinen in Fischgestalt,
allerdings einer als Hecht, der andere als Otter, wie Loki und Heimdali
in denen von Robben. Loki fängt den Hecht Andvari und raubt ihm
seinen Schatz; also: Loki (das scheint die Grundgestalt) in Fischgestalt
*-aubt einen Schatz, den er aber wieder hergeben muß. Auf diesem ge-
raubten Schatz nun aber, das ist das Merkwürdigste, liegt ein Fluch —
wie auf dem Goldenen Vließ, wie auf dem Schatz von Tolosa. Nach
dem Prolog zu Reg.11) soll er zwei Brüdern und acht Fürsten Verderben
bringen — nach dem Prolog des Sörlathättr12) soll er zwei gleich mächtige
Fürsten in ewigen Streit verwickeln. Beidemal scheint der Fluch, der in
irgendeiner typischen Form vorlag, der Situation angepaßt, im Sörlathättr
J) Müllenhoff S. 217.
2) Gylf. cap. 35: Gering S. 326.
3) Mogk S. 373. 4) S. 445 Anm. 1.
5) Mogk a. a. O. 6) Müllenhoff S. 228.
7) Müllenhoff a. a. O. 8) S. 230.
9) Müllenhoff S. 225. 236.
10) Ebd. S. 228. 236. 245. 251 f.
u) Reg. Str. 5, isolierte Strophe.
12) Müllenhoff S. 227.
222 Viertes Kapitel.
freilich noch »von der auf Island herrschenden euhemeristisch - histori-
sierenden Auffassung der Göttersage« x) beeinflußt.
Ursprünglich lag also wohl nur eins jener Loki - Märchen 2) vor, in
denen sich die Phantasie des Volkes an Lokis Gewandtheit, Verwandlungs-
kunst und schließlichem Mißerfolg ergötzte; hier ist das berühmte Schmuck-
stück der Gegenstand wie in Reg. der wunderbare tropfende Ring.
Ganz ähnlich ist wohl die märchenhafte Erzählung aufzufassen, wie
Loki den Schmuck von Freyja zu Odin schaffen soll und als Fliege und
Floh eindringt3); die halb schwankhafte Verwandlung begegnet auch
sonst4). Noch Offenbach hat in. seinem »Orpheus in der Unterwelt« das
skurrile Motiv5) in Musik gesetzt.
In beiden Legenden spielt Freyja eine rein passive Rolle. Anders in
der dritten, die nun die eigentliche Vorgeschichte des Halsbandes gibt
Wie die Ägis ein prachtvolles Werk des Hephaestos sein soll 6), so muß
auch das Brisingamen von Zwergen kunstvoll geschmiedet sein und zwar,
um seine besondere Kostbarkeit auszudrücken, von deren vier; denn
Sindri, der für Frey Schiff und Eber geschmiedet hatte7), muß über-
boten werden8). Dafür gewährt sie jedem eine Nacht und muß sich
nun von Loki9) nachsagen lassen, sie habe nicht nur von den Äsen,
sondern auch von den Elfen jeden beglückt. — Bei dieser Halsband-
geschichte tut wohl, wie bei einer berühmteren anderen, Verleumdung
das Beste: das Motiv, daß ein weibliches Wesen für einen kostbaren Besitz
ihre Ehre hingibt, ist auf Freyja übertragen, weil sie eben den kostbarsten
Besitz ihr eigen nennt.
Müllenhoff 10) und nach ihm z. B. Panzer11) halten diese Fabel für
übertragen. Saxo erzählt nämlich, Frigg habe sich durch einige Schmiede
des Goldes bemächtigt, mit dem eine dem Odin geweihte Bildsäule ge-
schmückt war; Odin läßt die Schmiede hängen und richtet die Säule (mit
dem Goldschmuck) wieder auf; Frigg gibt sich uni familiariutn hin,
um den Schmuck wieder für sich zu erlangen. — Das Grundmotiv ist
offenbar das gleiche: eine Göttin opfert ihre Ehre um eines Schmuckes
willen. Bedenkt man aber, wie in der Lokasenna der nordische Momus
x) Ebd. 2) Siehe u.
3) Müllenhoff S. 226, ebenfalls nach dem Sörlathättr.
4) Panzer, Hilde-Kudrun, S. 163.
5) E. Th. A. Hoffmanns »Meister Floh«.
6) Preller 1, 20. 7) Golther S. 224.
8) Späten Ursprungs mindestens der Zwergnamen beweist ihre alphabetische
Anordnung: Alfrigg, Berlingr, Grerr — statt Crerr — , Dvalin. Schwerlich heißt
der Schmuck nach diesen »brisingar«, »Zusammenflechtern«. Golther S. 442
Anm. 2.
e) Lok. Str. 30. 10) S. 220.
u) a. a. O. S. 163.
§ 17. Hauptgötter. 223
eigentlich alle Göttinnen mit der gleichen Schelte beehrt, so wird man
auf seinen Anwurf1) wenig Gewicht legen, zumal er vielleicht nur mit
verschiedenen Namen Odins spielt. Ich möchte glauben, daß hier um-
gekehrt einmal Frigg von Freyja geerbt hat2). —
Gruppiert sich so der größte Teil der Mythen von Freyja um das
Brustband, so gibt es doch noch einige, die aus anderen Quellen stammen.
Freyja gilt als die schönste Göttin; deshalb begehren sie die Riesen3):
Thrym, der Riesenbaumeister, Hrungnir, was immer abgewendet wird,
Eine spezifische Andeutung dieser Götternovellen scheint mir nicht be-
rechtigt.
Schließlich geht Freyja ganz in Friggs Stellung über und wird
Fjölnis vif, Odins Weib4). Das führt nun aber zu weiteren mythischen
Auseinandersetzungen. Die Doppelehe beunruhigt, und deshalb wird
aus Odin ein Odr als Gatte Freyjas abgezweigt, der nur diesem Zwecke
dient5). Da man aber von ihm wenig zu sagen weiß, geht Odr wieder
davon und seine Braut6) weint goldene Tränen und zieht ihm suchend
nach7). Mogk (mit andern) möchte hierfür fremden Einfluß annehmen
(man hat an Adonis gedacht). Könnte nicht einfach das Motiv der un-
tröstlichen Witwe in märchenhafter Weise hyperbolisiert sein: weint Sigrun
um Sevafjöll, die glänzende Sonne im goldenen Schmuck (d. h. die
irdische Freyja) bittere Tränen 8), so muß die goldene Göttin wohl goldene
Tränen weinen!
Der Abwesenheit Odrs ist vielleicht die Odins erst nachgebildet,
während derer ein anderer Vize-Odin, Mitodin, herrscht9) — eine aben-
teuerliche Geschichte, die, so wie Saxo sie erzählt, nicht alt sein kann 10)
und wahrscheinlich auf irgendein religionsgeschichtliches Intermezzo hin-
weist, etwa die vorübergehenden Erfolge eines finnischen Zaubergottes11).
Dieser Parallelismus Freyja: Odr — Frigg : Mitodin führt
schließlich zu weiteren Verwechselungen, so daß auf die unangenehme,
aber sittenstrenge Ehegöttin Frigg (die hierin der homerischen Hera
gleicht) die eigentlich der Liebesgöttin Freyja gehörige Fabel von dem
Ehebruch der Göttin mit dem Diener12) übergeht.
Weitere üble Nachrede mögen die eifersüchtigen Frigg-Verehrer auf
Freyja gehäuft haben, die schließlich auch die Schwächen der Venus auf
sich nehmen muß13); dies Veneris war schon Freyjas Tag geworden. —
x) Lok. Str. 36. 2) Vgl. u.
3) Golther S. 432. 4) Vgl. Mogk S. 373.
5) Vgl. Mogk S. 90. 6) So schon Vol. Str. 25.
7) Golther S. 444. 8) Helg. Hund. 2, 44.
9) Golther S. 307, Mogk S. 349.
10) Vgl. Müllen hoff S. 220. ") Siehe u.
12) Müllenhoff S. 220. 13) Vgl. Golther S. 433.
224 Viertes Kapitel.
Rekapitulieren wir, was wir über Freyja festgestellt zu haben glauben.
Auch diese Göttin scheint uns klein angefangen zu haben; sie war viel-
leicht eine einzelne Walküre (worauf Falkenhemd und Schenkenamt deuten
könnten) oder auch eine chthonische Gottheit; doch glaube ich, ihre
dahin weisenden Züge könnten aus der Walkürennatur schon genügend
erklärt werden. Vielleicht um ihres Namens willen kommt sie zu Frey
in enge Beziehungen, erbt mancherlei Attribute u. dgl. von ihm, erhält
anderes von der älteren Hauptgöttin zur Ausstattung, nachdem sie (im
Gebiet der Frey-Religion ?) selbst die Hauptgöttin geworden war. Schließ-
lich wird sie als solche die Gattin Odins — worauf wohl auch jene Stelle
Hjalltis geht. — So scheint sie vorzugsweise zu jenen späten Gebilden
zu gehören, die den (relativ) einheitlichen Charakter des alten Götter-
himmels zersprengen, wie Dionysos bei den Hellenen.
Als eine Emanation der Freyja ist vielleicht Gefjon1) aufzufassen.
Diese Gottheiten, Tyr und die drei Wanen, bilden (auch wenn der
Mythus von Freyjas Schmuck mit Tyr nichts zu tun hat) einen zusammen-
schließenden Kreis der aus indogermanischer Wurzel oder fremden Ein-
flüssen sich entwickelnden Dämonen. Die zunehmende Akklimatisation
macht aus dem Himmelsgott einen Kriegsgott, aus der Erdgöttin einen
oder zwei Fruchtbarkeitsgötter, denen dann in Freyja eine neue Göttin
angebildet wird. Himmel, Fruchtbarkeit, Kultur, Liebe — das ist immer
noch das Gebiet des uralten Zeus; in eine ganz andere, spezifisch ger-
manische Gruppe treten wir mit dem Zyklus Wodans.
Wodan.
Innerhalb der uns besser bekannten Periode bildet Wodan den eigent-
lichen Mittelpunkt der altgermanischen Mythologie2).
Wodan ist keine indogermanische Gottheit. Mit keinem Gott des i
griechischen, indischen, römischen Olymps (und, so viel ich weiß, auch
mit keiner slawischen oder keltischen Gottheit) zeigt er so viel Beziehungen,
wie Thor mit Indra, Heimdali mit Savitri, oder gar Tyr mit Dyaus-Zeus-
Juppiter. Daß die Römer ihn mit Mercurius vergleichen konnten, beweist
natürlich noch keine Wurzelgemeinschaft; es sind nur partielle Ähnlich-
keiten vorhanden, wie ebenfalls mit dem indischen Arjuna und dem (auch
im Namen verglichenen) Väla.
') Golther S. 446; vgl. u.
2) Mogk S. 331 f.; Meyer S. 367f.; Mogk S. 293f.; Chantepie S. 221 f.;
v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 55 f.; H. M. Chadwick, The cult of Othin, Oxford
1899; vgl. die Rezension von A. Heusler, Anz. f. d. Alt. 27, 204. Schon 1775
erschien ein Schriftchen »Wodan, der Sachsen Held und Gott«, das Goethes
Freund Behrisch zum Verfasser haben soll.
§ 17. Hauptgötter. 225
Auch dem Wesen nach wie nach Attributen, Kompetenz, Entwicklung
ist er von anderen Gottheiten der Indogermanen charakteristisch ver-
schieden. Man kann fast behaupten, daß Wodan dem Jahve der Hebräer
eher ähnlich sieht als den Hauptgöttern der nichtgermanischen Indo-
germanen. Mit ihm teilt er die starke Betonung der geistigen Eigen-
schaften, den Typus des nationalen Heerführers, den impetus, den andere
ursprüngliche Sturm- oder Gewittergötter nicht so ungebrochen bewahrt
haben. Selbstverständlich stammt diese Ähnlichkeit aber nicht aus ur-
sprünglicher Gleichheit; sondern in beiden Hauptgöttern haben ebenso
kriegerische wie nachdenklich-religiöse Völker ihr Ideal verkörpert.
Möglich wäre allerdings, daß seine Anfänge den Germanen und
ihren keltischen Nachbarn gemein gewesen wären 2) ; der voll entwickelte
Gott gehört jedenfalls nur den Germanen. Er ist altgermanisch,
d. h. die Germanen besitzen ihn vor der Trennung der Stämme; aber es
ist unsicher, ob er gemeingermanisch war, d. h. allen Stämmen gehörte.
Wahrscheinlich war er nicht oberdeutsch2): auf diesem Gebiet findet
sich in Orts- und Personennamen , Benennungen von Pflanzen u. dgl.
kein Bezug auf ihn. Die Nordendorfer Spange, die ihn nennt, ist auf
oberdeutschem Gebiet gefunden, braucht aber nicht dort entstanden zu
sein3). Immerhin bleiben einige fragliche Zeugnisse. Das Wort wötan
wird4) als »tyrannus« glossiert, wahrscheinlich rein appellativisch: »ein
wütender Herr«. Doch könnte mit Wotan, »Herr«, eben auch sein
appellativischer Name (vgl. Frey, Rig, Balder) gemeint sein. Jonas von
Bobbio (Langobarde, kurz nach 620) erzählt in der Vita Columbani, daß
die Alemannen ihrem Gotte Vodano Opfer gebracht hatten : das könnten
sie aber von den Franken haben. Entscheidend ist schließlich die Be-
urteilung des »Wode« und des wütenden Heers5).
Jedenfalls wird Wodan verehrt in »Niederdeutschland, bis tief nach
Mitteldeutschland hinein«; die Rheinlande, das Gebiet der Istvaeonen
(Isto = Wodan)6), sind hier das Zentrum, wie weiterhin Dänemark und
der skandinavische Norden »die eigentliche Stätte der Wodansverehrung<
werden 7). Für ein verhältnismäßig spätes Beginnen des Wodankultes bei
den Angelsachsen spricht, daß dort keine Eigennamen mit »Rabe« (seinem
heiligen Thier: in Wolfram, Hrabanus usw.) gebildet werden8).
J) Chadwick S. 2.
2) Mogk S. 329; anders Chadwick a. a. O.
?) Henning, Die deutschen Runendenkmäler, Straßburg 1889, S. 102 f.
4) Mythol. 1, 110.
5) Siehe u.
6) Siehe o. S. 193.
7) Golther S. 210.
8) Edw. Schroeder, Die deutschen Personennamen, Göttingen 1907, S. 19.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 15
226 Viertes Kapitel.
Altgermanische Zeugnisse sind reichlich vorhanden1). Vor
allem gehört hierher das Zeugnis des Tacitus2): deorum maxime Mer-
curium colunt, cui certis diebus humanis quoque hostiis litare fas
habent. Ebenso wird nach Ann. 13, 57 im Krieg zwischen Hermunduren
und Chatten das feindliche Heer dem Mars und Mercur (Tiuz und Wodan)
geweiht8). Daß Mercurius nur Wodan sein kann, beweist der Name des vierten
Wochentages (franzözisch Mercredt , englisch Wednesday) und Angaben
wie Mercurium, Voden anglice appellatum u. dgl. m.4). — Die inter-
pretatio Romana geht vielleicht von der »Geschäftserfahrung« des klugen
Gottes aus, die vermittelnden Kaufleuten5) besonders wichtig war; dazu
kommen das Attribut des Hutes, die Seelenführung und andere Momente6).
— Die Cimbern weihen auf dem Krainberge bei Miltenberg dem Mer-
curius Cimbrianus eine Reihe von Widmungen7). Bei den Batavern im
zweiten Jahrhundert hat sich bereits die Trias Mercur — Mars - Herkules
(Wodan — Tyr — Thor) ausgebildet; das bedeutet kein Sinken des Gottes,
sondern im Gegenteil Ausarbeiten der Hierarchie8). — Er wird auch allein
genannt: Mercurio regt setzt der Bataver Blesio einen Stein9) mit der
Inschrift Mercuri Channini (dem Totengott Wodan?)10) im oberen Ahrtal
bei Blankenheim n).
Aus frühchristlicher Zeit zeugen Gregor von Tours, Kapitulare, Buß-
ordnungen für die Franken. — Von niederdeutschem Gebiet aus ver-
breitet sich die Benennung Wödnes dagi2)f die noch spät bei Sachsen,
Friesen, Niederfranken herrscht; aber nur zum Teil mitteldeutsch ist: da-
für (schon bei Notker) der Name Mittwoch 18).
Von diesem Zentrum aus14) dehnt sich der Wodanskult aus. Be-
sonders eifrig scheinen die Sachsen gewesen zu sein, die alten Tyr-
!) Mogk S. 331; Meyer S. 9f., 368; Golther S. 298f.; vgl. Kauff-
mann, Ztschr. f. d. Phil. 38, 289.
2) Germ. cap. 9.
3) Golther S. 295 Anm.
4) Mogk S. 331.
6) Vgl. Kauffmann a. a. O. S. 296.
6) Die Übereinstimmung ausführlich dargestellt bei Meyer S. 368.
7) Kauffmann a. a. O. S. 293. •
8) Die Stellung zwischen den beiden Nebengötter ist nach dem Ausdruck
von Dibelius, Lade Jahves, S. 84, nach dem »glorifizierenden symmetrischen
Schema« gebildet.
9) Mogk S. 331.
10) Vgl. Siebs, Ztschr. f. d. Phil. 24, 1461
") Golther S. 296, 2.
12) Varianten bei Golther S. 297, 1.
13) Golther a. a. O.; Mogk S. 329.
14) Mogk S. 329.
§ 17. Hauptgötter. 227
«
Verehrer: von ihnen (aus Saxland) soll Odin über Dänemark nach dem
Norden gekommen sein. Wie Frey Svia gody Schwedengott, heißt er
Saxagud. Die Sachsen müssen ihm l) noch im achten Jahrhundert ab-
schwören. Ihre Nachbarn, die Langobarden, kennen ihn als Himmels-
gott und Siegesherren2), die Thüringer als Heilgott3). Für die Angel-
sachsen wird er Stammvater4), ebenso vielleicht später für die Gauten,
die heutigen Goten in Schweden5): Gaut, angelsächsisch Ge'at; ebenso
für den dänischen Stamm der Skjöldungenkönige. — Im Norden scheint
er schon Anfang des sechsten Jahrhunderts bekannt zu sein; seinen Kult
bei den Schweden aber setzt Chadwick 6) nicht vor 500 n. Chr. an. Später
ist er dort (nach Ortsnamen) sehr verbreitet; nicht ganz so stark in Nor-
wegen (weil Thor ein stärkerer Nebenbuhler war als Tyr und Frey).
Über den Kampf der Wodansreligion mit anderen Kulten wird noch
später zu handeln sein.
Der Name7) wird schon von Adam von Bremen gedeutet: Wodan
id est Juror % Kluge stellt Wodan zu lateinisch vates, Seher, ebenso
Chadwick: wodinas mspired9).
Neben Wodan begegnet in nicht sicheren Beziehungen dazu (nach
Golther wie Odr zu Odin) W o d e ; bedeutet dies eine bestimmte Art
von Geistern, so könnte Wodan dazu stehen wie thiudan gotisch zu
thiud: »Wodenführer«10). Zimmer, Mogk, Meyer vergleichen den indischen
Windgott Vdta , was jedenfalls etymologisch nicht stimmt. Ein Wind-
dämon scheint allerdings auch Wodan, aber Väta vertritt11) fast nur das
Element, gerade die geistige Seite ist in ihm unentwickelt; auch Mac-
donell12) hält die Identität für zweifelhaft, die Oldenberg13) gar nicht in
Betracht zieht.
*) Müllenhoff und Scher er, Denkmäler IV 1.
2) Paulus Diaconus 1, 8.
3) Müllenhoff und Scherer, Denkmäler IV 2.
4) Golther S. 242. 298 Anm. 2.
5) Golther S. 301.
6) S. 65; mit Argumenten besonders aus der Heldensage S. 50 f. und von
Iden Runen.
7) Meyer S. 370; Golther S. 293. 357; Chadwick S. 66.
8) »Wütendes Heer« für »Wotans Heer« (Meyer a. a. O.) ist dafür nicht
beweisend, siehe u. v. d. Leyen, Sagenbuch S. 55, erklärt seltsam: »Darnach
verdankte der Gott seinen Namen den Zuständen des Zauberers, der wütigen
Besessenheit.«
9) Siebs (Ztschr. f. d. Phil. 24, 157) hält Henno (vgl. u.) für den ältesten
Namen des Gottes Wodan.
10) Vgl. Golther 293, 1.
u) Macdonell S. 81 f.
12) S. 83.
13) Religion des Veda S. 225.
15*
228 Viertes Kapitel.
Für die Beurteilung von Wodans Wesen1) ist die Grundfrage, ob
Wodan mit Wode zusammenhängt2). Sehen wir von diesem Wode zu-
nächst ab, so haben wir für sein Wesen3) folgende Schlüssel: den
römischen Vergleich mit Mercurius, die Erscheinung, die Opfer und den
Kult, die spätere Entwicklung.
Man erklärt ihn für einen Wind-, Himmels-, Totengott; für eine Ver-
göttlichung des Zauberers4); daneben hat er in Deutschland als Heilgott,
im Norden als Weisheits- und Kriegsgott funktioniert.
Was ist .zentral? — Ich werde versuchen, zu zeigen, daß die
Grundanschauung (»Grundbegriff« sollte man hier so wenig sagen
wie bei der sprachlichen Etymologie) die der mächtigen Bewegung
ist: im Rauschen der heiligen Bäume .wie im Sturm, im Fernkampf wie
in der geistigen Konzentration ; in der weitüberschauenden Herrschaft wie in
dem plötzlichen Eingreifen im entscheidenden Augenblick. — Man findet
,furor< zu abstrakt; aber »Fruchtbarkeit« ist das auch und »Weisheit« eben-
falls. Es ist doch nicht zu vergessen, daß es uralte indogermanische Abstrakta
in der Sprache tatsächlich gibt und besondere Abstraktsuffixe, daß »Schick-
sal« ein höchst abgezogener Begriff ist und »Tugend« oder »Zeit« auch.
Mir scheint die Grundanschauung im Wesen des Gottes Wodan, daß
er Herr über alle starken, zum Vorteil führenden Bewegungen ist. Sollte
ich Ein Wort wählen, so würde ich doch sagen: der Sturmgott — der
Gott aller Stürme, auch der stürmischen Bewegung jenes »Windes« oder
»Hauches«, den wir »Seele« nennen. Nur von hier aus scheint mir Ein-
heit in das Bild zu kommen ; eben wie der christliche Gott in Gunst
und Strafe, Überlegung und Tat als »Gott der Liebe« aufgefaßt werden
soll. Und auch die Entwicklung scheint mir von diesem Mittelpunkt am
besten zu übersehen5).
Wodan-Mercurius. Die Umdeutung gehört so wenig wie die
des Tyr in Mars nur dem Tacitus: Mercurius mercator , negotiator,
nundinator heißt Wodan als »Gott der Händler, der reisenden Kauf-
leute« in römischen Inschriften6). »Dieser Mercurius ist der Wodan der
deutschen Völker« 7), ist der »Mercurius Cimbrianus« jenes Steins aus der
') Vgl. besonders Uhland bei Golther S. 357; Golther S. 294; für den
deutschen Wodan speziell S. 303, für den nordischen S. 357; vgl. Snorri ebd. S. 309.
2) Ja Golther S. 292, Meyer S. 382; ja, aber nur mit dem ursprünglichen
Winddämon: Mogk S. 332, oder gar nicht: S. 334.
a) Golther S. 296, Mogk S. 332, Meyer S. 367.
4) v. d. Leyen.
5) Um ihre Aufklärung hat sich nach Henry Petersen (und Unland,,
der aber allzu stark der Naturmythologie und Ausdeutung huldigte) Chadwick
die größten Verdienste erworben.
6) K auf f mann, Ztschr. f. d. Phil. 38, 296.
7) Ebd. S. 297.
§ 17. Hauptgötter. 229
Gegend von Miltenberg1). Der Vergleich wurzelt2) in der Betonung der
Klugheit, ja der Schlauheit, der überlegenen Einsicht vor allem in die
menschlichen Geschicke. Wie Mercurius mit seinen schalkhaften Zügen 8),
so ist auch Wodan vor allem (wie Frey und Thor und mehr noch als
dieser) ein »Menschengott«, in seiner Art den Erdensöhnen näher verwandt
als ein Apollon, Mars, Tyr. Wissowa4) scheint zu vermuten, daß Wodan
überhaupt als römischer Gott des Handels und Verkehrs zu (Kelten und)
Germanen gekommen sei, gerade wie die Römer selbst von den ver-
schiedenen im Wesen des griechischen Hermes vereinigten Seiten nur
seine Eigenschaft als Handelsgott in Betracht kommen ließen5); aber von
dem Handelsgott aus sind der Fürstengott und der Kriegsgott nicht ver-
ständlich. Auch wäre schwerlich gerade der Verkehrsgott bei den alten
Germanen zum Hauptgott geworden. — Der Eindruck der Überein-
stimmung wurde verstärkt durch innere Ähnlichkeiten (der Totengott) und
äußere (der Hut)6). Anderes mußte zurücktreten: die subalterne Stellung
des Götterboten, die Heroldszeichen, das lautlose gewandte Wesen.
Vom Mercurius aus sind also nur gewisse Seiten des ausgebildeten
Wodan zu erklären; in eine der vermuteten Zentral eigenschaften oder
Hauptfunktionen (Wut, Begeisterung; Himmelsgott, Kriegsgott) führt der
Vergleich nicht — auch nicht in die des Totengottes, die für die römische
Anschauung von Mercur gewiß nicht wesentlich ist7). Immerhin finden
wir uns schon hier auf mehr intellektuelle Eigenschaften hin-
gewiesen, wo Freys Priapus oder Thors Kraft mehr nur animalisch
wirken.
Die Erscheinung Wodans ist mit charakteristischer Vorliebe aus-
gearbeitet8). Durchaus dominiert das »Windhafte«; dagegen bietet sich
äußerlich keine Spur von einem »Himmelsgott« dar.
Vorzugsweise erscheint er als Reiter (auf Sleipnir9), dessen acht
Füße aber nirgends hervorgehoben werden) mit dem großen Schlapphut10).
Beides, Roß und Hut, gehören auch dem »wilden Jäger« I1). Oft erscheint
er einäugig, verkleidet auch als blind (Gestr inn blindi). Die Deutung
*) Ebd. S. 289 f.
2) Siehe o. S. 226.
3) Hermes als Meisterdieb, Preller 1, 391, wie Odin in dem einen Odin-
schwank der Edda.
4) S. 250. 5) S. 249.
6) Siehe o. S. 226.
7) Vgl. Wissowa S. 249 Anm. 2.
8) Vgl. Mogk S. 336, Meyer S. 368f.
9) Siehe u.
J0) Meyer S. 370.
*') Meyer S. 370. 383.
230 Viertes Kapitel.
der Einäugigkeit ist strittig, da der Mythus von der Verpfändung in
Mimirs Quell *) wohl sekundär sein wird 2).
Meyer8) versucht auch für die Erscheinung Schichten und Bezirke ab-
zugrenzen: gemeingermanisch tritt er als älterer Mann mit einem breiten
Graubart auf, ferner mit dem Speer bewaffnet. Gemeingermanisch scheint
auch, daß er vorzugsweise reitet: so deutsch und dänisch; isländisch geht
er meist, norwegisch und schwedisch kommt beides vor. Die begleitenden
Hunde teilt der Gott wieder mit dem »wilden Jäger« ; die Raben (oder
Vögel überhaupt) sind zweifelhaft.
S. Müller4) sucht ein frühes Odinbild nachzuweisen. Aber schwer-
lich kann dieser Reiter den Gott darstellen, der beim letzten Kampf5) mit
eingelegtem Speer auf den Fenriswolf losreitet (mit der Midgardssch lange
kämpft Thor) und nie, wie hier, eine Schlange oder einen Drachen be-
kämpft. Macht die eigentümliche Bildung der Schlange nicht die Nach-
bildung einer antiken Gottheit wahrscheinlich, so möchte ich eher an einen
drachenkämpfenden Heros denken; der begleitenden Vögel wegen6) an
Sigurd, der allerdings nicht zu Pferde kämpft7). —
Was bedeuten die Einzelheiten dieses Bildes? Dominierend erscheint
der Ausdruck höheren Alters. Roß und Waffe sind an sich nichts
Auffallendes; wohl aber, daß ein Gott als älterer Mann erscheint. Wie
für den indischen Indra8) die Betonung seiner Geburt, ist für Odin das
reife Alter charakteristisch. Nur dies soll wohl auch der graue Bart aus-
drücken, der freilich in die ganze stürmische Erscheinung trefflich hinein-
stilisiert ist. Aber an sich ist ein Bart keineswegs, wie viele Mythologen
(von dem Wodanbild fasziniert) anzunehmen scheinen , ein Sturmsymbol :
bei den Indern hat der Sturmgott Rudra 9) keinen Bart 10), aber der (proble-
matische) Sonnen- oder Gewitterdämon Pushan trägt einen solchen n) und
daneben, wie Rudra, geflochtene Haare. Boreas12) hat »langes struppiges
*) Vol. Str. 29, Gylf. cap. 15: Gering S. 309.
2) Vgl. o. S. 167. Ob nicht der ganze Mythus aus dem zweideutigen Vers-
paar Vol. 29, 1—2 (vgl. Heinzel-Detter z. St.) erst herausgesponnen ist?
Odin »birgt« sein Auge in dem Quell, wie wir noch sagen: er »versenkt« es?
Allerdings setzt die Vol. (vgl. Str. 28 und den Parallelismus mit Heimdalls Hörn
Str. 27) die »Verpfändung« schon voraus. Aber sie benutzt auch sonst älteres
Gut (wie Str. 3).
3) S. 370 f.
4) Urgeschichte Europas S. 186.
B) Gylf. cap. 51 : Gering S. 349.
6) Reg. Str. 31 f.
7) Doch scheinen solche Bilder vorzukommen; vgl. Säve, Siegfriedbilder,
Hamburg 1870, S. 73; von ihm freilich S. 77 anders erklärt.
8) Macdonell S. 56.
9) Macdonell S. 77. 10) S. 74.
u) Ebd. S. 35. 12) Preller 1, 471.
§ 17. Hauptgötter. 231
Haar« , aber bärtig ist er nicht Das eignet vielmehr den Wasser- und
Waldgeistern '). — Der Bart ist vielleicht noch Zeichen des vornehmen
Mannes und daher des »Fürstengott es« 2); aber der lange graue Bart kann
wohl eben nur das Alter symbolisieren, oder vielmehr die Erfahrung des
reifen, weisen Mannes — wie bei Zeus, bei dem indischen Dionysos —
oder Piaton. Odin darf nicht jung sein, denn er hat lange Erfahrungen
hinter sich und ist in Anstrengung gereift3). Deshalb wird auch gern in
mythischen Andeutungen von seiner Vorzeit gesprochen4). Aber eine
eigene Vorgeschichte des jungen Wodan (wie des jungen Zeus oder
Indra) besitzen wir nicht: die germanische Anschauung scheint die Vor-
stellung des göttlichen Kindes nicht zu besitzen ; sie ist zu ernst, vielleicht
auch ein wenig zu feierlich dazu. •
Das Eine Auge — wenn es ein alter mythischer Zug ist — läßt
sich nicht so leicht deuten. Natürlich hat man es auf die Sonne be-
zogen 5). Ich muß gestehen, daß mir dies mythologisch nicht unbedenklich
scheint. Der Mythus wäre doch nur ätiologisch zu verstehen: als Ant-
wort auf die Frage, warum es nur Eine Sonne gebe; eine Frage, der ich
noch nie begegnet bin. Sonst ist es wohl natürlich, die Sonne als Auge
des Himmels zu bezeichnen, weil sie auf uns »herabsieht«6); damit ist
aber noch nicht gesagt, daß eine klare primitive Vorstellung das mensch-
lich gedachte Auge als Symbol der Sonne hätte brauchen können. Die
Sonne ist eine goldene Scheibe, ein Wagen, ein Tierfell, ein Schild; aber
ein Gott mit einer ins Gesicht geklemmten Sonne wäre vermutlich unseren
Altvordern höchst seltsam vorgekommen. Bei dem Rundauge auf der
gewölbten Stirn (einer nicht nur bei den Kyklopen begegnende Vorstellung)
wäre das Bild immer noch denkbar; aber wenn von dem untrennbaren
Dual der Augen das eine fehlt, kann das andere schwerlich als das
singulare tantum Sonne zu denken sein. Eine Möglichkeit sehe ich
noch dafür: die in einigen Mythologien auftauchenden Vorstellungen von
zwei Sonnen, einer Tag- und einer Nachtsonne: das fehlende Auge wäre
dann die verschwundene Nachtsonne. Aber ist dieser Mythus bei den
Germanen je vorhanden gewesen?
!) Besäßen wir nur eine Ikonographie der Götter und Dämonen, wie wir
solche von den katholischen Heiligen besitzen!
2) Vgl. Rig. Str. 15 und die vielen »barttragenden« Beinamen nordischer
Fürsten wie Svend Gabelbart u. dgl.
*) Wie Häv. Str. 58—59 fordert.
4) Lok. Str. 9.
5) Ebenso bei anderen Völkern; vgl. St ahn, Die Simson-Sage, Göttingen
1908, S. 55.
6) So heißt die Sonne in vedischen Hymnen Varuna und Mitras schönes
Götterauge (Geldner-Koegi, 70 Lieder des Rigveda, S. 15), oder noch oben-
drein Agnis (ebd. S. 55) — was doch jede Anschauung ausschließt.
232 Viertes Kapitel.
Müllenhoff1) deutet die Sage als einen Naturmythus, »und zwar das
Abbild eines alltäglich sich wiederholenden Vorganges: daß die Sonne
im Wasser wiederscheint«. Aber er selbst führt2) Ortsnamen mit Mimi
nur bei Flüßchen und Quellen an ; jener Mythus würde dann doch wohl
die Sonne eher mit einem Gott breiter Wasserflächen verbunden haben.
Ich möchte die Einäugigkeit (ich wiederhole: wenn sie ursprünglich
ist) viel eher aus irgendeinem Mythus epischer Art ableiten als aus dem
Mimirs; wenn sie nicht vielleicht einfach einem ikonischen Mythus ent-
sprungen ist. Der Schlapphut Odins verdeckt oder verdunkelt doch ein
Auge — sollte von solchen Darstellungen nicht die Vorstellung her-
stammen ?
Ober die Attribute — Hut, Mantel; Speer, Roß; Hunde, Raben —
handeln wir besonders. Auf den reichen Waffenschmuck jüngerer Dar-
stellungen8) brauchen wir nicht einzugehen. Besonders ist dagegen noch
auf Odins Neigung zu Verkleidungen hinzuweisen4). Doch ist zweierlei
zu unterscheiden : die Verwandlung in Tiergestalt, erst in späteren Mythen
beliebt, aber wohl (wie in Zeus' Verwandlungen in Stier, Wolke, goldenen
Regen usw.) auf dämonische Erbschaft zurückgehend; und die eigentliche
Verkleidung (als Bettler, Steuermann, Greis usw.), die mehr mit seiner
Funktion als Fürstengott zusammenhängt: er geht wie Harun al Raschid
in unscheinbarer Form einher, um die Menschen und besonders die
Gewalthaber zu prüfen (Grfm). — Wer will, mag auch hier Wolken
sehen und an Hamlets Wolke, die bald ein Kamel ist und bald ein Un-
geheuer, erinnern.
Wir finden also als Kern der Anschauung von Wodans Persönlich-
keit das Alter oder besser die Reife. Dies selbst aber wiederum bedeutet
nichts anders als Erfahrenheit, Weisheit. »Alter« ist die mythologische
Chiffre für Weisheit, wie etwa im Hildebrandslied oder der Nibelungen-
art der wise dem tumben gegenübersteht. — So kommen wir auch hier
auf die Betonung intellektueller Macht. —
Kein Gott besitzt so viele Attribute wie Odin und keiner so viel
Namen, die er in den Grim. selbst stolz aufzählt. Wichtig sind vor
allem die Attribute. Es sind drei Paare: zwei gehören zur Kleidung,
zwei zur Ausrüstung, zwei zur Begleitung. Der Hut*) und der Mantel
haben es gemein, daß sie der Verhüllung, Vermummung dienen 6). Natür-
J) D. Alt. 5, 102.
2) S. 106.
8) Uppsala: vgl. Mogk S. 336; die Bildsäule, die Frigg berauben ließ,
s. o. S. 222.
4) Vgl. Golther S. 330.
5) Meyer S. 368. 383.
•) Nach der er Grimr heißt, vgl. Meyer S. 370.
§ 17. Hauptgötter. 233
lieh kann aber dies nicht die ursprüngliche Funktion sein. Eher noch
könnte man hier Zeichen des großen Zauberers sehen: der Hut der
Zwerge und Elfen ist ein Zaubergerät, und Odins Mantel wirklich ge-
legentlich ein Zaubermantel, in dem er sogar andere in fremde Länder
trägt1). Indeß läßt sich beobachten, daß Attribute, die zur eigentlichen
Kleidung gehören, fast stets elementarische Symbole sind — sei es,
daß sie ursprünglich Fetische von symbolischer Art sind (wie die Ägis),
sei es, daß sie das Element andeuten, in dem die Gottheit sich bewegt,
wie Skadis Schneeschuhe, der caduceus des antiken Götterboten. Ich
glaube, daß Hut und Mantel allerdings einen alten Naturdämon an-
zeigen. Führen nun verschiedene Erwägungen zu der Vermutung, er sei
ursprünglich der Geist des in den Baumkronen stürmenden Windes, so
passen dazu diese Attribute vortrefflich. Der sonderbare große Schlapphut
ist der metaphorische Ausdruck des über das Gesicht des Gottes hin und
her wehenden Laubes am Gipfel, der Mantel des übrigen im Sturm hin
und her wehenden Laubes. — An sich ist gewiß die Erklärung beider
Attribute mit der verhüllenden Wolke gut möglich; aber Odin scheint
eben kein Wolkengott zu sein.
Der Speer und das Roß gehören nicht ganz so eng zusammen.
Das Roß ist nur mythologische Umschreibung der raschen Bewegung
und deshalb gewiß alt2). Wie der Speer hat es seinen eigenen Namen:
Sleipnir, der Springer; aber die für die germanische Mythologie (wenig-
stens durch ihre Beliebtheit) bezeichnende Benennung der Waffen und
Tiere stammt wohl erst aus der Heldensage: Sigurd, ebenso Roland,
der Cid u. a. haben benannte Rosse. Auch sehen die drei Namen
Sleipnir — Gungnir(der Speer) — Draupnir (der Tröpfler, Odins Wunder-
ding) sich so verdächtig ähnlich wie Andhrimnir — Eldhrimnir — Saehrimnir 8)
— sollte es nicht späte Fabrikarbeit sein? Auch der Name Mjölnir,
der Zermalmer, für Thors Hammer gehört in dieselbe Kategorie. Später
haben dann, wie alle »Heime«, auch alle Götterrosse Namen be-
kommen4); zuerst vielleicht Heimdalls Roß Gulltopp »mit goldenem
Stirnhaar«.
Für das Roß des Sturmgottes ist natürlich seine ganz besondere
Schnelligkeit bezeichnend. Wie der Apoll von Amyklae zum Ausdruck
seiner besonderen Wahrhaftigkeit (oder eher wohl : Aufmerksamkeit) und
wirksamen Hilfe vier Ohren und vier Arme besaß 5), so hat Sleipnir acht
J) Saxo 1, 40; vgl. Mogk S. 335.
2) Vgl. Meyer S. 371, Golther S. 312, Mogk S. 335.
8) Grim. Str. 18.
*) Grim. Str. 30; Gylf. cap. 15: Gering S. 310.
•) Preller 1, 294.
234 Viertes Kapitel.
Füße: »damit soll wohl die große Geschwindigkeit angezeigt werden«1).
Grau von Farbe ist Sleipnir wohl, weil Odin selbst grau ist.
An dies Roß knüpfen später weitere Märchen: es soll von dem
Riesenhengst Swadilfari und Loki abstammen2), So wäre denn das edle
Kampfroß des vornehmen Gottes eine reelle »Spottgeburt von Dreck und
Feuer« ! eine jener unsauberen Bastardlegenden, an denen die theologische
Spekulation sich vergnügt wie die vom Ursprung des Erichthonios8) oder
des Typhon 4). Wieder von Sleipnir soll dann Sigurds Grani abstammen ;
wahrscheinlich war es umgekehrt!
Zweifelhafter ist schon das Alter des Speers. Ein Speerkult, der
dem Schwertkult (Tyr) und dem Hammerkult (Thor) entspräche, ist nicht
bezeugt; freilich ist Wodan als Gott vielleicht jünger als beide, sicher als
der indogermanische Tyr, wahrscheinlich als der keltisch-germanische Thor.
In der deutschen Oberlieferung ist der Speer wohl nicht belegt. Wenn
im Merseburger Spruch Thor und Wodan se holse fahren, werden sie
wohl mit Jagdspeeren bewaffnet sein; aber das wird nicht erwähnt, und
läge ja auch nur in der Situation als solcher. In der altnordischen
Dichtung aber ist der Speer ganz eigentlich Odins Kennzeichen geworden5);
er schleudert ihn feierlich zur Kriegserklärung wie dtr römische Flamen 6).
Mogk7) faßt den Speer als den Blitz, den der Gott aus dunkler Wolke
schleudert. Aber Gewittergott ist Thor und sein Hammer der Donner-
keil; der Wind schleudert keine Blitze.
Ich habe schon früher ausgeführt, daß mir gerade auf der Einführung
des Speers (oder seiner neuen taktischen Verwertung8) der Sieg Odins
über Tyr zu beruhen scheint. Wie er aber dazu kam, Speergott zu
werden, das erkläre ich so wie die Erfindung der Runen9). Der Wind-
gott hat den Holzspeer10) vom Baum geweht und ihn so den Menschen
geschenkt. Eine schwache Erinnerung daran lebt vielleicht noch in der
merkwürdigen Sage, wie Odin dem Starkad den Rohrstab gibt, der zum
Speer geworden König Wikar durchbohrt11), wenn nicht gar noch Hods
') Golther S. 312.
2) Meyer S. 234. 278; Golther S. 273; v. d. Leyen, Märchen, S. 38.
3) Preller 1, 198.
4) Ebd. 64, 3. Nicht der Adler des Zeus, aber der des Prometheus hat
ähnlichen Ursprung: er stammt von Typhon und Echidna (Preller 1, 99
Anm. 4). — Selbst Mogk S. 351 scheint das Märchen noch für alt und echt zu
halten.
5) Siehe o. S. 183; Golther S. 311.
6) Völ. Str. 24. 7) S. 336.
8) Vgl. z. B. für die Zulus Schurtz, Urgesch. d. Kultur, S. 337.
9) Altgerm. Poesie S. 494.
,0) Schurtz a. a. O.
n) Golther S. 325.
§ 2. Wesen und Begriff der Mythologie. 235
Mistelzweig ein Nachklang des ursprünglichen Speers ist1). Odin schenkte
den Speer, und deshalb stehen Runen auf dem seinigen. — Natürlich ist
das nur eine Hypothese; der Sturmdämon mag auch Kriegsgott geworden
und als solcher mittelst seiner fernhin treffenden Lanze von dem alten
Kriegsgott differenziert sein.
Auch an den Speer knüpfen einige Mythen eine märchenhafte Vor-
geschichte. Wie alle wunderbaren Fortschritte der Technik wird auch er
den Zwergen zugeschoben, wie Freys Schiff Skidbladnir2). Der Gott
trifft sicher wie Apollon3): seine Lanze hält nie im Flug inne4). Sym-
pathischen Zauber bedeutet es daher, wenn Erik den Speer über seine
Feinde schwingt5), unmittelbaren Sieg, wenn Odin6) dem Dag seinen
Speer leiht.
Die Raben halte ich für alt: sie holen die für den Odinskult
charakteristischen Opfer des »Hängegottes« aus dem Baum: sie sind
Galgenvögel. Ursprünglich aber waren sie wohl einfach die Vögel, die
in den vom Wind durchheulten Baumkronen auf und ab flogen 7). Aber
erst spät sind sie zu seinen »Gedankenboten« gemacht worden8). Man
nennt sie dann Hugin »Gedanke« und Munin »Gedächtnis«, ein Paar wie
Prometheus und Epimetheus 9).
Der Rabe wird das Zeichen der dämonischen Schlachtfahne10), was
glücklicherweise noch niemand totemistisch gedeutet hat. — Neben den
Raben kommt der Adler als ein anderer Vogel des Schlachtfeldes vor11),
*) Sgdr. Str. 17. Eine ähnliche Fiktion wird noch von den Fehmrichtern
angewandt, wenn sie einen Strang von der nächsten Eiche machen lassen
(Lind n er, Die Veme, Paderborn 1872, S. 211): die Eiche vollzieht gleichsam
die Strafe an dem Verbrecher.
2) Meyer S. 157f.
3) Preller 1, 274.
4) Vgl. v. d. Leyen S. 57.
5) Mogk S. 337.
6) Helg. Hund. 2, 27.
7) Meyer S. 371, Mogk S. 336. — Die Raben Barbarossas im Kyffhäuser
sind wohl jung.
8) Immerhin haben auch Mitra und Varuna »Spione», Kundschafter, die vom
Himmel die Welt durcheilen und alles sehen; Macdon eil S. 23.
9) Vögel als Boten sind uralt in Mythen, wie besonders der semitischen
Sintflutsage (nicht in hellenischen Berichten echten Ursprungs: Usener, Sintflut-
sagen, S. 254; vgl. auch Macdon el 1 S. 152); vgl. allgemein Kluge, Die Heimat
der Brieftaube: Bunte Blätter, Freiburg 1908, S. 145, und dazu Edw. Schroeder,
Anz. f. d. Alt. 1908, 226 f.: sie stammen aus dem wirklichen Gebrauch. — Auf-
fallender ist, daß auch in dem heiligen Baum des Zeus sich heilige Tauben
wiegen (Preller 1, 124).
lü) Meyer S. 374.
X1) Raubvögel und Wolf als typische Tiere des Schlachtfeldes: J. Grimm,,
Andreas und Elene, S. 25; Brand 1, Altengl. Lit. S. 1078.
236 Viertes Kapitel.
der ebenfalls die Gipfel hoher Bäume umkreist1). An eine Übertragung
des Adlers2) des Zeus ist gewiß nicht zu denken; wohl aber (wie bei
diesem?) an eine ursprüngliche Adlergestalt des Dämons, die bei allen
am Himmel tätigen Naturgeistern vorzukommen scheint8); er heißt auch
selbst noch Oern, Adler4).
Auch die Wölfe begleiten den Kriegsgott5) und begleiten Odin
wohl erst, seit er das geworden ist, denn sie haben keine alte Analogie.
Die Aristeia Odins6) schildert den Gott, wie er als vornehmer Herr
zwischen seinen beiden gezähmten wilden Tieren sitzt wie der König im
Ruodlieb7) mit seinen je zwei Leoparden, Löwen, Bären; »c'est une
belle magnificence de roi«, wie noch Victor Hugos König Ludwig XL
von seinen Löwen im Käfig sagt. Die Situation ist populär geworden
und Bücher wie Golthers »Religion und Mythus der Germanen« bilden
Odin in dieser Gala -Haltung ab, in der der einfache Gläubige ihn sich
schwerlich in der Regel vorstellte: damals war der Wanderer in Hut
und Mantel gewiß populärer.
Die große mythologische Requisitentaufe erstreckt sich natürlich auch
auf die Wölfe: sie heißen8) Freki, der Gefräßige, und Geri, der Gierige9)
womit wohl nur der Gegensatz der futterbedürftigen Tiere und des
asketischen Gottes in maiorem dei gloriam akzentuiert werden soll.
Während auf dem Pergamonfries die Göttertiere eifrig am Kampf
gegen die Giganten teilnehmen, werden die doch hierfür sehr geeigneten
Wölfe und Raben Odins beim Ragnarök lü) nicht erwähnt, vielleicht weil
schon auf der Gegenseite ein Wolf steht. — Die Namen der Odinstiere
werden gern als »Wappennamen« verwandt11); in dem Namen unseres
größten mittelalterlichen Dichters, Wolfram, haben sie sich zusammen-
gefunden, wie Wolfgang sowohl Goethe als Mozart heißen.
Der große Namenreichtum 12), mit dem die Grim.13) prahlen, entstammt,
nur sehr zum Teil den verschiedenen Funktionen des Gottes (so Sieg-
1) Grim. Str. 10.
2) Oder der Adler: Preller 1, 127.
8) Ebenso z. B. bei Indra, Macdon eil S. 152; doch vgl. u. über den
Raub des Unsterblichkeitstranks.
4) Mogk S. 340.
5) Golther S. 312; ebenso hat Mars den Wolf, nach dem sich die Hirpoiner
benennen: Wissowa S. 137.
6) Grim. Str. 19.
7) Her. v. Seiler 5, 84f.
8) Grim. Str. 79.
9) Gylf. cap. 38: Gering S. 329.
10) Gylf. cap. 5: Gering S. 348.
") Vgl. meinen Aufsatz »Copulative Eigennamen« Ztschr. f. d. Alt. 43, 161.
") Golther S. 355 f.
18) Str. 46-50, 54.
§ 17. Hauptgötter. 237
vater, Walvater; aber die meisten gerade hierher gehörigen Titel wie
»Hängegott», »Rabengott« fehlen in dieser vorsichtig auf Effekt ge-
arbeiteten Dichtung). Viele Titel sind beschreibender Natur (»Breithut«,
»Langbart«, »Graubart« »Stabträger«) oder enkomiastisch (der Erhabene,
Kampffrohe, Wahre, Wachsame); andere spielen auf einzelne Abenteuer
an (der Truggewandte, der Verlarvte) oder auf seine Vielgestaltigkeit selbst
(der Gestaltentauscher). Einige wird auch der Preisdichter selbst er-
funden haben, und vielleicht sind Namen wie Thud und Uä1) nur
mythische Klänge ohne Inhalt. Aber die Menge der Namen bleibt doch
bezeichnend2). —
Diese charakteristische Erscheinung wird nun noch weiter ausgemalt,
wobei der Weg, der von Hut und Mantel des Sturmgeistes zu Roß und
Speer des Gottes und wohl weiter zu Raben und Wolf des Totengottes
führte, mit immer weiteren Einzelheiten gewandelt wird. Natürlich reitet
auch er, wie seine Walküren, durch Luft und Meer3) und trägt, nach
späterem Skaldenbericht, zündende Flammen in der Hand5). Anderseits
macht es seinen Bewunderern Freude, ihn in unscheinbarer Gestalt auf-
treten zu lassen, als Fergen (Härb.) oder Kleinbauern (Einleitung zu Grim.) :
um so wirkungsvoller läßt dann der Gesang des Landstreichers im feurigen
Ofen am Schluß »den Ordensstern sehen«. — Hier allein5) ist auch seine
rein flüssige Diät erwähnt6). Es liegt in der Linie märchenhaft steigernder
Phantasie; so hat auch der große Chemiker Berthelot mit der Idee
gespielt, die Zukunft werde nur noch chemische Destillate als Nahrungs-
mittel kennen. Aber der alte Opfergott hatte einen kräftigen Appetit und
will auch als Gast bei Geirröd selbst7) nicht hungern.
Neben dem Vergleich mit Mercurius und der Erscheinung des Gottes
bildet sein Kult ein wichtiges Mittel, die ursprüngliche Natur Odins zu
ergründen — ein Mittel, dessen sich besonders Chadwick mit kluger
Methode und sicherem Erfolg bedient hat. Der Kult Odins unterscheidet
sich durch bestimmte Eigentümlichkeiten8).
Auszugehen ist von dem Menschenopfer9). Es ist von Tacitus 10)
bezeugt; und die Fortdauer beweisen zahlreiche nordische Berichte11).
') Str. 46.
£) v. d. Leyen, Sagenbuch S. 132, schiebt sie ausschließlich auf die Lieb-
haberei der Skalden für Odin.
3) Mogk S. 335. 4) Ebd.
p') Grim. Str. 18. 6) Siehe o. S. 175.
"') Einl. zu Grim.
8) Chadwick a. a. O.; Mogk S. 337; Meyer S. 315. 388.
9) Vgl. Mogk, Menschenopfer bei d. Germanen.
10) Germ. cap. 9: Mercurium colunt, cni certis diebus humanis quoque hosttis
litare fas habent; Mogk bei Paul S. 345; Meyer S. 335; Golther S. 327.
n) Vgl. Golther a. a. O.
238 Viertes Kapitel.
Tiuz und Donar geben sich mit Tieropfern zufrieden — Wodan erhält
noch spät neungeteilte Opfer von Menschen und Tieren1). Einar, der
Jarl der Orkneys, opfert den Hälfdan in grausamer Weise dem Odin für
Sieg2): er läßt ihm »den Blutadler ritzen«3), d.h. die Rippen zerbrechen
und die Lungen herausziehen : der Mensch wird in ein heiliges Tier Odins
gewandelt. — Ebenso opfern die Sachsen Menschen4).
Weshalb bringt man ihm Menschenopfer? Bei dem Kriegs-
gott scheinen sie begreiflich, wie sie denn auch in freilich viel geringerem
Maße bei Tyr nachzuweisen sind 5). Man will sein Gefolge vergrößern 6),
indem man ihm neue Einherier schickt: so gelten auch die toten Feinde,
wenn sie in der Schlacht gefallen sind, als Opfer7). Deshalb opfert" man
ihm zunächst Könige und Helden8), dann als deren Stellvertreter Ge-
fangene und Vertreter9). Aber Tyr ist doch auch Kriegsgott und empfängt
nur bei den höchsten Festen ausnahmsweise Menschenopfer! Ich glaube:
Odin war in höherem Grad als Tyr »Staatsgott«, und Menschenopfer sind
Staatsopfer, wie z. B. in Rom keine alten Menschenopfer bezeugt sind 10),
aber nach voller Festigung des Staates bei schwerer Notlage desselben
Menschenopfer dargebracht werden — und zwar aus feindlichen Nationen u).
Bei den Indern sollen Menschenopfer bei der Errichtung eines Backstein-
altars bezeugt sein12): auch dies ist ein offizieller Akt wie das Bauen eines
festen Hauses mit wirklicher oder symbolischer Einmauerung von Menschen 13).
— Tyr scheint der Kriegsgott, den der Einzelne um Sieg anruft, für den
der Einzelne Siegesrunen ritzt u), aber Wodan ist der Herr der Heerscharen
*) Meyer S. 335: in Uppsala alle neun Jahre neun Menschen geopfert, im
dänischen Lethra alle neun Jahre sogar 99 Menschen — Pferde — Hunde —
Hähne. Die Neunzahl auch bei der Runenfindung die Dreierreihe vornehm:
meine Altgerm. Poesie S. 83. 85.
2) Mogk bei Paul S. 339.
3) Solche Grausamkeiten können wohl historisch sein; vgl. Mogk, Menschen-
nopfer, S. 609.
4) Vgl. Olrik. Nordisches Geistesleben, S. 73; ähnliche scheußliche »Um-
formungen« des Menschenkörpers durch chinesische Henker schildert Mirbeau,
Le jardin des supplices.
5) Tac. Germ. cap. 39; vgl. o. S. 185.
6) Chadwick S. 13. 24.
7) Ebd. S. 8.
8) Beispiele aus Schweden: Golther S. 327; vgl. die athenische Sage von
König Kodrus.
9) Chadwick S. 27.
10) Wissowa S. 31, vgl. 109, 3.
") Ebd. S. 54.
12) Oldenberg S. 363; Hildebrandt S. 9, vgl. 161 f.
13)01denberga. a. O.; Andree, Ethnograph. Parallelen 1, 18.
13) Sgdr. Str. 6.
§ 17. Hauptgötter. 239
wie jener Gott Zebaoth, dem das ganze Volk der Amalekiter geopfert
werden soll l). Deshalb treten auch zu ihm die Walküren in engste Be-
ziehung, die wir als Kollektiv - Fylgjen des Heeres glaubten auffassen zu
sollen.
Aber es sind Gründe da, anzunehmen, daß das Menschenopfer für
Wodan uralt ist, vielleicht älter als jene Einsetzung zum »Staatsgott«, die
die nach römischem Muster sich organisierenden Rheingermanen bis in den
hohen Norden verbreitet zu haben scheinen was dann auch die natürliche
Erklärung für den ersten Religionskrieg bei den Germanen wäre: die
organisierte Religion der Wodansverehrer hätte die freiere der Tyrverehrer
besiegt 2).
Wiewurdegeopfert? Die Benennung als Hangagod und nament-
lich als Hangatyr3), Hängegott, könnte eine alte Schelte seiner Gegner
sein; aber das Hängen selbst ist eine uralte Form der Tötung: an die arbor
infelix wird der römische Hochverräter gefesselt4) und aus der »Säule«
oder dem »Stamm« entwickelt sich der Galgen der Germanen5). So
schon in den ältesten Berichten alter germanischen Menschenopfer6). Die
Urform dieser Opferung war wohl die, daß der Mensch dem fetischistisch
verehrten Baumstamm dargebracht wurde, wie in Afrika die Knochen
geopferter Pferde um den »Lappenbaum« geschichtet werden7). —
Aber als charakteristische Eigenform des Odinkult erscheint8) nicht
das bloße Hängen, sondern die Verbindung von Hängen und
Speeren. Charakteristisch ist besonders die Geschichte von Wikars
Tod9):
Wikar und seine Schiffsgefährten müssen wegen widrigen Windes einmal
(ange liegen. Da befragen sie das Losorakel. Es ergibt sich, daß Odin einen
Mann aus ihrer Schar verlangt. Das Los trifft den König Wikar selber, wodurch
die bestürzt sind. Starkad schlägt vor, das Opfer nur andeutungsweise zu voll-
ziehen. Er steigt unter einer Föhre auf einen hohen Block, biegt einen schwanken
Ast herab und knüpft daran dünne Kalbsdärme. »Nun ist Dir hier ein Galgen
bereitet, König, der nicht lebensgefährlich bedünken wird.« Wikar steigt auf den
J) 1. Sam. cap. 15; vgl. allgemein Schrader Reallexikon S. 604.
2) Vgl. noch die Schilderung des Wanenkriegs Völ. Str. 23.
3) Mogk S. 337.
4) Schrader, Reallexikon, S. 834.
B) Ebd. S. 837.
6) Bei Mogk, Menschenopfer, S. 608.
7) Andree, Ethnograph. Parallelen 1, 62. -- G. Keller (Gedichte S. 363; in
den Werken 2, 96) hat in dem grausam -humoristischen Gedicht »Weihnachts-
markt« geschildert, wie eine alte Frau sich selbst als Geschenk an den Baum
hängt. Vgl. Häv. Str. 138; siehe u.
8) Chadwick S. I4f.
9) Chadwick S. 4, Golther S. 325.
240 Viertes Kapitel.
Block und legt sich die Schlinge um den Hals, Starkad nimmt einen Rohrstab,
den ihm sein Pflegevater Hrossharsgrani, der verhüllte Odin, in der Nacht ge-
geben, stößt damit nach dem König und spricht: »Nun geb' ich Dich dem Odin!«
Alsbald wird der Stab zum Speer, der den König durchbohrt, der Block fällt
unter seinen Füßen, die Kalbsdärme werden zum starken Weidenstrang, der Ast
schnellt empor und hebt den sterbenden König ins Gezweig.
Während der Gehängte vom Speer durchbohrt wird, wird gesagt:
»Ich weihe dich dem Odin!«1).
Diese Zeremonien fehlen auch nicht bei Odins Selbstopferung2):
Ich weiß, daß ich hing am windbewegten Baum
Neun Nächte hindurch,
Verwundet vom Speer, geweiht dem Odin,
Ich selber mir selbst.
also Hängen, Speeren, Weihen. Es werden oft auch noch Gefolgstiere
aufgehängt: Hunde3), Pferde, Hähne. So in Uppsala; so Hund und Habicht
neben Broderus4); ebenso hängt ein Wolf am Tor von Odins Saal5).
Dies Mithängen ist nicht obligatorisch, aber doch beachtenswert: der
Geopferte wird durch die Begleitung der heiligen Tiere gleichsam zu
einem Abbild Odins gemacht, der mit den Vögeln (zu denen die Hunde
dann gleich zugedacht werden) in der Baumkrone haust. Und so wäre
es möglich, daß jedes Odinsopfer nur eine »heilige Handlung« wäre:
eine mimische Wiederholung der einmaligen Tat des Gottes, der sich
selbst mit dem Speer am Baum durchbohrte. — Doch ist Odins Runen-
findung nicht so sicher ein ganz alter Mythus, daß wir diese (an sich
nicht unwahrscheinliche) Hypothese wagen dürften.
Dann also müssen wir uns die Entstehung des Odin-Ritus als wohl
so denken: das Ursprüngliche ist das Hängen — die natürliche Art,
diesem Gotte zu opfern. Vielleicht genügte es auch anfangs, wie später
das Durchbohren mit dem Speer, um den Krieger der Ehren des Helden-
todes teilhaftig zu machen: Germanen, die den Schild verloren, hängen
sich auf6): multique super stttes bellornm infamiam laqueo finierunt1)*
Sollte der Odinstod den Tod auf dem Schlachtfeld ersetzen? oder war
er schon damals (wie etwa für die ungetreuen Mägde der Penelope) ein
schmachvoller Tod für den, den des Feindes Schwert verschont?— Dann
!) Chadwick S. 7-8, 24; vgl. Golther S. 328.
2) Häv. Str. 138.
?) Meyer S. 335.
4) Saxo 8, 414; vgl. Chadwick S. 424.
5) Grim. Str. 15. Ob das im Mittelalter beliebte Aufhängen von Ketzern
und Verbrechern zwischen Hunden und Katzen ein Rudiment dieses Brauches
ist, bleibt mindestens zweifelhaft.
6) Tac. Germ. cap. 6.
7) Vgl. allgemein Hirzel, Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 79 Anm. 6.
§ 17. Hauptgötter. 241
aber wird Odin der Gott des Speers. Diese Waffe wird sein heiliges
Symbol. Seine Anhänger, dürfen wir annehmen, »zeichnen« sich mit
dem Speer1).
Und so ist denn auch Odins Selbstopferung wohl nur (in ihren
äußeren Formen) eine Nachahmung der Aufnahme in den Odinskult2).
Nun ist es allgemein üblich, mit der heiligen Waffe Todesurteile zu
vollstrecken. Die Assassinen tun es mit dem Dolch 3) , die Camorra tut
es mit dem Messer4); die Freischöffen »zeichnen« den Frevler5) — und
die Wodanverehrer tun eben das mit dem Speer. Nur wer so gezeichnet
ist, gehört sicher dem Gott; deshalb werden Greise mit dem Speer
getötet6), um zu ihm zu kommen. Es ist dasselbe, wie wenn fromme
Katholiken sich in einer Franziskanerkutte begraben lassen, um der geist-
lichen Vorteile der Zugehörigkeit zum Orden teilhaftig zu werden.
Wir müssen annehmen, daß beide Riten nebeneinander fortdauerten:
das Hängen für den »Galgengott«7), das Speeren für den Speergott; zu-
nächst ist alles Hängen an sich ein Opfern für Odin 8) und so wohl auch
alles Durchbohren mit dem Speer; denn so ist wohl das »Zeichnen für
Odin«9), des Njörd in der Ynglingasaga c. II10) zu verstehen: er »zeichnet
sich selbst mit dem Speer« und opfert sich so dem Odin, wie dieser sich
selbst opfert.
*) Solche religiösen Tätowierungen sind nicht ganz selten; das berühmteste
ist das »Kainszeichen«, ursprünglich das Wappen der alten echten Jahve- Verehrer
(Holzinger, Genesis, S. 50 f. nach Stade), später ein signum reprob ationis.
(Und so stimmt dann in jedem Sinn Freiligraths berühmter Vers: »Das Mal
der Dichtung ist ein Kainsstempel!«) — Ein Zeichen auf der Stirn als Legitimation
zum Eintritt in die Seligkeit bei den Chassidim: M. Buber, Die Legende des
3aalschem, Leipzig 1908, S. 213. — Tätowieren schon in der Steinzeit wahr-
scheinlich: Schwantes, Aus Deutschlands Urgeschichte, Leipzig 1909, S. 31.
2) Knabenweihe mit Fasten und Peinigen ist eine häufige Erscheinung bei
fast allen Naturvölkern, Aufhängen der Täuflinge z. B. bei einigen Indianer-
stämmen (H. Schurtz, Altersklassen und Männerbünde, Berlin 1902, S. 98).
Wir dürfen solche Zeremonien den alten Germanen sicher ebensogut zutrauen
wie die »Kopf Jägerei« (ebd. S. 99: das nisi hoste caeso exuere votivum obliga-
tumque virtuti oris habitum, Tac. Germ. cap. 31).
3) Heckethorn, Geheime Gesellschaften, übs. v. L. Katscher, Leipzig
1900, S. 99.
4) S. 211.
5) Lindner, Die Veme, S. 575.
6) Allerdings bei den Herulern auch mit dem Dolch? Chadwick S. 33.
7) Chadwick S. 9. — Olrik, Nord. Geistesleben, S. 34, erklärt das Hängen
ials allgemeine Form der Seelenlösung.
s) Ebd. S. 16. 20. 36 f., vgl. 35.
9) Hyndl. Str. 27; doch vgl. Heinzel-Detter, Edda 2, 628, allgemein:
»für die Götter gezeichnet«.
10) Vgl. Chadwick S. 14.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 16
242 Viertes Kapitel.
Diese Selbstopferung bildet überhaupt einen charakteristischen Zug
der Odinsreligion. König Erik verlobt sich dem Odin, nach zehn Jahren
als Opfer zu sterben1); Eyvind ist von Kind auf dem Odin (und dem
Thor) geweiht2), ebenso Wikar zum Hängetod bei Odin geweiht3)
und beide nehmen das Gelübde dann selbst auf sich. Besonders merk-
würdig ist die Geschichte aus der Gautreksaga4), wo zweimal Angehörige
eines Geschlechts sich ins Meer stürzen, um zu Odin zu fahren, der
dafür die Familie begünstigt. Es ist ein Bondengeschlecht, des Speertodes
nicht würdig, weshalb noch besonders die Hoffnung ausgesprochen wird,
Odin werde auch den Knecht annehmen5).
So also ist zunächst eine doppelte Art des Odinsritus anzunehmen,
und beide bleiben dauernd möglich. Aber als die höchste Form des
ersten Opfers erscheint doch ihre Kombination: erst gehangen und
dann gespießt6).
Man wird annehmen dürfen, daß für die theologische Vorstellung
beide Vorgänge unterschieden bleiben: das Hängen als Opferhandlung,
das Speeren als Obergabe an Odin,
Daß der Orkus vernehme: wir kommen,
Daß gleich an der Türe
Der Wirt uns freundlich empfange,
wie Goethe singt7).
Die zu Odin geschickt werden, sollen auch nicht mit leeren Händen
kommen. Statt am Baum werden sie auf dem Scheiterhaufen »bei-
gesetzt«, umgeben von Gefolge, Schmuck und Tieren, nach ältester Sitte ;
dann wird der Scheiterhaufen angezündet und die Leiche verbrannt nach
uralter Sitte wie im brennenden Palast. So Harald Hilditönn8); so erhält
Balder selbst Roß und Ring mit9). Die Leichenverbrennung als Opfer
wird bezeugt bei den Herulern (verbunden mit suttee , der »freiwilligen«
!) Golther S. 259.
2) Ebd. S. 326. 3) Ebd.
4) Mogk, Menschenopfer, S. 615.
5) Ebd. S. 616.
6) Der Umstand, daß auch Absalon, während er am Baume hängt, von Joab
mit dem Speer durchbohrt wird (2. Sam. 8, 9—14), brachte mich auf den Ge-
danken, es könne ein ältester Ritus bewahrt sein. Dies ist aber abzulehnen : wie
mir Prof. Graf Baudissin mitteilt, ist an der historischen Geltung dieses
Berichts nicht zu zweifeln, obwohl später sich Volkssagen an Absalons Gestalt
geheftet haben (vgl. Schwally, Hebräische Kriegsaltertümer).
7) Schwager Kronos. — Vgl. Thorsteins Empfang im Berge: Golther S. 88,
vgl. ebd. S. 317—318; Brynhild Sig. sk. Str. 69—70. — Ebenso hebräisch: Ber-
tholet, D. israel. Vorstellungen vom Zustand nach dem Tode, Freiberg 1899, S. 20.
8) Saxo 8, 391; Chadwick S. 22.
9) Gylf. cap. 49: Chadwick S. 33.
§ 17. Hauptgötter. 243
Verbrennung1), ebenso bei den ,Rus'2). Deshalb wird Odin Patron des
Leichenbrands wie Frey des Hügelgrabs8). — So wird denn schließlich
auch Odin selbst4) nach eigenem Ritus beigesetzt (in Saxos euhemcristischem
Bericht): »als es zum Sterben ging, ließ er sich mit der Speerspitze be-
zeichnen«, und dann ward er mit großer Pracht verbrannt.
Soll man diese Verbindung des Leichenbrandes mit dem Odinsopfer
als eine Fortsetzung des früh geübten Brauchs, die Toten auf dem Schiacht-
felde zu verbrennen, auffassen? Oder ward ursprünglich der Baum mit
der Leiche verbrannt?
Wann wird geopfert? Zu relativ und absolut bestimmten Zeiten.
Das erstere ist der Fall, wenn dem Kriegsgott für Sieg geopfert und bei
Beginn des Krieges ihm5) das ganze Heer der Feinde geweiht wird6);
dann wieder bei Beginn der Schlacht und nach deren Vollendung7). Das
Opfer vor der Schlacht dient zugleich als Orakel8). — Dem Staatsgott
wird bei großer gemeiner Not geopfert: bei Hungersnot wird der Königs-
sohn Angantyr zum Tode bestimmt9), Heidrek schickt dann aber als
dessen Stellvertreter den König Harald mit seinem Sohn und dem ganzen
Heer dem Odin zu 10).
Es gibt aber anch drei absolut bestimmte Opfer11): bei Winter-
beginn für den Gott der Fruchtbarkeit Frey; in der Mitte des Winters
dem Thor (?) für die Saat; im Sommer Odin »Siegesopfer«, d. h. Opfer
für allgemeines Gedeihen.
Wo wird geopfert? Diese großen Opfer setzen Kultstätten
voraus, deren viele im Norden bezeugt sind12), so in Lund, Wiborg,
Odinsve (jetzt Odense) in Fünen ; viele theophore Ortsnamen beweisen das
Gleiche. Die Haupttempel sind in Uppsala und Hleidra.
Den Tempel von Uppsala beschreibt Adam von Bremen 13), den von
Hleidra Thielmar14). In Upsala steht sein Bild: sculpunt armatum sicut
nostri Martern, d. h. mit dem Speer gerüstet. Dort wird zur Frühlings-
wintersgleiche, in Leire (Hleidra) im Januar geopfert15). Vor dem Tempel steht
x) Wie sie, gleich Dido, Brynhild in Sig. sk. Str. 65 f. allerdings atrsübt.
2) Ibu Foszlans Bericht um 922—923 vgl. J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 2891;
Chadwick S. 43f.
3) Snorri bei Golther S. 311.
4) Ebd. 5) Siehe o. '
6) Chadwick S. 6f. 31; Golther S. 325.
7) Chadwick S. 6; vgl. Mogk S. 339.
8) Golther S. 313. 9) Hervarars. cap. 11 f.
10) Chadwick S. 5. 1!) Chadwick S. 5f.
12) Golther S. 305; vgl. Thümmel. PBB. 35, 96: keine Odinstempel auf
Island.
13) IV. 27. u) Chron. 1, 9; vgl. Mogk S. 338.
15) Chadwick S. 6.
16*
244 Viertes Kapitel.
ein Riesenbaum x), dem ohne Zweifel der Tempel den Ursprung verdankt:
er war die Stätte der Epiphanie und erzeugte so den Tempel wie die
Stätte von Lourdes die Kirche. Ihm wird Yggdrasill nachgebildet sein2).
Wie man im Mittelalter für besonders verehrte Heilige Johannis-
minne und St. Gertrudensminne trank, so wird die allgemeine Ver-
ehrung Odins durch das symbolische Alltagsopfer des Zutrinkens be-
zeugt, das ihm mit Thor und Freyja gemeinschaftlich dargebracht wird3);
es bedeutet eine symbolische Gastgemeinschaft, bei der die vornehmsten
Gäste geehrt werden.
Natürlich bringt man auch ihm kleinere Gaben wie die Nordendorfer
Spange4). Und man verehrt seine Spur: Hufeisenabdrücke des Wodans-
rosses werden gezeigt, ein Hufeisen noch im schwedischen Wexiö5): als
Kurschmied tritt er ja auch im Merseburger Spruch6) auf.
Schließlich entwickelt sich ein besonderer Typus des O d i n s -
Verehrers7), durch die leichte Bewaffnung (für den Fernkampf) im
Krieg charakterisiert8) und nach Chadwicks nicht völlig überzeugender)
Beweisführung9) in der Gestalt Starkads, des riesischen Kämpfers (und
typischen Recken der Wikingerzeit10); etwa wie Wate in der Kudrun) ver-
körpert. Odin gehören auch die Berserker1'). Auch Dag12) ist nach
Kauffmanns schönem Beweis13) ein eifriger Odinsverehrer, dem deshalb
Odin seinen Ger leiht u) ; ein anderer ist Franmar 15).
*) Vgl. Fjöl. Str. 13—16, Chadwick S. 74—75.
2) Chadwick S. 79; siehe u. 3) Golther S. 313.
4) G olther S. 245. 5) Meyer S. 388.
6) Verbreitung des Hufeisenaberglaubens: Wuttke s. v., bes. S. 176; der
göttlichen Fußspuren: Andre e, Parallelen 1, 94 f. 301. Problematischer urzeit-
licher Kult des (menschlichen?) Fußes: Schwantes, Aus Deutschlands Urzeit,
S. 71. — Auch »Siegessteine« trägt man als (Odin geweihte) Amulette, wie Thors
Hammer: vielleicht Steine aus Rabennestern (Petersen, Gudedyrkelse, S. 87,1
Anm. 2).
7) Chadwick S. 21. s) Ebd. S. 39. 9) Ebd. S. 71.
10) Olrik, Nord. Geistesleben, S. 68 f.
n) Golther S. 310.
12) Helg. Hund. II. ") PBB. 18, 127.
u) Unrichtig scheint mir Olriks Satz: »Der Odinsglaube ist Sache des
Einzelmenschen, während im Gegenteil die Verehrung Thors die Menschen
zu einer Gemeinschaft zusammenschließt« (Nordisches Geistesleben S. 30). Wir
haben auch bei Thorsverehrern innige Beziehungen ganz persönlicher Art und
glaubten Odin gerade auch als Staatsgott auffassen zu sollen, wie es fast alle
Götter sind, von denen die Herrschergeschlechter sich herleiten: Ares bei den
Römern, Poseidon in Athen (Preller 1, 577). Und hätte ein »Gott des Ein-
zelnen« König des Götterstaats werden können? — Seine Klugheitsmoral abei
(ebd.) geht doch wohl aus dem Begriff der Welterfahrenheit hervor und hat zum
Gegensatz weniger Thors Uneigennützigkeit, als vielmehr seine rohe Kraft.
1B) Eddica minora S. 83, vgl. S. LXXIV.
§ 17. Hauptgötter. 245
So kommen wir denn zu der entscheidenden Frage, was das Wesen
dieser spezifischen Odinsreligion war? was der unterscheidende Besitz
licht des Gottes, sondern seiner Anbeter?
Ich glaube, Sieg und Erfolg der Odinsreligion hängen mit einer
Wandlung in der Vorstellung vom Leben nach dem Tode
zusammen1). Bedenken wir jenen charakteristischen Zug des Rituals:
Jas »Zeichnen« mit dem Speere — für das, wohl zufällig, derselbe
\usdruck verwandt werden konnte wie für das Bekreuzen. Es hat nur
Sinn, wenn ein Erkennen und Anerkennen der Speerwunde im Jenseits
/orausgesetzt wird. Der alte Nordmann hat nicht den massiven Glauben
ies päpstlichen Legaten zu Albi: »schlagt nur Alle tot — der Herr
tfird die Seinen schon herausfinden!« Er will dem Gott die Seinen
ordnungsgemäß durch ein Eigentumszeichen überweisen — gerade wie
jie Kreuzfahrer sich durch ein Kreuz als Soldaten Gottes zeichneten.
Man darf aber nicht etwa in Siegfrieds Schulterkreuzchen eine Erinnerung
in seine Weihe an Odin sehen wollen!) Die Seelen, oder mindestens
iiese Seelen, gehen also in eine neue Existenz über und zwar in eine
erwünschte Existenz. Dem entspricht dann auch die Einrichtung der
Walküren, die die Begnadeten zu Odin holen, entspricht Walhall und das
-eben der Einherier.
Erwin Rohde hat in seiner berühmten »Psyche« nachgewiesen, wie
erst ganz allmählich und von einem bestimmten Zentrum aus2) der Un-
iterblichkeitsglaube die hellenische Religion durchdringt. Sie war bis
Jahin auf bestimmte Zeremonien beschränkt gewesen; nun »wird nicht
jine gesteigerte Moral« gefordert, wohl aber ein ganzes dem Gott geweihtes
L^eben3). So entsteht ein Mysterien kult, »die einzige Kirchenbildung, die
las Altertum entwickelt hat« 4). Auf Ähnliches deuten die Anfänge der
i7odansreligion hin. Sie hat nicht den ersten festen Kult auf germanischem
Üoden hervorgebracht — der kam, wie wir sahen, mit Nerthus, wohl
licht ohne fremden Einfluß; aber sie ist die erste wirkliche »Religion«
nit Bekennern, die sich Einem Gott und seinem Kultus ganz ergeben.
>Jicht daß sie deshalb nicht auch Thor und Frey geopfert hätten : strengen
Henotheismus« im Sinne Max Müllers anzunehmen, haben wir gar kein
techt. Aber nur Einem fühlen sie sich persönlich verbunden — gerade
vie wir auch solche Thorverehrer treffen. — Ich will darauf kein Gewicht
egen, daß Odins Erzählung von der Runenfindung5) leicht als die Ober-
ragung mystischer Initiationszeremonien auf den Gott selbst gedeutet
*) Vgl. u. § 28.
2) a. a. O. S. 295 f.
3) Rohde, Die Religion der Griechen, Heidelberg 1895, S. 23.
*) Kern, Über die Anfänge der hellenischen Religion, Berlin 1902, S. 31.
5) Häv. Str. 138 f.; siehe o.
246 Viertes Kapitel.
werden kann. Aber deutlich ist zu erkennen, daß in dem Kult Odins
eine Leidenschaftlichkeit des Gefühls sich entwickelt, der die biedere
praktische Treue anderer Verehrungen nicht verglichen werden kann. Ein
im eigentlichen Sinne religiöses Moment muß es hier wie anderwärts
gewesen sein, was die Menschen zu der Ekstase der Selbstweihe hinriß:
was kann das besser gewesen sein als der Glaube an ein Jenseits?
Freilich — an eine Fortdauer der Seelen glaubten, mit allen Primi-
tiven, die Indogermanen schon auf animistischer Stufe1). Aber es war, wie
in den alten hellenischen Anschauungen, ein bloßes Fortvegetieren, oben-
drein meist zeitlich begrenzt; nur die Substanz der Seele, möchte man
sagen, blieb erhalten — nicht ihre individuelle Prägung, die nur in
äußerstem Umriß (die Tierphysiognomien böser Totengeister!) noch eine
Zeitlang dauerte. Nun aber, scheint es, verspricht Odin den Seinen wirk-
liches Fortleben jenseits des Grabes: eine individuelle Weiterexistenz
mit Essen und Trinken2) — und Kämpfen. Erst von da an, denke ich
mir, konnte man im Sinne des Unsterblichkeitsglaubens de causis a bar-
baris contemptae mortis reden. Wer mit dem Speer gezeichnet war,
der brauchte die Vernichtung nicht mehr zu scheuen — und die alten
Germanen scheuten sie3).
Man kann sich vorstellen, wie diese Offenbarung wirken mußte.
Irgendwo am Rhein, wo auch das Runenalphabet entstand (nicht zwar
wie ich glaube, die Runenschrift), dort wird den Istvaeonen die Vor-
stellung der persönlichen Unsterblichkeit vermittelt — in ziemlich massiver
Form, aber um so verständlicher und packender. Man braucht nicht mit
Gruppe dem Adaptianismus zu huldigen, um fremden Kultureinfluß so
wahrscheinlich zu finden wie etwa bei den modernen indischen Sekten-
bildungen (Babuismus). Wie der Islam die Beduinen durch feste Formen
des Lebens — und lockende Vorstellungen des Jenseits band, so mochte
nun der Glaube an diesen »Höchsten«, den > Wunschherren « 4) seine An-
hänger begeistern, daß sie die Tyrverehrung und später noch den (an
sich jüngeren) exklusiven Thorkult über den Haufen warfen.
Es gibt vielleicht noch Spuren, die das Aufkommen derOdins-
religion andeuten. Zwar zuviel möchte gewiß gerade ich aus der Namens-
liste der Grim. nicht ablesen; aber auffällig sind doch so schwer zu erfindende
Namen wie Jafnhär, der »ebenso Erhabene« 5) und Thridi6). Der Gebrauch,
den die Gylf.7) von diesen Namen macht, steht gewiß unter dem Einfluß der
x) Vgl. allgemein Wundt S. 551 f. 2) Grim. Str. 18.
3) Olrik, Nordisches Geistesleben, S. 40.
4) Oski, Grim. Str. 49.
6) Str. 49, allerdings in einer Interpolation.
6) »Der Dritte«, Str. 46.
) Cap. 2: Gering S. 299.
7
§ 17. Hauptgötter. 247
christlichen Dreieinigkeit; aber die Namen selbst? Könnte Odin sie nicht
errungen haben, als der ursprünglich nur dämonischer Ehren teilhaftigen
junge Gott von seinen Verehrern erst neben Tyr, dann neben Tyr und
Thor gestellt wurde? Werden wir doch solchen »Kompromißgruppen«
von Göttern noch wiederholt begegnen.
Eine wirkliche Religion mit persönlichen Adepten setzt auch der Ritus
voraus, dessen Umständlichkeit und Feierlichkeit unter den germanischen
Opfergebräuchen nicht seinesgleichen hat — denn bei dem Umzug der
Nerthus handelt es sich um eine einmalige heilige Handlung. Die vielen
liebkosenden Namen, die reiche Legendenbildung — alles stimmt dazu.
Und es stimmt auch dazu, was wir aus Odins Erscheinung hervor-
hoben: die Betonung intellektueller Momente. Odin hat die Runen ge-
funden, die Schutzmittel wider alle Gefahren ; er auch das Kraut wider den
Tod. Der Totengott ist Lebensgott geworden — gerade wie in der Predigt
des Paulus der gekreuzigte Gott. Nur daß diese Entwicklung — gegen
Bugges allzukühne Gleichsetzungen — christlichem Einfluß lange vorausliegt.
Gegen die neuerdings besonders von Olrik und v. d. Leyen ver-
tretene Anschauung, der neue Glauben sei bereits vom Christentum
mitbestimmt, scheint mir der barbarische Stil des Odinsrituals entscheidend
zu sprechen; nicht minder die echt heidnische Schilderung des Walhalla-
lebens. Mir scheint es im allgemeinen methodisch bedenklich, einer in
voller Blüte ihrer Propaganda befindlichen Religion zugleich so viel und
so wenig Einfluß zuzuschreiben, wie es in solchen Fällen dem Christen-
tum gegenüber geschieht. Hätte die christliche Predigt den Unsterblich-
keitsglauben vermittelt, so müßte er christlicher aussehen, — so etwa wie
am Schluß derVöluspa! Uns scheint die altgermanische Speerreligion —
von einer solchen kann man fast so gut wie von der »Religion des
Kreuzes« sprechen — durchaus mit altheidnischen Entwicklungen (Eleu-
sinische Mysterien, auch noch Mithraskult) auf Einer Stufe zu stehen;
und die Neuerung ist lange nicht so groß als die Amenophis IV1).
Übrigens mögen wie bei diesem politische Rücksichten mitgespielt haben,
denn das nationale oder vielmehr staatliche Moment tritt bei Wodan
deutlich hervor; er ist nicht umsonst Gott der Könige, hat es nicht zu-
fällig auf Island zu keinem rechten Ansehen und Kult gebracht.
Vor allem : vertragen sich Menschenopfer mit einer christianisierenden
Religion? Sie sind nicht etwa eine Entartung: gerade der ältere Odin
ist finsterer und grausamer als der in der Edda, wie auch v. d. Leyen2)
mit vollem Recht betont. Diese obligatorischen Menschenopfer sind das
Ergebnis einer leidenschaftlichen heidnischen Gier nach Fortexistenz, wie
') Er man, Ägypt. Rel., S. 66.
2) Germ.-Rom. Monatsschrift 1, 286.
248 Viertes Kapitel.
sie sich auch bei den Germanen (wie bei den alten Hebräern an der
Schwelle des Monotheismus) in den Sagen von unendlich lange lebenden
Helden *) ausspricht. Die Menschenopfer sind schließlich im letzten Sinne
doch, wie in der Geschichte König Auns (der neun Söhne — mit Odins
heiliger Zahl — um langes Leben opferte)2) Ersatzopfer: um nicht selbst
zu sterben, schickt man dem Totengott andere Opfer3).
Denn das ist wohl sicher: wie die Wiedergeburt4), so ist auch die
individuelle Fortdauer nur als möglich gedacht, keineswegs als selbst-
verständlich. Hierin liegt ja eben der besondere Anreiz aller Mysterien-
kulte, daß sie der Seele eine erwünschte Zukunft verbürgen : Seligkeit der
Mithraskult, Nirvana der Buddhismus in seiner strengsten Ausübung. —
Schon von der Frau im Jenseits ist nur in spärlichen Andeutungen 5) die
Rede; Helgi kann Sigrun kein Wiedersehen im Jenseits versprechen6).
Aber auch die Höllenstrafen für Verbrecher werden (wie überall) 7) jung
sein. Wer die Seele nicht irgendwie »einbalsamiert«, dem geht sie ver-
loren; sie verwest wie der Körper. Der Speerstich Odins rettet sie: nun
empfängt Er die Seelen in seiner Halle und sie sind für immer geborgen.
Aber die Knechte kommen zu Thor, wie der Odinsverehrer höhnisch
ruft8) — zu Thor, der nicht einmal ein »Heim« hat, um sie aufzunehmen,
denn Bilskirnir9) ist von einem Thorverehrer nur schlecht der Walhall-
strophe nachgedichtet. Die Einherier begleiten Odin zum letzten Kampf 10)
wie die Guten den iranischen Heiland11) — Thor kämpft allein.
Als letzten Schlüssel zum Verständnis Wodans suchen wir die Ent-
wicklung seines Bildes zu nutzen. Als Wurzel der ganzen
Bildung haben wir mit größter Wahrscheinlichkeit einen Windgott anzu-
sehen u). Dafür sprechen noch Namen wie Geigudr und Väfudr, die auch
den Wind bezeichnen 13) ; denn daß Elementarnamen nachträglich verliehen
werden, ist nicht üblich. Hier findet aber auch seine gesamte Entwicklung
ihren wahrscheinlichen Kernpunkt.
') Methusalem — Starkad.
2) Golther S. 84.
3) Noch für Papst Leo XIII. hat eine Nonne Jahre ihres Lebens im Gebet
geopfert, die ihm zuwachsen sollten.
4) Siehe o. S. 213.
5) Freyja siehe o. S. 213.
6) Helg. Hund. 2, 44f.
7) Vgl. z. B. für die Griechen Roh de S. 57 f. 284 f. 291 f.
8) Härb. Str. 24.
9) Grim. Str. 24.
10) Grim. Str. 23.
") Oldenberg, Kultur der Gegenwart, S. 85.
12) Mogk S. 333, Meyer S. 370. 375.
13) Mogk S. 335.
§ 17. Hauptgötter. 249
Daß er nicht von vornherein ein Gott ist, sondern noch bei den
Germanen ein Dämon war, dafür spricht die elementare Gebundenheit.
Der Hängegott empfängt seine Opfer am hohen Baum ; ein solcher weiht
den Tempel zu Upsala. Dafür spricht weiter die starke Betonung der
Verwandlungsfähigkeit: er kommt als Erntearbeiter, Fährmann, Fahrender,
alter Mann; aber auch als Schlange zu Gunnlöd, als Adler zu ihrem
Vater. Besonders nimmt er auch1) die Gestalt seiner Schützlinge an:
Gestr inn blindi 2). Snorri 3) hebt besonders hervor, »daß er Gestalt und
Aussehen wechseln konnte, wie er nur wollte«. — Im Norden teilt er
diese starke Lust zum Gestaltentausch nur mit dem alten Feuerdämon
Loki, mit dem er wirklich von altersher zusammengehört4). Bei den
Hellenen tauscht freilich der große Zeus nicht minder häufig und noch
seltsamer die Gestalt, der doch schon in indogermanischer Urzeit ein
Gott war — aber doch fast nur in seinen Liebesgeschichten, die wohl
zumeist entweder später Fabulierkunst entstammen oder Übertragungen sind.
Übrigens zeigt zwar nicht der ursprüngliche, wohl aber der »fertige« Odin
manche Ähnlichkeit mit Zeus, zumal von der Weltregierung her.
Daß er gerade ein Winddämon war, zeigt sich in einigen Spezial-
funktionen: er haucht dem Menschen den Atem ein5); er gibt günstigen
Fahrwind6); er beschwichtigt den Sturm7); er heißt deshalb auch Vidrir,
»Wettermacher«. Er macht das Wetter allerdings durch Runen8) wie
die finnischen Zauberer9) oder durch Zauber überhaupt wie die Hexen;
aber es ist doch eine spezifische Kompetenz, die ihm in sein Weltreich
hinein geblieben ist. Dagegen sind die Wandererlegenden 10) wohl nicht
mit Mogk11) von hier abzuleiten: der viator indefessus12), Gangleri,
»Wanderer«, Gangradr »Wegewalter«, Vegtamr »Weggewohnte« macht
diese »Inspektionsgänge« als Herrscher und Prüfer: er ist überall, ohne
allwissend zu sein. Dazu kommen die vielen Heiligtümer. (Auch Thor
ist immer unterwegs.) Daher ist er besonders auch Gast der Könige13).
Der Winddämon war wohl ursprünglich ganz »Augenblicksgott«,
streng lokalisiert: der Geist, der in einem besonders hohen Baum hauste
und seine Wipfel schüttelte. (Eine besondere Baumart scheint ihm nicht,
wie dem Zeus die Eiche, gehört zu haben.) Wahrscheinlich infolge
starker Verehrung (wie in Upsala) wird er zum Windgott überhaupt: zum
x) Wie christliche Heilige: Georg, vgl. z. B. »Sankt Georgs Ritter« von
Uhland; Maria, vgl. z. B. G. Kellers Sieben Legenden.
2) Vgl. Golther S. 342.
3) Ebd. S. 309. 4) Lok. Str. 9.
5) Vol. Str. 18. 6) Hyndl. Str. 3.
7) Reg. Str. 16f. 8) Häv. Str. 152.
9) Vgl. allgemein Mogk S. 336.
10) Golther S. 340f. n) S. 335.
12) Saxo 1, 128. 13) Golther S. 341 f.
250 Viertes Kapitel.
Herrn der Sturmgeister, zum König der Winddämonen — zum Führer
des Wilden Heeres, der hoch oben stürmenden Windgeister1).
So kommen wir zu den Emanationen: Der Windgott war schon
in urgermanischer Zeit über seine alte Bedeutung hinausgewachsen ; wahr-
scheinlich ging von irgendeinem Heiligtum eine mächtige Propaganda aus,
seit er irgendwo zum Speergott geworden war.
Dem Windgott steht der Totengo tt2) nahe: wir hatten schon mehr-
mals zu betonen, wie Wind- und Totengeister sich berühren, besonders
während diese in der Luft einherfahren. Als Psychopompos nimmt er
dem Sigmund seinen toten Sohn ab und führt ihn ins Meer3). Ebenso
ist bei den Hellenen »Zagreus, der wilde Jäger, nun auch Totengott und
Seelenfänger geworden«*).
Die umgekehrte Meinung, der Totengott sei die Urform, wird ins-
besondere von Mogk vertreten ; aber von hier aus scheint mir der Weisheits-
und Staatsgott ebenso schwer abzuleiten, wie leicht aus dem Windgott
der Totengott. Ich kann deshalb auch nicht mit Siebs7 geistreicher Argu-
mentation5) die von ihm erschlossene Benennung Henno für primär
halten, sondern nur für den spezifischen Titel Wodans als Totengott.
Das ist er also schon zur Zeit jenes dem Mercurio Channini gesetzten
Steins 6).
Diese Eigenschaft wird nun weiter spezialisiert, beidemal im Auschluß
an frühere Art des Gottes: Odin gilt als Gott der Gehängten,
Hangagod, Hangatyr7). Der Gott, dem die Opfer an den Baum gehängt
werden, erscheint als Herr aller, die gehängt sind. Später freilich, als nur
noch der Schlachttod für rühmlich galt, müssen sie noch nachträglich
mit dem Speer durchbohrt werden 8).
Odin gilt als Gott der in der Schlacht Gefallenen9). Nach
der älteren Anschauung empfängt er sie alle (sie sind ja auch zumeist durch
den Speer »gezeichnet« !); später erhält angeblich Freyja die Hälfte 10) und Thor
die Knechte n). Die letztere Nachricht hat R. v. Liliencron 12) als einen Ge-
1) Über den Anteil des Windgottes an der Menschenschöpfung vgl. u. Die
Trinität ist eine Stufe auf dem Wege zur Alleinherrschaft, doch halte ich nur die
Dreiheit Odin— Hönir— Loki für alt (über Odin -Wili-We vgl. u.).
2) Meyer S. 375, Mogk S. 337.
a) Sinf; Gering S. 184.
4) Deubner, Arch.f. Rel -Wissensch. 10,80; vgl. auch Weniger, ebd. 9,217.
6) Ztschr. f. d. Phil. 24, 157.
6) Vgl. ebd. S. 146 f.
7) Mogk S. 337. 8) Siehe o. S. 241.
9) Golther S. 315f. 325 f.
,0) Grim. Str. 14; vgl. o. S. 213.
n) Härb. Str. 24.
vz) Vgl. Gering, z. d. St., S. 47, 7.
§ 17. Hauptgötter. 251
danken von hoher und schöner Milde gerühmt: »daß, während die schon
hier vom Glück begünstigten, die ruhmgekrönten Söhne Odins, nach
Walhall übersiedelnd, zu neuen glänzenderen Freuden eingehen, doch
auch für den fleißigen und mit ruhmloser Treue sich abmühenden Diener
des Thor nach seinen irdischen Mühen eine freundliche Stätte bei seinem
hohen Schirmherrn bereitet ist«. So fein das gedacht ist, bleibt doch
zweifelhaft, ob wir einen so milden Gedanken den stolzen Odinverehrern
zuschreiben dürfen. Die Alternative wird wohl stehen wie bei Achilleus:
ruhmvoller Tod — oder Vergessenheit; selbst Hjalli, der als Ersatz für
Högni stirbt1), wird durch keine Aussicht auf das Jenseits getröstet.
Ferner sieht man nicht recht, was die Anschauung hierbei befriedigen
soll; die Seele bleibt unverklärt, und so hätten wir ein Heim des Thor
mit lauter arbeitenden Knechten erfüllt. (»Die andern trinken Bairisch
Bier, und unterdessen donnern wir,« wie Hoff mann v. Fallersieben den
Kontrast der Hohen und Niedern im Jenseits drastisch ausdrückt)2).
Kampf und weise Ruhe sind der Verklärung fähig, aber subalterne Tätig-
keit auf dem Schlachtfeld oder im Haus? Immerhin könnte man sich
noch immer Thor als einen Trostgott für die bei Odin nicht hoffähigen
Krieger denken (mit der Wendung, die Goethe seiner Indischen Legende
gab) — wenn nur Thor überhaupt Gott der Knechte wäre und nicht
vielmehr der freien Bauern. Es wird wohl also nur eine Hohnrede Här-
bards sein: ich bekomme die Edlen; magst du den Abhub haben!8)
An Freyjas Deputat glaube ich auch nicht. Einherier erster und
zweiter Klasse mit oder ohne Speck, Ziegenmeth und ewigem Kampf —
es ist ein schwer auszudenkender Gedanke. Ich denke mir, die Göttin
hatte ursprünglich einfach4) den kommenden Gästen die Sitze im Saal
anzuweisen, sie als Hausfrau zu »setzen«, etwa wie Hygd5) unter den
Kriegern waltet. Daraus machte dann der »Weltenbaumeister« der Grim.
eine zweite Halbstrophe (denn die hatte er fast immer mühsam nach-
zufüllen6), nachdem vorher die «Heime« wohl höchstens eine trockene
nafnathula gebildet hatten, wie wir sie etwa Grim. Str. 44 noch un-
verändert besitzen 7).
J) Atlm. Str. 60.
2) Übrigens nach einer alten Anekdote vgl. H. Normann, Österreichische
Senfkörner, Leipzig 1833, S. 75. — Die Vorstellung realisiert in Hundings Knechts-
diensten in Walhall, Helg. Hund. 2, 38.
3) Die schönste Schilderung des Empfanges in Walhall in den Eiriksmäl
W. Hertz' Übersetzung bei v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 142.
4) Nachdem sie die Geltung von Odins Göttin erhalten hatte: Frigg fehlt,
trotz ihrer Rolle in der Prosa — Einleitung, in den Grim.
5) Beow. 1927 f. 6) Vgl. etwa Str. 13!
7) Müllen hoff (D. Alt. 2, 362) bezieht diesen Zug auf die Identität von
Freyja mit (Mardöll Gefn) Gefjon: »die die Hälfte der Sterbenden (die Frauen)
252 Viertes Kapitel.
Als Gott der Kriegshelden wählt Odin seine Gäste (durch die Walküren)
aus oder gibt ihnen Urlaub, wie dem Starkad, dem Schwedenkönig Aun,
solange er den Zehnten gibt u. a. *). Daß er Tote erwecken kann , be-
richtet nur Snorri2) — er tut es durch Zauber; durch Zauber kann er
auch Tote sprechen lassen3). Sonst aber ist er nur Herr der Toten4)
in ihrem Reich und kann den getöteten Balder nicht wieder beleben (oder
wenigstens nicht unmittelbar)5).
Die Funktion als Totengott wird für die Sagenbildung von Odin
entscheidend. Er wird zum Führer des Heeres ruheloser Seelen (Wode),
obgleich das seiner ursprünglichen Aufgabe, den Seelen Aufnahme in der
Totenhalle zu gewähren, widerspricht; aber schließlich wird das Tosen
der heimatlosen Geister zum geordneten Ritt über Bifröst stilisiert, während
eigentlich die Regenbogenbrücke nur für die Äsen bestimmt ist, die vom
Himmel zur Erde reiten wollen6).
Man pflegt Odin auch als Himmels- und Sonnengott zu be-
zeichnen 7). Als Sonnengott soll er aufzufassen sein , wenn er die Welt
alle Morgen von Osten durch ein Fenster überblickt; aber ist das nicht
Herrscherfunktion? und im Osten wird es eben zuerst hell. Auch Frigg
und Frey sehen von der Himmelswarte herab, wie Zeus vom Olympos.
Dann sein Eines Auge 8) ; aber diese Götterverstümmelungen schienen uns
nur mythologische Metaphern : wie Tyr, der Starke, eine Hand, hat Odin,
der Aufseher der Welt, ein Auge »verpfänden« müssen. Auch der Gold-
helm, der übrigens mehr gelegentlicher Schmuck als wesentliches Attribut
scheint, ist ein Fürstenzeichen. Kurz, er scheint mir wohl »Herr des
Himmels«, da er eben Fürst der Götter ist, nicht aber Himmelsgott im
elementaren Sinn, und Sonnengott überhaupt nicht. Übrigens pflegen
echte Sonnengötter zu den Menschen naturgemäß selten in engere Be-
zu sich nimmt und die unter vielfältigen Namen als fahrende Frau einmal mit
umher wanderte« (gestützt von Much, Himmelsgott, S. 262; vgl 269). Aber
daß unter der Hälfte der Sterbenden die Frauen zu vermuten seien, ist nur auf
den Ausruf von Egils Tochter gegründet; auch ist ja in Grim. nur von den auf
dem Schlachtfeld Gefallenen die Rede, und da damit die Zahl der sterbenden
Männer keineswegs erschöpft ist, waren die Frauen nicht die andere Hälfte der
Sterbenden. Müllenhoff hat wohl aber überhaupt die Grim. durchaus — nach
ihrem mythologischen wie nach ihrem poetischen Wert — überschätzt.
x) Golther S. 327.
2) Vgl. ebd. S. 310. 3) Veg. Str. 4-5.
4) Mogk S. 337. *) Siehe u#
6) Mogk, Sammlung Göschen 4, 47; vgl. 51; Menschenopfer, S. 612,
v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 127, u. A. halten Wodan von vornherein für einen
chthonischen Gott, aber eine Analogie für solche Entfaltung eines Unterwelt-
gottes dürfte nicht aufzufinden sein; vgl. o. S. 250.
7) Mogk S. 345. 8) Vgl. o. S. 231.
§ 17. Hauptgötter. 253
Ziehungen zu treten — von Helios gibt es kaum eigentliche Mythen in
diesem Sinn, von Sürya *) erst recht nicht. Odin aber ist ein Menschen-
gott im vollsten Sinn, wie Apollon, der denn auch nicht im eigentlichen
Sinn Sonnengott heißen darf2).
Der Gott der in der Schlacht Gefallenen wird dagegen unvermeidlich
zum Kriegsgott3).
Eine Abgrenzung von Tyr versuchten wir schon: sie beginnt mit
der Verschiedenheit der Waffen (Schwert und Speer, Taktik und Strategie)
und gipfelt wohl in der Unterscheidung Tyrs als Gott des einzelnen
Kriegers von Odin als Gott des Königs und des gesamten Heeres. —
Der Führer der Winddämonen leitet die ewige Schlacht in den Lüften4),
ein trefflicher Heeresmann, mit trefflichen Waffen gerüstet (»der kampf-
gewohnte Heervater«, der seine Wölfe — mit Leichen? — füttert)5); des-
halb heißt er Heervater, Heerteiler, der Heerfrohe usw.
Als Schutzherr des staatlichen Krieges (wogegen Tyr auch privaten
Fehden als Unparteiischer Vorsitzen mag) eröffnet er den ersten Kampf
durch Speerwurf6) und wird so Vater der Schlacht, wie die Nornen das
Leben eröffnen7). Vor allem aber gehört ihm die Entscheidung des
Krieges, wie sie Zeus zukommt und nicht Ares. Deshalb heißt er Sig-
fadr, Siggautr, und ihm wird für Sieg geopfert; so schon früh bei den
Südgermanen, Wandalen, Sachsen, Langobarden. — Dies ist der Kern
der meisten heroischen Wodanslegenden.
Vielleicht hieran knüpft die moralisierende Auffassung des Gottes.
Die Erkenntnis, daß »der schlechtere Mann gewinnt«, mußte von der
Lokasenna8) bis zu Heines Romanzero mit dem Bedürfnis des Menschen
hadern, den Kampf als ein Gottesurteil aufgefaßt zu sehen. Irgendwelche
Entschuldigungen werden erdichtet, mit denen die Theodicee aller Epochen
gearbeitet hat. Jedenfalls ist man geneigt, die Helden, zu denen er sich
gesellt, als die Besseren anzusehen (Völsungen).
Als besonders wichtig erscheint mir eine Funktion Odins, die meist
übersehen wird9): Odin als der besondere Fürsten- und Staatsgott.
1) Macdonell S. 30f.
2) Preller 1, 231.
3) Mogk S. 338, Meyer S, 37.
4) Mogk a. a. O.
5) Grim. Str. 19.
6) Völ. Str. 21. Mittelst des ins feindliche Gebiet oder ins Meer ge-
schleuderten Speers ergreifen noch im Mittelalter deutsche Kaiser (Otto I. am
Sund!) Besitz.
7) Mogk S. 339.
8) Str. 22.
9) Doch vgl. Mogk S. 339.
254 Viertes Kapitel.
Den »offiziellen« Charakter der Odinsreligion haben wir mehrfach schon
hervorzuheben gehabt. Lamm und Stier, auch Menschenopfer unerhört
mag der Einzelne (Fürst oder freier Bauer) seinem Gott schlachten — ein
ganzes Heer kann nur von Staatswegen geweiht werden. Als Vertreter
des Volkes wird Wikar1) in Norwegen, Domaldi2) bei den Schweden
geopfert 3).
Vielleicht ist auch der Mangel an theophoren Namen nach Odin damit
zu erklären, daß nach ihm sich nur Völker nennen durften (Langbardr
und die Langobarden?)4), nicht Einzelne?
Keineswegs können wir aber die neuerdings öfter (z. B. v. d. Leyen)
ausgesprochene Meinung teilen, Odin sei überhaupt nur sozusagen ein
esoterischer Gott gewesen, mit dem das Volk sich gar nicht befaßte.
Gewiß war der tägliche Kult vor allem den kleineren Gottheiten und
Geistern geweiht, aber die großen Tempel setzen Wallfahrer und Pilger
voraus; und die uns so gut bezeugten Götterbilder sind so wenig wie
das des Olympischen Zeus von armen Dichtern errichtet. Aber sein
Kult bleibt für die wichtigsten Fragen reserviert.
Njörd ist die offizielle Gottheit einer Amphiktyonie, Frey, der Herr
der Goten, der Theokrat isländischer Kultusbezirke — Odin ist der Staats-
gott als solcher, der Gott der staatlichen Ordnung. Als solcher ist er
zunächst Erzieher der Fürsten und Helden5). Es ist eine unter
den Göttern vielbegehrte Stellung : Starkad wird sein Zankapfel dem Thor,
Geirröd der Frigg gegenüber, weil auch diese ihre Lieblinge haben. Später
wird Odin als Erzieher der Menschen und des Fürsten von Heimdall
beerbt, wenn nicht umgekehrt er dem Standesgott der »Wächter über dem
Volk« diese Funktion6) abgenommen hat.
Odin leitet Geirröds Kindheit7) »und belehrt ihn aus dem Schatze
seiner Weisheit« : er gibt ihm Lehren wie der macchiavellistische Fürsten-
spiegel der Häv.8) mit seiner spezifisch dynastischen Warnung vor dem
Kronprinzen9); er erteilt ihm Runen wie Rig dem jungen Jarl 10). Wie
J) Vgl. Golther S. 325.
2) Ebd. S. 327.
3) Negelein (Germ Mythol. S. 105) bringt diese Königsopfer mit uralten
Sühneopfern zusammen, die später durch die Verhöhnung und Tötung eines
Scheinkönigs abgelöst wurden — ein Ritus, der besondere Aufmerksamkeit er-
regt, seit Reich (Der Mimus) ihn zur Erklärung der Verhöhnung Christi heran-
gezogen hat.
4) Vgl. auch Aldagautr, Valgautr, Siggautr; Golther S. 301: Gaut ist der
Ahnherr der Amaler.
B) Vgl. Golther S. 3281
6) Vgl. Rig.
7) Anschließende Märchenzüge siehe u.
8) Str. 83 f. 9) Str. 88. 10) Rig. Str. 36.
§ 17. Hauptgötter. 255
er so für das Leben rüstet, so auch besonders für den Kampf: er macht
den Harald Hilditönn für den Kampf fest, lehrt ihn die keilförmige
Schlachtordnung (den »Eberkopf«) und die Anordnung des Seetreffens —
Dinge, die nicht er erfindet1), aber die nur er kennt: Alleinbesitz einer
Einzelweisheit ist eine besondere Eigenheit des Runengottes ; so weiß nur
er das Zauberwort des Merseburger Spruches, nur er das geheime Auf-
erstehungswort für Balder. — Um die Prinzen zu erziehen und zu heben,
stiftet er den Krieg.
Er ist aber auch der Aufseher über die Könige2). Daher
wandert er umher, um sie zu prüfen3) und kehrt als Gast bei ihnen ein
wie Christus und die Heiligen in mittelalterlichen Legenden4).
Die Aufgabe der plötzlichen Rettung aus Gefahren, eine Hauptfunktion
alter Götter, ist im Norden fast ganz auf Odin als Fürstengott über-
gegangen5). Odin rettet die Fürsten und Helden durch plötzliches Ein-
greifen, oft in Verkleidung und mit Zaubermitteln6), wie das ähnliche
Wundermärchen bei allen Völkern gern erzählen (Ilias; christliche Legenden).
Vorzugsweise rettet er aus Kampfesnot, doch auch (wie die Acvins) aus
Seenot7), und umgekehrt stößt er (oder Geirröd auf seinen Rat) die
Nebenbuhler in die See zurück8).
Ein merkwürdiger typischer Zug des nordischen Fürstengottes ist aber,
daß er seine Lieblinge am Schluß regelmäßig verläßt und sie dann besiegt
fallen9). Hauptbeispiele sind die Siegfriedsage10) und die von Harald
Hilditönn n), wo er ganz novellistisch eine Intrigantenrolle in Lokis Stil
spielt. Andere Fälle: Hrolf 12), der Berserker Franmar, der deshalb Vor-
wurf er hebt, wie Loki 13), Thor14), Egill 15): der »bessere Mann«, den der
*) Schon die Heruler haben die svinfylking (Chadwick S. 21); doch
schreiben ihm die Skandinavier allerdings ihre Erfindung zu (ebd. S. 39. 54.
2) Golther S. 342f.
3) Grim. Str. 1.
4) Sehr hübsch über Odin als Wanderer und Gast Golther S. 344. Ebenso
besuchen die Himmlischen den Abraham (Gen. 18, 1 — 15) um ihn zu prüfen, und
werden aufgenommen, wie Odin— Grim es von Geirröd erwartet.
^Indische Rettungsgötter: Indra (Macdon eil S. 62) und die Acvins
(S. 59); ihre berühmteste Tat die Errettung des Bhüjju aus den Wogen.
6) Golther S. 333f.
7) Hnikar der Fährmann: vgl. Golther S. 332.
8) Einl. zu Grim.; zu der Devotionsformel vgl. Härb. Str. 60, zu der Anekdote
Teil, wie er Geßlers Schiff zurückstößt, und altnordische und lappische Märchen
v. d. Leyen S. 52.
9) Golther S. 329f. 10) Ebd. S. 330.
") S. 331. 12) Ebd. S. 331.
13) Lok. Str. 22. 14) Härb. Str. 25.
15) Golther S. 329, 1; Chadwick S. 12.
256 Viertes Kapitel.
Gott dazu gemacht hat, fällt. Gründe, diesen Zug zu erklären, sind wohl-
feil wie Brombeeren. Es könnte die (auch bei den Hellenen gerügte)
Unzuverlässigkeit des Schlachtenglücks angedeutet sein; oder die psycho-
logische Erfahrung vom Wankelmut der Fürsten (Deörs Klage!) wäre auf
ihren Gott übertragen ; oder eine Warnung vor unbedingter Hingabe läge
darin ; oder schließlich gar die üble Nachrede der Gegner Odins. Wichtiger
wäre es, einen Zusammenhang zwischen diesem typischen Zug und dem
Bilde des Gottes herauszufinden. Ob darin eine Mißbilligung der Ver-
suche liegt, den Gemeinschaftsgott zum persönlichen Gönner zu machen?
Oder ob er ursprünglich nur seinen Günstling mit großem Gefolge holte
und dies später zur Niederlage des Heeres umgedeutet wurde? Es könnte
auch, wie oft, das Opfer auf den Gott abgefärbt haben. Verräter und
Fahnenflüchtige hängt man an die Bäume1) und weiht sie also dem
Wodan — so wird er zum »Verrätergott«.
Der Gott der Könige aber, der König der Götter ist, wird Gott
der Weisheit2). Auch von hier gehen zahlreiche Mythen und
Legenden aus3), v. d. Leyen4) läßt diese Seite ganz in Odins Zauber-
tätigkeit wurzeln und sieht in ihr den Mittelpunkt des ganzen Wesens:
Odin als Patron und Verkörperer der Medizinmänner (wie Bragi der
Sänger). Aber ich bezweifle, ob ein spezieller »Zaubergott« vorkommt.
Dieses Amt ist fast überall auf den Hauptgott übergegangen ; so hat Zeus
an der nationalen Mantik einen bedeutenden Anteil5), und Jupiter muß
die Wahl der Auguren genehmigen 6). Oder ein Gott, dessen Kompetenz
nah angrenzte, ward mit der Obhut der Zauberei betraut, wie bei den
Ägyptern Thott, der Schreiber der Götter7), das Zauberbuch über den
Re liest8). Schwerlich war es bei den Germanen anders. Auch ist Odin
keineswegs bloß über den Zauber gesetzt, sondern über alle Weisheit,
auch über die Lebensweisheit des erfahrenen Mannes9), über die Er-
fahrung des Erziehers lü) und besonders noch über die Liebeserfahrung —
keineswegs bloß über den Liebeszauber. Aber allerdings fällt der Zauber
so notwendig unter die Kompetenz des Weisheitsgottes, wie die Heilkraft
T) Tac. Germ. cap. 12.
2) Mogk S. 341, Meyer S. 378.
3) Golther S. 338 f. Odin waltet des »Rats« in dem ganzen vieldeutigen
Sinne des Wortes (vgl. Grönbech, Lykkemand og Nidig, S. 170.
4) Sagenbuch S. 129 f. 132f.
5) Preller 1, 143.
6) Wissowa S. 452.
7) Erman, Ägypt. Rel., S. 18.
8) Ebd. S. 159.
9) Hävämäl.
10) Einl. zu Grim.
§ 17. Hauptgötter. 257
unter die des Zauberers: der Zauber ist nur ein Einzelfall seiner »Kunst«,
d. h. seines Gelernthabens1).
Ich sehe also den Ursprung dieser Funktion vor allem in seiner
allgemeineren Stellung als Gott der Ordnung, als Herrschergott begründet.
Aber vielleicht brachte schon der Dämon des Windes in den Baumgipfeln
einen starken Ansatz zu dieser Begabung mit; zauberkräftig sind ja viele
Elementargeister.
Hierher ziehe ich die tiefsinnigste aller germanischen Mythen: die
von Odins Runenfindung2). Diesen viel umstrittenen Mythus 3) wollte
Bugge für christlich erklären (und nach ihm z. B. Golther). Hierüber
hat eingehend Chadwick gehandelt. In zwei Punkten, meint Golther,
zeigt sich der christliche Ursprung : in der Selbstopferung des Gottes, und
in der Erhebung des Galgenbaumes zum Weltsymbol. Ich kann Chadwick
nicht folgen, wenn er4) die Selbstopferung Odins in Frage zieht und
meint, gesagt sei nur, daß Odin zugleich Opfer und Opferempfänger sei.
Die Analogie der für den Odinskult so charakteristischen Selbstweihen
scheint mir entscheidend. Diese beseitigt aber zugleich die Analogie mit
dem Opfertod Christi, denn er gibt sich für die Menschen hin — Odin
opfert sich, wie sich seine Anhänger opfern5): um ihres eigenen Vorteils
willen. — Völlig stimme ich dagegen Chadwick bei, wenn er6) die
Identität des Galgenbaumes mit der Weltesche bezweifelt, die freilich früh
ein Interpolator 7) annahm. »Yggdrasill« , Odins Roß, heißt der Welten-
baum, weil er die heiligen Odinsbäume nachbildet8), auf denen die
Gehängten »reiten«. Nirgends wird erwähnt, daß Odin an der Welt-
esche hing9).
Aber wie in diesen beiden Zügen, so scheitert eine Vergleichung
der Kreuzigung mit der Runenfindung in allen Punkten. Das Kreuz ist
eben kein »windbewegter Baum«, was aber die heiligen Bäume Odins
sind. Christus hängt nicht neun Nächte; neun aber ist Odins Zahl. Der
Speerstoß, dort ganz nebensächlich, ist hier ein rituelles Hauptmoment.
Und endlich — »geweiht dem Odin!« Hätte man in christlicher Zeit
einen Mythus noch geduldet, der den Tod Christi parodiert hätte?
Zum Schluß : der Mythus ist wahrscheinlich schon gemeingermanisch.
Chadwick hat auf den angelsächsichen Dialog Salomon and Saturn hin-
J) Über die Arten des von Odin geübten Zaubers vgl. Golther S. 339 ; sie
I beziehen sich naturgemäß vorzugsweise auf den Krieg, dann auf die Wieder-
herstellung der Ordnung in jedem Sinn : Haß versöhnen , Liebe zur Erfüllung
I bringen, Krankheit heilen.
2) Mogk S. 342f., Golther S. 3431, Meyer S. 378, meine Altgerm.
Poesie S. 4941, Chadwick S. 72 f; allgemein vgl. Wundt S. 479.
3) Häv. Str. 138 f. 4; S 80 f.
») Vgl. o, S. 245f. 6) S. 73f. 7) Str. 138.
*) Nicht umgekehrt: S. 77. 9) S. 75.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 17
258 Viertes Kapitel.
gewiesen1), wo es heißt, »Mercurius der Riese« habe die Buchstaben er-
funden, was immerhin auf den römischen Mercurius gehen kann, wenn
er auch mit weniger Recht als der Dämon Odin »riesisch« heißen würde;
und auf den Beginn des Runengedichts: »Os, der Ase, ist der Anfang
aller Rede«. Schwache Spuren, die doch aber durch andere 2) aus Zauber-
sprüchen gestützt werden. Auch ist zu beachten, daß Tacitus3) von der
römischen Wahrsagung in unmittelbarem Zusammenhang mit der Haupt-
verehrung des Mercurius - Wodan spricht. Die Runen standen wohl von
Anfang an unter Odins besonderem Schutz — weil er sie gefunden hatte
(oder umgekehrt!).
Der Mythus ist also altheidnisch; und das ist er seinem ganzen Zu-
schnitt nach in so ausgesprochener Weise, daß wohl nur die spezifisch
nordische Neigung, überall christlichen Einfluß zu sehen (die jetzt K. Krohn
bis zur Christianisierung des Merseburger Spruches hat gelangen lassen),
die Auffassung des großen Meisters altnordischer Forschung erklärt, auf
die Müllenhoff4) so leidenschaftlich antwortete. Man könnte in der Tat
ebensogut in Helgis Erscheinung vor Magd und Gattin5) einen Nach-
klang der Auferstehungsgeschichte sehen!
Was erzählt der Mythus von der Runenfindung?6) — Der Gott hängt
am Baum wie ein Odinsopfer, mit dem Speer gezeichnet. Er wird
gleichsam selbst eine Frucht der frugtfera arbor , von der die Runen
kommen: nach neun Nächten fällt er ab7): sein eigener Sohn, von sich
selbst wiedergeboren — wie denn jene primitiven Jünglingsweihen oft als
Neugeburt, Wiedergeburt aufgefaßt werden8). In dieser Zeit hat er
gefastet und in ekstatischer Konzentration nach unten geblickt. Dort,
am Baum, aber unterhalb des Gipfels, fand er die Runen, die zauber-
haften surculi der frugifera arbor9) — und nun war er reif und
gedieh und besaß Wort und Werk — gerade wie Kon der Junge wuchs
und gedieh und die Runen kannte10). Denn später, scheint es, erfand
man für jede »Welt« einen besonderen Runenhüter11); aber der Erste
*) S. 29. 2) Vgl. ebd.
3) Germ. cap. 10.
4) D. Alt. V.
6) H. Hund. 2, 39 f.
6) Mogk (Sammlung Göschen 15, 45) hat ihn mit dem Glauben zusammen-
gebracht, die Götter bedürften der Verjüngung. Aber der Mythus von Odins
Äpfeln ist jung; auch sieht man nicht, daß eine Verjüngung Odins erfolgt.
7) Wie ein neuer Ring vom Draupnir, Skirn. Str. 21.
8) Schurtz, Altersklassen und Männerbünde, S. 104 f.
9) Germ. cap. 10.
10) Rig. Str. 36.
n) Häv. Str. 142.
§ 17. Hauptgötter. 259
blieb Odin. Nun besitzt er das Geheimnis der Dinge, nun ist er Herr:
»Wissen ist Macht« *)<
Der Mythus ließ sich euhemeristisch auf die Erfindung der Runen-
schrift deuten, mit der sein Kult gewandert ist2). Aber es ist hier doch
nicht an Schriftrunen, sondern an Zauberrunen gedacht, wenn auch in
letzter Linie beide identisch sein mögen3). Die Runen geben dem Gott
Herrschaft über alle Dinge, denn Runen stehen überall4): man muß sie
nur lesen können.
Der Gott also hat in furchtbarer Anstrengung (deren Schilderung den
zur Ekstase reizenden Vorbereitungen der Zauberer und den analogen
Mysterien der Jünglingsweihe nachgebildet ist) die Weisheit erworben —
eine echt germanische Vorstellung. Er besitzt sie nicht von Geburt, wie
Hermes nach dem vierten Tag (ihm war die Vierzahl heilig, wie dem
Odin die Neunzahl)5); sie ist ihm nicht geschenkt. — Dies ist echt ger-
manische Anschauung, daß der höchste Besitz errungen, erarbeitet werden
muß. Und zwar in geistigem »Sturm«, in der »Wut« leidenschaftlicher
Hingabe — im furor poeticus eines Shakespeare, im furor teutonicus
eines Luther.
Die gleiche Grundanschauung liegt dem Mythus zugrunde, daß Odin
sich Weisheit aus Mimirs Quell trinkt und dafür sein Auge gibt6).
Hier schöpft der Gott den Zauber aus dem rinnenden Wasser, wie er
ihn dort vom Baum pflückt.
Eine dritte Variante scheint die Legende von Odin und Saga7).
In dem Saal Sökkvabekk »Sinkebach«, Ort, wo sich ein Bach hinab-
stürzt, einem von Odins überflüssigen Neben palästen , trinkt Odin dort
alle Tage vergnügt aus goldenem Gefäß. Der trunkfrohe Dichter der
*) Fast die gleiche Auffassung finde ich nachträglich bei v. d. Leyen,
Sagenbuch, S. 59. Ein solcher Kampf um die Weisheitsmacht begegnet auch
sonst. Die ursprüngliche Großtat des Mose ist (Ed. Meyer, Berl. Sitzungs-
berichte 1905 XXXI, S. 4) nicht, daß er das Volk aus Ägypten geführt hat, sondern
daß er mit Jahve um die Gewinnung der Losorakel (Runen!) gekämpft hat.
»Mose hat Jahve im Kampfe gezwungen, ihm seine Geheimnisse (darunter ur-
sprünglich wohl vor allem seinen Namen) zu offenbaren; diese ha.t er dann
weiter den Priestern überliefert, deren Stellung und Einkommen auf diesem kost-
baren Besitz beruht.« Der Mythus ist dem unsern so nah verwandt wie dem
von Jakobs Kampf mit Jahve (Gen. c. 32, vgl. Ed. Meyer a. a. O.); nur ist der
Kampf mit dem Gott in eine Selbstaufopferung des Gottes gewandelt, aus dem
Geist des Mysteriums heraus.
2) Mogk S. 330.
3) PBB. 21, 177.
4) Sgdr. Str. 15—17, vgl. Häv. Str. 142.
5) Preller 1, 391.
6) Vgl. o. S. 167, Mogk S. 342, Golther S. 346.
7) Grim. Str. 2; vgl. Golther S. 345.
17*
260 Viertes Kapitel.
Grim., dem für die zweite Halbstrophe gern ein Trinkspruch einfiel1),
dachte dabei schwerlich an Weisheitstränke; und »Sökkvabekk» , Sturze-
bach, ist wohl nur ein Gegenstück zu »Fensaltr« 2) Meergrund. Aus der
unbekannten Saga machte dann Snorri eine vornehme Göttin, die zweite
nach Frigg; aber wenn sie nicht diese selbst ist, so ist sie doch die späte
Herrin der Wahrsagekunst3): irgendeine Egeria in einer Grotte, in der
der Bach herunterrauscht, und von der Odin-Numa sich seine Inspiration
holt. Es wird wohl aber einfach Frigg sein. Auch den älteren Mythus
vom Göttertrank hat man zur Erklärung von Odins Weisheit benutzt 4). —
Wiederum von der Runenherrschaft ist die Heilkunst abgezweigt,
Heilgott5) ist Odin aber schon im Merseburger Zauberspruch, also in
gemeingermanischer Zeit; ebenso im angelsächsischen Zaubersegen6).
Nur er kennt die Heilrunen für das verletzte Götterroß genau, wie sein
Hypophet in den Häv. 7). —
Der Runengott wird auch Gott des Gedeihens. »Gott der
Fruchtbarkeit«8) ist schwerlich richtig: das ist Frey, der die Erde segnet;
Odin aber segnet die Arbeit an der Ernte, hierin Erbe der Feldgeister,
die ja 9) mit den Winddämonen eng zusammenhängen 10). Man läßt ihm
die letzten Halme für sein Pferd (Mecklenburg, Schweden) : » Wode, Wode,
hale dinem Rosse nu Foder, nu Distel und Dorn, tom andern Jahr
beter Korn«11). Denn das Gedeihen der Saat ist zauberbedürftig, und
deshalb macht man den Gott darauf aufmerksam, daß er seines Rosses
wegen selbst an dem Gedeihen der Saat interessiert sei. So kann er
auch ein Getreidefeld in einer Nacht wachsen lassen 12) — eine mytho-
logische Hyperbel, die auch Schiller seinen König Karl VI. anwenden
läßt: »wächst mir ein Kornfeld auf der flachen Hand?«
Natürlich tritt auch Vermischung ein : wenn er Menschenopfer gegen
Mißwachs empfängt13), hat er Frey wirklich beerbt. — Er spendet auch
Reichtümer14) wie Frey.
Dem Gott des Gedeihens opfert man aber gern für bestimmte Zwecke:
Dag um Vaterrache15), Gest um Straflosigkeit16). —
!) Grim. Str. 3, motiviert; Str. 13, unmotiviert; Str. 19. 25.
2) Voi. Str. 34; Gylf. cap. 35: Gering S. 326.
3) Meyer S. 381. 414; dagegen Müllenhof f H. Z. 30, 218, Mogk S. 371
4) Häv. Str. 140; vgl. u.
B) Meyer S. 377.
6) Chadwick S. 29. 7) Str. 145.
8) Mogk S. 338. 9) Siehe o. S. 103.
10) Vgl. Meyer S. 332.
«) Meyer S. 390. 12) Mogk a. a. O.
13) Golther S. 327.
u) Ebd. S. 336.
1B) Golther S. 325. 16) Ebd. S. 342.
§ 17. Hauptgötter. 261
Die letzte Ableitung des Runengottes ist die, daß er Gott der
Dichtkunst wird *) — was man ihm einst schon für die indogermanische
Urzeit zuschob. Aber die Findung des Dichtertranks wenigstens ist so wenig
indogermanisch, wie die der Runen christlich ist. Die Dichtkunst bedarf
eines eigenen Patrons erst, wenn es einen eigenen Dichterstand mit kunst-
voller Technik und hohen Ansprüchen gibt. Dann mag man sich einen
neuen Heros schaffen wie Bragi oder Linus2), oder einen Gott um das
Patronat bitten, wie etwa die heilige Barbara Schutzpatronin der Artillerie
geworden ist. Wird irgend jemand Snorris spöttische Aussage für alt
halten3): »Eine andere Kunst war die, daß er beredt und glatt sprach, daß
das allein allen, die es hörten, wahr deuchte. Er redete immer im Vers-
maße, so wie man jetzt das spricht, was Skaldenkunst heißt. Er und
seine Hofgoden heißen Liederschmiede, weil von ihnen diese Kunst in
den Nordlanden ausging«? Wenn Snorri das nicht aus Gedichten wie
Häv. abstrahiert hat, so wird es eben auf Renommage der Hofdichter
beruhen, die schon als solche den Fürstengott zum Schutzgott wählen
mußten.
Gewiß jung ist der berühmte, arg verkünstelte Mythus von der Er-
oberung des Begeisterungstrankes, auf den Ad. Kuhn die ver-
gleichende Mythologie begründet und den jetzt eben H. Schuck4) vom
Standpunkt der folkloristischen Mythenvergleichung aus mit wahrhaft skal-
discher Künstelei zu retten und zu deuten unternommen hat; jung
mindestens in der Form, wie er uns aus dem Norden überliefert ist —
alte Elemente scheint er zu enthalten.
Einen echten folkloristischen Kern darf man allerdings annehmen :
in der Vorstellung von einem Begeisterungstrank, wie die Medizin-
männer ihn wirklich nehmen und Gott Indra ihn leidenschaftlich, bis zur
Berauschung, liebt5) — gerade er, einfach wohl weil er der Lieblings-
gott der Inder war6). Soma ist ja auch selbst ein indischer Hauptgott
geworden7), nach echt indischer Abstraktion, die die Kraft des Trank-
opfers in ihm wie die des Gebets in Brihaspati verkörpert.
Nachdem Odin besonderer Patron der Zauberer geworden war, mochte
ein Mythus von der Erfindung dieses Begeisterungstrankes an ihn geknüpft
■werden: denn an einem solchen, aus mancherlei Bestandteilen gemischten
»Zaubermeth« wird es im Norden wohl auch nicht gefehlt haben, da die
J) Mogk S. 344, Meyer S. 235f., Golther S. 350.
2) Preller 1, 461.
3) Ynglingas. cap. 6; vgl. Golther S. 309.
4) Studier i nordisk litteratur- og religionshistoria, Stockholm, 1, 29 f.
5) Macdonell S. 56.
6) S. 54.
7) Ebd. S. 104.
262 Viertes Kapitel.
Zauberin Thorbjörg eine Speise zu sich nimmt »aus dem Herzen aller
Tiere, die es an Ort und Stelle gab, zubereitet« x). Nach einem derartigen
Zaubertrank schmeckt dies seltsame Gemisch aus dreifach destillierter
Weisheit2): erstens Götterspeichel (und dieser wieder von Äsen und
Wanen gemischt!)8), zweitens Blut des daraus geschaffenen Kvasir,.
drittens Honig von den Zwergen. Das kann reine Allegorie sein; etwa:
göttliche Weisheit — Leben — Süße. Aber als Vorbild hat gewiß solch
ein Zaubertrank gedient wie etwa die Zauberspeise, nach deren Genuß
man die Sprache der Gänse versteht: man haut einer weißen Schlange
den Kopf ab, spaltet ihn, verbirgt darin eine Erbse, vergräbt ihn dann in
die Erde; daraus wächst eine Erbsenstaude; wenn man deren erste Schote
ißt, versteht man die Gänsesprache4). Die Hauptsache ist eben immer,
eine recht merkwürdige Köcherei in die Hexenküche zu bringen. Ebenso
bei Zaubertränken anderer Art, z. B. Liebestränken wie dem berüchtigten
in Immermanns »Cardenio und Celinde«, über den Platen und unser
trefflicher Goedeke5) sich so lebhaft entsetzten.
Ein solcher Begeisterungstrunk für die Zauberer liegt also wohl zu-
grunde6). Er ist nun auf die Dichtung übertragen, sei es, daß das
durch die Dichter selbst geschah, sei es, daß erst der fromme Snorri die
schwarze Magie durch weiße ersetzte — worauf vielleicht das sehr »moderne«
Epigramm auf die Afterpoesie schließen läßt7).
Nun heftet sich an jedes Element eine novellistisch ausgeschmückte
Vorgeschichte. Zunächst an den Trank selbst: er kommt natürlich
von Odin — aber woher hat ihn der? Worauf die Antwort, wie in
einer analogen Fragenkette bei Goethe, lautet: »Der hats genommen!«
Solche »besitzerklärende Mythen« haben wir schon oben 8) als eine
nordische Lieblingsgattung bezeichnet. Um zu erklären, wie Odin
zu dem Zaubertrank kam , scheint die »gelehrte« , d. h. gewiß in den
Kreisen der Sänger9) entstandene und gepflegte Legende zwei wirklich
uralte Fabeln verschmolzen zu haben.
5) Golther S. 650; vgl. den Hexenkessel im Macbeth.
2) »Mythologische Bilder für Gärung und Alkohol«, wie Much (Gott.
Gel.-Anz. 1908, S. 369) sich hübsch ausdrückt.
3) Vgl. v. d. Leyen S. 65.
4) Wuttke S. 316.
5) Grundriß zur Gesch. d. d. Lit. 3, 491.
6) Vgl. Achelis, Die Ekstase, S. 11.
7) So schon Kuhn selbst, Mythol. Studien 1, 193. v. d. Leyen (Sagen-
buch S. 145 f.) hält dagegen einen primitiven Mythus vom Wasser, das aus dem
Gewahrsam eines Riesen und seiner Tochter geholt wird, für den Kern der Sage
(vgl. ebd. S. 79).
8) S. 21.
9) Die Anspielungen darauf besonders lieben: Golther 351, 1.
§ 17. Hauptgötter. 263
Den mythologischen Kern des bei Snorri zusammengewobenen
Sagenkomplexes scheint ein indogermanischer Mythus von der Gewinnung
des Zaubertranks zu bilden , auf den zuerst Wolfgang Menzel *) hinwies.
Adalbert Kuhn, viel vorsichtiger als seine meisten Nachfolger2) bringt doch
zwei sehr beachtenswerte Übereinstimmungen zwischen der Herabkunft
des Soma und des Suttungmeths bei: der Trank ist in einem Berge ver-
schlossen, und er wird durch einen Adler geholt — mag das nun der
Adler des Gottes sein oder der Gott als Adler3). — Zu diesen von Kuhn4)
behandelten Punkten möchte ich noch einen dritten stellen, der allerdings
in den indischen Berichten nicht ausdrücklich formuliert ist, aber wohl un-
bedingt angenommen werden muß; Häv. Str. 106 dagegen ist es direkt aus-
gesprochen. Der Trank wird nämlich geraubt, indem der göttliche Räuber
ihn austrinkt und in seinem Bauche mitbringt — in seiner barbarischen
Roheit gewiß ein alter Zug.
Auf andere Übereinstimmungen wie die drei Tränke des Meths mit
den — bei anderer Gelegenheit! — von Indra ausgetrunkenen drei Kufen
Soma5) vermag ich kein Gewicht zu legen. Aber auch bei jenen drei
Punkten bleiben noch immer Bedenken. In dem indischen Bericht ist der
Trunk selbst im Berg verschlossen, d. h. der Regen in der Wolke; in dem
eddischen ist es die Jungfrau, die ihn behütet — das häufige Sagenmotiv
von der im Berge eingeschlossenen Frau 6), das sich mit jenem nicht völlig
deckt: soweit es mythisch ist, scheint es die Sonnenjungfrau zu meinen. —
Ferner raubt Odin nicht, wie gewöhnlich angegeben wird, in Adlergestalt,
sondern in Schlangengestalt, d. h. in einer Gestalt, in der er durch das
Bohrloch kriechen kann — wie Loki als Fliege oder Floh zu der ein-
geschlossenen Freyja kommt7). Er flieht nur in Adlergestalt, d. h. als
schneller Vogel und wird von Suttung in Adlergestalt verfolgt — eine
Dublette zu Thjäzis Adlergestalt in der Idunfabel 8), ein altes Märchenmotiv.
Kann das wirklich ein alter Zug sein? — Anderseits bemerkt Macdon eil9),
x) Odin, Stuttgart 1855, S- 49; mit der berühmten Gleichsetzung von alt-
nordischem Kvasir mit deutschem Käse und russischem Quas — wobei noch
außerdem Kvasir »Ausdruck der absoluten Harmonie« sein soll!
2) Nur den Kern hält er für echt und alt, S. 133.
3) Wie Gylf. cap. 4: Gering S. 356. — Macdonell (S. 52) scheint es für
die ältere Fassung zu halten, daß Indras Adler, der Blitz, den Trank (das Amrta)
holt; doch da es sich um einen sicher elementarischen Mythus handelt (ebd. S. 62),
ist die Vogelgestalt des Naturgeistes wohl sicher primitiver als der Adler, der
bloß das Attribut eines Gottes ist.
4) S. 135 und 130.
5) Kuhn S. 131.
6) Kuhn S. 135.
7) Vgl. o. S. 222.
8) Brag. cap. 2: Gering S. 353; cap. 4 ebd. S. 356.
9) S. 152.
264 Viertes Kapitel.
daß dieser Adler (oder Falke) die einzige Verwendung eines Vogels im
Veda darstellte ; das macht doch auch bedenklich, obwohl sogar v. d. Leyen,
sonst so märchenfreudig, dies für einen uralten indogermanischen
Mythus hält1).
Neben dem Magenraub scheint früh ein (indischer) Becher oder (alt-
nordischer) Kessel verwandt zu sein; Odrerir selbst (»der Trank, der das
Altern verhindert«)2) bezeichnet bald den Trank3), bald den Kessel4). Und
für das Alter des Kesselraubs spricht neben eddischen Analogien (Hymiskv.)
und der durch Eigennamen verbürgten Heiligkeit des Mischgefäßes im
Norden auch der finnische Mythus von Sampo.
Man sieht — wo man genauer hintastet, weicht der Boden unter den
Füßen! Übrig bleibt schließlich nur ein indogermanischer Mythus (oder
ein Schema indogermanischer Mythen), wonach ein Gott den Zaubertrank
aus einem Versteck holt — gerade wie sonst andere Schätze (Brisingamen,
Iduns Äpfel) geholt werden. Dieser Mythus braucht mit Indra nicht von
Anfang an verbunden gewesen zu sein und ward auf ihn vielleicht nur
übertragen, weil er der Soma-Gott par excellence ist5). Er gehörte zu
Odin gewiß nicht von Anfang an, da keine seiner Grundfunktionen zu
dieser Gewinnung des Zaubertranks in Beziehung steht. (Anders wäre es,
wenn er, wie v. d. Leyen will, vor allem Zaubergott wäre.) Ursprünglich
ist es gewiß ein Elementarmythus und von Naturgeistern getragen.
Odin hätte ja einfach wie Loki zu Freyja dringen und wie Indra den
Trank holen können. Aber die Liebhaberei einer bestimmten Epoche für
Liebesfabeln der Götter (vgl. das Netz des Hephaistos in der Odyssee !) erweitert
seine Fahrt um ein Liebesabenteuer. Es wird auf Odin, wie der Mythus
vom geraubten Zaubertrank, so auch ein weitverbreitetes novellistisches
Motiv von der betrogenen Retterin übertragen: eine Jungfrau hilft
einem Gott oder Helden aus größter Gefahr zu einem wunderbaren Schatz,
und wird von ihm später grausam verlassen. (Es kann als Nachgeschichte
noch eine Rache angehängt werden (wie in der Medeafabel), die dann —
wie Kriemhilds Rache — späteren Generationen zur Hauptsache wird;
oder die Fabel wird ins Versöhnliche umgebogen: so gehören vielleicht
auch die Legenden von Ariadne und Psyche in diesen Zusammenhang.)
Diese Liebesgeschichte, ein Gegenstück zu der von Billings Tochter6),
1) Märchen S. 54.
2) Nach Bu gge.
3) Häv. Str. 106. — Brag. cap. 3—4: Gering S. 355.
4) Gering S. 99, 3. — Ganz moderne sexualpathologische Erklärung der
Prometheusmythen bei Abraham Traum und Mythus, Leipzig 1909, S. 30 f.,
56 f., 61 f.
5) Vgl. Macdonell S. 56.
6) Häv. Str. 95 f.
§ 17. Hauptgötter. 265
in der ein Mägdelein den Gott nasführet, wird den Fahrenden das Inter-
essanteste. So erzählen sie, wie Gunnlöd den Meth dem Gott überliefert,
der sie dafür sitzen läßt — ein Motiv, das aus täglicher Erfahrung immer
wieder geschöpft werden konnte1).
Und wie an die Gewinnung, so heften sich wieder an ihre Vor-
geschichte und Nachgeschichte allerlei in der Luft flatternde Motive, deren
Märchenhaftigkeit schon Kuhn zugab2): von dem Knecht, um dessen
Wetzstein die anderen sich die Hälse durchschneiden8); von der Lohn-
forderung für die Arbeit mit neun Knechtskräften, und, wie schon er-
wähnt, von dem Schlüpfen durchs Schlüsselloch und dem Wettfliegen der
beiden Adler. — Der Bohrer mit dem appellativischen Namen Rati »der
Nager« 4) hat gewiß auch noch irgendeine märchenhafte Vorgeschichte wie
so viele wunderbare Werkzeuge. Andere Züge6) übergehe ich.
Wir glauben also etwa folgende Geschichte des Mythus vom
Zaubertrank annehmen zu sollen: erstens indogermanischer Mythus
vom Raub des Göttertrankes; zweitens der Opfertrank der Götter wird
zum Begeisterungstran fc der Zauberer — eine Vorstellung, die noch nach-
zuleben scheint, wenn ein abgesprengtes Stück der Odrerir-Legende 6) mit
der Runenfindung kombiniert ist. Von hier stammt die bunte Mischung
der Flüssigkeiten. Die folkloristisehe Erklärung ging hier irre: weil diese
Bestandteile — Speichel, Blut, Honig — an sich alle mythologische Requi-
siten sind und zu den primitiven Zaubermitteln gehören 7), hielt man auch
dies Konglomerat für alt. Aber solches Zusammengießen und Zusammen-
backen aus altem Bauschutt ist für die Epochen der archaisierenden Mythen -
fabrikation bezeichnend8).
Der göttliche Begeisterungstrank wird drittens von dem Dichter in
J) So machte im 18. Jahrhundert die Geschichte von Inkle und Yariko großes
Aufsehen: ein englischer Offizier sollte seine Lebensretterin, eine Indianerin, als
Sklavin verkauft haben. Aus den englischen Wochenschriften drang der Stoff
nach Frankreich und Deutschland: Geliert dichtete ihn in eine moralische Er-
zählung um, der junge Goethe wollte ihn dramatisieren. — Eine wirkliche Tat-
sache scheint zugrunde zu liegen.
2) Golther S. 354 und bei v. d. Leyen S. 54f.
3) Vgl. die Erzählung vom Wettmäher Lityerses Roschers Lexikon 2, 2, 2066
(Crusius).
4) Brag. cap. 4: Gering S. 356.
5) Vgl. v. d. Leyen a. a. O.
6) Häv. Str. 140.
7) Vgl. z. B. Wundt, Völkerpsychologie 2, 2, 18 f.
8) Man vgl. z. B. die Geschiente von Orions Erzeugung, auf die zu Kwasir
J. Grimm hinwies (Golther S. 353): er wird aus dem Wasser der Götter und
dem Staub der Hütte erzeugt — auch ist er so recht eine Spottgeburt von
Dreck und — Wasser. Die Fabel ist wohl etymologisch zu erklären (ebd.
Anm. 2).
266 Viertes Kapitel.
»gelehrter« Weise1) auf den Dichtermeth umgedeutet. Ein allegorischer
Grundgedanke scheint den Kern zu bilden; zum Dichter gehört göttliche
Weisheit — Herzensblut — Süße; so kommen der Mischkrater —
Kvasirs Blut — der Honig zusammen2).
Viertens: Odin wird zum Prometheus dieses Feuertranks. Deshalb
wird auf ihn die Fabel von der betrogenen Helferin übertragen oder,
wenn das schon früher geschehen war, wird sie in diesen Kontext ge-
bracht; und natürlich ist die Geliebte des Gottes eine Riesentochter wie
Freys Gerd: so hat sie auch das Dumm-Gutmütige mancher Riesen.
Märchen von dem Riesen, den die Zwerge ertränken, von Odins
Dienst8), von Verwandlungen in Schlange und Adler schließen sich
endlich an.
Das scheint mir ungefähr die Literaturgeschichte von Suttungs Metru
Sie ist kompliziert, aber doch noch viel einfacher als die Herstellung des
Tranks, der, aus drei Destillaten zubereitet, durch 3 + 1 Hände geht4):
Götter — Zwerge — Riesen — Odin allein ; und zwar unter Anwendung von:
erstens Weisheit (bei der Versöhnung: Anknüpfung an den Wanenkrieg);
zweitens Gewalt (der Zwerge); drittens Zauber (der Mühlstein); viertens
List (Odin bei Gunlöd). So ist der ganze Mythus zusammengebraut, mit
blutigem Schweiß; nun hat der Zaubertrank alle Elemente, durch die
die berufsstolzen Sänger die Wunderkraft ihrer Dichtung motivieren
können! —
Immer mehr an Macht gewachsen5), wird Odin schließlich fast
henotheistisch zum Allvater, Alfadir, Aldafadir6), Veratyr, Gott der
Männer7). Einen christlichen Einfluß bei dieser monarchischen Zuspitzung
zu sehen, ist nicht erforderlich : auch bei den Indern und sonst zeigt sich
diese Tendenz. Bei den Benennungen aber mag das christliche Muster
mitgewirkt haben.
Von hier aus wird er auch Schöpfer der Menschen8) und der
Welt9), worüber in dem Kapitel »Kosmogonie« zu handeln ist. —
Bei der Betrachtung der Erscheinung, bei der Prüfung der Zeugnisse,
bei der Interpretation der Entwicklung ergab sich überall dasselbe Bild:
eine leidenschaftliche, aber sich selbst weise zähmende Herrschernatur,
') Golther a. a. O.
2) Ähnlich die Bestandteile des — wirklichen — Biers im Kalewala: J. Grimm ,
Kl. Sehr. 2, 92.
3) Vgl. o. S. 18 über die Mythen vom dienenden Gott.
4) Ähnlich wie Gusts Gold, Reg. Str. 5.
5) Häv. Str. 141.
6) Vgl. Freys Benennung als Weltgott.
7) Mogk S. 346.
8) Vol. Str. 18.
9) Ebd. Str. 4; vgl. Mogk a. a. O.
§ 17. Hauptgötter. 267
mehr auf geistige als auf körperliche Kraft gestellt, mehr Ehrfurcht als
Liebe erweckend — das ist Wodan. Ganz individuell steht seine Gestalt
unter denen der Götter, fast wie eine menschliche Persönlichkeit: keines-
wegs ein idealer Charakter, sondern launisch, hinterhältig, den Weibern
geneigt bis zur Schwäche, rühm- und spottsüchtig; aber ein überlegener
Geist, immer tätig im Dienst seiner Aufgabe, strengster Arbeit fähig,
herrschgewaltig und siegesbewußt. So haben die Germanen allmählich
das Bild ihres höchsten Gottes herausgearbeitet. Ein weltschmerzlicher
Ton klingt aus den Bekenntnissen der Häv., eine charakteristische Mischung
von Scheu und Vertraulichkeit aus den Zeugnissen seiner Verehrer. Ehr-
lichen Haß konnte er wohl so gut erwecken wie unbedingte Hingabe. —
Den freien Bauern auf Island blieb er fremd, den Fürsten, Heerführern,
Sängern ward er zum Hausgott und Herzensfreund. Sieht man die großen
Gestalten typischer Deutscher an, so mag man sich hier an Luther (in der
verhaltenen Leidenschaftlichkeit), dort an Friedrich den Großen (in seiner
harten Regententätigkeit) oder an Bismarck (der beides vereint) erinnert
fühlen; auch der Humor der großen Deutschen fehlt dem Erzähler der
Liebesabenteuer so wenig wie die Resignation. Aus primitivsten Ansätzen
ist im Laufe der Jahrhunderte von einem verehrungsvollen Volk eine
Göttergestalt herausgemeißelt worden, in der der Germane sich selbst er-
kennen konnte, wie der Hellene in Apollon, der Inder in Indra.
Craigie x) meint, wo in den Mythen Odin mit Christus um die Seelen
kämpft, klinge das mehr legendarisch — wo es Thor tut, volkstümlicher.
Das mag wohl sein; denn die sich von Odin trennten, waren nicht ein-
fache Leute aus dem Volk: es waren die führenden Geister. —
Ich wiederhole2) die treffliche Charakteristik des Hyndluljöds8):
Laßt uns Heervater bitten, seine Huld zu gewähren,
Der gern dem Gefolge sein Gold spendet;
Dem Hermod gab er Helm und Panzer,
Ein schneidiges Schwert schenkt er dem Sigmund.
Dem einen gibt Sieg er, dem andern Schätze,
Weisheit vielen, und gewandte Rede;
Dem Seemann Fahrwind, dem Sänger Dichtkunst,
Männliche Tatkraft manchem Helden. —
Wir haben die Entwicklung seiner Funktionen und die damit un-
mittelbar verbundenen Mythen im Zusammenhang behandelt; wie gewöhn-
lich wenden wir uns jetzt der weiteren Legendenbildung zu.
Doch ist hier ein Glied derselben spezieller Prüfung bedürftig: der Sitz»
das Heim des Gottes.
*) Religion of Ancient Scandinavia, London 1906, S. 10.
2) Mit Golther S. 357.
3) Hyndl. Str. 2.
268 Viertes Kapitel.
Der Sturmgott hat sein Heim in den Bergen l), der Heimat der Wind-
götter. Er nennt sich selbst2) den »Alten vom Berge« — wie nach Jahr-
hunderten das Haupt der Assassi nen sich wieder nennen sollte! Er heißt
auch »Felsengott«; und Wodansberge sind über ganz Deutschland, Eng-
land, Skandinavien verbreitet3). — Mag der Dämon immerhin im Gipfel
großer hochbelaubter Bäume erscheinen — sein eigentliches Heim sind
die Berge, aus denen er plötzlich stürmend hervorbricht.
Aus diesem Geisterversammlungsort, wo der Winddämon mit den
Totengeistern4) haust, entwickelt sich Valhöll, das Totenreich5) — zu-
nächst also als allgemeines Heim der ruhelosen Geister 6). Nachdem aber
um den Schlachtengott eine besondere Garde der Speertoten gebildet war
wird dies Heim für sie reserviert und ganz dem Odin zugeeignet: die
Totenhalle wird nach dem Muster seiner Tempel 7) stilisiert mit goldenem
Schmuck, mit Speeren und Schilden an den Wänden, Brünnen auf den
Bänken, einem Wolf am westlichen Tor und darüber ein Adler — seine
heiligen Tiere als Hausmarke am Tor, Votivgaben der Krieger rings-
umher8).
Weshalb das Heim 540 Tore hat9), weiß ich nicht zu erklären. Neun
ist Odins Zahl; aber was bedeutet 9 x 60? zumal 60 keine heilige Zahl
ergibt10). Ebensowenig ist die Zahl der 800 Einherier11) zu erklären oder
mit der der Tore in Obereinstimmung zu bringen. (Daß Bilskirnir 12)
540 Räume hat, wie Valhöll soviel Tore, ist natürlich nur unverständige
Nachbildung.)
Es ist wohl das älteste unter den »Heimen« der Götter, die die
Grimnismäl kodifizieren. Hier leben die Einherier, die Helden, und werden
von den Walküren bedient13), Wundertiere märchenhafter Natur stehen
ihnen 14) zur Verfügung. Es ist das märchenhafte Gemälde eines heroischen
Schlaraffenlandes (denn auch der ewige Kampf der Unsterblichen ist ja
x) Mogk S. 336, Golther S. 289.
2) Reg. Str. 18.
3) Myth. 1, 128f.; Golther S. 297.
4) Siehe o. S. 82.
5) Golther S. 289f., Meyer S. 292f.
6) Vgl. Mogk S. 339.
7) Grim. Str. 8 f.
8) Zschr. f. d. Phil. 38, 175.
9) Grim. Str. 23; Gylf. cap. 40: Gering S. 331.
10) Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 86 f.
u) Str. 24.
12) Schullerus: Bestreitung des echtgermanischen Ursprungs des Valholl-
glaubens (PBB. 12, 122f.) hat Hoffory (Eddastudien S. 126 f.) siegreich widerlegt.
la) Chadwick S. 47.
14) Grim. Str. 18; vgl. Gylf. cap. 38: Gering S. 330.
§ 17. Hauptgötter. 269
nur Sport), wie schon der Sterbende »bei Odin zu Gast« sein will1).
Wie in Mohameds Paradies sind die Einzelheiten realistisch ausgemalt:
Odin weckt die Einherier, um die Bänke mit Polster zu belegen und die
Bierkrüge zu scheuern, und läßt die Wunschmädchen Wein auftragen2);
nur das erotische Element scheint gänzlich zu fehlen.
Daneben wird dem Hauptgott noch Sökkvabekk3) im gemeinschaft-
lichen Besitz mit Saga zugeschrieben ; Gladsheim, Welt der Freude 4) ist
vielleicht ursprünglich der heilige Bezirk um Walhalla, dann aber5) selbst
als goldener Saal aufgefaßt, als Gegenstück zu dem silbernen Valaskjälf%
in dem sich der Hochsitz Hlidskjälf1) befinden soll; doch ist Valaskjälf
wohl selbst erst aus Valhöll und Hlidskjälf aufgebaut.
So ist der Gott mit Landbesitz reichlich ausgestattet wie ein deutscher
Fürst des Mittelalters ; doch nicht nur in Valhöll oder auf der allgemeinen
Warte Hlidskjälf sieht ihn die Phantasie des Volkes. Denn zumeist ist auch
er auf der Reise; und an seine Wanderungen knüpfen sich weitere
Legenden.
Wir können sie in drei Gruppen teilen : Liebesabenteuer — Prüfungen,
die er durchmacht — Prüfungen, die er vornimmt.
Odins Liebesabenteuer8) sind an Buntheit nur mit denen des
Zeus zu vergleichen. Wenn aber der Don Juan des Olymps immer sieg-
reich ist, so ist Odin bald glücklich, indem er überlistet9), bald erfährt er
Demütigung wie bei Billings Tochter 10). Es ist kein symbolischer Mythus,
sondern an dem höchsten Gott wird der Kirke- Zauber der Verliebtheit
illustriert, gerade wie das Mittelalter ihn an Aristoteles, der die Geliebte
auf seinem Rücken reiten läßt, darstellt. Der Gott der Weisheit wird von
einem namenlosen Mädchen gefesselt, die ihn von bewaffneten Kriegern
oder von einer ans Bett gebundenen Hündin erwarten läßt — alte Liebes-
sch wanke, wie sie Ulrich von Liechtenstein oder Henricus der Schreiber
im Korb (im Volkslied) oder Falstaff wieder erleben. — Auch im Härb.
wird Odin n) als der gewissenlose Lebemann hingestellt und Thors Worte:
»Da hast du mit falschem Herzen die gute Gabe gelohnet« 12) passen genau
x) Golther S. 327; schon in den Eiriksmäl ebd. S. 317.
2) Ebd.
3) Grim. Str. 7. 4) Str. 8.
8) Gylf. cap. 14: Gering S. 307.
6) Grim. Str. 6.
7) Gylf. cap. 17: Gering S. 313.
?) Golther S. 336.
9) Gunnlöd. Häv. Str. 102 f.; Golther S. 337; siehe o. S. 263.
10) Häv. Str. 95 f.
11) Vgl. Golther S. 337.
12) Härb. Str. 21.
270 Drittes Kapitel.
auf sein Verhältnis zu Gunnlöd. Ein gewisser Einfluß des höfischen
Liebeslebens auf dasjenige des Hofgottes wird nicht abzustreiten sein.
Die Demütigung (zweimaliger Backenstreich) und der Sieg durch List
(und Zauber) sind in dem Roman von Odin und Rinda verbunden1).
Daß aber Rinda mit Billings Tochter identisch sei, ist nicht anzunehmen :
dann dürfte Odin den schließlich errungenen Triumph nicht verschweigen.
Ebensowenig vermag ich v. d. Leyens Kombination mit Frey und Gerd2)
mir anzueignen. Rindas Geschichte ist ein heroischer Roman von langer
Werbung, Verkleidung als Goldschmied3), Verkleidung als Mädchen (wie
in der Wolfdietrichsage), widerwärtiger Vergewaltigung. Doch spielen
mythische Züge mit: Erzeugung des Rächers, Zauberrunen (wie in
Skirn.).
Mit Recht lehnt Golther4) eine mythische Ausdeutung ab. Auf den
Liebling der Dichterphantasie werden Romanzüge übertragen : er fängt sich
in der Schlinge der Billingstochter wie Ares im Netz des Hephaistos, er
überwindet allen Widerstand wie Zeus bei Danae (wo noch eher ein
mythischer Hintergrund denkbar ist). —
Odins Verbannung5) wird mit der Rinda-Fabel zusammengebracht,
indem diese ätiologisch verwandt wird : die Götter verstoßen Odin wegen
unwürdigen Benehmens. Daneben eine ätiologische Dublette: Odin
geht aus Scham über Friggs Ehebruch6). Man wird sich hier zu der
religionsgeschichtlichen Deutung bekennen müssen : der eindringende Gott
wird von Anhängern der älteren Kulte zurückgedrängt, seine Verehrung
vielleicht auf Jahre verhindert7); vielleicht auch sein Götzenbild versteckt
oder vergraben 8). —
Einen Mythus von Odins siegreicher Fahrt in das »Pelzland«, wo er
die finnischen Zauberer besiegt, konstruierten Detter9) und Boer10); doch
*) Saxo 3, 126f.; Golther S. 306.
2) Sagenbuch S. 137.
3) Zu diesem Motiv vgl. Panzer, Hilde-Kudrun, S. 268 f.
4) S. 338.
5) Golther S. 306f., Meyer S. 376.
6j Golther S. 307.
7) So auch Golther S. 308.
8) v. d. Leyen (Sagenbuch S. 130, vgl. 103) führt den Mythus auf den
älteren vom Tod des Sonnengottes zurück. Eine naturmythologische Deutung
auf »das uralte Motiv vom Auszug und der Wiederkehr des Gottes des Natur-
lebens«, wie sie schon bei den Irrfahrten des Odysseus Ed. Meyer (Hermes
30, 241 f.; vgl. Solmsen, Ztschr. f. vgl. Sprachf. 42, 229) gegeben hat, ist abzu-
lehnen, da eben nichts bei Wodan auf Altertümlichkeit solcher Mythen deutet.
Über den letzten Kampf siehe u.
e) Ztschr. f. d. Alt. 32, 449.
10) Ark. f. nord. Fil. 8, 105.
§ 17. Hauptgötter. 271
kann dieser Mythus von einem Mythus durch Heusler und Ranisch x)
für erledigt gelten.
Auch sonst hat der Gott viele Prüfungen zu bestehen: er gibt
sein Auge zum Pfand, wird bei Geirröd gefoltert2), hat mit Frigg zu
streiten. Auch hier tritt die starke Vermenschlichung hervor: auf sein
Leiden wies schon der Mythus von der Runenfindung.
Odin selbst prüft besonders die jungen Könige3) in mannigfacher
Weise, zumeist auf Tüchtigkeit im Kriege, wozu eigentlich auch die
werbende mute des Königs gehört; deshalb wird Geirröd auf Geiz
geprüft.
Weitere Abenteuer deutet das Härbardslied an; so die Ober-
listung eines Riesen Hiebard 4), der ihm den Zauberzweig gab und dem er
dafür den Verstand nahm ; oder sollte hier ein Parallel mythus zur Suttung-
mythe vorliegen?
Ober Odins Verwandtschaften5) ist später zu handeln. Alt und
mythisch wichtig ist nur die Ehe mit Frigg.
Frig-g-6).
Frigg ist die einzige sicher gemeingermanische Göttin 7) , aber keine
indogermanische Gottheit. Germanisch Frija (Merseburger Zauberspruch),
althochdeutsch Fr ja, altnordisch Frigg, »die Geliebte«, »das Weib«
schlechthin = priyä , sanskritisch Gattin 8) , braucht nicht von Anbeginn
Wodans Gemahlin gewesen zu sein9). Indessen ist eine elementare Grund-
bedeutung schwer zu ermitteln ; und wir glauben heute, daß ebensowenig
jede Gottheit auf einen Naturmythus zurückgeführt zu werden braucht,
wie jeder Kasus auf eine lokale Grundbedeutung. — Müllenhoff hält Frigg
für eine Lichtgöttin ; aber weder daß sie die Mutter Balders ist (und muß
wirklich die Mutter eines Lichtgottes eine Lichtgöttin sein?) noch daß ihr
Heim Fensalir »die Meersäle« heißt, sind notwendig alte Züge. Auch
daß sie eine alte Erdgöttin sei, hat man vermutet lü), als Erde also dem
i Himmel gesellt; aber daß Odin ein Himmelsgott sei, glaubten wir eben
ablehnen zu müssen. In Friggs Mythologie sehe ich nirgends elementarische
») Eddica minora S. LXVIII.
2) Grim. 3) Vgl. o. S. 254.
4) Härb. Str. 20.
5) Golther S. 355; vgl. allgemein Meyer S. 381.
6) Müllenhoff, Zschr. f. d. Alt. 30, 217; Golther S. 306f. 430f.; Mogk
:S. 369; Meyer S. 4131
7) Mogk S. 312, anders Much (Himmelsgott S. 24 f.), dessen urgermanische
Bellona mir nicht bewiesen scheint.
8) Mogk S. 369, vgl. ebd. S. 358, Golther S. 421 Anm.
9) Nach Müllenhoff a. a. O.
10) Ebd. S. 249.
272 Viertes Kapitel.
Züge. Vielmehr scheint mir mit jener Deutung des Namens, sie sei »die
Gemahlin«, »die Geliebte« schlechtweg, der Kern getroffen: alles deutet
darauf, daß sie von Haus aus die Schutzgöttin der Frauen (im
Gegensatz zu den spezifisch »männischen« Gottheiten, Tyr, Odin dem
Veratyry Frey dem veraldar god) gewesen ist. Dafür zeugt der Name,
die Funktionen, die stete spätere Verbindung mit dem obersten Gott.
Wir gehen von dieser Beziehung aus, die für ihren Mythenkreis allein
produktiv ist.
Ist die Verbindung mit Wodan ursprünglich? Oberdeutsch
sind keine Spuren davon erhalten, mitteldeutsch nur der Merseburger
Spruch *), in dem sie immerhin unter anderen Gottheiten in Wodans Um-
gebung erscheint. Hauptsitz ihrer Verehrung sind überhaupt die Wodan-
völker. Bei den Langobarden ist der Mythus von dem Wettstreit des gött-
lichen Ehepaares wohl schon an der unteren Elbe entstanden, wenn auch
später als die historischen Kämpfe mit den Winilern2). Im Norden ist sie
immer mit Odin verbunden. Es ist eine Ehe wie die des Zeus mit Hera:
bald glückliche Gedankengemeinschaft (Veg), bald Zwist und List wie in
dem Langobardenmythus3) oder der Agnar-Sage (Grimnismäl) 4).
Ein alter Mythus scheint sie5) mit drei Göttern zu verbinden:
mit der Trias Odin — Wili — We, die freilich selbst von zweifelhaftem
Alter ist. Frigg war eben zu der Zeit, als man die Götter zu zählen und
zu ordnen anfing, die einzige Göttin, deren Rang dem der höchsten Götter
glich. Daß sie je dem Tiuz gehört habe6), ist unbeweisbar. Dagegen
scheint sie in der schwedischen Sitte, den Donnerstag zu heiligen (man
spinnt nicht und erwartet göttlichen Besuch), dem Thor verbunden: das
heißt helga Thoregud och Frigge, den Gott Thor und Frigg heilig
halten 7). Aber das bedeutet wohl auch nur eine begriffliche Gemein-
schaft: Arbeit in Haus und Hof unterlassen. Thor ist hier ursprünglich:
sonst gehört der Frigg der Freitag 8). Sie ist also mit Wodan, Thor, Tyr
in den Kreis der Hauptgottheiten aufgenommen. Auch diese Obersetzung
von dies Veneris kam aus Niederdeutschland nach Skandinavien, deshalb
Frjädagr statt Friggjardagr.
Jedenfalls spricht dies alles für eine gewisse ursprüngliche Selbständig-
keit. Gewiß ehrte man sie, indem man sie zur Gattin des Hauptgottes
') Mogk S. 369.
2) Müllenhoff, D. Alt. 2, 97f.
3) Meyer S. 372. 381, Mogk S. 369, Golther S. 431.
4) Vgl. Golther S. 431.
5) Golther S. 433 nach Lok. Str. 26.
6) Müllenhoff, Ztschr. f. d. Alt. 30, 217; Golther S. 433. 452.
7) Mogk S. 371.
8) Golther S. 429 Anm.
§ 17. Hauptgötter. 273
machte — es war, wie die Ehe des Zeus, eine staatlich-religiöse Sanktion
der Monogamie — , aber wäre sie das immer gewesen, so hätte sie es
nicht zu solcher Bedeutung gebracht.
Ihre Funktionen sind dementsprechend von doppelter Art : primär
und sekundär, diese nämlich aus der Verbindung mit Odin abgeleitet.
Primäre Funktionen der Frauengöttin sind Liebe und Ehe
(mit Einschluß der ehelichen Fruchtbarkeit). König Rerir1) erhält von
ihr Fruchtbarkeit (wie sie Rfg-Heimdall den Standesvertretern schafft)2).
Das isländische elskugras Liebesgras heißt auch Friggjargras. Hierher
gehört ferner häusliche Arbeit und häuslicher Fleiß3). Der Gürtel des
Orion heißt in Schweden ihr Gespinst: Rocken, auch Spindel der Frigg4).
Überhaupt ist sie in dem kulturell führenden Schweden besonders beliebt ;
in Norwegen, dem am meisten »männischen« der nordischen Lande, sind
Ortsnamen nach Frigg nicht nachzuweisen5).
In ihren sekundären Funktionen ist sie als Gattin des höchsten
Gottes die »trefflichste der Göttinnen« ; aber überall einen Schritt hinter
ihm. Zukunftskundig wie er6) greift sie doch nicht wie er in die Ge-
schicke ein. Auch sie ist zauberkundig — aber erst er heilt7).
Dennoch kann sie ihn überlisten: auf ihren schlauen Rat hin ver-
schaffen sich die Langobarden Sieg von dem Siegesgott8); durch ihre
betrügerische List wird Geirröd veranlaßt, den landfremden Gast zu miß.
handeln 9) — wie Odin ja auch sonst von Frauen überlistet wird (Billings
Tochter).
Dies führt zu den Sagen von ihrer Untreue : der wunderlichen Novelle
von dem Ehebruch mit dem Diener10), die vielleicht die weibliche Gier
nach Schmuck ebenso illustrieren soll wie das eine Odinsabenteuer die
männliche Verliebtheit. Loki11) und Saxo12) werfen ihr Buhlerei vor; ist
die Erzählung, daß sie einst drei Göttern gehörte (wie Heimdali neun
Mütter hat), alt, so kann der Vorwurf von hier stammen. Er paßt recht
schlecht zu dem Bild der Ehegöttin ; aber deshalb braucht sie noch nicht 13)
!) Golther S. 432.
2) Mogk S. 371.
3) Mogk S. 371.
4) Vgl. auch oben (S. 27) über die Heiligung des Donnerstags.
5) Mogk S. 371. — Im übrigen vgl. u. über ihre Emanationen.
6) Lok. Str. 29, Golther S. 430, Mogk S. 370.
7) Merseburger Spruch; Meyer S. 393.
8) Golther S. 360. 431, Meyer S. 372. 381, Mogk S. 369.
9) Grim.
10) Meyer S. 377, Golther S. 306.
1J) Lok. Str. 26.
12) Vgl. Golther S. 432.
13) Mogk S. 370.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 18
274 Viertes Kapitel.
die Himmelsgöttin zu sein, die mit dem Bruder oder den Brüdern des
Gemahls während der Abwesenheit der Sonne buhlt. — Als Obergöttin
ist sie auch die Mutter Balders, die den Eid abnimmt und Nannas Kopf-
tuch empfängt1).
Spätere Legenden fehlen fast ganz; die Volkssagen von Fru
Frick2) sind verdächtig3). — Als Göttin des Spinnens (Arachne!) und
wegen ihrer Weisheit wird sie später mit Minerva gleichgesetzt. Nahe
Berührungen mit Freyja4) und entferntere zu Nerthus5) und den chthonischen
Göttinnen Hlödyn und Fjörgyn6) sind bei dem verhältnismäßig wenig
ausgeprägten Charakter der Göttinnen begreiflich. .
Ihr H e i m Fensalir, Meersäle 7) wird von Mogk 8) als nordgermanisches
Indizium aufgefaßt. Ist es aber überhaupt sicher, daß das ihr »Heim«
ist? Der Sammler der Grim. hätte es sich dann gewiß nicht entgehen
lassen ; aber er scheint Frigg (als Saga) nach Sökkvabekk zu versetzen.
Gylf. Kap. 35 9) kann einfach aus Vol. 34 gefolgert sein: daß der Saal
»überaus stattlich« ist, scheint eine verzweifelt leere Angabe gegenüber
denen, die schon Glitnir oder Walaskjälf 10) betreffen. Offenbar bildet
Friggs Weh11) ein Gegenstück zu dem Sigyns12); und wie diese im Hain
sitzt an Lokis Schmerzenslager, so weint Frigg in Fensalir an dem Scheiter-
haufen Balders. Dieser aber ward auf dem Schiff errichtet, das dann nach
alter Fürstensitte die Leiche ins Meer fahren soll — und dort, denke ich,
in den Meersälen, sitzt seine Mutter und beweint an dem ins Meer hinab-
gesunkenen Holzstoß Walhalls Unglück. — Jedenfalls sehen wir sie in
Tätigkeit nur auf Hlidskjälf (Langobarden- und Agnarsage).
Vom Kult der Frigg13) sind nur bekannt Anrufung, Heiligung des
Donnerstages, und Zauber: dazu legt man die Wurzel des Frigg -Grases
unter das Kopfkissen.
Zu ihren Emanationen rechnet Meyer14) die Freyja, die man15)
wohl besser aus Frey ableitet. Aber wie Skirnir bei Frey, sind bei Frigg
»Dienerinnen«, die wir als selbständig gemachte Einzelfunktionen ansehen 1(J).
*) Mogk S. 370.
2) Meyer S. 424 f.
3) Mogk S. 369, Golther S. 329 Anm.
4) Siehe o.; vgl. Golther S. 440, Meyer S. 361.
B) Mogk S. 370. 6) Ebd.
7) Golther S. 431. 8) S. 371.
9) Gering S. 327; vgl. cap. 49 ebd. S. 343.
10) Gylf. cap. 17: Gering S. 312.
») Vol. Str. 34. 12) Str. 35.
1?) Meyer S. 417.
u) S. 418. 15) Siehe o.
16) Gylf. cap. 35: Gering S. 326; Golther S. 413f.; Mogk S. 370; Meyer
S. 414.
§ 17. Hauptgötter. 275
F u 1 1 a x) ist im Merseburger Spruch Frias Schwester, später 2) ihre
Dienerin und Botin. Nach Gylf.3) ist sie Jungfrau, geht mit flatterndem
Haar und hat ein goldenes Band um das Haupt; sie trägt Friggs Truhe
und bewahrt ihr Schuhzeug; auch ist sie in ihre heimlichen Pläne ein-
geweiht. Deshalb erhält sie einen goldenen Fingerreif als Andenken
Nannas 4).
Mythische Tiefen sind hier schwerlich zu suchen. Die Schuhe haben
vielleicht rechtssymbolische Bedeutung 5). Einfacher aber ist es, die Göttin
eben als die der Fülle aufzufassen. »In Fulla wird die Göttin Frija nach
ihrer Reichtum und Segen spendenden Tätigkeit persönlich«, wie in
lateinischen Gottheiten, Copia, Abundantia 6). Es ist der häusliche Wohl-
stand in ihr verkörpert:
Sie mehrt den Gewinn
Mit ordnendem Sinn
Und füllet mit Schätzen die duftenden Laden
Und dreht um die schnurrende Spindel den Faden
Und sammelt im reinlich geglätteten Schrein
Die schimmernde Wolle, den schneeigten Lein . . .
Lofn7) erhört gern die Gebete und ist mild; sie hat von Allvater
und Frigg die Erlaubnis erhalten, Ehen zwischen den Menschen zustande
zu bringen, denen vorher ein Hindernis im Wege stand; nach ihrem
Namen heißt die Erlaubnis »lof« 8). Natürlich ist es umgekehrt. — Gering9)
vergleicht die Juno pronuba, die aber nach Wissowa10) nur dichterische
Benennung der göttlichen Brautführerin, der Juno Juga, ist11). Sie ist
Emanation der Frigg als Göttin der Liebenden.
Sjöfn (man beachte den Reim auf Lofn) »ist eifrig bemüht, die
Menschen zur Liebe zu entflammen, Männer sowohl wie Frauen«12).
Die Gottheiten der Stimmungen und Leidenschaften sind wohl immer
jünger als die offizieller Tätigkeit; auch Sjöfn wird zu Lofn erst hinzu-
erfunden sein.
J) Golther S. 431. 432. 435; Meyer S. 392. 414. 424; Mogk S.370.
2) Einl. zu Grim.
8) cap. 35.
4) Gylf. cap. 49: Gering S. 346.
5) Golther S. 432.
6) Ebd. S. 435.
7) Mogk S. 371; Golther S. 432. 435; Meyer S. 414.
8) Gering S. 327.
9) a. a. O. ,0) S. 119.
n) Eher wäre noch die Ehegatten versöhnende Viriplaca (Wissowa S. 195)
rergleichbar.
]2) Gering S. 327: »die nordische Venus«; Golther S. 435, Mogk S. 371,
/leyer S. 414.
18*
276 Viertes Kapitel.
Eir ist die Ärztin unter den Äsen1), eigentlich die Göttin der häus-
lichen Krankenpflege. Sie wird auch2) mit einem Geschwader anderer
meist einsilbiger Mädchen zu Menglöds Füßen gesehen ; jedenfalls ist dabei
an Friggs Dienerinnen gedacht.
Gnä3) »wird von Frigg in ihren Angelegenheiten nach verschiedenen
Orten entsendet, sie hat ein Roß, das durch Luft und Meer zu schreiten
vermag und Höfvarpnir (wohl »der Hufwerfer«) heißt«. Von einer ihrer
Botschaften muß ein Gedicht gehandelt haben, aus dem ein Dialog-
fragment4) mitgeteilt wird. Möglicherweise spielte diese Iris eine ähnliche
Rolle wie Skirnir. In ihr den Regenbogen zu sehen, sind wir schwerlich
berechtigt. Vielleicht verkörpert sie die rasche Aufsicht der Herrin.
Söl die Sonne5), auch als Sunna im Merseburger Spruch, undBil
die Mondabnahme, mit Hjüki dem »Zunehmenden« als Mondkinder6) ge-
nannt. Bil ist wohl mit Stnthgunth der Wegerkämpferin, der Genossin 7)
im Merseburger Spruch identisch. Sie sind in dieser Gesellschaft wohl
nicht rein elementarisch zu verstehen, sondern Bil steht hier für beide Mond-
phasen (ab- und zunehmenden Mond), Sinthgunth (Klopstocks »stiller Ge-
fährte der Nacht«) für den Mond, und dies Paar, Sonne und Mond,
vermutlich gemeinschaftlich zum Ausdruck der unvermeidlichen Arbeit (der
»Plackerei bei Tag und Nacht«, wie Frau Marthe Schwertlein klagt).
Vär8) hört auf die Eide und heimlichen Abmachungen der Menschen,
der Männer wie der Frauen. — »Vär ist auch weise und wißbegierig, so
daß ihr nichts verborgen bleiben kann«. Das Letztere scheint etymologische
Spielerei ; aber als Vertragsgöttin wird Vär schon 9) bei der feierlichen
Verlobung angerufen. Also die Göttin des Liebesvertrags.
Vor, die Vorsicht, ist von Meyer10) aus Vär abgespalten.
Syn 11) »hütet die Türen in der Halle und schließt sie vor denen, die
nicht hineingehen sollen. Auch ist sie bei den Thingversammlungen in
solchen Streitsachen zur Schützerin bestellt, wo Männer etwas zu leugnen
haben. Daher stammt die Redensart : Syn ist vorgeschoben, wenn jemand
leugnet«. Die »Ableugnung« (zu synja leugnen) könnte eine hübsche Gott-
heit der häuslichen Notlüge sein (die heilige Elisabeth mit den Rosen !) Doch
') Gering S. 326, Golther S. 435, Meyer S. 414, Mogk S. 371.
2) Fjöl. Str. 38.
3) Gering S. 326, Mogk S. 370, Meyer S. 415, Golther S. 436.
4) Etwa im Stil von Helg. Hund. 2, 38—39.
B) Golther S. 437, Meyer S. 415.
6) Gylf. cap. 11: Gering S. 305.
7) Mogk S. 374.
8) Gering S. 327, Golther S. 435.
9) Thrymskv. Str. 30.
10) S. 414.
n) Gering S. 327, Golther S. 436, Meyer S. 415.
§ 17. Hauptgötter. 277
könnte auch die Obhut über die wirklichen Türen ihre ursprüngliche
Funktion sein, wie bei dem uralten Janus der Römer1); es gibt vielfach
besondere türhütende Gottheiten 2).
Hl in3), die Schützerin, »ist angewiesen, die Menschen zu schützen,
die Frigg vor irgendeiner Gefahr behüten will«, also etwa die Vorsicht,
auf die denn auch die Weisheit folgt: Snotra4), die Kluge, «ist weise
und von feinem Anstand« ; die Gottheit der feinen häuslichen Sitte macht
den Schluß.
Sie sind wohl nicht alle von gleicher Art; obwohl die einfach
charakterisierenden Namen — fast alle von Snorri auch etymologisch ge-
deutet — auf ein hohes Alter deuten, wie die der vergleichbaren, besonders
römischen Numina. — In unmittelbarer Beziehung zu Frigg stehen ihre
Dienerin Fulla, ihre Botin Gnä, ihre Beamtinnen Söf (zugleich von Odin
bevollmächtigt) und Hlin, ihre Verwandten Sol und Sinthgunt. Aber auch
die anderen haben meist ähnliche Funktionen und sind auf das häusliche
Leben bezogen oder auf die Liebe. Von jungen Abstraktionen im Stil
der Idun 5) sind 6) diese Verkörperungen realer Tätigkeiten voll zu unter-
scheiden7): der Pflege von Kranken und Liebeskranken, der Obhut über
Eide und die häusliche Ruhe, der vorsichtigen Haltung und des gesitteten
Benehmens stehen sie vor8). Die Reimpaare verraten alte nafnathulur:
Lofn und Sjöfn, Hlin und Syn9).
Auch Gefjon könnte eine Emanation der Frigg sein. Wahr-
scheinlich aber ist sie die ursprüngliche Göttin desLandgewährens
(vgl. die isländische Landnäma). Dafür spricht die »Didosage« 10):
König Oylfi herrschte über das Land, das jetzt Schweden heißt. Von ihm
wird erzählt, daß er einem fahrenden Weibe zum Dank für das Vergnügen, das
') Wissowa S. 96.
2) van Gennep, Rites de passage, S. 28.
3) Gering S. 327, Golther S. 436, Meyer S. 415.
4) Ebd.
6) Wie z. B. griechisch Metameleia; vgl. Höfer in Roschers Lexikon 2,
2, 2846; über römische Personifikationen Deubner ebd. 3, 2, 2145.
6) Gegen Meyer S. 415, Mogk S. 371; vgl. Golther S. 447.
7) Eine hübsche allgemeine Charakteristik bei Meyer (S. 415); den ganzen
Typus vergleicht mit indischen Verkörperungen wie Savitar v. N e g e 1 e i n (Germ.
Wythol. S. 30). Indische Göttinnen von ganz demselben Typus spenden eben-
falls wie Fulla »Überfluß«, oder speziell (Idä) Fülle von Milch und Butter:
'Macdonell S. 124.
8) Man könnte lange Strecken der Häv. unter ihren Schutz stellen: Häv.
cStr. 1 unter Syn, 3—4 unter Eir, 5 f. unter Snotra, 7 unter Hlin usw.
9) Meyer S 237. 415; Golther S. 446; Mogk S. 312. 375; Much,
Himmelsgott, S. 261.
10) Golther S. 447, wo auch volkstümliche Analogien; Meyer S. 416;
Tolstois Volkserzählung: »Wie viel Erde braucht der Mensch«.
278 Viertes Kapitel.
sie ihm durch ihre Künste bereitet hatte, so viel Ackerland zugestand, als vier
Ochsen in einem Tage und einer Nacht umpflügen könnten. Das Weib aber
war vom Geschlechte der Äsen und hieß Gefjon; sie nahm vier Ochsen, ihre
eigenen Söhne, die sie fern im Norden in Jotunheim einem Riesen geboren
hatte, und spannte sie vor den Pflug. Der Pflug ging so scharf und tief, daß
er 'das Land herausriß, und die Ochsen schleppten es gen Westen in das Meer
hinaus, bis sie in einem Sund stehen blieben. Hier festigte Gefjon das Land
und gab ihm den Namen Selund (Seeland). Dort aber, wo das Land heraus-
gerissen war, entstand ein See, der jetzt in Schweden Log (der Mälarsee) ge-
nannt wird; und es liegen so die Buchten im Log wie die Vorgebirge im Selund.
Davon erzählt der Skald Bragi der Alte.
Gefjon wäre also vielleicht auf Seeland besonders verehrt worden, als
die Göttin, die dies Land mit seinen abgerissenen Ufern dem Meer ab-
gerungen und den Menschen geschenkt hätte. Schwedischen Ursprungs
ist diese Sage wohl sicher1).
Diese lokale Gottheit von Seeland wäre dann später etwa als eine
weibliche Göttin des Ackerbaus (der Land gewinnt) aufgefaßt worden2).
So wäre sie in den Kreis der Haus- und Fleißgottheiten eingerückt. Da
man aber wenig von ihr wußte, stattete man sie mit entlehntem Gut aus,
und auch Freyja mußte hergeben, wie sie von Frigg geerbt hatte. Von
ihr hat Gefjon die Herrschaft über diejenigen, die als Jungfrauen sterben —
wunderlich genug bei der Mutter dieser Söhne von einem Riesen; von
Frigg, daß sie die Weltgeschichte so gut wie Odin kennt3). Dazu der
übliche Vorwurf der Buhlerei, hier vielleicht ebenfalls an Friggs Ehe-
bruch mit dem Diener um des Schmucks willen angelehnt4) — und eine
Göttin ist fertig.
Gering hält die landumpflügende Riesin und die Göttin auseinander ;
dann bleibt dieser aber eigentlich nichts5). Meyer führt sie auf die
Gabiae römischer Inschriften6) zurück, die »Geberinnen«, die auch bei
Kelten und Litauern vorkommen, und zu denen er auch G armangab is
rechnet7). Gefjon wäre dann3) »Frigg als gütige Geberin«. Aber
die Gewährung von Land geht über Friggs Kompetenz weit hinaus.
Dagegen sind die volkstümlichen Parallelen zu Gefjons Land- und Land-
rechtsgewähr, die er9) mitteilt, sehr beachtenswert; die (von uns voraus-
gesetzte) Göttin der Landgabe wäre demnach auch in Deutschland und
England verehrt worden. — - Ihr Kult besteht darin, daß sie von den
Mädchen zur Beteuerung angerufen wird.
») Müllenhof f, D. Alt. 2, 361; Mogk S. 375. Much (PBB. 17, 196; vgl.
Himmelsgott S. 262) setzt ihre Hein.at in die Nähe des Tempels von Lethra.
2) v. Negelein (Germ. Mythol. S. 67) hält sie überhaupt für ein Sinnbild
des Ackerbaues, der das umgepflügte Land erobert.
3) Golther S. 447. 4) Lok. Str. 20.
5) Golther S. 448; vgl. MogL S. 312. 6) S. 213, vgl. S. 417.
7) Siehe u. 8) S. 415. 9) S. 416.
§ 17. Hauptgötter. 279
Nachdem sie Frigg genähert war, wird ihr Name zur Umschreibung
der Frau allgemein benutzt wie der Tyrs zur kenning (appellativischen
Umschreibung) der Götter (Veratyr).
Gefn1) ist vielleicht eine Seegöttin2) und als solche ein Pendant zu
der Landgöttin Gefjon. Uns aber ist der Name nur als Beiname der
Freyja3) überliefert; vielleicht hat erst ihr Aufgehen in diese die Be-
rührungen der Gefjon zu Freyja verursacht. Weinhold erklärt sie geist-
reich für eine Meerriesin: die der Sturmflut, die Seeland vom Festland
losriß; so würde sie dann ganz zu Gefjon gehören. Wie sie von Freyja
aufgesogen wurde, bleibt in jedem Fall dunkel.
Auch hinter anderen — unerklärten — Namen der Freyja wie
Hörn und Syr4) können ursprüngliche Gottheiten stecken, etwa Lokal-
gottheiten wie Gefjon; aber es ist uns nichts von ihnen bekannt.
Thor.
Thor ist die am deutlichsten charakterisierte Gestalt der nordischen
Mythologie. Er gibt keine Probleme auf wie Wodan, Freyja, Balder; er
ist eine durchsichtige, einfache Natur, die neben dem »Genie« Wodan
fast philiströs wirkt. Klar ist auch seine Geschichte: die Entwicklung
vom Naturdämon durch den Berufsgott hindurch zum moralischen Wesen
liegt hier wunderschön klar vor.
Mit Wodan zusammen ergibt er den deutschen Nationalcharakter —
keiner von beiden allein. Luther, Friedrich der Große, Bismarck haben
Züge von beiden : das heftige Losbrechen, die Verachtung der Gelehrsam-
keit, Bismarck auch die Liebe zur Landarbeit; Goethe hat mehr von Wodan,
Lessing, Schiller, selbst Nietzsche mehr von Thor — alle freilich nicht
von seiner »philiströsen«, sondern von seiner elementaren Seite5).
Thor ist kein indogermanischer Gott wie Tyr, aber mit indo-
germanischen Gottheiten näher als Wodan verwandt. Der Himmelsgott
der Indogermanen ist vielfach zugleich Gewittergott (Zeus, Jupiter); und
alle Mythologien entwickeln an dem Repräsentanten der Kraft gern moralische
Funktionen (der Hilfe, der Reinigung und Befreiung: Herakles, Apollon),
aber auch gern komische Züge (Herakles, Pushan). Es ist ferner in den
atmosphärischen Eigenschaften des Gewittergottes eine Tendenz auf gewisse
moralische Eigenschaften (Heftigkeit, Plötzlichkeit, Versöhnlichkeit) gegeben,
die durch den Gegensatz zu anderen Himmelsgöttern noch lebhafter
*) Golther S. 446, Mogk S. 375, Meyer S. 418.
2) Zu geofon Meer? Much, Ztschr. f. d. Alt. 35, 327, nach J. Grimm.
3) Gylf. cap. 35: Gering S. 326.
4) Gering a. a. O.
5) Uhland, Schriften 6, 4f.; Mogk S. 357; Meyer S. 347; Golther
S. 242 f. — J. Grimm, Über die Namen des Donners, Kl. Sehr. 2, 402.
280 Viertes Kapitel.
herausgetrieben wird: Varuna als Herrscher über die regelmäßigen Er-
scheinungen am Himmel gerät zu Indra als dem Gewittergott in einen
ähnlichen Kontrast1), wie Odin als Sturmgott zu Thor, dem Gott des
dem Ackerbau so wichtigen Gewitters. Freilich hat sich bei den Indern
nur Indra zum »soveretgn of the warrior type« entwickelt; bei den
Germanen waren dagegen zwei kriegerische Typen zu unterscheiden. Es
sind die beiden, die durch unsere Kriegsgeschichte in so scharfer Trennung
durchgehen wie durch keine andere: der Stratege und der Draufgänger, der
»Generalstäbler« und der Reitergeneral, Friedrich der Große und Seydlitz,
Gneisenau und Blücher, Moltke und Steinmetz — auch sie oft genug im
Konflikt, selten sich ergänzend wie Wellington und Nelson.
Mit Pushan 2) sind die Übereinstimmungen allerdings auffallend.
Pushan ist kein Naturgott3), was ihm gewisse Züge Thors nimmt; er
ist4) von Haus aus Gott der Wege, etwa wie Janus, ebenfalls keiner
physikalischen Deutung fähig, der Gott der Türen und Tore ist5); aber
er ist von da, wie Thor auf seinem Wege, zum Gott des Ackerbaues ge-
worden. Er ist ein »Mehrer der Nahrung« 6). Er ist der beste Wagenfahrer7)
und sein Wagen wird von Ziegen gezogen 8). Er vertreibt die Bösen vom
Wege9). Und was ließe sich nicht gar aus dem Umstände machen, daß
Pushan10) mit zahnlosem Munde Haferschleim mummelt, wie Thor11)
Grütze ißt! Es ist aber einfach an die Nahrung des Bauern (und die
entsprechenden Opfer für ihre Gottheiten: Grütze für die Hausgeister
u. dgl.) zu denken ; auch in der Rfg. fängt das Fleischessen erst bei dem
Freibauern an, ist aber schon bei ihm ein Sonntagsmahl. Man sieht hier,
wie leicht die gleiche Funktion zu nachträglichen Ähnlichkeiten führen
kann! So fehlt denn auch beidemale die Spottrede der Verehrer vor-
nehmerer Götter nicht: wie Odin-Härbard den Thor, neckt etwa ein
Indra-Diener den Pushan:
Wer höhnend zu dem Pushan spricht:
cEin Grützeesser bist du ja5,
Nicht duldet dessen Hohn der Gott12).
») Macdonell S. 28.
2) Oldenberg, Rel. d. Veda, S. 230; Macdonell S. 35.
s) Oldenberg S. 232; vgl. Macdonell S. 37.
4) Nach Oldenberg S. 230.
B) Wissowa S. 96; vgl. auch Syn (siehe o. S. 275): »Syn hütet die Türen in
der Halle«.
6) Macdonell S. 35. 7) Macdonell S. 35.
8) Sonderbar erklärt von Oldenberg S. 232.
9) Ebd. S. 231. 10j Ebd.
») Härb. Str. 3.
12) Rigveda 6, 56; Graßmann 1, 285. Etymologisch scheint der Name
Pushan mit dem des Pan (alt Paön) identisch (Schulze, Ztschr. f. vgl. Sprf. 42, 81 ;
§ 17. Hauptgötter. 281
Völlig sicher steht Thor auf urgermanischem Boden x). Überall
ist er Herr des Donnerstags2) und somit eine Hauptgottheit. Tacitus3)
nennt ihn als Herkules neben Mercurius - Wodan und Mars-Tyr; in
analogen Triaden kehrt er in Abschwörungsformeln wieder. Zufällig
nicht belegt ist er bei den Bayern, wo auch der Donnerstag Pfinztag
heißt4) — wie »Mittwoch« oberdeutsch gegen den »Wodanstag« der
Angelsachsen u. a. steht. Ausdrücklich bezeugt ist er bei den Sachsen5)
und sonst bei den Deutschen (Nordendorfer Spange); bei den Angel-
sachsen, wo er aber (wie bei allen Niederdeutschen) gegen Wodan zurück-
tritt7). Die Normannen hielten lang am Thordienst fest6); noch heute
sind in der Normandie zehn Turville , Thorstadt (gegen zwei Frevüle,
Freystadt) nachzuweisen8). Ebenso in Irland: der erste dort genannte
Normanne heißt Turgeis = Thorgisl; das Königshaus der Normannen
auf Dublin leitet sich von Thor ab und besitzt einen heiligen Thonarsring 9).
Zum Hauptgott wird er ferner bei den Schweden (neben Frey) und
Norwegern; vor allem aber auf Island10). Hier sind unter den Eigen-
namen 51 mit Thor, 3 mit Frey, keiner mit Odin11) gebildet. Ohne
Zweifel würde Thor die anderen Göttergestalten (außer Odin) weniger
überragen, wenn nicht unsere Oberlieferung vor allem von seiner Insel
stammte.
Von Norwegen kam der Thorkult sogar über die germanischen Grenzen
hinaus zu den Finnen12). Vielleicht auch zu den Kelten, wenn ihr
Donnergott Tanaros 13) nicht urverwandt ist. —
Sein Wesen ist klar: er ist ursprünglich Gewi ttergott 14) wieder
indische Lieblingsgott Indra 15). Nach unserer Anschauung wird er durch
vgl. 374). Auch Pan ist ein Ackerbaugott (vgl. Prell er 1, 738 f.), doch hat er
sich durch die malerische Betonung der landschaftlichen Stimmungen, wie sie die
hellenische Mythologie so einzig auszeichnet (doch vgl. unsere Elfen; siehe o.
S. 118 Anm.), von etwa gemeinsamen Grundlagen weit fortentwickelt.
*) Mogk S. 354.
2) Ebd.; Golther S. 253.
3) Germ. cap. 9. 4) Mogk S. 355.
5) Taufgelöbnis: Müllenhoff und Scherer, Denkm. LI.
6) Mogk S. 356.
7) Golther S. 253.
8) Ebd. S. 247, 3.
9) Meyer S. 348.
10) Golther S. 251.
") Doch vgl. dazu oben S. 253.
12) Mogk S. 356; Krohn, Finnisch-Ugrische Forschungen, S. 164 f.
13) Golther S. 243, 1.
14) Golther S. 242, Mogk S. 357, Meyer S. 347. 359.
15) Macdonell S. 54; vgl. ebd. S. 59 f. — Auch Jahve wird vielfach als
ursprünglicher Gewittergott gedeutet.
282 Viertes Kapitel.
Kollektivierung der Augenblicksgötter, der Herren der Einzelgewitter, ent-
standen sein; doch ist die Vorstellung eines einheitlichen Gewittergottes
vielleicht auch primär, da sie fast überall sehr alt zu sein scheint.
Daher sind seine Attribute der Hammer, der rollende Wagen: Donner-
keil und Donner ; er fährt im Sturm, daß die Berge brechen und die Erde
flammt. Dies ist eine allgemeine Volksvorstellung bei Angelsachsen,
Schweden, noch jetzt bei den Dithmarschen : »Nu feert de Olde all wedder
da bawen un haut mit syn Ex (Axt, Hammer) anne Räd« x).
Dazu stimmt die interpretatio Romana: entweder Jupiter, weil dieser
den Blitz schleudert (daher erhält er den dies Jovis, englisch Thursday)
oder Herkules, wegen der ganzen Erscheinung und der Schlagwaffe. (Der
Herkules, der bei den Friesen seine »Säulen« hat2) und der, der einmal
bei den Germanen war und noch heute als Tapferster der Männer ge-
priesen wird3), sind nicht auf Thor zu beziehen.) Jupiter4): Thor
autem cum sceptro (Donnerkeil-Blitz) Jovem simulare videtur (Adam
von Bremen). Herkules5) liegt noch näher wegen Körperkraft, Tatenlust
und Eßlust!, Bekämpfung der Riesen und Ungeheuer, schließlich auch
wegen des moralistischen Anstrichs. So nennen ihn Inschriften der
batavischen Gardereiter in Rom 6) ; so finden wir ihn, in Einzelerscheinungen
oder nur durch Epitheta gekennzeichnet: als Hercules barbatus, magu-
sanus1), invictus. (Dagegen ist Hercules Saxanus römisch, nicht ger-
manisch)8). — Thor der Gewittergott ist vielleicht ursprünglich identisch
mit Fjörgynn9).
Der Hammer10) ist sein wichtigstes Attribut11), er heißt Mjblnir,
Zermalmer12). Der Name gehört wohl nicht mit Odins Speer Gungnir, Ring
Draupnir und Roß Sleipnir in dieselbe Kategorie der heroisierenden Waffen
taufe, da er schon in der Thrymskvida begegnet. Vielleicht darf man an
nehmen, daß dies der Name des Augenblicksgottes 13) oder des fetischistisch
verehrten Donnerkeils war; daß er nie sein Ziel verfehlt und14) nach
J) Mogk S. 357 nach Müllenhoff.
-) Germ. cap. 34; siehe o. S. 194. 3) Ebd. cap. 3.
4) Mogk S. 354, Meyer S. 348, Golther S. 243.
6) Mogk S. 355, Meyer S. 347, Golther S. 243.
6j Mogk S. 355.
7) Kauffmann, PBB. 15, 533, erinnert an Thors Sohn Magni.
8) Meyer ebd. 18, 106. 9) Siehe u.
10) Much, Himmelsgott, S. 231 f.
") Meyer S. 349; vgl. Golther S. 245. 262. 276.
12) Anders Mogk, I. F. 29, 110: der glänzende (Blitz).
13) Vgl. Keraunos: Usener, Rhein. Museum 60, 1 f .
14) Wie gewisse Waffen der Primitiven (Schurtz, Urgeschichte der Kultur,
S 335 f.), der Bumerang, mit denen ihn aber sonst zu vergleichen folkloristischer
Überschwang scheint!
§ 17. Hauptgötter. 283
dem Wurfe in die Hand des Wing-Thor, Schleuder-Thor, zurückkehrt,
konnte freilich auch dem göttlichen Werkzeug nachgerühmt werden x).
Ist aber die Thrymskvida, wie jetzt einige vermuten, jünger als man
sonst annahm, so würde der Name Mjölnir wohl nicht aus jener Gruppe
appellativischer Benennungen für göttliche Requisiten entfernt werden
dürfen.
Gegen die Altertümlichkeit der Thrymskvida sprechen allerdings zwei
Momente. Zunächst spielt Freyja hier eine Hauptrolle, eine Göttin, die wenigstens
ich erst für einen späten Gast am Asenhimmel halten möchte. Und zweitens —
ist das Gedicht von allem Anfang an für besonders altertümlich gehalten, von
Chamisso als Probe ältester germanischer Poesie übersetzt worden usw. Das
mag ein befremdendes Argument scheinen, ist aber ein sehr ernsthaftes. Immer
wieder kann man es beobachten, daß bei der Entdeckung neuer literarischer
Gebiete Stücke am meisten ins Auge fallen, die nicht zu den »echtesten« ge-
hören. Was galt den alten Sammlern alles als »rechtes Volkslied« ! Wie lange
war die Laokoongruppe das Muster antiker Skulptur! Und hat nicht sogar der
große Mabillon seine glänzende Urkundenlehre aus einem unechten Dokument
herausgesponnen? — Das ist nun keineswegs etwa ein »neckischer Zufall«,
sondern geht ganz natürlich zu : Nachahmer arbeiten die charakteristischen Züge,
wo sie sie richtig erkennen, übertrieben heraus und gelten deshalb späteren als
beste Vertreter der Art. Aus Macaulays »Lays of ancient Rome« läßt sich
weniger der Ton alter historischer Balladen erlernen, als die Vorstellung, die
Niebuhr und seine Schüler von diesen hegten. Und so könnte auch die
Thrymskvida a) uns deshab besonders »echt« scheinen, weil sie Merkmale der
Altertümlichkeit in kunstvoller Häufung brächte!
»Einen so echten Rembrandt hat Rembrandt nie gemalt!«, urteilte ein feiner
Kunstkenner über eine Fälschung. — Aber archaisierende Gedichte sehen doch
anders aus.
Natürlich knüpfen spätere Sagen besitzerklärender Art an ; der Hammer
ist Arbeit der Zwerge8) und zwar trotz Wodans Draupnir und Freys
Gullinbursti die vortrefflichste; nur der Handgriff sei etwas kurz, aber
dafür könne man ihn unter dem Rock verborgen tragen4) — das plötz-
liche Aufzucken des Blitzes etwas schneidermäßig symbolisiert. Der Zu-
sammenhang mit Zeus' Doppelbeil 5) scheint abzulehnen. Der Donnerkeil
ist in der ganzen Welt ein beliebter Fetisch; er wird zur Waffe um-
geformt. Als Doppelaxt erscheint er in der Dichtung nie: es ist eine
Keule mit kurzem Griff, glühender Stahl, auch feurige Axt bei den Angel-
sachsen benannt6), ursprünglich aber ein steinerner Hammer.
*) Über den Donnerkeil: Andree, Ethnograph. Parallelen 2, 30 f. In Birma
nimmt das Volk an, daß der in den Boden einschlagende Blitzstrahl sich wieder
in die Höhe arbeitet: S. 37.
2) Für die freilich sogar Neckel (Eddaforschungen S. 51) hohes Alter zugibt
s) v. d. Leyen S, 58, Mogk S. 351.
4) Skäldsk. cap. 3: Gering S. 366.
5) S. Müller, Urgeschichte Europas, S. 151; vgl. o. S. 71.
6) Golther S. 245.
284 Viertes Kapitel.
Thor braucht die Eisenhandschuhe, um den glühenden Hammer
anzufassen 1). In Wirklichkeit sind sie vielleicht nur aus irgendeiner Dichter-
stelle gefolgert, wo von Thors eiserner Faust (oder »eisengepanzerter
Faust«) die Rede war. Es ist aber zuzugeben, daß der Handschuh in
Thors Mythenkreis eine Rolle spielt: im Handschuhdaumen Skrymirs
steckt er2).
Der Kraftgürtel verdoppelt die Asenkraft8). Eigentlich ist sie
vielmehr in ihm nur zum Teil deponiert, weil er sonst zu stark wäre
(vgl. die Erzählungen von Kämpfen mit gebundenem Arm, oder die Sieben-
meilenstiefel, die den Peter Schlemihl erst zu rasch davonjagen). Der
Gürtel ist also eine Art Sparbüchse der göttlichen Kraft, gerade wie
Aphrodites Schönheitsgürtel auch. Wird der Gott gereizt, so fährt er in
seine Asenkraft: er tut den Stärkegürtel an — ein mythologischer Aus-
druck für die Verdoppelung der Kraft durch die Wut, die die Irländer4)
bizarr physiognomisch ausdrücken5).
Sein Wagen ist kein Seh iffs wagen , wie Ing- Freys, sondern ein
solider Bauernwagen, ein plaustrum, mit knirschenden Rädern, der die
Berge dröhnen läßt6). Vor den Wagen sind Böcke gespannt, deren
Namen Tanngniost und Tanngrisnir, Zahnknisterer und Zahnknirscher 7)
wir wieder für gelehrte Erfindung halten8); in der Thrymskvida 9) heißen sie
einfach die gehörnten Böcke, die schnellen Renner. Sie repräsentieren
wohl einfach, wie bei Pushan, die Landwirtschaft; denn einen Ochsen-
J) Gylf. cap. 21: Gering S. 316, Golther S. 262.
2) Gylf. cap. 45: Gering S. 336 — Lok. Str. 60; vgl. auch die Schelle mit
dem Lederschuh: Härb. Str. 35. Im Mythus kommen sie nur bei Thors Höllen-
fahrt (Skäldsk. cap. 2: Gering S. 363; vgl. u.) vor, nicht notwendig in ursprüng-
licher Form.
3) Gylf. a. a. O.
4) Olrik, Nord. Geistesleben, S. 81; vgl. 139.
5) Solche Vorstellung von der »Asenkraft« ist weit verbreitet. So bei der
jüdischen Sekte der Chassidim ganz primitiv formuliert: »Und er versammelte
seine Kraft und holte sie aus allen Dingen, denen sie gegeben war, und band
sein Leben los von allen Wesen und Mächten« (M. Bub er, Das Rufen : Neue
Deutsche Rundschau, Juni 1907, S. 727). »Wenn der Zulu einen verlorenen
Gegenstand nicht finden kann, nimmt er Zuflucht zur inneren Eingebung und
bemüht sich zu fühlen, wo der Gegenstand steht. Fast alle wilden Völker kennen
diesen Akt des unbedingten Willens; sie nennen das ,die Tore der Entfernung
öffnen*. Es ist eine unbewußte Gehirntätigkeit, die an Ekstase grenzt« (L. Deubner,
Arch. f. Rel.-Wissensch. 9, 461). So haben wir uns Odins Konzentration bei der
Runenfindung vorzustellen; und was er mit geistiger Kraft leistet, tut Thor, wie
immer, mit körperlicher.
6) Lok. Str. 55; vgl. Thrymskv. Str. 21.
7) Gylf. cap. 21: Gering S. 316.
8) Anders Mogk S. 357, der sie auf den zackigen Blitz bezieht.
») Str. 21.
§ 17. Hauptgötter. 285
wagen könnte man dem raschen Polterer doch nicht geben ! Auch die
Bauernbraut im Hochzeitswagen x) trägt ein Kleid von Ziegenfell. — An
die erotische Bedeutung des Bocks (wie bei Lokis Spiel vor Skadi) ist
bei unserem tugendhaftesten Gott nicht zu denken; eher könnte noch die
Ähnlichkeit der roten Barte nachgeholfen haben. Mit der Freude des
Bauern an schönem Vieh hat man ihre Hörner mit Silber bedeckt2) wie
der Riese Thrym und der Bauer Renner es taten3).
Auch werden diese Böcke ein Lieblingsgegenstand der volkstümlichen
Phantasie. Der Gott lebt von ihnen, indem er sie schlachtet und wieder-
belebt4), woran sich weitere Fabeln knüpfen5). Vorbild ist wohl der
Eber, den die Einherier nie fertig bekommen6), und beidemale wurzelt
die Vorstellung in einem kräftigen natürlichen Bauernwunsch: ach wenn
doch dies Tier nie ein Ende nähme! — Natürlich läßt sich auch jeder
Bock oder Eber, der wieder lebendig wird, naturmythologisch erklären7).
Als sein Zeichen dient, wie für Odin das des Speers, das Hammer-
zeichen oder Hakenkreuz 8), das leicht zu Verwechslungen mit dem christ-
lichen Kreuz führen konnte9). Im Norden werden Waffen, Geräte,
Schmucksachen — Grabsteine, Urnen — Zauberringe (wie der runen-
tragende von Körlin), Speerspitzen 10) — Hausmarken damit signiert. Ein
Nephritbeil wird als Donnerkeil unter die Dachsparren gesteckt: Thor ist11)
besonders der Weihegott.
Seine Erscheinung12) ist »von großem Wüchse, schönem Antlitz,
jung, hier und da barsch, überall aber mit rotem (flammendem) Bart«:
ein schöner junger Bauer. — Der Bart wird besonders betont als Zeichen
des kräftigen freien Mannes, daher der Hercules barbatus einer römischen
Inschrift — man denkt an die mohamedanische Gewohnheit, beim Barte
des Propheten zu schwören. Eben dahin gehört das flatternde Haar;
auch der Bauer der Rig. 13) trägt Bart und eine Locke vor der Stirn — die
berühmte »Schwedenlocke«, die noch Gustav Adolf trägt?
Dazu stimmen seine Namen 14): Donar (wozu keltisch Tanaros), der
Donnerer ; Vingnir Schwinger (des Hammers), Reidartyr Oekuthor
!) Rig. Str. 21. 2) Mogk S. 356.
3) Wein hold, Altnord. Leben, S. 40.
4) Golther S. 276.
5) Gylf. cap. 44: Gering S. 334.
6) Grim. Str. 18; Gylf. cap. 38: Gering S. 329.
7) Falk (Ark. f. nord; Fil. 5 [NF. 1] S. 259 Anm.) vermutet, daß auch der
Bär dem Thor heilig war; er wird auch selbst so genannt.
8) Meyer S. 356.
9) Gobi et d'Alviella, Migration des symboles, S. 22.
10) Sgdr. Str. 17. «) Siehe u.
12) Mogk S. 356. 13) Str. 15.
14) Meyer S. 248, Golther S. 243.
286 Viertes Kapitel.
Vagnaverr : Wagen- oder Fahrgott (er reitet nie); Hlorridi »der brütende
Wetterer« *). Sie ergeben nicht, wie bei Wodan, eine vervielfachte Tätig-
keit, sondern eine bestimmte Konzentration; ebenso die skaldischen Be-
nennungen 2). Er hat weniger heiti (eingliedrige Benennungen) als Odin,
aber fast noch mehr kenningar (umschreibende Benennungen).
Sein Heim3) heißt Thrudheim oder Thrudvang, Heim oder Feld
der Stärke, wie er Thrudvaldr , der Hammer Thrudhamar heißt. In
diesem Land steht die Halle Büskirnir 4), über deren Unechtheit wir uns
schon ausgesprochen haben5). — Übrigens ist er selten zu Haus; und
wenn er (wie in Alv.) zurückkommt, wird sein Heim nicht genannt.
Seine Funktionen geben ein einheitliches Bild:
Der Gewittergott ist höchstens noch daran zu erkennen, daß er
guten Fahrwind gibt, wenn das Gewitter die Luft gereinigt hat6); doch
wenden sich die Wikinger mit der Bitte um diese Gunst fast an alle
Götter.
Der Gewittergott ist Gott des Ackerbaus geworden. Sein Ver-
hältnis zu anderen Fruchtbarkeitsgöttern ist wohl ähnlich wie das Odins
zu anderen Göttern des Gedeihens aufzufassen: Frey macht die Erde
fruchtbar, Thor schützt die Landarbeit (vor den riesischen Feinden) —
doch Vollenden ist des Odin Werk.
Von hier aus wird er Gott der Bonden, der freien Bauern. Als
solcher empfängt er von den Schweden bei drohender Seuche Opfer, gibt
auch Heilquellen und Heilkräuter 7) : die Heilung des Bauernarztes gegen-
über der Zauberkur des gelehrten Arztes Odin. Besonders heilt er am
Donnerstag. — Er schützt den Hirten und das Vieh, macht den Boden
urbar, und seine Donnerkeile oder Julkuchen in Form hammerverzierter
Böcke machen das Saatkorn fruchtbar8).
Im Norden wird er zum Hauptgott des Volkes9); ein Kompromiß
vielleicht mehr noch der Priester als der Gläubigen bildet die offizielle
Dreizahl Thor — Odin— Frey 10), die also die alte Odin — Thor — Tyr ersetzt.
1) Mogk S. 357 nach Gering, Ztschr. f. d. Phil. 26, 25; vgl. Golther
S. 282, 1.
2) Golther S. 264.
8) Mogk S. 358, Golther S. 262.
4) Grim. Str. 24; Gylf. cap. 21: Gering S. 316.
B) Nach Noreen ist es eigentlich ein Name des aufleuchtenden Blitzes
und von dem »Herrn Bilskirnirs« hat die Halle den Namen durch Rückschluß
(Golther a. a. O. Anm. 2).
6) Meyer S. 358.
7) Meyer S. 357.
8) Ebd. S. 359.
9) Mogk S. 364, Meyer S. 360, Golther S. 247. 255.
10) Meyer S. 348.
§ 17. Hauptgötter. 287
Aber Thors Tag ist der höchste Feiertag im Norden *) , und auch in
Deutschland eifern die Geistlichen bis ins Hexenzeitalter hinein gegen den
Donnerstag als Festtag »und eigenartige heidnische Festgebräuche hafteten
bis heut namentlich am Donnerstag, Gründonnerstag, Himmelfahrts-
donnerstag und an den Adventsdonnerstagen«2).
Von dieser Stellung scheinen weitere Funktionen auszustrahlen. Uralt
ist Thors Amt zu weihen3), d. h. Handlungen rechtsgültig zu machen,
besonders die Ehe, weshalb er Veor% der »Weihende«, heißt. Doch könnte
diese Funktion auch noch unmittelbar von dem Donnergott stammen,
der durch Donnerschlag weiht (vgl. noch die große Prüfungsszene in
Schillers Jungfrau von Orleans).
Er wird durch den Hammer vertreten (wie Christus durch das Kreuz) :
der Hammer wird dem Brautpaar in den Schoß gelegt5). Er ist, wie
auch sonst, der göttliche Gode, der himmlische Gemeindevorsteher der
Freien, wie Odin der Fürst. So soll er schon auf dem Virringstein in
Jütland ein Grabmal, auf dem Glavendrupstein in Fünen Runen weihen,
d. h. untadlig machen 6). Das sind Funktionen des Goden, des halbpriester-
lichen Gemeindevorstandes: er legitimiert, unterschreibt gleichsam, indem
er im Blitz herabsteigt 7). — Auch Balders Scheiterhaufen wird 8) mit Thors
Hammer geweiht.
Aus der »Goden -Funktion« geht weiter hervor Thors Tätigkeit als
Gerichtsleiter, während die analoge Stellung Tyrs aus seinem Amt
als Gott der Heergemeinde zu resultieren scheint. Der Donnerstag ist
wie der beliebteste Tag für Hochzeiten, so auch für Gerichtstage der an-
gezeigte Tag9): »am Donnerstag werden die wichtigsten nordischen Thinge
eröffnet; zum isländischen Althing hatten alle Goden in der Donnerstags-
nacht vor Sonnenaufgang sich einzustellen. Das norwegische Frostuthing
fand im berühmten Thorstempel zu Moeri statt«. Thor ist insbesondere
auch der Schutzherr der Landnahme (wie vielleicht ursprünglich auf See-
land Gefjon dieser gebietet)10): »wo die mit seinem Bild beritzten Holz-
schnitzpfeiler, die der Ankömmling angesichts der isländischen Küste über
Bord warf, antrieben, da umlief derselbe mit dem Thorsbilde oder mit
J) Meyer S. 360.
2) Ebd.
3) Meyer S. 359, Golther S. 251 ; über den Begriff vgl. o. S. 53.
4) Thrymskv. 30, Hym. 11.
5) Thrymskv. 30; soll man an phallische Bedeutung denken?
6) Golther S. 251, 2.
7) Usener, Keraunos.
3) Gylf. cap. 49: Gering S. 345.
9) Meyer S. 359.
10) Siehe o. S. 276.
288 Viertes Kapitel.
Feuer das Land, um es zu seinem Eigen zu weihen«1): da spricht also
Thor als Gerichtsherr herrenloses Land dem Bewerber zu2).
Deshalb ist er auch Herr der Strafe8): auf dem Thorstein wird dem
Verbrecher der Rücken gebrochen. Und so hilft er auch den " Bösewicht
ermitteln, wenn Zaubernägel, die auf Island in den Kopf eines Thor-
hammers geschlagen werden, dem Dieb ins Auge dringen sollen. — Auch
bei der Götterdämmerung (wie am Schluß der Lokasenna) ruht der Straf-
vollzug in seinen starken Händen.
Endlich wird Thor auch, wie jeder Schutzgott, Schlachtpatron.
Mit Herkulesliedern ziehen die Deutschen in die Schlacht, die Normannen
mit dem Ruf ,Tur aie\ Thor helfe4). — So kann er auch auf dem
Schlachtfeld mit Odin in Konflikt geraten, wie wenn Styrbjörn gegen
den schwedischen König Eirik vor der Schlacht bei Fyrisvellir ihn anruft;
aber Odin, dem sich Eirik angelobte, war stärker5).
Auch Thors Kult6) ist zunächst an heilige Bäume geknüpft; etwa
an solche, in die der Blitz eingeschlagen hatte? Bonifatius fällt um 730
bei Geismar in Hessen eine arbor Jovis : nach der herrschenden Meinung
eine dem Thor heilige Eiche7). Ebenso werden ihm dann auch ganze
Haine und Wälder geweiht: »jenseits der Weser, d. i. an ihrem öst-
lichen Ufer, befand sich ein dem Herkules geweihter Wald, in dem
Arminius die Bundesgenossen gegen Germanicus zusammenscharte« 8).
Allmählich werden die Haine wieder durch T e m p e 1 ersetzt 9). Viele
sind in Schweden, in Norwegen nachzuweisen; eine seiner heiligsten
Stätten liegt dort zu Moeri im Drontheimschen, wo der Frostuthing statt-
fand, andere in den Bezirken von Akershus, Hedemarken, Stavanger,
Bergenhus. Ebenso auf Island10); den ersten hat Thor selbst bestimmt * x),
wie das christliche Heilige auch so häufig tun.
Im Tempel steht sein Bild12); so in Moeri auf dem mit Böcken be-
spannten Wagen; im norwegischen Gudbrandsdal mit dem Hammer in
der Hand, mit Gold und Silber geschmückt, und täglich mit vier Broten
J) Ebd.
2) Das Landnämabok nennt von allen Gottheiten nur ihn : T h ü m m e I ,
PBB. 35, 95.
3) Ebd. S. 360.
*) Doch vgl. Golthers kritische Bedenken S. 253, 2.
R) Meyer S. 358, Golther S. 254.
6) Meyer S. 355 f.
7) Ebd.; Mogk S. 356.
8) Mogk S, 355 nach Tac. Ann. cap. 12.
9) Mogk S. 356, Meyer S. 358, Golther S. 247. 255.
10) Aufzählung bei Thümmel, PBB. 35, 95.
n) Golther S. 248, Meyer S. 358, Mogk S. 356.
12) Vgl. o.; Golther S. 255, Mogk S. 356.
§ 17. Hauptgötter. 289
und Fleisch bewirtet. Vier ist eine altertümliche Zahl, sonst aber nicht mit
heiligen Dingen verbunden)1), außer in komischer Verwendung; so auch
Thrymskv. 24, wo er mit Überbietung seiner heiligen Zahl acht Lachse ver-
zehrt; auch in Gudbrands Tempel läßt er nie etwas von den Opferspeisen
übrig2). — Er steht aber natürlich auch in Kollektivtempeln, so in Alt-
uppsala, und oft als mest hgnadr, der am meisten verehrte. So eben
dort 8) : Thor praestdet in aere, qui tonitrus et fulmina . . . gubernat
(Adam von Bremen); im Gudbrandsdal, mit dem Schwurring am Finger,
zwischen Thorgerd und Irpa4).
Wir besitzen frühe Thorsbilder auf Felsen und sonst, Darstellungen
von Opfern vor Thor, vielleicht auch schon aus der Thorsepik5); ebenso
frühe lappische Bilder des Gottes6). — Diese Thorsbilder werden ver-
kleinert als Amulet getragen, so ein aus Zahn geschnitztes im Beutel des
Skalden Halfred 7). Symbolisch tun Hammeramulette 8) denselben Dienst 9) ;
das Hammerzeichen wird als Segnen, dem Bekreuzigen analog emp-
funden 10).
Vor den Bildern und Bäumen werden ihm Opfer gebracht11). Bei
den Normannen sind Menschenopfer bezeugt, mit Prophezeiung aus
den zuckenden Herzen 12) verbunden13); die Kämpfer heiligen sich, indem
sie das Gesicht mit dem Opferblut beschmieren, wie sonst die Tempel-
säulen blutig gemalt werden 14). Sonst sind es vorzugsweise Opfergaben,
die dem Ackerbaugott zukommen : Brot und Fleisch, Rinder und Rosse 15).
Auch Tempelgaben werden dargebracht wie die ihm und Wodan ge-
weihte (?) Nordendorfer Spange aus dem siebenten Jahrhundert16).
Das Opfer wird wieder symbolisch durch Zutrinken angedeutet17).
Bei der Hochzeit gebührt dem Thor der erste Becher; bei Gelagen teilt
er die Ehre mit Odin (und anderen Äsen). So wird denn auch besonders
J) Meine Altgerm. Poesie S. 83.
2) Golther S. 254.
3) Mogk S. 356.
4) Golther S. 482, Meyer S. 273.
5) Rosenberg, Nordboernes handsliv 1, 45.
6) Krohn, Finnisch-ugrische Forschungen, S. 164.
7) Golther S. 247, 3; ebd. über Thorsbilder überhaupt.
8) Ebd. S. 252.
9) Mogk S. 364.
,0) Ebd. S. 357.
ll) Meyer S. 355. 357; Golther S. 245. 253.
2) Wie bei den Azteken? Vgl. Högni und Budli Akv. 22—24.
L3) Golther S. 253.
I4) Ebd. S. 254.
5) Über die Grütze Härb. Str. 3; vgl. o. S. 279.
J) Vgl. Golther S. 245, 3.
l7) Golther S. 252. 254.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 19
290 Viertes Kapitel
das Trinkhorn mit dem Hammerzeichen geweiht, das dann mit dem
Kreuzeszeichen verwechselt wird.
Dem Orakeldienst dienen auch Blitz und Donner1); zu einer
regelrechten Lehre von diesen Orakeln, wie die Etrusker sie den Römern
vererbt haben, ist es aber nicht gekommen.
Am nachhaltigsten zeigt die Macht des Thorkultes sich in der lange
festgehaltenen Feier des Donnerstages2). In der alten Zeit besaß Thor
aber auch, wie Frey und Odin, große Opferfeste an bestimmten
Zeiten 3), besonders im Mai, vielleicht auch die etwas später fallende Hagel-
feier. Dagegen hat er an den drei großen Opfern nicht (wie Odin, Frey,
Tyr) Anteil4): diese Regulierung muß älter sein als sein Aufsteigen zum
nordischen Volksgott.
Der Thorsdienst stellt, wie nur noch der Odinsdienst, im Norden
eine wirkliche Religion dar. Typus des Thorverehrers ist jener
Thorolf5), der auf den Rat seines Freundes Thor nach Island fährt und
ihm dort sofort die Stätte heiligt. Die Thorverehrer benennen ihre Kinder
nach ihm6): »in den Namen der fast 4000 Personen, welche die Land-
näma aufzählt, kommen Thor 980 mal, Frey 4 mal, andere Gottheiten über-
haupt nicht vor«7); es heißt also etwa der vierte Isländer nach ihm!
Ebenso werden Örtlichkeiten nach Thor benannt, doch gehören ihm nicht
alle Donnersberge, -brunnen, -hügel8).
Das glänzende Denkmal dieser einseitigen Thorverehrung scheint mir
die eddische Lo käsen na — eine Auffassung, die mir so nahe zu liegen
scheint, daß ich stolz darauf bin, sie meines Wissens zuerst auszusprechen.
Das Gedicht ist in vergrößertem Maßstab nach dem gleichen Schema an-
gelegt wie der Wodans Preis dienende Merseburger Spruch: alle Gott-
heiten versuchen, was nur »Unser Gott« vollbringen kann. Loki ist in
die Halle eingedrungen, in der die Götter tafeln9); niemand weiß ihm
gegenüber zu bestehen. Denn alle sind sie sich eigener Schuld und Schande
bewußt, die Loki vornimmt: die neuen Modegottheiten der Dichter, Bragi
und Idun, vielleicht auch Gefjon; die alten Hauptgottheiten, Odin, Frigg»
Freyja, Njörd, Tyr, Frey. Aber dann erscheint, wie in Bürgers ähnlich
angelegter christlicher Chronique scandaleuse »Frau Schnips« (die wieder
x) Meyer S. 360.
2) Mogk S. 356.
s) Meyer S. 361, Mogk S. 355.
*) Vgl. Meyer S. 361.
5) Mogk S. 356, Golther S. 248, Meyer S. 348.
6) Meyer a. a. O., Golther S. 248. 251. 264.
7) Thümmel, PBB. 35, 96.
8) Mogk S. 355 gegen Meyer S. 355.
9) Über den Mythus, denn einen solchen nehme ich an, vgl. u.
§ 17. Hauptgötter. 291
an Hayneccius' »Meister Pfriem« aus der Reformationszeit ein älteres
Vorbild hat) Christus, so hier Thor. Wohl ist auch er nicht ohne Fehl:
die Schlappe bei Skrymir muß sein Verehrer gestehen1). Aber von der
Feigheit und der Unsittlichkeit, die der Thorsdiener wie ein christlicher
Priester der übrigen Walhalla vorwerfen kann, ist er rein; begeistert wie
Hippolytos zu dem Bilde der Artemis wendet sich der Dichter zu diesem Bild
der Reinheit und Kraft. Und Loki weicht: dieser weiß zu kämpfen2)! —
Es wäre nicht unmöglich3), daß sogar4) liturgische Formeln des Thorritus
in dieser Aristeia des Donnerers bewahrt wären, der der Odinfreundliche
Sammler der Edda freilich das Härbardslied als Gegengewicht anhing!
Eine so tief in der Volksanschauung wurzelnde Persönlichkeit lebt
natürlich auch in der Volkssage fort, und zwar lange: christliche Heilige
beerben ihn, besonders im Norden der Nationalheilige Olaf5), gelegentlich
auch Petrus6), mit dem er das rauhe Wesen und das rasche Zuschlagen
gemein hat 7). Wir dürfen deshalb die reiche S a g e n b i 1 d u n g , die sich
an seinen Namen knüpft, großenteils für echt volkstümlich halten; freilich
aber wird eine solche Gestalt auch die mythologische Phantasie des is-
ländischen Gelehrten angeregt haben, so gut wie die Odins die eines
Saxo 8) !
Diese Sagen beziehen sich überwiegend auf Thors Fahrten und
Riesen kämpfe. Er ist immer unterwegs, wie der Herr eines großen
Unternehmens; wie der Inspektor eines ausgedehnten Gutes immer in
Bewegung. Diese Tätigkeit wird ganz realistisch angeschaut, daher auch
(wie bei Herakles) seine charakteristische Eßlust9).
Auf seinen Fahrten begleitet ihn oft Thjälfi, vielleicht10) »der
Arbeiter« — eine Personifikation des Blitzes11)?, wenn er nicht eben ein-
fach der Diener und Gefolgsmann des Gottes ist, wie Frey und Frigg
solche Boten und Botinnen bei sich haben; eine frühe Hypostase Thors
könnte er freilich deshalb so gut sein wie Skirnir eine solche Freys. Daß
x) Die Str. 60 und 62 sind wohl Doubletten; selbst die stärkere Str. 60
— etwa von einem Gegner Thors eingelegt? — braucht man nur mit Härb.
Str. 26 zu vergleichen, um zu erkennen, wie hier alles für Thor gestimmt ist!
2) Str. 64. 3) Vgl. u. 4) Str. 55.
5) Meyer S. 361, Mogk S. 361.
6) Meyer S. 232.
7) Ev. Marc. 14, 47, Luc. 22, 50, Matt. 26, 51 nach Ev. Joh. 18, 10 auf Petrus
zu beziehen; Vol. Str. 26: »Nur Thor schlug zu voll trotz'gen Mutes — selten
sitzt er, wenn er solches vernimmt. &
8) v. d. Leyen (Sagenbuch S. 160) sieht viel zu viel Hohn der Dichter in
diesen gemütlichen Scherzlegenden.
9) Mogk S. 357: Thrymskv. Str. 24—25.
10) Uhland 6, 33.
n) Mogk S. 358; Much, Himmelsgott, S. 234.
19*
292 Viertes Kapitel.
die Figur alt ist, macht Olrik1) aus lappischen Mythen, die sich auf
den — von den Germanen entlehnten — Thor beziehen, wahrscheinlich ;
er kommt2) auch in Schweden vor3).
Olrik ist4) geneigt, auch Thjälfis Schwester Röskwa für alt zu halten,
als eine Fruchtgöttin, wie Fauna; doch gesteht er selbst die geringe Be-
glaubigung ein.
Auch Loki begleitet ihn gern; als Feuer?, als einfacher untergeordneter
Dämon5) oder aus jenem Behagen der Legendenerzählung heraus, das
Kraft und Schlauheit so gern kontrastiert6)? Auf jeden Fall wird man
gerade bei diesen liebevoll ausgesponnenen Erzählungen der frei er-
findenden Phantasie einiges Recht zugestehen müssen und nicht jede
Einzelheit (wie besonders Uhland tat) als mythologisch gebunden ansehen
dürfen.
Die Riesenkämpfe zeigen ihn als Wohltäter, der böse Dämonen ver-
scheucht7), wie Herakles und Theseus auf ihren Streifereien tun; auch sie
sind aber nicht alle ins Einzelne auszudeuten8). Man denke doch nur
an das höfische Epos des Mittelalters: aus den unumgänglichen Voraus-
setzungen der Erzählungskunst ergeben sich auch da Kontrastfiguren wie
der feige Keii, wie der betrügerische Drachentöter im Tristan, oder wie
anderseits die tölpelhaften Riesen, Wate, Ilsant. Auch dort streift der Held
durch die Welt, um edle Taten zu verrichten, tötet Drachen, befreit Jung-
frauen, wird von Zauberern genarrt. So gewiß diese Motive sich an der
Quelle der Mythologie nähren, so gewiß sind sie doch an sich dem Epos
unentbehrlich, und Goethe hat nicht lauter einzelne Allegorien im Sinn,
wenn er in seinem »Neuen Amadis« die Kinderträume schildert: »und
ich ward ein warmer Held .... und durchzog die Welt; warf mein
blinkendes Geschoß Drachen durch den Bauch .... Ritterlich befreit* ich
dann die Prinzessin Fisch ......
Vielleicht die älteste Tat Thors ist die Tötung des Thiäzi9). Thiäzi
ist nach Hellquist10) ein Kurzname, der einem mächtigen Sturmriesen
*) Danske Studier 2, 129; vgl. 3, 65.
2) Ebd. 2, 136.
3) Vergleichbar ist vielleicht der indische Matarisvan (Macdon eil S. 71),
der Bote und Diener Vivasvants, doch auch zu Agni in nahen Beziehungen; er
ist wohl sicher der Blitz (S. 72).
4) a. a. O. S. 137.
6) Vgl. Olrik, Danske Studier 1905, S. 140f.; bes. S. 145; hier auch ent-
lehnte Mythen der Esthen.
6) Vgl. Mogk S. 358.
7) Mogk S. 360.
8) Golther S. 265f.
9) Golther S. 2. 449, Mogk S. 350, Meyer S. 229 f.
10) Ark. f. nord. Fil. 21, 132f.
§ 17. Hauptgötter. 293
Alvaldi der Allgewaltige beigelegt wurde; später machte man ihn zu
dessen Sohn. Ein Sturmdämon wird es wohl sein, den der Donnergott
bändigt: dahin weist auch die Adlergestalt und die Entführung in der
(im übrigen, wie schon die Verbindung mit Odin zeigt, stark überarbeiteten)
Sage der Bragaroedur *). Die älteren Quellen melden, daß Thor »der erste
und letzte bei einem (gemeinschaftlichen) Angriff anf Thjäzi war2); daß
er den trotzigen Riesen, Alvaldis Sohn, erschlug und seine Augen an den
Himmel warf3); daß er böse war4); ferner übereinstimmend, daß Thjäzi
der Vater der Skadi war, die seinen Tod rächen wollte. (Deshalb machen
die Grim. Str. 11 Thjäzi zum Vorbesitzer von Skadis Burg Thrymheim,
obwohl solche Immobilienerbschaft an Töchter problematisch ist.)
Altertümlich sind zwei Züge: die Bildung des Sternbildes5) und der
gemeinschaftliche Angriff (wie er Brag. auch geschildert wird). Aber auch
die ganze Art, wie von dem Abenteuer gesprochen wird, scheint einen
alten, uralten Mythus vorauszusetzen, auf den man sich gern Anspielungen
erlaubte. — Nun ist in Brag. das von der isländischen Freude an Bränden
diktierte abscheuliche Verbrennen des Adlers gewiß jung — alt aber wohl
daß Thjäzi innerhalb des Gitters von Asgard« fiel. Dies also war wohl
die Urform : ein gewaltiger Riese bricht in die Götterburg ein (und raubt
eine Göttin? vgl. Thryms Begehr nach Freyja). Die Hauptgötter greifen
ihn nun an — aber dann schlägt Thor trotzigen Mutes zu6) und wirft
als Zeichen des Triumphes die Augen des Riesen an den Himmel. Es
wäre die älteste Form des Provokationsmythus7) und später (durch
Skadi -Njörd) mit dem Wanenkrieg verbunden. — Diese Tat Thors ist
dann sein Haupttitel, Sieg und Rettung zugleich; wie Indra der Töter
Vritras, Apollon der des Python, wie die Acvinen die Retter Bhujyns, ist
er der Besieger Thjäzis.
Alt und mythisch scheint auch die Legende von Aurvandil8):
Thor trägt den Riesen Unverzagt über die Eiswogen von dem kalten
Riesenland im Nordosten her. Diesem erfriert ein Zeh, der aus dem
Korb hervorgeblickt hatte; der Gott bricht ihn ab und wirft ihn an den
Himmel, so daß »Aurvandils Zeh« ein Sternbild wird: der Name Aurvandil
wird mit sanskrit usra, lateinisch aurora zusammengebracht9).
2) Brag. cap. 2: Gering S. 353. 2) Lok. Str. 50.
3) Härb. Str. 19. 4) Hyndl. Str. 31, d. h. Vol. h. sk.
5) Vgl. u. zu Aurvandils Zeh; über solche »Verstirnung< allgemein H. Schmidt ,
IJona, Göttingen 1907, S. 63.
6) Vol. Str. 26.
7) Siehe u.; eine altgriechische Analogie bei Bethe, Hektors Abschied,
Leipzig 1909, S. 428 f.
8) Golther S. 269, Mogk S. 360.
9) Auch Mogk (Sammlung Göschen S. 69) hält ihn für einen etymologischen
Mythus aus dem Namen des Morgensterns, angelsächsisch earendel.
294 Viertes Kapitel.
Soweit mag der Mythus noch auf den ursprünglichen Gewittergott
zurückgehen, der den dunklen Himmel reinigt und, indem er von Nord-
osten dahergefahren kommt, die Sternbilder wieder sichtbar macht. Aur-
vandil wäre dann ein alter Helligkeitsdämon, wozu die sehnsüchtige Er-
wartung seiner Göttin Gröa1) recht wohl ^passen würde, ebenso auch die
selbständigen Legenden, die Saxo2) von dem Kampf des Horvendillus
gegen den norwegischen König Coli erus, »die personifizierte Kälte« 3) aus-
zuf echten hat, und vielleicht doch auch ein Kern der mittelhochdeutschen
Orendelsagen.
Für die Form dieses Mythus ist zu bemerken, daß Legenden vom
tragenden Gott oder Heros typisch sind. Abgesehen von dem Typus des
umklammernden, quälenden Alps (Sindbadtypus) haben wir einerseits den
ruhenden Träger (Atlas), anderseits den schreitenden (Christophorus). Dies
Bild wird ausgeschmückt, indem der Träger allerlei stützende Grundlagen
unter die Füße erhält (er steht auf der Schildkröte usw.), der Schreitende
dagegen durch Unterschieben unter die Last erleichtert wird4). In dieser
Weise, denke ich mir, ist der Gewittergott, der den Morgenstern (?) über
die dunklen (Himmels-)Wogen herüberträgt, zu seinem Tragekorb ge-
kommen.
Doch ist der ursprüngliche Mythus Aurvandils nicht zu rekonstruieren.
Es kann sich um das Schema der »relativen Unverwundbarkeit« handeln :
das Gotteskind wird durch die Kälte getragen, nur der Zeh erfriert, wie
etwa bei den sieben Rabenbrüdern ein Arm als Rabenflügel »unerlöst«
bleibt. Doch scheint es mir wahrscheinlicher, daß ursprünglich ein Kampf
zwischen dem Götterdämon und dem Frostriesen vorliegt, dem Thor dann
eine Zehe abbricht (wie Grendel den Arm, Tyr die Hand verliert), um
sie als Trophäe an den Himmel zu werfen. Zumal Hrungnirs Fuß5)
erinnert stark an Aurvandils Zehe. So droht auch6) Thor dem Loki, er
werde ihn »aufwärts gen Osten« schleudern, wo keine Seele ihn mehr
sehen werde. Ebenso sollen Burs Söhne Ymirs Gehirn an den Himmel
geschleudert haben 7). — Also eine Dublette zu dem andern alten Mythus :
Thor wirft Thjäzis Augen als Gestirn zum Himmel8).
J) Skäldsk. cap. 1: Gering S. 360.
2) 1, 135f.
*) Mogk a. a. O.
4) Das Kissen des Herakles (Prell er 2, 220); vgl. die breit auslagernden
Säulenkapitelle.
6) Siehe u.
6) Lok. Str. 59.
7) Gylf. cap. 8: Gering S. 303.
8) Härb. Str. 19. Das Schleudern an den Himmelsraum als triumphierendes
Vernichten des Gegners ist wohl die ältere Form für das spätere Versetzen an
den Himmelsraum <, wie bei der Oriongruppe (Prell er 1, 466).
§ 17. Hauptgötter. 295
Wie die Geschichte von Hrungnir1) bei Snorri2) vorliegt, ist sie
offenbar ein Konglomerat verschiedener Mythen. Wir können zunächst aus
Anspielungen der Edda feststellen, daß (erstens) Thor Hrungnir getötet
hat3) und zwar (zweitens) mit dem Hammer4), weil (drittens) Hrungnir ein
Riese5) mit steinernem Haupt6) war. Alles Übrige bleibt hypothetisch.
Doch lassen sich aus Snorris Erzählung etwa folgende Elemente aus-
sondern 7) :
Es scheint eine alte Legende gegeben zu haben, wie der aufs Höchste
gestiegene Übermut der Giganten die Götter in ihrem eigenen Heim
herausforderte. Hiervon haben wir drei Lesarten:
1. Thjäzi (raubt eine Göttin? und) wird »innerhalb des Gitters von
Asgard« getötet — gewiß keine Erfindung Snorris!
2. Hrungnir kommt nach Asgard und droht Walhall nach Jötunheim
zu schaffen.
3. Loki kommt zu Ägirs Gastmahl und fordert alle Götter und
Göttinnen durch Hohnreden heraus.
Beiden letzteren Varianten ist gemein, a) daß der fremde Gast auf sein
Verlangen mit den Göttern zum Trinkgelage zugelassen wird, b) daß er
sie durch Spott reizt, c) daß die Rückkehr Thors der Frechheit des Zu-
dringlings ein Ende macht8). Beide dienten wohl ursprünglich als Vor-
spiele zur Götterdämmerung, mit der die Lok. ja noch jetzt Lokis Lästerungen
verbindet. Auf eine ins Einzelne gehende Ausarbeitung deutet, daß
beidemal eine Göttin 9) dem Fremden einzuschenken wagt und dafür (Lok.
zu Str. 52 Sif, Skäldsk. cap. 1 Sif und Freyja) ausgenommen wird von
der allgemeinen Verwünschung.
Alt ist gewiß auch jener Kampf mit Hrungnir dem Lärmer, dem
Vertreter riesischen Übermuts10), der wie ein Doppelgänger Thors
mit Kraft und Durst prahlt: wir werden dem Motiv der Herausforderung
Thors noch öfter begegnen. Es kommt zu einem Zweikampf, bei dem
Thor wohl auf den steinernen Kopf zunächst vergeblich schlug, bis
irgendein Zaubermittel angegeben ward (wie es bei der Tötung »gefrorener«
Zaubermenschen üblich ist). Dann stürzt er und würgt sterbend Thor
1) Golther S. 267 f., Mogk S. 361, Meyer S. 231.
2) Skäldsk. cap. 1: Gering S. 357.
3) Härb. Str. 14.
*) Lok. Str. 61.
5) Hym. Str. 16.
6) Härb. Str. 15.
7) Anders v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 179.
8) Vgl. auch Vol. Str. 23: Frage des Anteils am Opferschmaus, und cap. 26:
Thors Zuschlagen.
9) Lok. zu Str. 52 Syl, Skäldsk. cap. 1 Freyja.
10) Meyer a. a. O.
296 Viertes Kapitel.
mit seinem Fuß, bis dieser von dem Hals des Gottes heruntergeworfen —
und wohl an den Himmel geschleudert wird.
Dieser Kampf mit Hrungnir erinnert wohl an den mit Hymir in der
Betonung der rohen Unverwundbarkeit des Riesen; aber das charakte-
ristische Merkmal der Hymirlegende, das Holen des Kessels, fehlt, so daß
Hrungnir und Hymir nicht als Dubletten zu betrachten sind.
Diese beiden Mythen: von dem Herausforderer vor der Paradiespforte
und von dem Herausforderer Thors zum Zweikampf sind vielleicht erst
durch Hrungnirs Namen verbunden. Der Kampf zwischen Thor und
Hrungnir mag noch elementar zu deuten sein, zwar schwerlich als ein
Kampf zweier Gewitter1), denn jedes Gewitter gehört Thor; aber etwa
ais der Kampf des luftreinigenden Gewitters gegen böse Dämonen und
Dienste (Beowulf gegen Grendel). — Sie werden nun weiter mit der
Aurvandil-Legende verbunden: Thor erzählt diese der Gattin Aurvandils,
damit sie ihm einen Dienst leistet (oder zum Dank für ihren Dienst) —
und infolgedessen mißlingt Gröas Bemühung, und der verwundete Thor
bleibt ungeheilt! Das ist gegen alle mythologische Logik und kann in
dieser Form unmöglich ursprünglich sein.
Wir hätten soweit in Snorris Hrungnirbericht erstens den Kampf
zwischen Thor und Hrungnir (auch von Thjodolf von Hvin besungen);
zweitens damit verbundene, gleichfalls alte Mythen: die Herausforderung
der Götter, und Aurvandil. Dazu kommt weiter drittens eine Vorgeschichte,
die Hrungnirs Ankunft vor Asgard motiviert; vielleicht enthält sie in dem
Wettritt zwischen Odin und Hrungnir ein altes mythologisches Moment:
man denke an Beowulfs Wettschwimmen, an Thors Kraftproben ! Viertens
folgt eine Ausmalung des Zweikampfes. Da Thor seinen Thiälfi hat, erhält
auch Hrungnir seinen Sekundanten Mökkurkalfi : einen künstlichen Lehm-
riesen mit dem Herz einer Stute. Man deutet auch ihn elementar: der
umnebelt aus dem Lehmgrund aufragende Fels« 2) oder die Dünste des
feuchten Lehmbodens, die sich als Wasser niederschlagen. Ich möchte in
diesem Riesen, der vor Angst Wasser läßt (was Thor bei Fjalar nicht
wagt)3) nur ein komisches Gegenbild der Tapferkeit sehen und in seinem
Kampf eine jener beliebten alten komischen Kampfepisoden, wie die von
Jorcus und Zivelles. Oder sollte ein Götterspott der Thorverehrer auf
einen asischen Bundesgenossen dahinter stecken? Fünftens kommt dann
eine Ausmalung der Verwundung, bei der der märchenhafte fliegende Wetz-
stein, den Odin als Riesenknecht gebraucht4), noch einmal zur Ver-
wendung kommt; sechstens wird ein Mythus von dem riesenstarken
J) Meyer S. 231, der Jeremias Gotthelf heranzieht.
2) Golther S. 183.
3) Härb. Str. 27.
4) Brag. cap. 4 : G e r in g S. 356.
§ 17. Hauptgötter. 297
Götterknaben Magni (vgl. Herakles in der Wiege!) hineingeschmuggelt,
indem die Befreiung von dem Riesenfuß ihm zuerteilt wird.
Ungefähr so, scheint mir, wird Hrungnir bei genauerer Analyse seinen
Mythus behalten; wie Snorri die Erzählung gibt, ist sie selbst ein künst-
licher Lehmriese, aus mythischen Elementen, märchenhaftem Schmuck (das
steinerne Herz; der Wetzstein) und seltsamen Motivierungen künstlich
zusammengebacken. —
Eine ähnliche Lagerung verschiedener Schichten wird man wohl bei
einem der berühmtesten Thorabenteuer annehmen müssen: bei den Er-
lebnissen Thors in Utgard1). Ich war früher geneigt, die ganze
Geschichte für eine junge Fabel zu halten; aber es sind doch einige
Punkte, die das zweifelhaft machen.
Als wesentlich alter Kern scheint ein Mythus auszuschälen, wonach
Thor auf einer Fahrt sich vor, Riesen flüchten muß und zwar in den
Handschuh eines Riesen 2) ; weil Skrymir seinen Ranzen fest zugeschlossen
hatte, mußte der heißhungrigste der Götter hungern3). Auch die Finnen
erzählen, wie der Donnergott bei den Riesen eingesperrt und gefesselt,
dann aber durch einen seiner Knechte befreit ward4).
Vermutlich liegt einer jener Mythen vom gefangenen Gott vor,
wie bei Njörds Vergeiselung 5) oder in der Simsonsage. Man könnte
denken, daß sie als Gegenstück zu der von Hrungnir angelegt war: wie
dort der Riese seinen Bezirk verließ, um die Götter herauszufordern, so
mag hier Thor aus seiner Welt herausgegangen sein, um die Riesen (oder
den stärksten der Riesen) herauszufordern. Denn dies Motiv der Aus-
forderung zum Zweikampf6) scheint wesentlich; es ist vielleicht auch noch
für die Rahmenfabel der Vaf. benutzt (der Gott kommt zum Riesen und
ist dem Tod verfallen, wenn er in einer Wettprobe nicht siegt; ähnlich
umgekehrt wieder Alv.). Der Zweikampf war vermutlich ursprünglich
eben nur ein solcher und zwar um Kraft: Thor konnte den von dem
Riesen zugeschnürten Sack nicht öffnen usw. — Aher wie Mökkurkälfi
um des Thjälfi willen erfunden scheint, sind dann neue Kraftproben nötig,
als dieser und Loki Begleiter Thors geworden sind7). Nun werden
!) Golther S. 276f., Meyer S. 243f., Mogk S. 363. — Gylf. cap. 45f.:
Gering S. 335.
a) Lok. Str. 60, Härb. Str. 26.
3) Lok. Str. 62.
4) K. Krohn, Lappische Beitr. zur germ. Mythol., S. 166.
5) Vgl. Lok. Str. 34.
6) Vgl. Loki und Bragi Lok. Str. 15.
7) Eine Spur seiner ursprünglichen Einsamkeit zeigt vielleicht noch Gyif.
cap. 45, indem nur Thor herüberschwimmt, und seine Begleiter — hier noch
Röskwa — dann auch drüben sind.
298 Viertes Kapitel.
märchenhafte Kraftproben erfunden x) oder vielmehr übertragen : die Vir-
tuositäten Thors, Stärke, Schnelligkeit, Appetit, werden auf drei Personen
verteilt — immer aber unterliegt der Gott.
Dies muß seine Verehrer verdrossen haben. Der Gott sollte nicht
unterlegen sein. Dazu gibt es drei Wege:
1. Er wird befreit und siegreich — dies wird die ältere, bei den Lappen
bewahrte Form sein.
2. Er wird besiegt — aber nur in der unwirklichen Welt. Jenseits der
Welt, in Utgard, da hört seine Kraft auf — da wo die reinen Formen
wohnen, die »Ideen», der Gedanke, der schneller als alle Tat ist2) — das
Alter, das den Stärksten bezwingt. Daß dies sinnige Spiel mit Allegorien
jung sei, hat niemand bezweifelt, v. d. Leyen3) erinnert sehr gut an das
Ausmalen der Unterwelt, wo Hunger die Schüssel, Schwund das Messer,
Träghans der Knecht ist. Oder man mag an F,ontenelles »Empire de
la poe'sie«4) erinnern, wo es etwa heißt: »Die große Provinz ,Nach-
ahmung' ist unfruchtbar, und bringt nichts hervor. Ihre Einwohner sind
arm, und holen sich die Nahrung von den Feldern der Nachbarn — wobei
allerdings einige zu Wohlstand gekommen sind5).« Ähnliche geistreiche
Entwickelungen allegorischer Begriffe findet man bei mittelalterlichen
Poeten, oder bei Ferdinand Raimund — volkstümlich ist das nicht, sondern
gelehrt wie ein spanisches Auto.
Aber diese allegorische Ausdeutung von Thors Niederlagen muß
relativ früh vor sich gegangen sein, denn das Märchen kam als solches
nach Island G) und ward in Island populär 7).
3. Er wird nur scheinbar besiegt — alles war nur ein Spiel8); sonst
hätte Thor nicht alle niedergeschlagen.
Utgard, die unwirkliche Welt, wird nun ein Lieblingsgegenstand
spekulativer Phantasien. Für Saxo ist es einfach »das Jenseits«, das er
mit einem seltsamen Aufwand mythologischer Gelehrsamkeit ausstaffiert9);
noch einfach der großartige Herr einer Welt, in der Thor »nix to seggen
J) Vgl. v. d. Leyen, Märchen, S. 40 f.
2) Übrigens eine uralte Metapher, schon auf Indras Wagen angewandt
(Macdon eil S. 55). Ebenso begegnet das alles bezwingende Alter schon früh
im angelsächsischen Rätsel (B ran dl Altengl. Lit., S. 1092); selbst Saxos Personi-
fikation des Hungers (S. 39; Herrmann S. 48f.) klingt volkstümlich.
3) PBB. 33, 384.
4) CEuvres 5, 1. 5) S. 9.
6) v. d. Leyen, PBB. 33, 3821
7) Ebd. S. 384. — Anderer Art ist das »schwere Kind« der Deutschen
Sagen I. N. 14.
8) Gylf. cap. 47.
9) Vgl. Golther S. 279. Thorkil-Thor sieht Geruth-Prometheus und den
Herrn der Hölle an Händen und Füßen mit eisernen Ketten crefesselt — Loki-
§ 17. Hauptgötter. 299
hat«, einer Welt von ungeheueren Dimensionen, deren weitere Märchen-
züge v. d. Leyen *) hübsch aufgewiesen hat.
Wie viel hypothetisch bleibt, ist zu sehen ; klar scheint mir doch, daß
der alte Mythus von Thors üblen Erlebnissen bei einem Riesen (dessen
alter Name wohl der auf Ymir und Hymir reimende Skrymir ist)2) von
den späteren Fabeleien über Utgard und Utgardaloki (der Name »Pförtner
von der Hölle« kommt noch in Deutschland vor) zu scheiden ist.
Mit der Utgardfabel hängt irgendwie die durchaus märchenhaft ge-
haltene Erzählung von Thors Höllenfahrt3) zu Geirröd zusammen4).
Auch hier scheinen Bruchstücke sehr alter Mythen mit junger Aus-
schmückung in gewaltsamer Weise zusammengeleimt. Die weite Ver-
breitung dieser gleich der Utgardsage sehr beliebten Fabel5) hat gewiß
zu diesen Amalgamierungen viel beigetragen; das letzte hat aber wohl
auch hier der große Mytholog Snorri selbst getan6).
Der Kern der Sage scheint darin zu stecken, daß Thor den Loki aus
der Gefangenschaft befreit — ein ähnliches Motiv wie in der vor den
Reg. verwerteten Erzählung, wie die Götter sich aus der Gefangenschaft
der Zwerge lösen mußten. Auch hier scheint als Bedingung der Frei-
lassung7) ein Kampf zwischen Gott und Riesen aufgestellt gewesen zu
sein und zwar mit der erschwerenden Klausel, daß der Gott von seinen
Attributen — Hammer, Kraftgürtel, Handschuh — keinen Gebrauch
machen dürfe — Kampfbedingungen, wie sie im Epos auch begegnen.
Hierdurch erhält also die Geschichte den gleichen Reiz wie die Utgard-
fabel: der Held glaubt selber nicht mehr Thor zu sein8). Das Ende ist
natürlich Thors Sieg und die Tötung des Ungeheuers, das Loki ge-
fesselt hat.
Satanas. Bei Snorri dagen (vgl. v. d. Leyen, Märchen, S. 46) ist Utgarda-Loki
der Beschließer der jenseitigen Welt, den Gering S. 337 Anm. mit Loki indenti
fiziert, während ich jede auch nur etymologische Berührung ablehnen möchte.
J) Märchen S. 401
2) Lok. Str. 62.
3) v. d. Leyen S. 45.
*)Golther S. 274, Meyer S. 232, Mogk S. 361. — Skäldsk. cap. 2:
Gering S. 361.
B) Vgl. Mogk S. 362.
6) Die Geschichte war im Norden besonders beliebt: » König Harald hardradi
von Norwegen (1047—66) ging einmal mit Skald Thjodolf über die Gasse und
hörte, wie sich in einem Hause ein Gerber und ein Schmied zankten. ,Mach
mir augenblicklich ein Gedicht hierauf, rief er dem Skalden zu, ,der eine der
Kerle sei der Riese Geirröd, der andere Thor'« (Wein hold, Altnord. Leben,
S. 234). Der Schmied mit seinem Hammer soll natürlich den Thor vorstellen.
7) Wie bei Hymir, siehe u.
8) Lok. Str. 60.
300 Viertes Kapitel.
Ein ursprünglicher Naturmythus r) mag (wie bei dem Hymir-Mythus,
s. u.) vorliegen; vielleicht eine Erzählung, wie das Feuer von den Riesen
zurückgeraubt wurde (»Feuersnot« im Sinne Richard Strauß'!) und von
den Göttern zurückerobert werden mußte. In der vorliegenden Form
aber konzentriert die Erzählung ihr Interesse auf zwei Punkte:
1. Thor ist ohne seine Attribute. Ob wohl die illoyale Lösung, daß
der Gott sich gleichwertige Werkzeuge von einem freundlichen Riesen-
weib borgt, ursprünglich ist? (Die wohlgesinnte Riesin begegnet auch
in der Hym.), Das Ältere war wohl, daß auf wunderbare Weise ihm die
Kräfte zuflössen, die sonst in Hammer, Gürtel (und Handschuhen) ver-
borgen waren, wie dies durch den alten Vers, den Snorri 2) zitiert, noch
angedeutet scheint: mit dem Wachsen der Flut wächst ihm die (sonst im
Gürtel deponierte) Kraft, wie dem Völund die Flügel (vielleicht) und dem
Simson die Haare der Kraft wieder wachsen. Wie der Fluß die Kraft,
gab vielleicht der Vogelbeerbaum den Stab (vgl. Balders Mistelzweig!).
2. Die Vorgeschichte von Lokis Gefangenschaft ist ganz märchenhaft
nicht ohne Anstücken alter Reste: zu Lokis Verkleidung in Freyjas Falken -
gewand ist an die Thrymskvida zu erinnern, und wenn Loki in der Kiste
drei Monate hungern muß, liegt hier vielleicht in primitiver Art das Motiv
vor, das wir rationalistisch in Utgard haben, wo Thor hungert, weil er
den Ranzen nicht öffnen kann.
An diesen beiden »Leimstangen« ist nun weiter noch anderes hängen
geblieben, wie Loki an dem Stocke3). Die Töchter Geirröds mit zer-
brochenem Rückgrat4) begegnen in Saxos Bericht von Utgard (um eine
vermehrt), wo auch der vom Eisen durchbohrte Geirröd nicht fehlt. (Daß
der Geirröd der Grim. durch sein eigenes Schwert durchbohrt wird, ist
wohl nur zufällige Übereinstimmung.)
Undenkbar ist es nicht, daß auch die rein märchenhaft anmutenden
Bestandteile auf alte Mythen zurückgehen. Vielleicht hat ursprünglich der
»Speerröter« den Loki getötet, indem er seine Seele (den Seelenvogel)
fing und Thor mußte ihn beleben; der glühende EisenkeH, den Geirröd
nach ihm schleudert, war wohl ursprünglich sein eigener Donnerhammer,
so daß die Bedingung vom Fehlen der Attribute Thors auf einen ursprüng-
lichen Raub aller Rangzeichen zurückzuführen wäre. —
Eine andere Reihe von Legenden knüpft an die Heimkehr
Thors an. Es ist seine typische Situation, auswärts zu sein oder eben
1) Meyer S. 233.
2) Gering S. 362.
3) Mit dem automatischen Zauber des Klebens spielt die Volksphantasie
auch sonst gern : Halli begießt seine Locken mit Teer, damit Silber darin kleben
bleibt (Wein hold, Altnord. Leben, S. 339).
4) Gering S. 363.
§ 17. Hauptgötter. 30 1
auswärts gewesen zu sein. Sie scheint sogar von seinem Ritual voraus-
gesetzt: in der Lok.1) klingen die Verse:
Es dröhnen die Berge, der Donnerer, mein ich,
Fährt von Hause hierher.
wie eine leichte Variation jener liturgischen Formeln, mit denen besonders
Savitar in dem Rigveda begrüßt wird:
Im Wagen fährt herauf der Gott Savitar,
Aufs neue sein Werk zu tun2).
oder auch Indra:
Auf unsere Andacht merkend, komm, o Indra,
Und lenke hierher das Gespann der Falben8).
Die Anrufung feiert die Heimkehr des Gottes zu den Seinen. Nur
von besonders geliebten Gottheiten heißt es so: er kommt wieder!
Statt der Fahrt steht der Schlaf in der echten alten, wundervoll er-
zählten Legende von Thrym4). Der Gott kommt aus dem Schlaf »zu
sich« und vermißt seinen Hammer: er hat sein Hauptattribut verloren
und muß den Donnerkeil wieder erobern5). Das Motiv fällt also unter
unser Schema »Raub des Rangzeichens«6), und der Reiz der Erzählung
besteht darin, Thor zu zeigen, wie er aussieht, wenn es nicht »er selbst«
ist — ein ähnliches Thema wie bei »Thor in Utgard«, aber wie durchaus
anders aufgefaßt!
Es ist nicht ein natursymbolischer Mythus mehr, sondern völlig in
anschauliche Dichtung aufgelöst7). Die mythische Grundlage wird etwa
gelautet haben: ein Riese raubte dem Thor den Hammer (denn das
»Stehlen« ist eigentlich Sache der Zwerge!) und wollte ihn nur heraus-
geben, wenn man ihm dafür die schönste Göttin überließe; auf Lokis
Rat verkleidete sich Thor als Freyja, drang so bei den Riesen ein und
erschlug sie, nachdem er den Hammer geholt hatte. Aber mit welchem
novellistischen Behagen ist die Situation erfaßt! das uralte Lieblingsmotiv
des weiblich eingekleideten Mannes8) wird ausgekostet an dem weiber-
*) Str. 55.
2) Geldner-Kaegi S. 46.
3) Ebd. S. 76, ähnlich in homerischen Hymnen.
4) Thrymskv.: Golther S. 266; Mogk S. 361 ; Meyer S. 232f.; v. d. Leyen ,
Märchen S. 50, Sagenbuch S. 197.
5) Kauffmann (Ztschr. f. d. Phil. 36, 135) vergleicht ein esthnisches
Märchen.
6) Siehe o.
7) Vgl. auch Golther S. 267.
8) Achill auf Skyros; Herakles bei Omphale; vgl. auch das Verbot 5. Mos. 22, 5:
»ein Weib soll nicht Mannsgeräte tragen, und ein Mann soll nicht Weiberkleider
302 Viertes Kapitel.
feindlichen Gott; der Gegensatz der schlauen »Kammerzofe« Loki und
des unbehilflichen Helden, die Enttäuschung der plumpen Riesen wird
nicht minder gemessen. — Der Schluß mag eine Vorstellung davon geben,
wie das Abenteuer mit Hrungnir in seiner »versöhnlichen« Form schloß;
der Knecht, der den Gott rettet, mag Loki entsprochen haben.
Eine Dublette der Thrym-Erzählung ist die Legende von Hymir1).
Zwar wird eigentlich ein Gegenstück erzählt: während dort die Riesen
sich eines dem Thor gehörigen Gegenstandes bemächtigen, holt hier Thor
umgekehrt Thor einen Kessel von den Riesen. Indessen spricht die
typische Anlage solcher Mythen dafür, daß ursprünglich auch hier die
Götter die Besitzer, die Riesen die Räuber sind. (Freilich kommt das
umgekehrte Schema unzweifelhaft vor, wie bei den Mythen vom Raub
des Feuers u. dgl.) Jedenfalls aber schließen die Endzeilen der Hym. die
Erzählung an den Typus der »Nostoi« Thors an. v. d. Leyen2) hat
gezeigt, daß die Gylf. hier einen einfacheren Text hat als das eddische
Gedicht, an dessen Jugend schon wegen der schwülstigen »kenningar«
nicht zu zweifeln ist3). Die Prosa erzählt nur, daß Thor auf der Heim-
fahrt zu dem Riesen Hymir kommt, den er auf den Fischfang begleiten
will. Hymir weist ihn höhnisch ab, worauf der Gott durch die un-
geheuersten Leistungen seiner Asenkraft sich legitimiert. Schließlich gibt
der Riese der von Thor gepackten Mitgardsch lange die Freiheit wieder,
worauf der Gott ihn mit dem Hammer tötet. — Dieser Kern der Ge-
schichte, wenn es der Kern ist (von dem Kessel ist in der Gylf. gar
nicht die Rede!) ist in der Hym. märchenhaft erweitert, indem den Riesen-
leistungen Thors solche Hymirs gegenübergestellt sind — der gleiche
Wettkampf4) wie in Utgard5). Außerdem ist neu eine motivierende Vor-
geschichte: Thor wird zu Hymir geschickt, um den Kessel zu holen, und
zwar auffallenderweise in Begleitung Tyrs, der diesmal statt Loki die Rolle
antun; denn wer solches tut, der ist dem Herrn, deinem Gott ein Greuel« — das
vielleicht religiöse Umkleidungen im Auge hat, wie wir sie im Kult der Alces
{praesidet sacerdos muliebri ornatu, Tac. Germ. cap. 43) und in manchem orien-
talischen und orientalisierenden Kult finden: Erinnerungen an die Leidenszeit
eines erniedrigten Gottes? Simson und Dalila!
*) Hym.; Gylf. cap. 48: Gering S. 342. — Golther S. 270f., Meyer
S. 238f., Mogk S. 362, v. d. Leyen S. 46.
2) Märchen S. 48.
3)Jönsson (Norsk Lit. Hist. 1, 159) setzt es, gewiß zu früh, in das Ende
des 10. Jahrhunderts, Jessen freilich wohl zu spät in das 12—13. Jahrhundert.
4) a. a. O. S. 47.
5) Die Freude der Heldenzeit an Kämpfen mit Seeungeheuern spielt mit,
wie bei Beowulfs Schwimmabenteuern (vgl. Brandl, Altengl. Lit, S. 992;
Wein hold, Altnord. Leben, S. 311); ebenso der am Trinken — beides kom-
biniert in der Örvaroddssaga (vgl. Eddica minora S. LXII).
§ 17. Hauptgötter. 303
des Listigen x) übernimmt. Die Angst und das lächerliche Versteck Thors
sind mit Motiven in dem Mythus, der der Erzählung von Thor in Utgard
zugrunde liegt, zu vergleichen. Endlich ist noch eine Nachgeschichte
hinzugedichtet, in der Thor die nachstürzenden Riesen tötet und sein
einer Bock, von Loki gelähmt, hinstürzt. In dem letzten Zug mögen
alte Momente stecken: Loki und nicht Tyr war wohl ursprünglich auch
hier Thors Begleiter; die Lähmung des Bocks erinnert an die Geschichte,
wie vor der Utgardfabel Thjälfi (unabsichtlich) einen Bock des Gottes
lähmt. Die Hauptfrage bleibt wohl die nach dem Kessel ; und hier möchte
ich der poetischen Fassung den Vorzug geben. Eine der vielen Legenden
von Thors Riesenkämpfen liegt sicher zugrunde 2) und fast nie fehlt echten
alten Legenden ein konkreter Mittelpunkt, ein zentraler Gegenstand, wie
es in der Thrymskvida der Hammer ist, in Skirn. die Zauberrute. Hymir
hatte wohl den Kessel geraubt, den Thor wieder holen sollte; der Riese
forderte Kraftproben, die der Gott bestand, und schließlich erschlägt Thor,
wie in der Thrymskv., den Räuber und bringt das Besitzstück zurück, dessen
Wert — von seiner rituellen Verwendbarkeit abgesehen — hier wie bei
homerischen Kampfpreisen uns eine sehr frühe Kulturstufe vergegenwärtigt.
Mit naturmythologischen Erklärungen ist schwerlich viel anzufangen.
»Hymir ist die personifizierte Dunkelheit in der Luft, die über dem winter-
lichen Meere lagert, die noch heute der Norweger unter gleicher Be-
zeichnung kennt und die schwer auf der Seele des Norwegers liegt. Auf
der einen Seite steht dieser Dämon mit dem Winter in engster Verbindung
auf der anderen mit dem Meere« 3). Es ist sehr wohl möglich, daß Hymir
dereinst ein solcher Dämon war, mit dem der Gewittergott Thor zu
kämpfen hat wie Indra mit Vritra4); hat doch ein anderer Dämon, den
dieser bekämpft, 99 Arme, ein anderer 3 Köpfe und 6 Augen5), wie
Hymirs Mutter6) 900 Köpfe hat. — Aber die Seele der Erzählung, wie
sie uns nun einmal vorliegt, ist nicht mehr ein elementarer Kampf (wie
noch so oft deutlichst im Veda), sondern ein Messen der Kraft zwischen
Gott und Riesen — und an dies Motiv hat sich die Weiterentwicklung
gehängt, nicht an die naturmythische Urbedeutung.
Über den Gesamtcharakter dieser Thorslegenden 7) läßt sich das Gleiche
sagen: mögen sie ursprünglich Thor als den > Wiederbringer«, nämlich
der guten Jahreszeit, gefeiert haben — jetzt ist dieser Sinn ihnen ganz
!) Hym. Str. 6.
2) Über die Namen Hymir — Skiymir vgl. o.
3) Mogk a. a. O.
4) Macdonell S. 60.
5) Ebd. S. 61.
6) Hym. Str. 8; vgl. v. d. Leyen S. 47.
7) Vgl. Meyer S. 350, Mogk S. 363.
304 Viertes Kapitel.
verloren und die Freude an dem fahrenden Ritter Thor, an seinen Nöten
und Siegen, ist die gestaltende Kraft geworden. —
Eine künstliche Nachbildung sind die Alvissmäl1). Auch dies
Gedicht ist auf den Kontrast zwischen Thors Riesenstärke und einer idyllisch-
häuslichen Situation gebaut, wie die Thrymskv.; doch zeigt die Rahmen-
erzählung bereits Entfremdung von sicherer Anschauung: es ist gewiß
einem Thorverehrer nie eingefallen, seinen Gott ein Examen über geistigen
Besitz abhalten zu lassen! — Schon dies scheint mir die Meinung Jönssons2)
zu widerlegen, daß die Rahmenfabel alt sei; sie benutzt nur ein altes
Märchenmotiv, das von dem heimkehrenden Helden, der gerade recht
kommt, um eine Ehe zu verhindern (Herzog Ernst-Sage). Eine Anlehnung
an die Rahmenfabel der Vaf. (Gott und Zwerg im Examen wie dort Gott
und Riese) macht weiter Jönssons frühe Ansetzung des Gedichts3) un-
möglich.
Den eigentlichen Inhalt des Gedichts bildet ja die Belehrung über
poetische Ausdrücke für die wichtigsten Dinge4); es war eine ganz nette
Idee, das trockene Thema durch den Kontrast des ungeheuren Schwieger-
vaters und des kleinen zappeligen Schwiegersohnes zu würzen — nur
durfte man eben nicht >den Landwirtschaftsminister über Unterrichtsfragen
prüfen lassen « 5) ! »
Eine Heimwegsgeschichte führt auch das Härbardslied vor: Thor
wird bei der Heimfahrt von einem Fluß aufgehalten, den Odin vielleicht hoch
hat ansteigen lassen 6), und Härbard-Odin will ihn (kann man hinzudenken)
nur herüberlassen, wenn er bei einem Wettkampf siegreich bleibt: sie
haben ihre Taten aneinander zu messen, und wer mehr > Points« hat, muß
nachgeben. Thor unterliegt. — Die Hauptsache ist aber auch hier die
Ausfüllung: eben die Aufzählung der Taten Odins und Thors; man mag
hier an einen wirklichen, auf Grundlage feststehender Formeln improvi-
sierten Wettstreit zwischen einem Odinverehrer und einem Thordiener
denken. Daß aber Odin wirklich einmal seinem Nebenbuhler den Heim-
weg versperrt hat, kann gute alte mythische Überlieferung sein.
Weitere Legenden entstehen, als die festsitzende Thorsreligion
vom Christentum bedrängt wird 7). Thor verlangt von dem Konvertiten
*) Golther S. 282, Mogk S. 361.
2) Den oldnord. Lit. Hist. 1, 166.
3 900-950: a. a. O. S. 167; dagegen Heusler, Arch. f. n. Spr. 116, 266
um 1200! — Riese und Gott im Zwiegespräch: vgl. allgemein Wundt 3, 488. —
4) Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 469.
5) Heusler (Arch. f. n. Spr. 116, 265) betont übrigens mit Recht, daß das
Gedicht nicht bloß eine Sammlung ist, sondern zugleich ein an Neubildungen,
reiches Spiel mit der alten Form der Thula.
6) Vgl. Gjalp bei der Fahrt zu Geirröd Skäldsk. cap. 2: Gering S. 363.
T) Golther S. 258 f.
§ 17. Hauptgötter. 305
Thorgisl sein Eigentum, einen ihm einst verheißenen Ochsen; er erbittet
— vergeblich — von Svein, dem Sohn seines abgefallenen Verehrers
gleichen Namens, Rettung vor dem Beil der glaubenseifrigen Neuchristen ;
er wird im Zweikampf mit Christus bald siegreich, bald besiegt gesehen.
Für all diese Mythen ist ein inniger herzlicher Ton charakteristisch: das
Volk trennte sich ungern und nicht ohne Gewissensbisse von dem lieben
Gott, der so ganz Geist von seinem Geist war. Man fühlte sich ihm
verpflichtet.
Die große Bedeutung des Thorkultes liegt auf der Hand. Sein
natürlicher Charakter, die größere Intimität mit dem Gott — Odin bleibt
erhaben — , die reine rohe Kraft machen aus Thor in der Tat den reellen
Repräsentanten des Heidentums. Odin ließ sich umtaufen; Thor blieb
auch als Elias oder heiliger Olaf ein »großer Heide« wie Goethe. —
Thor erdrückt seine Verwandtschaft wie Odin die seine1).
Spät ist seine Verwandtschaft mit Odin : daß »Jupiter« der Sohn des
»Mercurius« sein sollte, fiel schon dem Abt Helfric auf2); ebenso dem
Saxo 3).
Nur Ableitungen aus seinem Wesen scheinen die Söhne Modi,
Zorn (Thors Asenzorn) und Magni, Kraft (vgl. den Beinamen des Her-
cules Magusanus). Magni erscheint bei Hrungnir als Thors Doppelgänger;
doch kann die Legende von der Riesenkraft des Kindes alt sein. Daß
Thor den Magni mit Jarnsaxa, Eisenschwert erzeugte, ist Allegorie im
Wikingergeschmack. — Die beiden Söhne werden in der neuen Welt den
Hammer an Stelle ihres Vaters handhaben4), was sie vielleicht nur dem
Vorteil verdanken, wie Widar und Wali ein alliterierendes Paar zu bilden.
Übrigens eignen sie sich für die neue Zeit, da beide, insbesondere Modi,
noch ein völlig unbeschriebenes Blatt sind wie die unkompromittierten
Götter, der schweigsame Widar und der einnächtige Wali5).
Es werden ihm ferner beigelegt eine Tochter Thrud, die Kraft, ein
Bruder M e i 1 i , von dem man gar nichts weiß; ein V i n g n i r (Schwinger
des Hammers) und eine Hlöra (zuckende Flamme, nämlich des Blitzes)
werden zu ihm in künstliche Verwandtschaft gebracht. Dies könnten alte
Opfergottheiten sein, Verkörperungen ritueller Funktionen, wie z. B. der
indische Soma6).
Die Riesin Jarnsaxa, Magnis Mutter, »Eisenschwert« oder »Eisen-
gestein« (wie der Feuerstein als niedergeschlagener Blitz aufgefaßt wird),
J) Vgl. Mogk S. 358f., Meyer S. 349, Golther S. 263.
2) Vgl. Craigie, Mythology of Ancient Scand., S. 14.
3) S. 185; Herrmann S. 247.
4) Vaf. Str. 51; Gylf. cap. 53: Gering S. 351.
5) Veg. Str. 11.
6) Macdonell S. 104f.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 20
306 Viertes Kapitel.
fällt durch ihren Namen etwas aus diesem Kreis heraus; sie könnte ein
alter Bergdämon etwa des eisenhaltigen Gesteins sein1). Jedenfalls ist
wohl aber ihre Verbindung mit Thor Magni Modi jung.
Einige Bedeutung haben aus Thors Sippe nur eine andere Gattin
und die Mutter.
Sif2).
Der Name ist nicht mit Sicherheit gedeutet: die Erfreuende« (zu
gotisch sifan)? »die Sippe«3).
Von ihr handelt nur Ein Mythus — denn Lokis selbstverständliche
Behauptung, auch sie besessen zu haben4), darf keine mythische Geltung
beanspruchen. — Es wird erzählt, Loki habe aus Bosheit Sifs Haar ab-
geschnitten, und Thor habe ihm dafür alle Knochen im Leib knicken
wollen5); Loki löst sich durch das Gelübde, Sif neue Haare zu schaffen
und läßt ihr von den Zwergen goldenes Haar schmieden. — Man erklärt
den eigentümlichen Mythus naturmythologisch : die Haare seien die Ähren
des sprossenden Erdreiches. Diese aber werden doch nicht vom Feuer
verzehrt; und Loki ist kein Getreidedämon. Viel näher scheint mir6) die
ikonische Deutung zu liegen: das Feuer hat die Haare einer Bildsäule
verzehrt, die nun durch goldene Haare, im Feuer (und also auf Lokis
Geheiß) kunstfertig (durch Ivaldis Söhne) hergestellt, ersetzt werden ; oder
die Bildsäule besaß eben goldene Haare, an die sich nun das Märchen
knüpfte — wie Helios goldene Haare trägt.
Mythisch bedeutsam müssen ihre Haare wohl jedenfalls sein; das
Wahrscheinlichste bleibt deshalb wohl, daß auch sie, wie Jarnsaxa, ein
alter Naturgeist war, den man dem Ackerbaugott nachträglich antraute;
und so werden die goldenen Haare wohl doch die Ernte symbolisieren.
Bedenkt man, daß Ceres, die Göttin des pflanzlichen Wachstums7), als
Weihegabe den ersten Ährenschnitt, das praemetium, erhielt8), so könnte
man versucht sein, an einen kultischen Ursprung des Mythus zu denken :
der Göttin wird »das Haar abgeschnitten«, damit es künftig um so reicher
und goldener wachse, und ihr wird das neue »Goldhaar« dargebracht.
Loki wäre dann erst später, in der Blütezeit der Loki- Abenteuer, hinein-
gezogen; denn die Geschichte von seiner Loslösung hat durchaus den
üblichen Typus (wie in der Einleitung zu Reg. usw.) und ist mit der
Sitte, bei der Ernte jemanden zu binden und zur Lösung zu zwingen9),
schwerlich in Verbindung zu bringen.
*) Vgl. u. : Dea Sandraudiga.
2) Golther S. 262. 419, Meyer S. 349, Mogk S. 359. — Skäldsk. cap. 3:
Gering S. 364.
3) Meyer a. a. O. 4) Lok. Str. 54. 5) Lok. Str. 61.
6j Ztschr. f. d. Phil. 38, 176.
7) Wissowa S. 150. 8) S. 151.
9) Pfannenschmid, Germ. Erntefeste, Hannover 1888, S. 93 f.
§ 17. Hauptgötter. 307
Für rein märchenhaften Charakter des Goldhaars tritt v. d. Leyen x) ein.
Ein Kult der Sif ist nicht nachgewiesen2) und die Identität mit jener
Haiva, »die Geliebte«3), die einen batavischen Altar zusammen mit Her-
cules Magusanus hat, ist zweifelhaft4); zu unserer Deutung würde sie
nicht übel passen.
Thors Mutter.
Die alten Götter haben selten Vater oder Mutter — oder sie haben
deren mehr als nötig. Dem Thor werden zugesprochen Jörd, die Erde;
Fförgynn, gotisch fairguni, Gebirge; Hlödyn, in Nordwestdeutschland
als Hludana verehrt und angelsächsisch mit Latona gleichgesetzt, die des-
halb Thunres mödur heißt5).
Auf jeden Fall ist klar, daß die Erdgöttin Thors Mutter sein soll6).
Das ist nun seltsam: der Gewittergott Sohn der Erde! Doch ist auch
Indra, dessen Mutter oft genannt wird7), Sohn des Dyaus und der Erde,
daneben allerdings auch der »Kuh«, d. h. der Regenwolke8); und Zeus,
der ja bei den Hellenen auch Gewittergott ist, hat Gaea zur Mutter9).
Immerhin zeigt schon die Unfestigkeit dieser Angaben, daß die Geburt
des Gewittergottes aus der Erde schwerlich als indogermanischer Mythus
angesehen werden darf: als die Physikertheologie sich zu regen begann,
wurde diese Genealogie erdacht, bei der vielleicht die im Erdboden ge-
fundenen »Donnerkeile« mitwirkten. In Thors Mythenkreis aber spielt
seine Mutter so wenig eine Rolle wie in dem des Zeus — mit Indra steht
es anders, weil für ihn, wie für Dionysos, die wunderbare Geburt wesent-
lich scheint; wie denn die Vorstellung der Göttermutter nur mit Götter-
kindern oder Götterjünglingen verträglich scheint (Leto mit Apollon und
Artemis), nicht mit dem reifen stürmischen Mann.
Wenn aber die Verwandtschaft jung sein wird, ist doch Thors Mutter
gewiß nicht, wie vermutlich seine Söhne, eine späte allegorische Erdichtung;
sondern wie die Gattin, ist die Mutter eine uralte Gottheit, die mit dem
Lieblingsgott nachträglich verbunden wird. Die Erdgottheit wäre dann
eben die. Herrin der Erde schlechtweg — nicht wie Nerthus — Isis— Tellus
die der fruchtbaren Erde. Doch sind Berührungen unvermeidlich, und
vielleicht ist die letztere überhaupt erst aus der anderen abgezweigt.
') Märchen S. 57.
2) Vgl. Mogk, PBB. 14, 91 f.
s) Much, H. Z. 39, 51; vgl. Siebs, Ztschr. f. d. Phil. 24, 461.
4) Vgl. Mogk S. 3591
5) Mogk S. 358, Meyer S. 349, Golther S. 461. — Siebs (Ztschr. f. d.
Phil. 24, 457 f.) trennt Hludana und Hlödyn und hält jene für eine Meeresgottheit,
die er ferner der — chthonisch aufgefaßten — Nerthus gleichsetzt.
6) Golther S. 454f. 7) Macdonell S. 56.
8) Ebd. 9) Preller 1, 637.
20*
308 Viertes Kapitel.
Die Erdgöttin erscheint unter verschiedenen Namen:
In angelsächsischen Segen1) wird Erce, Erce, Erce, eorthan möder
angerufen : also wieder die Herrin der Erde, nicht die Erde selbst. Das
Gebet an sie wirkt2) Sdgr. Str. 4 nach:
Heil euch Äsen! euch Asinnen Heil!
Heil dir, fruchtbare Flur!3)
Hlödyn, Hludana, wird von friesischen Pächtern der Fischerei ver-
ehrt4) — weil die Erdgötlin auch die Bäche beherrscht? Der Name zu
hlöd, Erdhaufe5).
Problematischer ist Fjörgyn6). Neben diesem Feminimum haben
wir einen männlichen Fjörgynn, der einmal Frigg zur Geliebten oder
Gattin hat7) und dem ein litauischer Donnergott Perkunas genau ent-
spricht. Der Name gehört zu lateinisch quercus: fergttnjas der Eichen-
gott; gerade wie auch Zeus8) der »Eichengott« ist. So ward auch Thor9)
bei einem robur Jovis verehrt, wohl weil die Eiche den Blitz anzieht 10).
Fjörgyn wäre etwa die Eichengöttin oder »die im Eichenwald Verehrte« n).
Wir haben also 12) in Fjörgynn und Fjörgyn ein androgynes Paar wie
in Njörd und Nerthus, Frey und Freyja. Dergleichen begegnet bei
Vegetationsdämonen öfter 13) und ist vielleicht prinzipiell aus der späteren
Geschlechtsverleihung an ursprünglich ungeschlechtige Geister zu erklären.
Doch können auch verschiedene Nomina sich begegnet sein : die Analogie
der Eschenfrau u. dgl. u) läßt denken, daß die Eichenfrau eine alte Dryade
des Eichenwaldes war, die mit dem Eichengott, d. h. dem alten in der
Eiche verehrten Gewittergott nur durch ihren Namen zusammengeführt
wurde. Die Annahme, daß die Erdgöttin nach ihrem Gemahl benannt
worden sei 15), scheint uns zu stark von der Analogie moderner Namen-
*) Grein-Wülker, Bibl. d. ags. Poesie" 1, 312f.; vgl. Wülker, Grundriß
d. ags. Poesie, Leipzig 1885, S. 347; Kögel, Gesch. d. altd. Lit. 1, 139f.
2) Nach Golthers hübscher Beobachtung, S. 455.
3) Vgl. hdl weas thu, folde fdra moder im Segen.
*) Meyer S 349.
e) Mogk S. 359.
6) Vgl. Much, Himmelsgott, S. 204 f.
7) Lok. Str. 26; vgl. Golther S. 454, 2.
8) Preller 1, 123.
9) Siehe o. S. 288.
10) Dagegen scheint der indische Regengott Parjanya nicht identisch: Mac-
donell S. 84.
") Hirt, J. F. 1, 480.
12) Mogk S. 358.
1?) Faunus und Fauna, vielleicht auch Pomonus und Pomona; Wissowa
S. 165 u. a.
14) Vgl. o. S. 94.
15) Golther S. 455.
§ 17. Hauptgötter. 309
gebung in der Ehe beherrscht Auch ist ja gar nicht bezeugt, daß Fjörgyn
je Thors Gattin war — der auch gar nicht (wie Golther voraussetzt) der
»Himmel« war. — Denkbar ist aber, daß Fjörgynn, der Eichengott, ursprüng-
lich nicht mit Thor identisch, sondern ein anderer Gewittergott war, der dann
in Thor (bis zum Vergessen seines Namens) aufging; und von einem alten
Elternpaar (wie oft werden so entthronte Götter auf den Altenteil gesetzt!
man denke an Zeus' Vater!) blieb nur die Mutter übrig, da Odin der
Vater ward. So wäre denn auch die Beziehung Friggs zu Fjörgynn
erklärt. —
Als Erdgöttin wird auch Rind1) verehrt. In der Edda wird erzählt,
daß sie im Westen Wali, den Rächer Balders, gebären wird2); daß sie
einst vor Ran ein Zauberlied sang, das lehrte: Jeder sorge für sich (man
vergleiche etwa den Oddrünargrätr!), bringt erst der späte Grogaldr3) hinzu.
Endlich Snorri notiert4), daß Rind, Walis Mutter, wie Jörd, Thors Mutter
zu den Asinnen gehören.
Eine alte Erdgottheit mag wohl vorliegen: die harte Erdrinde, meint
Golther, der durch Odins, des Gottes gedeihlicher Arbeit, Werben der
Sohn Bfu, der Bebauung, abgewonnen wird; während Wali dann aus der
harten Erdrinde geboren sein könnte wie die neuen Menschen nach der
Sintflut aus den »Gebeinen der Mutter« , den Steinen Deukalions und
Pyrrhas5). Jenes hausbackene Zauberlied aber soll wohl nur durch den
mystischen Klang geheimnisvoller Götternamen geadelt werden.
Tanfana wird6) ebenfalls für eine Erdgöttin gehalten; wohl mit
zweifelhaftem Recht 7).
Die alten Hauptgötter.
Die bisher besprochenen Gottheiten bilden einen einigermaßen ge-
schlossenen Kreis: Tyr und Frey, Odin und Frigg, Thor und ihr un-
mittelbarer Anhang. Diese fünf sind auch (neben Sonne und Mond)
Herren der Wochentage: Dienstag Tiu, Mittwoch Wodan, Donnerstag
Thor, Freitag Frigg — Freyja. Sonnabend freilich ist dem Frey nicht zu-
gefallen. Sie sind die Inhaber der großen Tempel mit zentralisiertem
Kult (Frey — Njord, Tyr, Thor, Odin), die Führer eigener »Religionen«
mit besonderem Verehrertypus (Odin, Thor); sie sind auch durch Götter-
J) Golther S. 456, Meyer S. 370. 401; über den Roman von Odin und
Rind siehe o. S. 270.
2) Veg. Str. 11. 8) Str. 6.
4) Gylf. cap. 36: Gering S. 328.
5) Preller 1, 865. Auch die Söhne von Kadmos' Drachensaat, durch den
Stein erregt, erheben sich sofort zum furchtbaren Kampf wie Wali (Veg. Str. 17).
6) Golther S. 459.
7) Vgl. u.
310 Viertes Kapitel.
kämpfe (besonders zwischen Odin und Thor, doch auch Njord und Skadi ?)
als Individualitäten charakterisiert. Man könnte sie etwa in folgendem
Stammbaum anordnen:
indogermanisch: Zeus, Dyaus
urgermanisch: Tyr, Irmin
niederdeutsch- *^-^ fremden Ursprungs
gemeingermanisch: Wodan, Isto nordisch-gemeingermanisch:
| nordisch: Ing, Frey— Njord
nordisch: Odin Thor. "^-^
Skadi finnisch.
nordisch.
Aber zu diesem im Norden zu einem gewissem Abschluß gelangten
Kreis tritt nun das große Rätsel, das Hauptproblem der germanischen
Mythologie: Bai der, ein Hauptgott, und doch zu diesem Kreis der
Hauptgötter exzentrisch; ein eigener Typus, und doch, so viel wir sehen, ohne
eigene Gemeinde; der Held eines aufregenden Mythus von merkwürdiger
Eigenart, und doch der Liebling nivellierender Göttergleichmacherei.
Balder1).
Golther und Kauffmann halten von den beiden stark abweichen Er-
zählungen Saxos Bericht, Meyer und Mogk sowie besonders Olrik und
Heusler den der Edda für ursprünglicher; Niedner hält Snorris Bericht
für eine hübsche Kombination 2). — Ebenso umstritten ist das Alter
Balders : indogermanisch — urgermanisch — nordisch ?
Vielleicht liegt die Sache bei allen Schwierigkeiten doch nicht ganz
so verwickelt, wie es nach den neuesten Aufklärungen scheinen könnte.
Man muß sich nur bemühen, Überlieferung, Erschließung und deutende
Hypothese recht fest auseinanderzuhalten; denn zu vermeiden sind die
letzteren beiden Hilfsmittel allerdings nicht — wenn man auch von ihnen
bescheidener und analogiegemäßer Gebrauch machen sollte, als gerade in
Balders Angelegenheiten wiederholt geschehen ist.
J) Kauffmann, Balder. Mythus und Sage, Straßburg 1902; doch vgl.
Heusler, D. Lit.-Zeitg. 1Q03 S. 488; Kauffmann, Ztschr. f. d. Phil. 35, 524;
Mogk, Lit.-Bl. f. rom. u. germ. Phil. 1905 S. 190. — Schuck, Studier i nordisk
Litt, og Religionshistoria T. II. — Döhring, Kastors und Balders Tod, Arch.
f. Rel.-Wissensch. 5, 38 f. 27 f.; Meyer S. 278 f. 391 f.; Golther S. 364. 420;
Mogk S. 323. 351; Chantepie S. 253; v. d. Leyen, Märchen, S. 20; Detter,
PBB. 19, 493 f.; Niedner, H. Z. 41, 3035; andere Literatur bei Mogk und
Golther (wie gewöhnlich). — Wiedergabe des eddischen Berichts bei Meyer
S. 397, desjenigen Saxos ebd. S. 395; vgl. Olrik, Sakses Oldhistorie : Ref. bei
Golther S. 377; Vergleich beider Berichte übersichtlich bei Meyer S. 398. 401 ;
vgl. ferner z. B. Golther S. 373. 738f., Detter S. 495, Niedner S. 324.
2) S. 433.
§ 17. Hauptgötter. 311
Was steht fest?
Zunächst: was in bezug auf das Alter? Balder unmittelbar für
eine indogermanische Gottheit anzusprechen, sind wir nicht berechtigt,
d. h. die germanische Überlieferung hat unzweifelhaft Züge, die sich so
bei keiner einzigen indogermanischen Gottheit einzeln oder gar vereinigt
wiederfinden. Auch der Name steht isoliert ? was zwar allein nicht be-
weisend wäre. — Eine andere Frage ist, ob in der germanischen Gestalt
nicht indogermanische Grundzüge weiter entwickelt sind; diese häufig
bejahte Frage (Balder der lichte Gott, der von dem dunkeln Gott getötet
wird) ist aber erst später zu erörtern.
Für den ur germanischen Ursprung sprechen folgende außer-
nordische Anhaltspunkte1): Für die Deutschen beweist der Merseburger
Spruch 2). Hier wird Phol in einer Weise erwähnt, die zu der nordischen
Gestalt Balders trefflich stimmt, und sein Name wird im dritten Vers
durch »Balder« aufgenommen. Phols Identität mit Balder wird ferner
gestützt durch zahlreiche Ortsnamen3): Phtiolsouua , Pholesbrunno in
Thüringen, Pholespitint in Österreich und Bayern u. a.
Allerdings ist die Identität von Phol und Balder angefochten worden.
Unhaltbar sind die Versuche, fremde Namen einzusetzen: Apollo4) oder
gar Paulus5), für deren Platz in diesem Zauberspruch schlechterdings
nichts spricht6). Oder man hat gar eine Göttin daraus gemacht7) oder
wenigstens ein männliches Pendant zu Volla8). Aber der Gott, der vor
Wodan genannt wird, muß schlechterdings ein Hauptgott9) und kann
nicht ein unbekanntes kleines Göttlein sein. — Viel haltbarer war früher
der Versuch, den Namen Balder, wie er im dritten Vers des Merseburger
Spruchs begegnet, appeilativisch aufzufassen: in angelsächsischen und
nordischen Dichtungen bedeutet er >Herr«. Aber dieser Möglichkeit ist
durch Edward Schroeders glänzenden Aufsatz über Belisars Roß10) der
Boden entzogen: die appellativische Bedeutung ist sekundär, zunächst im
zweiten Teile von Kenningen (mannhaldr, folkbaldr) n), dann auch
allein verwandt.
1) Vgl. Golther S. 382 f.
2) MSD. IV. 2.
3) Mogk S. 324, Golther S. 385.
*) Gering, Ztschr. f. d. Phil. 26, 145.
B) Bugge, Studien, S. 301 f.
6) Golther S. 384 m. Anm.
7) Golther, Gesch. d. d. Lit., S. 39, nach Andern.
8) Kauffmann a. a. O. S. 221.
9) Vgl. meine Rezension Anz. f. d. Alt, 19, 210.
10) H. Z. 35, 241 f.
11) a. a. O. S. 243, wie öl-Gefjon Golther S. 447.
312 Viertes Kapitel.
Der Phol des Merseburger Spruches also, dessen Roß Balders Roß
heißt, ist Balder1).
Fast in ganz Deutschland2) kommen ferner Sagen vor, die zu dem
Baidermythus Beziehungen zeigen. Doch steht dies schon an der Grenze
der Erschließung.
Für die Angelsachsen spricht: Die Königslisten von Wessex und
Bernicia nennen Baeldaeg , Vodens Sohn, der ebenso in isländischer
Genealogie begegnet3) und schon von altenglischen Chronisten sowie von
Snorri4) mit Balder gleichgestellt wird. Der Name5) bedeutet »der lichte
Tag« G) und kann wohl nur einen Gott bezeichnen.
Für Deutsche und Angelsachsen gemeinsam spricht jenes aus
dem Götternamen abgeleitete Appellativum angelsächsisch bealdor, alt-
hochdeutsch Paltar7), das jedenfalls ein besonderes Ansehen des Gottes
beweist 8).
Wir halten also den gemeingermanischen Ursprung Balders
für zweifellos erwiesen; was selbstverständlich eine spezifisch nordische
Weiterentwicklung so wenig wie bei Thor oder Frey ausschließt9). —
Für das Wesen dieses gemeingermanischen Gottes steht der
Name zu Gebot, der jetzt durch Edw. Schroeder zweifellos festgestellt ist. Es
kommt von einer Wurzel bal-, zu litthauisch und baltoslawisch baltas, weiss
und bedeutet »licht«, also: der »helle, glänzende Gott« 10). — Die frühere
Deutung »der Kühne« (zu dem Namen der gotischen Balthen n) muß als er-
ledigt gelten ; ebenso Meringers geistreiche Vermutung, der Name gehöre
zu einem Appellativstamm »behauener Baum, Klotz«, wie »Äsen« vielleicht
zu »Balken«, und bedeute ein altes Fetischbild12); übrigens ist uns von
x) Much (Himmelsgott S. 255) vermutet, daß Balder auch *Dagas, »Tag«,
geheißen habe. Kögel (Gesch. d. d. Lit. 1, 262 f.) wollte auch den Straßburger
Blutsegen (MSD. IV. 6) heranziehen, wobei Vrö-Frogerus des Saxo dem Balder
entspräche (vgl. Detter S. 511 f.) ; was mehr als problematisch ist (vgl. Golther
S. 384 Anm.
2) Vgl. Kuhn, Der Schuss des Wilden Jägers auf den Sonnenhirsch, Ztschr.
f. d. Phil. 1, 89f.; Losch, Balder und der weiße Hirsch, Stuttgart 1892.
3) Mogk S. 324, Golther S. 366, 3.
4) Golther S. 382.
5) Vgl. Schroeder S. 342. 343.
6) Meyer S. 392.
7) Golther S. 382, Mogk S. 324.
8) Vgl. meine Rezension a. a. O. S. 211.
9) Die Versuche, Balders Tod in der Kalewala nachzuweisen (Ohrt, Kale-
wala, Kopenhagen 1908, S. 139) wage ich nicht für das hohe Alter des Mythus
zu verwerten.
10) Vgl. Mogk S. 324, Golther S. 366.
1!) Vgl. Schroeder S. 241.
12) I. F. 18, 285, vgl. »Wörter und Sachen« 1, 201 f.
§ 17. Hauptgötter. 313
Balderbildern nichts Zuverlässiges überliefert. — Ferner haben wir die
Legende: ist auch der nordische Mythus (der hier allein unzweideutig
belehrt; der Merseburger Spruch kann nur durch Erschließung fruchtbar
gemacht werden) unzweifelhaft spezifisch entwickelt, so wird man doch
annehmen dürfen, daß er (wie in anderen Fällen, z. B. dem Thors) nur den
urgermanischen Charakter fortbildet. Danach ist Balder unzweifelhaft ein
Lichtgott1); was sich also mit der Benennung deckt. Weiter ist von
Bedeutung die Analogie verwandter Götter- und Sagengestalten, die
gleichfalls das »helle Prinzip« vertreten: es ist der so häufige als merk-
würdige Typus des getöteten Gottes: Osiris, den Set durch List tötet2)
und der wiederbelebt wird3), nachdem er lange tot gewesen4); Adonis,
der stirbt und wiederkehrt5) u. a. Ebenso ist in der Heldensage der ent-
sprechende Typus des lichten Helden, der durch Verrat von dem dunklen
Widerpart getötet wird (Siegfried, Rustan usw.) unverkennbar.
Der gemeingermanische Gott muß eine ansehnliche Geltung gehabt
haben; die Mythen, die sich an ihn knüpfen, zeugen für seine Beliebt-
heit, die Art der Erwähnung6) für sein Ansehen. Daß dagegen Spuren
seines Kults nicht mit Sicherheit bezeugt sind7), ist kein Gegenbeweis:
nirgends stellt man sich gern unter den Schutz eines unterliegenden Gottes,
mag man seinen Tod auch noch so leidenschaftlich beklagen. Erst die
Epoche des Christentums mit ihrer ganz anderen Auffassung von Tod
und Leben konnte das ändern. Übrigens hat Winifred Faraday 8) treffend
bemerkt: wenn das Fehlen des Kults bewiese, müßte man auch Tyr aus
den nordischen Götterlisten streichen: nur Odin, Thor, Frey, Njord,
Frigg, Freyja werden in den isländischen Sagas mit Opfern geehrt.
Hiermit ist etwa die Summe dessen gegeben, was wir von Balder
zuversichtlich als alt überliefert verzeichnen können. Wir kommen zu
den mythischen Fortentwicklungen.
Wie steht es mit dem altdeutschen Baidermythus9)? Be-
trachten wir den Merseburger Zauberspruch als Zwischenglied zwischen
der urgermanischen Vorstellung des lichten Gottes und der nordischen
J) Mogk S. 325, Meyer S. 392, Golther S. 366.
2) Er man, Ägypt. Rel., S. 34.
3) Ebd. S. 36. 4) Vgl. ebd. S. 156.
5) Preller 1, 359.
6) Merseburger Spruch.
7) Doch vgl. Golther S. 381.
8) Populär Studies in Mythology Romance Folklore N. 12: The Edda I;
London 1902; S. 19.
9) Vgl. Kuhn und Losch a. a. O. sowie meine Rezension von Losch:
Anz. f. d. Alt. 19, 211, deren Gedanken zum Teil weiter (und wie ich fürchte,
zu weit) geführt sind von Niedner, H. Z. 41, 101 f. (vgl. S. 104).
314 Viertes Kapitel.
Oberlieferung von dem durch Lokis Schuld und Hödurs Ungeschick ge-
töteten Lichtgott, so ergeben sich Beziehuugen in folgenden Punkten:
Balder erscheint inmitten anderer Göttergestalten: eine charakte-
ristische Situation. Thor steht immer isoliert: »der Starke ist am
mächtigsten allein« — , Odin allein oder an der Spitze der geordneten Götter-
gemeinde, Balder aber wird auf dem Hintergrund einer ungeordnet fest-
lichen Götterversammlung sichtbar, wie in der nordischen Überlieferung.
So stellt auch die spätere Kunst den lichten Apollon am liebsten dar.
Balder fährt mit anderen Gottheiten auf die Jagd *). Ein Zusammen-
hang mit dem Schuß, der in der Edda seinen Tod bringt, ist wenigstens
denkbar (Siegfried wird nach einer Überlieferung auf der Jagd ermordet).
Wichtiger ist, daß dem Roß Balders ein Fuß verrenkt wird. Wir
werden dies wohl mit nordischen Mythen zusammenbringen dürfen: Loki
lähmt einen Ziegenbock Thors2) oder dieser wird auf andere Weise un-
fähig zum Laufen gemacht3). Ein Göttertier wird nicht plötzlich unwohl:
es muß etwas dahinterstecken und wohl sicher eine Bosheit des Gegen-
spielers4). Auch Wäinämoinens wunderbares Roß wird im Kalewala
durch den Pfeil eines bösen alten Lappen tödlich getroffen5). — Alle
Gottheiten bemühen sich um die Heilung, die aber nur Wodan gelingt.
Ebenso finden wir in der nordischen Sage alle Gottheiten um seine
Rettung bemüht; Odin hat das letzte Wort6). —
Wir dürfen also, wenn wir das merkwürdige Denkmal in die Ent-
wicklungsreihe von den ältesten zu den ausführlichsten Zeugnissen ein-
schalten, mit einiger Wahrscheinlichkeit behaupten:
1. Balder besaß schon in der gemeingermanischen Mythologie einen
Gegenpart, der ihn schädigt.
2. Die Schädigung hing vermutlich mit Jagd und Schuß zusammen.
3. An sie knüpfte sich eine Bemühung aller Gottheiten um Balder,
die von Wodan abgeschlossen ward.
Mit Hufe der Sagenvergleichung können wir aber noch erheblich
weiter kommen und auch für die altdeutsche Mythologie allein schon
einige Entwicklung feststellen.
Der Merseburger Spruch ist ein Zauberspruch zu Heilzwecken. Er
dient der mythologisch - epischen Empfehlung einer uralten Sympathie-
*) Die natürlichste Interpretation vgl. Niedner a. a. O. S. 103.
2) Hym. Str. 37.
3) Gylf. cap. 44: Gering S. 335.
4) Ähnlich vielleicht in der dunkeln alten Sage, in der der Sonnenwagen ein
Rad verliert (Macdon eil S. 63).
5) J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 87; charakteristisch für die Altertümlichkeit des
finnischen Epos, daß bei dem ersten Auftreten des Gottes gleich schon Menschen
da sind!
5) Vaf. Str. 54-55.
§ 17. Hauptgötter. 31 5
formel : sie ist einmal von einem Gott in einem kritischen Augenblick
erfolgreich angewandt worden. (In psychologischer Hinsicht ist solch ein
ehrwürdiges Denkmal des höchsten Altertums mit den Reklame- »Referenzen«
moderner Heilmittel aufs engste verwandt.) Das Wichtigste ist also
in der Zauberformel, daß eine Heilung erfolgt. Ursprünglich aber
braucht sie nicht erfolgt zu sein. Kuhn und Losch haben es näm-
lich höchst wahrscheinlich gemacht, daß die Einleitung des Zauber-
spruchs einen uralten Mythus in starker Abschwächung enthält. Weit
verbreitet ist eine Sage, nach der »der wilde Jäger« oder irgend-
ein Bösewicht auf den »Sonnenhirsch« geschossen und ihn ver-
wundet hat — wobei der Sonnenhirsch selbst den ursprünglich ver-
wundeten Gott x) vertritt (wie die Hirschkuh für Iphigenie unter-
geschoben wird). Der Hirsch ist ein Symbol der Sonne und zwar des
Gestirns in seiner Veränderlichkeit, weil die Hörner (nach denen er be-
nannt ist) periodisch abgeworfen und erneuert werden. Es handelt sich
also um einen uralten Sonnenmythus2), der wahrscheinlich die tägliche
Überwältigung der Sonne darstellt, die in dem Blutmeer der Abendröte
versinkt.
Ich kann weder Kuhns Gleichsetzung des Jägers mit Wodan 8) billigen
noch die des verwundeten Gottes mit Frey; vielmehr scheint Losch mir
erwiesen zu haben, daß in der germanischen Fassung der Legende eben
Balder von dem bösen Jäger getroffen ward 4). Diese Legende hat sich dann
Stufe für Stufe abgeschwächt. Statt des Gottes ward5) sein Hirsch ge-
troffen; dann dieser durch das geläufige Roß ersetzt; endlich die Heilung
hinzuerdichtet. Und zwar ist der letzte Schritt 6) wohl erst durch die
eifrigen Wodansdiener geschehen : Wodan sollte auch hier helfen können
und ward deshalb, befremdend genug, an zweiter Stelle eingeschoben.
(Ursprünglich mag es etwa geheißen haben; Phol und die Seinen fuhren
zur Jagd.) Nun war man so weit, daß man aus der alten Legende vom
täglichen Ritt des Lichtgottes und seinem Fall7) einen Heilspruch für
verletzte Reitpferde machen konnte! —
Wir wenden uns zum altnordischen Baidermythus. Ich gebe
zunächst eine chronologische Übersicht der nordischen Zeugnisse.
') Kuhn S. 99. 106.
2) Vgl. Kuhn S. 115.
3) A. a. O. S. 99.
4) Niedner (S. 110) nennt es die mythische Schilderung eines nordischen
Hochsommertages, geht aber zu weit in der Einzeldeutung besonders der be-
gleitenden Göttinnen.
5) Wie vielfach, vgl. Kuhn.
6) Vgl. R. M. Meyer S. 211.
7) Vgl. E. H. Meyer S. 392.
316 Viertes Kapitel.
1. Ortsnamen sind in Dänemark besonders verbreitet1), so daß Saxos
Andeutung, der Balderkult habe sich von hier aus verbreitet, zutreffen
mag. Denn überhaupt ist die Erinnerung an Balder in Dänemark am
lebhaftesten, nächstdem in Island und Norwegen, am geringsten in
Schweden2), wo vermutlich der Balder ähnliche Frey ihm das Wasser
abgrub. Doch ist gemeinnordisch die Benennung ßaldrsbrd für die
Hundskamille, wegen ihrer weißen Farbe3), und Ortsnamen finden sich
auch in Norwegen4).
2. Eddische Zeugnisse : Die Eddalieder bringen nur Eine wichtige
Nachricht: Vol. Str. 32—34 wird erzählt, daß Odins Sohn, der edle
Balder, von Hod mit einem schlanken Mistelzweig erschossen und
von seinem Bruder (Wali) rasch gerächt wurde. Die rasche, sprung-
artig andeutende Erzählung setzt den Mythus als bekannt voraus. —
Str. 62 erzählt im gleichen Stil, daß nach der Wiedergeburt der
Welt Balder und Hod zusammen in Odins Burg wohnen werden. —
Das Gedicht Baldrs draumar oder Vegtamskvida scheint im Wesent-
lichen nur diese Verse zu glossieren und eine verhüllte Andeutung der
Klage um Balder beizufügen. Allerdings hält Jönsson5) das Gedicht der
Völ. für etwa gleichzeitig; Heusler6) erklärt es dagegen wohl mit
größerem Recht für jung. Jedenfalls fügt es unseren Kenntnissen nichts
Wesentliches zu, denn die bösen Träume Balders — allerdings auch in
der finnischen Legende und ähnlich bei Saxo, wo Hei dem Balderus er-
scheint — und Odins Orakel-Ritt sind gewiß Fiktionen der Rahmenfabel. —
Lok. Str. 27 — 28 beklagt Frigg, daß ihr Sohn Balder nicht da sei,
um Loki zum Zweikampf herauszufordern, und Loki, trotzig-herausfordernd
wie Hagen vor Kriemhild, rühmt sich, an Balders Tod schuld zu sein. —
Neue Momente: erstens Balder, der gütige Gott, war auch tapfer; zweitens:
Loki ist die Ursache seiner Ermordung. — Grfrn. Str. 12 weist dem
Balder die Halle in Breidablik , »Breitglanz«, zu; »kein anderes Land
in aller Welt ist so von Freveln frei«. Ich glaube an diese isolierte
Angabe so wenig wie an die übrige Topographie der Grfm.; Name
und Charakteristik ließen sich für Balder leicht erfinden, wenn nicht
etwa Völ. 64 7) benutzt ist. — Hyndl. Str. 30—31 bringt die auf der
späten Zählung der Äsen fußende Aussage, Balder sei einer von den
J) Baldrs Quelle, Baldrs Grab u. a.; vgl. Mogk S. 327. Ein Grab des Zeus
auf Kreta, euhemeristisch ausgedeutet: Preller 1, 133. 135.
2) Ebd. S. 325.
3) Ebd. S. 327.
*) S. 327.
B) Oldnord. Lit. hist. S. 148.
6) Arch. f. n. Spr. 116, 269.
7) Gimle und das unvergängliche Glück nach Balders Wiederkehr.
§ 17. Hauptgötter. 317
zwölf gewesen, und wiederholt die Nachrichten, daß Odin Balders Vater,
Wali sein Rächer war; noch berichtet die Strophe, daß Balders Leiche
auf den Holzstoß kam.
Die Eddagedichte berichten also folgendes: erstens Balder ist der
Sohn von Odin und Frigg; zweitens, er wird auf Lokis Veranlassung
durch Hod getötet und zwar durch einen Schuß mit dem Mistelzweig;
drittens, Wali rächt ihn — ob an Hod oder Loki, wird nicht gesagt;
viertens, Balder wird auf dem Scheiterhaufen beigesetzt; fünftens, er kommt
einst wieder und herrscht mit Hod zusammen, das Opfer mit seinem Töter.
Diese Nachrichten können sehr wohl auf Eine Oberlieferung zurück-
gehen; jedenfalls hat es kein Bedenken, sie zu kombinieren. Im Gegen-
teil bleibt es auffällig, wie nahe sich diese Belege fast alle im Wortlaut
stehen. Sind sie auch zeitlich durch keinen allzugroßen Abstand ge-
trennt — von Vol. bis Hyndl. etwa 75 Jahre — , so würde doch bei der
starken Veränderung zu Saxo hin einiges Zuströmen von Varianten oder
Zwischengliedern zu erwarten sein. Weshalb fehlt so viel, was bei
Snorri steht?
3. Der Bericht der Snorra Edda ist in sich geschlossen und lücken-
los. Balder ist (nach Thor) Odins zweiter Sohn, schön ; ein heller Glanz
geht von ihm aus; er ist weise, spricht schön, ist milde: doch ist das
Eigentümliche dabei, daß keiner seiner Urteilsprüche in Kraft bleibt«1).
Er hat die Halle Breidablik und ein (ausnahmsweise anonymes) Roß, das
mit ihm verbrannt wird2). Er ist mit Nanna vermählt und hat den Forseti
zum Sohn3) — dies letztere wohl nur eine Konjektur Snorris, weil auch
Forseti ein milder Richter ist. Skadi wollte ihn freien, bekam aber den
Njord4).
Nach der eigentlichen Balderlegende5) hat Balder böse Träume (auch
Veg., wo aber nichts von deren Wirkung gemeldet wird); weshalb Frigg alle
Dinge, die ihm schaden könnten, in Bann nimmt. Übermütig schießen
und werfen nun alle Götter nach dem Liebling. Aber Loki erfragt bei
Frigg (wie Hagen bei Kriemhild), wie Balder verwundet werden kann:
ein Mistelzweig war noch nicht im eidfähigen Alter, Nun verführt Loki
den blinden Äsen Hod6), mit diesem Schößling auf Balder zu schießen;
und der Gott wird durchbohrt. Seine Leiche wird auf einen Scheiter-
haufen auf ein Schiff gelegt. Aber noch versucht man ihn zu retten.
*) Gylf. cap. 22: Gering S. 317.
2) cap. 15 S. 310.
3) cap. 32 S. 321.
4) Bragar. cap. 2: Gering S. 354.
5) Gylf. cap. 49: Gering S. 343—46; dazu cap. 53: S. 351,
6) Vgl. Gylf. cap. 22: Gering S. 321.
318 Viertes Kapitel.
Hermod, nur hier genannt (und vielleicht aus der Heldensage über-
nommen) *), reitet zur Unterwelt, um Balder zu lösen. Dies soll gewährt
werden, falls alle Dinge, lebende und tote, um Balder weinen. Hermod
bringt den feierlich mit allen Attributen um den Scheiterhaufen ver-
sammelten Äsen die Botschaft; doch Loki, als altes Weib Thökk (die
Schweigerin) verhüllt, macht die Bedingung unerfüllbar2). — Es folgt die
Rache und schließlich die Wiederkehr Balders und Hods aus dem Reiche
der Hei. (Also ist auch Hod dort hingekommen, jedenfalls durch Wali
getötet.)
In dieser Darstellung Snorris ist nichts, was dem früheren Befund
widerspricht. Wir haben auch hier denselben gütigen Gott, während er
bei Saxo3) kriegerisch ist — was doch noch ganz etwas anderes ist als
seine Tapferkeit nach Friggs Lob! Ferner finden wir die Keime ent-
wickelt, die wir im Merseburger Spruch aufspürten : den Feind, die fröh-
liche Versammlung (dort Jagd, hier Spiel auf dem Thingplatz), den Schuß,
die Heilungsversuche. — Auch stimmen zahlreiche Sagenparallelen4), nach
denen der sonst unverwundbare lichte Gott oder Held durch Verrat
mittelst der einzigen Waffe, die ihn fällen kann (oder an der einzigen
Stelle, an der er verwundbar ist)5), getötet wird.
Wir dürfen also, denke ich, annehmen, daß Snorri im Wesentlichen
zuverlässig die Sagengestalt wiedergibt, wie sie im Volk (oder in außer-
eddischen Quellen) auf Island lebte. Denn auch was er mehr hat, als
die Edda, sieht nicht nach Erfindung aus.
Neu den Gedichten gegenüber sind nämlich folgende Züge: erstens
die Bannung aller schädlichen Dinge durch Frigg; zweitens der Ritt Her-
mods; drittens der Versuch der Lösung und seine Vereitelung. Dagegen
ist Lokis Anfrage bei Frigg nur eine unvermeidliche Konjektur: er muß
eben irgendwie erfahren, wo die Achillesferse bleibt; das Spiel ist nur
eine genrebildliche Ausmalung eines an sich schon bezeugten und kaum
entbehrlichen Motivs — die todbringende Waffe wird auf dem Hinter-
grund der unschädlichen gezeigt — ; und selbst Hods Blindheit braucht
kein neuer Zug zu sein, da schon früh Loki als der eigentliche Täter
(Lokasenna) und Hod als der unfreiwillige Mörder unterschieden scheinen.
Jene Züge nun aber sind märchenhafte Zusätze, wie wir sie an so
vielen echten alten Mythen hängen sahen wie die Miesmuscheln. Märchen-
!) Hyndl. Str. 2; Mogk S. 327.
2) Um die in der Sintflut untergehenden Menschen weinen nach dem Keil-
schriftbericht alle Götter (Holzinger, Genesis, S. 87); die ganze Natur erzittert
bei Indras Geburt, auch die Götter (Macdon eil S. 56).
3) Meyer S. 404, Mogk S. 325, Niedner S. 305.
4) Vgl. Heusler in seiner Rezension von Kauffmann S. 493.
5) Vgl. über die »relative Unverwandelbarkeit« o. S. 18.
§ 17. Hauptgötter. 3 19
haft, aber aus echtem altem mythologischen Märchenstil ist es, daß alle
Dinge in Eid genommen werden1); märchenhaft sind die Einzelheiten
von Hermods Ritt; typisches Mythenmärchen ist die Klage der ganzen
Natur2). Nur Ein Motiv bleibt übrig: daß die Wiedergabe des Toten an
eine — unerfüllt bleibende — Bedingung geknüpft wird: ein Zug, der
ja auch typisch ist (Orpheus und Eurydike und das verbotene Umsehen,
vgl. Lots Weib; Persephone, die durch den Granatkern die Heimat ver-
scherzt). Es scheint aber schon älter, da der Schluß der Veg. dies Motiv
nach der Völ. nachzuholen für nötig hält3).
Auf Snorris persönliche Rechnung könnte man höchstens jene
ironische Bemerkung setzen, daß Balders Sprüche nicht zur Erfüllung
kommen ; soll sie etwa einer zu nahen Vergleichbarkeit des milden Richters
mit Christus entgegenwirken?
4. Im Bericht Saxos4) erblickt Balders Sohn Odin Nanna, die Tochter
des norwegischen Königs Gevarus, beim Baden — ein biblisches Motiv
(Bathseba, Susanna) von orientalischer Lüsternheit, dem germanisch alte
Parallelen nicht zur Seite stehen : ganz anders sieht Frey (Skirn. Einleitung)
Gerda, wie sie »vom Wohnhaus ihres Vaters zum Frauengrund« geht, etwa
wie Faust Gretchen erblickt. Doch könnte diese Einzelheit gelehrte Zutat
sein. — Nanna liebt den schwedischen Königssohn Hotherus. In zwei An-
sätzen — erst von walkürenhaften Waldmädchen, dann von Gevarus selbst —
erfährt Hotherus die relative Unverwundbarkeit des semideus Balder: dieser
kann nur mit dem Schwert des Waldgeistes Miming getötet werden. Diesem
lauert Hotherus auf, fesselt ihn und zwingt den satyrus, das Schwert aus-
zuliefern. Es kommt zur Schlacht, wobei die Äsen auf Balders Seite fechten;
trotzdem siegt Hotherus, und Balder flieht; Mimings Schwert bleibt außer
Aktion. Hotherus vermählt sich mit Nanna und wird in einer neuen
Schlacht seinerseits zur Flucht genötigt. Im Elend trifft er von neuem
die prophetischen Frauen, die ihm den Rat geben, von der kraftvermehrenden
Speise Balders zu essen. Nun durchbohrt er Balder, der nach drei Tagen
an der Wunde stirbt. Es folgt die Rache durch Bous.
Dieser Bericht enthält sicher alte Einzelheiten. So wird von einer
Quelle erzählt, die Balder erweckt, um sein Heer zu stärken, und ein
solches »Baldersbrunn« gibt es bei Roeskilde. Auch die seltsame Doppel-
prophezeiung der Waldnymphen könnte man mit jener Eigenheit Balders,
*) Wie im Dornröschen-Märchen; v. d. Leyen, Märchen, S. 22.
2) v. d. Leyen S. 26; R. M. Meyer, Mythologische Schemata, Arch. f.
Rel.-Wissensch. 10, 88.
8) Muchs naturallegorische Deutung des Weinens der ganzen Natur aus
den Harztropfen (Himmelsgott S. 258) muß ich ablehnen: weder Harz noch Tau
können von der ganzen Natur abgesondert werden.
4) Golther S. 273i; Olrik, Kilderne 1, 141 f. 2, 13f.
320 Viertes Kapitel.
daß seine Sprüche nicht erfüllt werden, in Verbindung bringen; nur daß
diese Angabe Snorris selbst1) bedenklich ist. Das wichtigste Moment
aber in Saxos Bericht bildet das Schwert Mim ings 2). Andere Einzelheiten
sind alt, aber schwerlich von vornherein mit der Balderlegende verbunden;
so der Wunderring oder die Schlange, die Gift in die Speise tropft —
was zu Lokis Fesselung sehr gut, zu Balders Götterspeise sehr schlecht paßt.
Im übrigen sieht die Erzählung, wie sie bei Saxo steht, nicht nur (wie
seine Geschichte von Rind auch) mit ihren mehrmaligen Peripetien mehr
romanhaft aus als. mythisch oder episch; es ist auch nichts von dem alten
Charakter geblieben. Balder, der helle, friedliche Gott, ist zum dunklen,
kriegerischen Zauberer geworden ; der Gatte der Nanna muß seine Gattin
einem Nebenbuhler überlassen ; Loki ist ausgeschaltet und das uralte Motiv
des Spiels mit den Waffen beseitigt. Es bleibt überhaupt nur erstens Balders
Unterstützung durch die Äsen, zweitens sein Tod durch eine prädestinierte
Waffe; sonst ist es ein historischer Roman auf die Namen Balder, Hother,
Nanna mit reichlicher Vorführung von interessanten kulturhistorischen
Details (Waldnymphen, Götterspeise, Thors Keule, Hotherus als vom Berg
herab Urteil erteilender Musterfürst)3).
Aber — es bleibt der wichtige Einzelzug des verhängnisvollen Schwertes.
Offenbar müßte dies zwar gleich bei der ersten Schlacht die Entscheidung
bringen ; auch ist seine Eroberung nach dem üblichen Schema (Fesselung,
Lösung) wahrscheinlich Zusatz, da eine solche besitzerklärende Mythe sonst
für die verhängnisvollen Waffen nicht nachzuweisen ist. Aber manche
Spuren in anderen Sagen scheinen auszusagen , daß Balder durch ein
solches Schicksalsschwert fallen mußte4).
Es wäre also wohl etwa so zu urteilen: daß Saxo auch hier gute
Quellen besitzt, sie aber eigenmächtig in seiner ironisch -antikisierenden
Art zu einem Roman verarbeitet5). —
Was den Kern des Baidermythus betrifft, so herrscht Einig-
keit6) über folgende Punkte: Balder ist7) ein lichter Gott, der nur durch
Eine Waffe getötet werden kann, d. h. der durch diese Waffe getötet wird.
Es ist soweit ein uralter indogermanischer, wenn nicht unvermeidlich-
menschlicher Elementarmythus: die helle Sonne stirbt, obwohl sie doch
eigentlich Sol invictus ist; also muß sie doch eine geheimnisvolle Ver-
wundbarkeit besitzen.
x) Siehe o. S. 318. 2) Siehe u.
3) Vgl. Olrik, Danske Studier, 1909, S. 1 f.
4) Aufgezählt bei Mogk S. 326.
F*) Der persönlichen Eigenart Saxos ist Olrik bei seinen glänzenden Quellen-
scheidungen doch wohl nicht ganz gerecht geworden.
6) Wenn man von Kauffmanns folkloristischen Irrwegen absieht.
3) Mogk S. 327. 377. Heusler a. a. O.
§ 17. Hauptgötter. # 32 j
Dieser Naturmythus wird erstens in typischer Weise historisiert, d. h.
der tägliche Vorgang wird in einen einmaligen verwandelt1); zweitens
im Einzelnen anschaulich episch gestaltet. Hierbei entstehen drei Fragen :
wie wird der Held getötet? durch wen? wie wird er wieder belebt?
Die Art der Tötung ist es, die diesen Mythen ihre eigenartige
Silhouette gibt. Wie wird Balder getötet? Nach der Edda durch den
Mistelzweig; nach Saxo durch ein fatales Schwert.
Man hat beide Aussagen geistreich kombiniert: »Mistiltein«, Mistel-
zweig sei der alte Name des Schwerts, mit dem Balder getötet wird, wie
denn tatsächlich dieser Schwertname in Sagen begegnet2), und es liege3)
ein irreführendes Orakel vor; etwa wie Kaiser Friedrich II. Florenz ver-
mied, weil ihm der Tod in der Blumenstadt prophezeit war, und in
Firenzuola starb ; oder ein Mißverständnis (ähnlich wie bei Mimirs Haupt
und in andern Fällen).
Für das Schwert als Balders Todeswaffe sprechen einige mythische
Analogien. Heimdali fällt durch das eigene Schwert, das Loki führt, Frey
steht dem letzten Kampf schwertlos gegenüber4). Ferner jene späteren
Mythenzüge, die aber alle auf eine spätere Ersetzung der Schußwaffe
durch das Schwert zurückgehen können; ebenso kann natürlich der
Schwertname »Mistelzweig« umgekehrt aus der Baidersage entstanden sein.
Gegen das Schwert sprechen folgende Argumente: Die ältesten
Sagen lassen den lichten Helden durch einen Schuß verwundet werden,
und diese Spur trafen wir auch in dem urgermanischen Baidermythus.
Auch entspricht die tückische Verwendung aus dem Hintergrund der
in diesem Mythus überall und unvermeidlich früh eingetretenen Ethi-
sierung besser als das tapfere Schwert. Noch bei Saxo fehlt die organische
Verbindung zwischen Waffe und Mord, die bei Snorri unmittelbar vor-
handen ist.
Gegen die Kombination beiderVarianten spricht, daß wir
alte Namen der mythischen Waffen nirgends glaubten annehmen zu
dürfen ; ferner, daß die Benennung für ein Schwert höchst seifsam scheint
und der Analogie entbehrt. Ein Schwert mag ,Balmung', Sohn des Glanzes,
heißen wie Siegfrieds Schwert5), oder Durandarte, oder Alteclere;
aber nach einer Schmarotzerpflanze benennt ein Germane seine Waffe
schwerlich, ehe deren Name mythisch geheiligt ist.
1) Vgl. o. S. 45.
2) Golther S. 379, 1.
3) Nach Niedners sinnreicher Vermutung S. 308. 321 f. Spruch der völva;
vgl. Golther S. 368.
4) Niedner S. 307, vgl. Mogk S. 326.
5) Schroeder a. a. O. S. 244.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 21
322 * Viertes Kapitel.
Gegen den Mistelzweig spricht, daß dieser sonst Glück und
Abwehr des Bösen bedeutet1); ferner die berühmte Analogie des Toledoth
Jeschu2). — Konrad Hofmann hat in seiner unendlichen Gelehrsamkeit
weit, weit ab von Balders Landen eine eigentümliche Parallele entdeckt, die
dann vor allem Bugge betonte. Eine Schmähschrift aus jüdischen Kreisen
stellt Jesus als einen Meister der schwarzen Magie dar. Christus hatte alles
Holz in Eid genommen , so daß er vor dem Galgentod sicher schien,
»denn er wußte sein Urteil wohl, daß er zum Hängen würde verdammt
werden«. Aber Judas hat in seinem Garten einen großen Krautstengel;
an den wird Jesus gehängt. — Von hier, meinte Bugge, stamme der
Mistelzweig. Aber ein Krautstengel als Kreuz und eine Mistel als Pfeil
sind doch zweierlei : gemeinsam ist eben nur das Motiv der relativen Un-
verwundbarkeit. Ebenso ist auch das gemeinsame Motiv, daß um Christus
wie um Balder einer sich weigert zu klagen, ein mythologisches Schema 8).
Für den Mistelzweig spricht: Eine finnische Rune, in der der
Held »mit einem giftigen Wasserpflanzenstengel« durchbohrt und ins
Wasser geworfen wird4). Die Altertümlichkeit des letzten Zuges verdient
besondere Beachtung: auch der getötete Osiris wird ins Wasser geworfen,
und bei Balder deutet Friggs Klage in Fensalir5) vielleicht noch auf das
gleiche Motiv. Weiter die Analogie der Hinrichtung Wikars6), die
jedenfalls größer ist als mit der Geschichte in Toledoth Jeschu. Ein
Rohrstab wird in der Hand des Verräters zum Speer, der den König
durchbohrt: »alles sterbt den, der sterben soll«7). Ferner weitere Sagen-
parallelen in dem Sinne, daß der Stärkere mit den schwächsten Waffen
bezwungen wird — eine beliebte mythische Paradoxie (wie ein Ungeheuer
mit Haarfäden gefesselt wird)8). Oder die Schwäche der Waffe wird auf
den Schützen übertragen : so kann Ilion nur durch die Pfeile des kranken
Philoktet erobert werden. Auch anders geartete und dem Sinne der
Baidermythen noch näher kommende Parallelen außerhalb der ger-
manischen Mythologie sprechen dafür; so die (späte) Sage, daß Gaia
ihre Söhne, die Giganten, durch ein Zauberkraut auch gegen Sterbliche
feien will (denn diesen gegenüber erlischt ihre relative Unverwundbarkeit,
wie umgekehrt Macduff durch keinen, den ein Weib gebar, fallen kann),
!) Niedner S. 321.
2) Vgl. v. d. Leyen, Märchen, S. 23 f.: Niedner S. 334.
3) Vgl. v. d. Leyen S. 25; meine Mytholog. Schemata Arch. f. Rel.-
Wissensch. 10, 88 f. Die Christianisierung des Mythus ist dann noch weiter fort-
geführt worden von K. Krohn, Finnische Beiträge zur Germ. Mythol., S. 118f.
4) Krohn S. 112.
5) Vgl. o. S. 274.
•) Vgl. o. S. 239; Golther S. 325.
7) Fäf. Str. 11; vgl. Detter S. 500.
8) Vgl. v. d. Leyen, Festgabe für Kelle 1, 7 f.
§ 17. Hauptgötter. 323
während Zeus, nachdem er der Sonne, dem Mond und der Morgenröte
zu scheinen verboten hat, das Kraut abschneidet1). Immerhin hängt also
auch hier das Leben des Festgemachten von einer kleinen Pflanze ab. —
Endlich besonders wichtig scheint uns: daß der Zweig gesch ossen
werden kann; einen Schuß setzt aber auch die deutsche Fassung voraus2).
Somit fürchte ich auch hier gegen den Strom schwimmen zu müssen,
indem ich den Mistelzweig für das Ursprüngliche halte8). Wir kommen
zu der Frage nach dem, der Balder tötet.
Die älteren Berichte wissen von Hod dem Mörder Balders; aber
daß er nicht aus Bosheit sündigte, machen schon hier die Verse wahr-
scheinlich, die Balder und Hod in der goldenen Zukunft als Freunde
zeichnen. Immerhin ist wahrscheinlich, daß in der ältesten Zeit einfach
Hod Gegner und Mörder zugleich war.
Hod heißt »der Kampf«; also ein Feind des milden Friedensgottes.
Er soll blind sein, was wohl ursprünglich nur seinen Gegensatz zur
Helligkeit ausdrückt: er lebt im Dunkeln; vielleicht ist es aber auch nur
eine Erfindung aus der Zeit, in der er Lokis blindes Werkzeug geworden
war. Denn trotz Johann von Böhmen kann ein Gott, der »Krieg« heißt,
schwerlich blind gewesen sein, wie Niedner4) betont: es wäre eine frostige
Allegorie. — Die kriegerische Natur ist bei Saxo gewahrt5), aber der
charakteristische Gegensatz verwischt.
Später ward dem üblichen Schadenstifter Loki auch hier die Haupt-
schuld zugeschoben. Daß jemals Odin der Anstifter gewesen wäre, wie
Detter6) will, ist durchaus abzuweisen : gerade er zeigt sich ja um Balders
Schicksal besorgt7). »Blind« ist nicht »einäugig«8), was Odin ja aller-
dings ist; und weshalb sollte Odin seinen Sohn umbringen wollen?
Sobald nun Loki, die spätere Kausalität alles Bösen, zur treibenden
Kraft geworden war, sinkt Hod, von dem eben nur diese Eine Tat be-
kannt war, zum blinden Werkzeug herab — zu jenem »blinden Hödur«,
dem Sinnbild unverständiger Nachgiebigkeit gegen böse Einflüsse, den
Fürst Bismarck den Deutschen ebenso unvergeßlich wie erfolglos als
Warnungsbild hingestellt hat. — Die Rache an Hod, erst nur eine un-
entbehrliche Genugtuung der Sippenehre, wird nun in die ethisch ge-
forderte furchtbare Bestrafung Lokis gewandelt. —
*) Prell er 1, 79; vgl. die Darstellung der Baidersage bei Saxo.
2) Ebenso wird Kanut beim Spiel aus dem Hinterhalt erschossen: Saxo
S. 321, Hermann S. 434.
3) Über die Entwicklung zum Schwert siehe u.
4) S. 315.
5) Mogk S. 325; vgl. Meyer S. 394.
6) a. a. O. S. 506.
7) Niedner S. 311.
8) Detter S. 502.
21*
324 Viertes Kapitel.
Die Wiederbelebung wird in manchen alten Mythen ausführlich
beschrieben : die Glieder des zerschnittenen Osiris werden zusammengefügt
und (unter Zaubersprüchen) belebt — was wohl den mythologisch epischen
Vorspruch zu der uralten Heilformel ben se bona , bluot si blnoda,
lid si geliden söse gelimida sin bildete l) ; ähnlich ist es in der Fabel
von Absyrtus. — Von Balder wird nur gemeldet, daß er wieder-
komme. Dennoch haben wir einen Fingerzeig, wie die Belebung zu
denken ist. Odin flüstert dem Balder ein Wort ins Ohr, ehe man
ihn auf den Holzstoß hob 2). Natürlich weiß ein moderner Mytholog das
Wort so wenig wie der arme Vafthrudnir. Aber an eine bloße Vexier-
frage möchte ich in diesem feierlich -ernsten Gedicht doch nicht3) glauben.
Das Zauberwort schläft mit dem Toten nnd geht, wenn die Zeit erfüllt
ist, auf wie eine Saat: dann weckt es den toten Gott4). Doch wird
diese Huldigung an den Totenerwecker Odin, wie sein Heilruhm im
Merseburger Spruch , jüngeren Datums sein : ursprünglich heilte wohl
die Zeit, wie sie Wölund5) die Flügel und Simson die Haare wieder
wachsen läßt. —
Wir können somit den alten Mythus wie folgt aus
seinen Gliedern aufzubauen suchen:
Balder hat als lichter Gott den dunklen Hod zum Feind. Er ist nur
durch eine Waffe zu töten, die keine Waffe ist (man denke an Macbeths Tod
durch den ungeborenen Macduff). Bei einem fröhlichen Waffenspiel schießt
Hod die schwächste Pflanze auf den Gott und tötet ihn6). Als ein gewiß
alter Zug folgt (wie noch, mit Beseitigung aller mythischen Zutat, im
Nibelungenlied) die Klage7), nicht christlich8), sondern den Adonisklagen
vergleichbar: ein Versuch, die chthonischen Gottheiten zu rühren und
dann ein ritueller Akt. Er wird in einen Versuch der Wieder-
bringung (Hermod - Thökk) umgedeutet. Auf das Mißlingen folgt die
Rache und jenseits der Weltgeschicke die Wiedergeburt.
Die literarische Entwicklung des Mythus kennen wir vor
allem durch Olrik. Die rein mythische Auffassung haben wir in den
Eddagedichten und bei Snorri (deren Differenzen Niedner übertreibt).
x) Erman, Ägypt. Rel., S. 36; vgl. Merseburger Spruch MSD. IV. 2, 7.
2) Vaf. Str. 54.
3) Wie in den Heidreksrätseln ; Eddica minora S. XCIII.
4) Wiederbelebung übt Odin sonst nur an Gehängten, weil sie ihm geweiht
sind, Häv. Str. 156; doch da Balder wie Wikar eine Art Speertod stirbt, fällt auch
er unter Odins Zauberbereich.
5) Siehe o. S. 165.
6) Ein realistisch-heroisches Motiv vgl. Beov. v. 2435 f., Detter S. 499; so
ist König Heinrich II. von Frankreich wirklich im Turnier erstochen worden.
7) Mogk S. 326, Niedner S. 329.
8) Meyer S. 401.
§ 17. Hauptgötter. 325
Daraus entwickelte sich eine rationalisierende isländische Saga, und schließ-
lich schreibt Saxo eine »Rettung« Hothers1). Die ältesten Zeugnisse fallen
um 900 2); um 950 ist die Sage fertig entwickelt3). — Die Entwicklung
nimmt einen charakteristischen Gang: vom Mythischen zum Märchen-
haften4) und dann wieder ins Aufgeklärte. Später schrumpft der Gott
wieder in der volkstümlichen Überlieferung zu einem Kleinkönig auf See-
land ein, dessen Gegner Hoder in der Nähe saß 5). — Rein literarisch ist
dagegen wieder der späte Versuch der Frithjofsage, den Kult Balders in
den glänzendsten Farben zu schildern: ein Baldertempel am Sognefjord
mit großer Heiligkeit6). Das beweist nur, daß man sich im 13. — M.Jahr-
hundert von neuem für Balder interessierte. Natürlich hat dabei die
vielleicht vom Christentum geförderte, jedenfalls jetzt vom Christentum
gewürdigte Ethisierung Balders beigetragen 7). —
Erst jetzt dürfen wir die Frage aufwerfen, woher die mythische
Gestalt Balders selbst stamme. Man leitet ihn in der Regel von
dem Himmelsgott ab; Detter8) setzt ihn mit Frey gleich, weil er wie dieser
mild und kriegerisch zugleich ist. Gewiß steht er Frey nahe, wie er ein
spendender Gott9). Bedenkt man aber die große Zahl mythischer und
sagengeschichtlicher Parallelen10), so erscheint es schwer glaublich, daß
von Zeus, Tyr usw. jedesmal im Sonderleben der betreffenden Völker eine
fast gleiche Gestalt abgespalten sein soll ; eine wirkliche Identität aber, die
Balder als eine schon indogermanische Hypostase des Himmelsgottes dar-
tun würde, ist nicht zu erweisen. Das Wahrscheinlichste ist vielmehr
wohl, daß all diesen Gestalten eine gleiche Bildung vorausliegt, nämlich
ein Dämon des Lichts, der von dem Sonnengott unabhängig ist.
Berührungen konnten bei seinem Anwachsen zu göttlicher Bedeutung
gewiß nicht ausbleiben (der Sonnenhirsch); entscheidend aber scheint, daß
dieser Gott von eigentlichen Funktionen fast ganz frei bleibt. Wir
erfahren nirgends, daß ihm eine spezielle Aufsicht anvertraut ist wie dem
*) Vgl. Heusler S. 492.
2) Wohin Niedner S. 311 das alte Vegtamslied setzt.
3) Mogk S. 325; vgl. Niedner S. 317.
4) Vgl. Meyer S. 400.
5) Mogk S. 327.
6) Meyer S. 406.
7) Gegen die Annahme, daß der Mythus überhaupt christliche Elemente
berge — Bugge, Studien 1, 83t; vgl. Golther S. 378, Meyer S. 401 —
Olrik, Sakses Oldhistorie 2, 13 f.; vgl. Mogk S. 324. Nacheddische Balder-
legenden: Olrik, Kilderne 2, 381 44.
8) S. 513.
9) Mogk S. 325.
10) Detter S. 514; Niedner S. 334; Kauffmann; Schuck; v. d. Leyen
passim.
Viertes Kapitel.
Frey oder Thor; eine solche Spezifikation müssen wir aber theoretisch
fordern, wo eine Hypostase angenommen werden soll. Ebensowenig ist
es trotz den scharfsinnigen Bemühungen Kauffmanns gelungen, einen Ritus
nachzuweisen — es sei denn eben jene eine wichtige Zeremonie des
Klagens, die die Götter und alle Wesen im Mythus üben, wie auf Erden
Adonis oder Osiris oder Balder beklagt wurde.
Unverkennbar ist bei dieser Gestalt das frühe Eingreifen der Helden-
sage und der Epik überhaupt. Ihre Einwirkung verrät sich schon in der
starken Ethisierung der Charaktere; dann aber auch in den Situationen.
Der Traum — wenn er alt ist — : das ritterliche Spiel, die Absendung
eines Boten, die prunkvolle Beisetzung — das sind alles epische Lieblings-
motive, wie wir sie im Nibelungenlied oder Iwein, Achilleis oder Beowulf
in charakteristischer Ausprägung wiederfinden. Nun ist ja in der Tat die
Verwundung und der Tod ein Gegenstand mehr für die Heldendichtung
als für die Götterdichtung. Und hier liegt wohl die Achse des Stückes.
Kern des Mythus ist überall, wie wir sahen, daß der lichte Gott von dem
dunklen getötet wird — so möchte ich es ausdrücken ; die Helligkeit und
das Dunkel scheinen mir hier die herrschenden Vorstellungen , nicht
Sonne und Wolke oder Nacht. So also stirbt die Helligkeit, das Lichte,
Osiris, Adonis, Balder — eine tägliche Erfahrung. Sie deckt sich mit
der kaum minder häufigen Erfahrung von der Tötung des hellen, jungen
Lieblingshelden durch den feindlichen und also bösen, tückischen Kämpfer.
So treffen sich hier notwendig Mythus und Stammesepik, und Siegfried
oder Isfendiar, Achilleus oder Helgi werden Helden des Volksepos; Osiris
aber und Balder (und in früheren Epochen wäre es Antinous ebenso ge-
gangen) werden Hauptpersonen eines mythischen Epos. Dies ist getränkt
von Wirklichkeitsmalerei : der Traum, die Sorge, die leidenschaftliche Klage,
der Scheiterhaufen — wo fände man so realistische Züge auch nur in der
Anschaulichkeit der Thrymskvida? sie stammen aus der Analogie des
wirklichen Heldenschicksals. Ist nicht auch uns Theodor Körner nahezu
eine mythische Gestalt geworden? ist er es nicht schon in Uhlands Wenn
heut ein Geist herniederstiege, zugleich ein Sänger und ein Held — «?
Und zugleich ist hier mehr Dunkles, Mystisches als in den meisten Mythen :
die geheimnisvolle Waffe, das blinde Werkzeug, das Zauberwort ins Ohr
des Toten geraunt. Sie stammen aus der mythischen Stimmung einer
Periode, die der klaren Götterbildung vorausliegt — der dämonistischen,
mit zerfließenden Gestalten und Zauberspuk arbeitenden Epoche.
Hierin liegt der besondere fesselnde Reiz der Erzählung: sie hat
allen Zauber einer längst historisch gewordenen Stilmischung — den
Zauber der Volksepen, den Zauber des Straßburger Münsters. Die Stil-
reinheit von Skfrnisför oder Thrymskvida fehlt — nicht etwa bloß den
Berichten, nein, schon dem Mythus selbst; die sympathische Hauptgestalt
§17. Hauptgötter. 327
entbehrt der scharfen Umrisse Thors oder Odins. Aber zwei Epochen
haben ihr Bestes auf die Bahre des sterbenden Gottes gelegt: die dumpfe
Befangenheit des indogermanischen Dämonismus, und die frische Lebens-
lust der überall anhebenden weltlichen Epik. Die Helden weinen über
den toten Gott ; und so ist die Intensität dieser Klage denn auch religions-
geschichtlich wichtig: konnte wirklich, wie Olrik meint, an eine allgemeine
Unsterblichkeit auch nur der Helden geglaubt werden, als sogar ein Gott
in Hels Reich eingehen mußte? Denn seine späte Wiederkehr löst den
Schmerz um seinen wirklichen Tod nicht. —
Unter den vielen Hypothesen, die bei Deutung der Rätsel von Balder
vorgebracht sind, möchte ich nur vier der scharfsinnigsten kurz erwähnen :
die von Bugge, Detter, Kauf f mann und Schuck. Sie mögen auch dem
Kritiker zeigen, wie zurückhaltend ich noch in mythologischen Ver-
mutungen bin.
1. Bugge hat die da n i sc he Baidersage fast ganz in ein Mosaik mittel-
alterlicher Reminiszenzen aufgelöst1): Saxos Hotherus ist Paris, der den
Achilles tötet2); Nanna ist Oenone3); Gevarus deren Vater Cebren4)
Hothers Begegnung der drei Waldmädchen entspricht der des Paris mit
den drei Göttinnen5), wobei des Dares Excidium Trojae vermittelt hat6);
doch muß noch Benoits Roman de Troie7) hinzugezogen werden. Der
Eingriff der Götter in den Kampf muß wieder unmittelbar auf den
Trojanischen Kampf zurückgehen8) — obwohl Bugge selbst den ent-
scheidenden Unterschied hervorhebt, daß dort die Götter geteilt sind, die
bei Saxo geschlossen auf Balders Seite kämpfen. Und wenn die drei
Waldmädchen dem Balder stärkende Speise bringen , Athene aber dem
Achill Nektar und Ambrosia in die Brust gießt, so ist das9) »eine un-
verkennbare Übereinstimmung« , bei der Saxo gar Ausdrücke des Homer
noch bewahrt haben soll.
Bugges Werk lü) ist uns heute nur noch das Denkmal einer ehr-
würdigen Persönlichkeit und einer überwundenen Epoche. Den großen
Forscher zog eine unendliche Gelehrsamkeit in ihre Netze; er wußte ihr
nicht zu gebieten. So ist sein Buch verhängnisvoll geworden: von ihm
ging jene böse Manier der Motiven - Mosaikkunst aus, die nun in Boers
Sagenforschungen wohl ihre tragische Höhe erreicht hat11). Denn nun ist
x) Studien 1, 83 f.; vgl. z. B. Golther S. 380; gegen Bugge Olrik, Sakses
Oldhistorie, S. 46.
2) S. 85. 3) S. 89, vgl. 177 f. *) S. 89. 5) S. 94.
6) S. 95. 7) S. 101 f. 8) S. 108. 9) S. 124.
10) Studien über d. Entstehung d. nordischen Götter- u. Heldensagen, übs.
v. O. Bremer, München 1889.
n) Vgl. meinen Aufsatz »Der Sprung aus dem Fenster Ztschr. f. d.
Alt. 51, 292.
328 Viertes Kapitel.
ganz verloren, was Bugge doch noch besaß: eine vereinheitlichende Ge-
samtauffassung. Zwar realisieren läßt sich auch dieser Saxo nicht: ein
hochgelehrter Mönch, der die entlegenste Literatur, Scholien zu Tzetzes
gar, so gut kennt wie die einheimische Sage oder die großen epischen
Dichtungen des Mittelalters, und der nun wahllos bald hierhin, bald dort-
hin greift, um der alten Sage ein neues Kleid zu sticken. Aber Bugge
bemüht sich doch wenigstens, in jedem Einzelfall die Möglichkeit der
Übermittlung nachzuweisen, wo die Epigonen einfach Steinchen aus zehn
Baukästen aneinanderlegen.
Indes ist doch vor allem in den Einzelzügen Bugges methodische
Schwäche zu suchen. Es ist vergleichende Sagengeschichte ohne Ver-
gleichung der Sagen; es ist einerseits ein weltenweites Umgreifen nach
Ähnlichkeiten, und anderseits ein Übersehen der stärksten Übereinstimmungen.
Aufgebaut ist die ganze Vergleichung auf der relativen Unverwundbarkeit
von Achill und Balder — daß dies Motiv auch sonst so oft begegnet,
wird ignoriert. Immer müssen literarische Beziehungen aufgedeckt werden ;
selbst wenn Balder eine Quelle öffnet, soll das auf — Lykophron zurück-
gehen, obwohl Bugge selbst x) auf den Ortsnamen Baldersbrunn hinweist.
Dazu dann die überkühnen Etymologien wie Gevarus — Cebren oder
Oenone — Nanna. Ein bedeutender Gelehrter wühlt freudig in der Fülle
von Anklängen und wagt nicht, sie methodisch zu vereinfachen, wie daß vor
allem Adalbert Kuhn lange vor ihm getan hatte. Aber es half doch immer
neue Beziehungen zu finden: zu Irland, zur mittelalterlichen Literatur.
Die modernen Bugges ohne seine Kombinationsgabe, dafür mit einer
mechanisierten »Methode« (der das Beste aller Methode fehlt: der gesunde
Menschenverstand) schreiben über die alte Dichtung neue Prosadichtungen,
die nicht einmal heuristische Bedeutung haben, und bringen uns von dem
in gesunder Verbindung von Analyse und Synthese bei Olrik, Jiriczek,
Panzer erreichten Wege wieder ab.
Viel einfacher beurteilt Bugge die isländische Baidersage. Sie ist
christianisiert, was Saxos Bericht nicht ist2). Balder ist in Christus um-
gedeutet, Loki ist Luzifer, der, wie Goethes Mephisto, seinen Schwanz
verloren hat3). Hödur ist Longinus4), der Christus mit der Lanze durch-
bohrt, und der Krautstengel des Toledoth Jeschu ist5) das Kreuz. — Diese
Anschauungen hat K. Krohn6) fortgeführt7).
Über die Einzelpunkte haben wir schon gehandelt: über den Kraut-
stengel, das Weinen der Natur8). Hier ist noch einmal das Ganze zu
*) S. 111. 2) S. 84.
3) S. 53. 73. 4) S. 55. 85.
5) S. 47 f. 6) Siehe o. S. 322, 3.
7) Vgl. Kau ff mann, Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 117.
*) S. 87 f.
§ 17. Hauptgötter. 329
prüfen. Wie soll man sich die Entstehung der christianisierten Baidersage
vorstellen? Soli ein Christ den nordischen Christus vom Teufel über-
wältigen und in die Unterwelt mit seinem Mörder fahren lassen? Soll
ein Heide den Feind seiner Götter verherrlichen? Gewiß entstand ein
religiöser Synkretismus auch auf Island; aber wie er aussah, zeigen jene
Legenden von Thors Erscheinen bei den Neuchristen, zeigt vielleicht selbst
der Schluß der Völuspä. Wer aber aus Balders »mildem« Wesen schon
christlichen Einfluß folgert, der muß den Helgi der Helg. Hjörv für einen
reinen Christen erklären. Und wie urheidnisch ist die Rache für Balder!
2. Detter1) knüpft mit kühnster Kombination die Baidersage an das über
die ganze Welt verbreitete Motiv vom Brüderkampf an. Odin verhetzt
die Brüder Balder und — Wali zum Kampf und spielt den Mistelzweig
dem Mörder Balders in die Hände, der dann (wie bei Wikar) zum tötlichen
Speer wird. — Von der Unhaltbarkeit einzelner Kombinationen abgesehen,
ist auch hier ein erstaunlicher Mangel an Gefühl für die Seele eines
Motivs, wenn man so sagen darf, zu beobachten. In einer auf den Mord
in der Sippe begründeten Fabel wird natürlich vor allem das genealogische
Motiv betont. Wie nachdrücklich stößt Hildebrand seinen Schrei aus :
»Nun wird mich mein eigenes Kind mit dem Schwert erschlagen!« Hier
aber wäre gerade der Kern der Fabel verloren! Etwa, wie wenn einer
die Ödipusfabel so vortragen würde: »Nachdem Ödipus den Laios (seinen
Vater) erschlagen hatte, vermählte er sich mit Jokaste, die übrigens auch
seine Mutter war.«
3. Kauffmanns schwieriges, weil allzugelehrtes Buch hat Much 2) über-
sichtlich analysiert. Kauffmann, der überhaupt jeden Mythus mit einem
Ritus in doktrinäre Verbindung bringt 3), findet den Schlüssel zur Erklärung
des Baidermythus (den er vorzugsweise nach Saxo aufbaut) in dem Ritus
des Sühneopfers. Balder wird von den Göttern geopfert, damit die Gefahr
von ihnen abgewandt wird ; die Kultsitte des Todaustragens oder vielmehr
das ihr vorausgehende Menschenopfer sei in den Himmel übertragen. —
Diese wesentlich von Frazer angeregte folkloristische Auffassung wird mit
dem Motiv des »verborgenen Lebens«, d. h. der in irgendeinem Gegen-
stand deponierten Lebenskraft (Meleagermotiv) kombiniert, in weitgehender
Ausdeutung einer gewaltsam gedeuteten Stelle4).
Daß diese interessanten Kombinationen unhaltbar sind, haben die
Rezensionen von Heusler, Mogk und Much ausführlich dargetan. Wir
haben hier — mit diesen Kritikern — hervorzuheben, wie auch Kauff-
mann dem Mythus das Herz ausbricht, indem er gerade den bezeich-
*) PBB. 18, 82 f. 18, 495!.; vgl. Golther S. 380.
2) Gott. Gel -Anz. 1908 S. 361 f.
s) Vgl. z. B. Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 113. 115.
4) Vol. Str. 32.
330 Viertes Kapitel.
nendsten Eigenzug (was Heyse den »Falken« einer Novelle nennt) in den
Hintergrund schiebt: die relative Unverwundbarkeit des Helden.
4. Schuck lehnt sich zum Teil an Kauffmann an 1), geht doch aber bei
folkloristischen Ausgangspunkten (wie auch dieser selbst bemerkt) mehr
literarhistorisch vor. Er löst Saxos Baidersage in zwei sich folgende
. Parallelberichte 2) auf, die norwegische und die dänische, kompliziert aber
die Grundidee von Bugge und Olrik durch mancherlei Filiationen8),
schlingt ebenfalls die Dioskurensage4) und ein kühn erschlossenes Frey-
Ritual5) hinein und kommt schließlich zu einem vereinfachten mythologischen
Roman in Saxos Art: Odin hat Balder festgemacht, außer gegen eine
Waffe, deren Gebrauch von dem Brechen eines Mistelzweiges abhängt.
Hoder bricht den Zweig, holt die Mistel, kämpft gegen Balder, wobei
Odin und Loki mitkämpfen Wir haben hier den äußerlichen Syn-
kretismus, wie er etwa in gewissen irenisch-harmonisierenden Bestrebungen
der Theologie seine Triumphe gefeiert hat; ein Mythus entsteht, der wegen
der Häufung der Motive nicht ursprünglich sein kann und mit seiner
breiten Ausgleichungsmanier die Pointen der Sage zerbricht. —
Man schelte diese Kritik nicht »überheblich«. Sie geschieht nur, um
auf die Notwendigkeit einer spezifisch mythologischen Behandlungsweise
mythologischer Probleme hinzuweisen. Wenn Bugge mit seiner viel-
seitigen Bedeutung, Detter mit seinem Scharfsinn, Kauffmann mit seiner
Gelehrsamkeit, Schuck mit seinem Geist am Schwarzen vorbeischießen —
und daß sie das tun, haben für alle vier schon andere erwiesen — , dann
ist das eine Mahnung für alle Mythologen. Kauffmann hat das folklo-
ristische Moment überspannt, wie die anderen das sogenannte geschicht-
liche; alle haben aber die Sage zwar mit Motiven aus aller Welt (und so
auch aus der Mythologie der Edda) zusammengebracht, sie aber dennoch
isoliert gelassen, wo es sich um ihren Zusammenhang mit der germanischen
Gesamtmythologie, um ihre Stellung innerhalb der Religionsgeschichte
handelt. In diesen Dingen ist von J. Grimm, ja von W. Müller und erst
recht von den beiden Petersen mehr zu lernen als von der virtuosen
Analyse Schucks und Kauffmanns oder der geistreichen Synthese Bugges
und Detters. Deshalb habe ich diesen brennenden Punkt zur Exempli-
fikation mythologischer Methodologie gewählt — obwohl ich weiß, daß
nun jeder Kritiker bemerken wird, ich »fühle mich glücklich im Besitz
der allein seligmachenden Methode«. Doch nein; das Wort, das Odin
dem toten Balder ins Ohr geraunt, wissen wir alle nicht.
x) Vgl. Kauffmann, Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 113.
a) I: S. 31; II: S. 41, vgl. S. 92. 93.
3) Diagramm S. 102. 240.
4) S. 103. r>) S. 248 f.
§ 17. Hauptgötter. 33 1
Ergänzend können wir vermuten1), daß Balder, nachdem er ein
Gott geworden war, wohl auch sein Attribut erhielt: als solches ist
wohl sein Roß anzusehen2), das mit ihm verbrannt wurde3). Losch4)
geht in der Deutung von mancherlei Fußspuren auf dies Fohlen zu
weit, hat aber wohl recht, wenn er das Pferd für eine Ersetzung des
Hirsches5) ansieht. Daß die Quellenerweckung, später realistisch als
Quellenfindung umgedeutet, zu den besonderen Kräften Balders und seines
Rosses gehörte, dafür spricht noch jene Quellenfindung Balders bei Saxo ;
aber dies sind übertragene Züge6). —
Wir kommen nun zu Balders Sippe. Als seine Gattin bezeichnen
Edda und Saxo (der zwar daraus die von Balder nur begehrte Gattin des
Hotherus macht) übereinstimmend Nanna. Die Eddagedichte wissen nichts
von ihr; eine andere, sterbliche Nanna (mit anderem Vater: Nökkwi) wird in
einem späten Gedicht7) erwähnt. »Es kommt sonst sehr selten vor, daß
Menschen die Namen von Göttern führen«8). Die Prosaedda zählt9)
Nanna an letzter Stelle in einer wilden Liste der Asinnen auf, die durchaus
abgeleiteter Natur ist. Ferner erzählt Snorri bei dem ausführlichen Bericht
über Balder von ihr zweierlei : erstens, als die Leiche des Gottes auf den
Scheiterhaufen gebracht wurde, brach der Gattin das Herz10); zweitens,
aus der Unterwelt sendet sie als Abschiedsgruß an Frigg ein Kopftuch,
an Fulla einen goldenen Fingerreif, während Balder dem Hermod den
Ring Draupnir mitgibt u). — Endlich nennt Snorris Götterkatalog 12) Nanna
Neps Tochter noch als Mutter Forsetis.
»Nanna die Kühne13) ist eine Frauengestalt wie etwa Hilde, die Streit
unter tapferen Helden veranlaßt«, meint im Anschluß an Saxos Bericht
Golther u). Indeß bezeugen die eddischen Belege nichts von einer solchen
Bedeutung Nannas, und selbst bei Saxo bleibt sie ganz im Hintergrund,
obwohl doch in seinem Roman (selbst wenn man von Bugges Verweisen
auf Paris absieht) eine Helena-Rolle nahegelegen hätte. — Vollkommen
*) Von weiteren Hypothesen erwähne ich nur noch die Muchs, der (Ztschr.
f. d. Alt. 46, 309) Balder und Hod mit den beiden Brüdern der Grimnismal und
Hod noch mit Heidrek kombiniert.
2) Merseburger Spruch.
3) Gylf. cap. 15: Gering S. 310.
4) S. 28. 5) S. 46 f.
6) Über elgv söl yr in der Runenreihe vgl. meine Rezension von Losch
S. 112 Anm.
7) Hyndl. Str. 20. s) Gering z. d. St.
9) Brag. cap. 1: Gering S. 352.
10) Gylf. cap. 45: Gering S. 345. 11) Ebd. S. 346.
52) Gylf. cap. 32: Gering S. 321.
13) Vgl. zum Namen Golther S. 378 Anm.; Hellquist, Ark. f. n. Fil.21, 137.
14) a. a. O.
332 Viertes Kapitel.
stimme ich dagegen Golther bei, wenn er1) ihre stimmungsmäßige Auf-
gabe betont: »Die Wirkung des rührenden Bildes vom Morde des reinen
Gottes wird erhöht, wenn das liebende Weib ihm zur Seite steht, dessen
Herz vom Todesstoße mitgetroffen wird2).« Von hier, glaube ich, ist
die ganze Figur zu verstehen. Wie die Szenen, denen sie gesellt ist: die
umständliche Bestattung, der Botenritt Hermods, so gehört sie selbst zu
den Anleihen der Baidersage bei der Heldendichtung, und ihr Name sogar,
wie der Hermods, mag von dort stammen. In jener Epoche, da eine fast
sentimentale Erweichung den starken Helden eine treue Liebe zur Seite
gab, in der Zeit der nordischen Helgilieder, gab man dem Götterliebling
ein treuergebenes Weib, wie sogar seinem Widerpart Loki in Sigyn 3) ein
solches beschert ward. — Aus der Epik stammen denn wohl auch die
singulären Abschiedsgeschenke4). Sie sind individualisiert und gelten
zunächst Odin und Frigg, den Eltern; Fulla ist dann wohl als Schatz-
verwalterin dazugekommen, oder einfach in einer Strophe durch den
Stabreim mit Frigg. Auch im Merseburger Spruch füllt Fulla den Vers
so schön aus.
Forseti5) ist wohl dem Balder nur durch künstliche Verwandt-
schaft6) verbunden, wie denn auch zu dem Bild des jugendlichen Gottes
solcher Sohn nicht recht paßt und man Odin ungern als Großvater
sieht. — Wer der Schwiegervater N e p war, wissen wir auch nicht; seine
Lebensaufgabe ist, mit Nanna zu alliterieren, wie es auch Nökkvi tun
muß. —
Mit der — in vielfacher Hinsicht — exzentrischen Gestalt Balders
verlassen wir den Kreis der Hauptgötter, müssen aber nochmals daran
erinnern, daß man sich diese nicht etwa als eine geschlossene Gruppe
denken darf; das Goldene Buch bleibt offen, Namen werden neu ein-
getragen, andere gelöscht.
§ 18. Gegengötter.
Es ist eine höchst merkwürdige religionsgeschichtliche Tatsache, daß,
sobald Göttergestalten gebildet werden, bald auch Gegengötter ent-
stehen. Mit diesem Terminus bezeichne ich nicht solche Götter, die zu
einzelnen anderen im Gegensatze stehen — eine Erscheinung, die eben-
falls unvermeidlich eintritt, sobald sich ein Henotheismus entwickelt, d. h-
die entschiedene Vormachtstellung eines einzelnen Gottes, wie wir
') S. 379.
2) Zu dem Zerspringen des Herzens vgl. v. d. Leyen, Märchen, S. 27.
3) Gylf. cap. 50: Gering S. 347.
4) Vgl. Sig. sk. Str. 49.
5) Gylf. cap. 32: Gering S. 321.
6) Vgl. u.
§ 18. Nebengötter. 333
solche Kämpfe zwischen Thor und Odin so deutlich beobachten können.
Unter »Gegengöttern« aber verstehe ich solche Gestalten, die, im übrigen
den Göttern nahe verwandt oder völlig gleichartig, zu ihrer Gesamt-
heit in Feindschaft stehen, ja geradezu ein der Götterwelt feindliches
Prinzip darstellen *).
Das Phänomen ist kein zufälliges, sondern mit dem Wesen des
Götterglaubens selbst unlösbar verbunden2). Denn die Stufe der Götter-
verehrung ist, wie wir sahen, mit einer zunehmenden Ethisierung der
übermenschlichen Wesen identisch; mindestens werden die Götter als
diejenigen Mächte betrachtet, die die physische wie die ethische Welt auf-
bauen und schützen, für das Recht, den Eid, die Heiligkeit des Hauses
eintreten und selbst im Verkehr mit den Menschen eine größere Zuver-
lässigkeit erweisen, als sie von den fahrigen Geistern und Dämonen er-
wartet werden darf. (Natürlich bleiben alle diese Züge relativ: Odin
genügt den ethischen Ansprüchen des Thorverehrers in der Lokasenna
keineswegs.)
Der Typus der Gegengötter weist nun aber mancherlei Varianten auf.
Sie können einerseits ganz auf der Stufe der Dämonen gehalten werden:
formlose, wilde Vertreter der ursprünglichen Ordnung oder Unordnung,
die gegen das neue Prinzip des ,Kosmos* revoltieren, Raubritter, die »schon
vor den Hohenzollern im Lande waren« (wie Herr v. Waldow-Steinhövel
im Preußischen Herrenhause sagte), Romantiker des Chaos. So bei den
Hellenen die Titanen und Giganten: der hellenische Geist versagte diesen
Barbaren die volle Gunst der hellenischen Götterbildung. Anderseits
können sie zu einer vollständigen Gegenwelt ausgebildet werden, so daß
jeder wohltätige Geist sein gleichsam parodistisches Gegenbild hat und
dem höchsten Gott ein höchster Herr der bösen Geister gegenübersteht —
eine Form, die die vollkommenste Ausbildung in dem Dualismus der
persischen Religion gefunden hat. Zwischen beiden Extremen stehen zahl-
reiche Mittelformen. So ist der indische Vritra3) — bei demNoreen4) mit
geringem Recht eine genaue Übereinstimmung mit Loki findet — noch
immer ein bloßer gestaltloser Dämon, dessen Wesen sich besonders auch
wieder darin verrät, daß er5) auch im Plural vorkommt, in unbestimmter
x) Freilich können in diese Klasse auch echte alte Götter durch die Feind-
seligkeit der Verehrer der neuen gedrängt werden und umgekehrt; man denke
nur an die Polemik, die in C. F. Meyers der im Kult von St. Felix und Regula
ergraute Domherr gegen die Verehrung des hl. Thomas von Canterbury ausübt !
Aber der metaphysische Ursprung führt häufiger zu Gegengöttern.
£) Vgl allgemein Wundt S. 473.
3) Macdonell S. 158.
4) Vgl. Golther S. 410.
B) Macdonell S. 359.
334 Viertes Kapitel.
Zahl oder mit der märchenhaften Dämonenzahl 99. Aber zugleich wird
er doch als Repräsentant der bösen Mächte in so hohem Grade betrachtet
daß seine Fällung als diejenige Tat erscheint, durch die Indra seine
Stellung begründet hat *) — gerade wie Apollon der Pythontöter 2) , ist
Indra der Vritratöter. — Die germanische Mythologie finden wir im Norden
auf einer Stufe, die etwa zwischen der primitiveren indischen und der
reiferen persischen steht: Dämonen, aber doch schon unter der bestimmten
Führung Eines götterartigen Wesens; keine völlige Gegenwelt, aber doch
beim geringsten Kampf die Möglichkeit einer fast vollständigen Aufteilung
zwischen beiden Heerscharen, so daß jeder Gott seinen teuflischen
Gegner hat. Teuflisch — denn diese Vorstellung ist in der Tat aus denselben
Anschauungen hervorgegangen, die das böse Prinzip orientalischer Reli-
gionen noch im Christentum lebendig halten konnten. Der Widerstreit
zwischen dem Postulat einer geordneten, gerechten Weltordnung und den
Erfahrungen, die nach Hamlets Monolog eigentlich jeden zum Selbstmord
treiben müßten — dieser dem ursprünglichsten Menschen wie dem Dichter
des Hiob oder dem Verfasser der Theodicee empfindliche Widerstreit wird
durch die Annahme böser Kräfte erklärt. »Der Teufel ist das Alibi Gottes«
und Ahriman ist die Entschuldigung für Ormuzd. Dazu kommt, daß ja
schon auf den frühesten Stufen die persönliche Erfahrung von der feind-
lichen Gesinnung einzelner Dämonen bestand, die bei den Elfen sogar
schon in eine völlige (wenn auch wohl nicht von vornherein ethische)
Zweiteilung in dunkle und helle Geister geführt hatte.
Als allgemeine Regel kann wohl aufgestellt werden, was sich unter
diesen Umständen leicht begreift, daß die Vertreter des bösen Prinzips
nicht neu geschaffen werden, sondern diese Funktion auf mächtige, längst
gefürchtete, vielfach auch bereits im Interesse ihrer irdischen Klienten von
den Göttern bekämpfte Dämonen übergeht.
Diese aus vergleichender Religionsbetrachtung gewonnenen Prole-
gomena helfen die sehr interessante Erscheinung des nordischen Gegen-
Odin verständlich machen und sind wohl auch für die Wahrscheinlichkeit
einer bestimmten Entwicklungsgeschichte Lokis nicht ohne Nutzen. Denn
um diesen konzentriert sich die Nebengötterschaft : nur Ein Glied der-
selben ist vielleicht von Haus aus selbständig: Hod.
An die Riesen, mit denen Thor zu kämpfen hat, ist nur kurz zu
erinnern : wie die Giganten der griechischen Mythologie sind es Vertreter
der früheren, vorkosmischen Zustände, die wieder überhandnehmen würden,
wenn nicht Thor viele Riesenweiber tötete3). Aber sie treten in den
Götterkreis nicht wie Hod und Loki ein. —
») Ebd. S. 60. 2) Preller 1, 239.
3) Härb. Str. 23.
§ 17. Gegengötter. 335
Von Hod1), dem Mörder Balders, erfahren wir sonst in der Prosa-
Edda nur noch, daß er stark war, wofür sonst kein Anhaltspunkt gegeben
ist. Hotherus bei Saxo 2) ist noch stark, kunstfertig, ein Meister im Saiten-
spiel — was eben nur bedeutet, daß er ein vollkommener Ritter ist wie
Tristan. Nach unserer Auffassung des Bäldermythus können wir Hod nur
als einen dunkeln Dämon ansehen, der den lichten Geist ursprünglich
wohl selbständig tötete und zwar durch einen Schuß. Er könnte schon
gemeingermanisch sein, da wir einen solchen Schuß schon im Merseburger
Spruch angedeutet glaubten; dagegen ist eine völlige Gleichsetzung mit
analogen Tötern lichter Helden abzulehnen; sie sind nur alle gleichen
Ursprungs. — Die Blindheit halten wir3) für spätere Erdeutung. Seine
Wiederkehr dagegen könnte allenfalls alt sein, da es sich um periodische
Naturvorgänge handelt; freilich widerspräche diese Idee der des ewigen
Friedensreiches der Zukunft4). — Später wird noch die Geschichte der
Rache angeknüpft : Wali 5) oder Bous-Büi tötet ihn, was also immer noch
die Vorstellung einer Schuld Hods voraussettzt. —
Ober die Auffassung Lokis6) in der Edda ist kaum Streit; das
Problem ist hier vor allem sein Ursprung und seine Entwicklung bis zu
dieser Auffassung als » Teufel der nordischen Götterwelt<. Da handelt
es sich zunächst um das Alter des Loki.
Auch wenn die Benennung Vritras als »der Bedecker < 7) mit der
Lokis als »der Schließer« zur völligen Deckung zu bringen wäre, würden
die Gestalten sich nicht decken. Vritra hält das der Menschheit nötige
Regenwasser zurück und ist deshalb als eine spezifische Schöpfung der
verlechzende heißen Zone anzusehen; von dem in Loki unverkennbaren
Feuerwesen besitzt er nichts.
Muchs Vergleich Lokis mit Prometheus8) hat bestechende Einzelheiten:
das Schmieden an den Felsen9), die Beziehung zum Feuer. Im ganzen
scheint sie mir den Kern beider Gestalten zu verfehlen: Loki ist ein
i) Gylf. cap. 28: Gering S. 321. — Mogk S. 3251 351, Golther S. 368f.
2) Vgl. z. B. Golther S. 373.
3) Siehe o. S. 321.
4) Über etwaigen Zusammenhang zwischen Hod und Hönir siehe unten;
Much (Himmelsgott S. 277) bringt ihn mit Tyr zusammen.
5) Siehe u.
6) Mogk S. 346, Meyer S. 275, Golther S. 363f. 408f., Chantepie
S. 259; Weinhold, Die Sagen von Loki, H. Z. 7, U; Wislicenus, Loki,
Zürich 1867; Wisen, Oden och Loke, Stockholm 1873; Warnatsch Beitr. zur
germ. Mythol., Beuthen 1895. — Für die Namen Lokis und seiner Sippe Kock,
Kuhns Ztschr. 10, 90 f.
7) Macdonell S. 159.
8) Himmelsgott S. 240.
9) Das aber auch sonst begegnet: v. d. Leyen, Festschrift für Kelle, S. 7 f.;
Kaarle Krohn, Der gefesselte Unhold, Finnisch-ugrische Forschungen 7, 127.
336 Viertes Kapitel.
Dämon , Prometheus ein Heros seinem Ursprung nach ; der hellenische
Halbgott durchaus menschlich, in festen Zügen, der nordische Gegengott
eine fast gestaltlose Erscheinung in charakteristischem Wechsel der äußeren
Form. — Über Schonings Deutung Lokis als eines ursprünglich leichen-
fressenden Dämons l) haben wir schon 2) ausführlich gehandelt. —
v. d. Leyen3) will den listigen Götterdieb zur Urform machen, was aller
Analogie zu widersprechen scheint. Ebensowenig sind andere böse
Dämonen anders, als eben in dem Besitz dieser Eigenschaft mit Loki zu
vergleichen. Noch weniger läßt sich Bugges Herleitung aus Luzifer4)
aufrecht erhalten, schon weil Luzifer nie zu Gott in einem solchen Ver-
hältnis von Gleich zu Gleich gestanden hat, wie Loki zu den Äsen.
Bei den Deutschen oder Angelsachsen ist von Loki keine Spur zu
finden; die Teufelslegenden können, soweit sie überhaupt heidnischen
Ursprung haben, auch auf andere Dämonen zurückgehen. Auch zeigt
der nordische Loki noch so viel Rudimente der älteren, rein dämonischen
Stufe, daß er gewiß erst bei den Skandinaviern zu seiner Entfaltung als
> dämonischer Gott« gelangt ist. Wir können deshalb nur sagen:
der ursprüngliche Dämon kann gemeingermanisch gewesen sein; der
eigentliche Loki gehört ausschließlich dem Norden an und ist fast vor
unsern Augen in der Umwandlung begriffen. Möglich wäre immerhin,
daß die in England und Deutschland strengere Mission die Spuren des
heidnischen Teufels — der durch seine Existenz die heidnischen Götter
moralisch hebt — schärfer ausgerottet hätte, als im Norden geschah.
Allgemein wird, unzweifelhaft mit Recht, zugestanden, daß Loki in
seiner ursprünglichen Natur nicht der Böse, daß er nicht
der »Lügner von Anbeginn« ist. Über sein ursprüngliches Wesen
stehen sich aber zwei Hauptauffassungen gegenüber: Loki ein ursprüng-
licher Feuerdämon5), und Loki »der Schließer« (zu luka, schließen,
beendigen)6). Wir betrachten die letztere, jüngere Auffassung zunächst
und glauben sie ablehnen zu müssen. Der Name Loki ist aller-
dings nicht, wie man früher annahm, von Logt, Lohe, Feuer ab-
zuleiten7) und auch nicht aus Lucifer8), woraus sich ein Licht- und Feuer-
bringer ableiten ließe, der wie Prometheus zu den Göttern in Gegensatz
gerät, und wie er gefesselt und befreit wird. Aber die Deutung »der
J) Dödsriger S. 27 f. 2) Siehe o. S. 121 f.
8) Sagenbuch S. 223. 4) Siehe o. S. 328.
5) Golther S. 408f, vgl. 417; Meyer S. 161, hübsche Charakteristik S. 276;
abgelehnt von Mogk S. 347.
6) Isländisch als männlicher Beinamen; Weinhold a. a. O.; vgl. Mogk
S. 347, Golther S. 406.
7) Mogk S. 346, Golther S. 406, Meyer S. 276.
8) J. Grimm, Mythol. 3, 82 skeptisch, Bugge, Studien, S. 73 f. zuversichtlich.
§ 18. Nebengötter. 337
Beschließer» paßt durchaus nicht zu seinen feststehenden Hypostasen, vor
allem nicht zu seinem andern Namen Lopt. Loki schließt aber auch
nirgends ab; im Gegenteil wird durch ihn erst immer erregt, was dann
Odin und Thor abschließen müssen *). Auch die besonders häufige Ver-
wandlung in Tier- und Menschengestalt (Kuh, Stute, altes Weib, Magd,
Vogel usw.), die allerdings nicht in jedem Einzelfall alter Legende angehört,
spricht für die alte Dämonennatur, verträgt sich aber nicht mit der einheit-
lichen Funktion des Beschließers. Endlich ist der ganze Begriff zu künstlich,
selbst für eine jüngere Abstraktion. Daß Loki aber eine solche überhaupt
nicht ist, beweisen2) schon seine alten eigentümlichen Beziehungen zu
Thor und Odin — zwei Göttern, die sich aller Wahrscheinlichkeit nach
selbst erst in urgermanischer Zeit aus Dämonen entwickelt haben. Und
zwar aus verwandten Dämonen: Gewitter und Sturm haben Beziehungen
zum Feuer.
Wir halten also Loki nicht für eine junge Abstraktion 8). Vielmehr
halten wir ihn für einen uralten Feuerdämon oder vielmehr, da hier
eine Vereinzelung kaum möglich ist und nirgends existiert zu haben
scheint, für den Feuerdämon, der dann zum Feuergott wird4).
Aus der Sage, wenn er sich vor Schmerzen umwerfe, sobald ihn die
Gifttropfen treffen, dann entstehe ein Erdbeben5), ist nicht zu schließen,
daß er etwa vulkanischer Natur sei: das sind die andern Götter auch
nicht, deren Bewegungen6) die Erde beben lassen. — Auch als der
Riese in Utgard schnarcht, glaubt man an ein Erdbeben.
Loki scheint schlechtweg der Gott des Feuers zu sein, der Herr des
Elements, und wie des Feuers Macht wohltätig, aber auch gefährlich —
') Schoning deutet ihn als Tod« — ein zu metaphysischer Name für
den Töter.
2) Gegen Mogk S. 347. 348.
3) Übrigens brauchte eine solche Abstraktion nicht durchaus jung zu sein:
bei Römern und Slawen begegnen sie früh; aber sie entsprechen nicht dem Typus
der germanischen Gottheiten. Auch der Urbegriff Wodans steht noch weit ab.
4) Die germanische Konzeption des Feuers deckt sich nicht mit der anderer
Indogermanen. Agni (Macdon eil S. 88 f.) ist die spezifisch indische Ver-
körperung des heiligen Opferfeuers (vgl. ebd. S. 99), und diese Vorstellung
bleibt lebendig, sobald von ihm gesprochen wird. Übrigens zeigt sich in diesem
Gott das Dämonische noch in der besonders beliebten Vergleichung mit Tieren:
IKuh, Pferd, Adler (Macdon eil S. 89) — Tiere, in die Loki sich wirklich ver-
wandelt. — Hephaestos scheint dagegen (was bei Preller 1, 174 allerdings
nicht hervortritt) wenigstens in erster Linie der Gott des Werkfeuers zu sein, des
Feuers, das schmiedet und formt. — Einen Feuergott haben z. B. auch die
Chinesen (de Groot, Kultur d. Gegenwart, S. 167).
5) Vgl. allgemein Losch, Ursache u. Bedeutung der Erdbeben im Volks-
glauben und Volksbrauch, Arch. f. Rel.-Wissensch. 5, 236 f. 369 f.
6) a. a. O. S. 239 f. 369 f.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 22
338 Viertes Kapitel.
denn die Elemente hassen das Gebild der Menschenhand. Je mehr die
Germanen in geordnete Verhältnisse hinein wuchsen, desto größer ward
die Scheu vor dem Häusern und Wäldern gefährlichen Feuer. Einst der
Begleiter Thors — denn das aus Blitz erzeugte Feuer ist das heiligste —
wird er nun zum Gegner des Bauerngottes und dann auch des Staats-
gottes, Widersacher der Schutzgötter von Stadt und Land; und so fällt
ihm, mit Ibsen zu sprechen, die Aufgabe des »großen Verneiners« zu.
Da nun aber das alte Wesen auch vielfach (selbst in der Lokasenna)
durchscheint, so entsteht ein interessanter problematischer Göttercharakter.
Wie er auch die Neuesten zu psychologischer Behandlung gereizt hat x), so
hat er die Seelenkunde schon der Alten angezogen, wie Brynhild und
Gudrun, wie Völund und Dag. Charakteristisch ist Snorris Beschreibung2):
»Zu den Äsen wird auch der gerechnet, den manche den Verläumder der
Äsen oder den Urheber des Trugs und die Schande aller Götter und
Menschen nennen. Sein Name ist Loki oder Lopt. Loki ist schön und
anmutig von Aussehen, aber böse an Gemütsart und höchst unbeständigen
Wesens (was übrigens nirgends bezeugt ist!)3). Er brachte die Äsen oft
arg in Verlegenheit, hat sie aber auch oft durch seine List aus schlimmer
Lage befreit . . .« Das Bild ist durch Kontamination gewonnen; um so
schärfer treten die inneren Widersprüche dieser ältesten germanischen
»problematischen Natur« hervor.
Daß ziemlich früh die Antithese Gott-Teufel an der Ausarbeitung der
Gestalt mitgearbeitet hat4), ist keineswegs unmöglich; in der Hauptsache
handelt es sich aber doch um eine parallele Entwicklung. Übrigens ge-
winnt Loki erst beim Jüngsten Gericht die Miltonischen Züge eines über-
legten Götterfeindes; bis dahin ist er mehr ein übermütiger und neidischer
Gesell — eine Gestalt, die wohl auf Island volkstümlich werden konnte5).
Wir versuchen , die Mythen und Legenden von Loki einigermaßen
nach ihrer inneren Chronologie zu ordnen. Einen Kult hat der böse
Loki, wie es scheint, nicht (undenkbar wäre es an sich keineswegs) ; doch
sollen ihm Kinder, die einen Zahn verlieren, diesen opfern: »gib mir
einen Beinzahn, hier hast du einen Goldzahn«. Soll das den Zerstörer
(z. B. von Sifs Haaren) abfinden? oder stammt es noch aus dem Kult
des Feuerdämons, der neue Zähne »schmieden« soll?
*) Jacobo wski, Loki. Der Roman eines Gottes, Berlin 1899.
2) Gylf. cap. 33: Gering S. 322. — Golther S. 411; vgl. Mogk S. 346.
353; Meyer S. 275.
3) Hölderlins Charakteristik: Das Feuer geht empor in freudigen Ge-
stalten, aus der dunkeln Wiege, wo es schlief, und seine Flamme steigt und fällt,
und bricht sich und umschlingt sich freudig wieder, bis ihr Stoff verzehrt ist«
(Hyperion; Werke her. v. B. Leitzmann 2, 98).
4) Meyer S. 54. 401.
5) Golther S. 409.
§ 18. Nebengötter. 33g
Wie ist denn wohl der Name zu erklären? Irgendeine Umdeutung
aus Logi, als das Feuerwesen vergessen war? Oder ob es einfach ein alter,
an sich »sinnloser« Dämonenname war, wie wir deren wohl viele werden
annehmen müssen *) ? —
Lokis andere Namen2) sind: Lopt3), »Luft«, der Luftige?,
auch als Personenname (und erster Bestandtteil von Frauennamen) im
Norden gebräuchlich4). Mogk5) möchte es als »den persönlich auf-
gefaßten Luftkreis« deuten. Das scheint mir zu abstrakt. Ich glaube
eher, das Lopt und Lodur6) die Gestalt des Feuerdämons von ver-
schiedenen Seiten beleuchtet zeigen: Lodur das Feuer nach seiner er-
stickenden Wirkung, Lopt nach seiner unfaßbaren, luftartigen Natur (den
»Feuerstoff«, das Phlogiston der vorklassischen Chemie). — Die Be-
zeichnung wird in den eddischen Liedern nur gebraucht, wo Loki als
böser Gott in seinem Gegensatz zu den Äsen, als Zauberschmied, als
Vater der Unholde bezeichnet wird; sie scheint einen gewissen feierlich-
dunkeln Klang angenommen zu haben.
Lodur7) wird von Noreen8) mit indisch Vritra zusammengestellt:
Vlödurr , ältere Form = Vritra. »Unverkennbare Ähnlichkeit herrscht
zwischen dem indischen Vritra, dem Dämon der Sonnenhitze, welcher
das himmlische Gewässer einschließt und daher von Indra bekämpft und
endlich getötet wird, worauf er in Gestalt eines Wurmes niederstürzt,
und dem nordischen Loki, dem Gott der Hitze, der von Thor (dem
Donnerer gleich Indra) beständig feindselig betrachtet und schließlich auch
gefangen genommen wird, dem Vater des gleicherweise einst von Thor
bekämpften Mi dgardwurmes.« Ich glaube, wir haben auch hier eine jener
mythologischen Vergleichungen, die an die Etymologien vor Beobachtung
der Lautgesetze erinnern: Anklänge müssen Identität beweisen, auf die
Chronologie der Entwicklungsstufen wird keinerlei Rücksicht genommen.
Der Vater des Wurms und der Wurm sind dasselbe, Tötung und Ge-
fangennahme gleichbedeutend; der Dämon des Feuers ist der der Hitze
(die den Nordländern schwerlich so bösartig vorgekommen wäre wie den
Indern; als ein Missionar den Eskimos von der Hölle erzählte, sagt
Lichtenberg, sehnten sie sich alle nach der schönen Wärme dort). Nirgends
steht Loki mit den Gewässern in solchem Zusammenhang wie Vritra mit
*) Vgl. meinen Aufsatz »Isolierte Wurzeln« in der Ztschr. Wörter und
Sachen« 1, 34f., bes. S. 63.
2) Kock S. 99.
3) Lok. Str. 6, Hyndl. Str. 43, Fjöl. Str. 26, Gylf. cap. 33: Gering S. 322;
vgl. Golther S. 410 Anm.
4) Ebd. 5) S. 348. 6) Siehe u.
7) An der wichtigen Stelle Vol. Str. 18.
8) Nord. Tidskr. for Fil. N. R. 12. 4, 28 f.; Vgl. Golther S. 410.
22*
340 Viertes Kapitel.
den Regenwolken ; und die Feindschaft mit Thor scheint sekundär. So ist
jedes Wort in Noreens Parallele mehr als anfechtbar; denn wenn sie
Mythologie treiben, verlassen gerade die strengsten Grammatiker und sorg-
fältigsten Hüter der Lautlehre am unbesorgtesten den Pfad der Gesetz-
mäßigkeit.
Bliebe also selbst Noreens lautliche Gleichung bestehen, so würde sie
doch für Lodurs Wesen weniger besagen als die heut so oft verspotteten
Parallelen Gandharven: Kentauren und Hermes: Sarameya. Der »Ver-
schließer« wäre dann vielleicht wegen seiner Listen und Heimlichkeiten
ebenso benannt wie der Wolkenverschließer der Inder.
Detter und Heinzel *) leiten den Namen von altnordisch löd »Boden-
ertrag« ab : Lodur wäre also etwa der Dämon des vom Erdfeuer erwärmten
Landes? Was man allenfalls mit Odins2) Schelte von Lokis acht Monaten
unter der Erde verbinden könnte.
Beide Deutungen scheinen mir zu der Stelle nicht zu passen, an der
der Ausdruck pathetisch und jedenfalls mit bestimmter Absicht verwandt
wird; ich glaube, daß der Name nur irgendwie den Geist der Feuer-
wärme bedeuten kann. Aber eine äußere Etymologie weiß ich dieser
inneren nicht beizugeben, so erwünscht auch ein Zusammenhang mit
neuhochdeutsch »lodern« wäre . . .3). —
Ich will versuchen, eine Entwicklungsgeschichte Lokis
zu geben. Zahlreiche Spuren volkstümlicher Vorstellungen von dem
Feuergott Loki verzeichnet Golther4): »Loki fährt über die Äcker«,
heißt es, wenn Brand oder Hitze die Wiesen versengt. Knistert das Feuer,
so heißt es: Loki prügelt seine Kinder. Doch spielt auch hier der
Teufel mit, wenn der Schwefeldampf Lokis Geruch heißt — Noch spät
wird Lokis Name zur Bezeichnung des feurigen Elements denen von
Wasser (Hier) und Luft (Käri) gesellt5). Altertümliche Mythen zeigen ihn,
von seiner späteren Rolle noch weit entfernt, in ähnlichen Verbindungen.
Da sie aus der später herrschenden Anschauung von dem großen Übel-
stifter durchaus nicht erklärt werden können, müssen wir von diesen
Rudimenten einer älteren Auffassung ausgehen.
Viermal wird Loki in eine Trias mit Odin und Hönir gebracht: in
einer gewiß altertümlichen und feierlichen Strophe6) und an drei von
vornherein nicht unbedenklichen Stellen7).
*) PBB. 18, 560. 2) Siehe u.
3) Hofforys geistvollen Versuch, einen alten Luftgott Lodur von Loki zu
trennen (Eddastudien S. 117) vermag ich nicht gut zu heißen.
4) S. 409.
5) FAS. 2, 3f.; vgl. Golther S. 408 Anm.
6) Vol. Str. 18.
7) Einl. zu Reg. ; Brag. cap. 2 : G e r i n g S. 352 ; Skäldsk. cap. 4 : G e r i n g S. 366.
§ 18. Nebengötter. 341
1. Über die Stelle von der Menschenschöpfung1) ist später ausführlicher
zu handeln. Hier sei nur bemerkt, daß mir zwar eine leise Anlehnung
an die biblischen Namen Adam und Eva bei Ask und Embla möglich
scheint, nicht aber christlicher Ursprung der ganzen Stelle; denn sie
steht altheidnischen Anschauungen viel näher als dem Bericht der Genesis,
indem ja dort auch von der Dreieinigkeit durchaus nicht die Rede ist;
und welcher Christ oder Halbchrist hätte Loki in die christliche Trinität
hineinzuschmuggeln gewagt?
Da kamen zum Meeresstrand mächtig und hold
Aus diesem Geschlecht drei der Äsen;
Auf freiem Felde fanden sie kraftlos
Ask und Embla unsichern Loses.
Hauch und Seele hatten sie nicht,
Gebärde und Wärme noch blühende Farben;
Den Hauch gab Odin, Hönir die Seele
Lodur die Wärme uud leuchtende Farben.
Daß die Schöpfung lebender Wesen ein solches »Symbolum« mehrerer
Götter sei, ist eine durchaus beliebte kosmologische Vorstellung zahl-
reicher Völker. Ich führe hier nur zwei griechische Parallelen an :
Prometheus und Athena bilden neue Menschen aus Erde, denen die Winde
dann den Geist einblasen 2) : der Adler des Prometheus ist von Hephaistos
gefertigt und von Zeus beseelt3).
Wir haben hier also die Trias Odin — Hönir — Loki4)', in der Hönir
»die dritte stumme Person« ist5); wir haben über ihn noch eigens zu
aandeln. Wer nun jede Dreiheit mit Odin für christlich beeinflußt
erklärt, muß auch die Götzengruppen mit Odin, Thor und Frey in den
beidnischen Tempeln dafür halten, was wir lieber lassen wollen6).
Wenn nun den noch leblosen Menschenbildern der Windgott den
Hauch gibt, der Feuerdämon Wärme und leuchtende Farbe, so wird der
Seelenspender wohl jedenfalls auch ein vergöttlichter Elementargeist (vielleicht
l) Vol. Str. 18. 2) Preller 1, 473.
3) Ebd. S. 99 Anm. 4.
4) Mogk S. 350, Golther S. 412. 416, Meyer S. 278.
8) Mogk a. a. O.
6) Die Dreiheit ist hier fast unvermeidlich. »Luft, Licht, Wärme — diese
drei sind wie der Geist, der Sohn, der Vater«, sagte Herder zu seinem Schüler
. G. Müller. — Der »Lebenshauch« fehlt zur Unterscheidung von den Menschen
len Tieren : G u n k e 1 , Genesis, S. 9. — Wie nah solche Aufteilung liegt, beweist
iine wirklich merkwürdig ähnliche altbiblische Stelle: Jes. 42, 5 heißt es von
jott: »Der Odem gab dem Menschenvolk auf der Erde, Und Lebenshauch denen,
iie auf ihr wandeln«, woraus dann Irenaeus eine Unterscheidung von Odem
ind Hauch gefolgert hat (Bittlinger, Materialisierung religiöser Vorstellungen,
Tübingen 1905, S. 117).
342 Viertes Kapitel.
ein Wolkendämon) sein. Jedenfalls ist er wohl eine alte, der Erinnerung
fast entschwundene Gestalt: warum hätten spätere Mythologen nicht lieber
Thor mitgehen lassen sollen ? er hätte das neue Werk so schön mit dem
Hammer weihen können ! Deshalb besteht auch für die andern Abenteuer
dieser Dreiheit wenigstens der Verdacht der Altertümlichkeit; freilich können
sie dem Mythus von den drei menschenbelebenden Elementargöttern nach-
gebildet sein. Es sind die folgenden:
2. Loki tötet, als die drei über Land fahren, eine Otter, die des zauber-
kräftigen Bauern Hreidmar Sohn ist. Die Götter müssen Buße leisten;
dazu nimmt Loki alles Gold Andvaris und zuletzt noch seinen Wunder-
ring. Andvari legt seinen Fluch auf das geraubte Kleinod, das Loki
wieder holt1).
Es ist nicht zu bezweifeln, daß Snorris schon angezogene Charakteristik
Lokis2) sich vor allem auf dies berühmte Abenteuer bezieht. Man wird
ihr auch fundamentale Bedeutung für die Erkenntnis Lokis nicht ab-
sprechen dürfen.
An ihrer Altertümlichkeit kann zunächst irre machen, daß sie in
manchen Punkten an solche Loki-Legenden erinnert, denen man schwer-
lich ein hohes Alter zuschreiben darf. Auch in der Geschichte von Sifs
Haaren wird Loki zu einer goldenen Buße gezwungen ; auch von Geirröd
wird er gefangen und zu einer Buße genötigt. Auch machen die vielen
Verwandlungen einen märchenhaften Eindruck, und in der »Hypothesis« zu
den Reginsmäl ist in der starken Ausnutzung mythologischer Kuriositäten
(das Netz von Ran geborgt) so wenig wie in den Skäldskaparmäl (Freyjas
Falkenhemd) überflüssiger Prunk eines gelehrten Bearbeiters zu verkennen.
(In der Thrymskv. braucht Loki das Falkenkemd wirklich, um bis in das
Riesenland zu fahren, wohin sogar Odin einen Reisesegen braucht3);
aber zu Geirröd kommt Thor zu Fuß.) — Sieht man aber genauer zu,
so stehen die Dinge doch hier anders. Die Verwandlungen sind viel
einfacher: Otr und Andvari sind wohl Dämonen4) des Wasserfalls und
des goldhaltigen Wassers und deshalb in Fischgestalt. Charakteristisch
ist ferner, daß hier nicht Loki allein gefangen wird, sondern alle drei
Äsen, was auf jenes uralte Mythenmotiv von dem gefangenen Gott, der
sich lösen muß5), schließen läßt.
Dennoch mag die Erzählung, wie sie vorliegt, manche Phasen hinter
sich haben: die beiden im Wasser gefangenen Dämonen sind wohl
*) Hypothesis zu Reg. und Reg. Str. 1 — 12 = Skäldsk. cap. 9: Gering
S. 366. — GoltherS. 416, Meyer S. 279. Aufwiegen der Leiche mit Gold:
Saxo S. 24 (Hermann S. 30).
2) Gylf. cap. 23: Gering S. 322.
3) Vaf. Str. 4.
4) So auch MogkS. 297. 5) Vgl. o. S. 18.
§ 18. Nebengötter. 343
Dubletten, der Wunderring kann später eingefügt sein. Aber der Grund-
gedanke des Mythus scheint alt und deutlich : es ist jene Vorstellung von
der Verderblichkeit des Goldes, die fast alle Kulturvölker beim
Eintritt in den »Industrialismus« zu symbolischen Mythen gebracht hat.
Die Weltumsegelung der Argonauten bringt das fatale Goldene Vließ, wie
Prometheus, der Begründer der Kulturmenschheit, mit Pandora, der Göttin
des Unheilschatzes, verwandt ist; andere Mythen verwandter Art erwähnten
wir schon und verweisen vor allem auf die tiefsinnige Legende von
Gullveig1), der »Goldheit« 2): sie ist die Botin der Kulturgötter, der
Wanen, die die patriarchalischen Äsen vergebens zu vernichten suchen8).
Ein ätiologischer Mythus für die verderbenstiftende Kraft des Goldes
liegt vor. Wie kommt es, daß das Gold Unheil bringt? es liegt ein
Fluch auf ihm. Sein Herr wird getötet und gerächt und schwere Buße
für die Tötung geleistet (Formeln, die Gullveig wie Otr-Andvari treffen).
Vielleicht war das Otterfell — wie das heilige Robbenfell in Hellas4) —
ein Fetisch, ein Golddämon, oder das Abzeichen reicher (finnischer?)
Vornehmer.
Aus der Völsungasaga kann der Fluch schwerlich stammen, der viel-
mehr dort erst als epischer Faden eingeflochten ist 5) ; aber daß dies mög-
lich war, zeugt für das Alter des Mythus. Daß er aber spezifisch nordisch
ist, beweist die Situation des Fischfangs am Wasserfall6).
Also Loki ist mit Odin und Hönir beteiligt an der Einbringung des
Goldes, das eigentlich nur den Zwergen gehören sollte: als man es ihnen
raubte, verfluchten sie es. Die alte Trias steht noch am Eingang der
neuen Weltepoche; der Feuerdämon aber ist bei der menschlichen Ver-
wertung des Goldes am stärksten beteiligt. — Man beachte wohl, daß
J) Wie Angelus Silesius im »Cherubinischen Wandersmann« (her. von
W. Bölsche, Jena 1905, S. 34 N. 249 u. 256) sagt.
2) Völ. Str. 23. Argentnm et aurum propüüne an irati dii negaverint dubito,
sagt (Germ. cap. 5) schon der Geschichtsphilosoph Tacitus. Silber und Gold
haben die Götter den Germanen versagt — vielleicht im Zorn, vielleicht aus Liebe.
3) Schon Tacitus bezeugt Germ. cap. 5 eine instinktive Scheu der Ger-
manen vor dem gleißenden Golde: argentnm magis quam aurum sequuntur,
was er allerdings rationalistisch erklärt; aber geschah es wirklich nulla affectione
animi? Die volkstümliche Anhänglichkeit an die alte Silbermünze läßt noch
Maurus Jokäi in seinem in kulturarmen Verhältnissen spielenden Roman
»Schwarze Diamanten eine Rolle spielen. Doch ist natürlich an sich das Gold
schlechtweg als Sinnbild des Besitzes gemeint; nur vertritt das fremde Gold
diesen Begriff noch anschaulicher. — Diese Scheu vor dem Gold macht auch
Roethes geistreiche Argumentation über Abhängigkeiten in der Heldendichtung
(Nibelungias und Waltharius S. 671) anfechtbar.
4) Siehe o. S. 73 Anm. 4.
5) Vgl. auch Mogk S. 350.
6) Vgl. Völ. Str. 59.
344 Viertes Kapitel.
hier von seiner Bosheit nicht die Rede ist, was doch so nahe gelegen
hatte ; er ist nur voreilig, wie bei der Hexe Gullveig Thor es ist x). Aber
er ist mit der schlimmen Geschichte in erster Linie verbunden ; unmöglich
wäre es nicht, daß seine Wendung in peius von hier ihren Ursprung
genommen hätte.
3. Nur eine Nachbildung dieser berühmten Fabel scheint mir die Ge-
schichte von der Trias und Thjazi2) — ein seltsamer abenteuerreicher
Mythus, der seine Unursprünglichkeit schon in der Häufung der Motive
verrät (etwa wie der von Suttungs Trank, oder wie ein überfulltes modernes
Märchen)3). Märchenhafte Elemente sind unverkennbar4).
Der Zweck der ganzen Erzählung scheint, Skadis Bußforderung eine
Vorgeschichte zu geben. Diese läuft nun im Wesentlichen der Hreidmar-
Legende parallel. Wie dort die Otter, wird hier der Ochse »gejagt«.
(Man denke übrigens für das Motiv der verhängnisvollen Tötung geweihter
Tiere z. B. an Hyperions Sonnentiere in der Odyssee.) Nun »rächt« ihn
der Adler, nachdem er vorher (etwa wie die Riesin Hyrrokin bei Balders
Bestattung) den Willen der Götter zauberisch gehemmt hatte. Wie bei
Gullveig Thor und bei Andvari Loki, greift nun auch hier dieser ein, wobei
die Stange wohl kaum noch auf sein Element — die Schürstange beim
Herdfeuer? — bezogen werden darf; und muß sich wieder lösen, was dies-
mal durch die Äpfel der (späten Göttin) Idun geschieht. Loki muß diese
schaffen, wie er die Schätze des Andvari schaffen muß. Dann entzünden
die Götter (d. h. ursprünglich er) ein Feuer, in dem der Adler-Riese ver-
brennt. — Thjazi mag wohl ein alter Gegner des Feuergottes sein, etwa 5)
der Sturmwind, der das Feuer verlöscht — auch der Winddämon Hraesvelg6)
hat Adlergestalt. Auch die seltsamen, an indische und keltische Götter-
fabeln erinnernden Verwandlungen — der Adler holt die in eine Nuß
verwandelte Idun — könnten altertümlich sein. Das ganze Gewebe mit
Freyjas obligatem Falkenkleid ist es gewiß nicht, und lehrt übrigens in
keinem Fall Neues für Lokis Erkenntnis.
4. Das faröische Märchenlied von Odin, Hönir, Loki, die einem Bauern
den Sohn vor einem Riesen retten7), geht wohl schwerlich auf alte Ober-
lieferung zurück. Vielleicht enthält die Stelle über Hönir alte Tradition 8),
und die beiden anderen Götter der Trias sind hinzugekommen.
5. Möglich Ist es, daß auch am Ende der Völuspä9) ursprünglich die
Trias stand (Odin durch seine Waffen vertreten) ; so vermutet Hoffory 10) :
*) Vol. Str. 26.
-) Brag. cap. 2: Gering S. 352. — Golther S. 412, Meyer S. 233.
8) Vgl. z. B. Mitteilungen aus dem Quickborn 2, 123.
4) v. d. Leyen, Märchen, S. 32 f.
5) Gering S. 353. 6) Väf. Str. 37.
7) Golther S. 397. 8) Vgl. u.
9) Str. 63. f°) Eddastudien S. 107.
§ 18. Nebengötter. 345
»dann mag Hönir den Looszweig kiesen, Lodur Labsal jedem gewähren,
und die Söhne von Odins Brüdern sollen wohnen im weiten Wind-
heim« *). Doch ist mir im Ganzen wahrscheinlicher, daß die ganze erste
Halbstrophe Hönir allein gehörte2). —
Dem unter die Äsen versetzten Feuerdämon wachsen durch die Ver-
bindung mit Thor persönlichere Züge. Der Feuergott wird indi-
viduell gestaltet.
Loki scheint auch außerhalb der Trias früh mit anderen Äsen
gepaart worden zu sein. Es ist kein Grund, seine Berufung auf ur-
zeitliche Blutbrüderschaft mit Odin3) für Fiktion zu halten4). Die Ver-
treibung und Verbrennung böser Geister ist wahrscheinlich die älteste
Aufgabe des Opferfeuers5) und auch Loki hat gewiß einmal diese Auf-
gabe gehabt. (Sie könnte in dem Verbrennen Thjazis noch durchschimmern :
»Lokis Späne heißen die zum Feueranzünden verwendeten Späne« 6) und
auf einem Feuer aus Spänen wird der Adler angebrannt.) Bei dieser
apotreptischen Tätigkeit mochten Feuer und Sturm (als reinigender Wind;
anders Thjazi als schädlicher Wind) sich wohl zusammenfinden.
Viel näher aber noch liegt die Verbindung von Thor und Loki,
Gewitter und Feuer7). Doch wird das neuisländische Sprichwort: »Lange
gehen Loki und Thor« bei langandauerndem Gewitter8) abgeleitet sein.
Das Feuer fliegt dem Donner voraus: Loki sucht als Späher die Stätte,
*) Für die Art der Ersetzung Odins vgl. Tac. Germ. cap. 20, wo es sich
allerdings um sororum filii handelt.
2) Hoffory, der Lodur von Loki trennt, läßt nur den ersteren in die
Oreiheit (Eddastudien S. 117): der brausende Wind, die eilige Wolke und die
labende Wärme (vgl. S. 109). Uns macht schon die alte Blutbrüderschaft
.^wischen Odin und Loki die herkömmliche Anschauung wahrscheinlicher. Noch
stärker lösen Detter und Heinzel (PBB. 18, 560) die Trias auf: Lodur sei
rrey, Hönir identisch mit Odin, und diese Zwei-Dreiheit erst das Resultat
des Wanenkrieges — ein durch die unglaubwürdigsten Identifikationen ge-
wonnenes Resultat eines Krieges fast mit dem gesamten Stand unserer Über-
lieferung.
3) Lok. Str. 19.
4) Noch weniger mit Niedner (H. Z. 36, 290) für Parodie des Freundschaft-
verhältnisses zwischen Frey und Skirnir. Man müßte dann eine feierliche Stelle
wie Ex. 4, 25 auch für parodistisch erklären, in der Mosis Gattin im Kampf mit
Jahve ihre frühere Blutbrüderschaft anruft (vgl. Ed. Meyer, Berl. Sitzungsber.
1905, XXXI. S. 5). Sie wird einmal den Gott mit Opfern zum Blutsfreund ge-
macht haben, wie Abraham die Engel; und ebenso waren Loki und Odin Bluts-
freunde durch gemeinschaftlichen Opfergenuß, wie Äsen und Wanen nach dem
Bunde (Vol. Str. 23).
5) Macdonell S. 95.
6) Golther S. 409.
7) Visen a. a. O., Mogk S. 348. 352, Golther S. 414.
8) Meyer S. 277.
346 Viertes Kapitel.
ehe Thor einschlägt. (Unserer Empfindung erscheint freilich der Blitz als
Herr, der Donner als Diener.) So wird Loki zu Thrym (und zu Geirröd)
vorausgeschickt, ehe Thor selbst kommt1). — Loki begleitet den Thor
auch nach Utgard und hat sich dort mit Logi, dem Feuer, im Verzehren
zu messen2); auch Thjälfi, der Blitz, geht mit und unterliegt der Schnellig-
keit des Gedankens. — Wir vermögen diesen geistreichen Kombinationen
kein hohes Alter zuzuschreiben ; auch tritt Loki sonst nirgends als be-
sonders gierig auf, wie Thor. Aber das Duell zwischen Loki und Logi
mußte einer in Reimkünsten schwelgenden Zeit Vergnügen machen.
In der Thrymskvida bereits werden Lokis Schlauheit und Thors plumpe
Kraft kontrastiert3). In Utgard wird ihre Verschiedenheit noch stärker
betont. Schließlich, als Thor der Schutzherr der Gehöfte geworden, wird
sein natürlicher Begleiter ihr Feind. Er lähmt Thors Bock bei der Heim-
kehr von Hymir4) und in der Urform der Geirröd -Erzählung5) wird
er dem Thor wohl die Kleinodien gestohlen haben, um ihn waffenlos
den Dämonen auszuliefern.
Daß Loki in der gleichen Weise auch Odins Nebenbuhler und Feind
geworden sei, ist nicht wahrscheinlich ; auch scheint er mit Mitodin 6) und
Ollerus-Ull, einem anderen Stellvertreter Odins, sich nicht7) im Wesen,
sondern nur in Äußerlichkeiten (Schönheit?, Buhlerei) zu decken. —
Loki entwickelt sich zum Umstürz er und Feind aller gött-
lichen Ordnung. Der mit dem Feuergeist verbundene Begriff der Beweg-
lichkeit und Lebhaftigkeit war nie verloren gegangen. Je stärker die
Ordnung als Werk der Götter betont wird, desto entschiedener gerät
er zu ihr in Gegensatz. Einzelne Mythen konnten diese Tendenz be-
glaubigen und stärken. Er erhält nun auch seinen persönlichen Gegner
in Heimdalls). Der Schutzherr menschlicher geregelter Tätigkeit9)
heißt ausdrücklich »Feind des Loki« 10) und kämpft mit ihm um Freyjas
Halsgeschmeide n).
Als Gegengott hat Loki auch in der Lokasenna die Anklage gegen die
Götter zu führen, wobei Thor — wie sonst Heimdali — als sein spezieller
Gegner und Bezwinger auftritt.
x) Meyer deutet dies auf das Wetterleuchten.
2) Gylf. cap. 46: Gering S. 348.
n) Vgl. zu dem Motiv Olrik, H. Z. 51, 6.
4) Golther S. 414.
B) Vgl. o. S. 299 f. 6) Siehe o. S. 270.
7) Wie Mogk S. 349 meint.
8) Golther S. 363. 415, Meyer S. 279, Mogk S. 325.
9) Siehe u.
10) Lokadölg; vgl. Golther S. 363.
n) Ebd. S. 415.
§ 18. Nebengötter. 347
Der Feind der göttlichen Ordnung kommt nun all-
mählich zu der »bösen Welt« in ein festes Verhältnis:
zu Unterwelt und »Hölle«, zu den Ungeheuern des Abgrunds. Er
wird der Gegen-Odin, der Herr aller bösen Geister. Er wird Vater
der Hei x) und in allen Dingen der äußerste Gegensatz zu den Göttern
oben. Sind diese auf ihre Männlichkeit stolz, so wirft ihm Odin2)
vor, er habe acht Winter unter der Erde als Magd Kühe gemolken
und selbst Kinder geboren3). Zwar gibt Loki4) dem Odin die Schelte
zurück, die auch sonst im Norden als härteste Beschimpfung weibischer
Haltung bekannt war 5), aber von ihm erzählt eine andere Fabel geradezu,
er habe als Stute mit einem Hengst Odins Roß Sleipnir erzeugt6). So
ist denn wohl auch jener Aufenthalt als Weib unter der Erde nicht natur-
mythologisch zu deuten7), sondern eben nur als ein äußerster Schimpf.
So wird einem gewissen Refr nachgesagt, jede neunte Nacht sei er Weib
geworden und habe einen Mann gebraucht8) — also eine Art Werwolf-
tum mit periodischer Verwandlung9). Wie dieser Refr immer acht Tage
Mann ist, so ist — noch schlimmer — Loki acht große Tage (Monate) Weib.
An eine androgyne Gottheit ist deshalb gewiß nicht zu denken, auch
nicht an ein altes Paar wie Njord : Nerthus10). Loki nimmt jetzt teil an
dem formlosen Fratzen Charakter der Unterweltsdämonen11), an der Ver-
kehrung aller Dinge, die dann in Utgard auf die Spitze getrieben wird.
Mit Utgardaloki wird er von Mogk und Gering 12) identifiziert ; aber
Loki wohnt eben nicht in Utgard, sondern in der von den Äsen be-
herrschten Welt; ein eigentlicher Unterweltsgott ist er nie geworden.
Den Gipfel dieser Funktion als Gegengott bezeichnet die Beteiligung
an Balders Tod 13) und am Weltuntergang 14). —
Loki geht schließlich als grotesk-grausige Gestalt in die Volks-
sage über — als Träger der bösen wie Thor als Träger der guten Rolle.
J) Mogk S. 352.
2) Lok. Str. 23; Golther S. 416.
3) Vgl. Str. 33. 4) Str. 24.
5) Vgl. Golther S. 417 Anm. 2.
6) Hyndl. Str. 42; Gylf. cap. 42: Gering S. 332.
7) Was auch Golther S. 417 ablehnt.
8) Much, Zur Rigsthula, Festschr. f. J. v. Kelle, 1, 228.
9) Vgl. o. S. 129.
10) Eine tolle Erklärung für Lokis Mutterschaft — nun gar aller Unholde —
gibt Hyndl. Str. 43: Loki wird von einem Frauenherz schwanger, das er halb
verkohlt in der Asche findet; vgl. für die abergläubische Grundlage Heinzel-
Detter S. 631 mit Lit.
n) Vgl. allgemein Wundt, Völkerpsychologie 2, 2, 372.
12) z. d. St. 13) Siehe o. S. 317.
14) Golther S. 533. 535. 427 (siehe u.), bei denen er wirklich eine Art Anti-
christ wird.
348 Viertes Kapitel.
Hierbei sind zu scheiden ätiologische Mythen, in denen ihm die
Schuld an irgendeiner störenden Einrichtung zugeschoben wird, und
Charakterrollen, in denen lediglich das aus behaglichem Schauder und
Freude an seiner Beweglichkeit zusammengesetzte Interesse an seiner Ge-
stalt sich auslebt. Man denke etwa an die Räuberromantik von Robin
Hood bis Rinaldini und leider bis zur neuesten Gegenwart!
1. Ätiologische Mythen: Loki wird Ursache des Bösen, auch des Un-
begreiflichen in der Welt. Weshalb hat Sif goldene Haare1)? Eine
Novelle, bei der in ganz realistischer Weise Thor der polternde Hausherr,
Loki der boshafte Hausfreund ist2).
2. Charakterrollen: Wie liebevoll (im ästhetischen Sinn) ist schon
sein Anteil an Balders Ende3) ausgemalt, oder die Zänkereien mit Gefjon4),
wie überhaupt sein ganzes Spiel in der Lokasenna! Zu beachten ist
auch hier die Proteusnatur : wie er als altes Weib Thökk5) das Frei-
bitten Balders verhindert.
Hierher gehört ferner das Märchen vom Riesenbaumeister und seinem
Roß Svadlifari 6). Vielleicht liegen alte Motive zugrunde: daß der Feuergott
Vater des Rosses »Gewitterwolke« äst. Doch ist es wohl einfach ein volks-
tümliches Märchen dem Typus der Lokifabeln (Loki bringt die Götter in
Gefahr — wird zur Lösung gezwungen — Thor macht mit dem Hammer
ein Ende) nahegebracht werden. Immerhin ist auch die Verführung der
gefährlichen menschlichen Tüchtigkeit oder Frömmigkeit ein altes mytho-
logisches Motiv, besonders bei den Indern, wo die Apsarasen diesem
Zwecke dienen.
Ein später Nachklang solcher Mythen scheint die Angabe, daß
Lopt das Verderbensschwert Lävatein geschmiedet habe, durch das
der Hahn Widofnir getötet werden kann7). Man hat die Angabe zur
Rekonstruktion des Baidermythus benutzen wollen8); es ist aber wohl
nur eine Nachbildung desselben: auch hier muß der Bringer alles Bösen
ein »Zweig« genanntes Schwert verderblicher Art liefern. Aber Loki
schmiedet nie selbst; dafür hat er bei Sifs Haar und beim Brisingamen
die Zwerge.
Endlich muß Loki auch die phallischen Mythen übernehmen.
J) Golther S. 419, Meyer S. 157; siehe o. S. 306.
2) Pope, Rape of the lock; das Abschneiden der Haare als Beschimpfung:
Wein hold, Deutsche Frauen.
3) Mogk S. 351, Meyer S. 157. 397f., Golther S. 419.
4) Meyer S. 417.
B) Gylf. cap. 49.
6) Mogk S. 351, Golther S. 413, Meyer S. 234, v. d. Leyen S. 38.
7) Fjölsv. Str. 25 -26.
8) Schuck, Studier 2, 106 f.
§ 18. Nebengötter. 349
Ob sie in der germanischen Mythologie so selten waren oder nur so
sorgfältig ausgerottet wurden ?) l).
Merkwürdig sind Lokis weitere Schicksale in der Volkssage, die Olrik ver-
folgt hat. In den Ländern, wohin Nordmänner die Kunde von ihm gebracht
haben, England, Shetlandsinseln, aber auch Faröer und Island selbst (die Über-
lieferungen der Insel sind oben zum Teil benutzt) hielt sich die alte Anschauung:
er wird mit Odin zusammen genannt, überlistet die Riesen, begleitet Thor usw. 2).
In den »echtnordischen Ländern« dagegen weiß das Volk nichts von dem Gott
Loki: es kennt nur einen Dämon Lokke, der in Dänemark als Geist des in der
heißen Luft flimmernden Lichtes auftritt ?), in Schweden und Südnorwegen als
Geist des Herdfeuers4), im südlichen Norwegen auch als neckender nächtlicher
Unhold5). Ob diese Gestalten des Volksglaubens unmittelbar von dem alten
Feuerdämon herstammen ? Ob sie wirklich schon auf die Ausbildung der Götter-
gestalt eingewirkt haben6)?
Auch als Personennamen kommt Loki im Norden und in England vor7).
Auch in Lokis Verwandtschaft8) lassen sich zwei Schichten
scheiden : die alte Sippe des Feuerdämons und die junge des bösen Gottes.
Eine alte Gottheit könnte Sigyn sein9). Ihr Name ist nicht gedeutet;
daß sie lu) unter den Asinnen aufgezählt wird, hat nichts zu sagen. Eigen-
tümlich aber ist der Zug, daß sie über den gefesselten Loki eine Schale
hält, um das von der Schlange tropfende Gift abzufangen. Das erinnert
an die Funktion der »Dienerinnen Friggs« wie Hlfn, Syn und besonders
Eir11). Vielleicht war sie ursprünglich die Schutzgöttin, die vor Gift
behütete, und ihre Schale das Attribut12). Durch eine ikonische Mythe
wäre sie dann mit Lokis Bestrafung verbunden worden. Doch ist bei
der etymologischen Verwandtschaft von Feuer und Gift (»Eiter«) eine
ältere Beziehung denkbar. — Zur Gattin Lokis ward sie wohl aber jeden-
falls erst in der Epoche der treuen Frauen in der nordischen Dichtung18):
51'e ist lediglich Gattin des gefesselten Loki.
Jung ist vermutlich Lokis zweite Gattin Angrboda »die Schaden-
öotin« 14). Sie soll die Mutter des Höllenwolfs sein (»den Wolf zeugte
x) Die Geschichte von der Göttin, die nicht lachen kann (v. d. Leyen,
Märchen, S. 37; Mörikes Märchen von der schönen Lau) wird auf ihn und
Skadi übertragen (vgl. o. S. 211).
2) Danske Studier 1909 S. 69; vgl. ebd. 1908 S. 193 f.
3) Danske Studier 1909 S. 77.
4) S. 78 f. 5) S. 80f. 6) S. 83. 7) S. 83.
8) Mogk S. 347. 352.
9) Vol. Str. 35; Schluß zu Lok. = Gylf. cap. 50: Gering S. 347. — Meyer
iS. 236. 400, Golther S. 421 f.
10) Brag. cap. 1: Gering S. 352. n) Golther S. 435f.
12) Vgl. den gesegneten Becher Sgdr. Str. 8.
13) Vgl. Nanna S. 331. — Eine ganz ähnliche Funktion hat in der Bibel Rizpa
2. Sam. 21, 10 f. (vgl. Greßmann, Schriften des A. T. in Auswahl, Göttingen
1910, S. 148).
M) Golther S. 425, Mogk S. 847.
350 Viertes Kapitel.
Loki mit der wilden Angrboda«)1) oder der gesamten »Höllenbrut«2):
Fenriswolf, Midgardschlange und Hei 3). Natürlich muß sie eine Erzriesin
(»eine Riesin in Jötunheim«)4) sein. — Wie in der Mythologie so oft, ist
auch hier wohl die Mutter die Tochter ihrer Kinder: als man die apo-
kalyptischen Ungeheuer an Loki heranschleifte, ward eine Mutter für sie
nötig. — Oder wäre sie eine alte Götterbotin und Schadenstifterin wie Eris,
die später auch Ate das Verhängnis5) und den furchtbaren Eid6) zu
Töchtern erhält, und dem Ares, so weit er als Unheilstifter gilt, zugesellt
wird7)?
Seine Brüder Helblindi8) »der Unterweltsblinde« und Byleipt
oder Byleist9) faßt Mogk als Hypostasen Lokis auf. — Beide werden
in dem bedenklich vollständigen Götterkatalog Snorris10) genannt, Byleipt
noch in Gedichten11), doch nur so, daß Loki Byleipts Bruder heißt. —
Ich hege den Verdacht, daß der »Blinde der Hei« einfach Hod ist, der
blinde Ase, der zur Hei herabsinkt, und den man wegen seines Zu-
sammengehens mit Loki bei Balders Tötung diesem angebrüdert hat.
Byleipt aber ist nur in der späten und abgeleiteten Stelle des Hyndl. sicher
Loki; in der Völuspa kann mit seinem Bruder sehr wohl ein anderes
Ungetüm gemeint sein, um so mehr, als Loki bereits genannt ist:
Es segelt von Norden über die Erde ein Schiff.
Mit den Leuten der Hei, und Loki steuert;
Dem Wolfe folgen die wilden Gesellen,
Mit ihnen ist Byleipts Bruder im Zuge.
Kann Loki zugleich steuern und im Gefolge des Wolfs hinterher-
gehen 12)?
ich denke also, man muß Lokis Brüder streichen, wie er denn »ein-
sam hier in seiner Größe, groß in seiner Einsamkeit« sich viel besser aus-
nimmt 13). Daß Byleipt aus Beelzebub entstellt sei 14) und Helblindi der
*) Hyndl. Str. 42. 2) Golther S. 425.
3) Gylf. cap. 34: Gering S. 323.
4) Ebd. 5) Preller 1, 534 Anm. 2.
6) Ebd. S. 836. 7) Ebd. S. 338.
8) Golther S. 410, Mogk S. 347.
9) Kock, I. F. 10, 100. Nach Wadstein (Ark. f. nord. Fil. 11, 77) zu
bylr Sturm: »der Sturmblitz«.
10) Gylf. cap. 33: Gering S. 322.
") Völ. Str. 51, Hyndl. Str. 42.
12) Wenn Snorri (Gylf. cap. 51: Gering S. 348; vgl. Heinzel-Detter,
Edda 2, 67) eine gute Quelle hat, kann Hrym gemeint sein; dann stimmt aber
Völ. Str. 50 wieder nicht.
13) Auch den buddhistischen Versucher Mära wird solche Verwandtschaft
beschert: Durst, Unruhe, Verlangen als Töchter (Windisch, Mära und Buddha,
Leipzig 1895, S. 197).
u) Bugge, Studien, S. 75 f.
§ 18. Nebengötter. 35 \
blinde Teufel in der Hölle, damit der christlichen Dreieinigkeit eine
höllische gegenüberstehe1), wird durch den Umstand, daß uns Snorri
sie zusammen nennt, nicht eben wahrscheinlicher. — Ein Kind Lokis von
dem Hengst Swadilfari soll Odins Roß Sleipnir sein 2), wie er denn noch
andere Kinder geboren hat3).
Vor allem aber gilt in der späteren nordischen Mythologie die
> Teufelsbrut« 4) als seine Nachkommenschaft, der Weltdrache, der Fenris-
wolf und die Unterweltsgöttin, die drei Verschlinger für Erde, Sonne und
Menschen (samt den sterblichen Göttern) — eine Gruppierung, die mit
der der apokalyptischen Reiter nur die Vollständigkeit der Vernichtung
gemein hat. Sie sind5), sicher zum Teil, wahrscheinlich alle älter, als
Loki (mindestens soweit er Gott ist) und erst später an ihn geknüpft.
Loki wird eben der »Vater aller Hindernisse«, wie Typhon6) »der Vater
aller mythischen Ungetüme« wird 7).
1. Über Hei ist später eigens zu handeln. In ihrer Passivität paßt
sie schlecht zu den beiden andern Ungeheuern. Diese entstammen ur-
alten dämonischen Vorstellungen8).
2. Der Fenrisülf9) hat einen dunkeln Namen, der vielleicht
mit »Meer« oder »Sumpf« zusammenhängt10). Die Analogie zu dem
Namen des Midgardsorms ließe erwarten, daß Fenrir ursprünglich eine
Benennung der Sonne gewesen wäre; aber in der Edda wird Fenrir
auch allein zur Bezeichnung des Fenriswolfes gebraucht. Vielleicht ist
er ursprünglich mit dem von Indra getöteten Drachen Vritra11) identisch.
Er ist ein chaotisches Ungeheuer wie der — mit Loki zufällig nicht
zusammengebrachte — Drache Nidhögg 12).
!) Golther S. 410. *) Siehe o. S. 233.
3) Solche Fabeleien über den Ursprung von Wunderrossen sind indo-
germanisch : Achills Rosse sind von Zephyr und der Harpye Podarge — Schnell-
fuß — erzeugt, und noch näher kommt es, wenn Boreas in Gestalt eines Rosses
mit dunkler Mähne mit den Stuten des Erichthonios zwölf windschnelle Füllen
erzeugt (Prell er 1, 473) — eine Parallele, die Bugge (Studien S. 270; vgl.
v. d. Leyen, Märchen, S. 39) entging. Oder Pegasos stammt von Gorgo nnd
Poseidon (Preller 1, 80, vgl. 65). Die indischen Götterrosse (Macdonell
S. 148 f.) scheinen keine solche Allianzsagen veranlaßt zu haben. — Auf Loki
aber ist der Mythus wohl nur übertragen.
4) Olrik, Om Ragnarok; Golther S. 425; Mogk S. 310. 347.
5) Mogk a. a. O.
6) Preller 1,65.
"') Vgl. Zacher, Ztschr. f. d. Phil. 30, 289 f.: Loki und Typhon.
8) Vgl. v. d. Leyen, Märchen, S. 28 f.
9) Olrik S. 2346. 10) Mogk S. 311.
n) Macdonell S. 138.
12) Der Leichen frißt wie die indischen Pisäcas (Macdonell S. 164). Much
(Himmelsgott, S. 220) hält ihn für ein Wesen vulkanischen Charakters.
352 Viertes Kapitel.
Daß er erst später an Loki angeschoben ist, wird schon durch seine starke
eigene Familie wahrscheinlich. Von ihm hat1) die »Alte im Eisenwalde«
zwei Söhne geboren, die Wölfe Skoll und Hat i, von denen Hati einmal
die Sonne verschlingen wird. Nur andere Namen für Skoll und Hati
scheinen Wali und Narfi (oder Nari, allein genannt als Sohn des Sigyn)2).
Von diesen ist Wali3) ebenfalls ein Wolf, wenn auch nach schlechter
Nacherklärung durch göttliche Verwandlung — eine solche Verzauberung
in Tiergestalt, hellenisch so beliebt (Aktäon! Metamorphosen), kommt in
echter altgermanischer Mythologie nie vor4). Wali zerreißt dann seinen
Bruder (In der Nachrede der Lok. ist es gerade umgekehrt und mit den
Därmen des Zerrissenen wird Loki gefesselt). Hier gilt besonders Mogks
Wort5): »Dies ganze Verwandtschaftsverhältnis Lokis zeigt das bunteste
Gemisch von Gestalten mit physischem Hintergrund und subjektiven
poetischen Gebilden, denen sich Mißverständnisse des Verfassers der Snorra
Edda zugesellt haben mögen.« Auf die beiden Sonnenwölfe wird der
Fluch des Sippenmordes6) angewandt: statt daß einer die Sonne er-
würgt7), muß er den Bruder töten. Warum ließen denn die Äsen nicht
wenigstens die beiden Wölfe sich gegenseitig ermorden wie die Männer
der Kadmeischen Saat?
Für das Alter des Namens Narfi spricht, daß er noch einmal8) für
den Vater der Nacht vorkommt. (Ebenso heißt Hati auch der riesische
Vater der Hexe Hrimgerd: Helg. Hjörv.) Auch scheint der einfache
Typus von Namen wie Narfi und Hati zu dem von Loki zu stimmen.
Doch nennen nur spätere Mythologen9) die Namen Skoll und Hati und
machen über die Mutter — natürlich eine Riesin — und die Stellung
der Wölfe zur Sonne nähere Angaben. Wahrscheinlich liegen Sagen-
parallelen vor: entweder verschlingt der Fenriswolf selbst die Sonne 10),
oder zwei Wölfe verfolgen sie, von denen sie dann einer verschlingt;
diese werden dann zu seinen Söhnen gemacht11). Nun war eine Mutter
nötig, wie Angrboda. Am Ende der Welt, wo die Sonne versinkt, ist
der »Eisenwald« 12) — wohl nicht einfach ein Urwald18), sondern das Land
*) Vol. Str. 40.
2) Gylf. cap. 33: Gering S. 322.
8) Gylf. cap. 50: Gering S. 347.
4) Vgl. o. S. 130; doch vgl. Gering, Ztschr. f. d. Phil. 41, 488.
6) S. 348. 6) Vol. Str. 45. 7) Vol. Str. 40.
8) Gylf. cap. 10: Gering S 304.
9) Grim. Str. 39; Gylf. cap. 12: Gering S. 306.
10) Vaf. Str. 47.
») Als Vater der Wölfe heißt Fenrir (Grim. Str. 40, Gylf. cap. 12) Hrödvitnir
der berühmte Wolf.
12) Vol. Str. 40; Grim. Str. 39.
18) Wie »Iserlohn«: Gering S. 19.
§ 18. Nebengötter. 353
des Sonnenuntergangs, des dämmernden Glanzes — , wo Helios am ehernen
Himmel emporsteigt und seine Rosse in dem wie blankes Erz strahlenden
See der Äthioper tränkt1). Dort also, wo die Sonne untergeht, sitzt die
Alte2) und wartet auf das Ende der Sonne. Diese namenlose und
vielleicht gerade deshalb uralte Gottheit des Sonnenuntergangs ward zur
Mutter der Wölfe, die nach manchen primitiven Mythologien die Sonne
fressen3). — Oder ist die Alte die Verkörperung der bösen Hexen, der
> Weiber am Eisenwald« (jdrnvidjur)? Das deutet Snorri4) an, der
diese von dem Wald der Alten benennen läßt.
Die ursprüngliche Funktion des Wolfes ist unzweifelhaft seine eschato-
logische5): er verschlingt die Sonne. Daran knüpfen ätiologische Mythen.
Wenn der böse Wolf die Sonne auffressen kann, warum tut er es nicht?
Weil er gefesselt ist6) — eine uralte Erklärung, für die samt ihren Einzel-
heiten v. d. Leyen 7) die merkwürdigsten Parallelen aufgefunden hat. Bei
Snorri selbst steht sie in zwei Varianten 8) mit drei Fesseln, deren letzte —
wie der Göttermeth — eine zauberhafte Quintessenz unmöglicher Dinge dar-
stellt; mit dem üblichen Botenritt (Skirnisför) und den kunstvollen Zwergen.
Die letzte Fessel heißt Gleipnir — eine Benennung vom Typus Mjölnir
Sleipnir Gungnir. Weiter: wie kommen die Götter dazu, ihn zu
fesseln? Orakel warnten sie9), denn er wuchs bei ihnen auf (!) und nur
Tyr wagte ihn zu füttern. (Bessere Variante : alle drei Ungeheuer wachsen
in Jötunheim auf10).
3. Jörmungand11), die Weltschlange, der Midgardsormr12), ist
das riesische Meerungeheuer, das die Menschenerde umspannt wie Okeanos
und sie verschlingen möchte. Sie ist aber auf den Meeresgrund gebannt,
wo sie ohne Ende wächst 13), bis auch sie einmal frei wird und die Erde
verschlingt. — Der Mythus von Thor bei Hymir spielt mit ihr, wie die
Hiobsdichtung mit dem Leviathan : Thor angelt sie in die Höhe, da speit die
Schlange Gift (wie die zu Lokis Pein über seinem Haupt befestigte Schlange14).
x) Preller 1, 434. Anders über Jarnvidr und seine Synonyma Kauff-
imann, PBB. 18, 163.
2) Wie Thökk in der Höhle, Gylf. cap. 49: Gering S. 346.
8) Über »Verschlingungsmärchen« Wundt 2, 3, 230.
4) Gylf. cap. 12. 5) Siehe u.
ö) Gylf. cap. 25: Gering S. 319.
7) Märchen S. 28, Festschrift für J. Kelle 1,1t
s) Gylf. cap. 25 und ausführlicher cap. 34.
9) Gering S. 323.
10) Ebd. S. 322. ») Vol. Str. 50.
12) Olrik S. 25; Gylf. cap. 34: Gering S. 322.
13) Gylf. cap. 34: Gering S. 322.
14) Ein ähnliches dämonisches Tier war vielleicht ursprünglich die Schlange
des biblischen Paradieses; vgl. Holzinge r, Genesis, S. 33: der Fluch, ihre
Bestrafung.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 23
354 Viertes Kapitel.
Diese eschatologischen Ungeheuer sind viel furchtbarer als Loki und
haben ihm erst den grausigen Charakter gegeben, den er zuletzt annimmt.
Lokis Eltern1) werden schon in alten Strophen erwähnt 2). Nur
bei Snorri8) heißt er der Sohn des Riesen Fdrbauti, »des gefährlich
Schlagenden«, d. h. des Sturmwinds, da dieser das Feuer in dem Holze
entfacht4). Mogk meint: »Es mag bei der Schöpfung dieser Verwandt-
schaft Vermischung alter Naturmythen mit dem jüngeren Lokimythus statt-
gefunden haben, denn hier scheint schon Loki als das vernichtende Feuer
aufgefaßt zu sein, das der Sturmwind auf bewaldeter Insel vom Himmel
herabbrachte. Das wäre dann ein Parallelmythus zu dem Mythus von der
Entstehung des Lichts und der Wärme auf Gotland5).« Nach Bugge6)
bedeuten dagegen die Namen von Lokis Eltern ein dichterisches Bild:
daß der Sturmwind die flammende Lohe aus dem Gehölz schlägt. Aber
das kann er doch nur, wenn das Feuer schon da ist! Der Blitz kann
Feuer entzünden, nicht der Sturm.
Stände der Name Laufey, »die Laubinsel«, nicht in der Thrymskv., so
würde ich unbedenklich auch hier Adoptiveltern Snorrischer Faktur zu sehen
glauben. Anderseits genügt er doch nicht (mit dem Hammer Mjölnir, s. o.),
um das Gedicht umdatieren zu lassen; und für Interpolationen sind die beiden
Belege zu gut verankert. Aber der durchsichtig komponierte Name bleibt
verdächtig und gewinnt nicht dadurch, daß Snorri7) ihm die Variante
Ndl »die Nadel«, d. h. der Nadelbaum, beigibt. Ob vielleicht Laufey ur-
sprünglich eine Ortsbezeichnung war, dem »Eisenwald der Alten» ent-
sprechend? dort der Punkt des Herabgehens der Sonne8), hier etwa die
Stelle des Aufgangs, des Auftauchens des himmlischen Feuers? »Sohn
der Laufey« wäre dann erst lokal gemeint9), später metonymisch ver-
standen worden und schließlich der allegorischen Deutung verfallen. Loki
der Sohn der Laubinsel ? aber Nadelholz brennt doch nicht weniger gut!
— Färbauti, ein alter Winddämon, der die Äste herunterschlägt, war dann
der gegebene Vater10).
Da Skoll und Hati Lokis Enkel vom Fenriswolf sein sollen, hätten wir
hier glücklich einen dämonischen Urgroßvater. Indessen pflegt die mytho-
logische Anschauung über zwei Generationen nicht herauszugehen. —
*) Vgl. Kock S. 101.
2) Thrymskv. Str. 17. 20, Lok. St. 39; ebenso Skäldsk. cap. 3: Gering S. 364
heißt Loki der Sohn der Laufey, der »Laubinsel« (Golth er S. 184. 409, Mogk S. 347).
3) Skäldsk. a. a. O. 4) Gering S. 21.
5) Säve, Gutinska Urkunder, S. 31.
ö) Golth er S. 184. 409.
7) Gylf. cap. 33: Gering S. 322.
8) Freilich später Völ. Str. 40 nach Osten verschoben!
9) Etwa wie Sigrun von Sewafjöll, Helg. Hund. 2, 44.
10) Vielleicht ist er auch Völ. Str. 52 mit dem »Mörder der Zweige< gemeint.
§ 18. Nebengötter. 355
So hat Loki durch die beherrschende Stellung, die er gewann, einen
ganzen Familäenstaat um sich gebildet. Die Vorstellung einer geschlossenen
»Hölle« ist aber nicht entstanden : nur während ihrer Unmündigkeit leben
die drei Ungeheuer zusammen in Jötunheim 1). Später sind sie getrennt:
die Schlange allein trifft Thor bei Hymir, und sie kommt zu Ragnarök
von Osten2); Loki, die Leute der Hei, der Wolf von Norden3); Hei
selbst von Süden4), Feinde ringsum«!
Zu diesen dämonischen Ungeheuern gehört ferner der Drache Nfd-
högg5). Der »schadengierig Hauende«6) scheint ein alter Dämon: der
Leichenzehrer«, der die Toten schädigt7). Später ist er zu der Weltesche
Yggdrasil in weltumstürzende Beziehung gebracht worden, vielleicht weil
die Wurzeln des Weltbaums schlangenförmig gezeichnet waren8); und
so ist denn9) dem einen Drachen ein ganzes Nest von Schlangen unter-
gelegt worden. — Natürlich wird er 10) zum letzten Kampf in einer wenn
auch nur äußerlichen Beziehung gedacht. —
Viel stärker11) ist Surts Anteil an diesem Kampf. Surt12) gilt ge-
radezu als das Haupt der götterfeindlichen Heeres13). Das Feuer des Welten-
brands heißt Surts Lohe14) und somit ist er ein Feuerdämon15). Das berichtet
die Prosa Edda16) auch ausführlich: »Zuerst bestand die Gegend, welche
Muspellsheim heißt; diese ist hell und heiß, und sie kann von niemandem,
der dort nicht zu Hause ist, betreten werden. Surt hat dort die Herr-
schaft, der an der Grenze seines Reiches sitzt; in der Hand hält er ein
glühendes Schwert, und am Ende der Welt wird er kommen, und alle
Götter besiegen und die Welt mit Feuer verbrennen. So heißt es in der
Völuspä17).« Das wäre ganz schön, wenn nicht der Verdacht bestände,
daß das alles abgeleitet ist18).
*) Gylf. cap. 33: Gering S. 322.
2) Vol. Str. 50. 3) Str. 51. 4) Str. 52.
5) Vol. Str. 39. 66; Grim. Str. 32. 35 = Gylf. cap. 15: Gering S. 309, cap. 16
ebd. S. 311; ebd. cap. 52: Gering S. 351 = Vol. Str. 39. — Müllenhoff,
D. Alt. 5, 36. — Golther S. 536 Anm., Mogk S. 379. 381.
6) Bugge S. 480 f.
7) So an der ältesten Stelle Vol. Str. 39.
8) Denn wir halten dies (siehe u.) für einen ikonischen Mythus.
9) Gylf. cap. 16.
10) Völ. Str. 66. n) Olrik S. 227 f.
12) Völ. Str. 47. 52, Vaf. Str. 17. 51, Fäf. Str. 14 (= Vaf. Str. 17); wertlos
Fjöl. Str. 18. — Gylf. cap. 4: Gering S. 300, cap. 7 ebd. S. 313, cap. 51 S. 349f.,
aus Völ. Str. 47 f. abgeleitet.
13) Vaf. Str. 17; Fäf. Str. 14.
14) Vaf. Str. 51 ; Gylf. cap. 16.
15) Golther S. 189, Mogk S. 382; Phillpott (Ark. f. nord. Fil. 21, 14f.)
spezialisiert wahrscheinlich mit Recht: ein vulkanischer Dämon.
16) Gylf. cap. 4. 17) Str. 52. 18) Vgl. Olrik S. 221 f.
23*
356 Viertes Kapitel.
Zunächst: Müspell1) = Muspilli hat es natürlich gegeben; und die
an dem Erdbrand beteiligten Dämonen können wohl »Müspells Söhne<
heißen 2) — etwa wie Loki Sohn der Laufey heißt. Nun aber diesem
vermeintlichen Vater Muspell ein Müspellheim zu dedizieren 3), das sollte
doch auch die stutzig machen, die an alle »Heime« aller Edden sonst
willig glauben! Das Land der Weltvernichtung — ein kurioses Land
fürwahr! Und die Funken, die vom Weltbrand sprühen4), könnten echt
sein — aber ein feuersprühendes Land ist denn doch eine zu große tech-
nische Rarität5).
Daß das Land hell und heiß ist, konnte Snorri sich selbst sagen;
sonst aber bringt seine Schilderung des Königs von Feuerland nur Einen
neuen Zug: daß er an der Grenze seines Reiches sitzt; und dies kam
wohl zustande, indem Snorri zwei Strophen der Völ.6) kombinierte und
deshalb Surt zum Pendant Heimdalls machte.
Ich würde also aus der so oft auch uns verblendenden Augentäuschung
Gylfis nichts, aber auch gar nichts für Surt zu schließen wagen. Dann
bleibt übrig 1. er ist ein Hauptführer im Kampf gegen die Götter; 2. er
hat mit dem Weltbrand zu schaffen ; 3. ein anderer Hauptfeind der Götter
(nach der herrschenden Annahme Fenrir7) heißt »sein Blutsfreund«8) —
wie Loki und Odin Blutsfreunde waren 9). — Wahrscheinlich ist er also ein
alter Dämon des vulkanischen Erdfeuers 10), und sein Blutsbruder ist dann
doch wohl n) der Feuerdämon Loki.
Die Versuchung, aus Myrkwid , »Dunkelwald« , das Müspells
Söhne 12) durchreiten, etwas für Müspell und Surt zu gewinnen, muß man
wohl aufgeben. Detter und Heinzel 13) denken an den deutschen Schwarz-
wald; aber andere Stellen14) lassen wohl kaum Zweifel übrig, daß mit
dem Fliegen , Reiten , Senden durch den dunkeln Tann lediglich ein un-
1) Lok. Str. 42.
2) Ebd.; Gylf. cap. 13: Gering S. 307, cap. 37 ebd. S. 329, cap. 43 S. 333,
cap. 51 S. 349.
3) Gylf cap. 4: Gering S. 300, cap. 5 S. 301, cap. 8 S. 303, cap. 11 S. 305.
4) Gylf. a. a. O. cap. 8 und 11.
5)Heinzel-Detter (Edda 2, 66) möchten Muspell und Muspellheim
trennen: Muspell wäre eine Person, der Herr von Muspellheim.
6) Str. 46 und 47; vgl. Gylf. cap. 51: Gering S. 350.
7) Gering z. St.; vgl. Heinzel-Detter 2, 63.
8) Völ. Str. 47.
*) Lok. Str. 9.
10) Vgl. Golther a. a. O.
• n) Vgl. Heinzel-Detter a. a. O.
12) Lok. Str. 42.
13) S. 66.
14) Vkv. Str. 1; Helg. Hund. 1, 52; vgl. Oddr. Str. 23.
§ 19. Eddische Nebengötter. 357
bestimmter dunkler Weg gemeint ist. Wie gern brächte man sonst den
Dunkelwald mit dem Eisenwald der Alten1) zusammen2)!
Surt, ein speziell isländischer Dämon des verderblichen Erdfeuers, mag
wohl der ursprüngliche Heerführer der götterfeindlichen
Scharen gewesen sein, als man in Island die Legende vom Ragnarök
ausbildete; daher nahm3) dort die Schilderung des Weltbrandes den
Charakter eines vulkanischen Ausbruchs an, wogegen Loki gemeinnordisch
ihr Leiter ward4). Und so stehen diese beiden noch jetzt mit unklaren
Kompetenzen nebeneinander. Daß Surt den Frey erschlägt5), hat schwer-
lich besondere Bedeutung.
Der letzte Gegengott ist Hrym. Die Versedda nennt ihn nur einmal6):
Von Osten fährt Hrym, im Arm den Schild,
Snorri 7) schließt aus dem Schlußvers dieser Strophe noch, daß Hrym
das Schiff Naglfär steuert; sonst wird er8) nur beiläufig noch einmal er-
wähnt. — Meyer9) bringt Hrym als den Totenschiffer mit Charon zu-
sammen; es ist aber nicht einmal sicher, ob das Totenschiff Naglfär10) ihm
von vornherein gehört. Der Name (»erschöpft, kraftlos«?)11) hilft nicht
weiter. Der Name klingt alt. Ob bei Hryms Schild an den Sonnen-
schild12) zu denken ist, den er geraubt hätte?
Summa: er ist noch irgendein alter Dämon, der beim Generalappell
der Weltzerstörer mit aufgeboten wird13). —
Der Windgott Hraesvelg14) ist schwerlich mit Gering15) als Teil-
nehmer der teuflischen Scharen anzusehen ; mit Heinzel-Detter 16) wird man
an der Stelle der Völuspä einfach an den Adler des Schlachtfelds denken
müssen, der die Leichen verzehrt, gerade wie der Sonnenwolf, weil er
eben Wolf ist, sich vom Fleisch gefallener Männer17) nährt. - Es sind
auch so schon der Gegengötter genug18).
§ 19. Eddische Nebengötter.
Eine Reihe von Göttergestalten gehören noch zu dem offiziellen Kreis
der »großen Götter«, ohne doch in Kult oder Mythus so stark wie Odin,
*) Vgl. Müllenhoff, D. Alt. 5, 122.
*) So auch in der Saga: Hervararsaga; vgl. j. Grimm, Kl. Sehr. 2, 39.
3) Philipott S. 24.
4) Über Surts isländischen Ursprung vgl. Philipott S. 27.
5) Gylt cap. 51: Gering S. 349. 6) Vol. Str. 50.
7) Gylf. cap. 51: Gering S. 348. 8) Ebd. S. 349.
9) S. 469. 10) Golther S. 534 Anm.
") Gering S. 12. 12) Grim. Str. 38.
13) Müllenhoff (D.Alt. 5, 149) hält ihn für eine neue Erfindung.
14) Siehe o. S. 99. 15) Zu Vol. Str. 50.
16) Edda 2, 65. 17) Vol. Str. 4L
18) Vgl. über Ragnarök überhaupt u.
358 Viertes Kapitel.
Thor, Tyr, Frey, Njord, Frigg, Freyja hervorzutreten, obwohl ihre Bedeutung
gelegentlich schon an die Balders streift. Einige sind auch ganz unter-
geordneter Natur, wenigstens nach unseren Quellen.
Heimdali.
H e i m d a 1 1 x) ist lediglich nordisch2) und sogar nur norwegisch-
isländisch3). Er scheint jung; sein Name4) ist singulär, ein Kult nicht
belegt. Eine Aristie des später beliebten Gottes, »Heimdallargaldr« (von
Snorri auch in den Skäldsk. erwähnt) ist bis auf zwei Verse5) verloren.
Außerdem nennt der Skald Ulf Uggvason ihn in seiner Hüsdrapa6). —
Von Eddaliedern nennen ihn Völuspä, Thrymskvida7), Lokasenna8), Grimnis-
mäl 9) und nach der herrschenden Ansicht (die auch die eddische Hypothesis
ausdrückt) die Rigsthula. Ohne ihn zu nennen, schildert ihn die in die
Hyndluljöd eingelegte kleine Völuspä 10), die die neun Mütter aufzählt
und von Heimdalls Jugend mystisch berichtet. Allerdings ist diese Quelle
nicht einwandsfrei : die Angaben über die Nahrung des jungen Gottes11)
berühren sich verdächtig mit dem Zaubertrank der Grimhild12), und da
beide Gedichte etwa gleichzeitig sind 13), so liegt der Gedanke einer Ent-
lehnung nahe, die dann wohl für die Priorität des Zaubergemisches14)
spricht. Aber die anderen Strophen lassen noch genug übrig; zumal
wenn man sie durch die Rigsthula15) ergänzt.
Der Name16) steht unter den eddischen Götternamen insofern isoliert,
als er ein durchsichtiges Kompositum ist: »über die Welt leuchtend« oder
»über die Welt gefeiert« (zu angelsächsisch deall, stols, berühmt) 17) oder
»der hell Leuchtende« 18). Daneben aber steht das einfache, aber vielleicht
entlehnte Appellativum Rig »der König« 19).
Sein Wesen ist mannigfaltig gedeutet worden. Daß er eine Art
Lichtgott ist, wird schon wegen seines Namens kaum bezweifelt20).
*) Uhland, Sehr. 6, 14; Müllenhoff, H. Z. 30, 245; Mogk S. 317. 352.
379; GoltherS 359; Meyer S. 408; Much S. 357; v. d. Leyen, Märchen, S. 6;
R. M. Meyer, Ark. f. nord. Fil. 23, 250.
2) Meyer S. 42.
3) Ebd. S. 408; Mogk S. 317. *) Siehe u.
5) Gylf. cap. 27: Gering S. 321.
6) Zwischen 975 und 980 (Golther S. 359).
7) Str. 14. 8) Str. 47—48. 9) Str. 13: Heim.
10j Hyndl. Str. 36f. ") Hyndl. Str. 39. 12) Gud. 2, 22.
13) Gegen 950: Hyndl. Jönsson S. 202, Gud. 2: ebd. S. 297.
u) Golther S. 362 Anm. 2.
15) Siehe u. 16) Golther S. 360.
17) Wie in Mardöll; Bugge.
18) Kögel, I. F. 5, 313. 10) Mogk S. 318.
'20) Nur v. d. Leyen (Sagenbuch S. 221) schreibt ihm elfischen Ursprung zu
wie mir scheint, durchaus gewaltsam.
§ 19. Eddische Nebengötter. 359
Außerdem haben wir als Anhaltspunkte die Mythen und Snorris Auf-
fassung 1).
Bei Snorri stammen aus der Völ.2) das Hörn Heimdalls (mit dem wohl-
feilen Namen Gjallarhorn »das gellende Hörn«); aus der Lok. der Wächter
der Götter; aus Grim. die Burg des Gottes. Daß er der hellste Ase heißt
und zukunftskundig ist3), hat Snorri hier nicht benutzt. Zitiert werden
die Grim. und der für die neun jungfräulichen Mütter maßgebende Heim-
dallargaldr4). — Von sonst unbelegten Angaben bringt Snorri in der
Gesamtcharakteristik Heimdalls 5) zwei weitere Namen des Gottes : Hallin-
ski'di, »der gebogene Schlittschuhe trägt «, und Gtillintanni, Goldzahn«;
den Namen seines Rosses Gulltopp, »mit goldenem Stirnhaar«0) und die
Lokalisierung von Heimdalls Burg bei der Brücke Bifröst7). — Sodann
Einzelzüge aus dem Bild des Wächters : er sitzt am Rand des Himmels —
er sieht und hört mit märchenhafter Schärfe.
An anderer Stelle berichtet Snorri: Heimdall reitet auf Gulltopp zu
Balders Begräbnis8) — ebenso bei Ulf Uggvason. — Beim Ragnarök töten
sich Heimdall und Loki9). Dies geht bei der Aufteilungstendenz der
guten und bösen Mächte wohl aus der besonderen Feindschaft zwischen
dem Unheilstifter und dem Wächter10) hervor.
Der Mythus gibt folgende Hauptzüge: 1. Wunderbare Geburt. Dieser
— in der germanischen Mythologie bei Urwesen häufige, bei Göttern
singulare — Zug scheint besonders Lichtgottheiten eigentümlich: Athene11),
Dionysos12), Indra13). 2. Besondere Angaben über die Erziehung. Auch
diese ieignen vorzugsweise atmosphärischen hellen Gottheiten: Zeus14),
wieder Dionysos15). Beide Züge scheinen also auf einen Gott des Lichts
oder der Helligkeit zu deuten: das immer neue Rätsel, wie aus dem
Dunkel Licht wird und sich die Schöpfung gleichsam täglich wiederholt,
reizt zu solchen Mythen, die etwa rein terrestrischen oder chthonischen
*) Gylf. cap. 27: Gering S. 320.
2) Str. 27. 46. 3) Thrymskv. Str. 14.
4) Vgl. allgemein Golther S. 361.
Fj) a. a. O.
6) Aus Grim. Str. 30, wo die Götterrosse aber nicht verteilt sind.
') Aus Grim. Str. 44.
8) Gylf. cap. 49: Gering S. 345.
9) Gylf. cap. 51: Gering S. 350.
10) Kampf um Brisingamen; siehe o. S. 215f.
n) Preller 1, 188; vgl. 190.
12) Ebd. 661.
13) Ähnlich wie Dionysos: durch die Seite, allerdings der Mutter (Mac-
donell S. 56). Sekundär dagegen bei Mars: Wissowa S. 134.
u) Preller 1, 133.
T5) Ebd. 1, 662. — Von Apollon, Hermes, Herakles wird wohl aus der
Jugend, nicht aber von Ernährung und Aufziehen berichtet.
360 Viertes Kapitel.
Gottheiten oder »Berufsgöttern« *) mangeln. 3. Das Amt als himmlischer
Wächter. Auch dies kann nur einem mit Himmel und Helligkeit ver-
bundenen Gott gehören; so ist Varuna, der indische Himmelsgott, von
seinen Spähern umgeben2), so ist Helios »der allgemeine Späher der
Menschen und Götter, vor dem nichts verborgen bleibt«3).
Soweit hätten wir also nur einen am Himmel wohnenden Lichtgott,
Aber Himmels- oder Lichtgötter sind Tyr und Balder auch. Was unter-
scheidet Heimdall von anderen Helligkeitsgöttern?
Er wird mit der Entstehung der Stände in mittelbare Beziehung ge-
bracht (Rfgsthula) — denn daß das Gedicht von der Bildung der Kasten
wirklich ihm gehört, wird meines Erachtens schon durch den Parallelismus
der kleinen Völuspä unzweifelhaft. Wie von Odin, dem Pflegevater junger
Fürsten 4), berichtet wird, wie er zum Machthaber ward (in der Erzählung
von der Runenfindung), so wird von Heimdall-Rfg, dem Stammvater der
Stände — »der allen Geschlechtern vereint durch Verwandtschaft5) —
erzählt, wie er selbst aufwuchs und, gleich dem Konungr, zum mächtigen
Herrn ward.
Hiernach können wir zu einer näheren Bestimmung Heimdalls kommen.
Uhland 6) faßt ihn allgemein als den Gott, dem die Frühe und der Anfang
gehört — und so stände er denn zu seinem Gegner Loki, dem »Schließer«,
in natürlichstem Gegensatz7). Aber eine so abstrakte Konzeption ist mit
den individuellen Zügen des Bildes schwer in Einklang zu bringen ; auch
stimmt die dauernde Funktion des Wächters nicht recht zu der des bloßen
Anfangverkünders. — Nach Müllenhoff8) wäre er eher der Gott der
Morgenröte, vielleicht sogar des Regenbogens (an dem seine Burg steht).
Aber seine Beziehungen zu den Menschen werden so stark betont! an
der feierlichsten Stelle der Edda9) heißen die nach Ständen geordneten
Menschen Heimdalls Kinder! Er ist ein »Menschengott« wie Frey; was
aber hat10) der Gott der Frühe mit der Schöpfung der Stände zu tun?
Gewöhnlich bezeichnet man ihn als den Gott des anbrechenden
Tages. Er hat neun Schwestern zur Mutter (sonderbare Geburtsverhältnisse
bilden seine Spezialität). Ihre Namen n) helfen uns nur insofern weiter,
x) Wie Mars (Wissowa S. 130): von Anfang an Kriegsgott; oder Frigg
Göttin der Frauen.
2) Macdonell S. 23.
3) Prell er 1, 433; »die Sonne bringt es an den Tag«.
4) Siehe o. S. 254. r») Hyndl. Str. 40.
6) Sehr. 1, 64.
7) Müllenhoff, H. Z. 30, 229; Mogk S. 318.
8) Vgl. Golther S. 366.
9) Vol. Str. 1.
10) Trotz Mogks gekünstelter Verbindung S. 319.
n) Hyndl. Str. 38.
§ 19. Eddische Nebengötter. 35 j
als sie zeigen , daß auch der Nomenciator die neun Schwestern x) für
Wellen hielt. Übrigens ist es gewiß kein Zufall, daß unter diesen neun
Namen vier auch sonst vorkommen: Gjalp, auch Geirröds Tochter2),
Greip ebenso3), Imd als Mutter des (gleich Loki) zum Weib verwandelten
Gudmund 4), Järnsaxa 5) als Gattin Thors und Magnis Mutter. Nun haben
Ran und Ägir neun Töchter6); die Übereinstimmung ist verführerisch.
Daß deren Namen zu Hyndl. 7) nicht stimmen8), hat nichts zu sagen, da
hier wie dort nachträglich getauft ist. Somit wäre also Heimdall »der
am Himmelsrand übers Meer aufleuchtende Tag« 9), von den Meereswogen
am Rand der Erde (wo auch der Regenbogen aufsteht) geboren. Das
würde auch gut zu dem isländischen Ursprung des Gottes stimmen: für
Ost- oder Südisland taucht der Tag wirklich aus den Meereswogen auf10);
doch ist die rein mythische Vorstellung auch anderswo denkbar. Und
wenn man die neun Schwestern als Wolken faßt11), wäre auch diese
Vorstellung mit der des jungen Tages vereinbar. Besser bleibt man doch
bei der der Wogenmädchen, schon wegen der Zahl : die dritte Welle gilt
überall als die stärkste, so daß die Neunzahl besonders motiviert ist12).
Aber der Gott des jungen Tages ist immer noch zu wenig Wächter
und Herr der Stände ; deshalb möchte ich seine Funktion genauer als die
des hellen Tages nuancieren.
Hierzu stimmt alles vortrefflich. Er ist der weiseste, hellste der Äsen ;
sein Roß hat goldene Stirnhaare: der goldene Glanz des aufleuchtenden
Tages, wie ihn die antike Skulptur an Helios symbolisiert; er selbst hat
goldene Zähne, wie Eos Rosenfinger hat. Die ganze Gestalt ist auf den
Begriff der Helligkeit gestellt: weiße Farbe; Ton des Horns; »helles
aufgeweckte, weise Art; strahlende, goldene Attribute. Auch die Ent-
wicklung der Gestalt stimmt hierzu:
In seiner Entwicklung ist Heimdall also zunächst ein Himmels-
,£ott — vielleicht, wie man in der Regel annimmt13), eine Emanation
Tyrs; freilich müßte er älter sein, als wahrscheinlich ist, weil von dem
Kriegsgott kein Taggott mehr emanieren konnte. Ich halte ihn eher für
eine jüngere Schöpfung. Denn für die späteren Götter ist es bezeichnend,
1) »Die Brausende«, »die Umkrallende«, die rasch Dahinstürmende«, die
kalt ist wie ein eisernes Messer«: Gering S. 124 Anm. 5.
2) Skäldsk. cap. 2: Gering S. 363.
3) Ebd. 4) Helg. Hund. 1, 44.
5) Siehe o. S. 305. 6) Golther S. 478 f.
7) Str. 38. 8) Heinzel-Detter 2, 630.
9) Golther S. 363, Meyer S. 408.
10) Golther a. a. a. O. u) R. M. Meyer S. 252.
12) Früh verdunkelt ist auch der indische (oder vielmehr indoiranische) Gott
les Tagesanbruchs, Vivasvant (Macdonell S. 43).
*) Z. B. Mogk, Sammlung Göschen 15, 76.
131
362 Viertes Kapitel.
daß sie mit den Einzelerscheinungen des menschlichen Lebens enger befaßl
sind als die älteren (Was, beiläufig bemerkt, für Balders Ursprünglichkeil
zeugt).
Der Tagesgott ist also nicht ein abstrakter »Herr der Helligkeit« —
wie die griechische Hemera1), die deshalb auch ihr Pendant Nyx neben
sich hat — :, sondern der lebensvolle Vertreter des hellen, erfüllten Tages
Als solcher erhält er, er allein unter den Äsen, eine durchaus menschliche
Funktion, eine wirkliche Beamtenstellung; er wird Wächter der Götter,
worüber der boshafte Loki wohl spotten mag. — Es ist nicht undenkbar
daß hier eine Verschmelzung stattgefunden hat. Wir finden vielfach
irdische Wächtergottheiten: Pushan, an der Grenze von Himmel und
Erde geboren, überwacht die irdischen Wege2); Janus, ebenfalls als »Gott
des Anfangs« bezeichnet, ist ursprünglich der Gott der Türen und Grenz
wege8); auch an unsere Syn4) ist zu erinnern. Diese Funktion, an der
Grenze menschlicher Gebiete zu wachen, die bei den Römern noch in
der Kaiserzeit aus dem Fest der Terminalia einen Gott Terminus, Schutz-
herrn der Grenzsteine, erwecken ließ5), wird nun in den Himmel proji
ziert; und ebenso erhält die Unterwelt in Eggther6) und das Totenreich
in Mödgud7) analoge Wächtergottheiten. So könnte sich mit dem hellen
Tagesgott ein irdischer Grenzgott vereint haben. Dies Bild des Himmels-
wächters wird nun in doppeltem Sinn ausgeführt: einerseits heroisch,
anderseits märchenhaft.
Die märchenhaften Züge hat schon J. Grimm8) hervorgehoben: er
bedarf weniger Schlaf als ein Vogel — weil er eben der wache Tag
selbst ist; er sieht bei Nacht so gut wie bei Tag, hört das Gras wachsen
Züge, aus der Übertreibung des Wachens« herausgesponnen oder an
Märchenmotive angelehnt.
Weniger hat man auch hier die (bei einer relativ jungen Gottheit fast
unvermeidlichen) Einwirkungen der heroischen Sage und Dichtung be-
achtet. Zwar die Analogie mit Wächtern und Markgrafen der Heldensag
hat man hervorgehoben und in dem Eckewart der Nibelungenot eine
mythischen Niederschlag vermutet9). Aber der »Markwart des Himmels 10|
ist umgekehrt selbst diesen Wächtern angeglichen, die im Beowulf J1), i
Nibelungenlied12), ja auch in der heroischen Lyrik des Tageliedes ihr
unentbehrliche Stellung haben. (Und Eckewart schläft ja gerade an der
Grenze, während Heimdall nie schläft!) Irdische Heere und Burgen
=
*) Preller 1, 37. 39. 440.
2) Macdonell S. 35. :{) Vgl. Wissowa S. 96.
4) Siehe o. S. 276. 5) Wissowa S. 125.
6) Siehe u. 7) Golther S. 371. 8) Myth. 1, 193.
9) Mogk S. 318. 10) Golther S. 360.
") v. 668f. 12) v. 279, 6.
§ 19. Eddische Nebengötter. 353
brauchen einen Wächter, und die epische Technik braucht eine Ankündigung
des heranrückenden Feindes; Götter können auch so auskommen. So
ist Heimdali nach dem Modell der Hagen und Hildebrand stilisiert, wenn
er1) trotz seiner »Frische« der alte, wackere, weise Ase heißt; von hier
stammt sein Hörn (wie die Posaune der Engel vor dem Jüngsten Gericht
von hier stammt) und sein Amt vor dem Beginn des Götterkampfes; von
hier stammt seine, freilich auch mythologisch deutbare, Pflicht, täglich die
Wache an der Grenze zu beziehen. Auch bei dem Kampf um Freyjas
Geschmeide2) ist er mehr der schlaue Götterpolizist als der mit dem
dunklen Dämon ringende Tagesgott.
Der Wächter am Himmel wird durch eine sehr naheliegende Aus-
dehnung seines Amtes zum Aufseher der menschlichen Tätig-
keit. Er wird für die in ein Zeitalter der Arbeitsteilung tretende Ge-
meinde der »Gott aller Tätigkeiten« (wie Goethe3) Viktoria die »Göttin
aller Tätigkeiten« nennt).
Solche Arbeitsgötter entstehen vielfach in einem bestimmten Stadium
der Kultur. Götter der menschlichen Gesellschaft wie Mitra, der »die
Menschen zusammenbringt«4); Götter der Tätigkeit wie Savitri5), von
dem es im Gebet heißt*):
Es streckt der Gott die breite Hand, die Arme
Dort oben aus — und alles hier gehorcht ihm —
gerade wie Heimdalls Hörn über alle Welt gehört wird. Auch Savitri
besitzt das Attribut des Goldglanzes: er hat goldene Arme7). Und wie
nahe sich die Funktionen von Licht- und Tätigkeitsgott stehen, wird hier
deutlich : auf Savitar sind Attribute des Sonnengottes übertragen worden 8),
wie man umgekehrt Fleimdall von Tyr abgeleitet hat. Dabei sind Savitar
me Heimdall junge Götter, was bei beiden auch die zu deutlich klassifi-
zierenden Namen sagen9). Es kann sich also nicht etwa um Verwandt-
schaft handeln, nur eben um Analogie10).
Der Aufseher der Tätigkeit wird zum Ordner der »Gesellschaft«, der
edem seinen Platz anweist: zum Patron der ständischen Gliede-
rung. Daß Heimdall dies ist, beweist die Eröffnung der Vol., wo die
Menschen »die heiligen Geschlechter« heißen, weil von Heimdall-Rig er-
*) Rig. Str. 1.
2) Siehe o. S. 221; Golther S. 415, Meyer S. 409, Mogk S. 319.
3) Faust 2, 5455. *) Macdonell S. 29.
8) Der auch mit Mitra identifiziert wird, ebd.
6) Geldner und Kaegi, 70 Lieder des Rigveda, S. 46.
7) Kaegi, Der Rigveda, S. 70.
8) Oldenberg, Religion des Veda, S. 64.
9) Savitar »der Antreiber«, Macdonell S. 34.
10) R. M. Meyer a. a. O. S. 253.
364 Viertes Kapitel.
zeugt, und Heimdalls Kinder, die hohen und niederen, weil von ihrr
gegliedert1); beweist auch2) der Parallelismus zwischen Heimdalls Er
Ziehung3) und der, die er seinen Kindern gibt. Gewiß mit Recht hr
deshalb Meißner4) die Ansicht Mogks bestritten, Rfg sei nicht Heimdah.
sondern Odin. Dieser wehrt ja5) hochmütig alle Beziehungen zu der
Knechten ab!
Als Rig also6) stiftet er die Ordnungen der Menschen: die Primo
genitur der Jarle usw. 7) ; und wieder aus den Jarlen geht als ihre höchste
Blüte der König hervor (kuning, konungr mit patronymischem Suffix'
der Sohn des Geschlechtes«, wie etwa »phennic, der Sohn der Mün
pfanne«). Auf die Tendenz der Verherrlichung des Königtums ist, wi
zuletzt Niedner schön gezeigt hat, das ganze Gedicht gestellt, so daß mar
es danach in die Zeit des Harald Härfagr8) ansetzen kann9). Der Koni
wird zum irdischen Abbild des Gottes: der weise Wächter, der Patro
aller Stände, der Antreiber.
Die Paradoxie, daß die erst zu stiftenden Stände doch schon von Ri£
angetroffen werden, hat nicht viel zu sagen : erst der Gott macht aus dei
(gleichsam zufälligen) Urpaaren die fruchtbaren und sich mehrenden, di
Welt sich unterwerfenden Klassen. Seine mystische Beiwohnung gi1
ihnen dazu Kraft und Samen, wie die Dreiheit 10) den Urmenschen Ateti
Seele und Lebenswärme verleiht. Ist doch fast in allen alten Kosmo
genien die »Schöpfung« nur eine Beseelung schon vorhandener Materie
Das zweite Mal wird Rfg zum gütigen Vater des Königs, indem ei
ihm n) den eigenen Namen verleiht (auch der König heißt ja »Haupt
ling« , vgl. unten) und ihm seinen Geist einhaucht 12). Ähnlich erzähl
auch ein vedisches Gedicht den Ursprung der Kasten, und 1. Mos. 4, 20 — 22
nennt die Stammväter der Viehzüchter, Spielleute und Schmiede.
Diese Stellung zum Königtum mag zu seiner besonderen Verehrung
führen, wie sie13) die in das genealogische Kataloggedicht eingelegte
kleine Völuspä 14) ausdrückt — so stark, daß der Aufzeichner 15) durch einer
Hinweis auf Christus seinen Ruhm glaubte einschränken zu müssen.
e
!) Vgl Heinzel-Detter 2, 1.
-) Siehe o. S. 358. 3) Völ. h. sk. im Hyndl.
*) Jahrb. f. germ. Phil. 26, 27.
5) Härb. Str. 24. 6) Rig. passim.
7) Mogk S. 319, Golther S. 355, Meyer S. 409.
8) 890—920: Jönsson 1, 186. 193.
9) Über die Einführung von »konungr« vgl. H eu sl e r, Arch. f. n. Spr. 116, 223
10) Völ. Str. 18. X1) Rig. Str. 36.
12) R. M. Meyer a. a. O. S. 255.
13) Hyndl. Str. 39. 40. Vgl. über Helios als spezifischen »Imperatorengott<
Wundt 2, 3, 412.
u) Str. 45. 15) Heinzel-Detter 2, 632.
§ 19. Eddische Nebengötter. 355
i Gegen die Altertümlichkeit der Rigsthula hat allerdings Heusler1) höchst
beachtenswerte Bedenken geäußert, die Neckel2) mit formellen Erwägungen
^stützt hat. Heusler will »das mit Rig verbundene Versvokabular « a) als ge-
phrtes isländisches »Carmen phüosophicum« 4) ins 13. Jahrhundert setzen. Mir
wieder scheint dieser einfache Stil, diese Formelhaftigkeit von altepischem Ge-
3räge, diese Naivität der Voraussetzungen für so späte Zeit schwer glaublich,
hiätte ein Grübler jenes mythologische Paradoxon geschaffen und nicht vielmehr
eden Stand aus der Verbindung des Gottes mit einem weiblichen Wesen hervor-
gehen lassen ? Ist wirklich die Zuspitzung auf das Königtum von Gottes Gnaden
iiner Zeit zuzutrauen, der der konungr etwas Selbstverständliches war? — Die
Schwierigkeiten, dieHeuslers Scharfsinn aufdeckt, sind beträchtlich: zahlreiche
remdworte; gewisse Momente in der ständischen Gliederung selbst; vor allem
ifie Namenhaufen, die mit ihrer appellativischen Durchsichtigkeit nicht alt sein
rönnen. Aber die Fremdwörter können dem Versuch realistisch eingehender
Schilderung entstammen: man benannte Gebrauchsgegenstände wohl auch da-
nals (wie stets) gern mit solchen Ausdrücken, wie wir unsere »Möbel«, während
lie Poesie sie vermeidet; die Vereinfachung (und Zuspitzung) der sozialen
Scheidung gibt Heusler5) selbst zu; und die Namenhaufen brauchen dem später
lach ihnen benannten Gedicht so wenig von Anfang an gehört zu haben wie
[nanche in der Völuspä. Allerdings will ich gerade diesen Einwand damit nicht
ür erledigt halten; auch Dan und Danpr6) sind ein Stein im Wege.
Daß übrigens schematische Charakteristik der Standestätigkeit alt ist, be-
weist die sicher alte Strophe Helg. Hund. 2, 38, die dem Hunding den Knechts-
3eruf zuweist; wohl auch das Bild des Knechts in Saxos Starkather- Versen 7).
Die Hauptsache bleibt für uns hier, daß auch Heusler8) das »mythologische
Rätsel« hereinragen läßt. Sollte selbst das Gedicht jung sein — der Mythus ist
2s wohl sicher nicht in gleichem Grade; und weder der zweite Vers der Völuspä
noch die Verse über Heimdalls Aufwachsen scheinen mir ohne ihn erklärlich.
Olrik9) erklärt den Mythus für entlehnt: »der Rig, der darin auftritt, ist der
uralte Großkönig (Rig — Mör) der Iren, der Gott Dagde, von dem die drei Stände
jhren Ursprung haben . . . Die doppelte Vaterschaft — ein irdischer und ein
göttlicher Vater — ist, wie andere phantastische Arten der Empfängnis, ein
üeblingsmotiv im irischen Heldengedicht; der Wettkampf im Wissen mit dem
jlazu gehörenden Namenwechsel ist so recht ein Zug aus dem wirklichen Leben
und der Sagenerklärung der Kelten. Anderseits ist der Menschenschlag in der
Rigsthula in überraschender Weise rein nordisch.« Es wäre dann also auf
Heimdall — der übrigens selbst wunderbar von neun Müttern geboren ist —
ein irischer Mythus übertragen ; daher auch die irischen Lehnworte l0). Zwingend
scheint mir die Beweisführung nicht; und jedenfalls würde die Durchführung
des nordischen Lokalkolorits eine ziemlich frühe Einwirkung der keltischen
Legende voraussetzen, die ja bei der irischen Benennung des Rig gewiß nicht
absolut abzulehnen ist.
1) Arch. f. n. Spr. 116, 270 f.
2) Beitr. zur EdfJaforschung, S. 104 f.
3) S. 272. 4) P. E. Müller.
r>) S. 279. 6) S. 273.
7) Hermann S. 272. 363. 8) S. 274.
9) Nordisches Geistesleben S. 85.
,0) Ebd. S. 83.
366 Viertes Kapitel.
Für eine Art Geheimdienst des zum Königsgott gewordenen Herrn
der Stände spricht die geheimnisvolle Art der Erwähnung in der »kleinen
Völuspä« und das Pseudonym des Gottes in der Rigsthula; schon die
Geburt von den neun Riesentöchtern am Rand des Meeres gab dazu einen
stimmungsvollen Akkord. Diese Geheimnistuerei umgibt auch seine
Attribute und anderen Namen.
Die Bedeutung, zu der dieser Gott aufwuchs — vermutlich durch
die isländischen Hofskalden norwegischer Könige — , zeigt sich auch in
seinen Attributen, die von derselben Art sind wie solche der Haupt-
götter.
Das älteste Attribut Heirndalls dürfte der Widder sein. Heimdall
und Hallinskidi heißt, wie der Gott, auch der Widder *), d. h. der Widder
war sein Substitut oder vielmehr wohl das alte Sinnbild des Tagesgottes
selbst, oder erst des Arbeitsgottes? Der Widder hat ja auch sonst solche
Bedeutung: das goldene Vließ symbolisiert den Reichtum, wohl wegen
der dichten Wolle des Widders. Nur als Ersatz des Widders wird das
Roß Gulltopp anzusehen sein, das die goldenen Haarstrahlen des Tages-
gottes erbt.
Wichtiger ist sein Schwert. Dieses hieß Höfud, Haupt; Snorri
berichtet: »Heirndalls Schwert heißt Haupt. So ist gesagt: daß er von einem
Manneshaupt durchbohrt wurde. Davon wird im Heimdallargaldr gesprochen
und seitdem heißt das Haupt »Heirndalls Tod«, da ja das Schwert des Mannes
Tod ist« 2). Dies kann nun schwerlich anders erklärt werden, als wie es
gewöhnlich geschieht3): Heimdall fällt, von einem Schwert durchbohrt,
das »Haupt« heißt; und zwar war das sein eigenes Schwert — das also
dem Loki beim Ragnarök in die Hand geraten muß (vgl. den Zweikampf
zwischen Hamlet und Laertes). — Denkbar wäre ja auch, daß der Zauber-
gesang von Heimdall berichtet hätte, ein zauberhaftes Menschenhaupt hätte
ihn getötet; und deshalb wäre der Kopf »Heirndalls Schwert« genannt
worden — solche Spiele mit dem Namen lieben die Skalden allerdings4) — ,
nämlich : das Schwert, das Heimdall tötet. Aber die übliche Interpretation
ist doch viel ungezwungener, und sie führt auch weiter.
»Haupt« wäre ja freilich ein Schwertname von altertümlicherer
Prägung als die meisten Waffen- und Werkzeugnamen der Edda. Dennoch
bleibt er befremdend und singulär. Aber für den »Gott des Anfangs«,
für den Tagesgott wäre »Haupt« ein sehr geeigneter Name, der nicht
nur dem »Loki« nach Weinholds Auffassung entspräche, sondern auch
andern edlen, alten Götternamen wie Dyaus »Glanz«, Nerthus »guter
*) Golther S. 360, 1.
aj Vgl. GoltherS. 364 Anm.; zur Stelle selbst Müllenhoff, H. Z. 30, 252f.
3) Golther a. a. O., Meyer S. 409.
4) Vgl. Golther S. 365.
§ 19. Eddische Nebengötter. 357
Wille« l). Das wäre dann der echte alte Name des Gottes, ersetzt durch
ein Kompositum vom Typus Bäldäg für Balder oder — übersetzt mit
dem keltischen2) Äquivalent Rig3).
Wie aber wäre dieser Obergang zu erklären?
Wir wiesen schon auf eine eigentümliche Geheimniskrämerei hin,
die den Schutzgott der »Tyrannen« zu umgeben scheint. Undenkbar
wäre es nicht, daß er zu den Gottheiten gehört hätte, deren Namen man
nicht auszusprechen wagte (wie Jehova). Deshalb wurde der Name »Haupt«
ersetzt; da mögen denn »Gullintanni«, »Goldzahn« und das dunkle
Hallinskidi 4) wirklich noch andere Euphemismen gewesen sein. Oder
man wählte das Fremdwort; war ja doch bei den Kelten die Allein-
herrschaft früher und strenger ausgebildet als bei den Germanen.
Nun wird der »weise Ase« einmal auch »heimskastr äsa« ge-
nannt5): der törichtste, unerfahrenste der Äsen. Man vermutet Wortspiel
mit Heimdali; aber um eines Wortspiels willen konnte der weise Gott
nicht dumm genannt werden. Auch die Erklärung, er sei »hetmskr«,
weil er als Wächter immer zu Haus sitzen mußte6), verkennt die Be-
deutung des Gottes, der7) sogar die Zukunft so gut wie die Wanen er-
kennt8). Es muß einen Mythus gegeben haben, der dies Epitheton
motiviert. Vermutlich gab Heimdali sich durch eigenen Leichtsinn in den
Tod; wie Frey fällt, weil ihm sein Schwert fehlt9), hatte er das seine in
Lokis Hände kommen lassen. Deshalb hieß es: »»Höfud ist Höfuds
Mörder« 10), und das ward dann auf sein Schwert gedeutet n).
Jedenfalls konnte auch Heimdall, wie Balder, nur durch Eine Waffe
gefällt werden, die wohl gewiß seine eigene war. Das »»Haupt« aber
wäre durch »mythische Dittographie« verdoppelt worden, wie Mimir,
das Haupt der Quelle, noch sein besonderes abgetrenntes Haupt erhielt 12).
Sein Heim ist »Himinbjörg«., Himmelberg, »»in Norwegen die steil
aber das Meeresufer sich erhebenden Berge«13), aus denen das Frühlicht
') Vgl. Golther S. 219.
2) Oder aus byzantinisch Rex angepaßten: Heinzel-Detter 2, 592.
3) Man denke auch an romanische Wortentwicklungen wie italienisch capo ;
R. M. Meyer S. 254.
4) Gylf. cap. 27: Gering S. 320.
B) Vgl. Golther S. 363, 2.
6) Vgl. Häv. Str. 51. 7) Thrymskv. Str. 14.
8) Vgl. Golther S. 360, 1.
9) Lok. Str. 42 = Gylf. cap. 49: Gering S. 351.
10) Wie es etwa Häv. Str. 73 heißt: »die Zunge ist der Mörder des Hauptes .
u) Anders, wie mir scheint künstlicher, Müllenhoff; vgl. Golther S. 365.
12) Mogk (PBB. 7, 300) hält den Kampf mit Loki für ein Machwerk Snorris,
was Kauffmann (ebd. 18, 189) billigt.
13) Mogk S. 318.
368 Viertes Kapitel.
kommt. Dort trinkt er vergnügt seinen Meth : den Morgentau *). Aber
Schloß und Trank gehören wohl erst dem Dichter der Grim. — Eine
sekundäre Rolle, die des klugen Ratgebers, hat er2) wegen seiner
Weisheit erhalten. — Ober die Kämpfe mit Loki vgl. oben.
So, denke ich, schließen sich die scheinbar disparaten Züge zu einem
geschlossenen Bilde zusammen. Heimdali ist kein Wane, sondern nur
zukunftskundig wie sie; aber ein »Kulturgott« ist auch er: ein Gott der
sich verschärfenden sozialen Gliederung. So bildet sich die Figur wohl
zuerst bei den kultivierteren Nordgermanen, fand eifrige Vertreter, die
ihm ein Hohelied sangen, drang aber doch nicht durch wie die Götter
der alten Stände, Odin und Thor. Nur die Könige, denen die Standes-
gliederung am meisten, zugute kam, widmeten ihm einen esoterischen Kult
und ihre Skalden freuten sich an einer Gestalt, die ihrer Rätselfreude so
viel Anknüpfungspunkte gewährte.
Hönir3).
Gleich bei dem Namen fängt die Dunkelheit an. Unland dachte
an die Wurzel von lat. canere% Hoffory an ein urgermanisch hohnijas =
griech. xvxvetog »der Schwanengleiche«5), eine bedenkliche Erklärung,
obgleich einiger Zusammenhang mit dem Schwan möglich ist; Kauff-
mann6) deutet ihn als »Hüter«, was inhaltlich ginge, aber wenig besagt. —
Die Unverständlichkeit des Namens spricht für das Alter des Gottes, das
auch sonst wahrscheinlich ist7).
Überliefert sind von Hönir folgende Mythen : Zunächst diejenigen, in
denen er als Mitglied der Dreieinigkeit Odin — Hönir — Loki erscheint8). Hier
allein tritt Hönir wirkend auf. Er gibt den Leblosen öth9) Seele. Odin
gibt önd, Atem, Fähigkeit zu leben; Hönir dtk, »die Grundbedingung
des geistigen Lebens« wiejahve10), Loki lo, Lebens wärme n). Der Sturm -
gott gibt den Lebenshauch ; aber damit allein kann man noch leblos und
stumpf sein, wie Helgi, ehe ihn die Walküre begnadete12). Hönir gibt
x) Golther S. 361. 2) Thiymskv. Str. 14.
:i) Weinhold, H. Z. 7, 24f.; Hoffory, Eddastudien, S. lulf.; Kauff-
mann, PBB. 18, 175. 189; Heinzel-Detter, ebd.S.542f.; Roediger, Ztschr.
f. d. Phil. 27, 9f.; Golther S. 397f.; Mogk S. 350; vgl. o. S. 341 f.
4) Wogegen Hoffory S. 108; ähnlich Detter-Heinzel S. 547.
5) S. 113. 6) S. 175.
7) Hoffory S. 118.
8) Völ. Str. 18; Einl. zu Reg.; Skäldsk. cap. 4: Gering S. 366; vgl. o. S. 341 f.;
Hoffory S. 103f.
9) Vgl. Hoffory S. 103. 113; Heinzel-Detter 2, 16.
10) 1. Mos. 2, 7. ") Hoffory a. a. O.
12) Zu Helg. Hjörv. Str. 6; es ist das germanisch-slawische Motiv des späten
Erwachens aus der »Dumpfheit«; vgl. Beov. v. 2177 f. und allgemein Kauff-
mann, PBB. 18, 171.
§ 19. Eddische Nebengötter. 359
Seele, d. h. die Fähigkeit zu denken, zu reden, zu handeln ; aber so könnte
man noch immer ein belebtes Ding sein, ein sprechendes Totenhaupt
(wie das Mimirs), ein zurückkehrender Hammer (wie Mjölnir). Da gibt
der Feuerdämon Lebenswärme und mit ihr »die Fähigkeit sich zu be-
wegen« *) und die blühende Farbe der Gesundheit. Nun erst sind Ask
und Embla unter das Gesetz des Menschen gestellt2). — Immerhin tut
hier Hönir fast das beste. Der belebte Körper ist ein bloßer »Golem«,
ein menschenähnliches Gespenst wie die beiden Holzmänner in Kleidern3);
erst die Seele gibt wahre Existenz, eigentliches Leben. — Hier haben wir
Hönir als Seelenspender. Ist er ein alter »Seelenführer«, aber in um-
gekehrter Richtung? der die Seelen im »Depot« hat und aus dem un-
ermeßlichen Vorrat in die Körper einführt4)?
Die Völuspä erzählt ferner5), in der goldenen Zeit werde Hönir
sich den Wahrsagezweig auswählen6). Die alte schuldbedeckte Götter-
generation wird durch die schuldlose, junge ersetzt. Für die Kriegsgötter
ziehen Balder und Hod, die unschuldigen Opfer Lokis (mag auch ur-
sprünglich Hod selbst schuldig gewesen sein !) in die Siegerburg ein : sie
übernehmen seine Leitung der irdischen Dinge. Als Himmelsgott, d. h.
als Leiter der Götter, wird Odin von den Söhnen Wilis und Wes(?) beerbt.
Endlich seine Runenkunst übernimmt Hönir, zunächst weil auch er un-
schuldig ist7), dann aber jedenfalls auch, weil er ein Wahrsagegott war.
Auf seine Beziehung zur Prophetie deutet wohl auch die seltsame
Fabel von seinem Verhältnis zu Mimir8), die Hoffory9) allzu natur-
mythologisch deutet.
Drittens besitzen wir den merkwürdigen Bericht von Hönirs Ver-
geiselung n).
x) Hoffory a. a. O. ; d. h. sich nach Belieben zu bewegen: handelnde
Waffen sind immer noch »»zwangsläufig«.
2) In Rig. ist die Reihenfolge anders: das Neugeborene hat natürlich Atem ;
dann wird gleich die Lebensfarbe genannt (Str. 7. 21. 34), die Seele aber zeigt
sich erst nach dein Wachsen und Gedeihen.
*) Häv. Str. 49.
4T Vgl. Hoffory S. 116. 5) Str. 63.
6) Vgl. Hoffory S. 118.
7) Was nach Heinzel-Detters schwerlich zutreffender Vermutung bös-
willig zu der Nachrede seiner Dummheit führte, 2, 78.
s) Der Wahrsagezweig ist wohl einfach ein Runenstab; mit den vielen
Zauberzweigen der Edda — Hods mistütein, Hlebards gambantein (Harb. Str. 20),
Lopt— Lokis laevatein (Fjöl. Str. 26) hat er schwerlich etwas zu tun. Anders
Kauffmann, PBB. 18, 189.
9) Siehe u. t0) S. 111.
") Hoffory S. 103; Weinhold, D. Mythus vom Wanenkriege, Berl.
Sitzungs-Ber. 29, 611f.; der Bericht Gylf. cap. 23: Gering S. 317 weitergeführt
an anderen altnordischen Stellen; vgl. Hoffory a. a. O.; Golther S. 398.
Meyer, Altgermanische Religionsgfeschichte 24
370 Viertes Kapitel.
Zunächst wird uns gemeldet, daß nach dem Wanenkrieg die Wanen
Njord, die Äsen Hönir als Geisel schickten. Dann wird das motiviert;
und zwar, wie es scheint, ursprünglich durch eine Parallele zu dem
Mythus von Skadi und Njord. Dort soll sich die Göttin selbst einen
Äsen aussuchen — sie meint Balder und bekommt Njord, was unglück-
lich ausläuft. Hier (was zwar nicht ausdrücklich erzählt wird) wollen die
Wanen sich den schönsten und klügsten holen; man täuschst sie, indem
man ihnen zwar den schönsten gibt (den Skadi nicht erhält), aber auch
den einfältigsten; man gab ihm deshalb den berufsmäßigen Ratgeber
Mimir mit (»nu habe du die gebaerde — diu werc wil ich be-
gdn«)1). Natürlich geht das nicht lange: Hönir soll Häuptling sein, sagt
aber nur immer (wie Schillers Teil): »Mögen die andern raten«. Im
Zorn köpfen die Wanen den Mimir und schicken sein Haupt den Äsen.
So kann das nicht ursprünglich sein. Wenn Mimir mitging, konnte
er Hönir nicht im Stich lassen. Die Sage soll nur erklären, wie Mimirs
bloßes Haupt zu den Äsen kam. Und diese sollten seine Hinrichtung
ungerächt gelassen haben? und was wird aus Hönir? Überdies ist noch,
ein höchst bedenkliches Symptom, der Kwasir eingemischt, den die Wanen
zum Dank für Hönir hergegeben haben sollen. Dieser Tausch scheint
später Mythologenwitz, weil jetzt der Begeisterungstrank »Seele einhaucht«2).
Aus späterer Zeit haben wir jenes färöische Lied3), in dem aller-
dings wieder Hönir den Göttern Odin und Loki gesellt ist, aber mit
zweifelhafter Berechtigung der Dreiheit. Indes hat grade der Hönir be-
schäftigende Mittelteil am ehesten einige Wahrscheinlichkeit der Echtheit.
Ein Bauer hat im Bretspiel seinen Sohn an einen Riesen verspielt.
Er ruft die Götter zur Hilfe an. Sie kommen. Odin läßt ein Ährenfeld
auf der flachen Hand wachsen4) und birgt das Kind in einer Ähre; Hönir
wandelt es in eine Feder im Gewand eines von sieben Schwänen; aber
beidemal findet der Riese Korn und Feder. Endlich verzaubert Loki den
Knaben in ein Korn des Rogens einer von drei frisch gefischten Flundern
(auch in der Andvari-Legende fischt Loki), und als der Riese ihn auch so
fassen will, wird er von Loki getötet. — Der allgemeine Märchencharakter
steht außer Frage; ebenso daß Odin nichts mit dem Ackerbau zu tun
hat, und daß in einem echten alten Mythus nicht Loki der beste Helfer
sein würde. Aber Zusammenhang Hönirs mit Schwänen hat Hoffory5)
immerhin wahrscheinlich gemacht. Sollte hier ein echter Kern stecken?
') Nib. N. 429, 3.
2) Anders Detter-Heinzel S. 548, bei denen er ein Dichter sein soll und
Kwasir auch einer; und doch zweifeln sie selbst an der Ursprünglichkeit des
Kwasirtausches !
3) Hoffory S. 104f., Golther S. 397; vgl. o. S. 260.
*) Vgl. Vol. Str. 62. 5) S. 106.
§ 19. Eddische Nebengötter. 37 1
der »Schwanengott« hätte ein Kind aus Bedrängnis gerettet, etwa indem er
ihm ein Schwanenkleid zur Flucht lieh? — Aber man wagt nicht, auf
dieser entfernter Möglichkeit weiterzubauen x).
Auf weitere Mythen weisen vielleicht die seltsamen Beinamen2);
doch sind sie zum Teil auch so verständlich b).
Was ist nun Hönirs Wesen? Über keinen Gott sind so viele ab-
weichende Meinungen geäußert worden; »soviel Erklärer, soviel Erklärungen«,
sagt Golther4) mit Recht. Uhland hält ihn für einen Dichtergott, ähnlich
Detter und Heinzel; Weinhold für einen Sonnengott, Müllenhoff für einen
Wassergott, Hoffory für einen zum Wolkengott spezialisierten Himmelsgott''),
Roediger für einen Wolkengott; Bloete0) erklärt das Epitheton »aurkonung<
als »König des Frühlingsglanzes« 7) und Meyer leitet ihn von Henoch ab 8) . . .
Viel mehr Interpretationen sind in der Tat kaum denkbar9); aber vor-
handen sind sie doch; ein Lichtgott nach Finn Magnusen, ist Hönir nach
N. M. Petersen gar der »Herrscher über den materiellen Stoff«! und nach
Kauffmann 10) ist er identisch mit Heimdall, Tyr und Njord.
Die meisten Stimmen sind doch für den Wassergott, und Stimmen
gerade von Meistern der mythologischen Anschauung: J. Grimm11),
Müllenhoff12), Simrock13). Dafür spricht ja auch fast alles: die Stellung
in der Trias der beweglichen Elemente (Odin Wind oder Luft, Loki Feuer,
Hönir Wasser; die unbewegliche Erde ist als Stoff in den Körpern von
Ask und Embla ja ohnedies vertreten); der Wahrsagezweig (denn die
Wasserdämonen fanden wir überall vorzugsweise prophetisch): die Freund-
schaft mit dem Wassergeist Mimir; endlich eventuell die Herrschaft über
die Schwäne.
Ich möchte nur vorschlagen, den Begriff noch weiter zu spezialisieren.
Wie Surt das unterirdische Feuer, so vertritt m. E. Hönir das unter-
irdische Wasser, das Wasser unter der Erdoberfläche, das sich verbirgt
and nur stellenweise sichtbar wird 14).
Hierzu passen denn auch weiter die vielen auffallenden Beinamen
des Gottes15) vortrefflich. Zwar »Odins Gefährte, Begleiter, Freund«
heißt er wohl einfach wegen jener alten Dreiheitsmären. Aber der schnelle
As, der Langfuß, paßt das. nicht trefflich auf das Wasser, das schnell ent-
*) Vgl. Golther S. 398. 2) Golther S. 399.
3) Falk (Ark. f. nord. Fil. 6, 259 Anm.) erklärt um dieser Beinamen willen
den Kranich für Hönirs heiliges Tier.
4) S. 400. 5) Vgl. S. 109. 6) H. Z. 38, 287.
7) Statt v König der Nässe«, Meyer S. 411.
8) S. 469. 9) Vgl. Hoffory S. 109, Golther S. 400.
10) S. 178. 1J) Myth 1, 200.
12) D. Alt. 1, 34. 13) Vgl. Hoffory a. a. O.
14) Vgl. Meregarto: MSD. XXXII. 2a.
15) Hoffory S. 104. 109, Golther S. 399.
24*
372 Viertes Kapitel.
schwindet und erst nach einem langen Schritt wieder sichtbar wird?
Der feigste Ase« *) heißt er dann, weil er sich fortwährend flüchtet;
töricht«, aber nicht in Verwechslung mit Hod, sondern weil er immer
im Winkel sitzt2). Vor allem aber paßt dann aurkonungr der > Lehm-
könig«3) oder Nässekönig«.
Von hier erklärt sich denn auch die Verbindung mit Mimir. Das
unter der Erde rauschende Wasser kann nicht deutlich reden — das tut
es erst, wenn es als (weissagende) Quelle aus dem Boden hervortritt. Und
die Vergeiselung könnte ein symbolischer Ausdruck des langen Ver-
schwindens sein, wenn nicht diese ganze Sage — die man freilich zu-
meist als Kern des Hönir-Mythus behandelt — sekundär ist. Vor allem
aber erkläre ich von hier Hönirs Funktion als Seelenspender. Zwar die
Altertümlichkeit des Aberglaubens von dem Teich, aus dem die kleinen
Kinder geholt werden4), glauben wir ablehnen zu müssen. Aber daß
gerade aus der Mischung von Erde und Wasser Leben entsteht, ist eine
verbreitete Vorstellung alter Kosmogonien 5). So liegen denn auch Ask
und Embla6) am Meeresstrande auf dem Felde, d. h. wo Wasser und
Erde sich berühren 7).
Widar8).
Auch Widar ist, wie Wali9), nur nordisch1). Auch um ihn sind
ganze Erklärungsnetze gewebt worden, ohne daß man ihn sicher ein-
gefangen hätte. Der Name wird bunt erklärt : von Roediger aus vid
1) Detter-Heinzel S. 548 merkwürdig genug gedeutet.
2) Häv. Str. 26. 3) Golther a. a. O.
4) Meyer S. 432.
5) Die ältesten griechischen Philosophen sind darin noch ganz mythologisch ;
vgl. Lukas, Kosmogonien, S. 238.
ö) Völ. Str. 17.
7) Besonders wichtig Gen. 2, 5—8: Jahve schafft seine Geschöpfe aus
feuchter Erde: »aus feuchter Erde ,bildet' er den Menschen und die Thiere,
wie auch der Töpfer seine Gefäße aus feuchter Erde formt (die gleiche Metapher
vom Töpfer Häv. Str. 83) ; und nur auf befeuchteter Erde können Bäume wachsen« :
G u n k e 1 , Genesis, S. 5. Entsprechend werden im Koran die Toten wieder belebt,
indem Regen auf die Gräber fällt (7. Sure; Der Koran, übs. v. L. Uli mann,
Bielefeld und Leipzig 1877, S. 118); doch vgl. auch Goldziher, Arch. f. Rel.-
Wissensch. 13, 20 f. — Im Gegensatz zu diesen hebräischen und germanischen
Anschauungen bezeichnet der Veda das Schöpfen als ein »Bauen« (Mac-
don eil S. 11). — Den Mythus, daß Belos sich selbst den Kopf abschneidet, um
die Menschen zu beleben (Lukas S. 26, nach Berosus) will ich nicht heran-
ziehen, obwohl mir nicht undenkbar scheint, daß Hönir wenigstens ursprünglich
selbst den Kopf verlor.
8) Kauff mann, PBB. 18, 157 f. 174; Roediger, Ztschr. f. d. Phil. 27, 5. -
Mogk S. 365, Golther S. 394, Meyer S. 42, Much S. 222.
9) Siehe u. 10) Meyer a. a. O.
§ 19. Eddische Nebengötter. 373
Wald, woraus Kauffmann *) seinen »großen Waldgott der Germanen»
gesponnen hat; von Mogk zu der Ebene Vidi, in der er wohnt: vidi
das niedrige Gestrüpp der Heide; von Meyer2) zu vidr, loiederum (wie
Tdunz) von einer Partikel stammt).
Das Alter ist nicht minder umfochten. Kauffmann identifiziert ihn4)
mit Väli und Büi, mit Heimdall, Tyr, Hymir und Hönir5) und gelangt
über diesen Göttersalat glücklich zu dem ungenannten Gott im Germanen-
wald. Indessen Widar hiernach mit Zeus zusammenfällt, ist er nach
E. H. Meyer6) Balder-Christus; wozu wiederum stimmt, daß er nach
Kauffmanns Ansicht mit dem höchsten Richtergott7) identisch ist. Man
sieht, es ist für einen altgermanischen Gott oder Halbgott schwer, nicht
für Widar gehalten zu werden8).
In den Mythen ist Widar fast ganz auf den Letzten Kampf ge-
stellt, weshalb ihn auch Mogk unter die jungen isländisch-norwegischen
Götter rechnet: er scheine nur erdichtet, um Odins Rächer zu sein. Aber
wir haben Ortsnamen wie Vitharshof9) ; und wir haben folgende Er-
wähnungen in der Edda 10) :
Widar kommt dann, Walvaters Sohn,
Der gewaltige Held, mit dem Wolf zu kämpfen :
Die Klinge stößt er dem Kinde des Riesen
Durch den Rachen ins Herz und rächt den Vater11).
Danach wird er mit Wali im Wohnsitz der Götter schalten (und Odin
vertreten, wie Modi und Magni den Thor)12). Widar und Wali haben
also hier dieselbe Stellung wie Hod und Balder13).
Leer ist die Angabe Grün. Str. 17:
Unterholz und üppiges Gras
Füllt Widi, Widars Land;
Dort springt der Recke vom Rücken des Pferdes,
Den Vater zu rächen bereit14).
Auch die Lokasenna15) ergibt nur, daß Widar Odins Sohn ist; er
muß Lokä Platz machen und bleibt unbescholten offenbar weil der
!) a. a. O. 168. 2) Völuspä S. 202. 231.
3) Siehe u. 4) S. 169. 5) S. 173.
6) a. a. O. 7) Vol. Str. 58.
8) All dies wird nach dem Verfahren bewiesen, durch das der Meteorolog
Falb und andere die Gleichheit aller Sprachen dargetan haben: partielle Gleichheit
bedeutet Identität, und wenn jene noch so unvermeidlich ist.
9) Kauffmann S. 157 Anm.; vgl. Mogk S. 395.
10) Vol. Str. 54. n) Ebenso Vaf. Str. 52.
ia) Vaf. Str. 51. ls) Vol. Str. 62.
u) Über den formelhaften Charakter der ersten Zeile vgl. nieine Altgerm.
Poesie S. 401. 409; Häv. Str. 118.
15) Einl. und Str. 10.
374 Viertes Kapitel.
Dichter nichts Schlimmes von ihm wußte. (Wie Hod der blinde Ase
eigentlich wohl nur der ist, der nicht gesehn wird, so könnte Widar »der
schweigsame Ase« vielleicht nur heißen, weil von ihm nicht gesprochen
wird: die bekannte Verwechslung von Aktiv und Passiv, wie wenn wir
von einer »tauben Nuß« sprechen, d. h. einer Nuß, in der man beim
Schütteln nichts hört, oder von einem »blinden Schuß«, bei dem keine
Kugel gesehen wird) 1).
Ferner haben wir folgende Angaben Snorris: »Widar nennt man den
schweigsamen Äsen. Er besitzt einen dicken Schuh und ist beinah so
stark wie Thor. In allen Gefahren setzen die Götter großes Vertrauen
auf ihn2). Nachdem der Wolf Odin verschlungen hat, eilt Widar herbei
und tritt mit einem Fuße dem Wolfe in den Unterkiefer. Er besitzt nämlich
den Schuh, zu dem das Leder allezeit zuvor gesammelt ist, und zwar aus
den Flicken, die die Menschen vor den Zehen und an der Ferse aus
ihren Schuhen schneiden; und darum soll ein jeder, der gewillt ist, den
Äsen zu Hilfe zu kommen, diese Flicken fortwerfen. Mit der einen Hand
faßt nun Widar den Oberkiefer des Wolfes und reißt ihm den Rachen
entzwei, und dadurch findet der Wolf seinen Tod«3).
Die Mutter Widars des Schweigsamen ist die Riesin Grid, bei der
Thor auf der Fahrt zu Geirröd freundschaftlich einkehrt, und die ihn
warnt und ihm ihre Zauberwaffen gibt: Kraftgürtel, eiserne Handschuh,
den Stab Gridarvöl4). — Gürtel, Handschuh, Stab kennzeichnen die
Zauberin, vgl. z. B. Thorbjörg5); auch deren Schuhe sind von eigner Art.
Von diesen vier Stellen ist die dritte deutlich und die zweite leicht
zu erklären. Offenbar ist sie nur Beschreibung eines Bildes, das Widars
Kampf mit dem Wolf darstellte; er setzt den beschuhten Fuß in den
Rachen des Ungeheuers, wie Artemis auf dem Gigantenfries in Pergamon,
und reißt ihm den Rachen auf, wie Schadows Herkules, oder wie der
biblische Simson dem Löwen: offenbar die einzig mögliche Art, mit
solchen Geschöpfen im Nahkampf fertig zu werden6). — Die Fabel von
x) Vgl. übrigens über diese charakterisierenden Epitheta der Götter unten.
*) Gylf. cap. 29: Gering S. 321.
:s) Gylf. cap. 51: Gering S. 350. Ebd. 53: Gering S. 351, haben wir nur
eine Paraphrase Vaf. Str. 51.
4) »Stab der Grid«; Skäldsk. cap. 2: Gering S. 302.
3) Golther S. 649.
6) Ich bemerke erst nachträglich, daß solche Darstellungen tatsächlich im
Norden existieren: auf dem Gosforth-Kreuz in Cumberland, vielleicht aus dem
9. Jahrhundert; Olrik (Om Ragnarok S. 161) hat das Bild auf den Umschlag
seines berühmten Werkes über die »Götterdämmerung« gesetzt. Ebd. andere
Darstellungen des Kampfes mit Wolf und Drachen. — Ganz entsprechend tritt
auf einem christlichen Vasengemälde der Held in das Maul des Meeresungeheuers
(H. Schmidt, Jona, Göttingen 1907, S. 9 Anm. 1).
§ 19. Eddische Nebengötter. 375
den Flicken der menschlichen Sandalen (denn die werden doch be-
schrieben) ist der von den Nägeln für Naglfär1) parallel. Ward dem
Gott ein Riesenschuh zugeschrieben, so mochte man beim Wegwerfen
sagen: »Für Widars Schuh!« Ob aber der Schuh2) lediglich einer
ikonischen Mythe verdankt wird, ist nicht zu bestimmen; Roediger3) hat
ihn feinsinnig aus der dicken, schwellenden Gras- und Moosschicht der
Heide gedeutet. So würde Widars Schuh wie Skadis Schrittschuh sein
Heim symbolisieren.
Noch bleiben drei Züge bei Snorri. Die Schweigsamkeit erklärt
Roediger gleichfalls aus der lastenden Stille der Heide, Mogk aus dem
auf die Vaterrache ausschließlich konzentrierten Sinne. Riesenstark mußte
der Töter des Wolfes natürlich sein. Aber wie kommt er zu der Zauber-
riesin als Mutter? Kauffmann4) hält sie für eine Abzweigung der Erd-
göttin Hlödyn 5) ; aber so scharfsinnig seine Konjekturen hier sind, glaube
ich6) den »Sohn der Hlödyn«7) nach wie vor auf Thor beziehen zu
müssen, da sonst die Ökonomie der Kampfschilderung zerstört wird.
Übrigens bliebe die Ausrüstung auch der Hlödyn-Grid noch immer merk-
würdig. Vielleicht ward das Riesenweib einfach um seiner Attribute
willen dem Gott mit dem Wunderschuh zur Mutter gegeben.
Ein Kult ist8) nicht erwiesen: die Ortsnamen können ja eventuell
später nach ihm gebildet sein.
Die Edda erzählt von Zügen, die für das Wesen des Gottes
charakteristisch sind, nur die Vaterrache und (vielleicht! aber Hod und
Balder sind wohl als Reichsverweser älter) die Herrschaft im Zukunfts-
reich. Eigentümlich tritt ein Zug bei Widar hervor: die Stell-
vertretung. Er vertritt (mit Wali) Odin, wie er in der Lok. Loki
Platz macht; und seine Mutter gibt Thor Ersatz für die Attribute,
die der nicht bei sich hat. Vor allem ist die Rache ja auch eine Tat
der Stellvertretung. Wenn Widar nun ursprünglich der Schutzgott der
Gefolgsleute wäre9), durch den schweren Schuh des Kriegers (und das
Roß in den Grfm.) symbolisiert und zur Rache für den Heeresgott (der
dann sein Vater wird) vor allem berufen? Es wird gewiß solche Standes-
götter gegeben haben, etwa wie Quirinus10) der Gott »der auch im Frieden
stets kampfbereiten Bürgerschaft« oder Feronia11) die Göttin der Frei-
gelassenen ist. — Auch die Schweigsamkeit würde dazu stimmen.
') Siehe u. -) Gylf. cap. 29 und 51.
:$) a. a. O.; vgl. Golther S. 395.
*) PBB. 18, 135. 5) Was Golther S. 395, 1 billigt
6) Mit Heinzel-Detter 2, 73. 7) Vol. Str. 55.
8) Mogk S. 365 gegen Kauffmann, PBB. 18, 157 und Golther S. 395.
9) Vgl. Tac. Germ. cap. 13.
10) Wissowa S. 139. il) Ebd. S. 233.
376 Viertes Kapitel.
Sucht man doch auch hier einen alten Naturdämon, so könnte man
an den Wirbelsturm denken, der auf der Weide sein Roß tummelt, von
der Erde zum Himmel reicht (wie Widar das vom Himmel zur Erde
reichende Maul des Wolfes ausfüllt) r) und mit seinem schweren Tritt die
Dächer abdeckt. Freilich paßt dazu die Schweigsamkeit schlecht! aber
zu der Vaterrache könnte er als Sohn des Sturmgottes gekommen sein.
Wali2).
Auch Wali ist nur als Rächer da.
Von ihm wird der Mythus erzählt3), daß Rind »im westlichen
Saal« den Wali gebiert, der einnächtig mit Balders Mörder - Hod —
kämpft und ihn nun auch auf den Brandstoß bringt; daß Wali in dieser
Einen Nacht sich weder das Haupt kämmt, noch die Hände wäscht, ist
mehr formelhaft als auffallend4).
Weiter heißt es: »Widar und Wali schalten im Wohnsitz der Götter,
wenn die Lohe Surts erlischt« 5).
Die Kommentare berichten: »Ali oder Wali heißt ein Sohn des
Odin und der Rind. Er ist kühn in den Schlachten und kann vortrefflich
schießen« 6). — »Rind, die Mutter des Wali, wird zu den Äsen gerechnet* 7).
Den einfachsten Bericht hat die Vol. h. sk. :
Rasch war Wali zur Rache entschlossen,
Zu Boden streckt er des Bruders Mörder.
Auch entspricht nur dies der Situation : alle Götter sind versammelt aus
ihrer Mitte muß sofort die Strafe erfolgen 8). Ferner setzen Vol. Str. 33 und
Veg. Str. 11 voraus, daß Balder noch auf dem Holzstoß liegt, als man
Hod zu ihm bringt. Somit wird eine märchenhafte Steigerung darin zu
sehen sein, daß der Rächer erst eben geboren ist; und in der Umsetzung
des epischen Rachegelübdes9) in einen hier schlecht passenden Bericht
— »das Haupt nicht kämmt er, die Hände nicht wäscht er« — eine
heroische Reminiszenz. Ebenso hat Saxo (oder schon seine Quelle) die
Verbindung Odins mit Rind, aus der Balders Rächer hervorgeht, zu dem
*) Vgl. v. d. Leyen, Märchen, S. 51.
2) Kauffmann, PBB. 18, 167f.; Golther S. 395; Mogk S. 325. 327. 365;
Meyer S. 376. 397.
3) Veg. Str. 11.
4) Wiederholt aus Vol. Str. 33—34; verkürzt wiedergegeben (doch siehe u.)
Vol. h. sk. (Hyndl. Str. 30).
5) Vaf. Str. 51. Wiederholt Gyli cap. 53: Gering S. 351.
6) Gylf. cap. 30: Gering S. 321.
7) Ebd. cap. 36: Gering S. 32S.
8) Wie Völ. Str. 26.
9) Parallelen bei Heinzel-Detter 2, 46; vgl. J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 87:
kaum geboren, schmiedet Väinämöinen sich ein Pferd.
§ 19. Eddische Nebengötter. 377
Roman ausgesponnen, der des Bous Geburt zur Folge hat1). Snorr,
bringt nur hinzu, daß Wali kühn war (aber von seinen Schlachten ver-
lautet nichts) und ein guter Schütze — denn er trifft den Hod sofort, der
ja selbst ein nur zu guter Schütze ist. — Es bleiben also: die Rache für
Balder und die Zukunftsherrschaft an Stelle von Odins Rächer.
Detter hat seinen Namen Vali, Ali höchst unwahrscheinlich aus
Wanilo der kleine Wane gedeutet; der Ase hat durchaus nichts von den
Wanen2). Sievers3) stellt ihn zu altsächs. wanom, strahlend, was aus
dem Mythus auch keine Bestätigung findet. — Der Name kommt, zu-
sammen mit Narfi, noch für einen Sohn Lokis vor4).
Nichts spricht für ein hohes Alter Walis. Kauffmann findet es5) mit
Recht auffällig, daß der Name nicht bloß in der Götterversammlung der
Lok. fehlt, sondern »auch in Vol. und in den an Götternamen so reichen
Grim., woselbst ihm nicht einmal eine Unterkunft angewiesen ist«. Die
Vol. erzählt ja allerdings von dem Rächer, dessen Namen sie nur nicht
nennt.
Mit Recht pflegt man das Wesen Widars und Walis li) zu ver-
gleichen7). Beide sind auf die Rache gestellt, beide sollen in dem ent-
sühnten Zukunftsreich herrschen. Dennoch liegt wohl eine gewisse
Verschiedenheit vor. Widar scheint ein alter Gott; die merkwürdigen
Attribute, die offenbar alten Abbildungen, die uns hier ausnahmsweise
etwas altnordische »Kunstmythologie« 8) geben, vielleicht auch der Name
deuten darauf9). Aber Wali scheint wirklich nur für die Rache erfunden
zu sein.
Bei beiden Gestalten ist der heroische Einfiuss mächtig gewesen, der
einen alten Dämon zum Rächer des Siegesgottes machte und einen Gott
für die Rache des lichten Gottes vielleicht erst schuf. Der Begriff der
Rache ist wesentlich der Heldensage eigen, wie der der Strafe der Götter-
sage. In der Zeit der Helgisagen, die von Vater- und Bruderrache erfüllt
sind — der Sagen, nicht gerade der uns erhaltenen Gedichte — , wird
man dem heldischen Gefühl durch diese Einfügung der Rächer genug
getan haben. Ob irgendwo ein tapferer Sohn Wali hieß und seinen
Namen sowohl auf Balders Bruder als auf Odins Rächer vererbte? —
Snorri hat augenscheinlich von ihm nichts weiter gewußt; und schwerlich
gab es weiter etwas von ihm zu wissen.
l) Siehe o. S. 270; Golther S. 306.
J) PBB. 19, 503. s) PBB. 18, 589.
4) Epilog zu Lok. = Gylf. cap. 50: Gering S. 347; vgl. Kauffmann a. a. O.
5) a. a. O. S. 169. «) Wie Vaf. Str. 51.
7) Golther S. 396.
8) Vgl. Preller 1, 18f.
9) Man könnte sie als »Gegengötter gegen die Gegengötter« bezeichnen.
378 Viertes Kapitel.
Ullr1).
Auch Ullr gehört zu den Hauptgottheiten der altnordischen Mytho-
logie des 19. Jahrhunderts. Kauffmann nimmt ihn in seinen Sammelgott
Tyr — Heimdall — Hönir — Widar — Njord auf und setzt ihm noch ins-
besondere die Krone des allgewaltigen Herrschers und Richters1) aufs
Haupt 2). In der altnordischen Mythologie des Mittelalters scheint er eine
bescheidenere Rolle gespielt zu haben.
Sein Name gehört wohl zu got. vulthus, Herrlichkeit, wie in got
Namen3): der Herrliche, der Majestätische4).
Von Nachrichten finden wir folgendes in den Eddaliedern. Grim. 5)
nennt gleich als zweites Heim (nach dem Thors und vor dem Freyrs)
Ydalir: »dort hat Uli sich vormals die hohe Halle gebaut.«
In demselben Lied stehen die dunkeln Verse6):
Ullrs Huld und aller Götter
Hat er, der zuerst ins Feuer faßt;
Vor den Asensöhnen liegt offen die Heimstatt,
Wenn man vom Haken den Kessel hebt.
In einem späten Nibelungengedicht, der Atlakvida, erwähnt Gudrun 7),
daß Atli die Eide gebrochen habe, die er geleistet bei der Sonne, bei
Sigtyrs (d. h. Odins) heiligem Berge, bei des Ehebetts Pfosten, bei Ulis
Ring.
In Snorris Prosa im Götterkatalog finden wir: »Uli heißt ein Sohn
der Sif, Thors Stiefsohn. Er ist im Bogenschießen und im Schneeschuh-
laufen so tüchtig, daß niemand darin mit ihm wetteifern kann. Schön ist
er von Ansehen und besitzt alle Vorzüge eines Kriegsmannes; darum ist
es gut, ihn in Zweikämpfen anzurufen8).
Daß er auf der? Tischliste Ägirs steht9), können wir, wie wir es bei
Widar, Wali usw. getan haben, vernachlässigen.
Saxo erzählt: nach der Verstoßung Odins10) wird Ollerus (Uller) mit
seiner Macht und seinem Namen bekleidet, König zu »Byzanz«; nach
zehn Jahren kehrt Odin wieder und vertreibt Ollerus. Dieser sucht sich
wieder auf den Thron zu erheben, wird aber in Schweden von den Dänen
erschlagen u).
x) Kauffmann, PBB. 18, 188; Much, ebd. 20, 35; Schuck, Studier 2, 214 f.
Mogk S. 349, Golther S. 307. 390, Meyer S. 410.
2) Völ. Str. 65. Die fragmentarische Strophe ist wohl sicher christliche Inter-
polation; vgl. z. B. Heinzel-Detter 2, 88.
8) Golther S. 390, 2. *) Kauffmann a. a. O.
5) Str. 5. 6) Str. 42. 7) Str. 31.
8) Gylf. cap. 31: Gering S. 321.
9) Brag. cap. 1: Gering S. 352.
10) Siehe o. S. 270. n) Golther S. 307.
§ 19. Eddische Nebengötter. 37g
In Anspielungen bei Skalden heißt er Schneeschuh-Gott, Bogen-Gott,
Jagd-Gott, Schild-Gott; der Schild heißt Ulis Schiff1).
In Ortsnamen sind in Norwegen und Schweden zahlreiche > Tempel,
Heiligtümer, Haine, Hügel, Gehöfte, Äcker, Vorgebirge, Inseln, Ströme
und Wasserfälle« nach Uli benannt2).
Ulis Attribute sind der Schneeschuh und der Bogen. Wichtig ist
besonders der erste; da ,skidl auch Brett bedeutet, und der Schild eben-
falls Brett genannt wird, ward erzählt, Ulis Fahrzeug sei sein Schild3).
Daher heißt es auch bei Saxo, Uli habe die Zauberkunst besessen, auf
einem Knochen wie auf einem Schiff übers Meer zu fahren : der Knochen
steht für den primitiv daraus bereiteten Schlittschuh4), und da dieser »Ulis
Schiff« heißt, d. h. sein Fahrzeug (als Gott fährt er durch Luft und
Wasser), so fährt er damit eben auch übers Meer.
Ullr ist also neben Widar und Skadi die dritte nordische Gottheit
die durch ihre Fußbekleidung charakterisiert wird; und zwar ist es bei
ihm wie bei Skadi der Schneeschuh. Der Verdacht finnischen Ursprungs
liegt deshalb nahe5). Aber Bogenschießen und Schlittschuhlaufen liebt
der Nordländer noch heut im Winter 6), und der germanische Name sowie
die Verbreitung des Kults sprechen gegen fremden Ursprung.
Daß Ulis Schützenkunst gerühmt wird, hat wohl mehr zu bedeuten
als bei Wali 7). Denn er heißt ja, wie der Schild- und Schneeschuh-
Gott, so auch der Bogen- und Jagd-Gott. Weil die besten Bogen aus
Eibenholz gefertigt wurden, heißt sein Heim Ydalir, Eibentäler8) —
recht bezeichnend für die Namengebung des Dichters, der aus Asgard
eine Villenkolonie mit lauter sinnig anmutenden Hausnamen macht, etwa
wie sie in unsern modernen Vororten beliebt sind : Monbijou, Margareten-
ruhe9), Waldfrieden und Birkenschlößchen. Doch beweist der Name immer-
hin, daß der Gott wesentlich als göttlicher Schütze galt, wie bei den
Hellenen Orion 10), der wie Uli durch eine archaische Waffe, die eiserne
Keule, gekennzeichnet wird.
Bei seinem Kult ist nochmals an die vielen Ortsnamen zu erinnern.
Dann der Schwur in der Atlakvida: Atli hat bei den heiligsten, unantastbarsten
Dingen geschworen: bei der Sonne, die alles sieht; bei dem heiligen Berg,
J) Vgl. Much a. a. O.
2) Golther S. 392.
3) Siehe Much; doch könnte die Fahrt eines Kindes im Schild, ähnlich
wie die Sceäfs, auch ein alter oder aus der Sage entlehnter Zug sein.
*) Golther S. 391. 5) Golther S. 393.
6) Mogk S. 349. 7) Siehe o. S. 377.
8) Gering zu Grini. Str. 5.
9) Thrudheim Grim. Str. 5, für den weiberscheuen Thor.
10) Preller 1, 448.
380 Viertes Kapitel.
von dem aus Odin regiert1); bei der Heiligkeit des Ehebetts- und des
Schwurrings 2). Auf drei Zeugen folgt das sozusagen offizielle Instrument
der Eidesleistung: Ulis Ring vertritt den heiligen Eidesring.
Odins Anrufung8) ergibt sicher nur eins: daß Uli an erster Stelle
angerufen wird. Der Wortlaut ist dunkel und wird durch den Zusammen-
hang mit Str. 45 nicht aufgehellt: Gering sieht darin eine unmittelbare
Aufforderung, den Kessel zu beseitigen, damit die Äsen durch das (sonst von
dem Kessel verdeckte) Randloch hineinblicken können, und bezieht die
ersten Verse auf Agnar: aber dieser hat doch nicht ins Feuer gefaßt, und
nicht die andern Äsen bringen Hilfe. (Freilich rettet ihn auch nicht4)
ein Zufall, sondern durch Odins zauberkräftigen Fluch5), den er durch
plötzliche Epiphanie unterstützt, wird Geirröd geblendet und in sein
Schwert geworfen.) Heinzel und Detter lesen ein allgemeines Lob des
Herdfeuers heraus.
Ich glaube, es handelt sich auch hier um ein Gelübde. Der Heilgott
verspricht dem, der das Feuer auseinanderwerfen hilft, die Huld aller
Götter, die dann ja auch dem Agnar zuteil wird. Deshalb wird hier der
Eideshelfer Uli zuerst genannt (bei Gunnars Marterung vielleicht ebenso
nachdrücklich zuletzt): der höchste Gott selbst schwört bei Ulis Namen,
der allerdings »in die Konstruktion gezogen wird«: statt: »bei Ulis Huld!
alle Götter gewähren ihm Huld!« heißt es: »Uli und alle Götter — «.
Auf die Verdrängung Odins durch Uli wird man ja wohl seine
Nennung an erster Stelle durch Odin nicht deuten wollen.
Wir hätten also einen Schwurgott; was zu seiner Verwandtschaft mit
Thor gut paßt.
Über das Wesen herrscht Einstimmigkeit, nämlich darüber, daß Uli
ein Wintergott ist6). Mogk möchte ihn7) feinsinnig als den Gott des Winter-
himmels neben Odin, den Gott des leuchtenden Sommerhimmels, stellen,
und von hier beider Kämpfe erklären; er nimmt übrigens außerdem8)
Beziehungen zu Thor und Loki an. Uli wäre dann wohl der Gott des
klaren prächtigen Winters; aber wie sollte der mit Gewitter und Feuer
verwandt sein?
') Vgl. allgemein über das Sitzen auf dem Hügel« Olrik, Danske Studier
1909, S. lf.
2) Vgl. Wölunds Eideszeugen in seiner feierlichen Anrufung Vkv. Str. 33 und
allgemein über das germanisch-nordische Ritual des Eides Olrik, Nord. Geistes-
leben S. 35.
3) Grim. Str. 42.
4) Wie Heinzel-Detter 2, 188f. meinen.
5) Str. 53.
6) Hübsche Charakteristik bei Meyer S. 410.
7) S. 346. 8) S. 349.
§ 19. Eddische Nebengötter. 33]
Wenn er nun wirklich der >Jagdgott« wäre, der im Winter auf
Schneeschuhen in den Bergen umherfährt und auf seinem großen Schild
wie in einem Schlitten über das gefrorene Meer fährt?
Daß er einmal weites Ansehen genossen hat, beweisen die Orts-
namen; und wenn Saxos byzantinischer Roman auch (wie bei seiner
Balderfabel) mit billigen Peripetien arbeitet, so wird dem Bericht von
Odins Verbannung durch Uli doch wohl eine religionsgeschichtliche Tat-
sache zugrunde liegen, zumal er sie ethnologisch stützt: die Schweden
könnten für Uli , die Dänen für Odin eingetreten sein. Ob wilde Jäger-
stämme einen alten Gott propagierten und vorübergehend zur Herrschaft
brachten, so daß er auch Schwurgott wurde? ob er vielleicht deshalb
gerade in der Atlakvida und gerade wo es sich um den Barbarenkönig
Atli handelt, angerufen wird? Vielleicht galten auch- seine Heiligtümer
dem Opfer für gute Jagd. Bei alledem bleibt das winterliche Kolorit
auffallend.
Forseti x).
Nur die Grim. erwähnen2) Forseti, der in seiner gold - silbernen
Halle gütlich die Fehden begleicht. Snorri fügt3) hinzu, er sei ein Sohn
Balders und der Nanna; im übrigen umschreibt er nur die eddische
Strophe. Er fügt ihn auch 4) in die Götterliste ein ; auf dem weißen Fleck
der Landkarte, bei den unbekannten Göttern Widar, Wali, Uli und Hönir
steht auch er — dann macht Loki den Schluß. Doch zeugt ein Hain
Forsetalund in Norwegen für seine Verehrung5).
Ein Gott Fosite, Fosete oder Foseti6) herrscht über »Fosetis-
land« nach dem Bericht der Vita Willibrordi von Karls des Großen
Freund Alcuin ; aus ihr sind zwei andere Berichte abgeleitet, insbesondere
auch der des Adam von Bremen (um 1050) 7). Wie Siebs erwiesen hat,
stammt erst von Adam die Behauptung, Fositesland sei Helgoland, zu
der ihn etymologische Gründe8) veranlaßten. Helgoland kann es aber
nicht sein; vielleicht lag Fositesland »in Frisia citerior, dem friesischen
(seit dem neunten Jahrhundert von den Dani in Besitz genommenen)
Küstengebiet westlich der Zuidersee«, vielleicht auf der ,insula' Axel 9). —
In diesem heiligen Land Fosites standen Heiligtümer; aus einer heiligen
Quelle durfte man nur schweigend schöpfen, und als Sanct Willibrord
J) Golther S. 386, Mogk S. 327. 389, Meyer S. 392. 407; Siebs,
35, 535.
2) Str. 15. 3) Gylf. cap. 32: Gering S. 321.
4) Brag. cap. 1: Gering S. 352.
5; Golther S. 387, 1.
6) Golther S. 387, Mogk a. a. O., Meyer 23f. 407.
7) Vgl. Siebs S. 539.
8) a. a. O. S. 543. 9) Ebd. S. 545.
382 Viertes Kapitel.
aus ihr Heiden taufte, ließ König Radbod dreimal über ihn das Los
werfen.
Mit diesem »Hauptgott der Friesen« stellt man seit v. Richthof en l)
den Helden einer schönen, aber jungen Sage2) zusammen. Karl der Große
befragt die zwölf Asegen (Gesetzsprecher) der friesischen Seelande nach
ihrem Recht. Als sie es trotz der Bedrohung mit Todesstrafe nicht finden
können, werden sie in einem Schiff ohne Ruder, Segel und Tau ins Meer
gestoßen. Da sitzt auf ein Gebet an Gott plötzlich der dreizehnte bei
ihnen, mit einer Achse oder Axt auf der Achsel. Er steuert sie damit
ans Land, weckt eine Quelle am Ufer und lehrt sie das Recht. Dann
verschwindet er (wie Odin nach seinen irdischen Hilfeleistungen).
Siebs ist geneigt, diese Erzählung für eine rein christliche Erfindung
zu halten: »diese Erzählung der westfriesischen Rechtsquellen lehrt
uns für die M y t h o 1 o g i e nichts. Nach Art der mehrfach erscheinenden
Traktate und Einleitungen zu den Rechten sind hier in gelehrter Weise
die verschiedenartigsten Stücke vereinigt« 3). Mir scheint doch wahr-
scheinlich, daß unter diesen Stücken Oberreste alten Volksglaubens stecken.
Erklärt man selbst die goldene Axt mit ihm4) als etymologische Mythe
zur Erklärung des Ortsnamens Axenshove, so bliebe doch immer die auf-
fällige Nachbarschaft von Eswei , das v. Richthofen ansprechend mit
Götterweg erklärt hat. Auch erinnert die Art der Erscheinung und das
Unterrichten auf dem im Schiff erreichten Ufer mehr an die Epiphanie
heidnischer Götter5) als an die Parusien Christi oder der Heiligen. Und
hätte man diesen, vor allem aber Christus jenes Attribut zugemutet?
Ich glaube also, wir dürfen diese Legende dem Fosite anrechnen.
Die Gleichheit von Forseti und Fosite hat zuerst J. Grimm
angenommen, dem Mogk folgt; Golther6) zweifelt, ebenso Siebs7); Meyer8)
verwirft die Gleichsetzung. Gegen die Identität spricht die Verschieden-
heit der Namen9). Sie würde sich erklären, wenn Fosete (zu schwedisch
fasa, angelsächsisch fesian schaudern? nach Siebs zu Jos Nahrung?)
der rechte Name, Forseti »der Vorsitzer« (nämlich im Gericht) volks-
etymologische Umdeutung 10) wäre. Für die Identität spricht die Ähnlich-
keit oder vielmehr die wahrscheinlich ursprüngliche Gleichheit des
Namens und die Gleichheit der Funktion: Forseti ist in der Edda der
beste der Richter, Fosite ist (wenigstens nach jener Legende) ver-
kündender Gott.
') Vgl. Siebs S. 550f. 2) Golther S. 389.
3) S. 551. 4) S. 552.
5) Einl. zu Grim.; vgl. auch Rig in der Rig.
6) S. 389. 7) S. 546 f. 8) S. 407.
9) Meyer und Siebs a. a. O.; Golther S. 387, 2.
10) Mogk S. 328.
§ 19. Eddische Nebengötter. 383
Diese Gründe lassen wohl die Wagschale zugunsten der Gleichheit
sinken. Es entsteht dann die Frage nach Ursprung und Entwick-
lung des Gottes.
Golther sieht in ihm eine Emanation des Tiuz1), wofür schlechter-
dings nichts spricht. Mogk2) leitet ihn von ßalder ab. Hierfür würde
ich die Ähnlichkeit ihrer Burgnamen Breidablik und Glitnir nicht in An-
schlag bringen, da solche Helligkeitsnamen wenig besagen und jung sind.
Aber daß man ihn zum Sohn des Balder und der Nanna machte (gewiß
spät, da wir Nanna selbst nicht für alt halten können und lebendige An-
schauung dem jugendlichsten Gott schwerlich einen Sohn gab), spricht
dafür, daß man zwischen beiden eine Verwandtschaft zu fühlen glaubte. —
Das Attribut endlich, immer die Verwendbarkeit jener Sage voraus-
gesetzt, könnte für hohes Alter eines selbständigen Gottes zeugen. Dies
ließe sich mit Mogks Meinung vereinigen, der friesische Hauptgott sei
durch Handelsbeziehungen nach Norwegen gekommen und dort in den
»Vorstand« umgedeutet worden : die Friesen in ihrem strengen Rechtssinn
hätten den Rechtsgott zum Hauptgott gemacht3).
Es wären noch mancherlei Anknüpfungen möglich. Der silber-goldene
Saal erinnert an das silber-goldene Grab des Königs Hölgi, des Vaters
von Thorgerd Hölgabrud4). Die »Axt« würde an Donar erinnern5), die
»Achse« an einen Schiffswagen wie den Ings, wozu die Rettungslegende
paßt. (Doch wird solche Rettung aus Seenot auch den indischen Agvins
nachgerühmt; christlicher Einfluß kommt hinzu.)
Mir wäre eine frühe Hypostase Odins noch am wahrscheinlichsten:
der Gott der staatlichen Ordnung wäre speziell zum Rechtsgott geworden ;
die Rettung aus Seegefahr kommt auch ihm zu ; die Achse wäre das um-
gedeutete Zepter des Gerichtsherrn . . .
Brag-i6).
«
Eine ganz klare, aber auch ganz junge Gestalt: der Gott der Dicht-
kunst. Nur der Ursprung und die Entwicklung sind unsicher.
Sein Name: bragi der Fürst, der Erste (so ist Thor äsabragr)1);
daher auch in Helden- und Ortsnamen8).
An Zeugnissen haben wir aus den Eddaliedern: Loki begrüßt
alle Götter, verweigert aber dem Bänkedrücker Bragi den Gruß. Dieser
will ihn mit Roß und Armring versöhnen9), aber Loki meint höhnisch:
*) S. 388. 2) S. 327. 3) Vgl. Mogk S. 328.
4) Golther S. 483; siehe u. 5) Ebd. S. 390.
6) Unland, Sehr. 6, 277; Mogk, PBB. 12, 383 und 14, 81 f. Mogk
S. 365, Golther S. 400, Meyer S. 419, Chantepie S. 192. 267.
7) Golther S. 404.
8) Ebd. Anm.; auch in der Edda: Bragi (Helg. Hund. 2, 18).
9) Vgl. Heinzel-Detter 2, 252.
384 Viertes Kapitel.
wer so feige sei, der komme nicht zu solchen Ehrengaben. Bragi droht,
Loki höhnt, Idun mahnt Bragi um aller Kinder und Wunschkinder willen
zur Ruhe 1). Schließlich gibt Idun selbst den bierberauschten Bragi preis -).
Außer Thor kommt kein Gott Loki gegenüber so ausführlich zum Wort. —
In einem Katalog der besten Dinge heißt Bragi der beste Skald3).
Bragis Zunge wird in einem andern Denkvers4) neben des Bären
Tatze, den Pfoten des Wolfs, des Fischaars Schnabel unter den stärksten
natürlichen Waffen genannt5).
Snorri schildert ihn6) als weise, klug in der Rede, am meisten in
der Dichtkunst erfahren, und nennt Idun seine Gattin (was auch die Lok.
vorauszusetzen scheint). Außerdem sind die Bragaroedur und Skald-
skaparmäl dem trefflichen Erzähler und Meister der Poetik in den Mund
gelegt.
Skäldische Belege: >In den Eiriksmäl, die ein begabter Skalde
nach 935 auf König Eirik Blutaxt dichtete, treffen wir Bragi in Valhöli
bei Odin als dessen Ratgeber neben Sigmund und Sinfjötli, jenen Ge-
stalten der Heldensage» 7). Ebenso steht er in den Häkonarmäl s) als
Odins Hauptskalde neben dem aus der Heldensage in den Götterkreis
übernommenen Hermod5). Kenningar mit Bragis Namen fehlen nicht,
auch nicht Anspielungen, so bei dem großen Egill Skallagrfmsson , auf
das Auge des vielschauenden Dichters und seine Verbindungen mit dem
Dichtermeth 10).
Kann an der letzterwähnten Stelle nur eine späte Anknüpfung vor-
liegen, so scheint dagegen Lok. Str. 17 auf eine weitere Sage zu deuten,
nach der Bragi den Bruder Sduns getötet hätte11).
Nach seiner Erscheinung wird er als alt geschildert, mit langem
weißen Bart, wie Odin selbst12), d. h. als erfahrener Meister der Dicht-
kunst. Dabei ist er Gatte der Verjüngungsgöttin. — Der Dichter der
Lok. zeigt ihn, in seiner «parodistischen Manier, vom Begeisterungstrank
berauscht; da gebärdet er sich wie ein reicher, kampflustiger Recke.
Ein Attribut fehlt, was gegen das Alter des Gottes um so mehr
spricht, als irgendein Saiteninstrument ihm so leicht hätte in die Hand
gegeben werden können. Ein Kult ist erst recht nicht anzunehmen.
5) Lok. Str. 11—16. 2) Str. 18.
-") Grim. Str. 44. 4) Sgdr. Str. 16.
5) Wiederholt Gylf. cap. 41 : Gering S. 331.
°) Gylf. cap. 26: Gering S. 320.
7) Mogk S. 366. 8) Aus dem Jahr 951.
9) Ebd. 10) Golther S. 403.
n) Heinzel-Detter 2, 253; vgl. Helg. Hjörv., wo freilich unentschieden
bleibt, ob Sväva sich mit Hedin vermählt, worauf doch Str. 33 deutet.
,53) Mogk S. 366.
§ 19. Eddische Nebengötter. 335
Für den Ursprung stehen zwei Hypothesen sich gegenüber:
1. Odin, der eigentliche Dichtergott, habe sein Bild bestimmt; Bragi sei
eine Emanation Odins, erst sein thulr, sein Spielmann, dann sein Sohn l).
2. Bragi sei lediglich das vergöttlichte Abbild einer historischen Per-
sönlichkeit, des Bragi Boddason, der im 9. Jahrhundert der erste
nachweisbare Hofskalde war2) — die herrschende Anschauung3) Es wäre
also dieser Altmeister der Kunst von den Skalden als ihr Vertreter in
den Himmel erhoben worden, wie er denn auch ihr Liebling ist4).
Klar scheint eins: daß auch hier die heroisch angeschaute Wirklichkeit
in die Göttersage hineingewachsen ist. Der Fürst hat seinen Sänger;
auch Odin muß seinen Demodokos, seinen Volker haben. Dieser Stimmung
kam dann das neu erwachte Standesbewußtsein der Skalden entgegen.
(Die ganze Entwicklung legt für unsere Annahme nordischer Standes-
götter Zeugnis ab). Aber Bragi konnte doch wohl in den Olymp erst
gehoben werden, nachdem er selbst schon eine halbmythische Persönlich-
keit geworden war5).
An Sänger heften sich rasch Legenden, besonders bei den Germanen :
man denke an das Proömium des altsächsischen Heliand, an den
Wartburgkrieg, die Neithartlegende, Tanhäuser, den Möringer, vor allem
den Brennenberger, der ja sogar Stoff zu sagengeschichtlichen Unter-
suchungen gegeben hat6). Ich glaube aber, daß man zwischen den
historischen Bragi und den Gott der Dichtkunst Sagen von Bragi wird
einschieben müssen, vielleicht auch Lieder, die von ihm erzählten wie von
den Dichterverkörperungen Deör und Widsid, Traugemunt usw. Irgendein
Loblied auf den alten Sänger mag nach dem Muster von König Sveigdirs
Eingehen zu Odin7) oder ähnlicher Sagen erzählt haben, wie Odin sich
freut, den Skalden bei sich zu begrüßen — und der Anstoß zur Sagen-
bildung war gegeben.
Idun8).
Auch sie gehört unzweifelhaft zu den jüngsten Gestalten des nordischen
Götterglaubens. Gerade diese aber haben es bei der Neubelebung des
nordischen Altertums den Deutschen angetan , und die ältesten germani-
1) Meyer S. 409.
2) F. Jönsson, Ark. f. nord. Fil. 6, 141 f.
3) Z. B. die Mogks; GoltherS. 403 vorsichtiger. Dagegen z. B. Chantepie.
4) Grim. Str. 44.
5) Ähnlich ist das wirkliche Klagelied in einem Dichter Linos verkörpert
worden, der bei allen Göttern hochgeehrt war, weil es ihm zuerst gegeben
worden, im hellen Laut den Menschen ein Lied zu singen« (Preller 1, 462).
6) Kopp, Brennenberg-Lieder, Wien o. J. (1909).
7) Golther S. 289.
8) Uhland, Sehr. 6, 69; Bugge, Ark. f. nord. Fil. 5, 1 f . - - Mogk S. 375,
Golther S. 448, Meyer S. 420.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 25
386 Viertes Kapitel.
sehen Zeitschriften hießen »Bragi« und »Iduna und Hermode<. Diese
Erscheinungen wiederholten sich immer; als Sir William Temple
klassische Meisterstücke des Altertums auswählte, nahm er gerade die
Briefe des Phalaris, und wenn Winkelmann, Lessing, Goethe das Höchste
der echten Antike nennen wollten, war es — der »Laokoon«. Die spätesten
Produkte stehen oft dem Charakter späterer Zeiten am nächsten (nicht
notwendig, nicht immer); der Stimmung, die dem Ossian entgegenkam,
entsprach die sentimentale Mache der absterbenden Mythologie.
Der Name1) erklärt sich aus altnordisch id, iterum mit dem Suffix
im: die Erneuerung; es kommt als Frauenname auf Island vor2).
Als Attribute bewahrt sie in ihrer Truhe3) die Äpfel, welche die
Götter genießen müssen, wenn sie anfangen zu altern; davon werden sie
wieder jung, und so wird es bleiben bis zum Untergang der Götter4).
Dieser Äpfel wegen begehrt der Adler in der Thjäzi-Fabel 5) ihren Be-
sitz, und deshalb muß Loki sie wieder schaffen. — Nun kommen Äpfel
auf Island nicht vor, auf Norwegen höchstens in Klostergärten; deshalb
haben Bugge und Golther6) die Äpfel aus christlicher und antiker Saat
(Paradies; Hesperidenäpfel) hergeleitet. Mit den Äpfeln des Paradieses
seh ich keine Ähnlichkeit; aber mit denen, die die Hesperiden in ihrer
Hut haben7), ist allerdings die Ähnlichkeit unverkennbar. Dennoch hält
Mogk8) den Mythus für rein nordisch, da die verjüngenden Äpfel auch
sonst in der deutschen Sage vorkommen9). Der Apfel vertritt die runde
Frucht an sich und ist urgermanisch10). Auffallend ist auch, daß den
drei Hesperiden n) die Eine Idun entspricht. Trotzdem bleibt bei der
Jugend der ganzen Gestalt die Anlehnung wahrscheinlich. —
Idun bewahrt die Äpfel in der Truhe, wie Fulla Friggs Besitz. Dies kann
natürlich kein alter Zug sein — Göttinnen haben keine Aufbewahrungsgeräte
im Haus, und Odin hängt seinen Speer nicht über Nacht in den Waffen -
*) Golther S. 448.
2) Schon der Name ist ganz abstrakt: eine Art nomen actionis, noch ab-
strakter als die griechische Hebe (Preller 1, 498), die doch einen bestimmten
Beruf hat: Mundschenkin der Göttin zu sein — so wußten die Griechen die Idee
des Darreichens eines Verjüngungstranks plastisch auszubilden! — Die lateinische
Juventus ist trotz ihrem abstrakten Namen einfach die Schutzgöttin der heran-
wachsenden Jugend (Wissowa S. 125).
3) Vgl. auch allgemein über »Truhenmärchen« Wundt 2, 3, 259.
4) Gylf. cap. 26: Gering S. 328.
5) Brag. cap. 2: Gering S. 353; vgl. o. S. 344.
6) S. 450.
7) Preller 1, 563, wo auch auf Iduna Bezug genommen wird.
8) S. 375.
9) Vgl. v. d. Leyen, Märchen, S. 33.
10) Kluge, Etymol. Wörterbuch, S. 15.
n) Preller S. 564.
§ 19. Eddische Nebengötter. 387
schrank — , aber zu beachten ist es doch; denn gerade die rationalistische,
allzu gut bürgerliche Vorstellung macht auf ein weiteres Bedenken gegen
die Echtheit der Äpfel aufmerksam, ein sozusagen mythentechnisches
Bedenken. Echte alte Attribute sind mit der Erscheinung ihrer Träger
untrennbar verbunden: sie gehören zur Kleidung (Hut, Mantel, Schuh),
zur Ausrüstung (Speer, Hammer, Bogen), zur ständigen Begleitung (Roß,
Böcke, Raben, Katzen). Ablegen kann der Gott seine Attribute nur, wenn
er sich überhaupt verwandelt; wie der König im Märchen Krone und
Szepter nur abtut, wenn er sich verkleidet1), ja selbst dann guckt noch
oft der Pferdefuß hervor, und Odin hat auch als Wandersmann noch Hut
und Mantel des Gottes. (Leitet man Hut und Mantel selbst erst von
dem Wanderer ab, so ändert das nichts an der Sachlage). — Diese Äpfel
aber sind mit der Gestalt nicht natürlich verbunden — man kann sie ab-
legen und in die Truhe legen ; ja man muß es für gewöhnlich tun. Solch
ein Parade-Attribut verhält sich zu dem Lebens-Attribut eines alten Gottes
(das oft älter als er selbst, ein ursprünglicher Fetisch ist), wie der Schutz-
engel des christlichen frommen Glaubens zu Immermanns berühmtem
Engel, den man auch fortlassen kann« in Platens Romantischem Ödipus.
Attribute, die aus der Entwicklung oder der Anschauung heraus erwachsen
sind, können nicht wie Marionettensäbel an- und abgehängt werden. —
Ach hätten wir doch eine zusammenhängende Untersuchung über die
Attribute der Götter vom Standpunkt der vergleichenden Mythologie! wir
könnten ein paar folkloristische Varianten zum »Todaustreiben« gern da-
für hergeben.
Iduns Funktion ist die Verjüngung der Götter — ein rationalistischer
Gedanke.
Im Mythus wird sie mit Bragi vermählt, wohl weil dieser mit dem
Begeisterungstrank in Verbindung gebracht war; an die erneuernde Kraft
der Poesie ist schwerlich zu denken. — Loki 2) schilt sie3) die Buhlin des
Mörders ihres Bruders, worüber wir nichts wissen. Endlich haben wir
die Thjäzi-Geschichte4), von märchenhaftem Charakter5) — junge Spröß-
linge eines jungen Mythenkreises.
Loki und HocL
Loki und Hod, die wir unter die »Gegengötter« eingereiht haben,
müssen doch auch in diesem Zusammenhang noch einmal erwähnt werden,
da sie früh in den Kreis der Äsen aufgenommen worden sind. Ebenso
J) Vgl. z. B. Thimme, Lied und Märe, Gütersloh 1876, S. 96.
2) Lok. Str. 17.
3) Siehe o. S. 348.
4) Naturmythologisch ausgedeutet von Uhland; vgl. Golther S. 650.
5) v. d. Leyen S. 34.
25*
388 Viertes Kapitel.
müssen hier noch einmal jene Götter erwähnt werden, die als Gruppe
eine kleine eigene Welt von Nebengöttern darstellen, von denen freilich
die wichtigeren persönlich zu Hauptgöttern emporgestiegen sind:
Die W an en r).
Zu den Wanen gehören: Njord, die Geisel der Wanen bei den
Äsen; Frey, sein Sohn, ihr eigentlicher Repräsentant2); Freyja, die Vdnadis,
Wanengöttin 3) ; nach Heinzel-Detters Etymologie auch Väli, »der kleine
Wane«, was aber abzulehnen ist4). Nach gewissen Indizien hat man auch
Nehalennia5) ihnen zugesellen wollen, die sich aber früh von Nerthus
differenziert zu haben scheint. — Nur in Bezug auf die Kenntnis der
Zukunft wird Heimdall6) mit den Wanen verglichen. Er gehört zu den
Äsen, deren am meisten charakteristische Repräsentanten Tyr, Wodan, Thorv
Frigg sind. (Auch Skadi, obwohl vermutlich fremden Ursprungs, wird
zu den Asinnen gerechnet.)
Der Mythus vom Wanen krieg7) hat sicher religionsgeschichtlichen
Hintergrund. Die Wanen werden dargestellt als ein gegen die Äsen ein-
dringendes Göttergeschlecht. Angeführt werdeu sie von Gullveig-Heid 8).
Diese könnte also eine Wanengöttin sein ; aber von Freyja 9) werden nirgends
Mythen auch nur angedeutet, die zu Gullveigs Schicksalen stimmten ; auch
ist sie viel jünger. Freilich könnte sie von Gullveig Züge angenommen
haben: sie ist zauberkundig, sie reitet auf dem Goldeber. Indeß ist doch
wohl wahrscheinlicher, daß Gullveig-Heid keine eigentliche Göttin ist,
sondern eine bloße Abstraktion: die Verkörperung der »Goldkraft« , der
neuen Kultur. In diesem Sinn würde sie so wenig zu den Wanen selbst
gehören wie etwa die Nornen zu den Asinnen.
Der Gegensatz zwischen Äsen und Wanen ist ein doppelter: Er ist zu-
nächst regional. Schon ursprünglich verrät vielleicht der Name der Winiler
ein besonderes Bekenntnis zu den Wanen10). Der Kult Njords und Freys
ist im mittleren Skandinavien der älteste; Frey steht als »Schwedengott«
dem auf dem Seewege aus Deutschland eindringenden Odin, dem »Sachsen-
*) Meyer S. 451, Mogk S. 322, Golther S. 220, Much S. 260. — Über
den Mythus vom Wanenkrieg Hoffory. Eddastudien, S. 1411; Wein hold.
Sitzungsber. d. Berl. Akad. 1890 S. 611 f.; Mogk S. 323.
2) Mogk S. 322.
8) Gylf. cap. 35: Gering S. 326.
4) Siehe o. S. 377.
*) Siehe u.; vgl. Golther S. 460.
6) Thrymskv. Str. 14; vgl. Golther S. 360 Anm.
7) Bes. Völ. Str. 21 f.; Gyl. cap. 23: Gering S. 317; vgl. Brag. cap. 2:
Gering S. 354. — Golther S. 220f. 3051
8) Vgl. o. S. 343. 9) Golther S. 221. 444.
10) Mogk, Sammlung Göschen 92 S. 82.
§ 19. Eddische Nebengötter. 38Q
gort gegenüber. Über Dänemark kommt der Odinskult nach Schweden
und Norwegen : den uralten Stätten wie Lund, Ringsted, Hleidra, Wiborg
traten neue ausschließlich Odin geweihte zur Seite, Odinsve, jetzt Odense
in Finnen und Onsved in Seeland. In Schweden sind viele Orte nach
Odin benannt : Odenswi, Odensnäs, Odensjö, Odensberg, Odensala usw.
Weniger volkstümlich wurde Odin in Norwegen, weshalb verhältnismäßig
nur wenige Ortsnamen dort für ihn zeugen. Um so siegreicher erhob
er sich im Skaldenlied. Die Zeit der Einwanderung des deutschen Wodans-
glaubens in Dänemark und Skandinavien, welche in den halb gelehrten
Berichten x) noch nachklingt4, läßt sich nicht bestimmen. Nur im all-
gemeinen darf behauptet werden, daß Odin längere Zeit vor den
ältesten Skalden, also etwa um 800, bereits in Norwegen bekannt gewesen
sein muß. Das Heldenzeitalter des norwegischen Stammes stellte Odin,
den Gott des Krieges und des Geistes, in den Mittelpunkt der Dichtung 2). —
Es liegt also »ein uralter Kultkrieg zwischen den Anhängern eines fest-
gewurzelten altheiligen Glaubens und den Vertretern einer neuen aus der
Fremde stammenden Religion«3) vor.
Freilich sind nach der Edda die Wanen die Angreifer. Man könnte
das als Entstellung vom Standpunkt der Asenverehrer betrachten, wenn
die Darstellung den Äsen nicht ziemlich ungünstig wäre. Man muß also
wohl annehmen, daß die anfänglich4) im Norden kulturell führenden
Schweden sich zu einer Reaktion erhoben und für ihre alten Götter gegen
die neuen »Sachsengötter« eintraten; bis dann ein gewisser Ausgleich
stattfand und die Dreiheit Odin, Thor, Frey gleichsam die nordische Union
in der Götterverehrung abbildete5).
Es entstand ein Synkretismus, wie in der ersten Christenheit: Thor
neben Christus6). Die Gegensätze glichen sich stärker aus als zwischen
Odin und Thor.
Der Gegensatz ist aber auch ein religiöser: die Vanir, die
»Glänzenden« (zu altsächsisch wanom)1) segnen mit Reichtum: sie sind
Kulturgötter gegenüber den kriegerischen Äsen. Zu dem Kampf um den
Anteil an den Opfern 8) trat der um die ganze Lebensanschauung — das
Wort ist kaum zu meiden, wenn man an die Hävamäl denkt. Es ist
vielleicht bezeichnend, daß zwar Odin den Vorrang vor Frey behauptet,
J) Bei Saxo und Snorri, bes. Ynglingasaga cap. 1—5.
-) Golther S. 305; vgl. Olrik, Nord. Geistesleben, S. 36.
8) Golther S. 222.
4) Olrik S. lf.
5) Solche offizielle Aufnahme fremder Gottheiten begegnet oft; vgl. z. B,
für Rom Wissowa S. 239f,
6) Vgl. o. S. 291; Golther S. 261.
7) Golther S. 220, 2. *) Völ. Str. 23.
390 Viertes Kapitel.
Freyja aber Frigg zurückdrängt: für Gold und Schmuck hat die Frau
doch noch mehr übrig1).
§ 20. Nacheddische Gottheiten.
Hierher rechne ich die Gottheiten, die in der Edda nicht in den
Götterkreis aufgenommen sind, mögen sie auch nahe daran sein, die aber
in der Prosa-Edda eine Darstellung finden. Diejenigen, die überhaupt nicht
im Norden vorkommen, unterscheide ich von ihnen als »Außereddische
Gottheiten«2); besonders gehören dazu die nur lateinisch überlieferten
Namen.
Hei3).
Der Name ist gleichbedeutend mit gotisch halja , altnordisch helr
angelsächsisch hell, althochdeutsch hella (von der Wurzel von »hehlen«) :
»die Verbergende« — gemeingermanischer Ausdruck für den Aufenthalts-
ort abgeschiedener Seelen. Der Begriff ist zunächst rein heidnisch. »Im
Norden finden wir denselben räumlichen Begriff in Redensarten, die zum
Teil noch fortdauern«4).
»Im Norden entwickelt sich aus der örtlichen hei die persönliche
Hei«5). Es ist nicht völlig deutlich, wie diese Entwicklung sich vollzog.
Bei den Hellenen scheint das »unerreichbare Totenland« 6) von allem
Anfang an das »Haus des Hades« zu heißen7); und in der Tat ist der
Totenherr (oder die Totengöttin) wohl älter als die Vorstellung eines be-
stimmten »Landes der Seelen«. Aber von einer gemeingermanischen
Unterweltsgöttin wissen wir nichts. Es muß wohl eine unmittelbare Ver-
körperung des femininen Appellativs angenommen werden, etwa in der
Epoche der neuen Elementargottheiten : zu Surt, dem unterirdischen Feuer,
und Hönir, dem unterirdischen Wasser (nach meiner Auffassung), die
*) Später wiederholt sich der Gegensatz der Weltanschauungen, wie ihn
poetisch stilisiert etwa Grillparzers Libussa malt, in Starkads Kapuziner-
predigten; vgl. Olrik a. a. O. S. 90 f. — Eine ähnliche Gruppe wie die Wancn
bilden vielleicht das uralte indische Doppelpaar der Adityas (Macdon eil S. 43):
die Himmelsgötter Mitra und Varuna — die am frühesten genannten arischen
Götter — , der »Spender« Bhaga (S. 45) und der »Genosse« Aryaman (ebd.).
Zu ihnen wurde später eine Mutter Aditi »die Ungebundenheit« erschaffen
(vgl. ebd. S. 120), die sogar wiederum eine böse Göttin Diti »Gebundenheit
(S. 123) erzeugte. Ursprünglich waren die vier wohl aber einfach (vgl. S. 122)
die Söhne der Freiheit«, d. h. »Herren der Freiheit««, die den Menschen durch
ihre Gaben und Hilfe lösten: Spender des Gedeihens wie Frey und Njord.
a) § 21.
8) MogkS. 375, GoltherS. 471, Meyer (der sie zu den höheren Dämonen
rechnet) S. 246. 463.
4) Golther S. 471. ») Ebd.
ü) Rohde S. 34. 7) Preller 1, 807f.
§ 20. Nacheddische Gottheiten. 391
beide nur nordisch sind, würde Hei, das unterirdische Land, wohl stimmen.
Doch sind zu diesen keine Beziehungen nachzuweisen.
Die Unterwelt ist also zunächst einfach. Früh aber bildet sich
eine Scheidung der Seelenländer heraus. Wie bei den Hellenen Elysion,
die Insel der Seligen1), allmählich zu der Vorstellung der » Höllen-
strafen « in der übrigen Unterwelt geführt haben muß2), so hat Walhall,
als es der Sitz der Odinsdiener geworden war, Hei heruntergewürdigt.
Höchst merkwürdig ist es, daß bei den Hellenen3) gerade wie bei den
Germanen4) der Meineid die erste Untat ist, die im Jenseits bestraft
wird. Es könnte hier eine indogermanische Vorstellung erhalten sein :
wer die Götter bekriegt, begibt sich in die Gewalt der außerhalb der
.Götterwelt lebenden Peiniger.
Je mehr nun dieser Gegensatz von Hei und Walhall empfunden wird,
desto stärker bildet sich der Parallelismus aus. Der feierliche Empfang
Balders5) entspricht dem der Helden bei Odin: »daß der Orkus vernehme:
ein Fürst kommt, drunten von ihren Sitzen sich die Gewaltigen lüften«.
Natürlich ließ sich der Gegensatz auch christlich ausdeuten, was wohl
früh geschah6). Zunächst aber malt man sich ganz abstrakt eine Um-
gebung der Hei aus, die zu der glänzenden Odins überall das Gegenbild
ergibt (nur daß natürlich auch hier die Tore weit sein müssen)7). Zwar
die Unterweltsflüsse scheinen uralt8). Sonst aber betont Snorri9) nicht
zufällig den Gegensatz von Gimle und Näströnd, dem Heim der Seligen
und dem Totenstrand. Wie dort alles Glanz von Gold und Edelstein,
ist hier alles (mit Rückert zu reden) »1 ei chenf arber als Rhabarber« : der
Saal heißt Plage, die Schüssel Hunger, das Messer Schwund, Knecht und
Magd (die Walküren der Hei) heißen die Faulen, die Schwelle macht
müde, das Bett krank, das Bettuch ist aus bleichem Unglück ge-
webt10). —
Erst aus diesem Gegensatz zwischen Walhall und Hei scheint sich
ihre genealogische Beziehung zu den Gegengöttern zu entwickeln: sie
wird Lokis Tochter oder Gattin 10), nimmt aber am Ragnarök nicht selbst
*) Preller 1, 815.
*) Vgl. Preller 1, 821; Rohde S. 59.
3) Rohde a. a. O.
4) Völ. Str. 39; auch >morthvarg< bezeichnet den verräterischen, meineidigen
Mörder, wie etwa Akv. Str. 32 Atli einer ist.
5) Golther S. 475.
6) Vgl. Golther S. 477.
7) Wie auch bei Aidoneus; Preller 1, 807.
8) Völ. Str. 39: Preller 1, 816.
9) Gylf. cap. 52: Gering S. 350.
10) Eine ähnliche Sippe bilden Märas Töchter (siehe o. S. 350, 13 Anm) oder
noch in Kaiser Maximilians Theurdanck: Unfallo, Furwittick, Neidelhart.
392 Viertes Kapitel.
teil: nur »die Leute der Hei« kämpfen mit1) — ein Beweis, wie wenig
die Verkörperung der Unterwelt bei den Nordleuten lebendig geworden ist
Auch ihre Erscheinung ist »gedacht« wie jene Allegorien im Stil
von mittelhochdeutsch Freudenstadt und Reuenthal : halb schwarzblau, halb
fleischfarben wie ein verwesender Leichnam2).
Endlich erhält sie auch ein Attribut: wer ihre Äpfel genießt, muß
bei ihr bleiben3) — wohl gewiß eine Nachbildung der Proserpinasage.
Doch mag auch an die » Totenäpfel < , die inwendig Asche bergen, ge-
dacht sein.
Ran4).
Ran5): die »Räuberin« ist die Göttin des Seetodes oder die ver-
derbliche Göttin des Meeres neben dem heiteren Meergott Ägir. In
Heldenliedern der Edda kommt sie nur in sprichwörtlicher Verwendung
vor: Männer zur Ran senden6), das Schiff befreit sich aus Rans Krallen7).
Schon die Hypothesis zu Reg. geht weiter in der Vermenschlichung: Ran
hat ein Netz als Attribut, das Loki sich leiht, um Andvari zu fangen.
Mit diesem Netz geht dann die Mythenbildung weiter: Niemand kann
seinen Maschen entschlüpfen. — Die Skalden malen dann ihr Wesen, be-
sonders aber die junge romantische Frithjofsage , die von dem »Weib
ohne Herz im Leibe« spricht.
Auch sie wie Hei ist wohl ursprünglich lokal gedacht; möglich wäre
aber auch, daß sie ein alter Wasserdämon von weiblicher und verderb-
licher Art wäre. Sie erhält Ägir zum Gatten ; ihre Kinder sind die (älteren)
neun Wellen, von denen Heimdall geboren wird. Diese werden dann ent-
sprechend stilisiert: sie führen der Mutter die Schiffer zu.
Ägir.
Ägir selbst8) ist wohl unzweifelhaft der kollektivierte Wassergott,
der kindlich frohe Herr des (stillen) Meeres; auch sein Name scheint zu
gotisch ahwa, lateinisch aqua zu gehören 9). Er hat lediglich die Funktion,
den Göttern das Mahl zu bereiten10); dazu dient ihm der Kessel, den
Thor von Hymir holt11). Dazu gibt ihm die Prosa der Lok. zwei Diener:
Fimafeng, der Behende und Eldir, das Feuer. Nur der letztere kommt
*) Siehe o. S. 350. 2) Vol. Str. 51.
3) Golther S. 474.
4) Nach einer jungen Sage: Golther S. 477.
B) Golther S. 478, Mogk S. 303.
6) Helg. Hjörv. Str. 18.
■) Helg. Hund. 1, 31.
8) Siehe o. S. 251; Golther S. 174f; Mogk S. 302, Meyer S. 237f.
9) Golther S. 174 Anm.
10) Lok.; Grim. Str. 45.
n) Oder zurückholt; Hym. Str. 39.
§ 20. Nacheddische Gottheiten. 393
im Text vor; der erstere ist ein beliebig hinzuerfundener Helfer. Aber
das Feuer ist nötig, damit der Kessel seine Schuldigkeit tun kann.
Ägirs Braukessel (der Gott heißt geradezu »Bierkünstler aller Licht-
götter«)1) wird als das Meer gedeutet; wenn es gefroren ist (aber friert das
Meer?), ist es in der Gewalt der Eisriesen2). — Die Deutung des Kessels auf
das Meer ist fast unvermeidlich: wie ein Kessel hängt es zwischen den Küsten;
der Sturm * braut« in dem Wasser, daß es überkocht. Aber wie kommt
Ägir dazu, der Wirt der Götter zu sein ? Meerwasser ist doch kein Nektar !
Bei Ran bekommen die Ertrunkenen Hummer und Dorsch3); und was
spendet Ägir für Hunger und Durst der Götter?
Vielleicht klingt hier ein uralter Mythus nach. Poseidon wandelt4)
zum Mahl zu den Äthiopen, die zwiefach geteilt sind, teils am Untergang
des Helios, teils am Aufgang. Dort also, wo die Sonne ins Meer ver-
sinkt oder aus dem Meer aufsteigt, hält er sein Mahl. Ob es einen Mythus
gab: die Lichtgötter (tivar) — mit denen sich Poseidon im Wesen viel-
fach berührt, z. B. in der Art seiner Rosse und seiner Fahrt 5) — nehmen
im Meer ihr Mahl ein, wenn sie hinabtauchen? — Jedenfalls scheint mir
wahrscheinlicher, daß aus jener Vorstellung die des Meereskessels entstand,
als umgekehrt. Man denke auch an die alte Formel, wieder griechisch
und germanisch, vom »Abendessen in der Unterwelt«.
Thorgrerd Holgabrud6).
Von dieser Halbgöttin wissen wir verhältnismäßig viel. Wir hören
fast nur von Einem Diener der Thorgerd, aber dies war der mächtige
Jarl Häkon im norwegischen Halogaland (970 — 995), der das Heidentum
wieder aufrichtete. Er erbaute ihr mehrere Tempel, im Gudbrandsdal, im
Gebiet von Drontheim ; dort stand in Lebensgröße in der Mitte Thor auf
seinem Wagen, rechts Thorgerd, links ihre Schwester Irpa; alle drei mit
Goldringen an der Hand. In dem zweiten Tempel standen sogar viele
Götzenbilder, Thorgerd aber quer vor dem Eingang, prächtig geschmückt.
Häkon betet zu ihr auf den Boden hingestreckt; als eine Art Orakel er-
scheint es, daß er ihr den Ring vom Finger ziehen will: da es nicht
gelingt, weint er und versucht es nochmals, diesmal mit Erfolg. Vor der
Schlacht aber opfert er ihr gar einen siebenjährigen Sohn. — Doch hat
sie auch auf Island einen Tempel; diesen verbrennt Grimkell, als sie ihn
verlassen will, und stirbt dafür noch am selben Tage.
\) Vgl. Golther S. 174.
2) Hymirs; Gering S. 29.
3) Mogk S. 303. 4) Odyssee 1, 22 t
B) Preller 1, 568.
6) Golther S. 482, Meyer S. 273, Mogk S. 275. Storni, Ark. f. nord-
Fil. 2, 124; Detter, Ztschr. f. d. Alt. 32, 394.
394 Viertes Kapitel.
Thorgerd hilft dem Jarl, indem sie ein Hagelwetter über seine Feinde
wirft: man sieht sie hinter ihm stehen, wie von jedem ihrer Finger töd-
liche Pfeile auf die Feinde fliegen. Als das Gewitter nachläßt, ruft Häkon
nochmals Thorgerd und Irpa an; das Hagelwetter erneut sich, und der
Feind flieht vor den bösen Hexen *).
Sie ist also wohl eine lokale Elementargottheit, der der rohe Charakter
ihrer Verehrer etwas Hexenartiges gegeben hat; für eine aus dem nordisch-
finnischen Grenzgebiet entlehnte Zaubergöttin braucht man sie deshalb
noch nicht mit Golther2) zu halten; auch nicht für eine vergöttlichte
Hexe: »Daß Häkon Trollen anbetete, ist wenig wahrscheinlich«3), denn
er verehrt auch Odin und Thor, hat aber zu Thorgerd das meiste Ver-
trauen.
Thorgerd ist nach ihrem Beinamen und nach Saxos Bericht4) die
Gattin, nach der Sage aber die Tochter des Königs Hölgi, nach dem
Halogaland genannt ist5). Dieser nun genoß augenscheinlich selbst gött-
licher Ehren. Sein Grabhügel soll aus zwei Schichten bestanden haben:
Gold und Silber, dann Erde und Stein. Golther6) verweist auf einen
ähnlichen Opferhügel des finnischen Gottes Jumala; doch ist wohl nur
gemeint, daß viel Gold und Silber mit dem Heros (das Grab im Busento !)
beigesetzt wurde. Aber der Speer Hölgis war im Tempel aufbewahrt und
Häkon nahm ihn von da7), gewiß damit er ihm helfe wie dem Dag
Odins Speer8); denn mit diesem Speer durchbohrt ein Holzklotz (trentadr),
dem die Zauberei der Göttinnen (durch das Herz eines getöteten Mannes)
ein Scheinleben gab, Häkons Feind Thorleif9). Der Zauber, der mit den
Attributen (Hölgis Speer, Thorgerds Ring) verbunden scheint, deutet in
fetischistische Verehrung zurück. Aber daneben macht sich, wie bemerkt,
die Annäherung an den Hexentypus geltend: für die Hexe ist10) ja gerade
dies bezeichnend, daß sie tote Dinge in ihren Dienst nimmt. —
Irpa oder Yrsa ist eine Doppelgängerin der Thorgerd. Wahr-
scheinlich war ursprünglich sie Hölgis Geliebte und der Name ging auf
seine Tochter Thorgerd über. Es scheint fast, als würde sie neben ihrer
Schwester nur angerufen, wenn diese allein nicht hilft.
x) Gewitterzauber in der Schlacht durch Zauberer erregt, von Odin bekämpft;
Saxo S. 32, Hermann S. 40.
3) S. 486.
4) Vgl. Storni S. 127.
5) Oder der nach Halogaland heißt: der Name — mit Helgi nicht zu ver-
wechseln — kommt sonst nicht vor: Storni S. 128.
6) S. 483.
7) Golther S. 484; ebenso holt sich David sein Schwert ans dem Tempel
(1. Sam. 21, 21); vgl. auch C. F. Meyers Gedicht »Das verlorene Schwert«.
8) Helg. Hund. 2 zu Str. 28.
5>) Ebd. S. 485. l0) Siehe o. S. 132.
§ 20. Nacheddische Gottheiten. 395
Diese Gottheit, deren berühmtesten Verehrer wir kennen, die in einer
genau bestimmten Schlacht 2) eingreift wie etwa die Dioskuren in die von
Salamis, scheint noch einmal religiöse Kämpfe entfacht zu haben. Häkons
Feind Sigwaldi entflieht, weil er nicht gegen die Hexe kämpfen will;
Grimkell verbrennt den Tempel ; ebenso Vigatrappr, nachdem er sie ihrer
Attribute beraubt hat2). Sie erregt aber auch bei ihren Verehrern Fana-
tismus bis zum Sohnesopfer. — Später schmückt die Sage den Tempel3)
in der Weise christlicher Kirchen aus: die frenfden Kulte werden zu-
sam m enge worf en .
Söl4).
Als eine Naturgottheit könnte Sunna-Söl neben Thorgerd und Ran
stehen; aber sie ist vermutlich nur ein gelehrtes Produkt. Eine indo-
germanische Sonnengöttin, wie die indische Sürjä5), der Freyja nicht ent-
spricht, hätte wohl stärkere Spuren hinterlassen. Freilich behauptet Caesar6):
deorum numero eos solos ducunt } quos cernunt et quorum aperte
opibus iuvantur, Solem et Vulcanum et Lunam; aber von einem alten
Kult des Feuers haben wir kaum, von einem solchen des Mondes gar
keine Spuren. Vielleicht meinte Caesar auch mit Söl den Tyr, mit Luna
Frigg als Söls Gemahlin, wenn sie nämlich (nach Müllenhoff) ursprünglich
Tyrs Gemahlin war. Wahrscheinlicher noch ist, daß das Opfer ohne
Götzenbild und ohne Tempel auf die Sonne oder den Mond bezogen
wurde, je nachdem, ob es bei Tag oder bei Nacht stattfand, und daß das
Opferfeuer als Symbol des Vulkan gedeutet ward. — Immerhin läßt der
Sonnenwagen T) zur Vorsicht mahnen.
Sunna im Merseburger Spruch ist wohl nur Begleiterin der Himmels-
königin8).
Später haben wir9) eine phantastische Legende, die aus den selbst
schon bedenklichen Angaben der Vaf. herausgesponnen scheint. Dort
heißt Mundilföri »der Beschützer«10), der Vater des Mondes und der
Sonne; zur Verwandtschaft gehören auch noch Tag und Nacht mit
alliterierenden Vätern11). Die Sonne wiederum hat eine unbenannte
Tochter12), die sie ersetzen soll, wenn Fenrir die alte Sonne verschlungen
hat. Söl muß auf dem Sonnenwagen rasch fahren, weil die Wölfe sie
1) Häkon gegen die Jömsvikinger 987 oder 988.
2) Golther S. 482; außer dem Ring trägt sie noch ein Kopftuch, wie Fulla
ein Band um das Haupt trägt; anders, wenn Nerthus in Tücher gehüllt wird.
3) Golther S. 484. ' 4) Golther S. 486f.
B) Vgl. Golther S. 215. 6) BG. 6, 2.
7) Vgl. o. S. 105, 7. 8) Vgl. o. S. 276.
9) Gylf. cap. 11: Gering S. 305; vgl. auch cap. 35: S. 328.
10) Mogk S. 311.
u) Delling und Nor; Vaf. Str. 25.
'') Vaf. Str. 47.
396 Viertes Kapitel.
verfolgen (die Pferde heißen Arwakr Frühwach und Alswid Allklug),
und damit diese sich nicht erhitzen, haben sie zwei Blasebälge (Järnkol
Eisenkühle) unter sich ; ebenso steht ein Schild vor der Sonne. Andere,
vielleicht volkstümliche, Fabeln beziehen sich auf den »Mann im.Mond<; x),
während der Mythus von dem dritten Paar, Sommer und Winter 2), gewiß
nur gelehrtern Systemzwang entspringt. Sind doch ebenso bei den Griechen
Tag und Nacht in die verschiedensten Kombinationen eingegangen: sie
wohnen an den GrenzÄi der Welt zusammen mit Tod und Schlaf3) und
begrüßen sich nur flüchtig auf der Schwelle — haben aber doch Eros
zum Sohn4). Denn Hemera ist gewiß5) doch nur eine gelehrte Ersatz-
göttin für Eos, gerade wie Dag für Heimdall.
Wir werden also, glaube ich, die Existenz einer urgermanischen
Sonnengöttin nur mit Vorsicht abstreiten (denn außer dem Zeugnis Caesars
hat sie immerhin, samt der Luna, noch Verbote der Mission für sich6);
aber einen Zusammenhang dieser etwaigen Sonnengöttin mit der alt-
nordischen Söl und ihrer Sippe müssen wir ablehnen. Wie es eine rein
» literarische Kanonisation« gibt7), so gibt es eine rein literarische Deifika-
tion, und ihr verdanken wir diese heidnischen Kalendergottheiten, während
schon Sunna und Sinthgunt viel eher gegen als für einen Kultus der
Himmelslichter zeugen.
§ 21. Außereddische Gottheiten.
Während für die niedere Mythologie uns die Quellen außerhalb des
Nordens ebenso reichlich fließen wie dort, sind wir (hauptsächlich wohl
wegen der anderen Form der Bekehrung) für die Götterwelt beinahe aus-
schließlich auf die skandinavischen Quellen angewiesen. Was bei Deutschen
und Angelsachsen durch Caesar und Tacitus, durch Zaubersprüche und
Missionsanweisungen bezeugt ist, bleibt unschätzbar für das Verständnis
nordischer Mythologie (Idisi, Balder, Sceäf), aber Neues lehrt es uns
nicht in dem Sinne, daß nur ein einziger in der Edda und ihren An-
hängen fehlender Gott so nachzuweisen wäre — die Alces etwa aus-
genommen. — Isolierte Zeugnisse in lateinischer Sprache besitzen wir
allerdings, aber eben so versprengt, daß sie uns nur Schatten an die Wand
werfen und fast durchweg die Etymologie unser einziges, ach so zer-
brechliches Werkzeug zur Deutung dieser vorüberhuschenden Bilder bleibt
Hauptquelle sind hier lateinische Inschriften. Wir versuchen auch
hier von weitem eine innere Chronologie zu erreichen.
1) Vgl. Golther S. 524.
2) Vaf. Str. 26. 3) Prell er 1, 37.
4) Prell er 1, 501. 5) Doch vgl. ebd. S. 440.
ti) Vgl. Golther S. 487.
7) Delehaye, Sanctus, S. 1&9.
§ 21. Außereddische Gottheiten. 397
Alces 1).
Tacitus2) berichtet, daß bei den Nahanarvalen ein Hain voll alter
Verehrung gezeigt werde (antiquae religionis lucus ostenditur) »Den
Vorsitz führt ein Priester in weiblicher Tracht. Aber die Götter nennen
sie nach römischer Deutung Castor und Pollux. Diese Bedeutung kommt
der Gottheit zu, ihr Name ist »Alcis«. Götterbilder sind nicht vorhanden
noch irgendeine Spur fremden Aberglaubens: wie Brüder und wie Jüng-
linge werden sie verehrt.«
Auffällig kann in diesem Bericht scheinen zunächst das »ostenditur^,
das im Zusammenhang fast auf ein Abkommen der antiqua religio deuten
könnte; dann die negative Aussage, die einen Gegensatz zu dem vehi-
cnlum in dem castum nemus der Nerthus3) zu enthalten scheint.
Tacitus bezeugt im übrigen hier: erstens den Kult zweier Gottheiten,
die den Dioskuren gleichen, weil sie zweitens jugendliche Brüder sind;
drittens, sie werden in einem Hain verehrt; viertens mit anikonischern
Ritus; fünftens, sie besitzen einen eigenen Priester, der sechstens weibliche
Tracht trägt, und siebentens sie heißen Alcis.
So viel wissen wir sonst nur von den Hauptgottheiten. Dennoch
ist so vieles problematisch. Ober das Alter bestehen kaum Zweifel.
Die Existenz eines ritterlichen Brüderpaares in der indogermanischen Götter-
welt wird4) kaum zu bezweifeln sein. Die A^vins5) und die Dioskuren
stehen zu Himmel und Sonne in Beziehung ; sie sind menschenfreundliche,
helfende, tapfere Gottheiten. An beide Paare hat sich früh ein weiterer
Legendenkreis, besonders betreffs ihres Ursprungs, geknüpft. — Es liegt
kein Grund vor, all diese Züge den Alces abzusprechen. Zwar Rosse
werden nicht erwähnt; aber da keinerlei simulacrum im Hain steht, ist
eben auch für kein Attribut Platz6).
Fest steht seit Müllenhoff : der Kult der Dioskuren umfaßte die Amphi-
ktyonie der Vandilier, und von den Alces leiteten sich7) die Könige der
Vandalen ab: sie nannten sich deshalb Asdingi8). — Ferner begegnen
die Dioskuren im Norden als Haddingjar 9) , die dort auch im Dual auf-
treten, und endlich heroisiert in der Heldensage als Härtungen.
^Müllenhoff, Ztschr. f. d. Alt. 12, 304f.; 30, 320f; vgl. o. S. 215 f.;
Sijmons in Pauls Grundriß 2 1, 677. — Golther S. 214f. , Meyer S. 394,
Mogk S. 677.
2) Germ. cap. 34. :?) Germ. cap. 40.
4) Siehe o. S. 217f. 5) Macdonell S. 51.
6) Literatur zu den Acvins siehe o.
7) Jord. cap. 22.
8) Ebenso heißt bei Dio ein Stamm der Vandilier: älter Hasdingos zu hazdi,
I wie es gotisch heißen würde, altnordisch haddr »Haar einer Frau«: also »Männer
mit weiblicher Haartracht« — man denke auch an die Stammsage der Langobarden.
9) Hyndl. Str. 23.
398 Viertes Kapitel.
Die Hasdinge waren » jugendliche streitbare roßbändigende Helden«
wie Agvins und Dioskuren 1). Von ihnen leitet Müllenhoff Balder und
Wali, Meyer Balder und Hother ab. Aber das Heldische und Hilfe-
bringende ist in keinem aller dieser Götter sichtbar. Dagegen ist durch
das Wesen der Hasdinge die wirkliche Existenz urgermanischer Dioskuren,
somit die Richtigkeit der Taciteischen Angabe sichergestellt2).
Ein Fortleben der Alces in der Edda ist außer in jener flüchtigen
Erwähnung der beiden Haddingjar nicht zu erweisen. Daß sich die Un-
zertrennlichen zu selbständigen Göttern wie Balder, oder etwa Loki und
Heimdall (als Vertreter von Nacht und Tag, Unter- und Oberwelt) ent-
wickelt hätten, widerspricht aller mythologischen Logik: zwei Brüder,
deren wesentlichstes Kennzeichen ihre Zusammengehörigkeit ist, verlieren
diese Zusammengehörigkeit nicht. Mit dem symbolischen Galgen Dokana
in Sparta und dem Wort ans Querbalken ist auch nichts anzufangen,
zumal eine Zugehörigkeit der Alces zu den Anses nicht beweisbar ist3).
Wir bleiben somit für das Wesen der Alces, soweit es sich ger-
manisch von dem der indogermanischen »Ritter« etwa differenziert hat,
auf Tacitus angewiesen. Da der bilderlose Kult und der Hain nichts
Spezielles bedeuten 4), vielmehr nur ein zeitliches Moment sind, bleibt als
Novum nur der weiblich aufgefaßte Priester. Einem solchen begegnen
wir ja öfter, und an den Priester der Nerthus neben der Priesterin des
Frey5) ist auch zu erinnern. Da nun für Agvinen und Dioskuren die
Werbung um die Sonne bezeichnend ist, so wird unter dem »praestdet
sacerdos muliebri ornatu« (wovor ein Satz ausgefallen sein könnte) wohl
die Tätigkeit eines Priesters zu verstehen sein, der bei einer »heiligen
Handlung« die Sonne vorstellt, während vermutlich Jünglinge die Alces
vertraten. Der »weibliche Haarschmuck« ist dann einfach Hauptzeichen
der Frauentracht für die »Frau Sonne«. — Auch des Tacitus »ostendäur<~
ist dann vielleicht so zu deuten, daß der Schauplatz gezeigt wird, auf
dem das Mysterium stattfand — wie bei der Nerthusfeier auch gewiß
derselbe, an dem die Epiphanie der Götter sich ereignet hatte6).
J) Sijmons S. 679.
2) Meyer sucht den Zusammenhang zwischen den indogermanischen und
den germanischen Gottheiten noch durch den Hinweis auf die spartanische
Dioskurenpriesterin zu stärken. — Über das Brisingamen siehe o. S. 215 (Golther
S. 216).
3) Im Beowulf sucht die Dioskuren Niedner (Ztschr. f. d. Alt. 42, 229)
nachzuweisen.
4) Germ. cap. 9.
5) Golther S. 229; siehe o. S. 207.
6) Bei den Dioskuren wird die Geburtsstätte gezeigt (Preller 1, 93); es
gibt Feste zu ihren Ehren (vgl. S. 105). Wie schade, daß zwischen ihrer Be-
nennung als Avaxreg (ebd.) und Alces keine Verbindung herzustellen ist!
§ 21. Außereddische Gottheiten. 399
Tanfana l).
Tanfana ist nach Tacitus2) die Hauptgöttin der Marsen: Germanicus
überfiel diese 14 n. Chr. beim Opferfest, ließ alles niederhauen und cele-
berrimum Ulis gentibus templum, quam Tanfanae vocabant, zerstören.
Der Name3) gehört nach J. Grimm zu tapas sanskritisch Hitze,
nach Müllenhoff zu altnordisch tafn Opfertier, lateinisch dapes, griechisch
d-uTivco; nach Kögel4) zu isländisch thamb Fülle.
Das Fest im Spätherbst, vielleicht auch der Name deutet auf eine
Göttin der Fruchtbarkeit, die Meyer5) mit Nerthus und Isis identifiziert.
Golther erinnert an Namen wie Fulla, Gefjon und deutet sie als Mutter
Erde6). Undenkbar wäre nicht, daß Tanfana gar kein Göttername wäre,
sondern die Bezeichnung eines religiösen Bezirks, einer >Amphiktyonie« ;
doch ist dies weniger wahrscheinlich.
Nehalennia7).
Tacitus8) nennt gleich nach der Trias Wodan — Donar — Tiu die Isis,
aber nur als lokal anerkannte Hauptgottheit: pars Sueborum et Isidi
sacriflcat unde causa et origo peregrino sacro partim comperi, nisi
quod Signum ipsum in modum liburnae figuratum docet advectam
religionem. Es handelt sich also um eine Gottheit, die an die Isis er-
innert9) und deren Attribut ein Schiff ist (nicht, wie bei Ing, ein
Schiffswagen). Sie ist mit Nerthus 10) gleichzusetzen und der sie verehrende
Teil der Sueben mit den Semnonen n), die die Nerthus verehren12); auch
der Haarschmuck der Sueben 13) konnte durch das Aufbinden des ganzen
Haars in einen Knoten auf dem Scheitel an die kahlgeschorenen Köpfe
der Isisdiener14) erinnern.
Mit der Nachricht des Tacitus ist früh 15) ein Fund zusammengebracht
worden: das Bild der Isis, gefunden in Deutz am Rhein und auf der
batavischen Insel Walcheren 1G) mit der Altarinschrift Deae Nehalenniae 17).
Die Göttin hat den Fuß auf den Steven eines Schiffs gestützt und hält
!) MogkS.373, GoltherS.458, MeyerS.422; Kögel, Gesch. d. d. Lit. 1, 19.
2) Ann. 1, 51.
3) Müllenhoff, H. Z. 9, 258; 23, 23.
4) Gesch. d. d. Lit. 1, 19. 5) S. 422.
6) Andere Deutungen ebd. S. 459 Anm.
7) Kauffmann, PBB. 16, 210, Mogk S. 374, Golther S. 463, Meyer S.420,
Much, PBB. 35, 324.
8) Germ. cap. 9.
9) Nicht durch das Schiff allein: M. Haupt, Moritz von Craun, S. 4.
10) Siehe o. S. 204 f. n) Germ. cap. 39.
32 ) Germ. cap. 40. 13) Germ. cap. 38.
.14j Wissowa S. 297 Anm. 3.
. 15) Kauffmann S. 219.
16) a. a. O. S. 219. 17) a. a. O. S. 211.
400 Viertes Kapitel.
ein Ruder1) — wie Isis, die Beschützerin der Seefahrer2). An der
Identität ist in der Tat um so weniger zu zweifeln , als in den Rhein-
gegenden noch spät3) volkstümliche Bräuche, ein Umzug mit einem fest-
lich geschmückten Schiff, Nachklänge des Isisdienstes verraten4). Auf
Walcheren hatte der heilige Willibrord noch 694 ein Heiligtum, wohl
das der Nehalennia5), zu zerstören.
Der Name6) wird am besten zu urgermanisch nawo Schiff (mit
einem Suffix wie in Baduhenna) gestellt: »zu den Schiffen gehörig«.
Andere haben es zu griechisch vtxvg gestellt, was Wahrscheinlichkeit nur
hätte, wenn Nerthus, wie man ja auch vermutet hat, eine chthonische Gott-
heit wäre. Sie könnte die »Göttin der Schiffstätte« sein, wie Njord in
Noatün wohnt; dazu paßt das, allerdings dem Isiskult entlehnte, Bild.
Bei ursprünglicher Identität mit Isis -Nerthus muß man aber doch
eine Differenzierung annehmen, schon wegen des Namens. Die Gottheit
des Verkehrs ist einerseits eine Schutzgöttin des Gedeihens und der Frucht-
barkeit, anderseits der Schiffahrt geworden.
Ihr Kult war verbreitet: es opfern ihr die Schiffer von der Nordsee-
küste7) und zwar nicht bloß die germanischen: wie Germanen rein
römische Gottheiten, so verehren8) Fremde diese (freilich von antiker
Färbung nicht freie) germanische Gottheit, weil sie die Schutzherrin der
Küstenschiffahrt an diesen Küsten ist. Aber sie fassen sie eben als Isis
auf: deshalb wird sie wie diese mit Serapis9) vereint, aus spezifischen
Gründen noch mit dem großen Weltreisenden Herkules. Wenn aber
Kauffmann damit den Bericht des Tacitus10) von der Ankunft des Herkules
und den Herkulessäulen an der Rheinmündung in Verbindung bringt
und auch noch den Ulixes11), dessen Irrfahrten mit denen des Herkules
identifiziert worden seien, kann ich nicht mehr folgen12). Noch weniger
bei dem Versuch, Nehalennia mit Mardöll 13) zusammenzubringen 14).
Baduhenna 15).
Bei Tacitus16) heißt es: apud lucum quem Baduhennae vocant
(Ausdruck wie bei Tanfana) sind 28 n. Chr. 900 Römer gefallen. Der
lucus und die Analogie der Tanfana lassen auf eine Göttin schließen.
x) Golther S. 465. 2) Wissowa S. 395.
3) 1133 Jülich, Maestricht.
4) Golther S. 467 f. Auf suevischem Boden in Ulm noch 1530.
B) Kauffmann S. 229, Golther S. 476.
6) Kauffmann S. 215f. 7) Ebd. S. 224.
8) Ebd. S. 226. 9) Ebd. S. 221. 10) Germ. cap. 34.
1V) Germ. cap. 3. 12) Vgl. o. S. 193.
13) Vgl. o. S. 221. ") Kauffmannn S. 234.
15) v. Grienberger, PBB. 19, 531; Golther S. 459; Meyer S. 268;
Mogk S. 374; Much, Himmelsgott, S. 247.
,6) Ann. 4, 73.
§ 21. Außereddische Gottheiten. 401
Der Name1) gehört jedenfalls zu badu Kampf, komponiert oder mit
demselben Suffix wie Nehalennia; nach Grienberger zusammengesetzt mit
winna Streit, Eifer, also ein Walkürenname wie Baduhild. Es ist wohl
eine zu besonderer Verehrung aufgestiegene Idis.
Dea Sandraudiga2).
Ein Stein in Nordbrabant, von den cultores templi (althochdeutsch
haragari)2) gestiftet, ist der Dea Sandraudiga geweiht. Man leitet den
Namen von sandr »wahrhaft« — sehr abstrakt — und gotisch audags,
reich ab: »Göttin des wahren Reichtums« (im Gegensatz zu welchem
anderen?). Ich habe4) vorgeschlagen, vielmehr die Bestandteile sand
und raud anzunehmen : die Göttin, die den Sandstein rötet (aus dem der
Tempel gebaut sein wird).
Dea Vercana5).
Der Name stimmt genau zu dem Beinamen iQyavrt der Athene —
die Wirkerin, die Göttin des Spinnens und Webens 6). — Sie könnte aus
Frigg abgeleitet sein; doch ist es vielleicht auch eine selbständige Göttin
der Steinarbeit (vgl. Sandraudiga)7).
IAlaisiagrae8).
Trotz Siebs und v. Amira kann der von Heinzel aufgedeckte Zusammen-
hang mit bodthing und fimelthing nicht zufällig sein. — Weinhold 9)
deutet alaisagiis »Gesetzsprecherinnen« (vgl. den Terminus esagö). Anders
Kauffmann10): »die Allhilfreichen«, Siebs »die gewaltig Einherstürmenden«.
Es sind wohl die Rechtsgöttinnen der Heergemeinde, für regelmäßige
und außerordentliche Thinge.
Die Mütter11).
Hier steht es umgekehrt wie bei Nehalennia: die Germanen nehmen
den römischen Matronenkult an, zu dem ihre Verehrung der Frau sie
1) Müllenhoff, H. Z. 29, 240.
2) Much, H.Z.35,328f.; v. Grienberger, H. Z. 35, 389. — Golther S. 470.
3) Golther S. 614.
4) Ark. f. nord. Fil. 19, 249.
5) Much, H. Z. 31, 357; Golther S. 476: auf dem Rande einer Brunnen
schale und auf einem Stein bei den Nemetern (Enstweiler bei Zweibrücken) ;
6) Prell er 1, 121; nicht symbolisch zu deuten ebd. 209, 2.
7) Ein chinesischer Gott des Baugewerbes: Groot, Kultur der Gegen-
wart, S. 177. Mexikanischer Gott des Obsidianmessers: Sei er, Verh. d. Berl.
Anthropol. Ges. 1898 S. 169 f.
8) v. Amira in Pauls Grundriß 1, 58. 207; Siebs, Ztschr. f. d. Phil.
24, 433. — Golther S. 460; weitere Literatur siehe bei Mars Thingsus. —
Henning, Ztschr. f. d. Alt. 42, 193.
9) Ztschr. f. d. Alt. 21, 1. 10) PBB. 16, 201.
u) Kauffmann, Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1892, S. 24f.; Golther S. 468.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 26
402 Viertes Kapitel.
hinführte. (»Sie glauben, daß die Frau ein besonderes Verhältnis zu den
Göttern und daher einen Blick in die Zukunft besitze« : messe quin etiam
sanctum quoddam et providum putant) x). Man könnte jene von ihnen
verehrten Seherinnen, Veleda, Albruna2) geradezu als Obergangsstufen
auf dem Wege zum Matronenkult bezeichnen. — Heilige Frauen werden
angerufen und mit germanischen Beinamen versehen. Golther faßt diese
Beinamen lokal auf, Much3) als spezialisierend:
Afliae, zu altnordisch afl, afli Kraft, vgl. lateinisch Ops, die Ver-
körperung des schweren Erntesegens4), nach Much5).
Vajtviae (Dat. Vatvims): zu gotisch vato Wasser, die Bewässernden6).
Nersitenae, zum Flüßchen Neers, einem Nebenfluß der Maas7).
Gabiae8), Alagabiae, die Schenkenden, Reichschenkenden.
Aufaniae (besonders häufig), zu althochdeutsch Präposition üf(wic
Iduna zu id)? die Emporbringenden9).
Vapthiae, Vaftiae, Vahtiae (mit niederhochdeutsch ht = hoch-
deutsch ft) »Hüterinnen«10).
Suleviae (nie mit dem Zusatz »Matronae«, ziemlich häufig): mit
su- »gut« wie in Sugambri und lev gotisch »Gelegenheit«: »gute Gelegen-
heit schaffend« (?)n).
Alaterviae, zu terwa, dru »Holz«, Treue12), »die Allkräftigen« 13).
Arvagastis, die freigebig Begastenden u).
Annanept(i)ae zu neptiae Verwandte?
Saitchamae zu seidr Zauber und altnordisch hamja »hemmen«,
die Zauberschwächenden 15).
Matres Gavadiae zu wadan: Göttinnen der Furt16).
Gelten diesen Göttinnen die disablöt der nordischen Sagen 17 ), die
Opfer an heilige Frauen18)?
x) Tac. Germ. cap. 8.
2) Ebd.
3) Ztschr. f. d. Alt. 31, 354; 35, 315 im Anschluß an Kern.
*) Wissowa S. 168.
5) H. Z. 31, 387; vgl. 35, 316.
6) a. a. O. 35, 317.
7) Much, Himmelsgott, S. 262.
8) Meyer S. 213 vergleicht Gefjon.
9) Much S. 317.
10) Ebd. S. 318. u) Ebd. S. 319.
12) Vgl. Ost hoff, Etymologische Parerga I.
13) Much. u) Ebd. S. 320.
15) Ebd. S. 322; vgl. o. S. 149.
16) Golther S. 470.
17) Mogk S. 385.
18) Über die römischen Matronen vgl. Ihm, Mütter und Matronenkult,
Bonner Jahrbuch 1887, Heft 83, S. 1 f. : es sind spendende Gottheiten.
§ 21. Außereddische Gottheiten. 403
Requalivahanus x).
Ein Stein aus dem zweiten Jahrhundert, 1883 in der Nähe von
Blatzheim bei Cöln gefunden, trägt die Inschrift Deo Requalivahano
Q. Aprianus fructus ex imperio pro se et suis v. s. I. m.
Der erste Teil des Namens ist sicher rekvas , gotisch riqis , alt-
nordisch rökkr Dunkelheit 2). Der zweite Teil wird verschieden gedeutet :
zu altnordisch Ufa Leben3); oder liwa Hinterlassenschaft; oder liwaz
lividus4); oder liwa Gewässer: Gott des dunklen Gewässers5).
Eine chthonische Gottheit wird wohl gemeint sein; doch besitzen
wir keine Spur von einem germanischen Pluto6). Meyer rät auf Mimir;
Kauffmann nimmt ihn in den Komplex seines großen Waldgottes auf.
Haben wir Mimir richtig gedeutet, so könnte der Stein ihm gelten; aber
wir tappen eben im Ungewissen.
Vermischte weitere Namen7).
Eine batavische Inschrift nennt Haiva im Verein mit Hercules Magu-
sanus; vielleicht Sif8)?
Dea Garmangabis9): »die aus der immer bereiten Fülle des
Reichtums Spendende«10)? oder zu Garmani-Germani u)?
DeaVagdavercustis zu »wirken«: »die Lebenskraft Wirkende« 12)?
Dea Hariasa13) und Dea Hari mella14), von Cöln und vom
Hadrianswall ; die Namen zu hari Meer (Meyer: »die Verheerende« und
>die Meerglänzende«) sind wohl Walküren, Göttinnen bestimmter sieg-
reicher Heere) 15).
Vihansa16) ist wohl ebenfalls eine Kriegsgöttin.
x) Holthausen, PBB. 16, 342; Much und Schroeder, H. Z. 35, 375;
Kauffmann, PBB. 18, 190; Roediger, Ztschr. f. d. Phil. 27, 12; v. Grien-
berger, PBB. 19, 528. — Golther S. 405, Meyer S. 281.
2) Wie in gotischen Namen: Reccared, Recceswinth ; Koegel, Anz. f. d.
Alt. 18, 59.
3) Holthausen, Kauffmann.
4) Much.
5) Vgl. Ortsnamen wie Schwarzleo, Schwarzbach: Grienberge r.
6) Golther S. 406.
7) Vgl. allgemein Mogk S. 374, o. S. 159.
8) Much, H. Z. 39, 51 ; Siebs, Ztschr. f. d. Phil. 14, 461; Mogk S. 374;
vgl. o. S. 306.
9) v. Grienberger, H. Z. 38, 189; Golther S. 470 Anm. 3; Kauff-
mann, PBB. 20, 526.
10) Kauffmann, der sie der Nerthus gleichsetzt.
») Vgl. Bremer bei Paul 1, 379.
1>2) v. Grienberger, H. Z. 35, 393.
13) Golther S. 470, 3. 14) Meyer S. 13. 268.
15) Ebd.; Hariasa auch S. 289; siehe o. S. 159.
16) Meyer S. 13, Mogk S. 374.
26
404 Viertes Kapitel.
Fortuna, neben Donar - Herkules , Victoria, neben Ziu-Mars,
Felicitas, neben Wodan-Mercurius auf den Votivtafeln der batavischen
Reiter1) sind wohl einfach die römischen Gottheiten (wie Serapis neben
Nehalennia) 2). Sonst könnte man auf Sif, Fulla und eine Walküre
raten. —
§ 22. Angebliche Göttinnen3).
J. Grimm erschloß eine Göttin Eostra Morgenröte = Auströ, indisch
Ushas, Eos Aurora nach Baeda de temporum ratione cap. 13. Meyer4)
ist geneigt, daran festzuhalten; Mogk5) hält sie für eine aus der Aurora
entwickelte Frühlingsgottheit. Da aber alle weiteren Spuren fehlen, bleibt
wahrscheinlicher, daß Baeda sein Eostre aus dem Eostarmonath nur
abstrahiert hat; auch heißt sonst kein Monat bei den Germanen nach
einer Göttin.
Ebenso sind von J. Grimm6) andere Göttinnen (Hrudda , Ricen,
Zisa: aus Cisburg Augsburg oder Zistag gefolgert)7) vermutet worden,
die »aus den Glaubensvorstellungen der alten Deutschen zu streichen
sind« 8).
Ober die Möglichkeit, daß Tanfana ein Bezirksname wäre, siehe
oben 9).
Mehrfach sind auch bloße Dämonen und Wettergeister wie Frau
Holle, Berchtha u. a. 10) mit Unrecht für alte Göttinnen erklärt worden.
') Mogk a. a. O. 2) Siehe o. S. 159.
3) Golther S. 488, Meyer S. 424.
4) S. 423; ebenso Kluge, Ztschr. f. d. Wortf. 2, 42 f.
5) S. 374. 6) Mythol. S. 266 f.
7) Vgl. Golther S. 489, 2. 8) Golther S. 489.
9) Siehe o. S. 399. 10) Golther S. 489f.
Fünftes Kapitel.
I Der Kultus .
Kult kommt 2) schon auf den untersten Stufen vor, beim Fetischismus
sogar wahrscheinlich lebhafter als beim Animismus, die Ahnengeister aus-
genommen, und Dämonismus. Aber der festorganisierte, früher oder
später Tempel und Priester fordernde Kult ist nahezu ein Rangzeichen
der Götterverehrung.
Es handelt sich wesentlich um folgende Dinge: zunächst Opfer (und
andere Darbringungen), dann Tempel (und Kultstätten).
Die allgemeine Entwicklung skizziert Mogk3): Gebet und Opfer sind
als Bestechungsmittel den Oberirdischen gegenüber uralt; es entwickelt
sich aus diesem Gebrauch ein Stand von Fachmännern : die Priester. (Etwa
wie der Verkehr mit Gerichten und anderen Behörden die Anwälte nötig
macht.) Ebenso wird aus dem beliebigen Platz der Anbetung der Tempel,
aus der beliebigen Gelegenheit das offiziell bestimmte Fest; vor allem aus
der individuell gefärbten Art der Darbietung der feste Ritus. Diese Dinge
stützen sich gegenseitig: die Priester kontrollieren das Ritual; der Tempel
gehört den Priestern; der Tempel und die Priester halten das Fest aufrecht4).
Die Riten sind je nach der Natur der Gottheit verschieden gefärbt,
doch bleiben unvermeidliche Grundformen : Anrufung — Opferhandlung —
Annäherung an den Gott, dessen Erscheinen vorausgesetzt wird — Ent-
lassung (yite missa est«, die Formel, aus der das Wort »Messe« erwachsen
ist). Ferner wirkt natürlich jeder frühere Kult auf jeden späteren ein, so
insbesondere auch der heidnische auf den christlichen5).
*) Mogk S. 383f., Golther S. 544f. (der Kultus und die gottesdienst-
lichen Formen <), Meyer S. 295 f. — Vgl. auch Chadwick. The cult of Odin;
siehe o. S. 239 f. — Indogermanischer Kultus: O. Schrader, Aryan Religion, S.40f.
2) Siehe o. S. 35. 3) S. 383.
4) Bei den akkuraten Römern ist der Umgang mit den Göttern rechtlich ge-
ordnet: das ins sacrum erheischt, bei Verletzung seiner Vorschriften eine Buße,
wie das weltliche Recht seine multa (Wissowa S. 329). — Vgl. allgemein über
religio W. Otto, Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 533; vgl. o. S. 64.
5) Über die Umwandlung und das Fortleben des heidnischen Kultus christ-
licher Zeit die berühmte Anweisung des Papstes Gregor an den Erzbischof
Augustin (Golther S. 544; allgemein Meyer S. 4341), die freilich zu viele christ-
liche Umformungen und Mischungen annimmt.
406 Fünftes Kapitel.
§ 23. Gebet und Opfer1).
Das Gebet ist das prius: die unmittelbare Bitte, an den gerichtet,
von dem man die Erfüllung eines Wunsches erhofft2). Aber auch für
das Gebet bilden sich feste Formen, mindestens für das feierliche Gebet,
das aber wohl auf Fälle beschränkt ist, in denen die Ergänzung durch
eine Opferhandlung durch vis maior ausgeschlossen ist: in dringender
Not, z. B. in der Schlacht, wie Häkon Jarl die Thorgerd anruft; bei
plötzlichen Anlässen wie dem Anblick einer göttlichen Erscheinung; oder
wenn die Art des Opfers erst festgestellt werden soll3).
Wie wird das Gebet formuliert4)? Die einzige Stelle, in der
ein wirkliches Gebet in der Edda wiedergegeben scheint, ist Sgdr. Str. 3 — 4.
Es ist das Gebet der aus dem Schlaf geweckten Walküre, ein feierliches,
zweiteiliges Morgengebet5). Die erste Strophe begrüßt wohl nicht8) die
(späten) Gottheiten Tag und Nacht samt ihrer Abstammung — die würden
nicht vor den Äsen genannt werden. Und eine Umstellung der beiden
Strophen ist nicht möglich, da die Interpolation der Heilrunen an den
Schluß der zweiten anknüpft. Vielmehr begrüßt die Erwachende ganz
eigentlich den Tag, der sie ins Leben einführt, und die darauf folgende
Nacht (eine durch die Situation geforderte Umstellung von Tac. Germ.:
nox ducere diem videtur). Ihre Kinder (auch nipt pluralisch zu fassen) 7)
sind die Stunden und Abschnitte des Tages. Also eine Art Augenblicks-
gott: dieser Tag und seine Sippe, zu der auch die Nacht, gleichsam
seine Frau, gehört, sollen segnend herabschauen. — In der zweiten Strophe
folgt dann das (wahrscheinlich herkömmliche) Gebet an Äsen und Asinnen
und die ihrem Schutz unterworfene Erde8).
*) Mogk S. 384f., Golther S. 559. — O. Schrader a. a. O. S. 42.
2) Es ist möglich, daß sogar der eine Modus des indogermanischen Verbs,
der Konjunktiv, unmittelbar die Gemütsstimmung des Menschen ausdrückt, der
von höheren Mächten eine Gewährung erbittet.
3) Wie Helg. Hjörv. Str. 7. — Opfer ohne Gebet hält für das älteste
J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 468.
4) Vgl. allgemein meine Altgerm. Poesie S. 389.
5) Für das hohe Alter der Form zeugen finnische Parallelen; s. Ohrt,
Kalewala, S. 138, vgl. S. 125.
6) Wie z. B. Gering z. d. St. oder Heinzel-Detter S. 425 annehmen.
7) Vgl. Heinzel-Detter a. a. O.
8) Außerhalb der Edda finden wir ein Gebet bei dem Araber Ibn Fadhlan
wiedergegeben. Die Nordgermanen liegen vor den Göttersymbolen und sprechen
sie an: »Mein Herr, ich bin aus fremden Landen gekommen, führe so und soviel
Mädchen mit mir usw.< (Mogk S. 398; vgl. u.); was aber doch nicht als
authentischer Text gelten kann. — Eine allgemeine Angabe auch Hyndl. 2: »Laß
uns Heervater bitten, seine Huld zu gewähren — «. — In andern alten Dichtungen
sind dagegen ausführliche Gebete überliefert, so gleich im Anfang der Ilias die
feierliche Anrufung des Apollon durch Chryses.
§ 23. Gebet und Opfer. 407
Dies Gebet hat die Form, die wir nach allen Analogien beinahe
a priori erwarten dürften. Man kann sie definieren als die Form des
Zauberspruchs mit Weglassung derjenigen Elemente, die
auf symbolischerNachahmung der rituellen Handlung be-
ruhen1).
Die feierlichen Schmuckmittel der pathetischen Rede sind dem Gebet
und dem Segen gemein : Anapher, Parallelismus, zeremonielle Anordnung,
formelhafte Rede.
Was die Haltung beim Gebet betrifft2), so neigte man sich;
daß Häkon sich vor Thorgerd niederwirft, scheint Übertreibung der üblichen
Art. Die Hände werden vors Gesicht gehalten oder der Blick zum Himmel
gerichtet — symbolische Gebärden der Demut der Gebundenheit. Üblich
scheint die Wendung nach Norden (die der Christen nach Osten)3).
Das Haupt wird wohl entblößt, »wenigstens heißen gotische Priester
ausdrücklich pileati , mit Hüten versehen, weil sie bedeckten Hauptes
opferten4)«.
Vielfach werden besondere Zurü st un gen vor dem Gebet erfordert,
insbesondere Waschungen, zuweilen auch teilweise Entkleidung (Ablegen
der Schuhe, der Waffen u. dgl.). Hierüber ist uns bei den Germanen
nichts überliefert; doch kann die alte Formel beim Rachegelöbnis: vorher
sich nicht das Haupt zu kämmen, noch die Hände zu waschen5), hier
angezogen werden6).
Ein regelmäßiges Gebet ist nicht vorauszusetzen: wo regelmäßige
Anrufung der Gottheit üblich ist, geschieht sie wohl in der Form des Opfers.
1) Form der Segens- und Zaubersprüche: Eber mann (siehe u.). Besonders
altertümlich Gebete um Regen: J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 439 f.
2) J. Grimm, Mythol. 1, 28f.; Golther S. 559.
3) Vgl. allgemein — für die Anlage der Tempel — Nissen, Orientation,
Berlin 1906.
*) Golther a. a. O. — Die römischen Priester verhüllen das Hinterhaupt
durch die hinaufgezogene Toga (Wissowa S. 331, 1), nur der Flamen
Dialis und die Salier tragen beim Opfern altertümliche Kopfbedeckungen
(ebd. S. 429) — also die gleiche Verschiedenheit.
5) Völ. Str. 39.
6) So muß sich der indische Opferer baden (z. B. Hillebrandt S. 105);
Aaron und die Priester werden bei der Einsetzung gewaschen (3. Mos. 8, 6). —
Bedenkt man die alte Wichtigkeit der Haartracht (Hillebrandt S. 7, wo auch
auf die Hazdingen Bezug genommen wird; vgl. Germ. cap. 38 über die Sueven,
siehe o. S. 399), so wird man auch ein festliches Zurechtmachen des Haares vor
dem Opfer erwarten dürfen. Das Gebet ist aber eben nur ein kleines Opfer.
Jene Formel also bedeutet, daß der Beschimpfte als unrein nicht vor die Götter
treten will, ehe er sich »den Fleck von der Ehr« weggewaschen hat; wie die
Chatten (Germ. cap. 31) sich erst Haar und Bart schneiden, wenn sie sich mit
Feindesblut gereinigt haben. Man denke noch an das »Decrassieren der studen-
tischen Füchse.
408 Fünftes Kapitel.
Eine spezifische Form des Gebets, d. h. der Anrufung der Götter
stellen Eid und Gelübde gar, in der Edda nicht selten erwähnt1). Es
sind dafür auch symbolische Riten aufgekommen, die man als Eventual-
Opfer bezeichnen kann. »Der Krieger geht hinaus aufs freie Feld, er
legt Schwert und Schild vor sich nieder und wünscht, daß, wenn er
seinen Eid breche, seine Waffen ihm nicht hilfreich sein, sondern sein
Verderben werden möchten«2). Also: falls der Schwörende lügt, sollen
seine Waffen nicht mehr ihm gehören, sondern seinen Feinden3).
Feierliches Aussprechen von Segen und Fluch, an sich 4) zaubermäßig,
kann durch begleitende Anrufung von Göttern Gebetscharakter erhalten5).
Das Opfer6), obgleich rein psychologisch aus der Anrufung erst
entwickelt, die es voraussetzt, ist doch in dem Leben aller Primitiven so
durchaus herrschend geworden, daß eben schließlich das Gebet nur als
verkürztes Opfer erscheint. (Es ist etwa ein Verhältnis wie zwischen
Metapher und Gleichnis: das ausgeführte Gleichnis ist uns jetzt so un-
bedingt die natürliche Form der Vergleichung geworden, daß die Stilistik
die Metapher schlechtweg als »verkürztes Gleichnis« erklärt, obwohl die
unmittelbare Metapher, auf die Scherer zuerst hinwies, gewiß ursprüng-
licher ist.) Mindestens haben wir aus den alten Oberlieferungen diesen
Eindruck. Auch wird er schwerlich täuschen; denn es ist dem Wilden
undenkbar, eine Gabe zu erwarten, wo dem Gebenden nichts geboten
wird7). >Gabe« und »Hoffnung« sind ein Paar Runennamen8).
Da aber die Götter schenken sollen, muß der Mensch spenden 9) :
Mann mit zugeknöpften Taschen,
Dir tut keiner was zu lieb;
Hand wird nur von Hand gewaschen —
Wenn du nehmen willst, so gieb. i Goethe.)
x) Meine Altgerm. Poesie S. 51.
2) Olrik, Altnord. Geistesleben, S. 35; daher auch der Eid erschüttert mit
alten Götterglauben, ebd. S. 111.
3) Saxo läßt bei Licht und Luft schwören (S. 142: Herrmann S. 189).
Vgl. allgemein R. Hirzel, Der Eid, Leipzig 1902; besonders: Der Eid als
Bürgenstellung S. 23, Der Eid ein Fluch S. 137, Der ogxog als Dämon S. 142,
Zur Entstehung des Gelöbniseides S. 214 f.
4) Siehe o. S. 138.
r>) Über die Form meine Altgerm. Poesie S. 384.
6) Mogk S. 3851, Hillebrandt S. 14: Wissowa S. 28 f. 344f.
7) Vgl. meinen Aufsatz Zur Geschichte des Schenkens, Aren. f. Kultur-
gesch. (1897) 5, 17 f.
8) Vgl. über die Natur des Opfers o. S. 11. Die Behauptung, das Opfer
sei zuerst Zauber (Mogk, Menschenopfer, S. 694) muß ich für einen Einzelfall
der augenblicklich herrschenden Unterschätzung des Zaubers halten; vgl. Arch.
f. Rel.-Wissensch. 9, 10 f. 10, 88 f.
9) Vgl. J. Grimm, Über Schenken und Geben, Kl. Sehr. 2, 174.
§ 23. Gebet und Opfer. 409
Demnach ist auch Maß und Art des Opfers wichtig, wie bei jeder
Bestechung:
Im Unmaß opfern ist ärger als gar nicht beten.
Gabe schielt stets nach Entgelt1).
Wer zu viel gibt, fordert zu viel; wer zu wenig spendet, beleidigt, wie
König Olaf, der dadurch seinem Volk ein Mißjahr zuzieht2), während dem
fleißigen Opferer Ottar3) die Göttinnen verpflichtet sind. — Jünger
scheint die Verwendung des Opfers als reine Dankesgabe. — Die Wichtig-
keit der richtigen Form beim Opfer versteht sich von selbst4).
Gemeingermanischer Terminus gotisch, angelsächsisch blötan, alt-
nordisch blöta, althochdeutsch pluozan, opfern, »einen mit Opfer
ehren«5). Daneben früh das Fremdwort Opfer ön zu lateinisch operäri
Almosen spenden, altsächsisch qffrön, angelsächsisch offrian zu lateinisch
qfferre6) — sonderbar, daß zwei ganz verschiedene lateinische Worte
germanisch in so ähnlich aussehende Worte von gleicher Bedeutung
münden sollen! — Für »Opfer« ist ein gemeingermanischer Ausdruck alt-
hochdeutsch kelt, angelsächsisch gield, neuhochdeutsch »Geld«, eigentlich
etwa »Tribut«. Gewisse Arten des Opfers werden gotisch mit hunsl
und sauths , altnordisch hüsl , altnordisch forn, angelsächsisch läc1)
bezeichnet.
Es ist zu fragen: wem opfert man? weshalb? wer opfert? was wird
geopfert? wo? wie? wann?
Wem wird geopfert? Allen übermenschlichen Wesen s): dem
Fetisch, den freigewordenen Seelen, den Dämonen (und zwar besonders
den Elfen im Norden, überall den Quellen-, Wald-, Berg-, Hausgeistern,
sowie den Fruchtbarkeitsdämonen)9). So reicht noch heute das erz-
gebirgische Mädchen den Wassergeistern die erste von ihr gearbeitete
Spitze, der österreichische Bauer spendet noch jetzt den Winddämonen;
Spuren von Berg- und Hügelkult10) leben vielleicht noch in den Höhen-
feuern fort, Sonnensymbole vielleicht in den Rädern der Festfeuer11).
Ebenso bedeutet das Feuer von vornherein etwas Festliches, wie man zum
') Häv. Str. 144.
2) Golther S. 564. 8) HyndL Str. 10.
*) Vgl. o. S. 134f.; vgl. Hillebrandt S. 18f.
5) Golther S. 559.
6) Kluge, Etymol. Wörterbuch5, S. 276.
T) Eigentlich wegen der damit verbundenen Bewegung? Mogk S. 384.
*) Siehe o. S. 30 f.
9) Vgl. Mogk S. 385.
10) Meyer S. 387.
u) Dagegen muß man sich nach Höflers berechtigter Warnung (Arcli. i.
Rel.-Wissensch. 12, 345) hüten, in jedem runden Kringel ein Sonnensymbol zu
erblicken.
410 Fünftes Kapitel.
Gruß für den Gast das Herdfeuer auflodern läßt. Doch weil das Feuer bei
vielen Opfern als reinlichste Form der Zurichtung benutzt wird, gilt es
an sich als gottesdienstlich, so daß jede auffallende Verwendung des
Feuers mindestens die Frage legitimiert, ob nicht ein alter Opfergebrauch
vorliegt1). — Vor allem aber wird den Göttern geopfert.
Oft steht die Auswahl frei; in anderen Fällen ist nur Ein Gott
kompetent, sei es nach sachlicher Beschränkung (Odin für Sieg, Frigg für
eheliches Glück), sei es nach lokaler Begrenzung (Gefjon, Forseti) oder
regionaler Vorliebe (Frey in Schweden, Thor auf Island). Wo mehrere
Götter zur Verfügung stehen, liegt die Gefahr nahe, daß man den be-
leidigt, den man nicht lädt, was besonders griechische Mythen zeigen2).
Man kann sich besonders auch einen Patron für das Leben wählen,
wie Thors Verehrer Thorolf in Norwegen und Island, Thorhall in Grön-
land, oder wie Hrafnkell und Thorkell den Frey wählen3); das Patronat
ersetzt dann, wie bei katholischen Heiligen, alle speziellen Kompetenzen.
Solche Verehrer weihen dann auch ihre Kinder, namentlich die Söhne,
dem Schutzpatron : Thorolfs Sohn heißt Thorstein , dessen Sohn Thor-
grirh4). Ebenso benennt man Orte nach den Lieblingsgöttern: Thorolf
nennt ein Vorgebirge Thorsnes, wie die spanischen Conquistadoren Trinidad
oder Vera Cruz auf die Landkarte brachten. — Für die Könige ist Odin
fast selbstverständlich Patron. Eine besonders persönliche Wahl scheint
in Häkons Verhältnis zu Thorgerd vorzuliegen. — Für die Mädchen und
Frauen ist Freyja da, zu der Thorgerd Egills Tochter fahren will5).
Dies persönliche Verhältnis kann einen fast fetischistischen Charakter
annehmen, wie bei Häkon, und kann deshalb auch umschlagen: Grindell
legt Feuer an Thorgerds Tempel, weil sie ihn verläßt6); Hjalli Skeggjason
schilt als Christ seine früheren Hauptgottheiten7).
Natürlich gibt es auch hier Moden : Gottheiten kommen in Vergessen-
heit wie Hönir, treten in den Hintergrund wie Tyr, gewinnen neue Be-
deutung wie Frey (wie etwa St. Expeditus ein ganz moderner Lieblings-
heiliger ist-8). Religiöse Parteiungen bilden sich ; man versucht es dann
wohl auch mit verschiedenen Patronen oder begnügt sich mit den Drei
heiten, die einen offiziellen Kompromiß darstellen (Odin, Thor, Frey)9)
1) Vgl. allgemein Golther S. 560.
2) Streit um den Opfergenuß zwischen Zeus und Poseidon (Prell er 1, 94— 95)
vgl. Äsen und Wanen Völ. Str. 23.
*) Golther S. 557.
4) Ebd.; über solche theophore Namen überhaupt Golther S. 247, 3
Mogk S. 356.
") Golther S. 440. 6) Golther S. 484. 7) Ebd..S. 439.
8) Vgl. Delehaye, La legende hagiographique , S. 54; vgl. Vossischt
Zeitung 24. Okt. 1908.
9) Vgl. z. B. die attische Kompromiß'-Zweiheit Athena-Poseidon Prell er 1,203
§ 23. Gebet und Opfer. 411
Wer opfert? Von vornherein: Jeder, der göttlichen Beistand braucht.
Für die Familie tritt ihr natürlicher Vertreter, der Vater, ein1), wie bei
den Römern2) und überall. Dies dauert bei den Germanen bei den
privaten Opfern fort; daneben aber treten öffentliche ein3): schon
auf der dämonistischen Stufe beim Ahnenkult, später bei Stammgottheiten
und Patronen gemeinschaftlicher Angelegenheiten (Ernte, Krieg). Für die
Germanen scheinen in dieser Verstaatlichung des Gottesdienstes Epoche
zu machen: erstens altgermanische Gottheiten verschiedener Art, von den
Amphiktyonien frei gewählt (Ing, Isto, Irmin). Zweitens ebenfalls noch in
altgermanischer Zeit Gottheiten , deren Feste werbende Kraft besaßen :
Nerthus, die Alces. Es sind wahrscheinlich — bei Nerthus beinahe sicher —
Stätten lokaler Epiphanie, gerade wie an solchen auch heute noch Wall-
fahrtskirchen entstehen. Hier bilden sich zuerst Tempel und an diesen
ein Priesterstand. Drittens in dialektischer Zeit in Deutschland Wodan und
Tyr-Saxnot, im Norden Frey, auch Thor, — Kriegs-, Staats- und
Landgötter. — Sobald der Kult zentralisiert ist, opfert der Priester, in
Staatsangelegenheiten auch der Fürst.
Priesterinnen kommen schon früh vor (im Dienst des Frey); auch in
Island gibt es neben dem godi die gydja. Als der Missionär Thorvald
in Hvanum predigte (um 984, im Westen von Island), war Fridgerd im
Tempel und brachte ein Opfer dar — Priester und Priesterin konnten
sich gegenseitig hören4).
Craigie schließt aus dem lang andauernden Fehlen eines eigenen
Priesterstandes auf eine große Religiosität des ganzen Volkes5); es ist
auch der umgekehrte Schluß zulässig. Doch läßt die Existenz einer starken
Priesterschaft (wie bei Ägyptern und Kelten) wohl eher auf die Art als
auf die Intensität der religiösen Empfindungen im Volk schließen. Die
Völker mit der größten Leidenschaftlichkeit religiöser Empfindung scheinen
sich übrigens fast überall an St. Bernhards nn ecclesia taceat mulier«,
im Tempel hat die Frau nichts zu sprechen, gehalten zu haben6).
') Mogk S. 388.
2) Wissowa S. 345.
3) Golther S. 560. 573, vgl. 610; Meyer S. 296; Mogk a. a. O.
4) Craigie S. 66.
5) S. 67.
6) Bei den Indern sind vom Opfern ausgeschlossen eine Frau, außer in be-
stimmten Fällen, wo sie ihren Gatten vertritt, und ein nicht geweihter Opferer;
aber auch statt des Hausherrn wird öfters ein Brahmane, wenigstens im Symbol
gefordert (Hillebrandt S. 70). Auch das Judentum schließt die Frau vom Opfer-
dienst aus (Löhr, D.Stellung des Weibes zu Jahves Religion und Kult, Leipzig
1908, S. 51, nach Berthoiet, D. Lit-Zeitg. 1909 S. 1939). - Während die
Feierlichkeit der Opferhandlung bei den Indern weitaus am weitesten getrieben
ist, nähert sie sich bei den Römern nüchterner Alltäglichkeit (vgl. Wissowa
412 Fünftes Kapitel.
Weshalb wird geopfert? Vor allem, wie schon ausgeführt,
zum Zweck einer Einwirkung auf die höheren Mächte: Bittopfer; selten
sind Dankopfer, dagegen begegnen später auch Sühneopfer1), die eine
göttliche Strafe abkaufen sollen und also eigentlich nur einen Einzelfall
der Bittopfer darstellen2).
Am häufigsten sind Opfer für Fruchtbarkeit und Sieg; daneben wird
für andere Zwecke in entscheidenden Momenten geopfert: bei gebärenden
Frauen, bei schwerer Krankheit oder Seuche, für Vaterrache, für glück-
liche Fahrt, Reise, Unternehmung3).
Was opfert man? die Hauptfrage. Man bringt dar: Menschen-
opfer, Tieropfer, Naturalien, symbolische Opfer. Das Menschen-
opfer4) ist überall in der Welt das vornehmste Opfer5). Menschen-
opfer sind germanisch bezeugt für Nerthus, Tiuz, Wodan, Donar, Frey,
Fosite, Thorgerd Hölgabrud6) — also merkwürdigerweise für keine
chthonische oder verderbliche Gottheit. Hauptgott ist auch hier Odin mit
Opfern auf dem Schlachtfeld7). Statt der vornehmen Krieger werden
Kriegsgefangene, Sklaven und Verbrecher geopfert8). Die Opferung ge-
schieht9) vielfach in grausamer Weise, worin mehr eine kannibalische Lust
als ein mythologischer Gedanke zu sehen ist (vgl. z. B. die martervollen
Opferungen im alten Mexiko); nur wird manchmal eine Anähnlichung
an das heilige oder Opfertier erstrebt (»den Blutaar schneiden«). — Für
das ganze Volk tritt im Notfall der König als Opfertier ein (Olaf Tretelgja,
König der Schweden, in seinem Haus verbrannt; Vikar)10).
S. 345; doch vgl. auch Hillebrandt S. 74); für die Germanen wird man eine
mittlere Region« voraussetzen dürfen. — Bei den Indern hat sich nie ein eigent-
liches Gemeinschaftsopfer entwickelt (Hillebrandt S. 14).
T) Mogk S. 388.
2) Sühnopfer im Alten Testament 3. Mos. Kap. 16 u. o. ; im Kult des
Apollon Preller 1, 286, des Zeus ebd. 143; allgemein vgl. auch Frazer2, 1821
8) Aufzählung der indischen Opferanlässe in Hillebrandts Ritual-
literatur, der römischen Wissowa S. 344 f. Indogermanische Bräuche (?)
Leist, Alt-Arisches Jus gentium, Jena 1889, S. 177 f.
4) Golther S. 561, M o g k S. 388. 390, Meyer S. 395. — Mogk, Menschen-
opfer siehe Anm. 5.
5) Vgl. ursprüngliche Menschenopfer bei den Semiten Greßmann, Die
Ausgrabungen in Palästina und das Alte Testament, Tübingen 1908, S. 36. Auch
bei den Römern ist trotz gegenteiliger Tradition der Gebrauch vorauszusetzen
(Wissowa S. 345). — Für das Menschenopfer bei den Germanen speziell
Mogk, Abh. Sachs. Ges. d. Wissensch. XXVII. 17 (Leipzig 1909).
6) Golther S. 561.
7) Zahlreiche Beispiele bei Mogk S. 389; über den Ritus siehe o. S. 233 f.
8) Golther S. 562.
9) Ebd. S. 564.
J0) Vgl. die Kodrussage; siehe o. S. 238.
§ 23. Gebet und Opfer. 413
Zuweilen ist das Opfer zugleich Strafe. Der Fall der Königsopfer
kommt dem schon nahe. Tempelschänder werden nach friesischem Gesetz
entmannt (der Menschenrechte beraubt) und dann getötet (während das
Alte Testament fordert, daß ein Opfer hier ganz sein soll)1). Allerdings
leugnet Mogk2) mit beachtenswerten Gründen das Bestehen der sakralen
Todesstrafe, und dieser überhaupt, bei den alten Germanen; aber »in der
Sache kommt es auf dasselbe heraus« !
Zuweilen bringt eine bestimmte Absicht eine bestimmte Form des
Opferns mit sich. Um ein Schiff mit Blut zu weihen, läßt man es
über einen Menschen rollen 3) : man vergleiche die Sagen vom Einmauern
unter Gebäude4). Das Schiff wird als ein Ungeheuer behandelt (es ist
ein »Drache«) und durch einen Tribut abgefunden. — Oder man läßt den
Gott selbst das Opfer vollziehen, indem an seinem Stein auf Island den
Opfern der Rücken gebrochen wird5).
Am häufigsten steht das Menschenopfer mit dem Krieg in Zusammen-
hang, als Gelübde vor dem Kampf, als Erfüllung nach dem Sieg6). Diese
Opfer sind oft mit völliger Zerstörung der spolia opima verbunden: »die
Kleidung wurde zerrissen, Gold und Silber in den Fluß geworfen, die
Brunnen zerhauen, die Pferdegeschirre zerbrochen, die Pferde selbst ins
Wasser versenkt« 7). So geschieht es auch nach dem Sieg im Teutoburger
Walde. — Selten wird schon vor der Schlacht das Opfer vollzogen 8). —
Aber auch vor der Seefahrt9) finden Menschenopfer statt, um Ran ab-
zufinden (?). Die Friesen opfern deshalb am Meer10). »Die Menschen-
Dpfer bei Mißwachs werden später durch Aussetzen von Greisen und
Kindern ersetzt«11). Früher sind diese die vornehmsten: hier werden
Könige geopfert12). Mogk 13) weist hübsch auf Worte Gustav Wasas (1527)
ain: »Bekommen sie keinen Regen, so geben sie dem Könige die Schuld.«
|k) sagt das italienische Sprichwort: »Es regnet — schlechte Regierung«.
Bei Seuchen: noch 1350 sollen die Bewohner von Westgotland
rwei Bettelkinder beim Schwarzen Sterben geopfert haben 14). — Aus
aiesen Notopfern leitet Mogk15) erst die periodischen Menschenopfer
x) 3. Mos. 9, 1 u. o.
2) Menschenopfer S. 638f. Dagegen Bethge - Loewe, Handbuch der
leutschen Geschichte, 4. Aufl.; 1, 40.
3) hlunrod, Rollenrötung; Gojlther S. 562, Meyer S. 337.
4) Ebd.; häufig in Sagen.
5) Über die Selbstopferungen im Odinsdienst vgl. o. S. 245 f.
6) Mogk S. 607.
7) Ebd. S. 608: der Sieger gibt dem Opfer alles mit, er darf nichts be-
lalten, was geweiht ist (vgl. Saul und Samuel).
8) S. 610. 9) S. 618. 10) Ebd. S. 620.
u) Vgl. ebd. S. 626; Mogk S. 628.
12) S. 623. 13) S. 625. 14) S. 629. 15) S. 632.
414 Fünftes Kapitel.
ab. Auch das für Nerthus sei *) jährlicher Regenzauber , also prophy-
laktisch gegen Mißwachs, was mir doch durch das Abwaschen der Gott-
heit nicht genügend verbürgt scheint: ich glaube, daß man die Zeremonie
vielmehr als die einer »heiligen Hochzeit« und Reinigung auffassen
muß2). —
Im allgemeinen opfert man jedem Gott die ihm heiligen Tiere.
Es ist nicht ohne weiteres klar, wie dieser allgemein als selbstverständlich
angenommene Brauch zu erklären ist. Vielfach scheinen ja die heiligen
Tiere ursprünglich den Gott selbst in Tiergestalt vorgestellt zu haben, was
innerhalb der germanischen Mythologie höchstens für Thors Böcke und
Balders Hirsch (?) wahrscheinlich ist. Was bedeutet es nun, wenn man
dem Gott sein Ebenbild opfert? Es unverletzlich zu machen wie in
Ägypten scheint doch viel natürlicher. Und wenn es das Lieblingstier
des Gottes ist, begreift man auch ein Pflegen und Züchten3) weit besser
als dies »Zuschicken«; denn der Gott liebt doch das Roß und nicht das
Pferdefleisch! Es wird sich um eine Art von Übertragung handeln, etwa
etwa um jenen Akt, den man in der Syntax «Attraktion« nennt: da nun
einmal Tiere geopfert wurden, gab man dem Gott mit den Rossen gerade
Rosse usw. Viel weniger wahrscheinlich ist es, daß die Zuweisung der
Tiere an die Götter umgekehrt erst aus dem Opfergebrauch stammen
würde: es hätte sich eine gewisse Verteilung herausgebildet (aber wie?),
die dann aus dem mit Pferdeopfern geehrten Gott den rossezügelnden
gemacht hätte usw.
Die Tieropfer vertreten überall außerdem ursprüngliche Menschen-
opfer. So schon in der Zeit des Tacitus: »Martern et Herculem con-
cessis animalihus placant« 4).
Es werden also vor allem Rosse dem Odin, Stiere und Ochsen (be-
sonders der Haupteber, der sonargölt)5) dem Frey geopfert; der Freyja Eber
und Katzen (vgl. im übrigen oben jedesmal unter »Kult«). Das beliebteste
Opfertier ist, wie überall, das Schwein »als das häufigste und billigste
*) In Fällen großer Not griff man überall zum Menschenopfer, bei Römern
und Griechen wie bei Kelten und Germanen (Di eis, Sibyllinische Blätter, S. 85f.).
2) Golther S. 565, Mogk S. 390.
3) Wieder Rosse Germ. cap. 10, der heiligen Herdendes Helios Preller 1,432.
4) Germ. cap. 9. — Die Römer behaupteten, der älteste römische Gottesdienst
sei durchaus unblutig gewesen und habe das Tieropfer verschmäht, was unglaub-
haft ist (Wissowa S. 345); es gehört wohl zu den Ausschmückungen der
»goldenen Zeit«, wie vielleicht auch die altnordische Mythologie für die Altäre
der reinen Götterzeit nur symbolische goldene Opfer voraussetzt (Vol. Str. 7). -
Die römische Regel, daß männlichen Gottheiten männliche, weiblichen weibliche
Opfertiere geschlachtet werden (Wissowa S. 348, 7), scheint anderwärts nicht
zu gelten (für die Inder vgl. Hillebrandt S. 73).
F) Helg. Hjörv. zu Str. 31; Sievers, PBB. 16, 540; vgl. o. S. 201.
§ 23. Gebet und Opfer. 415
Schlachttier«1). » Ferkel < wird geradezu im Sinne von lateinisch hostia,
holocaustum gebraucht 2).
Die mannigfaltigsten Opfer erhält Odin : neben den Menschenopfern
auch Rosse und Hunde3).
Ein weiterer Gesichtspunkt ist die Eßbarkeit4). Die Opfer sollen
Speise für die Götter sein5). Auch deshalb ist das Roßfleisch besonders
beliebt; so beliebt, daß die Kirche gegen seinen Genuß überhaupt eifert6);
die Isländer behalten sich bei der Annahme des Christentums das Pferde-
fleischessen ausdrücklich vor.
Concessa animalia , erlaubte Opfertiere, haben ihren eigenen Ter-
minus: althochdeutsch gebar, angelsächsisch Ufer (negativ: »Ungeziefer«,
unreines Getier). Dafür altnordisch tafn , zu lateinisch dapes Opfermahl
(vgl. den Namen Tanfana?). Der Ausdruck scheint jedoch7) auf die Tiere
beschränkt, die von den Göttern genossen werden; Hunde und Wölfe Odins,
obwohl Opfertiere, wären also nicht damit zu bezeichnen, ebensowenig
die Menschenopfer.
Im Ganzen scheint das Opfer auf vierfüßige Haustiere be-
schränkt (Roß, Stier und Kuh, Schwein, Ziege, Hund; bei den Römern
gern auch Schafe, bei den Indern vereinzelt Esel)8), wozu noch Odins
Wolf kommt; eine Beschränkung aus der Nomadenzeit. Vereinzelt
kommt auch Geflügel vor: Hahn und Habicht in Hleidra nach Dietmar
von Merseburg 9). Die Götter schmausen dann behaglich, wie bei Homer
und im Veda10): der Eber der Einherier, die Böcke als Thors Nahrung11)
entsprechen natürlich dem Opfergebrauch 12). —
J) Wissowa S. 346; deshalb verschmäht es der Staat für seine feierlichen
Opfer (S. 347). Natürlich wird es nirgends geopfert, wo es für unrein gilt, wie
besonders bei den Hebräern, den Indern (Hillebrandt S. 73).
2) Golther S. 566. — Die Häufigkeit des Schweineopfers schließt Negeleins
geistreichen Versuch aus, nach Analogie indischer Sakralgebräuche das Pferde-
ypfer deshalb für besonders heilig zu erklären, weil für profanen Brauch das
Roßfleisch verboten gewesen sei (Germ. Mythol. S. 90). Gar von hier totemistische
Vorstellungen abzuleiten, scheint völlig untunlich.
3) Bei den Römern ist die Verbindung von Schwein, Schaf und Rind offiziell
geworden : Suovetaurilia ( W i s s o w a S. 349 f.) ; über die schwierige Auswahl der
jeweiligen Opfertiere ebd. S. 348. — Zusammengesetzte Thieropf er auch bei den
Indern und sonst.
4) Golther S. 565.
5) Was nach Robertson Smith ja ihr erster Begriff ist; lebhaft aus-
geführt in den römischen lectisternia, Götterbewirtungen« (Wissowa S. 355).
6) Golther S. 359. 7) Golther S. 566.
8) Hillebrandt a. a. O. 9) Golther S. 566.
10) Grim. Str. 18: Gering S. 329.
") Gylf. cap. 44: Gering S. 334.
12) Über Odins Verweigerung der Fleischnahrung vgl. o. S. 175.
416 Fünftes Kapitel.
Das Opfertier wird geschmückt x), in die Versammlung 2) geführt und
nach uralter Sitte3) von den Opfergästen feierlich berührt4), damit seine
Weihe auf die Spender übergehe5).
Besprengen des Opfertiers6) ist wahrscheinlich7). Das Tier wird
getötet8), ausgeweidet, das Fleisch verzehrt, das Blut9) oft in einem
Kessel gesammelt, das Haupt angenagelt. Zuweilen wird auch bloß dies
geopfert, so von den Langobarden ein Ziegenhaupt.
Odins Weingenuß könnte auf die Trankopfer10) deuten. Die
Alemannen sitzen am Bodensee um die Bierkufe (6. Jahrhundert), wie
früher die Cimbern am Blutkessel11), aus dem geweissagt — aber wohl
auch getrunken wird12).
Das Blut des Opfertiers gibt Kraft; daher das Bluttrinken. Ander-
seits ist überall der »Zehnten« des Genusses an die Götter üblich13); dies
schwächt sich ab zu dem beliebten »Zutrinken«, das wir fast bei allen
Hauptgottheiten zu erwähnen hatten: der Gott wird als Trinkgenosse
begrüßt. Besonders feierlich geschieht das beim Gebrauch des »geweihten
Bechers« 14).
Die gleiche Abschwächung führt dazu, statt der Opfertiere Symbole
zu spenden : Teigfiguren 15).
x) Goldgehörnte Kühe Helg. Hjörv.; Golther S. 565.
2) Siehe u. :}) Hillebrandt S. 73.
4) Hedin: Helg. Hjörv. zu Str. 31.
5) Die sonderbaren beiden Blasebälge unter dem Bauch der Sonnenrosse
(Gylf. cap. 21: Gering S. 305) könnten auf besonders vorgeschriebene Werk-
zeuge beim großen Tieropfer gehen; wahrscheinlicher ist indes die falsche Aus.
legung der »Stützen« bei irgend welchen etwa antiken Skulpturen (vgl. die Kolosse
von Monte Cavallo).
6) Wissowa S. 352.
7) Vgl. Helg. Hjörv. a. a. O. Für die Hebräer vgl. z. B. Gressmann,
Schriften des Alten Testaments in Auswahl, Göttingen 1910, S. 43.
8) Durch wen? Vgl. Wissowa a. a. O.
9) Siehe u. 10) Meyer S. 321. 11) Strabo 7, 2.
12) Golther S. 567. — Di eis bringt das Trankopfer in unmittelbare Ver-
bindung mit dem Blutopfer (Sibyllinische Blätter, Berlin 1890, S. 72). Vielleicht
ist es auch eine Milderung des alten, z. B. bei den Cimbern bezeugten Trinkens
von Opferblut.
13) Wissowa S. 345.
14) Gering S. 156, 5; vgl. Uhlands »Glück von Edenhall«.
15) Indiculus superstitionum N. 26 im 8. Jahrhundert; Meyer S. 322: simu-
lacra de consparsa farina. So erwähnten wir schon die Jul — Eber, die in unseren
Weihnachts- , Lichtmeß- und anderem Festgebäck fortleben (vgl. H ö f 1 e r s
Forschungen z. B. Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 15 [1905] S. 312 f.; über Nachbildung
von Körperteilen u.dgl. im Gebäck auch Kleinpaul, Gastronomische Märchen,
Leipzig o. J., S. 1231). — Die psychologische Entwicklung ist wieder nicht einfach er-
sichtlich. Ein Versuch, die Götter zu betrügen, liegt gewiß nicht vor; auch schwer-
§ 23. Gebet und Opfer. 417
Kuchen, Früchte u. dgl. werden den Dämonen, besonders den
Hausgeistern, von vornherein (und nicht erst als Ersatz für andere Opfer)
dargebracht: diese sind eben Genossen des täglichen Mahls1). — Getreide-
opfer werden ebenfalls anzunehmen sein, wie die letzte Ähre dem Acker-
geist bleibt. Doch gehört das schon zu den
Zehnten, d. h. Anteil an dem Ertrag der Ernte, in Naturalien
geopfert: Wode erhält eine mit kleinen Steinen bedeckte Garbe2) als
seinen symbolischen Anteil an der Ernte, an der er mit geholfen hat.
Rein symbolische Opfer sind die Notfeuer8). Sie werden nach
altertümlicher Sitte4) durch Reiben entzündet5), zuweilen durch zwei reine
Jünglinge unter gebotenem Schweigen. Dann wird das Vieh durch-
getrieben, Burschen und Mädchen springen durch: Tier- und Menschen-
opfer symbolisch angedeutet. Später wird es rationalistisch umgedeutet:
das Feuer solle bei drohender Seuche die Luft reinigen* aber das Not-
feuer findet, wie große Opfer, auch bei Viehseuche und Dürre statt. Die
Asche soll gegen Raupenfeuer und Mißwachs auf den Feldern schützen;
sie wird auch mit Viehfutter gegeben.
Der Brand lebt fort im Johannisfetier6). Eigentliches Notfeuer ward
noch 1855 im Braunschweigischen angezündet. —
Wo opfert man? Während für den Zauber fast stets eine be-
stimmte Stätte erfordert wird 7), kennt das gottesdienstliche Opfer zunächst
keine solche: die Götter lassen sich da nieder, wo ihnen der Platz be-
reitet wird 8). Doch sind zweierlei Stätten besonders geeignet, unter Um-
ständen sogar allein geeignet : die, an denen die Götter entweder wohnen
oder wirken9):
1. Den Göttern opfert man an »heiliger Stelle«, d. h. an einer Stätte,
die sie durch Erscheinungen geheiligt haben : am Fetisch, im Hain, später
'ich die rationalistische Erwägung, daß blutiges Opfer den Göttern nicht angenehm
sei (die nicht einmal bei den Propheten des Alten Bundes durchgedrungen ist).
Vlan könnte an einen Sympathiezauber denken, an eine Aufforderung an den Gott,
die Eber aus Mehl in solche aus Fleisch und Blut zu verwandeln (vgl. Christi
Versuchung durch den Teufel), wie Vikar durch das in einen Speer gewandelte
Rohr durchbohrt wird.
») Vgl. Wissowa S. 345; Butteropfer Hillebrandt S. 72; auch in Nor-
wegen der Sonne dargebracht (Mortenssen und Olrik, Danske Studier 2, 115f.).
2) Meyer S. 399.
3) Mogk S. 359, Golther S. 570, Meyer S. 334.
4) Vgl. z. B. Hillebrandt S. 69 u. bes. S. 14.
5) Daher schwedisch Vrideld Drehfeuer; Meyer a. a. O.
«) E. H. Meyer, Deutsche Volkskunde, S, 139. 259; Badisches Volksleben,
S. 103 f. 225 f.
7) Hillebrandt S. 174. *) Ebd. S. 14.
9) Vgl. auch Wissowa S. 29.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 27
418 Fünftes Kapitel.
im Tempel *). Historische Epiphanien heiligen eine Stelle zum National
heiligtum2); ebenso die Stätte ihres Verschwindens 3).
2. Eine »unsichtbare Theophanie« heiligt die Stelle ihrer Wirksamkeit:
das Schlachtfeld, den Acker, die Meeresküste, das Schiff, wo sie anwesend
gedacht werden; das Bett des Kranken, wo sie erwünscht werden.
Es kann aber jede Stätte geheiligt werden: die Weihe4) ersetzt die
Göttererscheinung. Die Zauberin bereitet sich den Platz; der geweihte
Eber wird5) in den Saal getrieben und macht diesen vorübergehend zu
einer heiligen Stätte. — Oder die Einsetzung vervollständigt die Epiphaniel
wie bei dem Vorgebirge Thorsnes6).
Verboten wird wohl jede verunreinigte Stätte sein; sicherheitshalber
geht oft eine wirkliche oder symbolische Reinigung vorher7). Natürlich |
bringt die Einrichtung der Tempel genauere Vorschriften über den Ort
des Opfers mit sich: Altar, Steine Thors usw. Ebenso wird nach Ein-
führung der Götterbilder die Stelle vor ihnen in der ganzen Welt natur-
gemäß zu einer für Gebet und Opfer besonders geeigneten Stätte (Häkon
vor Thorgerd): man steht dem Gott unmittelbar gegenüber. Ein Götter-
bild ist nichts anderes als eine versteinerte Epiphanie.) —
Wie wird geopfert? Ziemlich früh bildet sich nicht bloß Ein
festes Ritual, sondern deren viele8). Jeder Gott hat seine eigenen Um-
gangsformen. Von diesen spezifischen Riten kennen wir nur den Odins
genauer 9). Es ist auch wohl möglich, daß dieser (wegen seines mysterien-
haften Beigeschmacks) sich von den Grundformen des urgermanischen
Ritus10) stärker abhob, als diese Riten Tyrs, Freys, Freyjas usw. unter-
einander differierten.
Der erste Schritt ist die Versammlung, die den Gott empfangen
soll. Es wird dann in irgend einem Vor- oder Außenraum (dem
x) Siehe u.
a) Nerthus; Erechtheus: Preller 1, 198.
3) Grab der Sarenta (Wissowa a. a. O.), Grab des Balder, wohl auch die
Stelle, au der Ing Abschied nahm.
4) Siehe o. S. 53.
5) Helg. Hjörv. zu Str. 31. ö) Siehe o. S. 66.
7) Bei den Indern wird die Gottheit durch gesalbtes Opfergras vom Boden
isoliert (Hillebrandt S. 14), ebenso bei Griechen und Lateinern durch ein
heiliges Lager, xlivr\, pulvinar (Wissowa S. 356). Da von einem Thron oder
Lager der germanischen Götter nirgends die Rede ist - sie sitzen wie alle
Menschen — wird dies bei uns gefehlt haben.
8) Hillebrandt S. 14 nach Bergaigne.
9) Chadwick, The cult of Odin; vgl. o. S. 239 f.; phantastisch Kauft -
mann über den Kult des Balder, Schuck über den des Frey, siehe o. S. 201,
allgemein vgl. U.Jahn, D. deutschen Opfergebräuche, Breslau 1889; auch Pfann-
schmidt, Deutsche Erntegebräuche, Hannover 1878.
10) Mogk S. 393, Golther S. 562. 566, Meyer S. 337.
§ 23. Gebet und Opfer. 419
sact avium , »Sakristei« des spätem Tempels)1) das Opfertier (altnordisch
hlaut) angerichtet, geschmückt usw. (wie bei den spanischen Stier-
gefechten). Bei vielen Opfern, besonders den Menschenopfern, bildet das
aber schon einen Teil der eigentlichen Opferhandlung, besonders wenn
es mit Weissagung verbunden ist2); namentlich bei Odinsopfern3).
Das Schlachten findet jedenfalls erst im heiligen Raum statt, gewiß
unter Hersagen bestimmter Formeln (die die Wendung enthalten: »ich
weihe dich — «). So werden auch Menschenopfer am Altar vollzogen4).
Hieran schließt sich noch öfter Orakelbefragung. Das Blut wird in
einem Kessel gesammelt und mit dem hlautteinn, Opferwedel5) auf die
Menge gesprengt6). Für die Wichtigkeit dieser Opferhandlung sprechen
häufige altnordische Namen wie Thorketill u. dgl. 7). Ebenso werden
die Götterbilder, Altäre oder Opfersteine und Säulen besprengt8). Die
geschlachteten Menschenleiber werden aufgehängt oder versenkt, die Tier-
leiber ganz9) oder symbolisch, durch den Kopf vertreten, angenagelt.
Das Opferfleisch der Tiere wird gesotten (weil das altertümlicher ist)
nie gebraten 10), daher heißen die Opferteilnehmer schwedisch sudnautar.
Ein Opferpriester, der diese Handlung vollzog, wird zum Modell des
Andhrimnir (des »Rußgesichtes«) in Walhöll 11) gedient haben. — Auch
Fremde werden genötigt, mitzuessen: so 40 Christen von den Lango-
barden 12). Die Wichtigkeit der Opfergemeinschaft bezeugen auch Namen
wie Steinn, Thorsteinn, Freystein n 13); solche Opfergerätnamen mit ketill
und steinn scheinen spezifisch isländisch. Ehrlose sind vom Opfermahl
ausgeschlossen u). An das Opfermahl 15), bei dem Fleisch, Brühe und Fett
genossen und Bier getrunken wurde, schließt sich ein allgemeines Gelage.
Der Opferschmaus findet in einem besonders festlich geschmückten
Haus statt16): ohne Zweifel dem alten Festhaus der Jugend17), das dem
(jüngeren) Tempel angegliedert wurde. Zuweilen wurde eine eigene Fest-
iracht angelegt: es wird erwähnt, daß der Isländer Thorstein im Tempel
vor Thor im Leinenkleid — Sinnbild der Reinheit — trat. Das Mahl
wird von dem Leiter des Opfers, König, Jarl, Gode auf Island geleitet,
x) Wissowa S. 29. J) Golther S. 562.
a) Ebd. S. 313; vgl. Wissowa S. 353.
4) Golther S. 562. 5) Mogk S. 394.
tt) Golther S. 567. 7) Vgl. etwa »Johannes a Cruee .
8) Vgl. Hyndl. Str. 1G\ 9) Grim. Str. 10.
10) Vgl. Grim. Str. 18; Gylf. cap. 44: Gering S. 334.
n) Grim. a. a. O.
12) Golther S. 567; man denke an König Antiochus und die Makkabäer,
oder auch an die Urchristen.
13) Golther S. 568. 14) Meyer S. 319.
15) blotveizla; Mogk S. 394. 16) Mogk a. a. O.
17) Schurtz, Altersklassen und Männerverbände, S. 202 f.
27*
420 Fünftes Kapitel.
das Hörn zum Preise der Götter geleert (füll Signa) und dann zum
Gedächtnis Verstorbener getrunken (minni signa) : Aufnahme des Seelen-
kults. Wie nah aber beides zusammenhängt, beweist das Schmausen der
Einherier in Walhall, wobei der König, Odin, nur das Hörn leeren soll. -
Zuweilen schließt sich das Opfergelübde an: bragarfull , ursprünglich
wohl das Fürstengelübde beim Totenopfer für den verstorbenen König1).
Gesang und Tanz fehlen nicht, zum Ärger des heroischen Pedanten
Starkad2). All dies dauert in den Kirmesessen fort, auch das Eifern der
Geistlichkeit3).
Im ganzen scheint man es4) mit dem Opfern bei den alten
Germanen nicht gar so ängstlich genommen zu haben. Legenden
von der Rache der Götter für falsches oder zu geringes Opfern (v/ie bei
den Griechen) scheinen nur im märchenhaften Nachklang (die böse Fee
im Dornröschenmärchen) erhalten. —
Wann opfert man? Damit stehts wie mit der Stätte: erst ge-
schieht es jederzeit bei drängender Gelegenheit, und das dauert fort; da-
neben aber wird das Einhalten bestimmter Opferzeiten üblich5).
Dazu gehören vorab die großen Zeiten: der Krieg6) mit fort-
währenden Opfern und Weissagungen. Bei ihm werden die Lieder7)
besonders erwähnt, die wir aber auch beim Totenfest bezeugt finden, beim
Erntefest voraussetzen müssen usw. Tacitus berichtet, die Germanen
gingen mit Anruf des Hercules Thonar in die Schlacht: dem Odin wird
der Barditus8) gegolten haben, da sein Klang zugleich Orakel ist. —
1. Dazu gehören ferner die feierlichen Momente im Leben des
Stammes: vor allem die Volksversammlung9), an Dienstagen oder
Donnerstagen (zu Ehren des Tyr oder Thonar) gehalten, durch Menschen-
opfer, Mahl und Trunk eingeweiht, worauf die Heiligung des Things durch
die Priester folgt10). Es herrscht dann Tempelfrieden, den die Schnüre
um die Dingstätte (vebond) markieren. Auch das Gebot der Stille11)
ist geistlich.
Wie vor der Schlacht werden die Götter beim Eid angerufen. Ein
Eid ist eine Aussage mit einem Gott als Bürgen; sie verlangt Zeugen.
Der Eid wird zumeist auf das Schwert, das Evangelium des alten Ger-
*) Mogk S. 394. '-•) Golther S. 509.
3) Beispiel eines freigebigen Gastgebers beim Opfermahl Sigurd jarl ; siehe
Golther S. 600.
4) Trotz Häv. Str. 143—144.
5) Mogk S. 390, Golther S. 580, Meyer S. 322. Allgemein vgl. über
die Ordnung des Festjahrs Wundi 3, 6 30.
6) Golther S. 550. 7) Ebd. S. 553.
8) Siehe o. S. 34. 9) Golther S. 547.
70) Vgl. Tac. Germ. 11. ») Vol. Str. 1.
§ 23. Gebet und Opfer, 421
manen, geleistet. Goten und Nordgermanen schwören auf Ringe, die das
Opferblut heiligt, Odin selbst vielleicht1) auf Ulis Ring. Eine nordische
Eidformel ist überliefert2): »Ich schwöre auf den Ring einen gesetzlichen
Eid, so wahr mir Frey, Njörd und der allmächtige Ase (Thor) helfen, zu
klagen, zu verteidigen, zu zeugen, Wahrspruch oder Urteil zu fällen nach
bestem Wissen und Gewissen und nach Rechtsbrauch.« (Sollte das wirk-
lich eine ursprüngliche Formel sein?)
Loos und Gottesurteil stehen ebenfalls unter göttlicher Bürg-
schaft. Deshalb werden Tempelschänder und andere Verbrecher, die
Neidingswerke getan, unmittelbar den Göttern überliefert3): ein Gesetz
zum Schutze des Kults4). Wer die Heiligkeit der Götterbefragung
schädigt, wird geopfert.
2. Dazu gehören ferner die feierlichen Momente im Leben des Einzelnen :
vollständige Aufzählung nach indischem Ritus bei Hillebrandt. Wichtig
ist auch bei den Germanen die Namengebung5), mit Geschenken
(Patengeschenken) verbunden0). Regeln über die rituelle Beschaffenheit
der Namen, wie die indische Pedanterie sie erschaffen hat7), fehlen natür-
lich. — Die Namengebung ist die offizielle Rezeption des Kindes8). Das
Begießen mit Wasser braucht nicht dem christlichen Ritus zu entstammen :
es ist nur eine symbolische Andeutung des feierlichen ersten Bades9).
Wichtig ist die Jüngl in gs weihe10); sie ist die zweite Rezeption;
wie das erste Mal in die Sippe, wird der Knabe nun in das Heer auf-
genommen. Christliche Fortsetzungen in der Konfirmation oder Firmelung,
der Ritterweihe usw. Bedeutungsvoll sind natürlich auch die Hochzeit11)
mit feierlichen Zeremonien und Opfern an den Fruchtbarkeitsgott12), und
der Hausbau13), zum Teil mit Menschenopfern14); entsprechend15) die
Weihe eines neuen Schiffs.
J) Grim. Str. 42; vgl. Akv. Str. 31; siehe o. S. 380.
2) Golther S. 548. :;) Ebd.
4) Golther S. 550.
6) Hillebrandt S. 46f.; allgemein vonGennep, Rites de passage, S. 88.
6) Vgl. Helg. Hjörv. Str. 6-7.
7) Hillebrandt S. 47.
H) Vgl. zum Zeremoniell Maurer, Über d. Wasserweihe d. germ. Heiden-
tums, Sitzungsber. München 1880, und dagegen Müllenhoff, Anz. f. d. Alt.
7,404; ferner Bug ge, Studien, S. 399; Golther S. 455; allgemein van Gen nep
S. 109 f.
9) Vgl. Hillebrandt S. 46.
10) Vgl. Schade, Weim. Jahrb. 6, 241; allgemein Schurtz, Altersklassen
und Männerbünde, S. 95 ff.; van Gennep S. 93 f.
") Hillebrandt S. 63, van Qennep S. 165f.
12) Golther S. 556.
in) Hillebrandt S. 80.
14) Ebd. S. 8. l5) Siehe o. S. 413.
422 Fünftes Kapitel.
Hierher gehört weiter die Landnahme mit Weihen durch Feuer und
Umzug (wie Nerthus von dem Land Besitz nimmt, das sie umzieht) und
endlich Tod und Begräbnis1). Öfter haben sich alte Opfergebräuche
in Rechtsgebräuche verwandelt, für die auf J. Grimms Rechtsaltertümer2) zu
verweisen ist; so könnte das bekannte »Pfetzen« oder Schlagen der Kinder
bei der Grenzbefestigung3), rationalistisch im Sinne der berühmten
Jahnschen »Dachtel«4) ausgedeutet, eine letzte Abschwächung ursprüng-
lichen Kinderopfers (wie beim Einmauern in den Grundstein) sein.
Neben diesen »beweglichen Festen« gibt es unbewegliche: ein für
allemal gesetzte Opferzeiten, die allerdings auch an die großen
Momente des Jahreslaufs anknüpfen. Sie bezeichnen den uralten Anfang
einer Entwicklung, die schließlich zu einem vollständigen Festkalender
führt5).
Bei den Skandinaviern gibt es drei große Opfer6): zu Winters-
anfang (gegen Mitte Oktober) für ein gutes Jahr, mit Opfer für Frey;
Mittwinter (Mitte Januar) für Wachsen und Gedeihen (Thor), Sommer-
anfang (Mitte April) für Sieg (Odin).
Mogk7) hat in scharfsinniger Weise die großen Opferfeste zu
Lethra auf Seeland und zu Uppsala als Fortsetzungen des uralten
Nerthusfestes zu erklären versucht, bei denen nur die Periode von einem
auf neun Jahre verschoben und der Umzug zurückgetreten sei8). Aber
da dieser eben den eigentlichen »clou« der Feier bildet, auch später noch
bezeugt ist, hat das Bedenken9). Das Hauptfest scheint das Mittwinter-
fest: jul englisch yule , gewesen zu sein, nach dem Monate (gotisch
November und Dezember, angelsächsisch Januar und Februar) benannt
werden. In Deutschland haben wir kein echtes altes Zeugnis10). Der
Name Jul ist unklar11); das Fest ist später in das Weihnachtsfest auf-
x) Hillebrandt S. 87f.; vgl. o. S. 86f.
2) 4. Aufl.; bes. v. Andr. Heusler und R. Hübner, Berlin 1899.
'») 2, 79.
*) Vgl. dazu z. B. C. v. Wurzbach, Historische Redensarten, Prag 1863, S. 70.
5) Indogermanische Ansätze zu zwei großen Festen O. Schrader, Sprach-
vergleichung und Urgeschichte, S. 453 f. — Vgl. bes. Chantepie S. 379 f.
6) Mogk S. 390, Golther S. 581.
7) Menschenopfer S. 632 f.
8) S. 633.
9) Mogk (a. a. O. S. 637) sucht sie zu lösen, setzt dabei aber das Paar
Erde— Himmel oder Nerthus — Tiwaz voraus, an das ich nicht zu glauben ver-
mag. — Über das Festwesen sonst vgl. Golther S. 580, Meyer S. 323.
10) Tille, Yule and Christmas, London 1899; ders., Geschichte der Deutschen
Weihnacht, Leipzig 1893; vgl. ferner Weinhold, Über die deutsche Jahrteilung,
Kiel 1862; Pfannenschmidt, Erntegebräuche, S. 326 f., die für Zwei- und
Vierteilung des Jahres gegen die Dreiteilung sind.
") Vgl. Golther S. 582 Anm., Mogk S. 391.
§ 24. Tempel und Kultstätten. 423
gegangen (schon seit König Hakon im Norden)1), das seinerseits antike
Festzeiten erneuert2).
Andere Stämme mögen ihre großen Feste zu anderer Zeit gehabt
haben: ein Sachsenfest am 1. Oktober3); zu unbekannter Zeit das große
Opfer der Semnonen usw.
Auch Feste mit längerer Frist (im »großen Jahr«) kennen wir:
in Hleidra alle neun Jahre im Januar nach Dietmar von Merseburg, ebenso
in Uppsala nach Adam von Bremen4). — Diese Feste setzen also schon
eine Art geregelter Kalenderführung (durch die Priester) voraus. Über den
Modus der Ladung ist uns nichts bekannt.
An die Einführung des christlichen Kalenders haben sich noch alt-
germanische Erinnerungen geheftet: die Namen der Wochentage und die
alten Monatsnamen5). Auch in den Festgebräuchen herrscht vielfach ein
naiver Synkretismus6).
§ 24. Tempel und Kultstätten').
Die Indogermanen haben die Stufe des Tempelbaus noch nicht er-
reicht8), sind aber fast durchweg ihr schon nahe: die Neigung, der Gottheit
ein künstliches Haus zu bauen, zeigt sich vielfach. Wie die Römer9) sind
auch die Germanen in ältester historischer Zeit im Übergang begriffen.
Tacitus bestreitet zwar10) mit Argumenten, die aus den alten Germanen
Rousseausche Urmenschen machen ll), daß sie die Götter in Häuser bannen;
aber schon der Nerthus-Kult 12) scheint ein Haus vorauszusetzen , und in
den Annalen (1, 81) erwähnt er selbst den Tanfana-Tempel. Jedenfalls
sind beim Anzug des Christentums die Deutschen wie die Nordleute im
Besitz von Tempeln und Bildsäulen 13). Thümmel 14) unterscheidet drei
») Golther a. a. O.
2) Usener, Das Weihnachtsfest, Bonn 1889; P. de Lagard e, Altes und
Neues zum Weihnachtsfest, Göttingen 1891.
3) Golther S. 585 f.
4) Golther S. 587; für die Abstände vgl. die hebräischen Jobeljahre, all-
gemein die katholischen Jubiläen.
B) Weinhold, D. deutschen Monatsnamen, Halle 1869; Kluge, D. deutschen
Namen der Wochentage, Beiheft 8 des D. Sprachvereins 1898; Golther S. 589.
6) Vgl. z. B. o. zum Johannisfeuer.
7) Mogk S. 394, Golther S. 540, Meyer S. 313. — A. Thümmel, Der
altgermanische Tempel, PBB. 35, 1. Über die allgemeine Entwicklung siehe o.
S. 53; Schrader, Aryan Religion, S. 44 f.
8) Vgl. Schrader, Reallexikon 2, 861.
9) Wissowa S. 29. 10j Germ. cap. 9.
n) Vgl. O. Schrader S. 856. 12) Germ. cap. 40.
13) Für die Altertümlichkeit der Tempel spricht auch der Mythus von der
I Erbauung der ersten durch die Götter (Vol. Str. 7).
M) S. 118.
424 Fünftes Kapitel.
Perioden: »1. in den letzten Jahrhunderten des südgermanischen Heiden-
tums (400 — 800) hat es zwar schon Tempelhäuser gegeben, doch ist diese
Form des Kultes allem Anschein nach zu jener Zeit durchaus nicht all-
gemein; 2. im Norden (auf Island) begegnen noch um 900 relativ ein-
fache Formen des Heiligtums: dachloser Steinbau und Steinhegung mit
einem großen Stein innerhalb, der vermutlich als Altar gedient hat ; 3. der
junge nordgermanische Tempelbau seit dem Ende des 9. Jahrhunderts
bis 1000.« Daneben haben sie vielfach noch 1. heilige Stätten, d.h.
Orte, die lediglich durch die Götter selbst ohne menschliches Zutun ge-
weiht sind. Dahin gehören *) die heiligen Berge, Quellen , Fußspuren,
vor allem aber heilige Bäume wie vor dem (späteren) Tempel in Uppsala.
2. heilige Haine, um den Ort der Epiphanie eingezäunte (?)
Waldbezirke, die »heilig«, d. h. unverletzlich erklärt sind2).
Gemeingermanisch ist der Ausdruck altnordisch ve, angelsächsisch
weoh, altsächsisch ivih »Kultstätte«3). Daneben altnordisch hörgy angel-
sächsisch hearh, althochdeutsch haruc »Steinhaufen«, geschichteter Altar (?)4),
woneben altnordisch mit unklarer Scheidung hof Tempel steht5); alt-
hochdeutsch loh lucus, oft in Namen (Heiligenloh) Hain; ebenso alt-
nordisch lundr. — Die Umzäunung der geweihten Stätte scheint ur-
sprünglich zu bezeichnen gotisch alhs, althochdeutsch alach »Ringwall«6).
Den heiligen Hain der Nahanarvalen, in dem die Alces verehrt werden 7),
den der Semnonen, den man nur gebunden betreten darf8), und das
castum nemus der Nerthus9) erwähnt schon Tacitus.
Daß unter Umständen auch geweihte Wiesen die Stätte bezeichnen
können, auf der ein göttliches Wesen waltet, macht der Name Idisiaviso 10)
wahrscheinlich; die Mattiaci, die11) von denselben Matten den Namen
haben, nach denen noch heut Wiesbaden heißt, könnten von einer solchen
heiligen Wiese (etwa der wiesenliebenden Elfen) ihren Namen haben.
Häufig werden die heiligen Haine durch die Missionäre zerstört;
Unwan von Bremen hat noch im 11. Jahrhundert solche Kultstätten aus-
zurotten12). Spuren des Hainkultes sucht Mogk13) noch weithin nach-
zuweisen.
1) Vgl. Sehr ad er a. a. O.
2) Golther S. 590, Meyer S. 310.
3) Golther S. 591, 6.
4) Ebd.; Meyer S. 30.
5) Vgl. Thümmel S. lOOf.
6) Meyer S. 912. Über die nordischen Termini vgl. Thümmel S. 100.
7) Germ. cap. 43. 8) Germ. cap. 39.
9) Germ. cap. 40. 10) Siehe o. S. 159.
!1) Nach Müllenhoffs Wort.
12) Golther S. 593. 13) S. 396.
§ 24. Tempel und Kultstätten. 425
3. Von Tempeln1) werden am frühesten kleine Schutztempeichen um
Fetisch, heiligen Baum, heiligen Stein vorhanden gewesen sein2). Dieser
umkleidete Baum lebt vielleicht in den Hauptsäulen der Tempel wie
in den freistehenden Säulen3) fort (altnordisch öndvegissülur) , an
denen die Götterbilder eingeschnitzt werden. Eigentliche Tempel, d. h.
Gebäude zur Beherbergung erst des Gottes selbst, dann seiner Bilder,
sind4) aber auch schon früh nachzuweisen und haben sich lange5)
gegen die Missionen gehalten. Sie setzen Priester schon beinahe voraus,
wenn auch noch nicht einen Priesterstand. — Zu fragen ist: 1. wer
errichtet den Tempel? 2. wem gehört er? 3. wie sieht er aus? a) Anlage,
b) Schmuck; 4. welche Eigenschaften besitzt er? 5. v/ie wird er benutzt?
6. was gehört ihm? 7. wie wird er unterhalten?
Wer errichtet den Tempel6)? In der Regel ein Einzelner
wie Hrafnkell, Thorolf, Häkon 7). Aber schon der Tempelbau der Äsen 8)
setzt eine gemeinschaftliche Tätigkeit voraus9). Ein Nationalheiligtum
wie der Tanfana-Tempel wird von Vielen errichtet sein. Dann gehört
der Tempel dem oder den Erbauern. Doch hat das Eigentumsrecht
Grenzen: er muß die Heiligkeit des Baues auch selbst respektieren. Er
darf ihn abbrechen , wenn er ihn verpflanzen will 10) ; sonst wird es
Tempelschändung sein. — Zwischen dem Tempel und seinen Pflegern
bestehen bei frommen Leuten dauernde Beziehungen. Loft der Alte fuhr
jeden dritten Sommer von Island nach Norwegen , zugleich in seines
Oheims Flosi Namen, um dort in dem Tempel zu opfern, dessen Pfleger
sein Muttervater Thorbjörn gewesen war11).
Die Zentralheiligtümer gehören dem Stamm; ihr Bezirk bildet den
Anfang eines Nationalvermögens 12). Die großen Opfer können nicht in
Privattempeln stattfinden. Übrigens bringt das Wesen der Gottheit
Scheidungen mit sich : Odin, der Staatsgott, scheint keine Privattempel zu
besitzen wie Thor. — Auf Island bleibt der Gode13) in seiner halb
privaten, halb öffentlichen Stellung erblicher Herr des Tempels14); hier
x) Thümmel a. a. O., Golther S. 593, Meyer S. 313, Mogk S. 3%;
über die Beziehungen zum Baumkult und Hainkult Schrader, Reallexikon,
S. 856f.; Aryan Religion, S. 44 f.
-) Indic. supertit. N. 4: de casulis id est fanis; Golther S. 593.
3) Irminsul; doch vgl. o. S. 69.
4) Mogk S. 396. 5) Golther S. 595f.
6) Golther S. 610; vgl. Thümmmel S. 622.
7) Siehe o. S. 393. 8) Vol. Str. 7.
9) Vgl. die Sage vom Riesenbaumeister z. B. Golther S. 413.
x0) Golther S. 599. ll) Craigie S. 55.
12) Vgl. allgemein Golther S. 6101 — Man denke an Mekka und seinen
Schatz.
18) Siehe u. u) Mogk S. 400.
426 Fünftes Kapitel.
und auch auf Gotland scheint es eigentliche Sprengel mit je einer »Pfarr-
kirche gegeben zu haben1). — Vielfach dauert der > Eigentempel« auch
in Deutschland bis in die Missionszeiten fort2).
Wie sieht der Tempel aus3)? Die Lage: vorzugsweise auf
Bergen 4) — was auch Thümmel mit der Nebenabsicht der schönen Lage
und Fernsicht motiviert. Wir haben kein Recht, den alten Völkern (oder
auch nur unsern Erbauern mittelalterlicher Wallfahrtskirchen) so viel
Landschaftsromantik zuzuschreiben; vielmehr ist es umgekehrt: die heilige
Stätte soll von weither sichtbar sein (gewiß, neben einem begreiflichen
Ehrgeiz auch ein Hauptgrund für die Höhe der Kirchtürme und Kuppeln !).
»Es mag die Stadt, die auf dem Berge liegt, nicht verborgen sein5).«
Die Orientierung6) scheint besonders häufig von Osten nach
Westen 7) zu gehn. Bedenke ich die starke Betonung der Himmelsrichtungen
in der Völuspä, besonders bei der »Götterdämmerung«, so möchte ich
eine bestimmte Absicht doch nicht mit Thümmel in Abrede stellen.
Der Tempel 8) selbst besteht aus zwei Teilen, dem afhüs 9) und dem
Langraum für den Opferschmaus. Der Tempel von Ljärskogar hatte
folgenden Grundriß:
c
Das Allerheiligste und der Festsaal sind10) durch einen Querwall getrennt,
der immer ohne Tür ist. Im übrigen ist die Lage der beiden Teile nicht
allgemein zu bestimmen n). Die typische Grundform ist bei beiden die
länglich-viereckige 12). Das afhüs13) ist immer kleiner, etwas über ein Drittel
der Gesamtanlage. Der L a n g r a u m hat seine Eingänge nie gegenüber dem
x) Vgl. Golther S. 610. — Der Gode wird dann nach seiner Residenz
(Tungugodi) oder seinem Kirchspiel (Ljodsvetningagodi) benannt (Craigie 6, 85).
2) Vgl. allgemein Stutz, Internat. Wochenschr. 3, 1569 f.; ein lehrreiches
Beispiel bei Schnürer, Bonifatius, Kempten 1909, S. 86.
3) Genaue Beschreibungen (nach Quellen und Ausgrabungen) Meyer S. 397,
Golther S. 599 und besonders Thümmel (für den isländischen Tempel speziell
S. 88).
4) S. 21. 88. 114. (Die Berge sind häufig nach ihm benannt.) — S. 23.
8) Matth. 5, 14.
6) Vgl. allgemein Nissen, Orientation, Berlin 1906; Greßmann, Aus-
grabungen in Palästina, S. 30.
7) Thümmel S. 27.
8) Mogk S. 397, Golther S. 601.
9) Thümmel S. 49.
10) S. 50. — Ähnlich hebräisch: Greßmann, Schriften d. A. T. in Aus-
wahl, S. 6 f.
») a. a. O. S. 37. x2) S. 43.
18) S. 35. Über die Größenverhältnisse vgl. Thümmel S. 44 f., Golther
S. 599.
§ 24. Tempel und Kultstätten. 427
des All erheiligsten ; jeder Teil hat seine besondere Tür (da der Querwall
ja geschlossen ist1). Das Material2) ist auf dem skandinavischen Fest-
land Holz, auf Island Gras- und Erdtorf, zuweilen mit Feldsteinen kom-
biniert. »Der Tempelbau (auf Island) folgt in seiner äußeren Form der
völlig analogen Entwicklung, die an den isländischen wie nordischen
Häusern überhaupt stattfindet« 3). Dies gilt auch insbesondere für die
Form des Daches4) und die Dachdeckung5). Irgendeine spezifische
Gestaltung ist nur an Häkons Tempel im Drontheimschen zu beobachten :
viele Glasfenster; man hat deshalb hier auch eine Nachahmung christ-
licher Kirchen (in der Erzählung) vermutet6). Die einfachen Tempel-
bauten eignen sich deshalb auch nicht zum Umbau in christliche Kirchen 7).
Der Tempel liegt (auf Island) zumeist innerhalb des gedüngten Wiesen-
landes, das zu jedem Gehöft gehört, auf dem tüns)y selten entfernt von
dem Gehöft des Erbauers — also wie heute die katholischen Kapellen
auf dem Lande. Der unmittelbar umgebende Rasen ist durch einen Zaun
umhegt, der in derselben Weise wie die Mauern ausgeführt äst 9) und etwa
von gleicher Höhe; vielleicht verschließbar10).
Der eingeschlossene Bezirk ist heilig: wer um 700 den Fosite-Tempel
oder sein geweihtes Land ohne Verehrung betritt, verfällt in Raserei11),
wer in dem Bezirk des Semnonen-Heiligtums fällt (ihn durch Berührung
verunreinigt?), gehört dem Gott. — Dies sind die angelsächsischen fana
cum septis, Tempel mit Einhegungen 12).
Der ursprüngliche Wasser- und Waldkult bringt es mit sich, daß
Quellen und Bäume oft in der Nähe des Tempels zu finden sind 13), (die
»Weltesche« zu Uppsala); doch schränkt der dürftige Baumbestand der Insel
dies auf Island ein 14).
Die notwendige Einrichtung besteht natürlich aus den rituell erforder-
lichen Gegenständen15). 1. Im afhüs: zwei »nach Art der Außenwände
aufgeführte«, aber nicht so hohe Querwälle (stallar), auf deren höherem
die Götterbilder 16) stehen, während auf dem niedrigeren Ring und Opfer-
l) Thümmel S. 51. -J Thümmel S. 28. 89.
:?) Thümmel S. 89. 4) S. 68f. 5) S. 90.
«) Golther S. 484. 7) Vgl. Thümmel S. 27.
8) Thümmel S. 74. 9) S. 52.
10) S. 74. Über die rituelle Bedeutung der Pforte vgl. van Gennep, Rites
de passage, S. 26.
u) Golther S. 587.
12) Golther S. 595. — Man kann zu dem Semnonenhain vielleicht daran er-
innern, daß der Abtei St. Claude in der Bourgogne jeder Mann, der auf ihrem
Gebiet schlief, als Leibeigener gehörte, bis Voltaire die Aufhebung des bösen
Privilegs bewirkte.
18) Meyer S. 315. u) Thümmel S. 23.
15) Thümmel S. 79f. 16) Siehe u.
428 Fünftes Kapitel.
schale liegen, in der Mitte aber1) der Altar sich befindet: eine Feuer-
stätte für das heilige Feuer2). Der höhere Wall scheidet zugleich, wie
die Ikonostase in griechisch-katholischen Kirchen, den Priesterraum vom
Gemeinderaum. — Die Feuerstätte steht auf Stein. Der Eidring, »ein
nicht völlig geschlossener Ring von 538 gr Gewicht, war zweifellos aus
Gold«. Die Opferblutschale (hlautbolli) war 10—20 cm weit, 6 — 12 cm
tief3) und wohl auch aus Stein. Außerhalb des Opferraums scheint sich
dagegen zuweilen die Stätte für Menschenopfer befunden zu haben: der
Opferstein mit dem Opfersumpf (blötkelda) 4) für die Leichen (die ja anders
als die zu verzehrenden Tierkörper behandelt werden müssen)5). Daß in
ältester Zeit die Menschenopfer im Tempel stattfanden, machen Strabos
Nachrichten von den Cimbern 6) wahrscheinlich. 2. Im Langraum: Ein-
richtung und Schmuck der weltlichen Festsäle (Heorot im Beowulf); Ge-
täfel und inneres Dachwerk gern mit gemalten oder geschnitzten Bildern
mythologischen und heroischen Inhalts geschmückt (Balders Beerdigung
in der Hüsdrapa). Pfosten teilen ihn in einen Hauptraum (gölf) und
zwei kleinere Seitenschiffe. In der Mitte grenzen vier Säulen (öndve-
gissülur) ein mittleres Querfeld ab ; sie sind mit Bildern (besonders von
Thor) geschmückt, deren Zweck es ist, Götter und Helden beim Gastmahl
(und Zutrinken) gegenwärtig sein zu lassen. — Im gölf steht der Herd,
unter dessen Feuer Trinkhorn und Becher geweiht werden. An den
Wänden stehen Bänke mit je einem Hochsitz7).
Einen solchen Festsaal haben auch die Götter: Wingolf die Wein-
halle8); ebenso der Riese Brimir die »Wärmehalle« Okölnir9).
Reiches Holzschnitzwerk hatten wir schon zu erwähnen. Tücher und
Teppiche für die Feste10) und Goldplatten verkleiden die Wände: der
Tempel in Uppsala soll ganz »aus Gold« gewesen sein, was in den
Götterhainen der Grimnismäl n) und vielleicht in der »Edelsteinhalle«
Gimle12) nachgebildet wird. Wie der Eidring13), ist auch der Türring
als Symbol des Eingangs (Legende von dem Türring des heiligen Wenzel
am Prager Dom) von Gold. - Eine Reihe Nägel (reginnaglar »Nagel-
reihe«)14) zieren die Hochsitzpfeiler, von Verehrern eingeschlagen, wie
unsere Fahnennägel? (Stock im Eisen in Wien, in den die Handwerks-
1) Gegen Müllenhoffs Zweifel bei Golther S. 596, 1.
8) Thümmel S. 83, vgl. 86. •) S. 87.
*) Vgl. Thümmel S. 55.
r) Über die Glaubwürdigkeit der betreffenden Berichte vgl. Thümmel S. 74 f.
«) Golther S. 567.
7) Thümmel S. 79f.
8) Gylf. cap. 14: Gering S. 307. 9) Vol. Str 37.
,0) Golther S. 606. n) Str. 8. 15, vgl. 6.
12) Vol. Str. 64: mit Gold gedeckter Saal.
•) Vgl. Meyer S. 14. u) Golther S. 535.
§ 24. Tempel und Kultstätten. 429
burschen Nägel einschlagen.) In Uppsala soll x) gar auch die einhegende
Schnur eine goldene Kette sein. Dazu kommt die Ausschmückung der
Götterbilder mit Gewändern und Schmuck2).
Neben diesen allgemeinen Zügen sind spezifische der einzelnen Kulte
vorauszusetzen; ein genaueres Bild dieser individuellen Ausrüstung geben
uns3) die Haine der Götter:
Grim. Str. 9 : Odins Saal mit Speeren und Schilden und Brünnen be-
hangen: Weihgaben siegreicher Helden oder Trophäen von gefallenen4).
Über dem Eingang Wolf und Aar: geschnitzte Signa, Wappen des Gottes
(kein Totem!).
Grim. Str. 15: der Palast des Forseti5) auf Goldsäulen und mit
Silber gedeckt.
Auch die Umgebung wird entsprechend gezeichnet: Odins Halle
liegt an der Quelle6); Widars an der Wiese7). — Der Festsaal in Heim-
dalls Haus8) fordert besondere Beachtung. —
Eine Verbindung zwischen Tempel und Umgebung
stellen die festlichen Umzüge (pompae) her9): die Götter-
bilder werden umhergetragen (Nerthus), umschreiten erst den Tempelbezirk
und gehen dann übers Land oder das zu weihende Feld (Indiculus
superstit). Auch der Kriegszug ist eine Prozession10), der barditus eine
Art Litanei. — Auch Dank- und Bittprozessionen n) wird man voraus
setzen dürfen.
Ober die Entwicklung des Tempelbaues im Einzelnen vergleiche man
Thümmels Studie12). Er hält römischen Einfluß13) für wahrscheinlich und
»die volle Ausbildung des Tempelkultes für eine spezifisch nordgermanische
Entwicklung«. (Daß aber der Privattempel, weil im Süden nicht nach-
zuweisen, jünger als das Stammesheiligtum sei, ist mir recht unwahr-
scheinlich.) —
Welche Eigenschaften besitzt der Tempel? Er ist un-
verletzlich 14) und deshalb soll man ihn unbewaffnet betreten (Extrem : die
gebundenen Semnonen). Tempelschänder15) werden schwer gestraft: mit
Rechtlosigkeit 16). Dennoch kommen merkwürdig oft Tempelverbrennungen
*) Golther S. 598.
2) Ebenso bei den Finnen: Castren S. 221.
5) Ztschr. f. d. Phil. 38, 1741
4) Bei den Römern gibt es nur drei Gottheiten quibus spolia hostium dicare
ius et fas est, denen man Trophäen weihen darf (Wissowa S. 171).
5) Vgl. Fosetis Tempel auf Haligoland Golther S. 558.
6) Grim. Str. 7. 7) Ebd. Str. 17. 8) Ebd. Str. 13.
9) Golther S. 578. 10) Ebd. S. 579, 2.
") Vgl. Wissowa S. 358 f. 12) S. 118 f. 13) S. 122.
14) Mogk S. 398. 15) Golther S. 562.
lö) vargr i veum; vgl. Meyer S. 315; Kau ff mann, PBB. 18, 166.
430 Fünftes Kapitel.
auf Island vor l). — Er macht unverletzlich : er hat Tempelfrieden (hofs
helgi, Tempelheiligkeit) 2). Daß er als asylum gedient hätte, wie christ-
liche Kirchen, ist aber nicht bezeugt.
Wie wird der Tempel benutzt? Er ist um der Opferfeste
willen da; Privattempel dienen auch stillem Gebet (Häkon vor Thorgerd).
Als eine Art ritueller Handlung findet auch die Eidabnahme auf den ge-
weihten Ring hier statt; ob auch Sühnehandlungen? Er dient auch als
Dingstätte3), aber nicht zu Privatfesten (Hochzeit, Totenfeier), die nach
uralter Sitte dem Haus verblieben.
Was gehört dem Tempel4)? Zunächst der unmittelbare Tempel-
bezirk, der sehr weit ausgedehnt werden kann: dem Fosite gehört5) ganz
»Helgoland^. Weihgeschenke6) machen den Anfang des Besitzes, besonders
wohl eroberte Feldzeichen, Waffen, Tempelsilber der Römer. Dazu kommen
Stiftungen an Gold und Silber von Einzelnen und Gemeinden 7). Doch
ist Besitz und Deponierung zu scheiden; was dem Volk gehört, wird
wohl im Tempel aufgehoben wie der berühmte Armring von Pietroassa
mit der Aufschrift »Unverletzliches Tempeleigen der Goten«.
Wie wird der Tempel unterhalten? Im allgemeinen gewiß
durch freiwillige Gaben. Auf Island, wo staatliche Kirchspiele bestehen,
hat der Gode Tempelzoll zu erhalten und muß damit als eine Art Kirchen-
vogt für den Tempel sorgen. — Im übrigen liegt die Pflege natürlich
bei den Priestern8). —
Der eigentliche Mittelpunkt des Kultus werden mit der Zeit die Götter -
bilder9). Die älteste Religion, hierin wie in vielem den jüngsten Phasen
verwandt, kennt keine festen Götterbilder, wie sie keine Tempel kennt; die
Götter sind noch unpersönlich, und heilige Haine oder andere Naturgegen-
stände werden nur als Sitz der göttlichen Kräfte gedacht. Dies ist der Stand
der Religion im nordischen Broncealter10), wie es überall der primitive Stand
ist: der anikonische Kult, den wir für alle Indogermanen teils erweisen können,
teils voraussetzen müssen11), finden wir z. B. auf griechischem Gebiet12)
noch spät vor.
*) Thümmel S. 671 a) Golther S. 607, vgl. 567.
3) Meyer S. 316. 4) Golther S. 608.
5) Golther S. 597. t;) Meyer S. 316.
7) Golther S. 608.
8) Tempelsteuern in Israel: Giesebrecht, Israel. Rel.-Gesch., S. 117 f.
9) Thümmel S. 99. 122; O. Schrader, Reallexikon 2, 859. Golther
S. 602, Mogk S. 396, Meyer S. 317, Chantepie S. 360f.
u) Olrik, Danske Studier 1905, S. 39 f.
n) Schrader, Reallexikon 2, 860.
12) Karo, Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 374. — Der Parallelismus zwischeu
religiöser und künstlerischer Entwicklung interessierte schon Gutzkow, als er
seinen Jugendroman Maha Gurn« schrieb.
§ 24. Tempel nnd Kultstätten. 431
Die Entwicklung des Götterbildes hat sich auf zwei Wegen
vollzogen, von denen nur der eine Beachtung zu finden pflegt: erstens
durch die Dichtkunst, zweitens durch die Plastik.
Der Anteil der Poesie an der Ausbildung eigentlicher Götterbilder
muß sehr hoch angeschlagen werden. Was Gustav Freytag in seinem
berühmten Aufsatze über Otto Ludwig über das Verhältnis der poetischen
Phantasie zur tatsächlichen Darstellung allgemein ausführt, das gilt hier
insbesondere: daß die Dichter sich Kunstwerke bereits realisiert denken,
denen die Technik noch nicht entfernt die Wirklichkeit verleihen kann.
Wie der Schild des Achilleus leichter zu beschreiben als zu schmieden
war, so hat man Luftschiffe lange geträumt, als noch dieser Traum (bis
zu Helmholtz hin) rein phantastisch schien *). Der plastischen Darstellung
der Götter geht die dichterische Darstellung voraus. \j/\r werden
für sie etwa dieselben drei Stufen voraussetzen dürfen 2) wie für die
plastische:
1. Die Darstellung ist rein symbolisch: es wird nur von denjenigen
Gliedern gesprochen, die für die Bewegungs- und Handlungsfähigkeit der
Götter unentbehrlich sind — gerade so, wie jetzt wieder der Fromme
nur vom Auge Gottes, von Gottes Hand, von dem Schemel seiner Füße
spricht. Eine solche Annäherung an die Menschengestalt ist nicht etwa
»Metapher«, sondern selbstverständlicher Analogieschluß. Wenn der Dämon
Opferspeise verzehrt, so muß er einen Mund haben usw., was Goethe in
einem bekannten Spruch3) höchst drastisch ausgedrückt hat. Eine deut-
liche Vorstellung ist mit solchen Ausdrücken noch nicht verbunden. —
Auf dieser Stufe finden wir uralte, in Eddalieder verarbeitete Verse wie
Vol. Str. 5 (die Rechte der Sonne) oder alte Beinamen der Götter wie für
Odin der Rufer, der Weggewohnte, der Schnellreitende4) — natürlich
aber können auch später (erst recht!) solche Namen entstehen. Es ist
die Stufe, auf der der Jahve des Pentateuchs steht; bis die Propheten gegen
den natürlichen Anthropomorphismus auftreten (schon Elia 1. Könige 18, 27 5).
2. Sie wird typisch: allmählich erwächst den Priestern und Gläubigen
ein Bedürfnis, ihren Gott »zu schauen«, vor allem: ihn von anderen zu
5) Vgl. Minor, Die Luftschiffahrt in d. d. Literatur; Ztschr. f. Bücher-
freunde 1909.
2) Siehe u.
8) »Totalität < ; Weim. Ausg. 2, 263.
4) Golther S. 356.
5) Die Erwähnung von Hand und Arm der Sonne bei Kelten oder Germanen
t(v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 84) ist also nichts spezifisches. Auch bei den
(Griechen tut vor allem die »Hand Gottes« Wunder (O. Weinreich, Antike
I Heilungswunder, Gießen 1909, S. lf.). Noch die alexandrinischen Anachoreten
glauben, man wolle ihnen Gott rauben, als der Patriarch Theophilos ihm Füße,
I Hände, Augen und Ohren abspricht (Prat, Origene, Paris 1907, S. XLVIII).
432 Fünftes Kapitel.
unterscheiden. Als Leitmotiv dient dabei natürlich die Betonung derjenigen
Eigenschaft, um derentwillen gerade er verehrt wird: Stärke, Weisheit,
Freigebigkeit. Eine große Rolle spielt dabei das Attribut, das als Ex-
ponent des Charakters dient: Thors Hammer symbolisiert seine Stärke,
Apollons Pfeil oder Odins Speer die Herrschergewalt des weithintreffenden
Gottes. Damit hängt ein wirkliches Ausmalen jener wichtigsten Glieder
zusammen: ein Gott erhält nun viele Hände, ein anderer ein leuchtendes
Gesicht, ein dritter riesenschnelle Füße. — Es ist der Standpunkt, auf
dem der Rigveda sich fast durchweg befindet: die Götter werden durch
Attribute und Epitheta individualisiert, ohne daß doch ein anschau-
liches Gesamtbild entstände; denn die Glieder, die der Gott sozusagen
für seinen Beruf nicht braucht, werden gänzlich ignoriert. Wer wird
etwa von Freys Augen sprechen? wohl aber spricht man von denen
Odins.
Diese zweite Stufe der dichterischen Darstellung wird zeitlich etwa
mit der ersten plastischen zusammenfallen, die ebenfalls an den » Götzen <
lediglich betont, was ihr Wesen unmittelbar ausspricht: den Phallus des
Fruchtbarkeitsgottes, die Brüste der Erdgöttin.
3. Die Darstellung wird endlich i konisch: man bildet sich eine
wirkliche Gesamtanschauung von der Erscheinung, wobei die bereits vor-
handenen symbolischen Götterfiguren als Anhalt dienen, gewiß aber auch
Visionen eifriger Beter mitgewirkt haben. In diesem Sinn durfte man
sagen, daß Homer die griechischen Götter geschaffen habe — - nämlich
die des Phidias. Ein Homervers war ja die Vorzeichnung für den olym-
pischen Zeus.
Die Götter der Edda zeigen die Entwicklung von der zweiten zur
dritten Stufe ; doch halten sie sich überwiegend auf der ersten. Je stärker
der Kult, desto eher wird volle Verpersönlichung erreicht. Balder bleibt
äußerlich eine blasse Idealgestalt, Frey ist schon etwas deutlicher; Odin,
Thor, auch Heimdall aber haben den Dichtern völlig greifbar vor Augen
gestanden mit ihrer Ausrüstung, mit dem gütigen oder grollenden Blick
des Gesichts, mit Gesten und Stimmklang. Eine Plastik und Individualität
der Darstellung wie die Thrymskvida, ja wie die Skirnisför sie zeigt, hat
die altgermanische Kunst nicht von ferne erreicht. So finden wir denn
auch eine Einwirkung der Plastik auf die Mythendichtung nur in späten,
nacheddischen Legenden *). — Wichtig für die Ausbildung dieser Stufe
war die Mitwirkung der Heldendichtung (Völundarkvida!), bei der wiederum
die reale Beobachtung von tapferen Helden, treulosen Ratgebern, edlen
Königen die Evolution erleichterte. —
*) Widar und der Fenriswolf, auch noch anders gedeutet von Olrik,
H. Z. 51, 9; Sifs Haare; Einzelheiten in Skadis Erscheinung; Yggdrasill.
§ 24. Tempel und Kultstätten. 433
Von unmittelbarer Wichtigkeit aber ist für die Entwicklung der Götter-
bilder natürlich die der hieratischen Plastik1). Wir unterscheiden die
gleichen drei Stufen, die durch die psychologische Entwicklung gefordert
scheinen: symbolisch sind die fetischartigen »Götzen« der fetischistischen
und dämonistischen Stufe: Wodans Speer, Thors Hammer, Tius Schwert2);
die effigies und Signa des Tacitus3): Tierbilder. Sie scheinen nach
Einführung der Bilder nur noch dann eine wirkliche Verehrung zu ge-
nießen, wenn sie (wie die Lanze des Mars auf dem Kapitol) durch un-
mittelbare Epiphanie historisch beglaubigt sind. — In die gleiche Kategorie
gehört wohl auch das älteste erhaltene Kultbild: der Sonnenwagen von
Trundholm4), der bereits fremden Import bezeugt. Es ist ein »leerer
Thron«: der Phantasie bleibt es überlassen, die Gottheit hinzuzudenken.
Typisch sind Stein- und Holzpfähle, zum Teil ursprüngliche Fetische;
sie werden leicht angeschmückt und mit Attributen versehen. So fährt
in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts Athanarich eine Bildsäule (tri-
madr) bei den Goten umher, vor der geopfert werden soll 5), und diesen
Bericht ergänzt der des Arabers Ibn Fadhlan, der 921 von den Nord-
Germanen erzählt: sobald sie ans Land kommen, begeben sie sich »zu
einem aufgerichteten hohen Holze, das wie ein menschliches Gesicht hat
und von kleinen Statuen umgeben ist (wie die Figur der Thorgerd im
Drontheimischen Tempel), hinter welchen sich noch andere hohe Hölzer
aufgerichtet finden«. Vor den »Hölzern« werfen sie sich nieder und
begrüßen »ihren Herrn«6). — Eine solche Figur ist bei Viborg auf-
gefunden worden: »eine hohe, stark phallische Holzfigur, die zweifellos
ein Götterbild (des Frey) gewesen ist. Sie hat einen sorgfältig geschnitzten
Kopf, aber keine Arme und endet unten in zwei zugespitzten Stücken« 7). —
Das ist also die Stufe auch der ältesten hellenischen Kultbilder, aus denen
Jie Form der Herme entwickelt wurde8).
I k o n i s c h e Statuen hätten die Germanen unter Anleitung ihrer Dichter
wohl auch von sich aus erreicht, so gut wie etwa die Azteken ; tatsächlich
hat man aber in den nordischen Mooren römische Bronzestatuetten von
Mars, Jupiter und Venus gefunden 9) und nimmt deshalb an, die Germanen
1) Vgl. allgemein Wein hold, Altn. Leben, S. 421.
2) Golther S. 602.
s) Germ. cap. 7; siehe o. S. 70.
4) Siehe o. S. 105; vgl. Areh. f. Rel.-Wissensch. 8, 120.
5) Golther S. 604.
6) Mogk S. 398, O. Schrader a. a. O.
7) Thümmel S. 99.
8) Vgl. o. S. 50. 69. Solch ein Götzenbild ist wohl der tremadr, die moos-
bewachsene Rolandfigur, die der alte Dichter eine Ansprache halten läßt (Eddica
tninora S. LXXXII).
9) Meyer S. 318.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 28
434 Fünftes Kapitel.
hätten erst von den Römern die >Sitte der eigentlichen Götter in Menschen-
gestalt« erhalten *).
Solche ikonischen Bilder, d. h. Statuen, die ein Götterporträt zu geben
suchen, sind vielfach bezeugt2) und von uns für die »Erscheinung« der
Götter regelmäßig benutzt: in Uppsala Thor zwischen Odin und Frey,
in Hof und Hofstadir (Island) Thor mit anderen Göttern, auf dem Tempel
in Gudbrandsdal Thor auf seinem Wagen zwischen Thorgerd und Irpa,
in Hrafnkells Tempel Frey und andere Götter — oft, wie in den santi
conversagioni der katholischen Kirchen, in jener typischen Anordnung
einer Hauptfigur mit zwei kleineren Begleitern3).
Über die Herstellung der Götterbilder wissen wir nichts. (Bei den
Finnen werden sie durch die Schamanen auf göttlichen Befehl angefertigt)4).
Man wird sie erst bezogen haben (wie vielleicht die Bildsäule der Skadi);
dann haben die einheimischen Schmiede sie hergestellt. Die Anfertigung
eines Tonmodells schildert Snorri5), wenn er die Herstellung des Lehm-
riesen Mökkurkalfi beschreibt; neben ihm steht Hrungnir wie eine fertige
Bildsäule mit hartem Kern, steinernem Kopf und vorgehaltenem Schild —
etwa wie unsere Rolandsfiguren. Auch bei der in Stein als Hafenzeichenj
verwandelten Hrimgerd6) haben wohl Statuen wie die der Wetterhexe
Thorgerd der Anschauung nachgeholfen. —
Über das Verhältnis von Tempel und Götterbild ist wohl
im allgemeinen7) zu sagen, daß der Tempelbau voranging. Die freistehende
Götterstatue wird sich erst im Anschluß an die Götterbilder entwickelt
haben, die gleichsam als Hausmarke in die Säulen geschnitzt waren. Doch
kann auch hin und wieder eine Statue unter Dach und Fach gebracht sein.
Sobald sich die Gewohnheit des Kultbildes herausgebildet hat, wird
das Götterbild die Seele des Tempels. Eh Vigahrappr den Tempel der
Thorgerd in Brand steckt, beraubt er die Götterbilder ihrer Attribute 8) —
wohl nicht bloßer Tempelraub , sondern zunächst der Versuch, die Kult-
figur ihrer Heiligkeit zu entkleiden und dadurch die Weihe auch des Hauses
aufzuheben. — Ursprünglich repräsentiert das Götterbild natürlich den
Gott, der nunmehr in seinem Hause dauernd anwesend ist. Das Tempel-
bild wiederum wird9) durch kleinere Nachbildungen vertreten, wie ein
wundertätiges Marienbild; und solche symbolischen Götterbilder werden
auch auf den Säulen des Privathauses, der Stuhllehne, dem Vordersteven
des Schiffes angebracht. Kleine Bilder von Ton und Teig trägt man als
!) Thümmel S. 122. -) Golther S. 604.
3) Vgl. Dibelius, Lade Jehovas, S. 84: »glorifizierendes symmetrisches
Schema«.
4) Castren S. 229. 5) Skäldsk. cap. 1: Gering S. 359.
6) Helg. Hjörv. Str. 30. 7) Mit Thümmel S. 122.
8) Golther S. 483. 9) Mogk S. 398.
§ 25. Priester und Priestertum. 435
Amulette und »Reisealtäre< in der Tasche. Es ist nicht undenkbar, daß
n einigen der vielen Götterbeinamen alte lokale Bezeichnungen stecken,
io daß man ein besonders wundertätiges Götterbild nachformte. — Wie die
symbolischen Opfer werden auch diese Göttersymbole aus Teig und Thon
gefertigt. Schließlich werden ganze Darstellungen der Göttersage, wie
ichon früher aus der Heldensage1), geformt: Ulf Uggason dichtet nach
)50 seine Hüsdrapa auf den Fries im Hause des Olafr pä, das Balders
Beerdigung darstellte. Eine andere Kollektivdarstellung hat vermutlich
das Vorbild für Yggdrasil mit Zubehör gegeben.
Die Götterbilder werden gekleidet und geschmückt2). Zuletzt ent-
irtet der Bilderdienst: die Götzen tun Wunder3). »Dem Thorsbilde zu
fiunthorp in Norwegen setzte man Speise vor und meinte, daß es sie
/erzehre. Vom Thorsbild zu Raudsey meinte man, es gehe spazieren4)
md lasse sich auf einen Kampf mit dem christlichen König ein.« Solche
Verwechselung von Gott und Götterbild macht es dann (wie bei den
Baalspriestern vor Elisa) begreiflich, daß die straflose Zerstörung von Götter-
bildern durch die christlichen Ikonoklasten sofort von der Schwäche der
Götter überzeugte.
§ 25. Priester und Priestertum5).
Gab es schon bei den Indogermanen Priester? O. Schrader6)
(ommt mit Entschiedenheit zu dem Schluß, daß sie in der Urzeit »noch
(eine gottesdienstlichen Personen« kannten; ja auch in historischer Zeit
loch weder die Slaven , noch die Germanen 7). Diese haben aber zur
£eit des Tacitus schon Priester und Priesterinnen.
Ein Priesterstand scheint sich auf zwei Wege zu entwickeln: erstens
ms den Zauberern, worauf die Verwandtschaft vom altindischen
wahman und lateinisch flamen gedeutet wird8); zweitens durch Erblich-
weit in »heiligen Familien«, wie in Indien, Hellas, Israel9). In beiden
r) Vgl. Säve, Siegfriedsbilder im Norden, Hamburg 1870.
2) Golther S. 606. Vgl. allgemein z. B. Weinreich a. a. O. S. 45. —
Chinesische Götterbilder von deren Seelen bewohnt: de Groot, Kultur der
jegenwart, S. 168. 175.
:?) Ebd.
4) Wie die des Petichos; vgl. Wein reich a. a. O. S. 138.
5) Ritterling, Historisches Taschenbuch 7, 195. — Mogk S. 399, Golther
I 612, Meyer S. 295.
6) Reallexikon 2, 639; vgl. Aryan Religion S. 42 f.
7) Nach Caesar B. Gall. 6, 21 : neque druidos habent , qui rebus divinis
braesint , neque sacrificiis student, »sie haben keine Druiden zur Leitung des
Gottesdienstes und legen keinen sonderlichen Wert auf Opfer , was aber im
Gegensatz zu den keltischen Zuständen gesagt ist (Ebd.).
8) Schrader S. 637.
9) Die Leviten; vgl. ebd. S. 640; Schrader, Aryan Religion, a. a. O.
28*
436 . Fünftes Kapitel.
Fällen ist ein intimes Verhältnis zu bestimmten Gottheiten vorauszusetzen.
Der Patron, der Hausgeist wird Stammgott und seine Verehrer bleiben die
geeignetsten Persönlichkeiten für den Verkehr zwischen ihm und den
Menschen. So hätte etwa Thorgerd eine Lokalgottheit werden und dei
Kult der Familie Häkons anvertraut werden können.
In der Regel gilt wohl beides nebeneinander; so bei den Israeliten
die erblichen Leviten, Nachkommen des runenkundigen Urzauberers Mose,
im Besitz der Tora und daher im Amt des öwarto, des äsega1), und
die Kohanim, besoldete Priester im Besitz der Wahrsagekunst der Loos-
orakel2). Die Druiden sind wesentlich Zauberer; die ägyptischen Priester,
zuerst nur Beamte des Königs3) bilden später einen erblichen Stand4).
Urgermanisch haben wir bereits sowohl Wahl- als Berufspriester.
Die Könige, Häuptlinge, Familienväter opfern ; oder die Besitzer der Tempel-
stätte (althochdeutsch hartigari). Solange sie ein heiliges Werk vollziehen,
sind sie geweihte Personen. — Daß der «Priesterkönig« als Inkarnation
der Gottheit gegolten habe5), scheint nicht beweisbar. Tempelpriester sind
bei Nerthus bezeugt, eine Priesterin bei den Cimbern6). Es gibt aber
auch Staatspriester (oder sind einfach die Tempel priester hierfür verwandt?):
sacerdotes civitatis, die den öffentlichen Gottesdienst leiten, das Losen
in die Hand nehmen, Schweigen gebieten und während des Things (und
wohl auch während des Gottesdienstes) Strafgewalt (im Namen der Götter)
haben 7).
Was die Benennung betrifft8), so heißt der burgundische Opfer-
priester sinisto , n^ecß^Tegog »der Älteste«. Gotisch gudja , altnordisch
godi bedeutet »Gottesdiener«; gotisch blostreis, althochdeutsch pluostrari
»Opferer«; althochdeutsch harugari, parawari Tempelhüter9); als Ver-
kündiger der heiligen Gesetze ewarto, esago. Auch der isländische Gode
hat ganz spezielle Funktion: aus dem dänisch-norwegischen Priester ist
der opfernde Tempelbesitzer auf Island geworden.
Der Stand ist lange dem Adel reserviert10), wie bei Athenern und
Römern vielfach. Im Norden leiten wohl die Herrscher selbst das Opfer11)
und degradieren den Priester zum Küster.
1) Ed. Meyer, Berl. Sitzungsber. 1905 XXXI. S. 10.
2) Ebd. S. 9; anders Giesebrecht, Israel. Rel.-Gesch., S. 116.
3) Erman, Kultur d. Gegenwart, S. 32.
4) Erman, Ägypt. Rel., S. 181. — Indische mythische Priestergeschlechter
vgl. Macdon eil S. 143 f., allgemein vgl. O. Seh ra der.
5) Mogk, Sammlung Göschen 15, 110.
ti) Siehe o. S. 411. 7) Germ. cap. 11.
8) Golther S. 614.
9) Vgl. die eultores templ) der Sandraudiga; siehe o. S. 401.
J0) Golther S. 617f.
ll) Ebd. S. 619.
§ 25. Priester und Priestertum. 437
Während bei den Indern J) eine Frau nicht opfern darf, treffen wir
ei den Germanen früh Priesterinnen2): eine Opferpriesterin bei den
Kimbern; später hat Frey nur Priesterinnen3). Das ursprüngliche Ver-
ältnis war wohl dies, daß den Göttern Priester, den Göttinnen Prieste-
nnen (wie die Vestalinnen) dienten. — Die Frau gilt ja bei den Ger-
lanen von Haus aus für geweiht4). Sie erlosen den Schlachtausgang5)
nd entarten leicht zu Zauberinnen6). Ihre Hauptaufgabe ist die Wahr-
igung, wie sie unter den Brukteren zu Vespasians Zeit Veleda übt.
acitus nennt7) noch die Albrüna, was leicht ein Amtsname (wie Pharao)
sin könnte8). Die Priesterin hat wohl gewöhnlich nur das Amt ohne
ie Gewalt. Im Norden gibt es aber auch weibliche Goden, Tempel-
flegerinnen 9).
Als Tracht10) ist für die Priesterin der Cimbern wie für den
otischen Priester ein weißes Gewand bezeugt. Der Priester der Nahanar-
alen trägt weibliche Haartracht. Die gotischen Priester sind pileati11):
ie tragen wenigstens während der Opferhandlung den spitzen Hut — in
Jachahmung Odins? Eine Annäherung der priesterlichen Tracht an die
.usrüstung der Götter läßt sich öfters beobachten (Brustschild des
ebräischen Hohepriesters und Ägis, Sonnenschild?). Als Abzeichen oder
mitszeichen tragen sie 12) vielleicht den Eidring am Arm 13).
Den angelsächsischen Priestern war es verboten, Waffen zu tragen
nd anders als auf einer Stute zu reiten 14). Ähnliche sondernde Verbote
•effen wir vielfach, so bei den Ägyptern (sie dürfen keine Fische essen,
lohnen nicht einmal sehen)15), bei den Hebräern (sie müssen die Sitte
er Nomaden archaisierend nachahmen) 16). Der spezielle Sinn des angel-
achsischen Verbotes ist offenbar, die Entfernung des Priesters vom Kriegs-
!) Siehe o. S. 411, 6.
2) Mogk S. 900, Golther S. 620, Meyer S. 307.
3) Vgl. o. S. 207. 4) Germ. cap. 8.
5) Bell. Gall. 1, 57. G) Golther S. 620.
7) Germ. cap. 8. — S. Cassel, Prophetinnen und Zauberinnen mit Be-
nennung auf d. deutsche Altertum, Weimar. Jb. 2, 357 f.
8) Andere Beispiele bei Golther S. 621.
9) Ebd. S. 622.
10) Golther S. 617, Meyer S. 301.
n) Vgl. o. S. 407.
12) Golther S. 618, Meyer S. 302.
13) Die ägyptischen Priester, im Altertum die Priester par excellence, tragen
iinenes Kleid und geschorenen Kopf (Erman, Ägypt. Rel. , S. 74. 222); ihr
)rnat ist durch zwei charakteristische Tendenzen bestimmt: Reinlichkeit und
Jtertümlichkeit (ebd. S. 181).
14) Beda; vgl. Golther S. 618.
15) Erman, Ägypt. Rel., S. 181.
16) Vgl. Ed. Meyer a. a. O.
438 Fünftes Kapitel.
handwerk zu illustrieren, die allerdings den früheren Germanen und der
nordischen auch später noch fern lag. Nur um die Ohnmacht der Heiden
götter seinem König Edwin recht augenscheinlich zu beweisen, sprengt«
der schon für das Christentum gewonnene Oberpriester auf dem Streit
hengst des Königs gegen den heidnischen Tempel und schleuderte einer
Speer durch den Zaun ins Heiligtum1).
Die Priester haben auch ihre Nebentätigkeit: sie haben amtlicl
die Weissagung beim öffentlichen Opfer sowie das feierliche Losen zi
leiten 2). Ebenso liegt das Gottesurteil in ihrer Hand ; doch kann eir
Fürst auch hier priesterliche Funktion ausüben3). Natürlich üben si<
privatim gern Weissagerei und Zauber, vorab Beschwörung4).
Sie haben die kultische Tradition zu erhalten. Diesem Zwecl
dient natürlich vor allem die mündliche Unterweisung; aber auch di<
Herstellung und Überlieferung von Denkversen (mit Götternamen, Götter
beschreibungen u. dgl.), von ritualen Sprüchen und Gesängen. Wie be
vielen Völkern geschieht dieser Unterricht gern in katechetischer Form
d. h. durch Abfragen5); Nachbildungen dieser Übung sind Gedichte wi<
Vaf. und Alv. (Die Heldensage mit einem Lied wie der Gripisspä is
hier sekundär.)
Aus dieser Tätigkeit wie ihrer sonstigen Praxis werden sie aber aucl
die ersten Pfleger der Wissenschaft0), wie bei den Indogermanen über
haupt7). Insbesondere die poetische Form schult sich an der festen Forn
des Ritus ; heroische Denkverse folgen den mythologischen 8). Das Zauber
lied9) gehört aber wohl mehr den eigentlichen Zauberern, Gnomik unc
Rätsellied10), Sprüche11) den Erfahrenen überhaupt. Spezifisch eigne
ihnen dagegen12) die Rechtsüberlieferung13). —
Bei Völkern, die auf Opfer mehr Wert legen als die Germanen 14), pfleg
auch der Ritus selbst Gegenstand der Mythologie zu werden
Götter haben ein Opfer eingesetzt, eine Ritualhandlung vorgeschrieben usw
x) E. H. Meyer S. 302; vgl. Vol. Str. 24.
2) Schon in Taciteischer Zeit; Mogk S. 400, Golther S. 631, Meyei
S. 303. 306. Über das Verfahren im einzelnen vgl. Müllenhoff und v. Lilien
cron, Zur Runenlehre, Braunschweig 1852.
3) Gud. 3, 7, spät; christliche Einführung des Gottesurteils durch Olaf der
Heiligen, gest. 1030 (Gering z. St.).
4) Mogk S. 405, Golther S. 641.
5) Vgl. allgemein Meyer S. 303.
6) Golther S. 622.
7) Ed. Meyer, Gesch. d. Altertums 1, 2 S. 779 f.
8) Vgl. allgemein Golther S. 623.
9) Ebd. S. 621. 10) S. 626. ") S. 628.
12) Wie den Leviten; siehe o.
13) Golther S. 624.
14) Nach dem römischen Zeugnis S. 435, 7; vgl. auch o. S. 411.
§ 25. Priester und Priestertum. 439
Wie die Kulthandlung einer einmaligen Gelegenheit entspringen kann, so
wird sie von der Sage1) gern wieder in einen einmaligen Vorgang um-
gesetzt2). Die göttliche Handlung (z. B. die Heilung von Balders Roß
durch Odin) wird wiederholt, das Götterbild episch in Bewegung gesetzt
YAnkunft und Umzug der Nerthus; Werbung der Alces?) unter be-
gleitendem Gesang und ritueller Handlung3).
Solche Umwandlungen, Mythisierungen des Ritus, haben wir
also auch bei den Germanen ; hat doch Kauffmann die ganze Baidersage
so zu deuten versucht und wir wenigstens die Sagen von Skadis Bräutigam-
schau und erstem Lachen. Die höhere Stufe der Kultsage aber, die
Mythisierung von Opfer und Priester, haben die Germanen
nicht erreicht. Sie haben keine göttliche Einsetzung von Opfern oder
Kultstätten, wie etwa die des Delphischen Orakels durch Apollon selbst4);
unter den Göttern gibt es einen Wächter (Heimdall) und spät auch einen
Sänger (Bragi), aber keinen Priester wie Brihaspati 5). Die Götter schaffen
Altäre und bauen Tempel 6) — aber sie setzen keinen Priester ein , und
an einen bestimmten irdischen Tempel ist nicht zu denken. Schon des-
halb ist Kauffmanns geistreicher Einfall, daß die Götter selbst den Balder
opfern, zu verwerfen: nirgends vollziehen die germanischen Götter selbst
rituelle Handlungen wie etwa der büßende Apollo7) oder der im Opfer-
dienst und den Riten erfahrene Agni8). Im Veda sind Priester- und
Kultsagen sehr häufig9).
Die Stellung der Priester in der alten Dichtung ist ja überhaupt be-
sonders wichtig. In den Runen des Kalewala begegnen nur Schamanen ; in
der altgermanischen Poeise nicht ganz selten Zauberer10) und Hexen (wie
*) Vgl. o. S. 45.
3) Vgl. allgemein Usener, Heilige Handlung, Arch. f. Rel.-Wissensch. 7, 281.
3) So bei der Wasserweihe Usener S. 197. Die caterva führt den Kampf
zwischen Sommer und Winter auf S. 313; Ilions Fall als Brechen der Regen-
burgen S. 338; die Aegisdrecka als dramatische Vorführung von Lokis letzter
Herausforderung. Oder der (vermeinte) einmalige Vorgang wird als Ursache
eines Gedenkfestes aufgefaßt (Purimfest und Buch Esther).
4) Preller 1, 285; allgemein vgl. Wundt S. 297.
B) Macdonell S. 101.
6) Völ. Str. 7. Ebs. Jesaia 28, 16 (vgl. H. Schmidt, Jona, Göttingen
1907, S. 88).
7) Preller 1, 287. 9) Macdonell S. 97.
9) Ebd. S. 138 f. — Es ist Zeit, daß man den überreich fließenden Ver-
gleichungen auch solche Kontraste gegenüberstellt. Wie für die Lexikologie ein
»negatives Wörterbuch« gefordert wird (vgl. z. B. Teuchert, Anz. f. d. Alt.
1909; 26, 36), d. h. ein Verzeichnis der fehlenden Ausdrücke, so muß die Mythologie
einen Fehlkatalog haben; wir haben auf seine erstmalige Aufstellung besondere
Aufmerksamkeit verwandt.
10) Wie Jarl Franmar Helg. Hjörv. zu Str. 5.
440 Fünftes Kapitel.
Hrfmgerd) x), aber nirgends Priester, nicht einmal bei dem Gottesurteil der
Gud. III; in der homerischen Dichtung opfernde, wahrsagende Priester|
(Kalchas), beschwörende Priester (Chryses), aber keine Zauberer.
Neben den Priestern und Zauberern gibt es vielfach noch eine drittel
Klasse von Menschen, die zu den Göttern in näherer Beziehung stehen:
die »Heiligen«, d. h. Persönlichkeiten, die um ihrer Vortrefflichkeit
willen Lieblinge der Götter oder zumeist Einer Gottheit sind, die ihnen
gern etwas zu liebe tut2). Dieser Art nähern sich nach Tacitus Zeugnis
die Frauen bei den Germanen überhaupt; aber mit auszeichnender, in-
dividueller Begabung, wie sie etwa Tantalus vor dem Sturz genoß,
scheinen solche Persönlichkeiten bei den Germanen so wenig wie im
Alten Testament3) bekannt zu sein. Doch ist immerhin, wie für dies
an die Himmelfahrt des Henoch, an die angebliche Apotheose von König
Erich in Schweden und an Thorolf auf Island4) zu erinnern. Die Kanoni-
sation wird nur bei Lebenden vermieden. — Zu den analogen Gestalten, die
Preller5) »Heroen der Kunst« nennt, Träger von den Kultsagen vergleich-
baren Legenden über die Anfänge von Wahrsagekunst, Gesang, bildender
Kunst kann ebenfalls nur auf den späten Bragi verwiesen werden.
*) Ebd. Str. 121
2) Die Vorstellung ist gewiß schon ethisch angefärbt; doch nicht so, daß
jeder Götterliebling ein Mustermensch im Sinne jüdischer oder christlicher Heilig-
keit sein müßte; vgl. Duhm, Die Gottgeweihten in d. Alttestamentlichen Religion,
Tübingen 1905. Es genügt eine gewisse Verwandtschaft mit dem Wesen des
Gottes, die etwas von seiner Art mitteilt. — Etwas ganz anderes ist jene
Günstlingschaft, bei der der Gott unmittelbar selbst hilfreich erscheint, wie Odin
bei seinen Lieblingen.
3) Delehaye, Sanctus, S. 162.
4) Golther S. 94; vgl. o. S. 91. 5) 2, 470f.
Sechstes Kapitel.
Weltanschauung.
Das Leben im Tempel vertritt überall (wie für den Katholiken das
Leben im Kloster) das Ideal, ja es stellt dessen Realisierung dar: ein ge-
sicherter Frieden, unmittelbarer Verkehr mit Gott, Zusammenschluß der
Gemeinde, Fernhalten aller Störung. Aber jede Opferhandlung, ja jeder
mythologische Gedanke erinnert an die Realität, an persönliche Forderungen,
menschliche Leiden, Gegensätze, Freundschaften. Das Bewußtsein dieser
nie endenden Bedürfnisse, Nöte und Hoffnungen liegt hinter aller Mytho-
logie; es bewirkt so gut die Vorstellung von bösen und guten Mächten
wie den phantastischen Wahn eines letzten durch Kampf zum Sieg, per
asper a ad astra führenden Krieges — ein Gedanke, der sich in dem
Namen »Siegfried« kondensiert.
Aus der steten Berührung zwischen diesem Bewußtsein und diesen
Wünschen erwächst schließlich die ganze Mythologie. Sie setzt höhere
Mächte voraus, die große Kraft und starken Eigenwillen besitzen ; auf die
man einwirken kann, und zwar durch bestimmte Mittel; die aber sonst
nach eigenem Belieben regieren. Die Mythologie, jede Mythologie ist
Ausdruck einer Weltanschauung so gut wie irgendeine spätere
Religion oder Philosophie.
Wir müssen aber auch nach dem selbständigen Gehalt dieser An-
schauung fragen, der unkontrolliert von jedem übernommen wird oder
in ihren Veränderungen Veränderungen auch der Riten (z. B. Abschaffung
der Menschenopfer) und Mythen (z. B. Humanisierung der Götter) bewirkte.
Die Weltanschauung der alten Germanen können wir nur für die
Nordleute einigermaßen rekonstruieren, da anderweitig das Material zu
spärlich oder zu zweifelhaft ist. Sie zeigt sich in zwei Hauptformen:
1. historisch, vertikal in der Geschichte der Welt (Kosmogenie und
Eschatologie), 2. empirisch, horizontal in der Kosmologie l).
x) Von den isländischen Sagas aus hat V. Grönbech (Lykkemand og Niding
Köbenhavn 1909 ; etwa: »Liebling und Feind der Götter« : man denke an Ibsens
Kronprätendenten) die Weltanschauung der alten Germanen aufzubauen unter-
442 Sechstes Kapitel.
§ 26. Geschichte der Welt.
Was wir »Weltgeschichte« nennen, ist auch bei der umfassendsten Inter
pretation höchstens eine Geschichte der Menschheit; eine Geschichte der
Welt aber, wie sie etwa Bossuet oder gar Görres geben wollte, eine Ge-
schichte der großen Momente im Leben der Welt (wobei gerade die
historischen Zeiten zurücktreten) entwirft die altnordische Völuspä1).
Vor allem um dies Gedicht handelt es sich bei dem Kampf um die
> Echtheit der Eddalieder«, der seinerzeit besonders zwischen dem Dänen
Bang und dem Norweger Bugge auf der einen, Müllenhoff auf der andern
Seite mit der Heftigkeit einer Götterschlacht durchgefochten wurde, wo-
bei freilich Müllenhoffs »Asenzorn« allzu leicht von wissenschaftlicher in
moralische Verwerfung überschlug und der Bedeutung eines Sophus Bugge
mit einem an kleinen Nibelungen-Gegnern geübten Überlegenheitsgefühl
verletzend begegnete. Im wesentlichen hat Müllenhoffs Anschauung wohl
unbedingt gesiegt. Die schönste Charakteristik vom heutigen Standpunkt
gibt Olrik2).
Der Dichter der Völuspa war ein grübelnder und suchender Geist,
der seine Entwicklung der gärenden Wikingerzeit verdankt. Er hat ver-
sucht, das Problem zu lösen, wie die ererbte Mythenwelt mit den neuen
Gedanken sich vereinen ließe. Er schuf ein Werk voll Schönheit, Be-
geisterung, Tiefsinn. Es ist nicht ein Versuch, die Asenlehre zu ver-
teidigen, und auch nicht ein Versuch, christliche Wahrheiten in heidnische
Tracht zu kleiden. Es ist die selbständige Arbeit einer ernsten Natur,
die den innersten Zusammenhang des Daseins erfassen wollte.
>Der Dichter der Völuspä«, sagt Olrik an anderer Stelle3), »hat
wirklich auf dem Standpunkt gestanden, von dem er die Welt der Äsen
überschauen konnte4).«
nommen. (Edv. Lehmann hatte die Freundlichkeit, mich auf das Werk auf-
merksam zu machen). Es handelt sich in Band I. besonders um das Verhältnis des
Einzelnen zur Gesellschaft (Frieden und Ehre) und zum Schicksal (Glück, d. h.
Übereinstimmung zwischen Charakter und Leben); vgl. bes. S. 123 f. über die fast
Schopenhauerische Lehre von der Bedingtheit des Schicksals.
r) Andreas Heusler, Völo spö, übersetzt und erläutert Berlin 1887;
E. H. Meyer, Die Völuspä, Berlin 1889; F. Detter, Völuspä, her. und erklärt
Wiener Sitzungsber. CXL, V, Wien 1899. — Man setzt sie zumeist .ins 10. Jahr-
hundert: H off ory nach 950, Finnur J önsson ins 9— 10. Jahrhundert: Oldnord.
Lit. Hist. S. 133. — Für die Analyse des großen Gedichts tat das Wichtigste
Müllenhoff, D. Altertumskunde 5, 4f; ergänzend Hoff ory, Eddastudien, S. 17 f.
2) Nord. Geistesleben S. 102.
») a. a. O. S. 98.
4) Boer (Ztschr. f. d. Phil. 36, 289) hat den Dichter natürlich in zwei Teile
gespalten (vgl. S. 357); aber seine hiermit nicht zusammenfallende — Ein-
teilung nach Strophen, in denen in erster oder dritter Person erzählt wird (S. 325)»
ist ein rechtes Beispiel äußerlicher »höherer Kritik«.
§ 26. Geschichte der Welt. 443
Das Gedicht genoß bei der Nachwelt kanonisches Ansehen *) und
wurde in der Edda an den ersten Platz gestellt. Eben deshalb ist ihm, wie
ich mit Vielen 2) annehme, eine eigentümliche Auszeichnung widerfahren :
der christliche Sammler empfand die Macht dieses heidnischen Bekennt-
nisses so stark, daß er durch einen christlichen Schluß ihm die Spitze
abbrechen zu müssen glaubte. Bei einem kryptochristlichen Gedicht, wie
Bugge und E. H. Meyer es aus Reminiszensen aufbauen, die ein so einheit-
liches Werk nie hätten ergeben können, wäre diese Verwahrung über-
flüssig gewesen.
Das Gedicht ist also die Tat eines Einzelnen, und wir dürfen es
nicht ohne weiteres als nationales Zeugnis in Anspruch nehmen. Aber
nur die Durchdringung der gesamten Weltentwicklung, die individuelle
Bearbeitung der WelU (im Sinn der deutschen Naturphilosophen) gehört
dem Dichter allein. Der allgemeine Glaube kannte schwerlich die Ver-
knüpfung von Anfang und Ende, sondern nur beides für sich. Zwischen
den beiden Polen stand ohne besondere Würdigung die Gegenwart,
d. h. die ganze Weltgeschichte in unserem Sinne: fängt doch jenseits
der dritten Generation für den Primitiven die mythische Zeit an3).
Wir werden also annehmen müssen, daß in bezug auf jene beiden
Hauptmomente; Schöpfung und Weltuntergang (oder, vom Standpunkte
mindestens des Gedichtes, besser: Schöpfung der ersten und der zweiten
Welt) der Dichter sich wesentlich rezeptiv verhält. Dies bestätigt sich
auch bei näherer Prüfung; doch nur in dem Sinne, daß er unter ver-
schiedenen vorhandenen Mythen teils die ihm am meisten zusagende
wählt (bei der Kosmogonie), teils einen Zusammenhang kombinatorisch
herstellt (bei der Eschatologie). In beiden Fällen aber hat er wirklich
ältestes Gut geborgen, zum Teil direkt eingearbeitet (wie die vielleicht
schon in indogermanischer Zeit geformten Verse vom Chaos), zum Teil
eigenartig verwandt (wie vermutlich den als Kehrreim benutzten Vers
von dem bellenden Hunde Garm). — Die Frage endlich, wie weit er
auch bei seiner eigentlichen Tat, der Zusammenfügung beider Mythen zu
einer pragmatischen Biographie der Welt, sich auf ältere Anschauungen
oder Vorarbeiten stützen konnte, werden wir am Schluß dieser Darstellung
zu erörtern haben.
Es ist hier noch besonders daran zu erinnern, daß wir vom mytho-
logischen Standpunkt zu interpretieren haben, nicht vom literarhistorischen.
Sichere Interpolationen haben wir natürlich auszuscheiden, im übrigen
aber das Gedicht im Wesentlichen als Einheit zu behandeln.
1) Vgl. Olrik S. 102.
2) Gegen Hoffory S. 119.
3) Wie erinnern an die jungen Gebilde der drei Nornen: siehe o. S. 154.
444 Sechstes Kapitel.
Von jenen beiden Motiven oder Motivkreisen nun ist der Welt-
untergang das prius: was aus ihnen werden wird, interessiert die Leute
immer mehr, als wie sie geworden sind. Die rückwärts schauende Pro-
phetie ist erst ein später Urenkel der vorausschauenden. Dies gilt überall
in so starkem Maße, daß vielfach die Weltschöpfung nach dem Muster
des Weltuntergangs geformt ist x) ; doch kommt vereinzelt auch das Gegen-
teil vor. — Allerdings kennen viele Mythologien und Religionen (z. B.
die der Bibel) wohl die Schöpfung, aber nicht den Weltuntergang; aber
das liegt, glaube ich, daran, daß sie den ursprünglichen Weltuntergangs-
bericht, die Sintflut, schon historisiert und sozusagen in den geschichtlichen
Verlauf eingeschluckt haben. Dies aber ist eine persönliche Ketzerei.
Die Lehre vom Weltuntergang2).
Es gab eine urgermanische Lehre vom einstmaligen Untergang der
Welt, wie in vielen primitiven Mythologien (wenn nicht in allen). Ihre
Urform war wahrscheinlich die vom Verbrennen der Erde (wie im
entscheidenden Augenblick der Gigantomachie) 3), jedenfalls aber irgendeiner
elementaren Zerstörung der Erde. Eben das bedeutet wohl doch mudspello,
muspilli — nach Olrik ein ursprünglich christlicher Ausdruck, der aus
Deutschland in den Norden (muspell) übernommen sei. — Wärme er-
scheint als Bedingung des Lebens 4) ; der Untergang des Lebens wird also
entweder durch Überhitze oder durch Kälte herbeigeführt — zwei Möglich-
keiten, die noch die physikalische Eschatologie unserer Tage erwägt5).
*) Frobenius, Weltanschauung der Naturvölker, Weimar 1898, S. 358:
eine primitive Schöpfungsmythe (sie.) gibt es nicht«.
2) Mogk S. 381, Golther S. 531, Meyer S. 456f. (der alles für Nach-
bildung christlicher Mythen hält, wie gemäßigter auch Chantepie S. 202.353);
vgl. Meyer S. 501. Epochemachend für unser Verständnis der eddischen Be-
richte Olrik, Om Ragnarok, Kopenhagen 1902 (kritische Referate von Rani seh.
Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1904 S. 457; Golther, Lit.-Bl. f. germ.-rom. Phil. 1904
S. 59; Much, Anz. f. d. Alt. 49 (1908) S. 153 f.; Kahle, Arch. f. Rel.-Wissensch.
8, 431 f. 9, 61 f.). — Zeugnisse : zweifelhaft das althochdeutsche Gedicht Muspilli
(MSD. N. I. III.) i reinchristlich auch nach der sorgfältigen Untersuchung von
G. Grau, Quellen u. Verwandtschaften d. älteren germ. Darstellungen d. Jüngsten
Gerichts, Halle 1908, S. 2191, vgl. Lit. S. 2801; in der Edda (Golther S. 531)
Vol., dazu Val und Vol. h. sk. (in den Hyndl.); Gyll cap. 35—51 (Gering
S. 348 f) ist ganz unselbständig. — Ich folge hier nach Möglichkeit Olrik, dem
unerreichten Meister der Quellenscheidung; in der mythologischen Interpretation
müssen wir ihm allerdings öfters widersprechen. — Für die Theogonie und
Eschatologie allgemein vgl. Wundt S. 4321 4531; Leo Frobenius, Aus d.
Flegeljahren d. Menschheit, Hannover 1901, S. 300f; für die Inder noch bes.
Deussen, Allg. Gesch. d. Philologie, Leipzig 1909; 2, 2821
3) Prell er 1, 58. 4) Vol. Str. 18.
5) Svante Arrhenius, Die Vorstellungen vom Weltgebäude im Wandel
der Zeiten, Leipzig 1908.
§ 26. Geschichte der Welt. 445
Im Einzelnen sind drei Varianten vorhanden: 1. Der Weltbrand
wird von Olrik *) wohl mit Unrecht 2) geleugnet. Für ihn sprechen nicht
nur die — von Olrik wohlbeachteten — Analogien anderer Mythologien,
sondern auch — trotz seinen scharfsinnigen Ausführungen — die ein-
fachste Deutung des Unholdes Surt, der freilich auf die Völ. beschränkt
ist. Aber er kommt dort in einer Weise vor, die bei einer neuen Er-
findung so schwer erklärlich wäre, wie sie bei Verwendung einer alten
Figur leicht verständlich ist.
2. Die zweite Variante ist der Fimbulvetr, Schreckenswinter3),,
eine spezifisch nordische Sage4). Es entsteht unter lokalen Bedingungen eine
Art nordischer Sintflutsage, wobei zwei Menschen, Lif und Lifthrasir5)
(zu Ufa leben) sich im Gehölz verbergen (wie das Feuer im Rohr) und
Ahnherren des Menschengeschlechts werden, nach der Vergletscherung
wie Deukalion und Pyrrha nach der großen Flut.
Die »Rettung« der beiden ersten Menschen unserer Urgeneration ist, mytho-
logisch betrachtet, nichts anderes, als eine wiederholte Schöpfung der Menschen.
Eine rationalistische Kombination verschiedener Schöpfungssagen ist bei dem
typischen Vorkommen der »zweiten ersten Menschen« nicht wahrscheinlich. Viel-
mehr brachte wohl ursprünglich die Erde nach der Zerstörung die neuen Menschen
selbst hervor, etwa wie dem Wölund die Flügel wieder zu wachsen scheinen.
Und nur hierauf, glaube ich, bezieht sich die vielverbreitete Sage vom Ursprung
der Menschen aus Baum oder Stein6). In primären Schöpfungssagen kommt
der Baum nur bei den Ariern vor7) und wohl auch nur bildlich8). Die alte
Frage aber: ov ya.Q dnb figubg iaai ovd* dnb 7Z£tqt)s, von Baum oder Stein stammst
du doch wohl nicht ab?, bezieht sich auf die neue Entstehung. Spuren der
gleichen Sage bei den Juden: »die Israeliten sagen zum Holz ,du bist mein
Vater' und zum Stein ,du hast mich gezeugt'9). Überall diese Doppelung: Holz
und Stein; vielleicht auch, weil beide Feuer hegen können? — Kleine Variante
in Indien: tsybg yd/uog zwischen Stein und Staude, eines (donnerkeilartigen) runden
Kiesels und einer heiligen Staude (deren Form vielleicht an Genitalien er-
innert?)10).
Deshalb nennen sich altersstolze Völker Kinder der Bäume und Gesteine11):
nur Baum und Stein bleiben nach der Flut übrig; aus ihnen bringt die Schöpfungs-
kraft Menschen hervor. — Wenn also Usener12) mit vollem Recht sich selbst ver-
3) S. 195 f. -) Vgl. Ranisch S. 458. 3) Olrik S. J'67f.
4) Much (a. a. O. S. 156) sieht gewiß mit Unrecht in dem Gott Uli eine
Verkörperung dieser götterfeindlichen Macht.
6) Vaf. Str. 45. Die Namen sind gewiß jung.
6) Vgl. z. B. Golther S. 526 und bes. Müllenhoff, D. Alt. 5, 15.
7) Lukas, Die Kosmogonien, S. 253.
s) Ebd. S. 91.
9) Jer. 2, 27; anders gedeutet Giesebrecht, Israel. Rel.-Gesch., S. 31.
10) J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 377; vgl. Eißler, Südd. Monatshefte, Dez. 1909,
S. 646, und bes. Kuhn, Mytholog. Studien 1, 92.
n) Vgl. J. A. Frantzen in Kuhns Ztschr. 42, 330.
12) Sintflutsagen S. 245.
446 Sechstes Kapitel.
bessert: das Menschengeschlecht zu erneuern oder vielmehr zu erschaffen , so
hat er dabei mit Recht gerade auf die uralte Sage von Deukalon und Pyrrha ver-
wiesen (man denke auch an die Drachensaat des Kadmus). Wohl melden auch
Indianermythen die Neuschöpfung durch Werfen von Steinen1); ursprünglich aber
warfen wohl die Steine den neuen Adam und die neue Eva aus. Und ebenso,
um zum Schluß zu kommen, bedeutet das > Verbergen im Gehölz« nichts anderes
als ein Wachsen an den Bäumen. Du, Erde, warst auch diesesmal beständig« :
die gerettete Erde schafft weiter. (»Allah braucht nicht mehr zu schaffen — wir
erschaffen seine Welt« 2).
3. Das Chaos kehrt wieder. Zwei Urformen sind zu scheiden:
"die Erde sinkt ins Meer — nachdem die Götter sie im Anfang, wie auch
die Sonne3), befestigt hatten4) oder die Sonne wird verschlungen5). Dies
ist ein häufiger Zug am Atlantischen Ozean und bei vielen Inselvölkern,
auch Kelten. Die Sonne sinkt ja täglich ins Dunkel: am Ende der Tage
versinkt sie dabei endgiltig.
Diese drei Mythen: Untergang der Welt durch Feuer — Kälte —
Rückkehr ins dunkle Chaos (denn das ist doch gemeint)6) können neben-
einander laufen; gerade in solchen Gebieten sind Doubletten häufig (wie
bei der Schöpfung: Genesis!). Jede von ihnen läßt die Möglichkeit einer
Neubildung der Welt zu. Jede ist weiterer mythologischer Einkleidung
fähig. Das Feuer verkörpert sich in einem (feuerspeienden) Drachen, die
Auflösung des Himmelsgewölbes und der sie tragenden Erde in Sonnen-
wölfen und Midgardsschlange ; oder die Dämonen des verzehrenden Feuers
und der erschöpfenden Kälte erhalten ihre Kollektivdämonen in Surt (später
zum Teil durch Loki verdrängt) und Hrym. In jedem Fall müssen die
erhaltenden und zerstörenden Mächte sich in einer letzten großen Schlacht
messen, wie in der hellenischen Gigantomachie oder dem letzten Krieg
der Ormuz-Religion. Das fordert die mythologische Logik, so gut wie
die heroische einen letzten Entscheidungskampf verlangt, eine Bravalla-
schlacht oder eine Nibelungennot.
Im Einzelnen bleibt also noch Raum genug zur Gestaltung; und so
wird es wohl zutreffen, was Olrik7) ausführt: daß die entsprechende keltische
Mythe von der Götterschlacht auf die germanische eingewirkt hat 8).
Ebenso oder noch bestimmter wird man jedoch einen Einfluß der Helden-
sage annehmen müssen ; so vor allem in jener Auflösung der Schlacht in
Zweikämpfe, auf die Roethe in seiner geistreichen Erschließung des
x) Usener a. a. O.; Andree, Die Flutsagen, S. 182. 183.
3) Olrik führt die Erneuerung auf Wiedergeburt zurück ; vgl. R a n i s c h S. 460.
3) Vol. Str. 4—5. 4) Vol. Str. 57.
5) Völ. Str. 40; vgl. Vaf. Str. 56.
6) Vgl. Saxo S. 262, Hermann S. 350.
7) S. 212.
8) Einschränkungen im einzelnen bei Much S. 155.
§ 26. Geschichte der Welt. 447
lateinischen Nibelungenliedes1) so großes Gewicht legt, die aber typisch
zu sein scheint2). Wenn die letzte Entscheidung3) durch das Feuer
gegeben wird, die Lohe zum Gewölbe aufschlägt und die Götter (muß
man annehmen) ersticken, so mag hier das im Epos (und der isländischen
Saga) beliebte Motiv des Saalbrandes einwirken4). Wenn ferner außer
Hönir (mit dem es seine eigene mythologische Bewandtnis hat) nur zwei
junge, bisher unbekannte Götter Ragnarok überleben (denn Balder und
Hod kommen ja aus Hei zurück), so erinnert das an den typischen Zug
der Heldensage, daß bei der Ausrottung des ganzen Geschlechts Ein
Knabe am Leben bleibt5): so bei den Völsungen, den Fabiern, bei dem
vornehmen venetianischen Patriziergeschlecht der Giustiniani 6).
Diesen Stand: Kombination der Mythen (Surt und das Feuer, Fenris-
wolf und die Sonne) in gleichsam annalistischer Aufzählung zeigt etwa
das Gedicht Vafthrudnismäl7), das sehr alte Überlieferung mit jedenfalls
junger Sage vereint zeigt8). Die Völ. aber ersetzt nicht nur das Staccato
durch ein Legato, sie bringt auch Neues hinzu.
Mit Wahrscheinlichkeit können wir dem Dichter der Völ. zuschreiben:
erstens die Ausmalung der Götter seh Facht; insbesondere die Aus-
führung der — an sich wohl größtenteils alten — Vorzeichen. Das
Ungeheuerste geschieht: die Sippe löst sich9), der Weltbaum bebt10).
Dazu akustische Signale: außer Heimdalls Hörn noch die Harfe seines
Gegenbildes, des Unterweltwächters Eggther — wobei die Absicht, die
Musik zu vervielfältigen, recht deutlich wird; die beiden Hähne krähen
*) Nibelungias und Waltharias, Berl. Sitzungsber. 1909 S. 673.
-) Man vgl. z. B. in der Ilias den entscheidenden Kampf an den Schiffen,
auf den übrigens auch wie im Nibelungenlied der Brand folgt. — Olriks Meinung,
die Kämpfe zwischen Loki und Heimdall, Frey und Surt seien Erdichtungen
Snorris, hat trotz Muchs Widerspruch (S. 160) viel für sich: die pointierte Gegen-
überstellung des Schließers und Eröffners (die freilich schon in der Volkssage
persönliche Gegner geworden waren), der milden Wärme und der versengenden
lHitze schmeckt nach gelehrter Theologie. Aber Snorri vervollständigt damit nur
die Völ. Str. 53 — 55 gegebene Tendenz — gerade wie in Ilias oder Nibelungen-
lied solche Anregungen pedantisch fortgeführt werden.
8) Völ. Str. 67.
4) Vielleicht deutet der Endreim in der hierher gehörigen Str. 52 (vgl
Heinzel-Detter 2, 70) auf Benutzung volkstümlicher Dichtung; vgl. auch
ebd. S. 76 zu Str. 57.
5) Das Schema alle außer — « vgl. o. S. 18.
6) Kretschmayr, Geschichte Venedigs I, Gotha 1905, S. 257.
7) Ranisch S. 461.
9) Daher auch das Schwanken der Datierung: 930 — 950 Sijmons, 10. Jahr-
hundert FinnurjönssonS. 141, 1030—1050 Heusler, Arch. f. n. Spr. 116, 270.
Alle gute Tradition aus der Völ. abzuleiten, geht meines Erachtens durchaus
nicht an.
9) Völ. Str. 45. 10) Völ. Str. 47.
448 Sechstes Kapitel.
sich im Kampf an ; und all dies übertönt in kunstreicher Fuge x) der
Hund der Hei. Zweitens die Auflösung des Einen dämo-
nischen Heeres in drei Haufen unter Surt, Hrym, Loki mit Ver-
teilung auf drei Weltrichtungen 2). Drittens die Verknüpfung der Vor-
bereitungen auf den Weltuntergang mit Balders Tod. Wir vermuteten
wenigstens, daß ursprünglich eine dämonische Provokation unmittelbar!
zu diesem Kampf geführt hatte3), was wohl auch mehr dem Geist alter
Mythologie entspricht: Balder wird ja gerächt, was brauchts da mehr?
Nun aber wird Balders Tod zum Angelpunkt der Entwicklung gemacht,
wie etwa in der Ilias der Zorn des Achilleus. Gleichzeitig wird damit
zu der ersten Provokation, der der Wanen durch Thor4), ein wirksames
Gegenbild geliefert.
4. Was das Wichtigste ist: die ethische Motivierung. Ganz
braucht sie nicht von ihnm zu stammen; denn fast bei allen Sintflutsagen hat
sie sich eingestellt5). Aber die strenge Verbindung von Schuld und Strafe
gehört wohl erst diesem Denker; früheren genügte eine Provokation der
Bösen. Die Völ. erst gibt wie die biblische Schöpfungsgeschichte6) »die
Durchdringung eines gegebenen Stoffes mit theologischen Gedanken«. —
Wie der Dichter überhaupt gern nach der Dreizahl gliedert7), was
besonders der Garm-Gegenrefrain 8) markiert, so gibt er auch den Sünden -
fall der Götter in drei Abteilungen:
1. Die Götter verletzen das Recht im Wanenkrieg, und zwar wiederum
dreimal : erstens durch die Tötung der — freilich verderblichen — Gullveig-
Heid; alle Äsen beteiligt. Zweitens Odin schleudert voreilig den Speer;
drittens Thor schlägt voreilig zu: beide Hauptgötter unterbrechen eigen-
willig die Verhandlungen der Götter. — Hier ist zweierlei kaum zu ver-
kennen : zunächst der Versuch, den Wanenkrieg überhaupt auf ein höheres
Niveau zu heben. Ursprünglich war es9) ein Konkurrenzkampf um den
r) Vgl. die Refrainzeilen in den Rig.
2) Olrik S. 278; vgl. Ranisch S. 462. Philpotts (Ark. f. nord. Fil. 21, 29)
will Surts Kommen von Süden geographisch deuten: im Süden Islands liegen die
Hauptvulkane.
3) Lok.; vgl. o. S. 295.
4) Völ. Str. 26, vgl. Str. 24. Ebenso dient der Schuß des Pandaros lediglich
der epischen Entwicklung (Bethe, Hektors Abschied, Leipzig 1909, S. 415 f.);
wobei auch an wirkliche Erfahrungen zu denken ist, wie etwa an die Schüsse
vom 18. März 1848 und ihre Wirkung. Noch Bismarck weist (bei M. Busch)
darauf hin, wie aus den Schüssen von ein paar Vorposten eine große Schlacht
entsteht.
5) Vgl. Usener a. a. O. S. 201 f.
6) Holzinger, Genesis, S. 17.
7) Vgl. Olriks Gesetz Zschr. f. d. Alt. 51, 4.
s) Str. 44. 49. 58.
9) Wie Str. 23 noch verrät.
§ 26. Geschichte der Welt. 449
Opfergenuß: der Dichter verbindet den Krieg mit der uralten Legende
wm Fluch des Goldes *) und macht aus den Äsen berechtigte Vertreter
einer nur in den Mitteln sich vergreifenden Abwehr. Ferner: die Schuld
»oll auf möglichst viele Schultern verteilt werden; es ist denkbar, daß
ursprünglich nur Thors Heftigkeit den Vertrag hinderte — er mag den
Wanen wie in der Lok. dem Loki gedroht haben.
Dies ist die erste Sünde: der Vertragsbruch, der Meineid — schon
in der Urzeit 2) die schwerste Schuld — und nun von den Gesetzeshütern,
den Göttern, begangen3)!
2. Die Götter verletzen das Recht bei Balders Ermordung: Brüder fällen
inander, denn mindestens als Äsen sind Hod und Balder versippt. Dies
ist die zweite Sünde: die Zerstörung der Sippe. Die erste Schuld wird
durch Frieden beglichen ; kein böser Dämon ist unmittelbar beteiligt, denn
Gullveig ist nur Opfer. Die zweite wird durch Rache getilgt; aber die
bösen Dämonen haben schon ihren Weg ins Innerste der Ordnung ge-
funden und Loki muß gefesselt werden4).
3. Die Götter verletzen endlich das Recht bei Beginn der Wolfzeit:
sie hüten nicht mehr die ihnen anvertraute Menschheit, lassen als
»schlechte Hirten Unzucht, Verwandten mord, Lösung aller Bande frommer
Zucht zu5).
Das ist die dritte Sünde: der Gefolgsherr läßt seinen comitatus*)
im Stich. Die Schlechtigkeit ist in das Herz der Welt, in die Götter-
gemeinschaft, eingedrungen. Da gibt es weder Vertrag mehr noch Rache :
jetzt gilt es den endgültigen Kampf zwischen Gut und Böse; und nur
die Austilgung aller Beteiligten kann eine neue Welt ermöglichen. Die
alten Götter leben dann fern von unserer Welt in den Elysischen Feldern
*) Vgl. o. S. 343. Man denke auch an Pandora.
-') Vgl. Str. 39.
3) Die seltsame Nachricht Saxos, daß Tosto als Erster beim Würfelspiel
-dnen Gegner erschlug (S. 35, Herrmann S. 43; vgl. allgemein Tacitus
perm. cap. 22), mit Vol. Str. 8 kombiniert, ergibt vielleicht einen alten Mythus
olaß Gullveig die Götter zum Spiel um Gold reizte und hierbei der erste Mord
geschah (Sigtrygg kann nur mit Gold getötet werden: Saxo S. 17, Herr-
mann S. 21.
4) In der Schilderung der Fesselung Lokis (Völ. Str. 35) hat der Dichter
bewußt vereinfacht, denn die Gestalt der Sigyn setzt jene märchenhafte Aus-
malung der Gefangenlegung wohl schon voraus, die wir bei Snorri (Gylf. cap. 50:
Gering S. 347; vgl. Golther S. 351. 421; Meyer S. 399. 454; v. d. Leyen,
Festschr. f. Kelle, S. lf.; Kaarle Krohn, Finnisch-ugrische Forschungen 7, 129)
finden. — Merkwürdig, daß bei Sigyn noch niemand an christlichen Einfluß ge-
ldacht hat, den wir allerdings (vgl. o. S. 349) auch hier ablehnen müßten. —
Über das Erdbeben als Folge der schmerzhaften Umwälzungen Lokis vgl. o. S. 337.
5) Str. 45.
»6) Germ. cap. 13—14.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 29
450 Sechstes Kapitel.
und träumen ihre Jugend noch einmal x) ; die Menschenwelt aber ge
hört den Opfern der zweiten Katastrophe 2) und der reinen Göttet
jugend.
Dieser tiefgreifend durchdachte Aufbau kann nur Einem gehören
aber Vorstufen zu seinem Tempel liegen überall : in der moralischen Ent
rüstung über Geld und Habsucht — zu der in der Zeit der nach Schat
gierigen Wikinger Anlaß mehr als genug war3); in der ethischen Aus
bildung des Baidermythus; in dem wachsenden sozialen Verantwortlichkeits
gefühl, das4) Odins Ungerechtigkeit schilt und die Könige zu Odin un<
Heimdall in die Lehre gibt.
Die wichtigste Frage freilich ist die, wie weit überhaupt die dno
xardoraoig, die Wiederbringung der verlorenen Güter, volkstümliche An
schauung war. Doch läßt sich kaum bezweifeln, daß sie es war
Vaf. Str. 39 läßt Njord zu den Wanen heimkehren ; Vaf. Str. 54 läßt Odii
das Wort in Balders Ohr raunen, was nur bei seiner dereinstigen Wieder
kehr einen Sinn hat; und beides kann kaum Erfindung der Vaf. sein
Ferner spricht die Analogie der zahllosen Sintflutsagen dafür, die all
nach der Weltzerstörung ein neues Geschlecht beginnen lassen ; schließlic!
das psychologische Bedürfnis der Menschen nach Versöhnung und di
Erwartung besserer Zeiten überall5).
Eine Reihe weiterer Eigenheiten der Vol., besonders auch in Bezu^
auf die Kampfschilderung, deckt Olrik6) auf; insbesondere rechnet er7
Heimdalls Hörn hierher, dessen Ton er für Nachahmung des christlicher
Posaunenstoßes vor dem jüngsten Gericht erklärt — schwerlich mit Recht
wie Ranisch8) gut zeigt.
Schließlich bleibt noch das Problem, wodurch der Dichter der Völ
in seinen Neuerungen beeinflußt wurde? Olrik stellt9) eine etwas be
ängstigende Liste der heidnischen (zum Teil persischen, keltischen), heidnisch
christlichen und christlichen Bestandteile auf und unterschätzt, wie ich
glaube, überall die Möglichkeit ursprünglicher Übereinstimmungen. Den1
Dichter der Völ. insbesondere schreibt er christliche Gedanken zu be
dem Verderbnis der Menschheit, dem Hornstoß Heimdalls, dem Ver
löschen der Gestirne, dem Weltbrand — alles Punkte, in denen wir ihm 10
nicht folgen können und endlich in zwei Momenten, die sich auf di<
*) Str. 60.
2) Denn seit Loki der Urheber der Tat ward, ist auch Hod ein Opfer.
8) Olrik (Altnord. Leben, S. 74) erinnert an San Francisco oder Klondyke
4) Lok. Str. 22.
5) Scholl, Die Messiassagen, Hamburg 1852, bes. S. 47.
6) S. 267 f., bes. S. 271 f. 7) S. 274.
8) a. a. O. S. 462. 9) S. 289.
10) Zum Teil gegen Golther; Ranisch S. 463.
§ 26. Geschichte der Welt. 45 1
neue Welt beziehen : die Halle der Seligen und die Ankunft des Mächtigen.
Und damit stehts wohl anders als mit den anderen Punkten.
Die Lehre von der neuen Welt.
Die Lehre vom Weltuntergang scheint also urgermanisch, ist jeden-
falls urnordischer Besitz. Das alte Wort dafür, ragnarök , Schicksale
der Götter1) wird früh in ragna rökkr2) Finsternis der Götter
(»Götterdämmerung« nach Simrocks verhängnisvoller Übersetzung) ver-
drängt8): die Paradoxie, daß die hellen Götter in die Finsternis stürzen,
war verlockend.
Die Lehre vom Auftauchen einer neuen Welt haben wir für alt
gleichfalls erklären zu müssen geglaubt — nicht wegen des Glaubens an
die Wiedergeburt4), die hier übrigens schon deshalb ausgeschlossen scheint,
weil die alten Götter ja noch leben, wenn auch »emeritiert« auf Idafeld.
1 Auffallend, wenn auch motiviert, bleibt immerhin, daß gerade die Lieblings-
götter — außer Balder — in der künftigen Welt verschwinden. Aber
Balders Wiedergeburt war durch seinen Mythus (wie durch den des
Osiris, Adonis usw.) gefordert; sonst käme wohl überhaupt eine neue
Götterwelt.
Daß aber diese neue Götterwelt selbst von Einem allgewaltigen
höchsten Herrscher und Gerichtsherrn regiert werden soll, folgt so wenig
aus den mythologischen Voraussetzungen der Vol., daß es ihnen vielmehr
widerspricht. Wir müssen hier5) an den christlichen Gott denken. Er
tritt die Herrschaft an — Nidhögg, der alte Drache6), vertilgt die Leichen
des Kampffeldes, und auf reiner Erde wird ein anderer Gott herrschen.
Christlicher Einfluß ist wohl auch in der Halle der Seligen GimU
(»Edelsteindach«) zuzugeben. Es ist gewiß ein Gegenbild zu Walhöll,
aber7) in christlicher Auffassung als Belohnung für die Guten8).
Diese Strophe spricht man9) dem Dichter ab; mit gutem Recht, nur
muß man dann auch die anderen christianisierten Strophen für Zusatz
eines vorsichtigen Sammlers halten 10). Olrik war früher geneigt, sie dem
1) Vol. Str. 44, Veg. Str. 14 u. ö.
2) Lok. Str. 39; Snorra Edda.
3) Vgl. Müllenhoff, H. Z. 16, 146; Golther S. 537, 1.
4) Vgl. Rani seh S. 461 gegen Olrik.
5) Wie Hyndl. Str. 45; vgl. Heinzel-Detter 2, 80.
6) Str. 66-39.
7) Vgl. Heinzel-Detter 2, 81.
") Vgl. Gylf. cap. 3: Gering S. 300. Immerhin ist darauf hinzuweisen, daß
auch die vedische Mythologie einen Himmel für die Guten und eine Hölle für
die Bösen entwickelt hat (Macdon eil S. 167), unter priesterlichem Einfluß, der
das schließlich auch bei den Germanen bewirken konnte.
9) Heinzel-Detter a. a. O.
10) Bedenken äußert Heusler, Ztschr. d. V. f. Volksk. 1902 S. 237.
29*
452 Sechstes Kapitel.
Dichter zu belassen , spricht sich jetzt aber auch für dessen Heiden-
tum aus.
Endlich ist noch die viertletzte Strophe zu bedenken. Über die jungen
Götter der Zukunft herrscht Unsicherheit; nach Vaf. Str. 51 sind es die
Rächer Widar und Wali neben Thors Söhnen Modi und Magni1); aber
Widar und Wali sollen Söhne Odins sein, und Thor ist kein Bruder
Odins. Daß die beiden Hauptgötter, obendrein die Hauptschuldigen
am Wanenkrieg, durch ihre Söhne ersetzt werden2), leuchtet ein; was
aber bedeutet Völ. Str. 63: die Söhne von Tveggis (d. h. Odins)
Brüdern«?
Brüder Odins gibt es nur nach Snorri3), denn in der offenbar von
ihm benutzten Strophe Lok. 26 steht kein Wort von ihrer Brüderschaft;
da stehen beliebige Buhler, und gleich zwei, um die Schmach zu
häufen — wie Freyja mit ihrem Bruder und Njord mit seiner Schwester
gebuhlt haben soll. (Die Namengruppe Frey-Freyja half; und sollte zu
Njord das alte Feminium nicht auch noch gelebt haben?). — Aber der Dichter
von Völ. Str. 63 hat wohl sicher an Wili und We gedacht, die er um des
Gleichklangs willen zu Eltern Walis und Widars machte, während von
Neffen Odins nichts bekannt ist. Und somit dürften auch diese Verse
ein Zusatz Snorris sein, der mit der Dreiheit Odin — Wili — We zu dem
christlichen Gott überleitet und vielleicht schon den Namen Tveggi für Odin
absichtlich wählte, um auf den Einen Gott in drei Personen vorzu-
bereiten.
Die Lehre von der Weltschöpfung4).
Tacitus berichtet: >die Germanen feiern in alten Liedern . . . den
Tuisto, einen aus der Erde hervorgewachsenen Gott (deum terra editum)
und seinen Sohn Mannus als Ursprung und Begründer ihres Volkes*.
Manno hat dann weiter drei Söhne, Ing, Irmin, Isto5). — Daß der erd-
geborene Begründer und Ahnherr der Germanen zugleich als der erste
Mensch galt, hat man mit Recht bezweifelt.
1) Vgl. Gylf. cap. 53: Gering S. 351.
2) Mit »Zwillingsbildung«, vgl. Olrik, H. Z. 51, 6.
3) Gylf. cap. 6: Gering S. 302; Ynglingas cap. 3 vgl. Golther S. 306. 355 ;
Heimskr. S. 5 vgl. Heinzel-Detter 2, 256.
*) Mogk S. 376 f., Golther S. 509, Meyer S. 441 f., Chantepie S. 338 f.
Allgemein vgl. Lukas, Die Grundbegriffe in den Kosmogonien aller Völker,
Leipzig 1893; Gunkel, Genesis, S. 1131; Holzinger, Genesis, S. 19f. —
Für wesentlich verfehlt halte ich E. H. Meyer. Die eddische Kosmogonie; vgl.
auch Bugge. Ark. f. nord. Fil. 19, 9 f. — Zeugnisse: die wichtigsten sind der
Bericht des Tacitus (Germ. cap. 2); eddische Berichte und zwar in der Lieder-
Edda (Vol., Vaf. Str. 20f., Grim. Str. 40 f.) und der Prosa-Edda (Gylf. cap. 41:
Gering S. 3001; cap. 14: S. 308).
8) Vgl. o. S. 189.
§ 26. Geschichte der Welt. 453
In den Eddaliedern finden wir, und zwar in der Völuspä folgendes:
Auf die Schilderung des Chaos — »als Ymir lebte« — folgt die Schöpfung
durch »Burs Söhne«. Wer ist das? Snorri antwortet1): Odin, Wili und We;
und er hat für Bur noch einen Vater Buri, den Sohn der Kuh Audumla.
Außerdem wird noch in der Völ. h. sk.2) Odin »Burs Erbe« genannt.
Aber »Bur«, der Erzeugte, hat nach Golthers treffender Bemerkung3) »gar
nicht den Wert eines Eigennamens«. Bur ist der Erzeugte xut* #?o;$r,
primigenitus\ wer das ist, bleibt noch zu untersuchen. Die drei aber
sind offenbar jene drei, die Str. 18 als bekannt vorausgesetzt werden: Odin,
Hönir, Lödur. Von Snorris Dreieinigkeit können wir ruhig absehen. —
Burs Söhne also heben die Erde empor — gewiß eine spätere Nach-
bildung, ihrem schließlichen Versinken korrelat — und befestigen die
Gestirne, eine Schilderung, bei der auf urindogermanischer Grundlage4)
spezifisch nordische Einwirkungen 5) folgen ; christliche sind dagegen nach
Lukas' einsichtiger Auseinandersetzung6) abzulehnen. — Die »Götter alle«
sind nun auf einmal da; beraten, bauen, erschaffen7) die Menschen, indem
sie die aus Meer und Erde gewordenen (»»am Meerstrand auf freiem
Felde gefundenen«) noch leblosen Vormenschen Ask und Embla be-
seelen).
Die Vafthrüdnismäl Str. 20 f. erzählen: aus dem Fleisch des Urriesen
Ymir wird die Erde geschaffen, die Berge aus seinem Gebein, der Himmel
aus dem Schädel, das Meer aus seinem Blut. Ausführlicher noch Grfmnis-
mäl Str. 40:
Aus Ymis Fleisch ward die Erde geschaffen,
Aus dem Blute das brausende Meer,
Die Berge aus dem Gebein, die Bäume aus den Haaren.
Aus dem Schädel das schimmernde Himmelsdach.
Doch aus seinen Wimpern schufen weise Götter
Midgard dem Menschengeschlecht,
Aus dem Hirn endlich sind all die hartgesinnten
Wetterwolken gemacht.
'*Jeu ist also in Grim. gegen Vaf. die Schöpfung der Bäume sowie der
ganze Inhalt der zweiten Strophe (mit unzweifelhafter Verderbnis mindestens
J) Gylf. cap. 6: Gering S. 302.
2) Hyndl. Str. 31. 3) S. 355. 4) Vgl. o. S. 56.
5) Str. 5; vgl. Hoffory, Eddastudien, S. 73f, : Schilderung der Mitternachts-
sonne, wo Sonne und Mond sich berühren.
6) a. a. O. S. 234 f.
7) Erst die Zwerge, einer Interpolation Str. 9—16 zufolge, und dann die
Menschen, »»Esche und Ulme«; ob zufällig Ask und Embla mit dem Anlaut von
Adam und Eva? Christlicher Einfluß wird vielfach behauptet. Aber ähnlich
wird auch Pandora aus Erde und Wasser von mehreren Gottheiten gebildet
(Weizsäcker in Roschers Lexikon 3, 1, 152.
454 Sechstes Kapitel.
in dem unsinnigen Epitheton der Wolken)1). — Dagegen nennt das
Hyndlalied Str. 34 Ymir nur als Stammvater der Riesen neben den (er-
fundenen) Ahnherren der Wahrsager, Wahrsagerinnen, Zauberer.
Der Bericht Snorris lautet: Im Anfang war Nifl heim, das Reich
des Unbestimmten; in seiner Mitte liegt der Brunnen Hvergelmir, »der in
kesseiförmiger Vertiefung rauscht« 2). Aus ihm ergießen sich 10+1 Flüsse
(deren Namen von überall zusammengesucht sind; es handelt sich wohl
um eine überbietende Nachahmung der vier Paradiesesströme). Daneben,
oder noch früher, war die Welt der strahlenden Hitze, die Welt Surts. -
Nun strömen die Flüsse, die Eliwagar heißen3), weit von Muspelheim
fort; sie wälzen Gift4). Dies Gift aus Muspelheim gefriert (und daraus
entsteht5) der erste Riese); das Eis aus Niflheim seinerseits schmilzt und
so füllt sich Ginnungagap, die gähnende Kluft. Wie nun das Rauhe aus
Niflheim und das Heiße aus Muspelheim sich begegnen, entsteht in stiller
lauer Leere das erste lebende Wesen (außer den Göttern) : Ymir, der Vater
der Reifriesen 6). Im Schlaf gerät er in Schweiß 7). Unter der Wirkung
dieses Schweißes wachsen ihm unter dem linken Arm Mann und Weib8).
Sein Fuß zeugt ebenso mit dem anderen einen Sohn »und so erwachsen
ihm Nachkommen«. Weiter nun schmolz der Reif in Ginnungagap und
es entstand die Kuh Audumla, »die Saftreiche«9).
»Vier Milchströme rannten aus ihren Zitzen, und damit nährte sie
den Ymir; die Kuh aber fristete dadurch ihr Leben, daß sie die Reifsteine
') Vgl. Heinzel-Detter z. St.
2) Auch Apollons Dreifuß ist ursprünglich ein Kessel (Prell er 1, 291), der
in Delphi im Nabel der Welt (ebd. S. 266) steht. Auch hier vielleicht ursprüng-
lich die Vorstellung eines zentralen Weltwirbels, in dem es wie im Kessel brodelt,
aus dem die Nebel aufsteigen und das Wasser überfließt? — Man denke auch
an die altnordischen Namen mit -ketillf
8) »Stürmische Wogen«; erwähnt als Grenzen der Welt Hyrn. Str. 5.
4) Wie die Unterweltflüsse; vgl. auch Vol. Str. 38.
5) Nach Vaf. Str. 31.
6) Vgl. Hyndl. Str. 34.
7) Nach slowenischer Sage gerät Gott in Schweiß; ein Schweißtropfen fällt
auf die Erde: der erste Mensch (Dähnhardt, Natursagen, Leipzig 1907, S. 113,
mit Parallelen). Auch Adam wird in »einen wunderbaren Schlaf« versenkt, als
ihm Gott die Eva geben will (Gen. 2, 21), die er vielleicht ursprünglich selbst
erzeugte. Allegorisch erklärt von Gunkel S. 9: Gottes Schaffen und Wirken
bleibt stets Geheimnis«.
8) Ebenso wird bei den Irokesen ein Zwilling unterhalb der Armhöhle ge-
boren (Breysig S. 36). Ist nicht vielleicht auch des Dionysos Geburt aus Zeus'
Hüfte ähnlich zu erklären?
9) Gering z. d. St., der sie nach indischer Analogie für eine Verkörperung
der Regenwolke erklärt. Indra mit einem von der Kuh beleckten Kalb ver-
glichen: Geldner-Kaegi, 70 Lieder des Rigveda, S. 63, Str. 9. — Über Un-
getüme des Chaos Wundt S. 441.
§ 26. Geschichte der Welt. 455
beleckte, welche salzig waren. Am ersten Tage nun, als sie leckte, kam
dnes Mannes Haar zum Vorschein, am zweiten Tage der Kopf und am
Iritten der ganze Mann«. Sein Name war Buri, der Geborene; er war
der Vater des Bur, gleicher Bedeutung, der Bestlal\ die Tochter des
Riesen Bölthorn2), zur Frau nahm. Deren Kinder waren Odin, Wili,
We. Sie töten Ymir und in seinem Blut ertrinken alle Reifriesen außer
Bergelmir (der anderwärts3) als Urriese genannt wird). Wir haben da
drei Brüller«: Bergelmir brüllt wie ein Bär, sein Vater Thrudgelmir
brüllt mit Kraft, der Ahn Hvergelmir, der mit Macht brüllt, ist ent-
weder4) Ymir selbst, oder5) wahrscheinlich Ymirs Sohn. Bergelmir
-ettet sich im Boot (gewiß eine Variante der urgermanischen, sonst nicht
überlieferten Sintflutsage). Nun schaffen die (drei) Götter aus Ymirs
Körper Erde, Meer, Berge, Gestein und Himmel6). — Hiermit ist also
der Anschluß an den Bericht der beiden anderen Eddalieder (außer der
Vol.) erreicht.
Es ließe sich mit Leichtigkeit über diese Kosmogonien ein dickes
Buch schreiben; man brauchte nur von überall Analogien anzuschleppen
und könnte mit einem der jetzt so beliebten Kreuz- und Quer-Stammbäume
triumphierend schließen, die mich wenigstens immer an den famosen
Reiseplan im zweiten Buch derjobsiade erinnern. Da ich mich hier kurz
fassen muß, bitte ich für den dadurch erzwungenen apodiktischen Ton
nochmals um Entschuldigung.
Zunächst behandeln wir die Frage der Echtheit. Der Bericht des
Tacitus ist im Ganzen nie verdächtigt worden. Einen deus terra editus
kennt die germanische Mythologie zwar nicht7), und auch sonst bleiben
kleine Bedenken. Aber Tuisto als Erster Mensch, daran ist nicht zu
rütteln; auch schwerlich an der Bedeutung des Namens: er ist8) »gleich
dem Ymir von zweifachem Geschlecht«, der Zwitter, so daß er einer
männlichen Parthenogenese fähig ist.
Der Bericht der Völuspä ist 9) von antiken, öfter noch von biblischen
Berichten hergeleitet worden ; wir glauben mit Mogk u. a. ihn für gemein-
gordisch halten zu sollen, schon weil gegen den Schöpfungsbericht der
Genesis Welt und Menschen in weit getrennten Zeiträumen entstehen 10).
T) Die »Bastflechterin«? Gering z. d. St.
2) »Unglückshorn« ; beide noch genannt Häv. Str. 140.
8) Vaf. Str. 19. 4) Nach Gylf. cap. 5.
5) Nach Vaf. Str. 19.
ö) Vgl. o. Vaf. Str. 20 und Grim. Str. 40.
7) Wohl z. B. die griechische: den Erichthonios (Preller 1, 298).
8) Mogk S. 376 9) Vgl. Mogk S. 378.
10) Eine interessante Parallele zu Vol. Str. 17. 18 bei Dähnhardt S. 89:
»die jüdische Tradition sagt, daß Adam zuerst als lebloser Körper erschaffen
wurde, daß Gott erst später ihm die Seele einhauchte.«
456 Sechstes Kapitel.
Über den Ymirmythus gibt es eine ganze Literatur. Nachdem zuletz
ich1) und Schütte2) den echt heidnisch-volkstümlichen Ursprung behaupte
hatten, ist Max Förster3) in lehrreicher Untersuchung dafür eingetreten
daß der weit verbreitete Text von der (umgekehrt verlaufenden) Erschaffung
Adams aus acht Teilen4) in die eddische Kosmogonie eingetreten sei5)
Ich möchte doch mit Mogk6) wiederholen: »Wie die Wilden auf solche
Gedanken kommen konnten 7) , so konnten es unstreitig auch die alten
Germanen, ohne daß sie von außen dazu angeregt wurden.< Der Ver
gleich von Mikrokosmos und Makrokosmos liegt dem Menschen im Blut
und die Etymologie8) hilft nach.
Daß Snorris Bericht nicht authentisch ist, bezweifelt wohl niemand 9):|
daß er echte Elemente enthält, ist noch sicherer. Diese wilden pha
tastischen Umrisse konnte kein später christlicher Theolog zeichnen; da-
gegen stimmen sie im Charakter durchaus zu vielen anderen primitiven
Kosmogonien 10). Ich habe schon meinem Referate gelegentliche Verweise
auf vermutliche Quellen und Vorstufen Snorris beigefügt und halte seinen
Luxus an Eigennamen (die Flüsse!) für sein persönliches Verdienst. Ich
glaube etwa folgende Urform seines reichlich ausgemalten Berichtes
herausschälen zu können:
1. Im Anfang war das Chaos, erfüllt von Nebel und Feuer. Aus der
brodelnden Bewegung der Massen (Hvergelmir, der zentrale »Wirbel«?)
entsteht der Urriese11). Von Ymi werden, wo er als Ganzes zeugt, die
Riesen, von seinen gepaarten Gliedern die Menschen geboren 12).
2. Einen anderen Ursprung haben die Götter 18). Sie stammen von einem
anderen Urwesen, der Weltkuh Audumla. Sie entspricht der hellenischen
!) H. Z. 37, lf. 2) I. F. 17, 444.
3} Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 477 f.; vgl. bes. auch S. 492.
4) Vgl. auch Dähnhardt S. Ulf.
5) a. a. O. S. 493 Anm. 2.
«) S. 377.
T) Nach J. Grimm von mir u. a. nachgewiesen.
s) Vgl. meinen Aufsatz für Schädel und Himmelsgewölbe.
9) Vgl. z. B. Mogk a. a. O.
10) Vgl. Lukas a. a. O.
31) Vaf. Str. 31 ; Snorri schiebt noch eine atmosphärische Bedingung ein.
Ebenso entsteht bei den Indern nach einem späten Lied, aber mit primitiver
Anschauung (Macdon eil S. 12) das Urwesen Purusha, aus dessen Körper Sonnje
und Mond, Wälder und Dörfer, außerdem auch die vier Kasten gebildet wurden
(Lukas S. 80). Riesen setzt auch die Bibel Gen. 6, 4 als Vermittlung zwischen
den ersten Menschen und der Menschheit ein (vgl. Gunkel S. 54).
12) Vielleicht auch bei Ymi eine Scheidung der abstammenden Völker in
höhere und niedere; Ark. f. nord. Fil. 23, 248.
13) Die Zwerge läßt Snorri eigenhändig aus Maden in Ymirs Fleisch hervor-
gehen (Gylf. cap. 14: Gering S. 308).
§ 26. Geschichte der Welt. 457
Wunderziege Amaltheia, dem Sinnbild der überfließenden Fruchtbarkeit J),
die den Zeus mit ihrer Milch nährt wie Audmula den Ymi 2). Identität
nehme ich nur in der Wurzel an : die ursprüngliche Lebenskraft unter dem
Sinnbild eines nährenden Tieres vorgestellt3). Audumla ruft den ersten in der
Materie noch schlafenden »Erzeugten« hervor; oder, wenn das zu philo-
sophisch klingt, sie macht den noch eingefrorenen Menschengott lose-
Von ihm stammen die drei Urgötter, die nun aus Ymirs Körper, der
ungeformten Materie, die Dinge der Welt schaffen.
Offenbar liegen hier zwei Parallelmythen vor:
1. Chaos — Urriese — Riesen und Menschen;
2. Audumla — Buri — Odin, Hönir, Loki-Lödur.
Hierzu aber kommt noch drittens der Bericht des Tacitus. Denn
wenn Mogk4) den Mythus von der Menschenschöpfung für rein nordisch
erklärte, habe ich •') die Identität von Tuisto und Ymi 6) zu erweisen ver-
sucht. Dann haben wir also:
3. Terra — Tuisto — Isto-Odin mit zwei (abweichenden) Brüdern.
Mannus, der Urmensch (= indisch Purusha) entspräche dann dem
zwischen Buri und der Trias einzuschiebenden Bur. Nehmen wir die
Doppelung Buri-Bur als alt, so hätten wir demnach folgende Parallelen :
1. Chaos — Ymir — Mann und Weib — Menschen;
2. Audumla Buri — Bur — drei Götter;
3. Terra Tuisto — Mannus — drei Götter7).
Mag nun das terra editus des Tacitus auf einem Mißverständnis
beruhen (die Erde ist ja aus Ymirs Fleisch geschaffen; Umkehr wie im
Adams-Mythus!), mag es einfach die Entstehung aus dem ungeformten
Stoff bedeuten — die Übereinstimmung, gestützt noch dadurch, daß Odin
den vom Vater ererbten Namen Tveggi Tuisto führt, genügt wohl, um
den Kern des Mythus als urgermanisch zu erweisen.
Welche Grundlage der so rekonstruierten Berichte dürfen wir danach
annehmen? Die Sagenform der Völ. läßt sich mit den anderen nicht
kombinieren. Vielmehr bleiben8) zwei verschiedene Berichte über die
Schöpfung des Menschen9): 1. es werden Embryonen von den Göttern
!) Preller 1, 35. -) Prelier 1, 133.
•) Hierher auch die Wölfin des Romulus; doch vgl. die Heldensage. Über
Odins Ziege Heidrun Grim. Str. 25; vgl. u.
*) S. 378. 5) Ark. f. nord. Fil. 23, 246.
6) Die schon Mogk verglich.
7) Meine zwecklose Vermutung, Tuisto sei zum Sohn des Mannus zu machen
(Ark f. nord. Fil. 25, 333), nehme ich natürlich zurück. — Unhaltbar scheint
mir auch Kögeis Versuch (Gesch. d. d. Lit. 1, 14f.), die drei Götter von Mannus'
Vaterschaft loszulösen.
8) Wie in der Genesis; viel mehr Varianten z. B. griechisch (Preller 1, 23 f.).
9) Vgl. Mogk S. 377, Golther S. 526.
458 Sechstes Kapitel.
belebt1); 2. der Urmensch stammt direkt vom Chaos ab. Im ersten
Falle werden die Götter, wie oft, vorausgesetzt, im zweiten sindl
sie ebenfalls Sprößlinge des Urriesen 2). Die ursprünglichste Alternative
drängt sich eben schon dem primitiven Denken auf: wie die Sprache, so
ist der Mensch selbst im eigentlichsten Sinne qwaet oder &taet, durch 11
natürliche Entwicklung oder durch äußere Einsetzung, entstanden3). — \
Aber auch die Varianten der Ymir- Version sind nicht schlankweg
unter Einen Hut zu bringen. Audumla ist nicht der Urzustand, sondern
eine Verkörperung der ersten Lebenswärme und Lebenskraft, soweit solche
primitive Urgebilde überhaupt mit modernen Zungen gedeutet werden
können 4).
Dazu kommt die zweite Abweichung: einmal stehen die Menschen
(und Riesen), das andere Mal die schaffenden Götter am Ende des Stamm-
baums, und zwar so, daß diese Verschiedenheit mit der anderen nicht
zusammenfällt5). Den primitivsten Eindruck macht der Audumla-Bericht
(und, wie bei dem Furusha-Lied, kann ja sehr alte Oberlieferung in junger
Form geborgen sein). Doch direkt aus ihm lassen sich auch die anderen
Lesarten nicht ableiten.
Die weiteren Einzelheiten, z. B. die merkwürdigen Giftfluten (die
wohl ursprünglich Feuerfluten waren) und den Kessel Hvergelmir lassen
wir billig ungedeutet. Nur das ist noch anzumerken, wie die ganze Namen -
gebung mit den Brüllern, vier -gelmir6), ganz auf den Grundton des
>Rauschers« Ymir gestellt sind: alles braust, rauscht, brüllt da.
Von hier geht Snorris Bericht zur Darstellung der gegenwärtigen
Welt7) über. Sie zerfällt in folgende Akte3): erstens: Orientierung des
Himmels durch Einsetzen der vier Zwerge Austri, Westri, Nordri, Sudri 9).
*) Vgl. z. B. die Prometheussage, die Genesis.
2) Die Schöpfung der Zwerge wird Vol. Str. 9 wie Gylf. cap. 14 nachgeholt
(vgl. Golther S. 525, Mogk S. 577); die Elfen bleiben unberücksichtigt, wie bei
Snorri neben Niflheim und Muspellheim und allenfalls Midgard die andern »Welten«.
3) Über die Beschränktheit der kosmogonischen Phantasie, die selbst bei
neueren Gelehrten die ältesten Mythen erneuen läßt, vgl. meinen Aufsatz Arch.
f. Rel.-Wissensch. 1910.
4) Zu dem Herauslecken Buris ist an die Sage zu erinnern, daß der Bär
unförmlich auf die Welt komme und von seiner Mutter erst in Form geleckt
werde. — Vor der rationalistischen Interpretation, es seien eingefrorene Leichen
herausgeschmolzen, möchte ich warnen.
5) Chaos am Anfang: 1 und 3; Götter am Ende: 2 und 3.
6) Vgl. die drei -hrimnir Grim. Str. 18.
7) Siehe u.
8) Gylf. cap. 9: Gering S. 303.
9) Alle auch im Zwergenkatalog Völ. Str. 4. Merkwürdigerweise erscheinen
die »vier Punkte des Kompasses« auch im Rig-Veda schon sehr früh (Mac-
donell S. 9).
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 459
Zweitens : Die Götter machen die Gestirne aus Funken von Muspelheim 1).
(Dieser ganze Abschnitt der Kosmogonie entspricht einigermaßen der Kant-
Laplaceschen Hypothese: Nebel — abgesprengte Teile der heißglühenden
Erdkörper werden Planeten.) Drittens : Sie festigen jedes Gestirn an seiner
Stelle — abgeleitet aus der zitierten Strophe Vol. 4, die selbst vielleicht
aus dem schließlich erfolgenden Loswerden der Gestirne abzuleiten ist. —
ich zweifle, ob man hier viel altes Gut vermuten darf2).
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt3).
Es handelt sich erstens um den Kosmos selbst : die »Welten«, die die.
Welt bilden (»Heime«) und ihre Anordnung, die Gestirne und die Be-
wegung; zweitens um die innere Einrichtung der Welt.
Äufsere Ordnung* der Welt.
Die Vorstellung eines geordneten Kosmos ist gewiß jung. Ur-
sprünglich lagen die Welten ohne topographische Übersicht nebeneinander:
nach dem Wo ward nur bei Himmel und Erde gefragt, wo die Antwort
gegeben war (indogermanische Formel : »Erde und Himmel darüber«; im
christlichen Teil des Muspilli charakteristisch erweise umgestellt). So ist
ja z. B. auch die Lokalisierung der Unterwelt bei den Hellenen jung und
unsicher4), bei den Germanen gar nicht näher versucht worden. Die
Unterwelt tritt einfach, sehr früh, zu den beiden anderen, und so ist die
große Mysterienbühne fertig, die in indogermanischer Zeit mindestens
schon präformiert war. Sie genügt späterer Zeit von neuem: Dante hat
wieder nur die drei Welten ; dazwischen hat man stärkeren Bedarf : man
könnte von einer primitiven »Mehrheit der Welten« reden, die in uralter
Zeit Giordano Bruno und Fontenelle vorausnimmt.
1. Zunächst erhält jedes »Geschlecht« seine eigene Welt. Man wird
zuerst ganz anspruchslos von der Elfenwelt, dem Riesenheim gesprochen
haben, etwa wie wir wieder von einer »Zauberwelt« sprechen, ohne sie lokali-
sieren zu wollen. Dann kommt die Zählung und Systembildung, die aber
nicht ausgeglichen werden. Denn man spricht mit einer heiligen Zahl von
den neun Welten5), die aber nicht aufzufinden sind6). Gemeint sind
x) Caeculus aus einer vom Herdfeuer gesprungenen Kohle gebildet (Wissowa
S. 186).
2) Vgl. Mogk S. 380.
3) Mogk S. 378, Golther S. 519 f. — »Kosmologie« im Gegensatz zur »Kosmo-
gonie«; vgl. z. B. Macdonell S. 8. — Vgl. für die Hebräer G. We st phal,Jahves
Wohnstätten (Gießen 1908, Töpelmann; Rez. Weinhold, D. L.-Z. 1910, 465);
für Griechen und Römer Bergers Ergänzungsband zu Roschers Lexikon.
4) Preller 1, 812.
5) niu heimar: Völ. Str. 2, Vaf. Str. 43.
6) Mogk S. 378, Golther S. 519.
460 Sechstes Kapitel.
natürlich jene Welten, die die — junge — Dichtung Alvfssmäl sondert
die Heime der Götter, Wanen, Riesen, Elfen, Zwerge, Menschen, Unter
irdischen — was aber nur sieben ergibt. Zudem wohnen für die naivt
Vorstellung die Zwerge unter der Erde in den Bergen, die Elfen ir
Bäumen usw., also inmitten anderer Welten; die Zusammenballung is
also jung. In geschlossenen Welten wohnen nach der Vorstellung dei
Eddalieder nur Götter, Wanen (denn es werden Geiseln hin und hei
geschickt; Njord soll wiederkehren; aber im Ganzen hat man sich doch
Frey und Freyja einfach in Asgard zu denken), Riesen (vgl. die Fahrter
Thors und die Thrymskvida insbesondere), Menschen (Midgard, wohir
die Götter sehen und gehen), Unterirdische. Faßt man also, wie es dei
eddischen Anschauung entsprächt, die Götterwelt als einheitlich (mit Einem
Wächter usw.), so bleiben vier Welten, von denen die der Riesen in ihret
Lage zu den anderen unbestimmt bleibt.
2. Man geht weiter zu einer speziellen Einteilung der beiden Nachbar
weiten.
Asgard.
Von Asgard baut der Dichter der Grim. eine vollständige Topo
graphie auf, in der zwölf Burgen von Göttern aufgezählt und im An-
schluß an das Wesen der Göttlichen und das Aussehen ihrer Tempel *)
charakterisiert werden.
In dem heiligen Lande 2) liegen die Hallen folgender Gottheiten :
1. Thor (Thrudheim), 2. Uli (Ydalir), 3. Frey (Alfheim; der Wane wohnt)
unter den Äsen, obwohl nicht, wie Njord, Geisel), 4. Odin (Walaskjälf,
mit Hlidskjälf nach Gylf. c. 17; nach anderen — - Walhall); ferner Sök-
kvabekk, wenn dies nicht Saga gehört, und endlich Gladsheim mit Walhall);
5. Skadi (Thrymheim); 6. Balder (Breidablik) ; 7. Heimdali (Himinbjörg);
8. Freyja (Folkwang); 9. Forseti (Glitnir); 10. Njord (Noatün) ; 11. Widar
(scheint kein Haus sein eigen zu nennen, sondern nur ein Wiesengrund-
stück). Also elf oder (mit Saga-Frigg) zwölf Gottheiten mit vierzehn
Heimen (Odin hat drei, Widar keins).
Diese Partie der Grim. ist in den Mythologien sehr beliebt; es ist
so angenehm zu sagen : der Gott X wohnt in — ; seine Halle ist — . Ich
fürchte aber, wir müssen auf den Gebrauch dieses himmlischen Baedeker
verzichten. Von den sämtlichen Heimen ist nur eins auch sonst bezeugt3).
*) Vgl. o. S. 429; Mogk S. 378.
3) Grim. Str. 4.
3) Wenn man natürlich von Snorris abgeleiteten Belegen in seinem ganz
analogen Götterkatalog (Gylf. cap. 21 f.: Gering S. 316f.) absieht. Übrigens
verändert er Thrudheim in Thrudwang und gibt die Halle Bilskirnir (vgl. die
Interpolation Grim. Str. 24) hinzu.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 461
Dies eine aber , Noatün *) , liegt gar nicht im Heiligen Lande , sondern,
me schon der Name sagt, am Meer2). — Ebenso ist von den > Hallen«
mr Eine sonst bezeugt: Valhöll8); nicht aber Bilskirnir (und das nur bei
Snorri nach Walaskjälf verlegte Hlidskjälf).
Es bleiben 13 Heime mit nichtssagenden oder zu deutlich sprechenden
tarnen, deren Ableitung wir fast jedesmal nachweisen konnten ; die meisten
einfach mit -heim schematisch gebildet: Thrud-, Alf-, Glads-, Thrym-
heim; dann eine Gruppe von drei anderen Kompositis: »Breitglanz«,
> Himmelsburg«, »Volksgefilde« und an anderer Stelle, ebenso gebildet,
> Eibentäler«. Als einigermaßen wahrscheinliche Namen bleiben nur
Walaskjälf und Sökkvabekk, die man gerade beseitigt, wenn man die
Strophen 6 — 7 mit 11 — 20 ausscheidet; mir scheint die Athetese nicht,
wie die von Strophe 24, begründet.
Sprechen schon die Namen eine bedenkliche Sprache — auch Glitnir
/on dem beliebten Typus Sleipnir usw., der freilich das ältere Mjölnir
mm Ausgangspunkt hat — , so entsprechen dem die »Schilderungen*.
Eine ist individuell : die von Odins Saal 4) , und eine hat vielleicht noch
*ine motivierte Eigenart: Forsetis Halle5); auch das Heim Widi ist an-
schaulich gezeichnet. Sonst aber nur leere Lobpreisung, die in einen
leiteren Trunk6) oder eine leere Phrase7) ausläuft.
Endlich die Auswahl der Götter! Sehr verdächtig ist schon die Zwölf-
||lhl; aber die könnte durch Interpolationen erreicht werden. Selbst-
verständlich sind Odin, Thor, Frey, Njord, Freya, allenfalls auch Balder.
Frigg mag in Saga stecken. Skadi und Heimdall sind wohl weniger
wichtig als Tyr, doch noch begreiflich. Aber Forseti, der sonst gar keine
Rolle spielt? und gar der für die nächste Welt aufgesparte Widar! Und
wenn er da ist, wo bleibt Wali?
*) Str. 16.
2) Vgl. Gyli. cap. 23: Gering S. 318.
3) Str. 8.
4) Str. 9—10. — Freilich werden auch andere Tempel mit Schilden behängt
sein, so daß der angelsächsische Dichter den Himmel geradezu »Schildburg«
nennt (Myth. S. 583). Merkwürdigerweise hat Kralik (Neue Kulturstudien,
Münster 1903, S. 232), während er dies zitiert, sich gleichzeitig zu seiner allzu
geistreichen Kombination von Odins >Schildburg< mit den — Schildbürgern ver-
leiten lassen! — Hlidskjälf ist hierher gesetzt, weil Odin der Königsgott ge-
worden ist; früher konnte ebensogut Frey dort sitzen (Einl. zu Skirn.). Es war
ein Hügel im Götterland, irgendwo, ein Hügel in der Mitte des Reiches«, von
wo man das ganze Land überschaut« (so bei Martin Buber, Die Geschichten
des Rabbi Nachmaun, Frankfurt a. M. 1906, S. 98). — Allgemein über die Lokali-
sierung des Himmelsherrn Ehrenreich, Ztschr. f. Ethnol. 38, 589.
8) Str. 15; vgl. o. S. 383.
6) Str. 7. 13. 7) Str. 16.
462 Sechstes Kapitel.
Man darf wohl also in dieser Teichoskopie von unten herauf nichts
weiter sehen, als einen an die organisch im Gedicht begründete Schilderung
Walhalls J) unorganisch und mühsam angestückelten Katalog von später Er-
findung, wie etwa der Zwergkatalog der Vol.
Außer den zwölf Burgen enthielt aber diese Schilderung der Götter-
welt noch einige Einzelheiten. Die Entfernung von Midgard wird2) durch
den Flug der Raben gut gezeichnet. Wie steht es aber mit den andern
topographischen Anmerkungen über Walhall: dem Fluß Tkund, den die
Einherier durchwaten müssen3) und der Pforte der Toten Walgrind?
Sollte all dies nicht sehr der späten topographischen Detailmalerei an-
gehören, die Yggdrasils Bild ausführte wie einen Atlas?4)
Aber auch die weiteren Einzelheiten zu Walhall stehen auf demselben
Blatte. An die beiden Wölfe — als Attribute alt, aber wohl neu benannt5)
und die beiden Raben, von denen das Gleiche mit noch größerer Wahr-
scheinlichkeit gilt6) — , ist noch der Eber angeschlossen, den die Einherier
verzehren. Es kann wohl volkstümliche Erfindung sein, wie die tägliche
Erneuerung von Thors Böcken7); aber die drei Namen auf — hrimnir?
Andhrimnir siedet in Eldhrimnir
Des feisten Sätrimnir Fleisch.
Etwa: »der mit dem Ruß im Gesicht siedet in dem von dem Feuer
Berußten, den, der von Ruß schwarz ist« 8). Sicher hat das der Dichter
so verstanden wissen wollen, wie wir es zu verstehen pflegen : Andhrimnir
Name des Kochs, Eldhrimnir des Kessels, Sährimnir des Ebers. Aber
ursprünglich dürfte der Malbvers ein Volksrätsel gewesen sein , von dem
Typus wie das über die ganze Welt und besonders auch im Norden ver-
breitete: »Es flog ein Vogel Federlos auf einen Baum Blattlos, da nahm
ihn Fräulein Handlos — « 9). Ebenso verbreitet ist das Sprichwort: »Der
Kessel straft den Ofentopf, und sind doch beide schwarz« 10). Ein solches
Rätsel, ganz allgemein gehalten, lag wohl vor: »Schwarzgesicht brät in
J) Str. 4—10. 18—25, soweit hier nicht jüngere Zusätze vorliegen.
2) Vgl. u.
8) Pendant zu dem Unterweltsfluß Völ. Str. 39?
4) Heinzel-Detter (S. 180) vergleichen Thund mit dem Fluß Ifing, der
nach Vaf. Str. 16 die Reiche der Götter und Riesen trennt; aber die Einherier
kommen doch nicht vom Riesenland her!
B) Str. 19; vgl. o. S. 236.
6) Wegen der abstrakten Namen Gedächtnis« und »Gedanke« ; vgl. den mit
Thjälfi in Utgard um die Wette laufenden Gedanken Gylf. cap. 46: Gering S. 341.
7) Vgl. o. S. 285.
8) Vgl. dazu Heinzel-Detter 2, 176.
9) Vgl. MSD. VII, 4; Anmerkungen S. 59.
10) Wand er, Deutsches Sprichwörterlexikon 2, 1256 mit zahlreichen, auch
skandinavischen Varianten.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 463
j Schwarzgesäß (oder dergl.) den Schwarzkittel« — Auflösung: der Koch
siedet den Eber im Kessel. Und das hatte der Dichter , seiner Neigung
zu parallelen Namen gehorchend, individuell gemacht, wie etwa Walthers
von der Vogelweide »her stoc« (der Opferstock) von Gleim zu einem
Peterspfennige sammelnden Legaten »Herr Stock« gemacht wurde.1)
Den Eber selbst hält Meyer2) für entlehnt: »die nordische Vorstellung
vom Kriegerparadies scheint zu einem guten Teil irische Wikingerbeute
zu sein«. »Der Ire Kormak tritt im Lande der Verheißung in eine schöne
Burg, wo ein in einem Kessel gekochtes Schwein am andern Morgen
wieder lebendig wird; und zum frischen Schwein gibt es dort Bier und
Milch . . .« (Schon 8. oder 9. Jahrhundert, also vor Grfm.; freilich des-
halb nicht notwendig älter als deren Quellen.)
Endlich haben wir noch den Hahn Gullmkambdi, »Goldkamm«3),
auch Salgofnir4) genannt, der die Einherier des Morgens weckt — die
älteste Form vielleicht des »Wächters« , und möglicherweise mit einem
alten Mythus von der Erstürmung Asgards5) verknüpft; die durchsichtigen
Namen sind jung.
An eine andere Stelle der himmlischen Arche Noaeh sind die immer
Met spendende Ziege Heidrün6) und der Sonnenhirsch Eikthyrnir, von
dessen Hörnern die Ströme quellen 7), zu setzen. Beide nähren sich von den
Zweigen des »Schattenspenders« Lärad, womit gewiß Yggdrasil (s. u.)
gemeint sein soll*). Heidrün heißt etwa »Gattungszauber« und ist von
Müllenhoff so gedeutet worden, daß die Ziege durch den Meth den Einheriern
ihre Art und ihr eigentümliches Wesen erhielt und nährte« — bedenklich
abstrakt. »Eikthyrnir«, Eichendorn, »dessen dorniges Geweih wie eine
Eiche sich verästet«, wäre die Wolke, die die Ströme nährt9).
Ich denke: der Dichter hat auch hier altes Gut zusammengesucht,
wie in dem ganzen Gedicht. Der Hirsch hat zwar einen bedenklich
»verständlichen« Namen; aber für ihn und die Ziege spricht — daß sie
J) Andere Beispiele ähnlicher Art für das »Gebrechen«, »aus denen Büchern
und Schriften Menschen zu machen« in des alten Jacob Friedrich Reimmann
köstlichem »Versuch einer Einleitung in die Historiam litterariam insgemein«,
Magdeburg 1708, S. 133 f., ebenso »aus denen Sachen Personen zu machen, aus
denen Nominibus appellativis propria« (ebd. S. 136 f.), was besonders in der
! Hagiographie geschehen : Undecimilla Virgo; vgl. Delehaye, La legende hagio-
;graphiqur, S. 53 über Fasciola. — Vgl. über Karls des Großen angebliche Ge-
« mahlin Desiderata Hell mann, N. Arch. f. alt. Gesch. 34, 208 f.
2) S. 293. 3) Vol. Str. 43.
4) »Der geduckt im Saal sitzende?« (Gering S. 182).
5) Vgl. o. S. 295; man denke an die Gänse des Kapitols.
6) Str. 25. 0 Str. 26.
8) Gering z. d. St.; anders Heinzel-Detter 2, 181.
9) Gering a. a. O.
464 Sechstes Kapitel.
augenscheinlich Doubletten sind. Wie aber hätte ein Mytholog zweimal
hintereinander das Gleiche gesetzt? Die beiden Tiere nähren sich von
den Zweigen des gleichen Baumes; sie strömen beide unversieglich Naß
aus1); sie stehen beide »auf Heervaters Halle«, wobei eine kleine Variante i
des Textes direkt für getreue Benutzung umlaufender Halbstrophen Zeugnis
ablegen könnte. — Ich muß doch noch einmal an Amalthea2) erinnern,
deren Wunderhorn überquellende Fülle symbolisiert — wie die Hörner
Eikthyrnirs altertümlich genug überquellen; allerdings wird sie von Preller-
Robert3) als die »Quelle als nährende Mutter« gedeutet. Sollten es nicht
uralte Symbole des fruchtbaren Lebens sein, wie Audumla, die sich ähnlich
nährt, um ähnlich zu nähren?
Hvergefmir und die Flüsse all4) sind ja gewiß jung. Aber zwei
Denkverse können alt sein, die in der Art der Antworten in Vaf. beide
entschieden, wo der Urquell alles Wassers sei. Dafür gab es zwei Ant-
worten : entweder war es ein uraltes mythisches Gebilde von der Art der I
Audumla und Amalthea, in Snorris Bericht (zufällig oder wegen dieser
Stelle) nicht aufgenommen oder der Sonnenhirsch, der ja überall
Quellen erweckt. Und wieder: wenn Eikthyrnir das Gestirn ist (man
weiß, daß ich nicht dazu neige, die Elementarmythen unendlich zu ver-
mehren) — kann nicht auch Heidrün ein Gestirn sein, an den Himmel
versetzt wie Amalthea 5) ? d. h. eine alte Gestirngottheit, vielleicht identisch
mit der »Einfüßigen Ziege« der Inder, die auch ein Sonnendämon
scheint6)? oder doch jedenfalls7) zu den Himmelsgottheiten gehört? —
Dann hätten zwei verschiedene uralte Hypothesen des Sonnengottes fort-
gelebt, beide noch aus der »tiergestaltigen Epoche» des Dämonismus, beide
noch immer als Gestirne aufgefaßt, die »auf Odins Haus stehen«, was
freilich ursprünglich nicht Walhall meinte, sondern das Himmelsgewölbe. —
Hei.
Aelter ist sicher die Schilderung der Unterwelt, die zum Teil auf
indogermanischen Ansätzen beruht. (Der Höllenfluß; vielleicht auch der
Höllenhund?8) Die Topographie der Unterwelt entwickelt sich von
unsern Augen 9).
r) Wie das Olkrüglein der Witwe, wie die Züge im Märchen (vgl. H e i n z e 1 -
Detter z. St.), wie der Äpfel des Condla (Thurneysen, Sagen aus dem alten
Irland, Berlin 1901, S. 75.
2) Preller 1, 35. s) 1, 36.
4) Str. 27 f.; abgekürzt Gylf. cap. 4: Gering S. 300; vgl. o. S. 454.
5) Preller 1, 133.
, 6) Macdonell S. 75. 7) Ebd.
8) Vgl. allgemein Rohde, Psyche; A. Dieterich, Nekynia,
9) Vgl. allgemein Golther S. 473, Meyer S. 456 f. 463 f. u. ö. Für die
Griechen Prell er 1, 807 f. Auch M. Landau, Hölle und Fegefeuer, Heidel-
berg 1900.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 465
Eddalieder. Die Vol. gibt (Vol. Str. 38—39) eine Schilderung des
ieims der unter die Erde gebannten Ungeheuer. Ein Saal, fern von der
onne, die Pforten nach Norden, auf Nästrand (Totenstrand) ; durch die
)ffnung nach oben, das Rauchloch, strömt ein Giftregen *), die Wände sind
on Schlangen umwunden ; durch reißende Ströme waten Meineidige und
erräterische Mörder. Dort weilen der Drache Nidhögg und der Fenriswolf
nd nähren sich von den Leichen. — Also: unter der Erde ein Ort des
chreckens, dunkel, kalt; dort nur Leichen und Ungeheuer und, zwischen
eiden, bestimmte Verbrecherkategorien. Die Strafflüsse sind wohl durch
en sich ansammelnden Giftregen gebildet. — Typische Schilderung
ines grauenvollen unterirdischen Gefängnisses mit den dafür sprich-
wörtlichen Schlangen, der Dunkelheit und Kälte2).
Für unecht halte ich die vorhergehenden Strophen. Str. 36:
Es ergießt sich von Osten durch giftige Täler
Mit Schwerten und Dolchen die schäumende Slidr.
>as scheint nur eine Doublette der zweiten Halbstrophe von Str. 38, wo aber
esser der Giftregen von oben hereinströmt. Verdächtig ist ferner der
lame, Slidr, mit seiner Schreckensbedeutung gewiß eine Neuerung wie
er Pyriphlegethon »Feuerstrom« und der Kokytos »Heulstrom«3), ja wie
er Name der (an sich uralten) Styx selbst. Gerade deshalb wird der Name
esonders betont: »Slidr heißt er«, wie nur noch ein einziges Mal in
er Edda, in der Rigsthula4). — Endlich ist die Charakteristik des Feuer-
iftstroms, daß er kleine und große Schwerter wälzt, auffallend ; mag das
un5) die schneidende Kälte bezeichnen sollen, oder die Schärfe des
jiftes — was mir wahrscheinlicher ist6). Der Vergleich mit Artefakten ist
er alten Poesie fremd, die nur den Vergleich mit der künstlichen Her-
teilung kennt7). Es klingt durchaus christlich (die sieben Schwerter im
Jerzen der Mater dolorosa!) — Sind hier Zweifel möglich, so scheinen
\& mir bei Str. 37 ausgeschlossen:
Im Norden erhob sich auf dem Nidagefilde
Ein Saal von Gold für Sindris Geschlecht;
Auf Okölnir stand ein andrer
Biersaal des Riesen, der Brimir heißt.
!) Die Eliwdgar des Chaos; vgl. o. S. 454.
8) Die »aus Schlangen geflochtene Wand« ist von der finnischen Kalewala-
ichtung übernommen worden (Heinzel-Detter 2. 53).
*) Preller 1, 817.
4) Str. 28; über altgermanische Einführung von Namen vgl. m e i n e Altgerm,
oesie S. 372.
6) Gering z. St.; Heinzel-Detter 2, 50.
6) Vgl. Lokis Schmerz Gylf. cap 50: Gering S. 347.
7) Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 440, wo aber dieser wichtige Unterschied
och nicht erkannt ist.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte 30
466 Sechstes Kapitel.
Sindri kommt1) als Zwergname vor; Brimir nur noch in einer inte
polierten Strophe 2). Unzweifelhaft sollen sie Zwerge und Riesen bedeutei le
wie kommen die aber nach Nästrand? Es sind die Schwarzeiben, an
wortet Gering3); aber sie werden bei dem Generalappell der Götteii
feinde4) nicht erwähnt5). — Ferner: ein Goldsaal und ein Biersaal z\i
diesem Ort des Schreckens! Sie müssen von wo anders her versetzt sei
wie Aladdins Palast6). Und man ahnt auch, weshalb. Das Haus d;t
Hei steht nach Norden gerichtet, also im Süden; die Alte7) sitzt nacv
Osten zu. Die Pedanterie holt die anderen Himmelsrichtungen nach
Slidr kommt von Osten — dem Eisenwald, der nach Osten schaut, enl<
sprechend: dem Südsaal werden Nordsäle gegenübergebaut. So ist eji
unterirdisches Asgard fertig8).
In der Unterwelt leben noch weitere »Leute der Hei«9); oder sirn
es (wie in der Zoroastrischen Religion) die in die Unterwelt gebannt* )
Verbrecher selbst10)? J
Veg. Str. 2—3: Odin reitet nach Niflhel (»Nebelhölle«). Als Wacht :
ein (namenloser) Hund mit blutiger Brust. Hei wohnt in einer Burg ti'f
Toren auch nach Osten. ii
Str. 6 — 7: Zum Empfang Balders steht der Meth bereit, von eine-'
Schild bedeckt; die Bänke sind mit blitzenden Ringen, die glänzendes
Dielen mit Gold belegt. — Offenbar ist diese Schilderung den Walhall
Schilderungen nachgebildet; wiederholt wird ja dort die Vorbereitung di
Empfanges geschildert, die Walküren kredenzen Meth — und zu dei
Schildjungfrauen paßt der Schild, nicht zu Hei oder dem unkriegerische u
Balder — ; die Wände sind mit Gold bedeckt. Also eine Art Walha
in Niflheim — offenbar eine Erfindung erst des Dichters von Baldii
Draumar. Aber sie kann weiter gewirkt haben : von hier wird die sei
same goldbedeckte Brücke zur Unterwelt11) stammen und vielleicht aucd
noch der abgeschmackte unterirdische Trinksaal12). X
x) Skäldsk. 3: Gering S. 364; als zugeschriebene Randnotiz?
a) Vgl. zu dem Namen Heinzel-Detter 2, 51.
3) Z. d. St. 4) Str. 50 f.
5) Später nennt Snorri den Saal selbst Lindri; vgl. Heinzel-Detter z. S|S
6) Vgl. Meyer S. 458. 7) Str. 40.
8) Besonders gut gewählt ist noch der Name des Biersaals : »Okölnir«, »d
nicht kalte« — »ein seltsamer Name für einen Berg in dem eisigen Riesenland«
(Gering z. St., der also die beiden Säle an die Grenzen von Niflheim verleg
sie müssen wohl aber nach dem Zusammenhang innerhalb des Reiches der H
gedacht werden). Vermutlich, damit das Bier schön warm bleibt!
9) Str. 47. 51.
10) In Str. 44. 49. 58 vgl. u.
n) Gylf. cap. 49: Gering S. 349; siehe u.
12) Völ. Str. 37.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 467
Vaf. Str. 43: die letzte Welt ist Niflheim, »die Tiefe, die die Scharen
er Toten verschlingt«.
Helr. Str. 1 (und Einleitung): ein Weg, der durch felsige Pforten
lines von einer Riesin (als Wächterin?) bewohnten Hauses führt. Doch
as interessante Lied (ein Parricida-Dialog) ist jung und ohne Autorität.
Für eine Nachbildung der Höllenschilderung, die an eine falsche
•itelle geraten ist, halte ich auch Grim. Str. 39 : Thor hat Flüsse zu durch-
Vaten (vgl. Härb. und Thor auf der Fahrt zu Geirröd) *) und die Brücke
'»rennt. — Allerdings sind tiefe Flüsse wohl überall als Grenzen zu
lenken; aber die Vereinigung des Durchwatens und Feuers mit heiligen
trennenden Wassern 2) riecht verteufelt chthonisch ! —
Fassen wir all dies zusammen. In einem Lande Niflheim oder Niflhel,
m Strand der Toten, ein unterirdisches Verließ mit Feuerfluten (auf die
Berührungen von »Gift« und »Feuer« war schon öfters hinzuweisen),
ichlangen und Ungeheuern — ein fortlebendes Stück Chaos, von den
feinden der Menschen bewohnt. Umgrenzt wohl eben durch jene Flüsse,
ron einem Höllenhund bewacht, der mit Kerberos so gut wurzelverwandt
ein kann wie die germanischen und griechischen Höllenflüsse unter-
einander3). —
Snorri berichtet: Nach Balders Tod reitet4) Hermod neun Nächte;
llann kommt er zu dem Flusse Gjöll% über den eine goldbelegte Brücke (?)
ührte. Mödgitd, die mutige Kriegerin, bewachte die Brücke . . . Darauf
itt er zu dem Höllentor . . . Beibehalten ist hier der Grenzfluß, das Tor;
umgewandelt der Wächter: statt des Hundes eine Kriegerin — gemeint
Ist wohl die Riesin der Helreid. Neu die goldene Brücke, die ganz aus
lern Stil fällt, und der Name des Flusses6).
Selbständige Schilderung von Hels Reich Gylf. cap. 37): Odin hat
ilie Hei nach Niflheim geschleudert; dort herrscht sie und hat eine große
<tVohnstätte, die Wälle sind hoch und die Türe weit. (Folgt die alle-
5) Skäldsk. cap. 2: Gering S. 363.
2) Vgl. die Styx, bei der geschworen wird; anders Heinzel-Detter2, 183.
3) v. d. Leyen (S. 87) hält den Höllenhund für eine alte Doublette des
Sonnenwolfs. Aber der Hund, das gezähmte Haustier, eignet sich mehr zum
Pächter als zum Räuber. — Herakles holt den Kerberos (Preller 1, 809) wie
Hior (Hym. Str. 22 f.) die Midgardsschlange.
4) Gylf. cap. 49: Gering S. 345.
5) Aus dem Katalog Grim. Str. 28.
6) Dieser bezeichnet ein andermal (Gylf. cap. 34: Gering S. 325) den Fels-
stein, mit dem die Loki fesselnde Schnur verankert wird. — Die Riesin Hyrrokin,
äie vom Feuer Verrunzelte, die mit Leichentieren — ein Wolf mit Schlangen
aufgezäumt — Balders Leichenschiff ins Wasser zieht, mag eine Doublette der
späten riesischen Unterweltswächterin sein (Gylf. cap. 49: Gering S. 344).
7) Gering S. 323.
30*
g
Hi
468 Sechstes Kapitel.
gorische Ausmalung ihres Gesindes) '). — Hierher kommen nach Snorri
alle Bösen2) — was gewiß christlich gedacht ist3).
Man sieht also deutlich die Zunahme von typischer zu »ikonischer
Haltung: Nomina propria, Epitheta (die goldbelegte Brücke; oder war
sie etwa nur zu Balders Empfang vergoldet worden?), schließlich dasm
Hausgesinde. — Diese selbe Richtung zeigt sich aber auch schon in dem
berühmten Refrain der Völ.4), wo der Hund seinen Namen hat, Garm,
und seine eigene Höhle, Gnipahellir ; wie denn hier auch die Ersetzung n
des Wächterhundes oder vielmehr seine Verdoppelung vorgenommen ist
wie dort Mödgud, ist hier5) Eggther der > Hüter der Riesin < , der Helfe
(oder sollte er Mödguds Diener sein?)6).
Die Topographie schlägt also hier ganz dieselben Wege für He! ein
wie (in Grim.) für das Heilige Land; Anhäufung von Namen und fast
philologische Ausnutzung von Andeutungen (Helreid); uraltes Gut (die^
Höllenflüsse) mit jüngster Allegorie verbrämt. Was für unsere Auffassung
und Bewertung der Grim. spricht7).
M i d g a r d.
Über Midgard besitzen wir lediglich eine späte Angabe8), im rein
geographischen Stil: »Die Erde ist kreisrund, und um sie herum liegt das
tiefe Meer (die antike Erdscheibe mit dem Okeanos), an dessen Küsten die
Götter den Riesen Wohnplätze anwiesen. (Wohl weil Snorri den Okeanos
mit Wimur, dem mächtigsten aller Ströme, gleichsetzt, der Geirröds Reich
abschließt)9). Weiter rückwärts auf der Erde aber errichteten sie wegen
der feindlichen Gesinnung der Riesen einen Burgwall rund um die Erde
und benutzten dazu die Wimpern Ymirs und nannten den Burgwall Mid-
gard. (Falsche Auslegung von Völ. Str. 4 und besonders Grim. Str. 41
Midgard ist vielmehr die von dem angeblichen Wall umschlossene Erde
selbst, wie althochdeutsch Meregarto.) — Somit wäre aus dieser Erd-
beschreibung nichts weiter zu gewinnen 10).
I
i
*) Siehe o. S. 391. a) Gylf. cap. 3: Gering S. 300.
3) Golther S. 474, vgl. 472. — Systematisierte Schilderung bei Saxo (S. 31,
Herrmann S. 38), christianisierte in Gottschalks Vision (Müllenhoff,
D. Alt. 5, 113.
4) Str. 44. 49. 58. 5) Str. 42.
6) Der Name Garm findet sich auch in dem Katalog der besten Dinge Grim.
Str. 44, was bei der Nachbarschaft Bragis nichts für hohes Alter beweißt.
7) Schoning Dödsriger sucht nachzuweisen, daß auch das Riesenreich
Jötunheim (S. 9f ) ein ursprüngliches Totenreich ist, was wir mit seiner ganzen
Auffassung der Riesen (vgl. o. S. 121) ablehnen müssen.
8) Gylf. cap. 8: Gering S. 303.
9) Skäldsk. cap. 2: Gering S. 362.
10) Ihr Ergebnis, das altnordische Weltbild, bei Wein hold, Altnord. Leben,
S. 358.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 469
3. Der dritte Schritt ist der Versuch, die einzelnen Welten zueinander
eographisch in Beziehung zu bringen. Dazu gibt es zwei Wege: Be-
timmung der Entfernung und Bestimmung der Lage.
a) Das Messen der Entfernung bezieht sich auf den Weg von Mittel-
unkt zu Mittelpunkt, da im übrigen alle Welten einander benachbart
zheinen oder wenigstens dazwischen liegender Welten nie gedacht wird.
Zunächst fehlt jede Angabe über den Abstand: von Asgard zu Niflheim x),
on Asgard zu Thrymheim 2) und in umgekehrter Richtung3), wo bei
Irungnirs und Odins Ritt nur gesagt wird, daß die Rosse schnell liefen,
besonders charakteristisch scheint mir die eine Stelle bei Snorri4), wo es
infach heißt: »die Hei schleuderte er nach Niflheim herab< — doch
/ohl aus Asgard, da man die Teufelsbrut ja erst aus Jötunheim hatte
lolen lassen. Dagegen fällt Hephaistos vom Olymp nur bis zur Erde5)
inen vollen Tag lang — ein episches Zeitmaß, das auch in der Hym.6)
»egegnet. — Die andere Stelle in der Prosa7) geht8) wohl auf sehr alte
jrundlage zurück.
b) Die Entfernung wird durch gewisse symbolische Züge verdeutlicht.
:s wird auf die Schwierigkeiten der Fahrt hingewiesen9). Es ist die
gleiche Methode, die außerhalb der Reisen von Götterwelt zu Götterwelt
ypisch dadurch ausgedrückt wird, daß die Gestalten »durch den dunklen
~ann« 10) reiten. Es ist die lediglich symbolische Andeutung eines langen,
chweren Weges11). In höhnischer Form findet man dasselbe in Odins
J^egbeschreibung für Thor ] 2). — Oder die Länge des Weges wird durch
Urfenthaltsstationen bemerkbar gemacht : Thor hält Rast bei der Grid 13),
vas freilich (wie die Unterbrechung von Brynhilds Fahrt bei der Riesin
n Helr.) auch durch die Handlung motiviert ist. — Anders ist es, wenn
He Station erst unmittelbar vor dem Ziel gemacht wird wie Skirn. Str. 11 14).
x) Veg. Str. 2; auch Gylf. cap. 34: Gering S. 322; vgl. u.
■) Thrymskv. Str. 4, denn »bald erreicht er der Riesen Heimat <, gehöhrt wie
jjas »fern im Osten« Härb. Str. 29 nur Ge rings Übersetzung an; Str. 8. 21 —
seiläufig bemerkt, spricht auch dies für die Altertümlichkeit der Hamarsheimt;
erner Skirn. Str. 10, Vaf. Str. 4.
») Skäldsk. cap. 1: Gering S. 357.
4) Gylf. cap. 34. 5) Preller 1, 174. ö) Str. 7.
7) Skäldsk. cap. 1. s) Siehe o. S. 299.
9) Skirn. Str. 20, mit Verstärkung durch metrische Hilfsmittel: das »feuchte
jestein« auf dem Wege von den Göttern zu den Riesen.
10) Myrkwid Lok. Str. 37 — wo es Gering aber als Grenze gegen Muspell-
leim faßt — ; Vkv. Str. 1 ; auch in der Heldensage: Helg. Hund. 1, 52; Akv. 3—5;
gesteigert Str. 13: »auf wüsten Felsenpfaden durch den wilden Forst von Myrk-
vid«. Vgl. auch Helg. Hund. 1, 17.
") Vgl. Grögaldr Str. 4. 12) Härb. Str. 55.
13) Skäldsk. cap. 2: Gering S. 362.
14) Vgl. u.
470 Sechstes Kapitel.
c) Endlich folgt auch hier die »ikonische« Stufe: genaue Angaben. De
Übergang bildet es, wenn Thor einen vollen Tag lang scharf fahren mu
um zu Hymir zu gelangen x). Volle Genauigkeit (immer natürlich er
mit heiligen Zahlen!) haben wir erst bei Snorri, wo Hermod3) neu
Nächte2) bis zur Unterwelt reitet.
1. Zur Bestimmung der gegenseitigen Lage der Welten ist das ers"
Mittel das uralte Betonen einer Grenze zwischen beiden Welten4
Zuerst ganz allgemein: »den Fluß verteidigte ich, als Svarangs Söhne de
Angriff versuchten«5). Also: ein Fluß als Grenze. In der Regel ist t
ein Wald6); sogar der Begriff ist von hier entlehnt7). So bei Taciti
die silva Hercynia8). — Die deutlichste Unterbrechung wäre freilicl
wie zwischen den Häusern y), so zwischen den Welten ein leerer Raun
Der Begriff der Grenze wird nun weiter durch Staffage belebt. So habe
wir schon in der alten Skfrnisför10) den Hirten, der wachsam auf der
Hügel sitzt (ins Heroische übertragen mit Eggther, dem Hirten der Rieser
der auf dem Hügel die Harfe schlägt)11). Dann ist es12) der Herrsche
Surtr selbst, der mit dem Schwert in der Hand an der Grenze seine
Reiches sitzt13). — Der nächste Schritt ist wieder die geographisch
Namengebung. Der Fluß, der Härb. Str. 29 noch einfach der anonym
Grenzfluß war, heißt nun14) Ifing ; und man weiß von ihm ein Natur
wunder im Stil des althochdeutschen Meregarto: er friert nie zu — wei
er dann aufhören würde, eine Grenze zu bilden. — Endlich hat mar
sogar für das ganze Grenzgebiet einen Namen entdeckt: bei Grjötunagara
dem Bezirk der Steingehege 15), ist die Länderscheide zwischen dem Götter
und dem Riesenland 16).
») Hym. Str. 7.
2) Gylf. cap. 49: Gering S. 345.
3) Die alte Zählung, nicht nach Tagen, die schon Tacitus Germ. cap. li
auffiel; bei der Fahrt ins Nachtreich besonders motiviert!
*) Vgl. allgemein J. Grimm, Deutsche Grenzaltertümer, Kl. Sehr. 2, 30 f.
B) Härb. Str. 29; mit Angabe der Weltrichtung (s. u.) kombiniert.
6) Wie Gering (S. 37) auch hier voraussetzt.
7) J. Grimm S. 33.
8) cap. 28. 30; vgl. bes. cap. 43.
9) Nach Tacitus Germ. cap. 10. 10) Str. 11.
n) Vol. Str. 42; vgl. Heinzel-Detter 2, 58.
12) Gylf. cap. 4: Gering S. 300.
J3) Über die Wächter der Unterwelt, Garm, Mödgud, Eggther, vgl. weiter
o. S. S. 468.
**) Vaf. Str. 16.
1B) Vgl. die feuchten Steine Skirn. Str. 10.
16) Charakteristisch für die zunehmende Detailmalerei ist, daß die Prosa zu
Skirn. Str. 10 dem Grenzzaun böse Hunde — im Stil Garms — zu Wächtern ge-
geben hat. Ebensolche bellende Hunde auch Fjöl. Str. 19-20. — Heinzel-
§ 27. Einteiluug und Ordnung der Welt. 471
)e Eine weitere Verdeutlichung der Grenze ist das Erbauen einer Grenz-
upurg1), recht aus dem Leben genommen, wie in dem Märchen vom
;rstfesenbaumeister2), während früherer Anschauung der »Grenzwall der
i\sen« 3) genügte. Dies heroische Detail wird erweitert durch die vom
-limmel zur Erde geschlagene Brücke4). Allerdings führt sie nach Mid-
s^ard, wo die Götter täglich in Geschäften zu tun haben; aber einmal
iverden doch die aus der Unterwelt über sie hinwegstürmen, so daß sie
jricht 5). Dennoch ist sie die beste der Brücken 6), denn wenn die Feinde
rammen, soll sie brechen. Also eine Art automatischer Zugbrücke,
närchenhaft, aber doch noch ganz realistisch von dem Wächter Heimdali 7)
um Brückenkopf bewacht. — Natürlich wird die Vorstellung des Regen-
Rogens als einer Brücke zwischen Himmel und Erde volkstümlich sein;
;ie festzulegen und zu benennen (»Bifröst« , »der schwankende Weg«),
)lieb wohl den späteren Göttertopographen vorbehalten. Dagegen
ragen wir Bedenken, der Zaunpforte vor Walhall ein »Vexierschloß« zu-
zuschreiben, »wie das Tor in Fjölsv. Str. 9 — 10 eine Art Selbstschloß ist«8).
2. Man schreitet von da zu einer genaueren Orientierung nach der Wind-
ose fort. Das Land der Riesen liegt im Osten9); aber wo spielt sich eigent-
lich der Dialog der Härb. ab? Doch wohl zwischen Asgard und Jötunheim 10).
Nach Osten zu liegt auch11) das Land der Ungeheuer, also Niflheim12).
Endlich die Götterfeinde kommen von Osten13), Norden14), Süden15).
Da die Dreiteilung der Scharen wohl erst dem Dichter der Völ. gehört 16),
ist wohl nur die erste Angabe als echt anzusehen ; Surt, der Dämon der
Hitze, kommt von Mittag her, und für Loki bleibt dann der Norden.
Westen ist also die gute Gegend. Die germanischen Tempel sind auch
Detter (2, 196) vermissen das Durchreiten der Waberlohe; aber eine solche
scheint nur zauberisch Gebannte zu umzirkeln: Svipdagsmäl, Sigdrif umäl ; auch
Qerd, die Skirnir nur nach Durchreiten der Waberlohe (Skirn. 8. 9. 17. 18) er-
i eichen kann, scheint durch einen Zauber geschützt (vgl. Str. 7).
*) Himinbjörg, Heimdalls Berg, Grim. Str. 13.
'2) Gylf. cap. 42: Gering S. 332.
3) Völ. Str. 24.
4) Ausführlich über die Gylf. cap. 13: Gering S. 308.
5) Faf. Str. 15.
<*) Grim. Str. 44; vgl. Gylf. cap. 13.
7) Gylf. cap. 27: Gering S. 320.
8) Heinzel-Detter 2, 180.
9) Härb. Str. 29.
10) Vgl. auch Grim. Str. 29, welche Angaben wir aber (siehe o. S. 469) für
unecht halten.
") Völ. Str. 40.
12) Vgl. Str. 36 und über die Säle im Norden Str. 37 o. S. 466.
18) Hrym: Völ. Str. 50. 14) Loki: Str. 51.
1B) Surt Str. 52. 16) Siehe o. S. 448.
472 Sechstes Kapitel.
überwiegend von Osten nach Westen schauend orientiert1), während in
Alten Reich Ägyptens, in den römischen Lagern, in den Straßen voi
Peking die Richtung auf Sonnenaufgang genommen ist2). Ob auch da
jener alten Anschauung3) entspricht, daß die Nacht den Tag herbei
führe4)?
J. Grimm5) spricht von »mehrfachen, freilich verdunkelten Vor
Stellungen von drei oder vier Wegen, welche, den Himmelsgegender
nach, von bestimmter Mittelsäule aus . . . das gesamte Land zu teuer
scheinen«. Diese wären dann hier einzuschalten, wenn sie nicht schor
urgermanisch sein sollten. — Schoning verlegt das ursprüngliche »Toten
reich« Jötunheim in den Norden, weil er die »Reifriesen«6) einfach mi
den »Riesen« schlechtweg identifiziert; dabei führt er die nach Oster
führenden Stellen selbst7) an. Damit soll nicht geleugnet werden, daC
manches für den Norden . spricht , soweit eben überhaupt eine bestimmte
Orientierung anzunehmen ist8).
3. Snorri gibt schon kleine Atlanten mit partieller Aufzeichnung der
ganzen Lagerung. Wie ausführlich ist schon die Reiseroute nach Utgard 9^
beschrieben! Zunächst hat Thor einen ganzen Tag zu fahren, wie zu
Hymir. Dann folgt die Fahrtunterbrechung bei dem Bauern, mit Abend-
mahlzeit und Morgentoilette; wie ein reisender Grandseigneur nimmt der
Gott sich ein paar Einheimische zur Bedienung mit. Nun kommt als
Grenze statt des Flusses das Meer, denn Utgard liegt ja jenseits aller
Welt, also auch jenseits des Meeres. (Ginge es wirklich 10) nur nach Jötun
heim, so käme er rascher an!) Neues Nachtquartier; Mahlzeit mit der
unheimlichen Reisebekanntschaft Skrymir; dritte Nachtruhe; Weg nach
Osten zu der Burg. — Die Absicht, durch eine ausführliche Schilderung
im Reisestil die Entfernung Utgards anschaulich zu machen, liegt hier
klar zutage. Um den Rückweg auszufüllen, wird die Begegnung mit
Hymir eingeschoben.
Noch mehr ins Einzelne gehen andere Angaben. Snorri weiß11), daß
Idafeld auf der Stätte des ehemaligen Asgard liegt, wovon in der Völ. 12)
nichts gesagt ist. (Vielmehr ist Idafeld nach Völ. Str. 7 ja schon früher
x) Was zwar Thümmel (PBB. 35, 27) für Zufall hält; siehe o. S. 426.
-) Nissen, Orientation, Berlin 1906, I, S. 59. 90.
3) Tac. Germ. cap. 11.
4) Diese Anschauung ist noch in der späten Mythenmache (Gylf. cap. 10:
Gering S. 304) gewahrt.
5) Kl. Sehr. 2, 57. 6) a. a. O. S. 10. 7) Ebd.
8) Persische Analogie: Ebd. 21 Anm. nach Edv. Lehmann.
9) Gylf. cap. 49: Gering S. 334.
,0) Vgl. cap. 45.
X1) Gylf. cap. 53: Gering S. 351.
12) Str. 60.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 473
dagewesen!) Und er weiß, daß dies Asgard in der Mitte der Welt lag1);
daß die Weltwarte Hlidskjälf (in keinem Gedicht benannt) dort liegt, ver-
isteht sich allerdings von selbst. — Endlich ist die Reihenfolge der Heime2)
wohl gewiß als eine geographische Folge zu denken. — Als ein ge-
trenntes Gebiet wird mit besonderem Nachdruck mehrmals3) das Gebiet
der Schwarzelfen hervorgehoben 4) : der Topograph ist hier in Ver-
legenheit, ob er sie bei den Elfen oder bei den Unterirdischen ein-
logieren soll.
Wir haben uns die Arbeiten zur Topographie des altheidnischen
Kosmos als ernst wissenschaftlich gemeinte vorzustellen, etwa wie die
Karten, die man zu Dantes Commedia entworfen hat (wo denn freilich
wirklich lokale Anschauung des Dichters zugrunde liegt). Snorri hat hier
nicht, wie gewiß oft bei der Namengebung, willkürlich erfunden, sondern
nur kombiniert und ausgeführt. Daß man sich lange vor ihm schon auf
diesem Wege befand, zeigt die Angabe über das Schlachtfeld des Götter-
kampfes (eigentlich hieß es wahrscheinlich Völlr)5):
Das Feld heißt -Kampfesfeld«, wo sich finden zum Kampfe
Die seligen Götter und Surt,
Der Meilen hundert mißts im Gevierte —
Die Stätte ist ihnen bestimmt6).
Das kann nicht alt sein, schon weil hundert keine altgermanische Zahl
ist7), sondern beinahe ein Exponent jüngerer Entstehung8); und auch
das quadratische Feld wird schwerlich volkstümlicher Phantasie verdankt9).
Und wenn bei den Hellenen Phlegra, die Stätte der Gigantomachie, an
vielen Stellen lokalisiert wurde10), ist uns von solcher Lokalisierung von
Wigrid nichts bekannt, während doch Balders Grab, die von ihm erweckte
Quelle (und vermutlich die Ankunftsstelle der Nerthus) gezeigt werden.
(Anderswo wird denn auch die Benennung abgelehnt: auf Sigurds Frage
antwortet11) die Fafnir-Interpolation : >das Feld heißt ,Noch gar nicht ge-
schaffen*, wo alle Äsen kämpfen werden«!)
Hier ist freilich überhaupt auf einen charakteristischen Unterschied
germanischer und hellenischer Mythologie hinzuweisen. Wie lebendig ist
l) Gylf. cap. 10: Gering S. 304.
*) Gylf. cap. 14: Gering S. 307; cap. 17: S. 312.
*) Gylf. cap. 17: Gering S. 312; Skäldsk. cap. 4: Gering S. 367.
4) Das Gering Vol. Str. 37 finden wollte.
5) Siehe u.
6) Vaf. Str. 18 — Gylf. cap. 51 : Gering S. 349.
7) Meine Altgerm. Poesie S. 84.
8) Vgl. die Belege ebd. S. 81.
■) Der spätere Comment steckt solche Felder zum Duell ab: Saxo S. 118
i,(Herrmann S. 157).
10) Preller 1, 75. n) Fat. Str. 15.
474 Sechstes Kapitel.
bei den Hellenen das ganze Götterleben mit bestimmten irdischen Stätten
verbunden ! Wie ungreifbar schwebt es bei uns (wie bei den Indern) fast
in der Luft! Wie höchst merkwürdig ist es, daß bei den Germanen die
lokale Gebundenheit vieler Kulte, die sich schon in zahllosen Beinamen
verrät1), ganz zu fehlen scheint oder doch gar keine erkennbaren Spuren
hinterlassen hat! Solche Beinamen sind in der Prosa zur Kennzeichnung von
Personen sehr beliebt2) und kommen so auch in der Heldendichtung vor3).
Die Mythologie aber bot dazu keine Gelegenheit. Nicht einmal Njord
und Skadi, bei denen so nachdrücklich auf die Heimat hingewiesen wird,
werden danach benannt. (Eine Ausnahme macht nur vielleicht der Staats-
gott Odin als Gaut , Gotengott)4). Eine volkstümliche, primitive Orts-
gebundenheit fehlte; so blieb nur übrig, sie statt auf Erden im Himmel
zu schaffen. Dies Fehlen der Lokalbezeichnungen spricht aber kräftig
gegen die Annahme, die ältere germanische Mythologie habe nur lokale
Kulte gekannt, die jetzt vielfach vertreten wird5).
4. Nur im Licht dieser gelehrten Himmelskarten scheint mir die höchste
(und schlimmste) Leistung dieser kosmischen Geographie völlig verständ-
lich : Yggdrasil, der gewaltige Baum.
Yggdrasil.
Die Weltesche6) ist, wie ich glaube, wenigstens in ihrer ausgebildeten
Form nichts als der Gipfel dieses Versuchs, die äussere Einrichtung der
Welt anschaulich zu machen. Der Ursprung dieses Mythus scheint in den
großen Bäumen zu liegen, die sich vor den Göttertempeln befanden und
oft ihnen erst ihre Entstehung verschafft hatten. Nach Mannhardt hat
besonders Chadwick erwiesen, daß die Folge so zu denken ist und nicht
umgekehrt diese Bäume den Weltbaum abbildeten. So wird auch Walhall
als Tempel Odins mit solchem heiligen Baum geschmückt: Laerad, von
dem Heidrün und Eikthyrnir sich nähern 7) muß dort gedacht werden ;
durch einen isolierten Vers8) ist uns weiter ein Hain Glasir (»der
J) Artemis Kynthia, Hephaistos Aeitnaios, Aphrodite Amathusia usw.; vgl. .
das Register bei Prell er 1, 941 f.
2) Vgl. F. Jonsson, Tilnavne i den islandske oldliteratur, Kobenhavn 1908,.
S. 173 f.
3) Sigurd der hunnische Held: Sig. sk. Str. 4, Atlm. Str. 97; Sigrun von
Sewafjöll: Helg. Hund. 2, 44, vgl. 35, 110; die Helg. Hjörv. hat eine besondere
Vorliebe für Ortsnamen.
4) Vgl. Golther S. 301 ; doch vgl. auch Tyr als Saxnöt: immerhin Benennung
nach Stämmen, nicht nach Orten; vgl. n. S. 106.
5) Z. B. von Bethge-Loewe in Gebhards Handbuch der deutschen
Geschichte, 4. Aufl., Berlin 1910; 1, 53.
6) Chadwick S. 72f., Golther S. 527, Mogk S. 376, Meyer S. 453.
7) Grim. Str. 25-26; vgl. o. S. 463.
8) Skäldsk. cap. 36; vgl. Gering S. 150.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 475
Glänzende«) bezeugt, der mit goldenem Laub vor Odins Palast steht1). Wir
sahen schon, daß die Göttersitze durch solche Obereinstimmungen mit
den irdischen Stätten des Gottes gekennzeichnet werden. Ein solcher
Baum wird als die eigentliche alte Wohnung Odins vorgestellt 2) ; deshalb
kann er, weil Odin in seiner Krone wohnt, Yggdrasil , Odins Roß
heißen, — Daß der Baum, an dem Odin die Runen fand, damit be-
zeichnet wurde, ist3) nirgends gesagt.
1. Dieser Baum, der vor Walhall steht, weil er vor irdischen Odins-
tempeln stand, wird, wie es scheint, der Ausgangspunkt des Mythus-
Schön früh, schon gemeingermanisch knüpfen Mythen an Odins Baum:
er ist immer grün 4) ; denn er steht unter dem Schicksalsbrunnen. Niemand
kennt seine Wurzeln5) und ihre Äste breiten sich über die ganze Welt6).
Yggdrasil war nur sein einer Name; er hieß auch Mimameid1), nach der
Anschauung (die wohl die ältere ist), daß die Quelle, an der er steht, die des
Mimi (Mimir), nicht die der Urd sei. Dagegen klingt die Angabe, Feuer
und Stahl können ihm nichts anhaben 8), bedenklich, wie eine Abwehr der
beliebten Fällungen heiliger Bäume durch Missionare. — So mögen denn
auch Laerad und Giasir Synonyma des heiligen Baumes sein; obwohl
solche Polyonymie für Gegenstände vereinzelt wäre. Aber es ist zu be-
achten, daß Laerad mit (wahrscheinlich alten) mythologischen Tieren
zusammenhängt, und Giasir, wenigstens nach unserer Vermutung, mit
göttlichen Frauen 9).
Also : es bildet sich die Vorstellung, wie vor den Tempeln stehe vor
Odins Halle ein wunderbarer Baum an einer rauschenden Quelle, die
wohl ursprünglich die Mimirs war.
2. Die Völuspä ist schon weiter fortgeschritten: erstens hat sich die
(vermutliche) Quelle Mimirs in die Urds verwandelt. Daß die Schicksals-
göttin eine Quelle besitzt, ist schwerlich alt, da diese nur Sonnengottheiten
und natürlich Wassergottheiten gehören. — Zweitens am Stamm des
Baumes steht ein Saal — aber nicht, wie an Giasir oder Laerad, der Odins,
r) Darauf scheint sich auch Helg. Hjörv. Str. 1 zu beziehen: Hjörvards
schöne Frauen werden den Walküren verglichen; vgl. auch Heinzel-Detter2, 346«
2) Siehe o. S. 249.
3) Chadwick S. 74f.
4) Vol. Str. 19 = Adarn von Bremen über den Baum von Uppsala aestate
et hieme semper virens; Chadwick S. 75.
5) Fjöl. Str. 14 = cuius illa generis sit nemo seit bei Adam von Bremen.
6) Fjöl. Str. 13; bei Adam von Bremen nur late ramos extendens.
7) Fjöl. Str. 14. 8) Fjol. Str. 14.
9) Es ist auch zu beachten, daß von den Mähnen der \v[alkürenrosse (Helg.
Hjörv. Str. 28) wie von der Weltesche (Völ. Str. 19) ausgesagt wird, von dort
komme der Tau in die tiefen Täler. In dem göttlichen Hain ist der Urquell des
geheimnisvollen Naß.
476 Sechstes Kapitel.
sondern der der drei Nornen x). (Die beiden Strophen Vol. 19 und 20 2)
stimmen nicht ganz zueinander und könnten wohl Doubletten sein. Die
erste scheint älter, setzt wohl nur Eine Schicksalsgöttin voraus und weiht
dieser die Quelle, ohne übrigens über die Wohnung der Urd Näheres
auszusagen. Die zweite setzt3) drei Nornen voraus; und sie hat bereits
an der Quelle im Saal das Weltschicksalregulierungsamt, das wenigstens
ich mich nicht entschließen kann für alt zu halten).
Ist unser Vorschlag, den goldenen Hain Glasir für den (schon immer
relativ jungen) Sitz der Walküren zu halten, berechtigt, so wäre alles leicht
erklärt. Die Verwandtschaft von Nornen und Walküren 4) hätte die
Schicksalsschwestern von Odins Gnaden in die selbst ihm überlegenen
verwandelt, und so wäre erst Urd , dann in anderer Lesung die Dreiheit
an dem Baum gekommen. — Sonst wird in den alten Liedern nur noch
ausgesagt, daß (der Baum vor Odins Halle) Yggdrasil bebt, als die An-
zeichen des Kampfes nahen5) — wie aus dem Rauschen der Bäume
prophezeit wurde; und daß es6) der beste (d. h. merkwürdigste) der
Bäume ist.
3. Endlich aber erreicht der Weltenbaumeister der Grim. das Letzte;
wahrscheinlich von Schnitzwerk mit phantastischen Einzelheiten im irischen
Stil7) mit bestimmt8). Nun wird der Weltbaum zu einer Art »Globus«,
einer plastischen Darstellung der Weltlage. Man kann sich diese mytho-
logische Weltkarte leicht nachzeichnen. Zunächst werden die drei unter-
göttlichen Hauptwelten untergebracht: unter einer Wurzel die Unterwelt,
unter der anderen die Riesen, unter der dritten die Menschen — also
Hei auf gleichem Niveau mit ihnen! Die Götter halten an der Erde nur
Gericht; Thor hat dazu einen weiten Weg durch Flüsse hindurch9). —
Nachdem so die Hauptsache geschehen ist, folgt die dekorative Ver-
schönerung, wie auf alten Atlanten, wo allerlei Landesprodukte den Ernst
der Geographie aufheitern. Oben sitzt ein Adler10) oder ein goldener
Hahn11); Snorri hat beide lustig kombiniert, indem er statt des Hahns
!) Vgl. Vol. Str. 29. 46, die die Nähe von Mimirs Quelle voraussetzen.
-) Vgl. Vol. Str. 8.
3) Wie allerdings die Völ. überhaupt: Str. 8 (ist es aber sicher, daß die drei
Riesentöchter die Nornen sind?).
4) Vgl. o. S. 161. 5) Völ. Str. 47.
6) Grim. Str. 44.
7) Vgl. allgemein Olrik, Nord. Geistesleben, S. 86—87.
8) Ztschr. f. d. Phil. 38, 172.
9) Grim. Str. 29. — Vgl. allgemein über die »Anfänge der Kartographie«
Andree, Ethnograph. Parallelen 1, 197 f.
10) Grim. Str. 32; vgl. Heinzel-Detter z. St.
lxj Vidofnir, Baumschlange; Fjol. Str. 17—18. — Dazu phantastische Arabesken
bei Schuck, Studier 2, 106 f.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 477
sinen Habicht Vedrfolnir dem Adler noch zwischen die Augen setzte1)!
Ferner läuft das Eichhorn Fatatösk »Nagezahn« am Stamm entlang, und
unten liegt der höllische Drache Nidhögg, der allein von all diesem Getier
mch sonst belegt ist; vier Hirsche mit Namen zum Teil von Zwergen
[alle mit D beginnend) nagen an den Ästen, unten verzehren Schlangen
mit phantastischen Appellativnamen die Zweige.
All dies soll man für alt halten und die gelehrte Fabel »von der
Wildkatze, die zwischen dem Adler auf der Spitze und dem Eber am
Fuße des Baumes Unfrieden stiftet2)«, soll uns nicht an tiefsinniger Aus-
deutung hindern! Aber klingt dies alles, gerade auch durch seine alle-
gorische Deutbarkeit, nicht mehr orientalisch3) als altgermanisch? Die
märchenhafte Ausdeutung ist noch allenfalls begreiflich4); aber die
christliche5) nicht. Wie gut wird aber das ganze Bild erklärlich, wenn
man es eben wirklich als ursprüngliches Bild faßt!
Man kann sich ja einige Elemente leicht ableiten: den Adler, der in
Odins Baum wohnt6); die Wurzeln, die in ihrer Stärke auf der Schnitzerei
angedeutet haben, wie tief der Baum gegründet ist7). Und die von den
Höhlen der ältetesten Felszeichner her beliebten äsenden Hirsche und die
Schlangen, vielleicht nichts weiter als Schnörkel, sind konisch leicht her-
zuleiten.
Ich glaube nicht, daß meine Erklärung alle Zweifel löst; aber
mindestens scheint sie mir geeignet, uns von einer ganzen Last ver-
schwendeten Tiefsinns zu befreien — was hat nicht allein Schuck8) aus
der »Widofnir-Sage« gemacht! Aber daß die Tempel mit Schnitzereien
bedeckt waren, wissen wir, und wie diese etwa aussehen, auch. Vögel
und Schlangen, Schlangen und Vögel, das beherrscht die ganze alt-
germanische Ornamentik. Man sehe sich doch nur Säves Siegfriedbilder
darauf an, wie die ornamentale Phantasie in den Vorstellungen des Drachen
wuchert! oder man freue sich bei Salin9) daran, wie die Löwen des Propheten
Daniel beinah zu Schlangen mit Thierköpfen geworden sind! Auf dem
Wolfskampf von der Insel Man 10) darf weder der Vogel noch die Schlangen-
1) Gylf. cap. 16: Gering S. 311.
2) Bei Phädrus; vgl. Heinzel-Detter 2, 185.
3) Man denke an die durch Rückert volkstümlich gewordene Fabel von dem
Mann im Syrerland!
*) Vgl. auch Grim. Str. 10.
B) v. d. Leyen, Märchen, S. 13f.
6) Bei Bugge, Golther, Meyer.
7) Noch bei Victor Hugo treffen wir die gleiche Verwandlung: »les
racines qui ont l'air de viperes« (Mabilleau. V. Hugo, Paris 1907, S. 127.
8) a. a. O.
9) Die altgerm. Tierornamentik, Stockholm-Berlin 1904, S. 113.
10) Olrik, Ragnarok, S. 162.
478 Sechstes Kapitel.
umringelung fehlen. Und wie viel Gelegenheit gab die Mythologie und
Heldensage zu diesen Darstellungen! Die Schlangen zischen in Nästrand
und in der Grube Gunnars *). Jagdbilder fordern den Habicht und den
Hund 2) usw. Je mehr nun klar geworden ist, daß die primitive Ornamentik
auf Naturnachahmung ruht3), desto begreiflicher wird uns die Häufigkeit
der »Schlangenlinien« bei Germanen wie bei Neuseeländern4). Sollte eine
Ableitung des Gewürms unter der Wurzel von diesem Lieblingsmotiv
nicht so einfach sein wie die Erklärung der Varianten Adler, Habicht,
Hahn aus dem stilisierten Vogelbild5)? — Allerdings die Hirsche scheinen
in der hieratischen Kunst und daher auch in der ornamentalen seltener als
in der urgeschichtlichen c); aber der Sonnenhirsch gab auch hierzu
Gelegenheit (Eikthyrnir!)7).
4. Dieser »Realisierung« der mythologischen Welt steht als notwendige
Ergänzung die Mythologisierung der gegebenen Welt gegenüber8). Die
Erde schwebt im leeren Raum — daraus wird bei Adam von Bremen
ein geographischer Begriff, die Grenze des Weltmeers im hohen Norden 9).
Über der Welt steht der Himmel mit den Gestirnen ; für diese wird nun
eine ganze Mythologie ausgeklügelt 10). Tag und Nacht werden von zwei
Pferden, Skinfaxi (mit leuchtender Mähne) und Hrimfaxi (mit betauter
*) Akv. Str. 18; vielleicht schwebte dem Darsteller des Daniel a. a. O. statt
der Löwen- eine Schlangengrube vor.
2) Vgl Olrik, Altnord. Geistesleben, S. 84.
3) Vgl. z. B. Grosse, Anfänge der Kunst, S. 122.
4) Schurtz, Urgesch. d. Kultur, S. 528.
8) Olrik (Om Ragnarok a. a. O.) läßt es z. B. auch einmal unentschieden,
ob ein Adler oder ein Rabe gemeint ist — genau wie noch der alte Fontane
bei dem Federhalter der Poggenpuhls, Werke 8, 269: »er schloß nach oben hin
mit einem Adler ab, der aber auch eine Taube sein konnte . . .«
6) Vgl. z. B. Hoernes, Urgeschichte der Kunst.
7) Jagdbilder bilden die ungeheuere Mehrzahl der ältesten figuralen Kunst:
Verworn, Anfänge der Kunst, Jena 1909, S. 48; man wird das Dogma vom
religiösen Ursprung aller Kunst wesentlich einschränken müssen. Hirsche und
Eber dominieren. Mancher ikonische Mythus wird von hier herrühren; so der
des Aktäon vielleicht von einer Zeichnung des als Hirsch verkleideten Jägers
wie bei den Buschmännern (a. a. O. S. 67). Und wer die beiden Bisons mit in
ihre Seiten gezeichneten Speeren aus der Höhle von Niaux (ebd. S. 46) be-
trachtet, wird darauf verzichten, die Verse aus der Sangaller Rhetorik (MSD. XXVI):
Der heber gät in litun,
tregit-sper in situn,
mit J. Grimm (vgl. MSD. Anm. 2, 131) mythologisch zu deuten. Es könnte
geradezu die Beschreibung einer riesigen Felsenzeichnung vorliegen.
8) Golther S. 520, Mogk S. 378.
9) Golther a. a. O.
10) Vaf. Str. 12. 14. 25, Sgdr. Str. 3 (?), Gylf. cap. 10: Gering S. 305; vgl
Golther S. 522.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 479
Mähne) herangebracht: wie der Tau von dem Gebiß des schnaubenden
Pferdes herabtropft, das ist ein schönes Bild, aber seine Deutlichkeit setzt
die Naturbeobachtung der Heldendichtung voraus. Außer ihren Rossen
erhalten Tag und Nacht auch noch Väter: Delling und Nor (mit
alliterierenden Namen zu Dag und Nött). Ebenso erhalten Sonne und
Mond einen Vater1) und die Sonne eine Tochter und Erbin2). — Diese
Fährte wird dann wieder, wie es scheint3) unter ikonischem Einfluß, aus-
geführt: zwei Rosse Arwakr » Früh wach« und Alswid »Vollkommen weise«
(auf die die Hör- und Beobachtungskraft des als Sonnengott aufgefaßten
Heimdali verteilt scheinen)4) ziehen die Sonne statt des einen Pferdes5);
vor der Sonne steht der Schild Swalin, »der Abkühlende« 6), wohl ein-
fach der alte Sonnenschild selbst, nun zum Attribut geworden. Snorri
setzt dann noch das Tüpfelchen aufs i, indem er die Genealogie zur
Erde herüberleitet und noch ein paar Glieder und Namen hinzufindet. —
Antike Einflüsse braucht man dazu schwerlich7) zu bemühen8). Da-
gegen sind alle Volkssagen über die Mondflecken9) und Sonnenfinster-
nisse10) gewiß in die Mischung eingegangen. Ähnlich scheint es mir11)
auch mit dem Regenbogen zu stehen; mindestens ist seine Deutung als
Brücke nicht indogermanisch, und 1. Mos. 8, 14 — 16 zeigt, welche
anderen Deutungen des Himmelsbogens möglich waren. —
Ich glaube, wir sehen hier eine durchaus folgerechte Entwicklung.
Beständig nimmt die Neigung zu genauer Bezeichnung und relativer Be-
stimmung zu; der Systemzwang bringt die seltsamsten Erschließungen
und Erfindungen (wie ganz gewiß bei Hesiod auch!), und schließlich
haben wir eine lückenlose Himmelskarte mit Stammbaum aller kosmischen
Wesen. Da unsere eigene Wißbegier der der alten Theologen gleich ist,
machen wir nur zu gern von all ihren Funden Gebrauch. Aber ich
glaube, wir müssen noch viel energischer hinter Snorri zurück, als es
gewöhnlich geschieht. Wenn wir von ihm ganz absehen würden, wäre
das Bild der altnordischen Religion vielleicht treuer, als wenn wir zu viel
von ihm annehmen. Auf jeden Fall muß zwischen den »Synoptikern«
der altnordischen Mythologie, den Liedern der Edda (von den aller-
*) Vaf. Str. 23. 2) Vaf. Str. 47.
3) Vgl. o. S. 396 zu den Blasebälgen.
4) Vgl. Gylf. cap. 27: Gering S. 320; daher Runen auf 'Arwaks Ohr und
auf Alsvinns Huf Sgdr. Str. 15.
5) Vgl. den alten Sonnenwagen mit Einem Pferd; S.Müller, Urgeschichte
Europas, S. 116.
6j Grim. Str. 37—38.
7) Mit Golther S. 487.
8) Schon W. Müller (Altdeutsche Religion, S. 172) verglich Hesiod.
9) Golther S. 524 Anm. 2.
10) Ebd. Anm. 3. ") Siehe o. S. 471.
480 Sechstes Kapitel.
spätesten kaum abgesehen) und ihrem vierten Evangelium, der Prosa-
Edda, ein scharfer Schnitt gemacht werden; von diesen mythologischen
Romanen einfach wie von »Quellen« sprechen, heißt Weltgeschichte auf
Gregor Samarows historische Romane bauen!
Innere Ordnung* der Welt.
Auf dieser Erde also walten in leidlich geordneten Kompetenz-
verhältnissen die überirdischen Wesen. Die Jahreszeiten werden als Ab-
lösung regierender Gottheiten aufgefaßt, die entscheidenden Momente
(Sieg, Ernte usw.) als Hoftage der Specialgötter, denen man in großen
Opferfesten huldigt.
Jeder Gott und jeder Dämon — denn diese behaupten im Volks-
glauben ihr ungeschwächtes Ansehen — hat sein Ressort, und man muß
sich an den rechten wenden, sonst sind die Gottheiten verletzt. Es geht
in der Welt nicht nach Gerechtigkeit, sondern nach Macht und Gunst,
und Odin gibt oft dem Schlechteren den Sieg1). Schließlich beruhigt
sich dieselbe Resignation, die von den unerforschlichen Wegen Gottes
spricht, auch mit den souveränen Ratschlüssen des (schon indogermanisch
unumschränkten) Schicksalschlusses der Nornen.
Immerhin zeigen sich schon in der mephistophelischen Götterkritik
Lokis Ansätze zu einer moralisierenden Auffassung. Im Ganzen herrscht
jedoch jene nüchterne Empirie, die auch die Weisheitssprüche der Häva-
mäl kennzeichnet. Die Götter machen es wie die Menschen; treiben sie
es, wie Loki, zu toll, so finden auch sie keine Fürsprecher beim Thing2)
und unterliegen.
Doch wenn auch das Verhältnis zu den Göttern zwar herzliche Ver-
trautheit (Thordienst) und sogar enthusiastischen Schwung (Odinsverehrung)
zeitigt, so werden doch vor allem in den Göttergestalten selbst ideale
Tendenzen sichtbar. Odin als der ringende, über sich hinauswachsende
Gott, Thor als der kräftig-unbesonnene Schützer der Braven, Frey als der
Leuchtend-Milde, Balder als der Fleckenlose — diese Lieblingsgestalten
beweisen, daß bei aller Weltklugheit (der einzigen Weisheit primitiver
Völker; man denke nur an die »Sieben Weisen« Griechenlands und ihre
Sprüche!) die natürliche Freude des Menschen auch an verzehrendem
Höhestreben, auch an »heroischer Dummheit« (»ich liebe die Dummheit,
wenn sie nur heroisch ist,« rief Gustav Roethe den Berliner Studenten
zu), auch an uneigennütziger Freigebigkeit oder weltferner Reinheit nicht
zu unterdrücken war.
Aber die Welt ist in beständigem Kampf; selbst die Einherier müssen
sich täglich für den letzten großen Krieg üben. Doch einst wird ein
*) Lok. Str. 22.
2) Häv. Str. 25.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 481
erkämpfter Friede nach dem letzten großen Kampf kommen und bleiben.
)amit das geschehe, müssen sich die Menschen als Gefolgsleute der Götter
>ewähren — wenn selbst nur mit Nagelschnitzchen x).
Vor allem ist es aber die Gemeinschaft vor Ragnarök, nach der die
vlänner streben. Sie begehren nach Ruhm2), und sie wollen in Odins
lenossenschaft aufgenommen werden. — Nächstdem sind die höchsten
jüter Besitz und Sippe3); und das Leben ist ein so hohes Gut4), daß
liese Meinung auch zu dem Glauben an die Wiedergeburt führen konnte,
vie sie Nietzsche zu dem Dogma der Ewigen Wiederkehr gebracht hat.
Mit charakteristischer Nüchternheit predigen des Hohen Sprüche die Weis-
) eil Ka n n i tverstan s :
Leben ist besser als Leiche zu sein,
Wer lebt, der kommt noch zur Kuh;
Für den Reichen bestimmt sah ich rauchen die Stätte,
Er selbst lag tot vor der Tür5).
Das Leben zu verlängern und reich zu machen wünscht (bei aller Todes-
/erachtung) der germanische Mann, und selbst der heroische Asket Starkad
vi 11 wenigstens alt werden.
Die Heldensage hat (wie wohl überall) weit stärker idealistischen
Charakter als die Göttersage. Gestalten wie Helgi Hjörvardson mit seiner
Bereinigung von Edelmut und Tapferkeit fehlen der Mythologie; Balder
st blaß neben Siegfried, und gar die Göttinnen neben Sigrun oder Bryn-
hild oder den Frauen der isländischen Saga. Eine Figur wie Sigyn oder wie
Manna glaubten wir deshalb auf heroischen Einfluß zurückführen zu sollen.
Die altgermanischen Götter sind , man möchte sagen , empirische Ideale,
licht moralische oder sonst transszendente ; selbst an Thor sind es nur
einzelne Seiten , die moralisch musterhaft wirken sollen. Der wahre
idealismus der altgermanischen Mythologie liegt in dem leidenschaft-
lichen Ernst, den Odin im Suchen und Denken, Thor im Handeln
darstellt. Einen übermütigen Spaß schließt das bei den Äsen so wenig
>:us wie bei Luther oder Bismarck; man mag Odin sich bei seinen Liebes-
schwänken vorstellen (die ihm doch erst später zugeschrieben werden)
und noch lieber Thor mit der Midgardschlange spielen sehen, wie selbst
der Gott des Alten Testaments sein Spiel mit dem Leviathan treibt. Aber
selbst Zeus wirkt frivol, Jupiter flach neben diesen Gestalten, auf denen
das volle Bewußtsein des menschlichen Schicksals und das ganze Pflicht-
gefühl der großen Deutschen lastet. Daß die Welt eine ernste ist, voller
1 j Gylf . cap. 51 : Gering S. 348.
a) Häv. Str. 76-77.
3) Ebd. und oft.
4) Olrik, Nordisches Geistesleben, S. 17.
5) Häv. Str. 70.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 31
482 Sechstes Kapitel.
Ungeheuer und Gefahren1), ist die Grundanschauung: Dürers Ritte
zwischen Tod und Teufel könnte schon an der Wand der altgermanisch et
Halle hängen. So wurden diese Männer erzogen; sie konnten in ihren
leidenschaftlichen Eifer grausam sein wie der heilige Olaf, furchtbar wi<
Karl der Große, oder auch mild zugleich wie der Angelsachse Alfrec
und der Däne Kanut; Frivolität aber, leichtsinniges Spiel mit ernster
Dingen hatte sein Abbild in Loki, an dem germanische Strenge so furcht-
bare Rache nahm für seine Gesinnung — nicht für seine Taten.
Wie es in der Götterwelt zugeht, ist damit im Wesentlichen schon
gesagt. Politisch betrachtet ist es ein deutscher Staat aus den Zeiten dei
Wanderung, eine aristokratische Monarchie. Ȇber kleinere Fragen be-
raten die Fürsten, über wichtigere alle2)« — so bespricht sich Odin mil
seinem Ratgeber Mimir oder seiner Gattin, bis die Not zu einem Konzil
zwingt3). Er ist der Götterfürst, aber mehr durch persönliche Autorität
als der Weiseste, denn durch irgendein Recht. Auch tritt dies Prinzipal
fast nur in der Leitung der Versammlungen und der Kriege hervor; wie
der deutsche Kaiser hat er allein das Recht, den Krieg zu erklären : durch
Speerwurf4). Sonst begegnet ihm sein vornehmster Vasall, Thor, recht
ungeberdig, allerdings ohne ihn zu kennen (Härb.), und der Keie seines
Hofes, Loki, zeigt ihm gegenüber nicht mehr Respekt als gegenüber den
andern, ja er ehrt Thor-Heinrich den Löwen mehr als Odin-Barbarossa.
Odins Ehrenrechte, sein Palast, sein Gefolge sind freilich beträchtlich;
aber von der Macht, deren sich Zeus in der berühmten Stelle von der
goldenen Kette rühmt, ist durchaus nicht die Rede.
Im übrigen leben die Götter eben wie die Menschen : zwischen
Pflichten und Neigungen schwankend. Schuldlos bleibt keiner der Haupt-
götter, und der Max Piccolomini von Asgard, Balder, erkauft die Schuld-
losigkeit durch frühen Tod. Auch zwischen den Göttern spielen Feind-
schaften, selbst neben dem politischen Gegensatz von Äsen und Wanen;
Odin und Thor lieben sich nicht, Odin und Frigg intrigieren gegen-
einander, Freyja schnaubt Wut über einen Vorschlag Lokis (Thrymskv.);
Njord und Skadi leben in unglücklicher Ehe. Dazu kommen die Lieb-
schaften; und wenn wir auch Lokis bösem Maul nicht alles glauben,
bleibt genug übrig, um die Schelte des Anaxagoras gegen Homer und
Hesiod auch gegen die Eddadichter wenden zu lassen: nichts lehrten
sie von den Göttern als Ehebruch, Diebstahl und wechselseitigen
Betrug !
*) Die uralte Priamel Häv. Str. 83 f.; vgl. meine Altgerm. Poesie S. 434.
2) Tac. Germ. cap. 11.
3) Über die Ratsversammlungen in der Edda vgl. meine Altgermanische
Poesie S. 374.
4) Vol. Str. 24.
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 483
Wenn so weit der germanische Olymp es dem hellenischen wenig
zuvortut — nur den Thor muß die Lokasenna von ihren moralischen An-
griffen ausnehmen — so faßt doch Ein Moment sie zu großartiger Ge-
schlossenheit zusammen: der letzte Kampf, in der Gigantomachie
landelt es sich um die Befestigung der Götterherrschaft, und sie liegt in
erner Vergangenheit — Ragnarok entscheidet über die Existenz der Welt,
nid liegt noch vor uns.
Olrik hat sich1) darüber verwundert, daß in diesem Entscheidungs-
campfe Thor nur einen Augenblick sichtbar wird. Mir scheint das fast
ron symbolischer Bedeutung. Schon allgemein galt für die Germanen
m Gegensatz zu den Römern2), daß es mehr auf das Heer ankomme
üs auf den Heerführer — ein gefährlicher Satz, gefährlich wie die Uli-
Gebundenheit der Volksgemeinden, über die der pünktliche Römer spottet,
v'or allem aber — nur zu schwer für unser Volk hat sich jener Wunsch
lies »wohlwollenden Beobachters« erfüllt: »Wenn sie uns nicht lieben
können, nun, so mögen sie sich wenigstens untereinander ewig hassen3)!«
Der Individualismus, der Partikularismus, der Eigensinn, Trotz und (wir
dürfen es nicht verhehlen!) Neid im deutschen Nationalcharakter hat die
3eschichte der meisten germanischen Völker nur zu oft in Zersplitterung
jnd Ohnmacht hinabgeführt, wie er ihre Literatur und Kunst fester
Tradition beraubte. Dies alles spiegelt sich in der leicht verworrenen,
iurcheinanderflutenden Götterwelt ab, die dem Einbruch der Feinde nicht
oi wehren weiß. Wie der Dämon der Gewalt und der List ziehen Surt
ind Loki heran. Da aber, wie 1813, wie 1870 gelingt das Wunder:
Einigkeit, Aufgehn im Gesamtwillen, Hingabe an den großen Moment;
md der heftige Eigenbrödler Thor, der märkische Bauer, verschwindet
linter dem Volkswillen wie Odin, der schwäbische Ideolog, oder Tyr,
der Erbe des alten österreichischen Kriegsruhms, wenn man solches Spiel
sait Analogien dulden will — hinter dem wohl doch eine Ahnung
dauernder Verhältnisse liegt.
') Altnord. Geistesleben S. 101.
s) Tac. Germ. cap. 30.
3) Tac. Germ. cap. 33.
31
Siebentes Kapitel.
Geschichte der altgernianischen Religion.
Unsere Auffassung der Entwicklung der altgermanischen Religion
haben wir schon wiederholt anzudeuten gehabt. Eine wirkliche Ge-
schichte aber dieser Religion zu schreiben ist es noch zu früh ; mindestens
ist als unentbehrliche Ergänzung der mythologischen Darstellungsversuche
eine Geschichte der altgermanischen Literatur erforderlich.
Entworfen hab ich sie längst, auch schon wiederholt vorgetragen ; ob
gerade ich sie auch als Buch fertig stellen werde, weiß ich nicht. Hier
kann es sich nur um einige Umrißlinien handeln; die fast nur schon
Gesagtes im Zusammenhang erörtern wollen.
Eine »Geschichte der altdeutschen Religion« versuchte in durchaus
verdienstvoller Weise schon Wilhelm Müller x). Er hat sich leider durch
persönliches Vorgehen wider J. Grimm den Eindruck des Buches ver-
dorben. Aber der Große war auch gegen ihn ungerecht. Aus Müllers
antwortendem »Offenen Sendschreiben an Herrn Jakob Grimm < möchte
ich wenigstens eine gute Stelle herausschreiben, die auch mich decken
soll, wenn man findet, ich hätte nicht genug »neue Belege«. (Neue
Quellen hoffe ich wohl »erweckt« zu haben.) »Wollen wir in den
historischen Wissenschaften den Grundsatz geltend machen, daß nur der-
jenige als Schriftsteller auftrete, der durchaus neuen Stoff gesammelt hat,
wollen wir alle diejenigen Bücher verdammen, in welchen schon be-
kannte und von andern einmal benutzte Quellen auf eine selbständige
und neue Weise bearbeitet sind, so würden wir über das Sammeln und
das erste Verarbeiten nicht hinauskommen, und die Wissenschaft würde
immer in ersten Anfängen bleiben2).«
Spätere Entwicklungsskizzen gelten fast nur der nordischen Religion,
die ja aber von einem frühen Zeitpunkt an fast ausschließlich in Betracht
kommt. Die energische schlanke Erzählung von Adolf Noreen 3) geht
1) 1844 in seinem Werk Geschichte u. System der altdeutschen Religion« S. 1 f.
2) a. a. O. S. 15.
8) Fornnordisk religion, mytologi og teologi; Svensk Tidshrift 1892 S. 172 f.;
wieder abgedruckt Spridda Studier, Stockholm o. J.; 1, 19f,
§ 27. Einteilung und Ordnung der Welt. 485
m Einzelnen wie im Ganzen von Voraussetzungen aus, die ich nicht zu
:eilen vermag: ich halte Tyr nicht für »die Sonne oder das Tageslicht«
und halte nicht einmal seine indogermanische Vorform dafür x) und kann
die Mythologie nicht als Zwischenstufe zwischen Religion und Theologie
setzen 2), wenn ich auch den letzten Begriff und seine Anwendung 3) voll-
ständig billige. — Auch von der Auffassung Axel Olriks4) trennt mich
manches, z. B. meine Auffassung des Unsterblichkeitsglaubens und der
Odinsreligäon. Aber wie viel haben wir von der Kunst zu lernen, mit
der Olrik die religiösen Entwicklungen in allgemeine kulturelle Zusammen-
hänge stellt!
Endlich sei noch daran erinnert, daß Chantepie de la Saussaye
sein ganzes Werk in anregender Weise nach der inneren Analogie der
Erscheinungen zu ordnen sucht. Auch auf die allgemeinen Darstellungen
der religiösen Entwicklung, besonders Wundts Völkerpsychologie, sei
nochmals hingewiesen, und so auch auf unsern eigenen Versuch5). —
An unmittelbaren Zeugnissen besitzen wir nur die Nachrichten
über Götterkämpfe; an mittelbaren die Nachweise abnehmender und zu-
nehmender Kulte, verdunkelter » Überlebsei <, und vor allem innere Wahr-
scheinlichkeit und äußere Analogie. Saxo schreibt schon von einem
bestimmten Standpunkte aus Religionsgeschichte, nämlich von euhemeristi-
schen 6) : ein Häuptling, der verbannt wird — Odin, zwei kämpfende Lieb-
haber: Balder und Hod. Immerhin bleibt es ein staunenswerter Versuch,
die Mythologie historisch zu begreifen, wo Snorri nur rein philologisch
kombiniert und reproduziert: es ist ein Unterschied fast wie zwischen
den antiken Mythologen und denen seit Welcker und Otfrid Müller.
Die größte Schwierigkeit bleibt natürlich der schlimme Mangel be-
stimmter Chronologie. Wir besitzen über die uralte Religion der Ägypter
genaue Jahreszahlen — bei dieser, aber die doch vor weniger als einem Jahr*
tausend in Blüte stand, sind nur zwei Momente der absoluten Chrono-
ogie vorhanden: die Zeit der römischen Berichterstatter und die der
Edden — und mit wie vagen Zahlen auch diese! Dazu ein paar datier-
bare Zufallsfunde wie die Merseburger Sprüche — und im übrigen sind
•wir der Willkür exakt - prähistorischer Zeitbestimmung wahllos preis-
gegeben. . .
*) Gegen Spridda Studier S. 22.
2) S. 25. 3) S. 35 f.
4) Nordisches Geistesleben S. 31 f., vgl. S. 95 f.
B) § 4: »Typische Entwicklung der Mythologie«. — Vgl. z. B. H.Kuenen.,
Volksreligion und Weltreligion, Berlin 1883; O. Pfleiderer, Religion und
Religionen, München 1906; K. Völlers, Die Weltreligionen, Jena 1907. Ferner
für die hebräische Religion Giese brecht, Grundzüge d. israel. Religions-
geschichte, Leipzig 1904; für die römische Religion Wissowa S. 15 f.
6) Vgl. Golther S. 701
486 Siebentes Kapitel.
§ 28. Religiösisgeschicfote *).
Wir lassen die Vorstufen hier beiseite und begnügen uns mit dei
Annahme, Fetischismus, Animismus, Dämonismus dürften sich bei der
Germanen in der gleichen Reihenfolge abgelöst oder vielmehr ergänz!
haben wie bei anderen Völkern ; denn daß sie sämtlich vorhanden waren
ist sicher, und ein Grund, eine anormale Entwicklung anzunehmen, nichi
vorhanden 2). Auch ihr Fortleben in den höheren Perioden sehen wir ein-
fach als gegeben an; noch in Odin stecken schamanische Züge, noch
Frey trägt das primitive Symbol des Phallus. Wir suchen hier nur von
dem Beginn des eigentlichen Götterglaubens an3) die Evolution zu
skizzieren und zwar auch wesentlich nur, soweit sie die Götterwelt
selbst betrifft4).
Einer besonderen Untersuchung bedarf noch insbesondere die Frage
nach dem Umfang phallischer Elemente in der niederen Mythologie der
Germanen. Auch hier darf man nicht schlechtweg aus den stark erotischen
Kultgebräuchen der Australier oder Hellenen verallgemeinern; die Ger-
manen waren wohl immer ein weniger sinnliches Volk als etwa die Romanen.
Natürlich aber wird mit Frey und phallischen Freys-Symbolen mit Lokis
Pantomime vor Skadi u. dgl. das Gebiet der Anthropophytheia< nicht
erschöpft sein5).
Wir betrachten zunächst die urgermanische Zeit. Es gibt zur
Zeit des Tacitus bereits eine größere Anzahl von Göttern: ererbte (Tyr),
entlehnte (Nerthus, Terra mater?), neu entwickelte (Wodan, Thor). Indo-
germanische Gottheiten sind auf dem Weg zur Heroisierung (die Alces);
Göttergestalten späterer Epochen (wie Balder) beginnen sich wohl eben
zu bilden. Wie man für die fränkische Geschichte von Gundobad Ein-
wirkung der Heldensage angenommen hat6), so könnte man auch die
Berichte vom Ende des Arminius an die Legende von Balders Tod durch
x) Vgl. v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 245 f.
■) Den Totemismus, den wir für die alten Germanen bestreiten, rechnen
wir nicht zu den typischen Stufen der religiösen Entwicklung. Er fehlt z. B.
auch bei den Hebräern (Wildeboer, Jahvedienst u. Volksreligion, Freiburg
1899, S. 27).
3) Vgl. v. d. Leyen S. 242.
4) Für das indogermanische Erbe vgl. o. § 5. Auch verweise ich noch
allgemein auf Seh rader, Sprachvergleichung und Urgeschichte, 3. Aufl. 2, 415 f ;
Rez. Much, Mitteilungen d. Anthropol. Ges. Wien XXXVIII. (1908) S. 15i, und
seine erst während des Drucks erschienene wichtige Darstellung Aryan Religion
in der Encyklopedia of Religion and Ethics, Vol. II, die mir seine Güte zugänglich
machte.
5) Vgl. z. B. Much, Himmelsgott, S. 275; Phalluskult als Form des
Fetischismus siehe o. S. 67.
«) Voretzsch, Ztschr. f. d. Alt. 51, 51. 55.
§ 28. Religionsgeschichte. 487
Bruderhand anlehnen ; man hat ja sogar öfters direkt Arminius in Siegfried
resucht! Ich möchte in beiden Fällen für die Geschichtlichheit der Ge-
schichte plädieren, da leider nicht einmal Peters des Großen Beteiligung
in der Tötung seines Sohnes Mythus ist. — Ein eigentlich anerkannter
-lauptgott ist noch nicht vorhanden, wohl aber eine Dreiheit: der indo-
germanische führende Tyr, der spezifisch germanische Wodan, der im
forden zu höchster Verehrung gelangte Thor. Sie mögen wohl der
sozialen Lagerung entsprechen: dem altgermanischen Nichts-als-Krieger,
vie ihn Tacitus1), unzweifelhaft übertreibend, schildert; dem neu auf-
rommenden Stand erblicher Häuptlinge; der neu einsetzenden Acker-
virtschaft. — Neben diesen, wie es scheint, allgemein anerkannten Haupt-
jottheiten — - von denen Thor vielleicht den Kelten und Germanen gemein
var — stehen Hauptgottheiten bestimmter Kultusbezirke, erwählte Patrone
jolitisch-religiöser » Amphiktyonien«. Durch das Mitwirken politischer
Momente (man denke an Delphi!) verstärkt, bilden die heiligen Stätten
lieser »Landesgötter« den ersten Ansatz zur Zentralisierung des Kultes:
lier werden zuerst regelmäßige große Feste gefeiert (Nerthus, Alces,
Tanfana?), hier bildet sich zuerst ein eigentlicher Priesterstand (Nerthus),
md hier sind auch die ersten Tempel oder tempelartigen Baulichkeiten
ai vermuten.
Die gleichen Zustände, wie sie uns für den Kontinent bezeugt sind,
iürfen wir für Skandinavien voraussetzen. Wir zitierten schon Olriks
Schilderung der »Religion des nordischen Broncealters« 2): keine festen
Götterbilder, höchstens sinnbildliche Opferfiguren; keine eigentlichen
Tempel; starke Fortdauer des Animismus im Kult heiliger Steine und
aiderer Naturgegenstände ; Opfermahlzeiten mit symbolischen Opfergaben :
tioldschiffchen (für Ing-Frey?), Hammer (für Thor). Denn daß diese
IJtere bilderlose Religion nicht etwa der Vorstellung persönlicher über-
natürlicher Wesen gänzlich entbehrte, hat3) R. Much4) zutreffend aus-
geführt. »Ein Name wie Wodanaz bezeichnet von Haus aus eine Person« ;
und schon der indogermanische Himmelsgott war persönlich gedacht.
Die »adoptionistische« Vorstellung, als kämen die germanischen Götter erst
/on den Römern, ist entschieden abzuweisen5). Aber die Götter standen
ien gestaltlosen Dämonen noch nahe.
Dennoch fühlte man sich im Gegensatz zu niedriger stehenden Nach-
Darn (Slawen, Lappen) bereits urgermanisch im Besitz einer gewissen
') Germ. cap. 15.
a) Danske Studier 1895, S. 40.
5) Gegen Sophus Müller.
*) Gott. Gel.-Anz. 1909 S. 95.
5) So auch Golthers Versuch, Wodan aus Mercurius abzuleiten (S. 295);
vgl. Much, Himmelsgott, S. 250.
488 Siebentes Kapitel.
religiösen Bildung; denn es ist mit Grund vermutet worden, daß da
vielumstrittene Wort Heiden schon in vorchristlicher Zeit einen Barbarer
und zwar »auch im Hinblick auf seine niedrigere religiöse Auffassung
bezeichnet habe *), gerade wie die Ägypter auf Syrer und Äthiopier herab
schauen 2).
Die älteste Zeit derStammessonderung pflege ich die jung
germanische Periode zu nennen; sprachgeschichtlich wird sie etw;
durch Durchführung des Vernerschen Gesetzes charakterisiert sein. E
beginnt ein Auseinandergehen in drei Religionskreise, die natürlich nocll
viel gemein haben und dauernd behalten : eine fortschrittlich-synkretistischJ
am Rhein, eine konservative im übrigen Deutschland, eine konservativ]
synkretistische im Norden. — Überall weichen die zentralistischen Tendenzen
Ing, Isto, Irmin treten wenigstens mit diesen Namen ganz zurück, di<
Alces verlieren völlig den göttlichen Charakter, Tanfana verschwindet
Nerthus geht in Njord auf3).
In den Rheingegenden tritt unter römischem Einfluß teils wirklicht
Aufnahme fremder Gottheiten (Matronae; Nehalennia-Isis?), teils weit
gehende Anpassung (Mars Thingsus usw.) hervor. Von hier aus wirc
auch die Entwicklung des Tempelbaus und der Götterbilder (erst durch
Einführung, dann durch Nachahmung; etwa wie bei den Münzen) be
schleunigt worden sein.
Hier und jetzt entstand nun auch nach Wimmers Nachweisen die
Runenschrift, zunächst vorzugsweise hieratisch verwandt für feierliche In-
schriften auf Denksteinen und Weihgaben, Segensformeln u. dgl. Wie
man überwiegend und wohl mit Recht annimmt, entstand gleichzeitig
auch das »goldene Alphabet« der Runennamen 4). Die Namen sind paar-
weise geordnet und für die religiösen Zustände am Entstehungsort eine
noch nicht ausgenutzte kostbare Urkunde5). Zuerst geht eine Zweiheil
des Besitzes : fe Vieh, Geld und ür Stier — zweierlei Formen des Ver-
mögens ausdrückend, Schatz und Herden. (Die naive Voranstellung —
die Buchstaben sind ja hiernach und nicht etwa nach dem nachgebildeter
lateinischen Alphabet geordnet — erklärt sich wohl aus dem beliebter
Gebrauch der Runen zu Eigentumsmarken)6). Dann zwei Kategorier
überirdischer Wesen: thurs Riese und äss Gott — für Anrufungen dei
Furcht; reid Wagen, wohl auf den Gott Ing zu beziehen, als den Gott dei
!)Much, Ztschr. f. d. Wortforschung 4, 217 nach Kluge, ebd. 11, 21 f.
-) Er man, Ägypt. Rel., S. 69.
3) Über diese Stufe vgl. Loewe-Bethge in Gebhardts Handbuch d
Deutschen Geschichte, 4. Aufl.
4) Vgl. meine Runischen Studien II, über Runendichtung, PBB. 32, 67t
5) Vgl. allgemein meine Altgerm. Poesie S. 22 f.
6) Vgl. allgemein Andree, Ethnograph. Parallelen 2, 74 f.
§ 28. Religionsgeschichte. 43g
Fruchtbarkeit, und kann, vielleicht für Heiisprüche um Gesundheit1):
Gedeihen für Mensch und Vieh oder Saat. — gjöf und vän, Gabe und
Erwartung (der Gegengabe). Die ganze Reihe heißt Freys Geschlecht«
and bezieht sich auf Gedeihen: Besitz, göttliche Gunst, Gesundheit,
menschliche Gunst2). (Daß auch die drei »Geschlechtsnamen«, die Be-
nennungen der Gruppen nach Frey, Hagal, Tyr, schon urgermanisch
seien, läßt sich nicht erweisen ; doch ist es schon wegen Tyrs abnehmender
Bedeutung wahrscheinlich.) — hagl und naud, Hagel und Not beziehe
ich auf Fern- und Nahkampf, somit zugleich auf Odin und Tyr obwohl
dieser noch einmal begegnet. — pertra gehört vielleicht auf die Bier-
tafel 3) ; der Wortsinn ist nicht erklärt 4) ; elgr Elch , später yr Pfeil ge-
lören zur Jagd; also männliche Freuden. Mit diesem Paar wird das
unmittelbar vorangehende eng zusammenhängen: is Eis und är gute
Jahreszeit; ebenso auch söl Sonne, nebst einer anderen Hälfte, deren Be-
deutung und Name problematisch ist5). — Die Gruppe heißt nach keinem
Gott, sondern nach der zuerst genannten Naturerscheinung: Hagels Ge-
schlecht. Im Ganzen: die männlichen »Passionen, die Ausfüllung der
ITage: Krieg, Mahl, Jagd6). Man denke an den Edlen der Rigsthula: er
ischnitzt am Bogen und spitzt die Pfeile7), freut sich an stattlichem Mut
und erzieht seinen Sohn zu Jagd und Krieg.
Die dritte Reihe heißt nach dem Kriegsgott Tyrs Geschlecht. Ihre
•Paare sind: Tyr als Siegesgott, der seine eigene Rune hat8), und bjarkan,
zu dem Wort für »Birke< gehörig und nach dem (allerdings späten)
skaldischen Gebrauch für alles, was sich auf Frauen bezieht, zu verwenden ;
jör Roß und madr Mann, log See und Ing Name des über die See
gekommenen Gottes, ödal erblicher Besitz ö) und dagr Tag, wohl für
den Gerichtstag. Wenn die anderen Paare jedem gelten, so dies dem
Vornehmen, der Kriegsgewalt und Frauen10), Rosse und Mannen, eine
Flotte, erbliches Gut und Gerichtsgewalt besitzt, wie Konungr11), im Krieg
') Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 24.
2) Vgl. z. B. Häv. Str. 42-43, 70-71 und 76-77.
3) Tac. Germ. cap. 22, Häv. Str. 13—14. 19.
4) Doch vgl. Altgerm. Poesie S. 25 den Hinweis auf das angelsächsische
Runenlied v. 14.
5) Wimmer, Die Runenschrift, S. 134 f.
6) Tac. Germ. cap. 15: »wenn sie nicht im Krieg sind, jagen sie etwas, mehr
aber pflegen sie der Muße , des Schlafens und Essens ; vgl . über die Gast-
mahle cap. 22.
7) Rig. Str. 27.
8) Müllenhoff und Liliencron, Zur Runenlehre, S. 36.
9) Vgl. Rig. Str. 36.
10) Wie Hjörvard Helgis Vater Helg. Hjörv. Str. 1.
11) Rig. Str. 35.
490 Siebentes Kapitel.
befehligt, die schneeweiße Tochter heimführt, Hengste reitet, Krieger be
schenkt, seinen Landbesitz mehrt und Runen besser als sein Vatei
kennt. — Ja man könnte alle drei Geschlechter sozial gliedern: Gedeihen
will jedermann:
Ganz elend ist keiner trotz üblen Siechttums:
Den einen beseligt ein Sohn,
Den zweiten Verwandtschaft, sein Wohlstand den Dritten,
Den vierten ein würdiges Werk1).
Das gilt schon für den Freien; die Jagd (noch Siegfried jagt ja den
Elch!) kommt erst der nobtlitas zu; die ganze Fülle des Besitzes erst
dem princeps. Was denn gleich noch für die altertümlichen Grundlagen
der als »schematisch« geltenden Rigsthula zeugen würde.
Aber als Urkunde sind die Runennamen nicht bloß kulturell
wichtig, weil sie den von Tacitus beschriebenen Zustand noch genau
innehalten (man könnte fast zu jedem Satz seiner allgemeinen Charakteristik
der Germanen ein Runenwort als Motto an den Rand setzen !) — sondern
auch mythologisch. Wie weit ist man noch von der Desideratenliste
der Freyja entfernt, die2) ihren Günstling den Odin auflehen läßt nicht
bloß um Gold und siegreiche Waffen, sondern auch um Weisheit, ge-
wandte Rede, Dichtkunst! — Hier befinden wir uns noch in einem viel
engeren Kreise. Von Göttern werden Ing-Frey und Tyr genannt, Odin
vielleicht (aber eher nicht) beim Fernkampf mitverstanden; Frigg könnte
zu bjarkan in Beziehung stehen; aber sie bleiben dann beide im Hinter-
grund hinter den Schutzgottheiten der ingvaeonen und Irminonen. Man
hat die vielen Fachgottheiten noch nicht nötig; für Sieg und Gedeihen
braucht man sie — das andere kann der Dämonen bannende Runenzauber
leisten8). — Es sind noch Halbnomaden, wenn sie auch den Landbesitz
hochschätzen; Krieg und Jagd sind die Hauptgewerbe, das Vieh noch
der Hauptreichtum; von den Jahreszeiten und Naturerscheinungen fühlt
man sich noch unmittelbar abhängig4); die Riesen sind fast wichtiger als
die Götter. Die Nähe der römischen Kultur ist gar nicht zu merken —
sie drang eben erst ein. Oder doch: die Wichtigkeit Freys (durch seinen
Wagen, durch das Synonym Ing, und durch die Patenschaft eines »Ge-
schlechts« dreifach vertreten!) beweist den Einfluß der fremden Kultur.
In der Tat: Frey ist der Exponent dieser Stufe, wie Wodan der ersten
Phase einer spezifisch germanischen Religion, wie Thor der ersten und
*) Häv. Str. 69. 2) Hyndl. Str. 2 3.
3) Über das Verhältnis der in der Edda aufgezählten Arten von Zauber-
namen zu den Schlagworten des Runenalphabets vgl. meine Altgerm. Poesie
a. a. O.
4) Caesar B. G. 6, 21 übertreibend: sie verehren . . . »Sonne und Gewitter
(Vulcanum, Thor) und Mond, von den andern haben sie nie gehört*.
§ 28. Religionsgeschichte. 49 \
Ddin wieder der zweiten Epoche der spezifisch nordischen Religion. Frey
st ein »Kulturgott«. Ein ursprünglicher Vegetationsdämon, noch ganz
Drimitiv durch das Symbol des Phallus bezeichnet, ist zu dem Gott des
jedeihens geworden. Wahrscheinlich wurde er dabei an eine fremde
jottheit angelehnt, an einen »Heilbringer«, der (vom Meer her) zuerst
>ei den Ostdänen erschienen war und dann mit seinem Wagen weiter-
zog1) — gerade wie schon viel früher Nerthus-Njord vom Meer her zu
ier Schiffsstätte gekommen und mit ihrem Wagen umhergezogen war.
Sie verschmelzen, oder vielmehr Nerthus wird fortgesetzt teils in dem
mn mächtig anwachsenden Gott Frey, teils in dem ganz zurücktretenden
3ott Njord. Die Zeit der führenden Göttinnen (Nerthus, Terra Mater,
sis ; Tanfana?) ist vorbei2). Eine interessante Parallele bildet etwa der
iltmexikanische Kalender, den S el er 3) bespricht. Der Windgott, der Mond-
jott, der Regengott, der Erdgott, die Gottheiten der Zeugung, des be-
•auschenden Tranks, der Musik beherrschen die Zeiteinteilung, wie sie das
-eben eines auf hoher Ackerbaustufe stehenden Volkes beherrschen. Es
st auch ein »Runenalphabet«; aber ohne einen Frey.
Wir erkennen aber an Freys Gestalt noch einen weiteren fundamen-
alen Fortschritt der religiösen Entwicklung. Nerthus ist noch an die
Stätte ihrer Epiphanie geheftet; ihr Götterbild muß umgeführt werden wie
ier Santo Bambino von Araceli in Rom. Bei Frey wissen wir von keiner
3rtsgebundenheit; kein Noatün ist genannt, wo er zuerst den Ostdänen
erschien, kein Hain wird gezeigt, in dem (wie wir annehmen) die Alces
lerniedersteigen. Man begreift, welchen Fortschritt in der geistigen Auf-
assung der Gottheit dies bedeutet!
Damit hängt etwas anderes zusammen. Die heiligen Haine der
"aciteischen Amphiktyonien tragen einen offiziellen Charakter; wer der
Nerthus oder den Alces opfern will, wenigstens wer ihnen ein feierliches
großes Opfer bringen will, muß zu der heiligen Insel, oder in den Hain
ier Semnonen oder Nahanarvalen oder wo eben das Heiligtum sich be-
indet; wie der Jude in Jerusalem opfern muß und nirgends sonst opfern
iarf. Und dies scheint naturgemäß die älteste Form der Götterverehrung.
r) Runenlied v. 63; Golther S. 208. Vgl. für den >Heilbringer« Breysig,
Die Entstehung des Gottesgedankens u. der Heilbringer, Berlin 1905, und da-
gegen Ehrenreich, Ztschr. f. Ethnol. 38, 5361; Wundt S. 294 f.
2) Man kann vielleicht, wie Seh er er für die deutsche Literaturgeschichte
nännische und frauenhafte Perioden unterscheidet, sie auch für die Mythologie
abgrenzen; für die griechische und römische Religion wäre es nicht undurch-
führbar. Man denke auch für die christliche Religionsgeschichte an die Epochen
der fast mythologischen Verehrung der Ekklesia (vgl. Conybeare, Aren. f. Rel.-
Wissensch. 8, 73 f.; 9, 373 f.) und später wieder des Madonnenkultes.
3) Verhandlungen d. Berl. Anthropol. Gesellsch., 28. März 1898; Ztschr. f.
\nthropol. S. 1731
492 Siebentes Kapitel.
Wir haben auch hier einen beständigen Wechsel von Gebundenheit unc
Ungebundenheit, eine religiöse »Polarität« im Sinne Goethes. Der Fetiscr
wie der Augenblicksgott können nur da verehrt werden, wo sie sind —
die Dämonen und Geister überall, denn man weiß nicht, wo sie hausen
(Ausgenommen die um die Leiche kreisende Seele des Verstorbenen.
Der Gott aber . hat wieder seine bestimmte Stätte, seine Unterlage, einer
Sitz im heiligen Baum, oder auf dem leeren Thron«: er ist nicht, wie
der Fetisch, an diese Stätte gebunden, aber will er sich zeigen, so läßi
er sich gerade hier nieder; dazu lädt ihn der leere Thron ja ein, odei
der Wagen der Nerthus. Hierher muß man kommen, wie man in den
Palast gehen muß, um dem König eine Bittschrift zu überreichen, es sei
denn, er zöge im Lande umher — wieder wie Nerthus.
Dies also war die Form der Götterverehrung auch in urgermanischei
Zeit; die älteste wohl, wenn sie auch von den (überhaupt merkwürdig
lokalistisch« angelegten) Graecolatinern sehr lange, zum Teil dauernd fest-
gehalten wurde. Aber es folgt wieder eine Epoche der Loslösung: der GorJ
kann überall nicht nur symbolisch verehrt werden (das konnte er natürlich
stets), nicht nur mit »Notopfern« fern von seiner Stätte (in Fällen der
Bedrängnis, der Schlacht) bedient werden (auch das werden wir für alle|
Zeit erlaubt halten müssen) — sondern auch mit feierlichem Opfer geehrt
werden. Auf dieser Stufe steht der altindische Götierdienst durchweg1),
Wir müssen sie auch für die germanisch-römische Religion voraussetzen,
wegen der vielen Opfersteine; denn wenn auch manche (wie z. B. wahr-
scheinlich die für die Deae Sandraudiga und Vercana) lokal bedingt waren,
können wir das doch durchaus nicht allgemein voraussetzen. Wie sollte
sich auch etwa der Mars Thingsus eine feste Stätte geschaffen haben?
Rückblickend müssen wir innerhalb dieser vermuteten » germanisch -
römischen Religion« (oder des Neu-Ingvaeonismus) zweierlei unterscheiden:
Neuerungen, die zeitlich, und die örtlich bestimmt sind. Die Ungebunden-
heit der Götter und die der Kultstätten sind religiöse Reifezeugnisse (denen,
wie so oft, als Zeugnis höherer Reife wieder ein Umschlag folgt)2); die
Verehrung eines Kulturgottes steht auf der Grenze; die Anpassung an
römische Art3) ist lokal bedingt. Daher die verschiedenen Nachwirkungen:
was nur von der Nachbarschaft entlehnt war, erlischt — außer natürlich,
wenn es gleichzeitig ein (nur beschleunigtes) Entwicklungssymptom war
wie Tempelbau und Götterbilder. Denn die Evolution geht unaufhaltsam
weiter, und so haben denn die Ingvaeonen ihrerseits den anderen Germanen
als Lehrer gedient. Von hier verbreiten sich Tempel und Götterfiguren;
*) Hillebrandt S. 14; vgl. o. S. 417.
2) Siehe u.
) Wir werden uns den Synkretismus viel lebhafter vorstellen müssen, als
wir ihn nachweisen können.
[§ 28. Religionsgeschichte. 493
on hier, auf dem Seewege, das übrige Deutschland nur leicht berührend,
ommt Ing nach England (schade, daß es nicht nach ihm heißt, was so
ut für dies Land und Volk passen würde!) und Frey nach Schweden.
Während also die rheinischen Germanen und ihre Nachbarn viel Neues
rnen, scheinen die übrigen Deutschen sehr viel konservativer die
lythologischen Anschauungen ihrer Vorfahren gehütet zu haben. Statt
er Tempel und Götterbilder treffen noch in karolingischer Zeit die
Missionare zumeist heilige Haine, Säulen, Bäume; und die lokale Ge-
•undenheit der Kulte scheint nach der Wichtigkeit, die Bekehrer und Be-
ehrte den Zertrümmerungen dieser Wohnsitze der Götter beimaßen, noch
joß gewesen zu sein. Auch haben Heiligtümer wie die Irminsul noch
fanz den offiziellen Charakter der Taciteischen Zentralkultstätten.
Höchst charakteristisch ist aber auch der Stand der Götterwelt. Wir
nüssen ihre Erscheinungen noch im Fluß begriffen denken. Die auf der
jrenze zwischen Dämonentum und Göttlichkeit stehenden heiligen Frauen,
lie Idisi des Merseburger Spruches, finden wir noch nicht auf der Stufe
ler völlig in die Götterwelt eingeordneten Walküren, so daß der eine
'^weig des Germanentums einheimische »Matronae« anrief, als der andere
angst römische »heilige Frauen« zu verehren begonnen hatte. Ing, der
/orläufer Freys, ist ganz zurückgedrängt, und seine neue Entwicklung,
;ben Frey, spielt keine Rolle. Aber auch Thor hat die führende Stellung
verloren, die er innerhalb der Taciteischen Dreiheit annahm. Wie er im
Morden mit Odin zu ringen hat, zwei urgermanische Götter in neuer
lordischer Entfaltung, so kämpfen in Deutschland die beiden anderen
jlieder der beiden urgermanischen Triaden : Isto — Wodan — Mercurius und
Irmin- Tiu — Mars, auch sie zwei urgermanische Götter, aber wie es scheint
ihne starke spezifische Entwicklung. Wie Frey der Schwedengott wird,
rennen sich nach Tyr die Schwaben x) Ende des achten Jahrhunderts, nach
Saxnöt vielleicht gleichzeitig die Sachsen 772 2); nach Irmin benennen sie
&ir Hauptheiligtum Irminsul, ebenfalls 772 belegt3). Die Nachkommen
fier alten Tyr- Völker, der Sueben, Marcomannen und Quaden 4) haben ihm
Treue gehalten ; aber sein Kult ist vom Semnonenwald weithin gewandert.
Auch Propaganda scheinen die Sachsen für ihn gemacht zu haben: ein
neuer Aufschwung der Tyr- Verehrung bei den norwegischen Wikingern
im neunten Jahrhundert könnte von da kommen5).
Aber neben der Tyr-Religion dehnt sich die Wodans-Religion aus.
Die Hermunduren verehren Wodan und Tiuz6) — -* etwa wie die vor-
sichtige Freyja den Ottar mahnt , über Odin Thor nicht zu vergessen 7).
r) Vgl. Golther S. 205. a) Ebd. S. 213.
a) Ebd. S. S. 210. 4) Ebd.
5) Golther S. 212 nach Zimmer; vgl. o. S. 188.
6) Ebd. S. 210. r) Hyndl. Str. 2—4.
494 Siebentes Kapitel.
Vor allem aber ist in Norddeutschland hart zur Seite des Tyr-Kultes dei
Wodansdienst im Aufblühen *) ; Sachsen , Angeln , Juten verbreiten ihn
Von den Sachsen kommt er im vierten Jahrhundert zu den Langobarden 2)
von den Angelsachsen zu den schwedischen Gauten im heutigen Gotland3^
und erobert sich allmählich Dänemark.
In Deutschland hat Wodan wohl noch nicht voll seine neue Gestal
erreicht : von einer Verbindung mit dem Unsterblichkeitsglauben (Einherier]
oder der Runenfindung ist keine Spur, und die nordischen Zeugnisse
verraten den Enthusiasmus einer jungen religiösen Bewegung. Aber dei
alte Winddämon, der urgermanische Sturmgott war längst zum Heilgott*;
geworden, was doch bei solchen Anfängen eine erstaunliche Weite dei
Betätigung offenbart. Seine Hauptbedeutung aber, glaube ich, lag in der
politischen Verhältnissen. Ich habe nachzuweisen versucht, daß
Odin insbesondere der Staatsgott ist: er erzieht und prüft die Fürsten
er leitet die Kriege, ihm werden die Könige bei Landesnot geopfert.
Diese Entwicklung wurde vermutlich durch den Speergott5) vermittelt,
der auch schon deutsch war. Für die Völker nun, die in der Entwicklung
zu neuen, festeren Ordnungen begriffen waren, mußte dieser Gott damals
schon eine solche Wichtigkeit gewinnen wie in Norwegen nochmals,
als der Häuptling König wurde. Deutschland ist auf dem Weg zu!
der festen Staatsbildung, die endlich durch die Franken erreicht wurde.'
Schon Tacitus bemerkt Symptome zunehmender Vereinheitlichung des
Staates in monarchischer Richtung -— die sie verfolgten, wie die Lango-
barden, stellten sich unter Wodans Zeichen, und so auch das einzige
germanische Volk mit fester politischer Tradition, das geborene Staatsvolk :
die Angelsachsen.
Daß der Kampf nicht bloß metaphorisch ausgefochten wurde, dafür
spricht der merkwürdige Umstand, daß nur jetzt (von Freys Benennung
als Schwedengott, die auch dem Gegensatz zu dem »Sachsengott« Odin 6)
verdankt wird, abgesehen) die Götter landschaftliche oder vielmehr stamm-
heitliche Benennungen erhalten : Odin als Gaut, Gotengott 7), Saxnöt als
Genosse der Sachsen ; und daß umgekehrt die Schwaben Ziuväri heißen 8).
Es war also eine mehr politisch als religiös erregte Zeit, etwa wie
die der Staufer in Deutschland und Italien, in der auch der kirchliche
Gegensatz sich vor allem in den politischen umsetzt: so stehen denn den
zentralistischen »Waiblingen!« unter Wodans Panier die eifersüchtigen
x) Ebd. S. 297. 2) Ebd. S. 300.
3) Ebd. S. 300. 4) Merseburger Spruch.
5) Siehe o. S. 181 f. 6) Golther S. 305.
7) Ebd. S. 301.
8) S. 205. Die Benennungen Ingvaeonen, Istvaeonen, irminonen sind doch
von anderer Art.
§ 28. Religionsgeschichte. 495
Hüter alter Eigenart, die »Weifen« (zum Teil auf demselben sächsischen
Boden, aber freilich auch auf dem schwäbischen der Hohenstaufen) unter
tius Zeichen gegenüber — und die Hermunduren halten sich in vor-
sichtiger Neutralität wie der große Landgraf auf der Wartburg.
Abseits von den streitenden Göttern steht Balder, von dem uns viel-
eicht nur der Zufall gerade auch aus Thüringen das Zeugnis des Merse-
ourger Spruches gewahrt hat. Sein Mythus ist noch auf altertümlicher
Stufe: das heilige Tier des Gottes (das Sonnenfüllen, ursprünglich der
ßonnenhirsch) vertritt bei der Verwundung die Stelle des Gottes; auch
m Kolorit ist ein älterer Ton : die Jagd statt der ritterlichen Sportübungen
n der Edda. Neben den beiden kriegerischen, wilden Naturen vertritt er
ias friedliche Element; aber Wodan ist mächtiger auch im Heilen. — Ob
Sunna oder Sinthgunt wirklich deklassierte Gestirngottheiten sind, bleibt
raglich. Als einzige Göttin der altdeutschen Religion ist uns jedenfalls
Frigg bezeugt, die aber vielleicht auch erst als Wodans Begleiterin zu den
Langobarden kam. — Dazu kommt abseits von der großen Entwicklung
iuf einer freilich unbesuchten Insel der Lokalgott Fosite, dessen Gleichen
s wohl aber an manchen Orten gegeben haben wird.
Wir müssen für diesen Kreis der »altdeutschen Religion« einen
entwickelten Priesterstand voraussetzen: überall treffen die Missionäre auf
Priester, und festen Opferritus erweist der Indiculus superstitionum ; sie
werden auch zur Verschärfung der Glaubenskämpfe zwischen Tyr und
Wodan wie zwischen Heidentum und Christentum das Ihrige beigetragen
laben. Ihnen kam auch die Tradition der Segensformeln zu, die in den
meiden Merseburger Sprüchen so außerordentlich treu gewahrt ist: ein
pischer Bericht, der eine Epiphanie reproduziert (sowohl Balders Ausritt
me die Tätigkeit der Idisi eignen sich durchaus sogar zu mimischer
Wiederholung der göttlichen Leistung, zur »heiligen Handlung«) und der
eine uralte Formel ausläuft, uralt nicht nur wegen der in die fernste
Eeit herabreichenden Parallelen, sondern auch wegen der Genauigkeit, mit
aer die begleitende »sympathetische Handlung« durch die Stellung der
Worte symbolisch nachgeahmt wird. Ähnliches gilt für andere altdeutsche
Zauber- und Segensformeln; bis zum Weingartner Reisesegen hin ist die
achte alte Tradition merkwürdig treu bewahrt, an die sich in angel-
sächsischen Formeln früh mystischer Unsinn, der Sendbote des zaubernden
Schamanentums , ansetzt. Man vergleiche nur den inhaltlich so altertüm-
lichen Segen gegen Hexenschuß *) mit dem Idisi-Spruch : wie die Walküren
oder Schlachtjungfrauen des deutschen Spruches zu Hexen des altenglischen 2)
*) Wülker, Bibliothek d. angelsächsischen Poesie 1, 317; vgl. Koegel,
Gesch. d. d. Lit. 1, 93.
2; Vgl. W ulke r, Grundriß zur Gesch. d. angelsächsischen Literatur, Leipzig
1885, S. 350.
496 Siebentes Kapitel.
heruntergekommen sind und wie die wirksame Erzählung bald in de
Breite der gehäuften Formeln erstickt! Wir können aus der Verschieden
keit mit Zuversicht schließen, daß das Zauberwesen bei den Deutschei
nicht entfernt dieselbe Ausdehnung gewonnen hatte wie bei den Angel
Sachsen oder gar den Skandinaviern, was durch andere Erwägungen
z. B. lexikalischer Art, bestätigt wird.
Die gleiche Treue wie bei rituellen Formeln scheint bei dogmatischei
vorzu herrschen ; wenigstens sind sehr alte Verse vom Chaos und von
letzten Kampf in zwei christliche Dichtungen, das Wessobrunner Gebe
und das Muspilli, eingedrungen.
Immerhin scheint auch dieangelsächsischeReligion, wenn mar
den Sachsen, Juten, Angeln nach der Eroberung (seit 441) eine solch«
zuschreiben will, von der gemeingermanischen sich eben nur durch eir
stärkeres Eindringen des Zauberwesens (wie es auch der Norden zeigt
unterschieden zu haben *). Ein Einwirken des keltischen Druidentums is
nicht zu beobachten — auffallend, da man ja für spätere Zeit den Keltei
auf die nordische Religion einen so starken Einfluß zuschreibt. — Bein
Ausgang des Heidentums in England tritt eine Epoche des Synkretismu;
sehr deutlich hervor: in den christlichen Anfärbungen von Beowulf 2), de]
Umdeutung heidnischer Lehrsprüche ins Christliche3) oder Hinzufügun^
christlicher Lehren4), der Übernahme der alten Elegie5). Doch ist die
alles nur dem Grade nach von Erscheinungen wie dem althochdeutscher
Muspilli und Wessobrunner Gebet, dem Schluß der Vol. und Vol. h. sk
verschieden; im Ganzen dauert auf der Insel die altdeutsche Reli
gion« fort.
Es ist etwa der Stand, den wir für den Norden ebenfalls voraussetzei
müssen, ehe fremde Einflüsse und einheimische Art einen ganz neuer
Charakter, ein durchaus originales Gepräge einer Religion gaben, die, wi^
alle stark individuellen Religionen, ihre Eigenheit der energischen Ver
Schmelzung sehr verschiedener Elemente verdankt. Man hat in neuere
Zeit den synkretistischen Charakter des Urchristentums immer stärker bei
tont, immer energischer die Amalgamierung heidnisch-religiöser und antik
philosophischer Elemente nachgewiesen6); man betont immer stärker dii
J) Vgl. die Übersicht bei Brandl, Altengl. Lit., S. 949; auch Kögel, Gesch
d. d. Lit. 1, 109.
2) Brandl S. 1002. 3) Ebd. S. 1087.
4) Ebd. S. 960.
5) Ebd. S. 1047. Vgl. allgemein Ehrismann, PBB. 35, 235.
6) Usener, Dieterich, Reitzenstein; Wendland, Die hellenisch
römische Kultur, Tübingen 1901; Schwartz und, von der volkstümlichen Seit(
her, Deißmann in seinem schönen Werk »Licht von Osten«, Tübingen, 2. Aufl
1909; Wernle, Die Entstehung unserer Religion, Tübingen, 2. Aufl. 1904. S. 292 f
§ 28. Religionsgeschichte. 497
»rahmanischen Bestandteile im Buddhismus1), die vorislamitischen im
slam und die vormosaischen im Judentum 2) ; man wird auch für die
inheitlichste der germanischen Religionen, die einzige, die das neunte
ahrhundert überlebt, die einzige, die eine große Literatur erzeugt, die
inzige, die eine einheimische Theologie gereift hat, das alte Goethische
J^ort zugestehen müssen: >Kein Lebendiges ist ein Eins, immer ists ein
Zieles!«
Die nordische Religion3) erlebt ein gut Stück Entwicklung
or unseren Augen und könnte eine der bestbekannten Mythologien sein —
venn die Denkmäler weniger sorgfältig gesammelt wären. Denn eben
n der nie genug zu preisenden Tätigkeit der nordischen Sammler, Kritiker
ind Historiker unserer wichtigsten nationalen Religionsurkunden liegt ja
uch die zum Teil unüberwindliche Erschwerung des vollen Verständnisses :
vir sind gar zu oft nicht in der Lage, hinter Aristarch zu Homer, hinter
»norri zur religiösen Dichtung, hinter Saxo zu den mythischen An-
chauungen des germanischen Nordens zu gelangen! Ein jeder Interpret
st eine Gefahr für das Verständnis — Snorri eine ungeheuere, wenn man
hm zu viel traut, und keine geringe, wenn man sich von ihm zu oft
'um Widerspruch reizen läßt.
Wir müssen uns zunächst gegenwärtig halten, daß sich die Schilderung
tes Tacitus auf Skandinavien nicht erstreckt. Indessen haben wir nicht
len geringsten Grund, für jene Zeit an einer weitgehenden Einheitlichkeit
les germanischen Wesens zu zweifeln; und was uns für die Deutschen
>ezeugt ist, würden wir für die Nordmänner etwa erschließen müssen.
Vuch ihre älteste Religion war stark dämonistisch, besaß noch kein irgend-
wie geordnetes Göttersystem, verehrte die Götter »in der freien Natur«4),
annte höchstens Gelegenheitspriester und jedenfalls noch keinen Priester-
tand. Daß unter ihren Göttern Thor und Tyr sich befanden, ist nicht
h bezweifeln: wir sehen keinen Herd der Propaganda, von wo sie ein-
gbführt sein könnten. Für Odin wäre das denkbar; jedenfalls aber ist
<ein starkes Aufsteigen erst auf fremde, d. h. nichtnordische Anregungen
urückzuführen. — Die Masse der Gräberfunde im Norden läßt vielleicht
tbf eine intensive Religiosität schließen ; vielleicht auch beruht sie nur auf
ler Gunst der klimatischen Verhältnisse.
Es ist aber anzunehmen, daß die Skandinavier sehr früh ihre Sonder-
rt geltend machten. Die nordischen Götter haben nach S. Müller5) in
der Zeit der Völkerwanderung ihr spezifisches Gepräge erhalten. Aber
*) Pischel. 2) Wellhausen.
3) Vgl. allgemein über ihr Verhältnis zur gesamtgermanischen MogkS. 247,
jolther S. 39.
4) Olrik S. 33.
5) Vorgeschichte Europas, S. 186.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 32
498 Siebentes Kapitel.
vielleicht sollte man zunächst noch gar nicht von nordischen Göttern
sprechen: eine nordische Religion« entstand erst durch Union de
nordischen Sonderreligionen, die freilich gewiß nahe verwandt warer
Diese regionalen Verschiedenheiten sind früh erkannt worden und schoi
Uhland billigte sie — in einer Periode, in der er noch Geijers Theori
abwehren mußte, der nordische Götterhimmel sei aus Jöten, Wanen un<
Äsen als Vertretern verschiedener Völker zusammengesetzt1).
1. Vom Rhein her war Frey zu den Schweden gekommen, mit ihn
Njord — Kulturgötter des Reichtums (der sich abstrakter in Gullveig-Hei<
verkörpert). Das phallische Element tritt hinter dem der Fruchtbarkeit in
vegetativen Sinne zurück. Die Kulturfortschritte und die damit ver
bundene Verweichlichung^) führen zur Verehrung einer neuen Göttin
Freyja, die im Land des Frey -Kultes entstanden sein muß. Neben de
herberen Frigg steht sie fast wie Balder neben Wodan; das erotisch*
Element wird stark betont. Durchaus ist sie die Schöpfung einer »frauen
hafteren« Epoche. Diese Gottheiten bilden den engeren Kreis de
Wanen. Frey dominiert entschieden. Er hat große Tempel3); ein be
stimmter Typus seiner Erscheinung bildet sich früh heraus; er wird gen
als Namenspate gewählt. Von ihm schreiben sich die Könige her, wi^
die Julier von Venus; denn es ist überall dafür gesorgt, daß die Stamm
bäume in den Himmel wachsen.
2. Nach Dänemark war von den Ingvaeonen her der Wodansglaub«
gekommen4). Der Staats- und Weisheitsgott hatte seine ordnende Kraf
auch hier bewahrt: während Frey und gar Thor einsam bleiben, sammel
er um sich eine Götterschar, die Äsen, deren Kern vielleicht die heroi-
sierten Fürsten vornehmer Geschlechter bildeten — die Ahnen der gotischer
Könige, »Halbgötter, auf gotisch ansis«5), die Vorläufer des Einherier
tums. Eine ganze Götterwelt gruppierte sich allmählich um ihn; Hönii
und Loki, uralte Dämonen, traten mit ihm zu einer Dreiheit zusammen
Frigg ward seine Gemahlin ; der ehemalige Nebenbuhler Tyr und anden
Götter wurden fast seine Vasallen.
Unzweifelhaft war mit diesem Aufschwung auch eine Vertiefung vor
Odins Wesen verbunden, eine stärkere Betonung der Weisheit, die sicr
schon äußerlich im Bild des alten erfahrenen Mannes abspiegelt — dei
j) Vgl. Mo es tue, Uhlands Vorlesung über nordische Sagen, Studien z
vgl. Lit.-Gesch. 9, 226. Neuerdings hat Finnurjönsson (Ark. f. n. Fil. 13, 243;
diese regionalen Verschiedenheiten besonders energisch betont. Allgemein geo
graphische und ethnologische Charakteristik der drei Reiche bei Weinhold
Altnord. Leben, S. 221.; Olrik, Altnord. Geistesleben, S. lf.
2) Man denke an Starkards spätere Schelte; Olrik S. 89 f.
3) Auch später noch auf Island; Golther S. 232.
4) Über die Kulturwege vgl. Salin, Altgerm. Tierornamentik, Berlin 1904
5) Jordanes cap. 13; Golther S. 93. 193.
§ 28. Religionsgeschichte. 499
ieutsche Wodan jagt noch hinter der Windsbraut einher, der nordische
Ddin erobert die Weiber mit andern Künsten. Doch werden wir die
mtscheidende Wendung der Odinsreligion noch nicht in diese Zeit setzen
iürfen.
3. Norwegen, das jüngste der drei Reiche1), hat mit seinem »kleinen
Landschaftskönigtum« für den Herrschergott Odin zunächst keinen Platz
ind sein Boden lockte nicht wie die schwedischen Täler zum Kult Freys.
Hier ward der alte Gewitterdämon, der Bauerngott Thor zum National-
leiligen, und seine Kämpfe mit Riesen und Riesenweibern boten un-
erschöpflichen Stoff für Mythen. Früh scheint zu ihm der alte Feuer-
dämon Loki in nahe Beziehungen zu treten, erst freundschaftlicher Art,
iann feindlicher. Auch wird der Einfluß der finnischen Zauberei2) in
Norwegen zuerst sich geltend gemacht haben ; oft erscheint Thor geradezu
frls Schutzherr gegen Hexen und Unholdinnen.
Wie jedermann sich seinen fulltrüi wählte, den Gott seines vollen
Vertrauens 3), so hatte jedes nordische Volk sich seinen fulltrüi erwählt
■Island übernahm später den des Mutterlandes, wie Kolonien zumeist tun).
Im übrigen werden wir im Zuschnitt des Kultus, im Ton der Andacht,
*n der Weltanschauung keine großen Unterschiede vermuten können, nur
eine gewisse Abstufung von norwegischer Schroffheit über dänische Ge-
wandtheit zu schwedischer Lebenslust; um starke Worte zu gebrauchen,
on Björnson über Ibsen zu Bellman4).
Diese Konzentration ermöglicht die Verschmelzung. Frey kommt früh
nach Norwegen, von wo schon 876 Auswanderer unter Thors und Freys
Schutz nach Island fahren5); doch bleibt man sich noch lange bewußt,
daß er eigentlich der schwedische Opfergott ist6). Wodan kommt vor
300 nach Schweden, wo die »schwedischen Könige, die Söhne Freys7)«,
sich gegen ihn wehren. Ebenso schauen in Norwegen die Thorverehrer
Aiit Mißtrauen auf den (wohl von Adel und Königtum begünstigten) Odin.
Dies führt nur zu Streitgedichten; zwischen Wanen und Äsen aber, d. h.
len Verehrern Freys in Schweden und denen Odins in Dänemark kommt
es um 600 8) zum Religionskrieg: dem Wanenkrieg9).
*) Olrik S. 3. ') Siehe u.
:>) Weinhold, Altnord. Leben, S. 462; Olrik S. 33.
*) Finnurjönsson (Ark. f. nord. Fil. 13, 234) bestreitet, daß in Norwegen
Thor mehr als Odin verehrt worden sei und glaubt lediglich an eine Verschieden-
heit der Wirkungssphären.
B) Golther S. 219. 6) Ebd. S. 223.
7) Ebd. 8) Weinhold.
9) Vgl. o. S. 388. — Eine ganz andere Deutung des Wanenkriegs als die
seit Wein hold und Hoffory übliche möchte Much (Himmelsgott, S. 273)
geben, der ihn als einen Kampf zwischen hellenisch - indogermanischer und
phönizischer Religion nimmt. Aber er setzt eine viel ausgebildetere, götter-
32*
500 Siebentes Kapitel.
4. Der Wanenkrieg endet mit einem Kompromiß, dessen Folge di<
nordische Religion ist. Frey wird in den Götterhimmel, dem Odin
vorsitzt, rezipiert; Njord offiziell auch, ohne es zu großer Stellung zu
bringen. Freyja wird gern aufgenommen und beerbt vielfach Frigg. Thor
tritt als erster Vasall neben Odin. Durch diese Vierheit: Odin, Frey.
Thor (vielfach gemeinschaftlich in Tempeln verehrt) und Freyja wird der
neue Olymp gekennzeichnet.
Natürlich bleiben die alten Patronate doch in Kraft. Hallfred und
seine Genossen geloben viel Gold »dem Frey, wenn sie nach Schweden
kommen, dem Thor und Odin, wenn sie nach Island kommen«1). —
Daneben besteht auch weiter die Macht der untergöttlichen Wesen; in
der Haddingssaga sieht Olrik 2) den Kampf zwischen Riesen- und Götter-
glauben.
Eine allgemeine Charakteristik der »voreddischen Religion im Norden«
gibt Krohn 3) auf Grund der von ihr stark beeinflußten finnisch-esthnischen
Mythologie. Noch immer spielt der Animismus eine große Rolle: Worte
wie »der Selige« und »Gespenst« sowie »Totenschmaus« werden ent-
lehnt; ebenso Elfen, Wassermann, Drachen. Von Göttern sind Thor und
Frey übernommen4). —
Diese nordische Religion besaß längst Tempel und Kultbilder. Und
zwar scheint jetzt jener Umschwung eingetreten zu sein, der an Stelle der
völligen Ungebundenheit der Kultusstätte wieder eine relative Gebunden-
heit setzt. Offizielle Tempel im Sinne der Taciteischen Nationalheilig-
tümer scheint es für die Amphiktyonien Freys, Odins, Thors nicht, oder
doch höchstens für die erste in Uppsala gegeben zu haben. Viele Tempel
wurden gebaut; denn man war zwar insoweit frei, als man in einem
beliebigen Tempel opfern konnte, aber auch soweit gebunden, als man
jedenfalls in einem Tempel opfern mußte. Immer von Fällen dringender
reichere indogermanische Religion voraus, als wir annehmen dürfen. — Ganz
euhemeristisch deutet ihn auf einen Krieg zwischen Odin (der doch nicht allein
steht!) und »mächtigeren Zaubergöttern«, der Zauberin Gullveig und dem Zauberer
Mimir Methodin, v. d. Leyen (Sagenbuch, S. 129). Er setzt übrigens (S. 130)
drei verschiedene Überlieferungen voraus. — Ähnliche gnostische Umformungen
von Religionskriegen zeigt nicht nur die Gigantomachie, sondern vielleicht auch der
Krieg mit den Lapithen-Steingöttern, Fetischen (vgl. Trombetti, Indogerman.
u. sem. Forschungen, Bologna 1897, S. 50.
1) Craigie S. 19.
2) Kilderne til Sakses Oldhistorie 2, 6.
3) Ztschr. f. d. Alt. 51, 13.
4) Nur aus volkstümlichen Zeugnissen mit Ausschluß der Dichterbelege
sucht W. A. Craigie (The Religion of Ancient Scandinavia, London 1906) diese
zu rekonstruieren. — Vgl. allgemein P. Herrmann, Nordische Mythologie,
Leipzig 1903 Rez. Finnurjönsson, Ark. f. nord. Fil. 21, 395.
§ 28. Religionsgeschichte. 501
tot abgesehen. Ja allmählich erhoben sich auch wieder einzelne Tempel
/ie der zu Uppsala, der zu Leire (unter Mitwirkung politischer Ver-
ältnisse), oder zu Hlade (durch den persönlichen Einfluß des Jarls *) zu
ist zentraler Bedeutung, dauernd oder auf Zeit. Ein Priestertum bestand
leichfalls schon lange und hatte wohl die Sitte der theophoren Namen
roßgezogen, die freilich auch auf dem Kontinent begegnen, dort aber
läufiger mit allgemeiner Anrufung (Regin-Qo\t , As-, Gud)2) als mit
pezifischer (Frey — für schwedische Bauern, Odin — für jütische Häupt-
inge, Thor im ganzen Norden3), immer als erster Namensteil).
Diese nordische Religion, befruchtet durch die Begegnung der drei
jötterkreise, erfährt nun noch weitere Einflüsse: früh von den niedriger
tehenden Finnen, später von den höher stehenden Kelten. Die Finnen
aben nicht bloß entlehnt, sondern auch gegeben. Die Übernahme der
innischen Göttin Skadi, die dem Wanen Njord unglücklich vermählt wird,
>t nur die äußere Verkündigung dieser Tatsache4). Daß aber die ungeheure
Ausdehnung des Zauberwesens, das bis in die Spitzen der Götterwelt ein-
reift (Odin!), das die Zwergsagen umgestaltet und Loki einen neuen
Charakter geben hilft, dieser Nachbarschaft ins Schuldbuch zu schreiben
st, wird man kaum bezweifeln können. Wird uns ja doch das Anrufen
innischer Zauberer (wie noch am Hofe Iwans des Grausamen) aus-
irücklich bezeugt; und in einem Kult wie Häkon Jarls vor Thorgerd hat
jolther schwerlich mit Unrecht eine gewisse Erniedrigung unter die
onstige nordische Art gewittert. Noch heut steht die große Frömmigkeit
ier Finnen nach dem Urteil eines Theologen »auf dem Standpunkt der
'hysis (Ekstase usw.), noch nicht auf dem der Moral»5).
Merkwürdig ist es, daß eine finnische Lieblingsvorstellung (die in der
Putschen Romantik seltsam wieder auflebt) auf die nordische Mythologie
icht gewirkt zu haben scheint: die von dem »Schmieden« lebendiger
Ifesen oder auch von Naturerscheinungen : Wäinämöinen schmiedet sich
m Pferd6), eine Ehefrau, Sonne und Mond7); Umarmen eine Frau8).
)\e mythischen Arbeiten der Zwerge für die Götter, obwohl verwandt,
laben doch ein anderes Gepräge. Eher könnte Mökkurkälfi 9) verglichen
werden.
!) Olrik S. 32.
2) Vgl. Olrik S. 35.
3) Ebd.
4) Vgl. über solche Götterehen Bethe, Hektors Abschied, Leipzig 1910,
I 426.
5) K. Graß, Die russischen Sekten, Leipzig 1909, II, 1 S. 336.
6) J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 87.
7) S. 95.
8) Ohrt, Kalewala, S. 165.
>) Skäldsk. cap. 1: Gering S. 359.
9\
502 Siebentes Kapitel.
Wie in Finnland die Schamanen, beherrschten in Irland die Druider
das religiöse Leben 1); sie hatten es schon zu Cäsars Zeit fast so stark wit
die ägyptischen Priester regiert. Dieser Einfluß zeigte sich in einer übei
das Maß des durchschnittlichen Heidentums herausgehenden Betonung des
göttlichen Willens 2). Die Stände der Gesellschaft sollten gottgewollte Kasten
sein, wie bei den Brahmanen; ein großes Aufgebot aller Götter sollte
die Zukunft der Welt entscheiden. Diese Vorstellungen, meint Olrik
mit andern, haben auf die Gestalt des Gottes Rig und die Rfgs-
thula, haben auf die Mythen von Ragnarök eingewirkt. Es ist wohl
möglich; aber schwerlich haben die Kelten diese Mythen erschaffen. Der
vom jüngsten Kampf mindestens scheint mir mit Notwendigkeit aus der
nordischen Religion herauszuwachsen.
5. Auf eine Epoche der Beruhigung, die wir nach dem Eintreten des
intranordischen Synkretismus werden voraussetzen dürfen, folgte nämlich
augenscheinlich wieder eine solche lebhafter religiöser Unruhe. Und zwar
waren es zwei urewige Probleme, »worüber schon manche Häupter ge-
grübelt, Häupter in Hieroglyphenmützen, Häupter in Turban und schwarzem
Barett, Perückenhäupter und tausend andere arme, schwitzende Menschen-
häupter. < Das eine ist das Problem der Vergeltung, das andere das der
Unsterblichkeit.
Eine stürmische Unruhe hatte die nordischen Völker und vor allem das
nunmehr führende norwegische ergriffen. 793 beginnt die Wikingerzeit,
deren Wesen uns Alexander Bugge8) ausführlich, Olrik4) in knappen Meister-
zügen gezeichnet hat. Es ist eine zweite Völkerwanderung — aber mit Wieder-
kehr in die Heimat. Von einem »diesseitigen Jenseits« träumen die Nord-
leute, wie um die Mitte des vorigen Jahrhunderts die Deutschen nach
Friedrich Kapps Wort, und »Byzantium« wird für sie, was für den glück-
lichen Sealsfield oder den unglücklichen Lenau Amerika gewesen war:
das Land der Erfüllung, das »Land der unbegrenzten Möglichkeiten«, wie
man es jetzt so hübsch genannt hat. Gar ihre Götter verpflanzt Saxo in
dies Traumland seiner Vorväter. — Welch neue Eindrücke stürmten auf
die Auswanderer ein! irisches und byzantinisches Priestertum und König-
tum (für den Namen Rig haben Heinzel-Detter auch an den byzantinischen
Königstitel erinnert), fremde Küsten, Sprachen, Anschauungen! Vor allem:
der Reiz der täglichen Lebensgefahr, des unaufhörlichen Kampfes mit dem
tückischen Element (nun entstand neben Ägir, der Verkörperung ästhe-
tischer Freude an dem heiter-stillen Meeresspiegel, Ran, die leibhafte Grau-
!) Vgl. Olrik S. 79.
-) Was sie auch für das Christentum frühreif machte; vgl. ebd.
n) AI. Bugge, Die Wikinger, leider übersetzt von H. Hungerland, Halle
1906; vgl. Neckel, Anz. f. d. Alt. 50, 220.
4) Altnord. Geistesleben S. 72 f.
§ 28. Religionsgeschichte. 503
amkeit des Seetodes1); mit den Feinden, die so wenig Pardon gaben
wie die Dänen den Iren2), auch wohl mit treulosen Führern und ver-
äterischen Gesellen (und nun erhielt Loki neues Lebensblut aus der An-
chauung).
Nun entstand eine neue Dichtung. Gewiß mit Recht hat
leusler3) bestritten, daß die gesamte eddische Dichtung das Geistesleben
ler Wikingerzeit atme. Gewiß mit vollem Recht scheidet er drei Perioden:
lie » gemeingermanisch-heroische« , die wir in mythologischer Hinsicht
ils die der älteren nordischen Religion bezeichnen würden, vor den
großen Religionskämpfen; die »norrön-wikingische< , die von dem Geist
ier jüngeren nordischen Religion erfüllt ist, und die »isländisch -nach-
vikingische«. Aber mag die Rfgsthula in die erste oder dritte Periode
allen — was vor allem der Edda und so besonders auch ihren Götter-
iedern den Charakter gibt, gehört doch in die zweite. In diese Epoche,
/on 800 — 1000, fallen Lokasenna und Härbardslied mit ihrem Kampf
dort für Thor, hier für Odin ; fallen Vafthrüdnismäl und Gnmnismäl, doch
schon ans Ende der Periode wie jene beiden an den Anfang, mit ihrer
ehrhaften Verarbeitung alten Stoffes: fällt vor allem die Völuspä mit
ihrem gnomischen Gegenstück, den Hävamäl — die beiden Großtaten alt-
nordischer Lehrdichtung4).
Älter mögen Skfrnisför und Thrymskvida sein, einfache Ereignislieder,
/on göttlichen Abenteuern rein episch berichtend ; jünger die leere Alvfss-
tnäl und die wirren Hyndluljöd, die die Aufgabe nicht mehr zu bewältigen
wissen, die Grfm. und gar Vaf. leidlich gelang. Aber das Schwergewicht
liegt doch auf jenen drei Paaren, denen wir die unbedeutendere Vegtams-
kvida angliedern können. — Was nun ist der gemeinsame Charakter von
Harb. und Lok., Vol. und Häv., Vaf. und Grfm.? Nichts von dem
?eichten epischen Fluß der Skirn. und der Thrymskv., dieser Perlen, die
allein unter den Götterliedern in Technik, Charakterzeichnung, Sachlich-
keit den Prosaerzählungen der Isländer verglichen werden können; aber
auch nichts von der rein stofflichen Materialhäufung, durch die die Alv.
und gar die Hyndl. sich von den langweiligsten Zwergkatalogen und
Riesen katalogen kaum noch unterscheiden. Sondern ein grüblerischer Geist
l) Vgl. Heusler und Ranisch Eddica minora S. LXXXVII zu den Meeres-
strophen der Frithjofssaga.
B) Vgl. Olrik S. 74.
3) Arch. f. n. Spr. 116, 281.
4) Die treffendste Charakteristik der Hävamäl finde ich an entlegener Stelle :
»cette premiere partie du Hava-Mal (man verzeihe den Singular!) est un poemc
gnomique, dans lequel, sous une forme sentencieuse, sont deposees les idees que
se faisaient les anciens Scandinaves de la superiorite iutellectuelle et morale<
Q. J. Ampere, Litterature et Voyages, Paris 1833, S. 405).
504 Siebentes Kapitel.
sucht mannigfache, sich widerstreitende Tatsachen zu ordnen. Die böser
Dinge beunruhigen ihn, die von den Göttern ausgesagt werden — abei
Thor bleibt doch der reine Held und Odin doch der überlegene Weisel
Das ganze Weltenschicksal stellt sich seinem Auge dar, oder der ganz«
Verlauf des Menschenlebens mit all seinen Schattierungen nach Besitz
Begabung *), Göttergunst. Und wenn in Vaf. und Grün, sich auch bereits
theologische Afterweisheit und philologischer Namensprunk breit macht —
noch immer steht doch im Hintergrund eine große Konzeption. »Von
den alten Geschichten und dem Ende der Götter sprach der Thurs mil
todgeweihtem Mund«2) — von denselben Dingen, von denen die alten
Götter in ihrem Prytaneion reden3). Ein Weltbild im größten Sinn
wollen die Gnmnismäl geben, in ihrer Weise so eine Ergänzung zur
Völuspä — ein Titel, den die rhapsodische Anreihung wichtiger alter
Notizen in der »kurzen Völuspä« 4) kaum verdient. Und dann: über beiden,
zur Besiegeiung des tragischen Ernstes, schwebt der Tod: er hängt über
dem Riesen, er rückt dem Gott nahe; er bedroht Gagnräd-Odin und
ereilt Geirröd.
Das ist der Geist der Wikingerzeit: angestrengter Kampf auch mit
den großen Rätseln, denn auch dies Dunkel lockt und zieht; stürmische
»Wut« der Odinsdiener auch in der Hingabe an die furchtbaren Ge-
heimnisse; und schließlich Sieg und Triumph, womit all diese Lieder
schließen. Daß aber wirklich dieser Geist nicht nur vereinzelten Dichtungen
angehört, sondern der Geist der ganzen Epoche ist, hat Finnur Jönsson 5)
aus der Skaldendichtung des 9. Jahrhunderts bewiesen. In ihr herrschen die
gleichen mythischen Vorstellungen wie in der Edda6). Und übrigens
sind diese Dichter, nach Heuslers glücklichem Ausdruck7), Bauernsöhne
und »Volk« wie ihre Hörer8)! Natürlich aber richtet sich das Interesse
der Hof- und Kriegsdichter nicht in erster Linie auf mythologische Probleme;
insofern bilden die Eddalieder eine Klasse für sich, und unter ihnen
wieder die angeführten Gedichte eine eigene Gruppe.
Auch in ihrer Technik gehören sie zusammen. Keins gibt einfach
einen alten Mythus wieder, wie Skfrn. (mag das Gedicht auch aus zweien
zusammengeschweißt sein) und Hamarsheimt; keins gibt in ungeschickter
Einkleidung nur Denkverse, wie Alv. und Hyndl. Sondern alle ver-
arbeiten altes Material, ganze alte Sammlungen (wie die Häv.) oder
x) Häv. Str. 53. 2) Vaf. Str. 58.
3) Vol. Str. 60. 4) Hyndl. Str. 30—45.
5) Ark. f. nord. Fil. 9, N. F. 5, S. li; vgl. auch 6, N. F. 2, S. 141 f.
6) Odin a. a. O. S. 4, Thor S. 6, Balder, Frey, Tyr, Uli S. 7, Loki S. 9,
Riesen ebd., Göttinnen S. 7.
7) Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1902 S. 238.
8) Vgl. auch F. Jönsson, Ark. f. nord. Fil. 13, 223.
§ 28. Religionsgeschichte. 505
inzelne Sprüche (wie die Vol.), einzelne Legenden (wie Lok. und Härb.)
der endlich beides (wie Vaf. und Grim.). Alle aber durchdringen diesen
!I>toff mit einheitlichem Geiste — am mächtigsten die Häv. und vor allem
eiie Völ.
d Für mich gehört auch die Rigsthula in diesen Zusammenhang, die
sjiur in der einfachen, stramm sich steigernden Erzählung dicht an die
fern, (mit der sie die Berührung von Göttern und Menschen teilt) und
iie Thrymskv. (mit der sie den fröhlichen Maskenton gemein hat) zu
xicken scheint, von denen sie sich freilich durch die stärkere Einwirkung
ies Spielmannsepos (Freude an kulturhistorischem Detail, am Formel-
wesen) sondert. Die Denkverse, nach denen dann die »Namensliste Rfgs<
genannt wurde, halte ich für Erweiterungen aus dem Katalogalter, der
üexandrinischen Zeit des isländischen Schrifttums. — Doch es bleiben
Zweifel. Aber auch hier hätten wir Verarbeitungen alten Materials (wie
ch wenigstens glaube) in einheitlichem Geist; freilich statt des pathetischen
Ernstes von Vol., Vaf., Grim. und statt der dionysischen Tollheit von
Lok. und Härb. J) die feierliche Ironie der Amphitryonfabel ; » Un partage
ivec Jupiter na rien du tout qui deshonore«. Aber auch hier handelt
is sich um ein tiefernstes ewiges Problem, das alle nicht völlig naiven
Zeiten beschäftigt hat: die Ungleichheit der Stände, die verschiedene Ver-
teilung der Glücksgüter — gewiß ein Thema für einen grübelnden Wiking!
Und noch ein Gedicht möchte ich hier anreihen, obwohl es schon
zur Heldensage gerechnet wird: die Völundarkvida ; doch auch der
Sammler der Liederedda war hierüber unsicher, wie der Platz zeigt, den
er dem wunderbaren Lied gab. Auch hier haben wir die Verschmelzung
mehrerer Fabeln (Schwanenjungfrauen — Völunds Gefangenschaft und
Rache) in Einem Geiste; auch hier bewegten Ernst, Grausamkeit (wie am
Schluß der Thrymskv. und in Skfrnis Drohungen, bei denen ich immer an
Iie denken muß, die in Grillparzers »Treuem Diener« Otto von Meran vor
Iirny ausstößt) neben Weichheit, wie in Freys Liebeswerben oder den Versen,
die in der Völ. Balders Ende ankündigen. Und auch hier ein großes
Problem: das der Vergeltung! Denn es handelt sich nicht um eine von
Sippe und Sitte befohlene Rache, wie bei Wali oder Gudrun-Chriemhild,
sondern um ganz eigentliche Strafe des Unrechts. Das Königspaar erhält
für den Raub des Ringes die in Silber gefaßten Schädel der Kinder —
eine thyestische Rache, grausam, fürchterlich überlegt; und weil König
und Königin den Wieland zum Sklaven machten, wird ihrer Tochter die
Ehre geraubt.
Damit kommen wir, nach weitem aber unvermeidlichem Umweg
durch Geschichte und Dichtung, zur Mythologie der Wikingerzeit zurück.
*) Die Vigfusson einem »Aristophanes der westlichen Inseln< zuschrieb.
I
i
506 Siebentes Kapitel.
Dies sind die Probleme, die ihre große Dichtung erzeugen und erfüllen
das Problem der Gerechtigkeit1) und das der Unsterblich
keit 2). Oder vielmehr ist es Ein Problem : eben das der Vergeltung. Wu|c
ist es zu erklären, das Odin so oft den schlechteren Mann siegen läßt :
aber vielleicht gibt es jenseits eine Entschädigung. Wie können überhaup
die Götter so viel Übles tun und zulassen? Aber vielleicht gibt es auch
für sie einst eine Strafe.
So lenkt alles hin — auf den Unsterblichkeitsglauben. Ei
gibt dieser Periode seine Signatur; nicht, glaube ich, wie Olrik meinte
als allgemeine Vorstellung der Wiedergeburt, sondern als Lehre von dei
Fortdauer der Auserlesenen.
Bei den Angelsachsen führte die gleiche Erregung, die gleiche Sehnsucht nach
Fortdauer unmittelbar ins Christentum. König Erwin hat eine Versammlung ein-
berufen, die, wie jenes berühmte Thing auf Island, über die Bekehrung des Volkes
entscheiden soll. Der heidnische Oberpriester erklärt sich eifrig für Christus.
»Einer der Eldermen aber gab seine Meinung in folgender Form ab: ,Wenn Du,
o König, mit Deinen Grafen und Thanen zur Winterszeit um das Herdfeuer in
behaglich erwärmter Halle beim Mahle sitzest, draußen die Stürme heulen,
Schnee und Regen peitschen, da kommt es wohl vor, daß ein Sperling schnell
die Halle durchfliegt: durch die eine Tür kommt er herein, zur andern geht er
heraus. Für den kurzen Augenblick, da er im Saale ist, berührt ihn das Unwetter
nicht, aber bald, wenn er Deinen Augen entschwindet, kehrt er wieder in den
dunklen Winter zurück. So scheint es mir mit dem Leben der Menschen zu
stehen: wir wissen nicht, was ihm voraufgegangen ist, was ihm folgt. Wenn
uns die neue Lehre darüber etwas sicheres bringt, so ist sie es wert, daß wir
ihr folgen'«3). — Die Spartaner hoffen unmittelbar vom Schlachtfeld in die Un-
sterblichkeit zu gehen, wie die Mohammedaner auch4).
Ich wies schon auf analoge Erscheinungen im hellenischen Religions-
leben hin. Neben Rohdes historischer Erklärung möchte ich die psycho-
logische von Gomperz5) stellen — dem ich darin freilich keineswegs zu-
stimmen kann, daß »in einem Zeitalter oder in einer Lebensphäre, welche
von unbändigen Leidenschaften erfüllt und von unablässigen Kämpfen
durchtobt ist,« für Jenseitsträume kein Raum vorhanden sei. Wer hat
sich für die Unsterblichkeitsfrage lebhafter interessiert, als die Vollmenschen
der Renaissance, die gewaltsam ihr Leben über den Tod hinaus zu ver-
längern trachteten? Aber den Gegensatz zwischen jenen naiveren Perioden,
in denen Achilles lieber als dürftiger Tagelöhner sein Leben fristen denn
als König über die Schatten herrschen möchte6), und denen einer trüben
*) Lok., Härb., Vkv., Rig.
2) Vol., Häv., Vaf., Grim., Veg.
:}) Fr. Schnürer, Bonifacius, Mainz 1909, S. 16.
4) Edv. Lehmann, Gude og helhe, S. 11.
r>) Griechische Denker, Leipzig 1896; 1, 66 f.
6) Vgl. Häv. Str. 71.
§ 28. Religionsgeschichte. 507
Reflexion hat er glänzend charakterisiert. Solche Hesiodeischen Zeiten
lurchleben die Vikinge: »Der Zustand der Seelen nach dem Tode er-
scheint vielfach als der der Verklärung. Verstorbene werden vielfach zu
)ämonen erhöht, die über dem Schicksal der Lebenden wachen. Das
elysische Gefilde«, die »Inseln der Seligen« beginnen sich mit Bewohnern
u füllen. Allein durchweg fehlt hier jede dogmatische Bestimmtheit;
lieser ganze Vorstellungskreis bleibt lange unklar, schwankend und ver-
ichwommen. Und wenn schon bei Homer ein erster Ansatz der Ver-
^eltungslehre zu erkennen ist . . ., so vergehen doch viele Jahrhunderte,
her dieser Keim zur vollen Entfaltung gelangt ist ... Und was die
lauptsache ist, in wie mannigfachen Farben auch das Licht des Jenseits-
nldes gebrochen erscheint, die Staatsreligion, die als der Ausdruck des
Bewußtseins der herrschenden Klassen gelten kann, nimmt von dem Un-
terblichkeitsglauben nur geringe Kenntnis; dem Diesseits gilt nach wie
or die überwiegende Sorge des antiken Menschen, mindestens insoweit
vir sein Sinnen und Trachten von den öffentlich anerkannten Kulten ab-
lehmen können.«
Das ist genau auch die Signatur der Wikingerzeit — mit der Ein-
chränkung jedoch, daß Ein dem Unsterblichkeitsglauben gehörender
Cultus im Norden zur öffentlichen Anerkennung gelangt ist.
Die zunehmende Sorge um das Leben nach dem Tode läßt sich
ichon äußerlich an einem wichtigen Merkmal ablesen. Zur Zeit des
Tacitus gibt es noch keinen Leichenprunk x) ; doch werden die clari viri,
iie Helden und Herrscher, schon mit bestimmten Feierlichkeiten beigesetzt,
allmählich wird das Grab reicher und reicher. Die alten Germanen ver-
teilten die schwere Ehrung durch Grabdenkmäler als eine Belastung für
Jen Toten — was frühester Anschauung entsprechen könnte 2). Aber Dichter
imd Hörer der Hävamäl kennen keine größere Sehnsucht als die nach
^em Bautarstein8), und ihre Zeitgenossen waren unermüdlich darin, toten
Freunden Runen zu ritzen.
Dies ist die Stimmung, aus der sich in der zweiten Periode der alt-
nordischen Religion vier Mythenkreise, alle auf alter Grundlage, allein
neuem einheitlichem Geist wie die Völuspä, neu entwickeln, die aber
untrennbar zusammenhängen: die neuen Mythen von Loki, von Odin,
von Balder, vom Ragnarok. Ich nenne sie in der Folge ihrer vermutlichen
Wirkung auf das Volk, die auch wohl die ihrer inneren Chronologie
sein mag.
Der Teufel ist der notwendige Träger jeder Theodicee. Das Buch
Hiob kann so wenig ohne Satan auskommen wie die Gäthas des Avesta
*) Germ. cap. 27.
*2) Vgl. Helg. Hund. 2, 44.
8) Häv. Str. 72, vgl. 76-77.
508 Siebentes Kapitel.
ohne Daewas und Druggenossen ; Christus muß von Lucifer versuc
werden wie Buddha von Mara. Das Bedürfnis, die Herrscher zu enl
lasten, die man lieben will, führt überall zu dem Glauben an Mächtl
die ihrem guten Willen hindernd in den Weg treten. — Nun war läng
ein Dämon von besonderer Art da, seiner Natur nach, als Geist d<l
Feuers, beweglich: bald nützlich bald höchst schädlich, bald Thors Dien«
(wenn es brennt, wo er einschlug), bald sein Feind (wenn es die Scheurl
verzehrt, die er füllen half). Dieser Lieblingsgestalt des Volkes verlie
nun, wie wir vermuteten, üble Erfahrung an untreuen Fahrtgenossen un
schlauen Feinden neue Anschaulichkeit. Loki, einst Odins Blutsfreunc
fiel so tief wie Lucifer. Er ward der Teufel < , die Verkörperung de
Bösen in der Welt; wo den Göttern etwas mißlingt, steckt er dahinten
er ist der Vater aller Hindernisse. Doch bleibt er ein Gott, den ei
Dichter an die Tafel der Äsen bringen kann; und nichts ist in ihm voJ
der Feigheit des christlichen Teufels: übermütig fordert er die Göttel
heraus und ruft so (wie wir glaubten annehmen zu sollen) den letztel
Kampf hervor — wobei auf die heroische Schelte vor der Schlacht (dil
Lokasenna) natürlich wieder die Heldendichtung1) eingewirkt hat.
Loki wird nun der Mittelpunkt, um den eine ganze Welt der Gegen
götter krystallisiert, wie die der Äsen um Odin. Böse Geister waren j;
längst in Fülle da, von den ältesten Formationen der Mythologie hei
Da war aus der naivsten Naturerklärung der Wolf, der die Sonne ver
schlingen will, und der riesige Drache, der rings um die Lande gelager
ist und sie oft gleichfalls herunterschlingen will: das Weltmeer, dem wi<
die alten Germanen der Sage noch die Dithmarschen die Zähne boten
»Nu Trutz di, blanker Hans!« Da war aus der Zeit des Ahnenkults eir
anderer schlimmer Drache, der die Leichen frißt (Nidhögg); etwa die frühe
Verwesung. Der Dämon ismus brachte den Häuptling der Frostriesen.
Hrym, und den Dämon des unterirdischen Schadenfeuers, Surt. Dazu kam
die verkörperlichte Hei, die Unterwelt, die die Menschen verschlingt
Andere böse Dämonen blieben außen : Hrungnir, wer er auch sei, scheint
den Anschluß an dies wilde Heer versäumt zu haben; Hod war ein Ase
geworden, weil die Gestalt Balders ihre Umgebung heiligte, und vor allem
weil jetzt alle Schuld auf Loki fiel. Überhaupt kam eine straffe Organisation
auch hier nicht zustande; über den Kriegsgott der Bösen liefen wohl ver
schiedene Anschauungen um, so daß der Dichter der Völ. sich durch
Teilung der Heerhaufen half. Aber wie nicht der Götterkönig Odin,
sondern Thor den täglichen Kampf gegen Hexen und Riesen führt, so ist
der eigentlich aktive Geist, die Seele der höllischen Partei Loki, gewandt
und schlau, kühn und vorsichtig — ein richtiger Piratenhäuptling!
l) Helg. Hund. 2, 25; Waltharius.
§ 28. Religionsgeschichte. 509
Diese Organisation ist immerhin straff genug, um die Götter zu Gegen-
naßregeln zu zwingen. Während bisher die Parteien (soweit nicht Thor
\fl Frage kommt, der nicht lange fackelt)1), leidlich schiedlich, friedlich
nebeneinander hergegangen waren oder sich nur auf dem neutralen Boden
len Menschheit bekämpft hatten (wie die europäischen Großmächte im
)reißigjährigen Kriege auf dem Leibe Deutschlands!), wird jetzt auch
isgard in Kriegsbereitschaft versetzt — natürlich alles nach heroischem
Vorbild. Ein Wächter wird angestellt, Heimdall; eine Burg gebaut, eine
Irücke befestigt. Aber man sieht nicht, daß das zu etwas führt; als
leimdall bläst, ist das Schlimmste nicht mehr zu verhüten.
Diese ganze Zweispaltung der Geisterwelt wurde wesentlich erleichtert
urch den ungemessenen Zauberglauben der Nordleute. Die Hexen
irbeiteten Loki vor. Wenn Starkad ein Neidingswerk tun muß, ist es
reilich der Fluch der Götter; aber wenn Hedin eine unselige Tat verübt2),
0 genügt eine Hexe zur Erklärung. Die Helgilieder sind von Hexenspuk
ind Zauber fast so voll wie der Kalewala; fast so voll — wie weite
^trecken der Häv.3). In Ausdrücken wie »Hexenschuß«4) führen noch
irir diesen altgermanischen Aberglauben fort; in anderen Fällen kennen
vir die unsichtbaren Wesen, die ihre Speere schleudernden Bazillen.
Durch diese mächtige Stütze, den Aberglauben im Volk, gewann nun
er Dualismus augenscheinlich rasch an Macht. Loki ward immer mehr
er mythologische Intrigant, der böse Sibeche der Heldensage; und
Hundert Volkserzählungen schilderten den Bösen und halfen so den Glauben
n die sittliche Weltordnung stützen.
Aber mit dem Gegner wuchs sein Antipode. Wodan hatte langsam
lie Führung der Götterwelt erobert. Schon in vorgermanischer Zeit hatte
r Tyr vom Thron gestoßen, wie Zeus den Kronos; dann hatte er unter
&n Dreien die Führung erhalten, hatte in Deutschland Tyr, in Norwegen
ihor, in Schweden Frey erfolgreich bekämpft. Er mußte wohl ein starker
jott sein. Er mußte auch so recht ein Gott nach dem Herzen dieses
Leitalters sein: er verstand, zu leiten, Helden zu erziehen, Wunden zu
leilen, Speere zu schleudern. Mehr dürfen wir von ihm einstweilen nicht
aussagen; aber was brauchen Abenteurer mehr?
Zwischen dem Fürsten und dem Fürstengott hatte sich (wie später
vohl mit Heimdall - Rig) ein engeres Verhältnis gebildet. Wir glaubten
mnehmen zu sollen, daß königliche Helden zu ihm in den Himmel ver-
setzt werden, wie ähnliche Apotheosen uns ja auch sonst bezeugt sind5);
lenn den Zwischenzustand der eigentlichen Halbgötter kennt die ger-
!) Völ. Str. 26.
2) Helg. Hjörv. Str. 35. 3) Str. 142 f.
4) Vgl. den angelsächsischen Zauberspruch; siehe o. S. 495.
r) Golther S. 93; vgl. o. S. 91.
510 Siebentes Kapitel.
manische Mythologie nicht. So entstand ein erstes Gefolge von Heldet
seelen um den Kampf- und Fürstengott — erste Beispiele der Unsterblich
keit, wie sie im Alten Testament aus besonderer Göttergunst dem Enoc
oder Elisa zuteil wird oder bei den Hellenen den Begnadeten i
Elysion *).
Nun erwuchs die Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Vieles führte daz
diese Vorstellung zu bejahen. Das Gerechtigkeitsbedürfnis: Odin hat d
Besseren auf dem Schlachtfeld fallen lassen? er wollte ihn zu sich hole
(Mehrfach bezeugt; wie christliche Gläubige nach einem Todesfall, b
sonders auch von Kindern, mit der gleichen Wendung zu trösten suchen
Der Stolz: tapfere Krieger können nicht verschwinden wie ruhmlo
Knechte. Die heroische Analogie: der Gefolgsherr muß bei seinem Vasalle
stehen; die Verbindung ist unlösbar. Der Zauberglaube: es muß ei
Mittel geben, auch diesen letzten Wunsch zu erfüllen. Endlich die erre
Phantasie abenteuernder Zeiten : nicht Seelen bloß, nein leibhaft gestorben
Helden waren wiedergekehrt2).
Wie bei den Hellenen Dionysos, ward so bei den Nordmännern Odii
der Gott, der allein Unsterblichkeit spenden konnte. Hierii
beruht seine neue ungeheure Macht. Wer ihm gehört, den nimmt er zi
sich wie die gotischen Könige. (Die Gäste zu holen, wird nun die be
sondere Funktion der Idisi: sie werden »Walküren«. Sein Haus wird di
Halle dieser Toten: »Walhall«.) Aber ein Zeichen muß dasein, daß mal
ihm gehört. Nur wer das Speereszeichen hat, den erkennt er an. S<
lassen sich noch Kranke mit dem Speer weihen; eigentlich aber ist da
Betrug: wer auf dem Schlachtfelde fällt (wobei zwischen Schwert un(
Speer wohl nicht ängstlich geschieden wurde), der reitet hinauf zu Odin
So entsteht der Mythus von den Einheriern. Auf die Unsterblichkei
ist ihr ganzes Wesen gestellt — und auf den Kampf. Der Gedanke de
kriegerischen Gefolgschaft, an sich urgermanisch, hat ein Gepräge erhaltenj
das den Ursprung in heroischen Zeiten verrät: die Aufnahme der Gefolgs-j
leute in den Haushalt des Fürsten, der ausgedehnte, mehrere Paläste umi
fassende Wohnsitz des Herrn, die Anwerbung neuer Mannschaften (durd
die Walküren)3), die Betonung sogar der guten Kost, die den comitei
gereicht wird. Als Thormod Kolbrünarskäld den Pfeil aus der Wunde
riß, betrachtete er die daran haftenden Herzfasern und sprach: »Sie sine
fett; Olaf war ein guter König, der die Seinen nährte4)!« Wikinger sind
es, denen der Himmel voll Schinken hängt; irischen Einfluß mag maii
x) Preller 1, 826 f; Berthollet, D. israel. Vorstellungen vom Leben nach
dem Tode, Freiburg 1899, S. 30.
2) Helg. Hund. II.
3) Helg. Hjörv. Str. 6f.
4) Wein hold, Altnord. Leben, S. 389.
§ 28. Religionsgeschichte. 5 \ \
lier x) annehmen — aber christlichen ? Mir scheint zwischen dieser naiven
Fortsetzung des Erdenlebens und der Verklärung der Seligen doch ein
licht unerheblicher Unterschied obzuwalten. Ja wenn man noch vom
iimmel Mohammeds spräche! aber dazu fehlt wieder in Walhall zu völlig
las erotische Element, das auch durch die bedienenden Wunschmädchen
u'cht ausreichend vertreten wird2).
Die Ausmalungen von Himmel und Hölle aber steigern sich un-
zweifelhaft gegenseitig in der nordischen Mythologie wie überall. Das
Bedürfnis des Kontrastes 3) führt bei Hei wie beim Heervater zu beständigen
Neuanschaffungen in den Konkurrenzwirtschaften: in der Ausstattung der
Ȋle, in der Kleidung der Bedienung, in der Wahl der vorgesetzten
Speisen.
Das aber wird trotz dieser Gegenüberstellung nirgends ausgesprochen,
laß auch denen, die in die Unterwelt eingehen, ewiges Leben, wenn auch
n Pein, beschieden sei. Im Gegenteil scheint selbst der uralten Höllen-
trafe für die Meineidigen das Zerreißen der Leichen durch das chthonische
Jngeheuer4) ein Ende zu machen.
Und so finden wir auch sonst eine allgemeine Fortdauer oder
Wiedergeburt, so viel ich sehe, nirgends bezeugt5). Wir haben keine
Spur vom Fortleben der Frauen, eine unsichere von dem der Mädchen,
«;ine mehr als zweifelhafte6) von dem der Knechte. Weshalb fürchten die
\lten und Kranken den Strohtod? nur, weil sie Saehrimnirs verlustig zu
>ehen besorgen ? Nein ; weil sie ohne das Speereszeichen überhaupt ver-
löschen, nach kurzem Umflattern der Seele in den Berg, in das Wilde
4eer, in das gehaltlose Nichts eingehen. Und eben dies macht Odins
mn einzige Bedeutung aus: daß er der einzige Gott ist, der Unsterb-
ichkeit zu verleihen vermag.
Scheinbar macht ihm zwar Freyja diese Einzigkeit streitig. — Aber
rir vermochten den beiden Zeugnissen, dem der Grim. 7) und dem Ausruf
kr Skäldentochter7), kein großes Gewicht beizumessen. Fiele wirklich
ler Göttin die halbe Lese des Schlachtfeldes zu — welch ein Kampf
taüßte um den Einzug nach Walhall vor sich gehen! wie wären die be-
Togen, die zu Odin wollen und nur nach Folkwang kommen! Wie un-
*) Mit E. H. Meyer siehe o. S. 463.
i a) Vgl. allgemein (gegen AI. Bugge und Olrik) Meißner. D. Lit.-Z-
11909, S. 2915.
3) Man denke nur an das althochdeutsche Gedicht »Himmel und Hölle«,
MSD. N. XXX.
4) Vol. Str. 39.
5) Gegen Olrik, vgl. o. S. 84.
«) Härb. Str. 24. 7) Str. 14.
8) Golther S. 440.
512 Siebentes Kapitel.
denkbar ist das alles ! und wie einfach ist die falsche Nachricht zu erklären
(Vielleicht stammt sie auch von einem besonders eifrigen Verehrer del
Freyja, der ihr vor Frigg ein großes Privileg sichern wollte.) — An sicll
viel dankbarer ist es, daß alle toten Frauen oder — was mir dann wahr
scheinlicher wäre — alle Jungfrauen zu Freyja kämen. Aber auch dies*
Funktion käme viel eher der Frigg zu; und weitere Zeugnisse fehlen
Die Tochter Thorgerd bildet vielleicht nur zu Egils hartnäckiger Drohunj
eine Gegendrohung mit eigensinniger Anpassung an den Wortlaut de
väterlichen Erklärung.
Jedenfalls: die Unsterblichkeit, die die lebenshungrigen Wikinger be
gehren, kann einzig Odin gewähren. Und man denke, welche Bedeutung i
ihm das geben mußte! Ähnliche Privilegien haben die Macht der orphischei
Mysterien geschaffen , haben Mithras eine Zeitlang zum ebenmächtiger i
Nebenbuhler Christi gemacht — der selbst, nach Harnacks eindringenden
Nachweis, als »Arzt«, als heilender Gott einen guten Teil seiner Mach
über die Seelen gewonnen hatte1).
Und so ist denn ein esoterischer Kult oder mindestens eine Weihe
die schon dem Lebenden ein gewisses Anrecht, eine gewisse Aussicht aul
die Fortdauer des Lebens sicherte, durchaus wahrscheinlich. Manche*
deutet auf solche Odinsmysterien. Nur ihm werden schon die Kindei
als Diener fürs Leben geweiht, wie katholische Eltern ein Kind dem Klostei
verloben2). Ein unmittelbares, wenn auch verkleidetes Zeugnis einei
solchen mystischen Weihe, allerdings schon des Jünglings oder Mannes
an Odin glaubten wir in der Erzählung von seiner Runenf indung 3) zu
finden - in ihrer Form; über den Inhalt wird noch einiges hier zu
bemerken sein. Endlich sind aber noch einige Stellen vorhanden, die
aus diesem Zusammenhang ein neues Licht gewinnen könnten. Kein Got1
erscheint so oft in Verkleidung, und dennoch kenntlich, wie Odin. Einej
ganze Reihe von Legenden läßt ihn noch mit dem großen Bekehrer Olaf)
als alten einäugigen Mann mit herabhängendem Hut, als blödsichtigenj
behaarten Mann mit über das Antlitz herabhängendem Hut4) zusammen
treffen. Oder er kommt einäugig mit breitem Hut und blauem Mantel
und schwingt den Speer gegen Sigmund5); oder als Mann im blauen
Mantel gibt er dem Hord guten Rat6) usw. Wir sahen wohl, daß dies
mit seinem Wandern, seinem Prüfen der Könige, seinem Fällen der eigenen
Lieblinge zusammenhängt. Kann aber diese Häufigkeit der Erscheinungen
*) Als ein »Wetterleuchten der Auferstehungshoffnung« bezeichnet die «aus
Seelennot geborene Theodicee des Hiob Berthol let, D. israel. Vorstellungen
vom Zustand nach dem Tode, Freiburg 1899, S. 27.
2) Golther S. 326. 8) Häv. Str. 138f.
4) Golther S. 342.
5) Ebd. S. 330. 6) Ebd. S. 335.
§ 28. Religionsgeschichte. 51 3
)dins nicht durch wirkliche Visionen gefördert worden sein, wie sie zum
testand jedes Mysteriendienstes gehören? Klingt nicht insbesondere die
{ahmenfabel der Grimnismäl ganz so, als sei dem Geirröd, der früh der
/erehrung Odins gehörte, der Gott, gegen den er frevelt, in Flammen
rschienen, mit der ganzen Pracht einer selbstrühmenden Liturgie (wie sie
n Veda nicht selten sind) sich offenbarend? — Weiter: auf eine Ver-
bindung des Odin-Rituals mit Zauber deutet jene eigentümliche Sage von
[ler Opferung Wikars durch den in einen Speer verwandelten Rohrstab.
:s klingt wie eine feierliche Selbstverwünschung: sollte ich untreu werden,
0 soll dieser Stab zum Speer werden und mich durchbohren — Formeln,
le sie bei Geheimen Gesellschaften geradezu typisch sind. Die »Ver-
einigten Irländer» schwören, daß sie sich eher die rechte Hand abhauen
ind vor die Kerkertür legen lassen wollen , als einen Bruder verraten *).
'on solcher Formel zu ihrer (wirklichen oder legendarischen) Erfüllung
\>t nur ein Schritt; auf solche »Erfüllung der Formel« als Mythenquelle
/iesen wir2) schon gerade bei Geirröds Tod hin. Oder die Strafe wird
eradezu, wie bei Wikar, symbolisch vorgenommen : die Carbonari binden
fei der Aufnahme neuer Mitglieder zwei alte mit Seidenstricken an ein
ilreuz3). Sind solche Zeremonien einem religiösen Geheimbund kriege-
ischer Abenteurer nicht zuzutrauen? — Endlich das letzte und stärkste
irgument für einen Geheimdienst Odins: die Häufigkeit der Menschen-
pfer. Gewiß begegnen sie auch bei anderen Göttern ; aber nur bei ihm
,:heinen sie ein ständiges Element der Opferfeier gebildet zu haben,
►erartige blutige Feiern sind aber gerade für Mysterien kulte so charakte-
stisch, daß man sie selbst da annahm, wo sie am sichersten fehlten:
ei der heimlichen Abendmahlsfeier der Urchristen 4) !
Immerhin — ob die Verehrer Odins mystisch initiiert werden oder
^cht, ein engeres Verhältnis mußte sich bilden, ja ein gläubiger Enthusias-
mus für den Spender des höchsten Gutes5). Für dies nicht mehr bloß
*) Heckerthorn-Katscher, Geheime Gesellschaften, S. 352.
2) Siehe o. S. 21.
3) Ebd. S. 297. Ich lasse mich durch diese Seidenstricke übrigens nicht
erführen, irgendwelche Beziehung mit der rein märchenhaften Fessel des Wolfs
erzustellen , die »glatt und weich wie ein seidenes Band« war (Gylf. cap. 34) ;
och zu ihrer Doublette, der Fessel aus Narfis Därmen, die zu Eisen wurden
jap. 50: S. 347). Eher könnte man an einen Zusammenhang mit Hods Mistel-
veig denken; doch auch nicht an einen unmittelbaren.
*) Ebenso hat der Phantast G. Fr. Däumer in seinem »Feuer- und Moloch-
enst der alten Hebräer« (Braunschweig 1842, S. 209) in der Bundeslade gar die
sehe der dem Moloch geopferten Kinder gesucht!
5) Unter seinen zahllosen Namen in den Grim. könnten auch hierhergehörige
.ysteriennamen sich befinden, wie Dionysos den Mysteriennamen Zagreus führt;
I Prell er 1, 705.
Meyer, Altgermanische Reiigionsgeschichte. 33
514 Siebentes Kapitel.
erschlossene Phänomen der Hingebung an Odin *) spricht auch gerac
der oft beobachtete Abstand zwischen seiner Geltung in den Liedern un
im Volksglauben 2). Und an diese höchste Kunst Odins, den Seinen d«
ewige Leben zu gewähren, mußten auch besondere Mythen anknüpfe
Wie kam der Gott in den Besitz dieser köstlichen Gabe? Darauf an
wortet der orphische Hymnus von seiner Selbstopferung3); möglich, da
auch in das junge Gebilde der Mythen vom »Unsterblichkeitstrank« (d
nur ein Dichtertrank ist) Elemente solcher ätiologischer Mythen übe
gegangen sind.
Der Odinskult, zumal in dieser spezifischen Zuspitzung (für die, denl<
ich, mehr Argumente beigebracht sind und bessere als für die meiste
nicht unzweideutig bezeugten Tatsachen der altgermanischen Mythologie
konnte nicht im weitesten Sinne des Wortes volkstümlich werden, wie di
Vorstellung von dem Teufel Loki. Der Menge blieb Odin der gestreng
Fürstengott, mit dem nur die Vornehmen zu schaffen hatten ; nur als Go
der Weisheit, der Heilkunst, der Runenanwendung überhaupt ging t
weitere Kreise an — und hatte in all diesen Punkten den gefährliche
Mitbewerb der Zauberer auszuhalten, denen sich sogar sein eigenes Bil
ein wenig anpaßte. — Eine noch stärkere Verengung des Kreises werde
wir bei dem dritten und merkwürdigsten der hierher gehörigen Myther
kreise anzunehmen haben.
Aus dem Unsterblichkeitsbedürfnis und aus der neuerwachten Sehr
sucht nach Vergeltung und Gerechtigkeit in zweiter Linie gewann auc
der altgermanische Mythus von Bai der seine neue, spezifisch nordisch
Gestaltung.
Balder, der Gott des lichten Tagesglanzes (Baeldaeg), der Gott de
Helligkeit, ist von allem Anfang an an die periodische Wiederkehr vo
Tod und Leben gebunden. Das tägliche Schwinden der Helligkeit, di!
tägliche Erneuerung des Glanzes konnten mythisch gar nicht anders ausj
gedrückt werden als wie so viele Völker diese Erscheinungen ausgedrüdj
haben: der strahlende Held wird getötet und neu zum Leben erweckt.
Als nun aber die neue Göttervorstellung sich festsetzte, mußte di
Vorstellung des sterbenden Gottes Bedenken erregen. Vielfach wird ein
mildernde Form eingetreten sein, von der Kuhn und Losch ausreichend
Proben erbracht haben. Der Gott stirbt nicht, sondern sein Roß wir
verwundet, so daß er seinen Ritt nicht fortsetzen kann; aber dann wir
es geheilt und der Glanz zieht von neuem über das Himmelsgewölbt
So auch altdeutsch im Merseburger Spruch.
») Vgl. o. S. 244 f.
2) Vgl. für die Entfernung zwischen Jahvismus und Volksreligion Wildeboei
Jahvedienst u. Volksreligion in Israel, Tübingen 1899, S. 33 f.
3) Häv. Str. 138 f.
§ 28. Religionsgeschichte. 515
Daneben muß die ältere Lehre fortbestanden haben. Daß auch die
altdeutsche Fassung im Norden vorkam, dafür sprechen Doubletten wie
idie Untauglichmachung und Heilung von Thors Bock durch Thjälfi J).
Aber der Mythus: daß Balder durch den dunklen, »blinden« Hod selbst
erschossen wurde, dauerte daneben fort; ohne große Bedeutung vermutlich,
etwa wie die verdunkelten Mythen von der Gefangenschaft Thors bei den
Riesen, oder von Odins Verbannung.
Nun aber mit einemmale gewann der Mythus eine ganz neue Be-
deutung! So war zu einer bestimmten Zeit in Ägypten aus mancherlei
;alten Mythen die neue von Osiris entstanden, den der böse Set tötet und
zerstückelt, den aber auf die Klagen der Isis die Götter wieder beleben,
wenn er auch sein erstes Leben nicht mehr fortsetzen kann 2). So war
hi den wüsten und aufgeregten Zeitverhältnissen der Sullanischen Epoche3)
;dieser Kult in Rom erst heimlich, dann offiziell aufgenommen worden:
das Wehklagen der Isis, die Auffindung und Neubelebung der Leiche4).
;Der Mythus, der ursprünglich nur einem periodischen Naturereignis galt,
iward symbolisch umgedeutet: in der Wiederbelebung des toten Gottes
besaß man die Bürgschaft für die Möglichkeit des Wiederauflebens. (Man
tbeachte wohl: für die Möglichkeit; von einer Selbstverständlichkeit des
t Fortlebens oder der Wiedergeburt ist durchaus keine Rede, und Osiris
selbst wird nur durch das größte der Wunder ins Leben zurückgerufen.)
i Welch ungeheuren Eindruck mußte dies Zeugnis auf die machen, die die
I Unsterblichkeit suchten! Im Mittelpunkt der Predigt des Paulus steht die
Auferstehung seines Herrn: »Ist aber Christus nicht auferstanden, so ist
unsere Predigt vergeblich, so ist auch euer Glaube vergeblich«5). Dies
iist die Bedeutung Balders für die Germanen der Wikingerzeit.
Ist aber die Sage einmal in diesen religionsgeschichtlichen Zusammen-
hang gestellt, so verliert der Versuch, die Balderlegende einfach aus dem
-Christentum abzuleiten, vollends jede Aussicht. Daß die Berichte von
Christus mitgewirkt haben, braucht man nicht auszuschließen; sie können
aber nur eine Frucht zu schnellerer Reife gebracht haben, die unmittelbar
vor der Vollendung stand. Wie die Römer den Tempelbau oder die
»Kelten den Ragnarokmythus , so mögen die Christen das neue Erwachen
Haiders beschleunigt haben: mehr nicht. Denn man bedenke doch auch
hier die Unterschiede, den vor allem, daß die Himmelfahrt Christi für
die Gläubigen eine historische Tatsache ist, die Wiederkunft Balders lediglich
leine bestimmte Erwartung! Daß Balder gerettet werden soll, für Christus
J) Gylf. cap. 44: Gering S. 334; vielleicht war dieser »Diener Thors« (vgl.
auch Härb. Str. 39) ursprünglich Loki selbst.
2) Erman, Ägypt. Rel., S. 34. 36.
3) Wissowa S. 292.
4) Ebd. S. 295. 5) 1. Korr. 18, 14.
33*
516 Siebentes Kapitel.
gerade der Opfertod als der Gipfel des Wirkens angesehen wird ! — Voi
allem aber sehe und höre man doch, wie um Balder geklagt wird! wie
ein ganz persönlicher Ton jede Strophe erfüllt, die von ihm handelt!!
wie der Mythus sich in allen Bemühungen ergeht, mit denen Liebe den1
teuren Toten der Unterwelt abzuringen versuchen mag: die Bitte an die
Gebieter des Totenreichs, wie in der gleich schönen Sage von Orpheus
und Eurydike; der Versuch, durch das Klagen aller Kreatur das Schicksal
umzustimmen ; zuletzt — der Zauber, das geheimnisvolle Wort Odins, das
vielleicht auch seinen sterbenden Mysten ins Ohr geflüstert ward; und
mit ihm die sichere Hoffnung, den Geliebten wiederzusehen.
Wer da Entlehnung von Buch zu Buch oder auch nur von Mund
zu Mund annimmt, der weiß den Herzschlag eines leidenschaftlich be-
wegten Herzens, die große Sehnsucht einer im tiefsten erschütterten Zeit
von Reminiszenzen nicht zu unterscheiden ; der mag denn auch mit Jensen
Christus und Paulus für zeilengetreue Abschriften aus dem Babyionischen
halten. Denn mit diesen Mythifikationen 5) hat die Christianisierung alt-
germanischer Mythen durch Bang, Bugge, E. H. Meyer nur ihre gerechte
Strafe erhalten.
Mit dieser leidenschaftlichen Teilnahme an dem Schicksal des Un-
sterblichkeitsbürgen hängt denn auch für die Stimmung jener Zeiten das
Bedürfnis nach sofortiger Rache untrennbar zusammen. Gleich muß sie
erfolgen; wie neubekehrte Häuptlinge bedauerten, Christus nicht rächen
zu können, so ertragen die Hörer nicht das Los ihres Lieblings. Denn
untrennbar mit der Vorstellung der Fortdauer des Lebens für die Besten
ist die der Vergeltung verbunden.
Nur als Möglichkeit möchte ich andeuten, daß die Aufnahme fremder
Götter in diese Zeit fallen kann. Fosite von Haligoland ist der gerechte
Richter, Uli scheint der Hüter des Eides — es wäre nicht undenkbar,
daß diese in ihrer Ungerechtigkeit nach Gerechtigkeit hungernde und
dürstende Zeit sie adoptiert hätte wie Rom die Isis. Aber sie können
auch später aufgenommen sein, und Uli kann auch schon früher zu den
nordischen Göttern gehört haben.
Um so wichtiger aber ist der vierte Mythenkreis, der sich an jeden
Grundgedanken oder vielmehr an jede Grundfrage anschließt: der von
dem Entscheid ungskampf zwischen den Göttern und der
Hölle. Die unmittelbare Verbindung, die schon die Völ. zwischen Balders
Tod und Ragnarok herstellt, haben die Forscher mit guten Gründen an-
gezweifelt. Die mittelbare, innere Verbindung scheint mir fest wie die
Eisenfesseln des Wolfes — oder hoffentlich fester; denn er löst sich ja doch !
5) Drews, Die Christusmythe, Jena 1910; Jensen, Moses, Christus, Paulus,
Frankfurt a. M. 1909.
§ 28. Religionsgeschichte. 51 7
Der Gedanke der Wiederkehr Balders wird mit der Vergeltungs-
idee in unlöslichen Zusammenhang gebracht. Stand es fest, daß Balder
wiedergeboren würde, so mußte, zumal bei seinen leidenschaftlichen Ver-
ehrern, die Frage entstehen: Warum kommt er nicht gleich wieder?
warum kam er nicht wieder, wie Christus, wie Thor aus der Gefangen-
schaft, Odin aus der Verbannung? Weil die ganze Luft mit Gift erfüllt
ist1); weil er zu rein und edel ist für diese Welt, für diese Beilzeit,
Schwertzeit, Windzeit, Wolfzeit; für diese Epoche, in der sich die Brüder
befehden und keiner den anderen schont2). Fühlt man denn nicht auch
in diesen Versen und gerade in ihnen durch alles ererbte Formelwesen
hindurch die Erregung und Herzensangst eines Dichters, den der Anblick
der Gegenwart quält und bekümmert? wie in der Offenbarung Johannis
doch alle apokalyptische Geheimsprache die leidenschaftliche Empfindung
eines an seiner Zeit krankenden Herzens nicht verdecken kann. Nur in
Augenblicken der Verzweiflung an der Gegenwart entspringen die großen
Visionen der Zukunft; und nie ist die künftige Herrlichkeit Deutschlands
begeisterter gemalt worden als vor 1848.
Aus diesem Gefühl also erwächst beides : die Sehnsucht nach Balder,
und die Empfindung : jetzt kann er noch nicht erscheinen. Erst muß die
Luft gereinigt werden ; erst muß Vergeltung geübt werden : an den Bösen,
die das Unheil bringen — und an den Lässigen, die es geschehen lassen 3).
Eine ungeheure »lustratw« ist notwendig, um das »prodigium« aus der
Welt zu schaffen: Schreckenszeichen beweisen, »daß das normale Ver-
hältnis zwischen Gemeinde und Gottheit eine Störung erfahren hat« 4),
und machen eine neue pax deurn, einen neuen Frieden mit den Göttern 5)
erforderlich. So entsteht der Gedanke des Ragnarok, als unentbehrliche
i/orbedingung für die Epoche, da »alles Böse schwindet, denn Balder
erscheint« 6), als unentbehrliche Vorbedingung vor allem für seine Wieder-
geburt selbst.
*) Wie die Völ. sich an anderer Stelle (Str. 25) ausdrückt.
2) Völ. Str. 45; vgl. Olrik, Altnord. Leben, S. 73. — Eine solche Epoche ist
auch die vor der Sintflut: Methusalah, der »Mann des Geschosses«, bezeichnet
die »Schwertzeit« (Holzinger, Genesis, S. 63). Die epigrammatische Häufung
der Namen für die böse Zeit übrigens (Str. 15) wird jung sein; die Strophe
drängt wohl den Inhalt mehrerer älterer zusammen. Für die prägnante Benennung
der schlimmen Zeit haben wohl die altnordischen Monatsnamen wie Frost-
mond, Schnittmond (W e i n h o 1 d , Altnord. Leben, S. 376) als Muster gedient. —
Allgemein über »Weltalter« Wundt S. 462. 466.
3) Bringt doch noch das christliche Muspilli das jüngste Gericht in unmittel-
bare Beziehung zu der Bestechlichkeit der Richter; MSD. III. V. 63 f.; vgl.
Anmerkungen 2, 39.
4) Wissowa S. 328.
5) Vgl. ebd. S. 327.
fl) Vol. Str. 62.
518 Siebentes Kapitel.
Die christliche Eschatologie kann auch hier Hebammendienste geleiste
haben ; noch mehr hat es Olrik x) für die keltische wahrscheinlich gemacht
Aber die Grundlagen sind auch hier altgermanisch, und vor allem ist der
sie umbildende Grundgedanke nur aus der schweren Not der Zeit selbsl
zu verstehen. Daß die Vorstellung eines entscheidenden allgemeinen
Kampfes zwischen Himmel und Hölle alt sei, kann nicht nur nicht be-
wiesen werden, sondern es ist auch beinahe undenkbar2), da die ethische
Zuspitzung des Gegensatzes der Mächte nicht primitiv ist und die Kon-
zentration der Götterfeinde selbst erst einer verhältnismäßig jungen Periode
anzugehören scheint3). Aber es waren folgende Elemente vorhanden:
Sagen von Kämpfen der Götter in großer Anzahl, und zwar neben
Einzelkämpfen auch solche von kollektivem Charakter. Thor kämpft nicht
nur gegen einzelne Unholde, sondern es wird wiederholt betont, daß er
gegen »die Riesen« Krieg führt. Vor allem aber ist ein Krieg von Masse
gegen Masse der Wanenkrieg, da die Feinde der Äsen tatsächlich4) als
ein Heer vorgestellt werden, mögen wir auch nur drei mit Namen kennen.
Hier lag also bereits ein Mythus von einem großen Kampf zwischen den
Äsen auf der einen, einem feindlichen Heer auf der anderen Seite vor.
Die merkwürdigen Sagen von der Schlacht am Birnbaum 5) wage ich
nicht zu verwerten. Denn so gewiß sie mythische Bestandteile bergen6),
so stark scheinen sie doch von der Heldensage bedingt, von ihren
Völkerkämpfen — die ja gewiß7) auch auf Ragnarok eingewirkt haben,
hier aber doch den mythischen Kern unberührt ließen. Die Sage vom
Kampf um den Birnbaum hat so ausgeprägt nationale Züge, daß ich
sie für einen mythologischen Gegensatz nicht ausbeuten möchte;
und nichts spricht sonst dafür, daß eine große Götterschlacht im Sinne
von Ragnarok auf dem deutschen und englischen Gebiet bekannt war.
Die Schlachten des Wilden Heeres und ihre heroische Fortsetzung auf
dem Wülpensande8) oder sonst9) sind ja von Ragnarok fundamental]
gerade durch ihre ewige Wiederkehr unterschieden, während bei der
Götterschlacht eine endgültige Entscheidung die unentbehrliche Pointe
bildet. Übrigens scheint gerade auch bei diesem Mythus die spezifisch
nordische Lebensunersättlichkeit in dem Motiv der zaubermäßigen Wieder-
belebung hervorzutreten 10) — und wieder vielleicht unter keltischem
Einfluß11).
*) Om Ragnarok.
2) Vgl. Grau, Germ. Darstellungen d. Jüngsten Gerichts, Halle 1908.
3) Vgl. Macdonell S. 156.
4) Vol. Str. 24.
5) Zurbonsen, Die Völkerschlacht der Zukunft, Köln 1907.
6) Ebd. S. 16. 7) Siehe u.
8) Doch vgl. Panzer, Hilde-Kudrun, S. 324.
9) Ebd. S. 328. 10) Panzer S. 329. ») S. 330.
§ 28. Religionsgeschichte. 519
Sagen vom Eindringen eines Feindes bis vor oder in den Sitz der
jötter waren gleichfalls schon im Umlauf. Wir haben den Mythus von
ler Herausforderung aus den Doubletten von Hrungnir und Loki l) zu
:rschließen gesucht. Für ihn spricht noch die heroische Umwandlung
ler Beowulfsage ; denn ursprünglich war doch wohl der seltsame Festsaal,
in den Grendel so keck heranzieht, die Halle der Götter, nach dem
kmnenhirsch benannt, der auf Heervaters Saal steht 2) ; was dann zu selt-
amen Inkonsequenzen führte, als Heorot die Halle Hrodgars geworden
var3). Drittens spricht für den von uns erschlossenen Mythus die
\nalogie der Heldensage: daß ein Ritter vor die feindliche Burg reitet
ind seine Ausforderung ruft, ist etwas ganz Übliches: so tut es z. B.
iiuteger vor dem Sarrazenenpalast 4).
Nicht unmöglich scheint mir eine ältere Variante, wonach der Feind
n die Burg schon beinahe eindrang, aber durch die vom Hahnenkraht
geweckten Äsen verjagt wurde. (Der Name Gullinkambi oder Salgofnir
ist natürlich jung.) Hrungnir5) kommt durch Versehen in die Burg, was
doch wohl nicht ursprünglich ist6). Loki erschlägt einen Diener, ehe er
in die Halle tritt. Das könnten alte Züge sein. Damit wäre dann Gullin-
kambi7) zu kombinieren, »der in Heervaters Halle die Helden weckt«.
Es wäre ein Beispiel jenes Motivs, daß eine Burg durch Tiergeschrei
gerettet wird; in den Kapitolinischen Gänsen hat es eine klassische Aus-
prägung gefunden8). — Wenn dagegen der Hahn des Petrus kräht, so
ist das natürlich ein »Erfüllungsmythus«: Christus hat prophezeit, ehe der
Hahn dreimal gekräht haben werde, d. h. noch vor Anbruch des neuen
Tages, werde sein Jünger ihn verleugnet haben; das wird buchstäbliche
Wahrheit.
Diese beiden vorhandenen Sagen — Götterkriege und Vordringen
der Götterfeinde auf die Götterburg — kristallisieren um den erwarteten
Vergeltungskrieg. Der Götterkrieg wird zu einem Kampf aller Götter
£egen alle Gegengötter erweitert, mit dem charakteristischen Zug, daß
diese angreifend heranziehen; was vermutlich zuerst von Hrym9) erzählt
wurde, oder von Surt 10), der allein nicht fährt und das Schwert schwingt. —
Die weitere Ausmalung, die pragmatische Einfügung in die gesamte Ge-
J) Siehe o. S. 295. 2) Grim. Str. 24.
3) Vgl. Laistner in Wülkers Grundriß zur Gesch. d. ags. Lit. S. 267.
4) Parz. 32, 1 f.
5) Skäldsk. cap. 1: Gering S. 357.
6) »Was rühmst du deinen schnellen Ritt? dein Roß ging durch und nahm
dich mit!« (Geibel).
7) Vol. Str. 43.
8) Anders »eine Taube sagt Belagerung an« (Deutsche Sagen 1, 375: hier
handelt es sich um den frühen orientalischen Gebrauch der Brieftauben.
9) Vol. Str. 50. 10) Str. 52.
520 Siebentes Kapitel.
$
schichte der Weit, die Verteilung der Einzelkämpfe gehört dann den Einzel
dichtem.
Daß der Mythus von Ragnarok in der altgermanischen Mythologi
große Spuren hinterlassen hätte, kann man sonst nicht sagen. Noclfltff
Balders Draumar erzählen den Baidermythus, ohne den jüngsten Kamp
anzuknüpfen. Um so mächtiger ist der Eindruck auf die Folgezeit gewesen
mit Recht, denn die leidenschaftlichen Stimmungen einer Zeit voll wildei ift
Größe haben in diesem eddischen Inferno erschütternden Ausdruck gefunden in
Und damit kehren wir noch einmal zu der Charakteristik jene* ii
Dichtungen zurück, die der Götteredda ihr eigentliches Gepräge verleihen I
Ehe man uns vorwirft, wir hätten unberechtigt in die Gefühle einer rohenlc
Zeit Grübelei und idealistische Ansprüche hineingetragen, betrachte man!
diese Dichtungen noch einmal. Sind sie wirklich von naiver Erzählerlust
diktiert wie die Thrymskvida? oder von gelehrtem Stoffhunger über
füllt wie die Alvissmäl? Sind es nicht wirklich Problemdichtungen
im vollen Sinn des Wortes? Nicht bloß die Völuspä, die ja freilich über
den anderen steht »wie die Dolde des Lauches über dürftigem Gras, wie
der glänzende Demant das Gold überstrahlt« — zwar kein einheitliches!
Kunstwerk (wie sie uns vorliegt), aber wie Goethes Faust selbst in ihren
Widersprüchen für die Größe der Konzeption zeugend. Aber auch die
Hävamäl sind keine nüchterne Spruchsammlung; keins von den biblischen
Büchern dieser Art, Sirach, Salomonis Weisheit, kann sich der heidnischen
Dichtung in dem Versuch, mit Erfahrungen die Welt zu umspannen, ver-
gleichen. Und selbst Veg., Vaf., Grim. — von Rätseln gehen sie aus,
die sie lösen wollen. Hinter dieser Poesie liegt ein angestrengtes Suchen;
wie hinter den Problemdichtungen der heutigen Magi aus Norden, der
Ibsen, Björnson, Strindberg. Mit dem »Fragezeichen« der Ibsenschen
Dramen schließen die Vafthrudnismäl ; Bedürfnis nach Anbetung kämpft
mit titanischem Trotz in der Lokasenna wie bei Strindberg; ein Gedicht
von der Versuchung Gottes sind die Grimnismäl wie »Über unsere
Kraft«. Daher auch überall die einfache Rede, die zu Verkleidungen des
Gedankens im Stil der Hymiskvida so wenig Zeit hat wie zu den kunst-
vollen Formspielen der Thrymskvida und Rigsthula — obwohl gerade
das größte Gedicht, die Völuspä, mit ihren Künsten des Gegenrefrains,
des Stufenbaues bei Schuld und Sühne der Götter, der mimischen
Apostrophe der Virtuosität des Liedes von der Entstehung der Stände
unter allen eddischen Gedichten am nächsten kommt.
Was aber den Inhalt jener Probleme selbst angeht, so zeugt für die
Möglichkeit des Brütens über solchen Rätselfragen in selbst noch viel
primitiveren Zeiten jeder Anfang einer Philosophie, ja jeder ätiologische
Mythus. Vor allem aber — ist die Assyriologie auch bisher für die ver-
gleichende Mythologie wie für die Kulturgeschichte ein Danaergeschenk
§ 28. Religionsgeschichte. 521
ewesen *), so hat sie uns doch in dem vielberufenen Gilgamesch das älteste
Her Epen geschenkt, und hier schon, 6000 Jahre vor unserer Zeit, grübelt
jer Held über »Tod und Leben«, wird es sein höchstes Ziel, die Un-
sterblichkeit zu erlangen — nicht in dem abgeschwächten Sinne des Nach-
bhms, nein, als greifbaren Besitz, als Befreiung vom Tode. Und wenn
;ie Erzählung vom Sündenfall berichtet, wie der Tod in die Welt kam —
ffenbart nicht auch dieser Mythus wie die von Methusalems Alter und
"nochs Entrückung jene Sehnsucht, die wir als treibende Grundgedanken
inter den Mythen von Odins Einheriern, von Balders Wiederkunft, von
em Verhängnis der Götter am Werk sahen, wie in der » Verteuf elung«
okis den Gedanken der Vergeltung? —
Noch erübrigt es, kurz auf das Verhältnis der Unsterblichkeitslehre
u dem Glauben an die Wiedergeburt2) einzugehen.
Zeugnisse für diesen Glauben sind uns, wenn auch vereinzelt, seit
rgermanischer Zeit überliefert3). Als ein äußeres Symptom sieht Olrik
ie Sitte an, Nachgeborenen den Namen der Vorfahren zu geben; »sie
mcht erst in der Völkerwanderung, zunächst bei den Ostgoten, auf und
reitete sich stark aus; im Norden drang sie im 7. und 8. Jahrhundert
urch«4). In der Völuspä findet er diesen »eigentlich heidnischen Un-
terblichkeitsglauben« stark verblaßt, »während Seligkeit und Gerechtigkeit
ie tragenden Gedanken sind«5). — Ich suchte schon zu erweisen, daß
in allgemeiner Glaube an die Wiedergeburt nicht bestanden habe, sondern
sdiglich die Anschauung, die Seele könne in einem Kinde wiederkehren ;
fohl möglich, daß die Namengebung dazu einladen, gewissermaßen ein
iefäß bereit stellen sollte. Zu bedenken ist doch aber erstens und vor
Uem: daß aller Animismus aller Völker gegen die Wiederkehr vielmehr
ne tiefe Abneigung zeigt; zweitens: daß in denjenigen Fällen, in denen
ber eine Wiedergeburt Näheres berichtet wird, die Seele sich selbst meldet
nd Verkörperung fordert, als etwas Ungewöhnliches, nicht als ein Recht;
Httens: daß Fälle wie die Angaben der Helgilieder oder die: »Thorgils
/ard für den wiedergeborenen Kolbein gehalten«6) sich nicht weit über
ie Metapher erheben; viertens: daß die Durchführung der Namen als
deliges Vorrecht (z. B. in Athen) häufig ist, wo sie wohl nur den Ruhm
es privilegierten Namens festhalten soll — wie in dem bekannten survi-
wl dieser Sitte, daß alle Prinzen der vielen Reußischen Linien sich nur
ieinrich nennen dürfen, nach Heinrich von Plauen. Ähnlich ist bei
:en Schwarzburgern zur Erinnerung an den »Kaiser« der Name Günther
J) Vgl. Gunkel, Deutsche Lit.-Zeit. 1909 S. 901 f.
2) Vgl. o. S. 84.
8) Golther S. 96.
4) Altnord. Geistesleben S. 17.
5) S. 101. 6) Golther S. 97.
522 Siebentes Kapitel.
beinahe selbstverständlich. Allerdings wird hier, wie auch bei den Reuf
kein Todesfall oder keine neue Generation abgewartet.
Mir scheint also: die Vorstellung, daß eine Seele sich noch einma
des Lebens erfreuen könne, ist uralt bei den Germanen; und schon zu
Zeit des Ariovist galt das als ein erstrebenswertes Glück. Ein Mittel, e
sich zu sichern, gab es nicht; eine Neigung, es den Toten zu gewährer
gab es erst recht nicht. Es konnte begegnen, wie die Himmelfahrt de
Elias; aber es war eine Gnade. Wer sie spendete? vielleicht Hönii
vielleicht das Schicksal. Darauf ließ sich kein Glaube bauen; der set2
Gesetze voraus und Mittel, das Erwünschte zu erreichen. So mußte denil
in der Tat die neue Lehre von der Fortdauer die vom Oberspringen ii|
einen anderen Leib verdrängen. Hätte sich ein Glauben an feste Seelei
Wanderung entwickelt, so wäre sie so wenig durchgedrungen wie ii
Indien.
Mit diesen Anschauungen etwa scheinen die Norweger, Dänei
Schweden in die Zeit des Christentums eingetreten zu sein. Vorbereitungei
lagen in den christlichen Einflüssen, Vorbereitungen vor allem in de
ganzen Richtung der Gedanken und Gefühle, gerade wie die Angel
Sachsen mit ihrer weichen elegischen Stimmung zur Taufe prädestinier
scheinen — »Angeli, nicht Anglü«, jauchzte Papst Gregor — , währenc
ihre Brüder, die Sachsen, noch durchaus nicht zum Abendmahl reif waren
Starke Berührungen mit der Kultur des christianisierten Germanentum!
taten das Ihrige: Karolus Magnus ward das Ideal nordischer Könige1
und »die Annahme des Christentums ist für viele mehr ein Anschluß ai
das europäische Leben als der Ausdruck einer religiösen Regung« 2). Ol
dann weiter gerade das Heroische des Christentums die Herzen gewann
wie Olrik3) andeutet, läßt sich bezweifeln. Klängen wirklich die Liedei
von Christus und seinem Siege diesen Ohren wie ein Heldenlied, größel
als eines von denen, die man kannte4)? Wieviel mußte der Dichter de«
Heliand dazu tun, um aus seinen Aposteln wirklich »Degen« zu machen j
Ein König, der sich geißeln läßt? der einen im Sinne des Wikingertum«
unrühmlichen Tod stirbt? Ich glaube nicht, daß es diese Seite war, di<
die Treuen Thors und die Gefolgsmänner Odins eroberte. Noch der
Bekehrten gegenüber pocht Thor auf seine Macht5), Odin auf seine Sieges-
gewalt, Schönheit, Fertigkeit6). Viel eher konnte das in den Verheißunger
des Evangeliums bestechen, was die Äsen nicht geben konnten, was auch
in Hyndlas schönem Gebet an Odin7) nicht steht: Gerechte Vergeltung
und ein ewiges Leben für alle. Ward ihnen das geboten, so mochtet
*) Olrik S. 77. 2) Ebd. S. 79.
3) S. 103 f. 4) Ebd. S. 105.
5) Golther S. 258f. 6) Ebd. S. 341 f.
7) Hyndl. Str. 2—3; vgl. dazu Gests Worte zu Olaf Golther S. 343.
§ 28. Religionsgeschichte. 523
e Bekehrten Odin und Freyja verachten wie Hjallti mit Konvertiten-
er tat1).
6. Eine letzte Blüte war aber vor dem letzten Glühen der Opferfeuer
t nordischen Religion beschieden: auf Island. In dogmatischen Fragen
ird wohl der Glaube der Isländer sich von dem der Norweger wesent-
:h nicht unterschieden haben. Sie waren wohl noch frömmer, eifriger
l Opfern — deshalb die Kirchspieleinteilung der Godentempel — , der
auberei etwas weniger ergeben als die Väter im Stammland. Aber das
Wesentliche ist, daß bei ihnen die Religion und zwar speziell der Thor-
ilt eine eigentlich politische Färbung annimmt. Seit die »Pilger-
iter« wie Thorolf2) unter Thors Schutz auf die Insel gekommen waren,
ird er mit einer Andacht und vor allem einer Bevorzugung verehrt, die
len Freykult der Schweden weit hinter sich lassen. Wohl stehen in
5n Tempeln auch Odin und Frey; aber in dem persönlichen Bekenntnis,
'er Namengebung, wird die Anrufung Thors auf Island fast zum »Heno-
leismus« im Sinne Max Müllers: zur ausschließlichen Verehrung des
inen Gottes bei aller theoretischen Anerkennung anderer Gottheiten. Ihm
ehören die Tempel, die Ortschaften und Berge — ihm die Kinder. Selbst
enn es auf Island so viel Frey-Tempel wie Thor-Tempel gegeben haben
>llte 3) , wird das mehr als ausgeglichen durch den Umstand, daß ein
iode fast selbstverständlich Tempel vorsteh er im Dienste Thors war: die
rey-Goden wurden besonders bezeichnet4). — Man muß an Verhältnisse
rie in unserer Ostmark denken, wo zu der »polnischen Maria« gebetet
ird , um das Durchdringen religiösen und politischen Geistes auf der
eien Insel ganz zu verstehen. Nur so ist es auch möglich gewesen,
aß nach langer erregter Erörterung der Thing im Jahre 1000 das Ende
tr letzten altgermanischen Staatsreligion als einen politischen Akt be-
thließen konnte: Island trat einfach unter das Patronat eines neuen
ächtigen Herrn: statt Thors kommt nun Christus at regindömi, zur
Oberherrschaft5). So ward Island untreu aus dem gleichen Grund,
essentwegen es so lange die Treue gehalten hatte: »wer zu den Feinden
iuft von euch, der hat mit zweien Herren zugleich den Bund gebrochen!«
Aber schon vor dem Ende des Asenglaubens zeigen sich Verfall-
rscheinungen. Wie die Verwilderung der althochdeutschen Stabreim-
ichtung die Endreimpoesie prophezeit, so deuten auch auf religiösem
iebiet schlimme Anzeichen auf das »Verhängnis der Götter«. In Nor-
/egen Sinken der Religion bis zu der finnisch - lappischen vergöttlichten
!) Ebd. S. 439. 2) Golther S. 248.
s) Vgl. Thümmel, PBB. 35, 95.
4) Ebd. S. 97.
5) Vol. Str. 65; nach Heinzel-Detter u. a. interpoliert; wie wir mit
ndern annehmen, mit Str. 60-61 von dem christlichen Sammler zugesetzt.
524 Siebentes Kapitel.
Hexe Thorgerd ; bei den Normannen r) wüste Menschenopfer für The
mit Haruspicin; überall Entartung des Bilderdienstes2). Umgekehrt b<
sonders auf Island, von der Verstaatlichung der Nationalkirche begünstig
Religionsspötterei und Freigeisterei, auf die besonders Weinhold hir
gewiesen hat. Religionsspötterei bei Glum, der bei dem Gelage rief : »Jet-
wollen wir uns Schutzwesen kiesen! ich wähle zuerst; das sind mei
Patrone: der erste ist mein Geldbeutel, der zweite mein Beil, der dri
meine Speisekammer3)!« Freigeisterei wie bei dem edlen Gisli Sürsso|
um 950, der in Traumgesichten von der Walkyre rein ethische Lehrei
empfängt4). Dazwischen Zweifler; Felix Dahn hat in seinem Büchleii
»Sind Götter?« die Geschichte des einen erneuert.
All das sind Erscheinungen, die bewegten Zeiten nicht fehlen könner
Dem Admiral Alexanders des Großen, Nearch, legte man ähnliche Äußerungei
in den Mund wie dem Vigaglum ; und Euripides hat die Modelle zu den
Kyklopen, der die Götter verachtet und nur seinen Bauch verehrt, so gu
im Leben beobachtet wie der Prediger5) den Mann, der da meint: »Ist
nun nicht besser dem Menschen, daß er esse und trinke und seine Seel<
guter Dinge sei?« ... Solche Betrachtungen kommen mit psychologischei
Notwendigkeit, so gut wie die, daß der Mensch wie das Vieh stirbt, die
auch ein altgermanischer Denkspruch 6) nicht aus dem Alten Testament zi
entlehnen brauchte7). Um zu sehen, daß der Himmel blau ist, sagi
Goethe, braucht man nicht um die Welt zu reisen. — Und natürlich
kann auch überall Bigotterie in Götterhaß umschlagen, wie bei Grimkell 8). —
Wir können die altgermanische Religion ein gut Stück lang be-
obachten. Fast ein Jahrtausend begleiten Zeugnisse, mit langen langen
Pausen, mit nur zu großen Vieldeutigkeiten, mit Widersprüchen und Un-
möglichkeiten reichlich versehen. Aber zum Skeptizismus sehe ich keinen
Grund; und daß wir nichts wissen können, gilt hier nicht mehr als überall :
auch bei der Naturforschung sind lange lange Strecken mit Konjekturen
und Interpolationen der Forscher ausgestopft.
Wir haben immerhin von der Religion der alten Germanen einen
Zeitraum zur Beobachtung, der der bisherigen Dauer der christlich-
germanischen Weltanschauung ungefähr gleicht. Wir haben in ihm, so
manche Evolution vermutet, die der inneren Wahrscheinlichkeit und der
r) Golther S. 253. 2) Vgl. o. S. 435.
3) Wein hold, Altnord. Leben, S. 463.
4) Olrik, Altnord. Geistesleben, S. 96.
5) Pred. 2, 24.
6) Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 321; Runenstudien, PBB. 32, 67 f.
7) Pred. 3, 19: »Denn es geht dem Menschen wie dem Vieh, wie dies stirbt,
so stirbt er auch.«
8) Golther S. 557.
§ 29. Systembildung. 525
ißeren Analogie nicht entbehrt. Mancherlei Wechsel der kulturellen,
Politischen, sozialen Verhältnisse schien uns in religiösen Änderungen ab-
gespiegelt; manche Bewegung in der Volksseele glaubten wir hier ablesen
1 können. Einflüsse vieler Art sind zu bemerken: von der Heldensage
tid vom Christentum; Entlehnungen von den Finnen und den Kelten;
Kontaminationen und Loslösungen. Wir haben einen Kosmos von Er-
lernungen mancherlei Art, die in den Beziehungen des Menschen zu
n höheren Mächten seinen Mittelpunkt finden. Und »wie einer ist,
ist sein Gott«. Wir betrachten die alte Mythologie nicht mehr mit
em Verstandeshochmut der Aufklärer, die nur »Priestertrug« und Volks-
srdummung sahen, und als deren Schüler noch Goethe, Voltaires Jünger
i der Auffassung der Menschengeschichte überhaupt, in der ganzen
irch engeschichte nichts sah als »Mischmasch von Unsinn und Gewalt«,
/ir glauben auch nicht mit den Romantikern, mit Creuzer und Kanne
hd ihrem sonderbaren rationalistisch -romantischen Nachfahr Wilhelm
>rdan an die tiefe geheimnisvolle Weisheit aller Mythen, die Roms be-
ußte Schändlichkeit verdunkelt habe. Aber wir sehen hier das Er-
reifendste, was die Menschengeschichte zeigt: ein großes Volk in seiner
eheimen Not, seinem geheimen Hoffen und seiner geheimen Liebe.
§ 29. Systernbildung.
Neben dieser naiven volkstümlichen oder von den Zeitverhältnissen
ewirkten Entwicklung geht nun eine »gelehrte«, verstandesmäßige einher —
ie »Theologie« im Sinne von Noreens Dreiteilung (in Mythologie, Religion
nd Theologie). Sie geht von den Priestern aus und bleibt wohl vorzugs-
eise in ihren Händen, solange die Religion selbst noch in lebendiger
Wirksamkeit ist; doch nehmen auch die Dichter teil, und in beschränktem
laße vielleicht auch andere Laien. Nach dem Absterben der germanischen
digion erreicht die Systembildung erst ihre volle Höhe durch die philo-
^ische Arbeit von Gelehrten wie vor allem Snorri.
Die Hauptmittel der Systembildung sind : die Genealogie,
ie Zählung, die Klassifikation. Schließlich wird dies alles
iertens in einer theologischen Kodifikation zusammengefaßt. Ansätze
nd sehr früh vorhanden. Genealogische Verbindung von Göttern, die
icht ihrem Wesen nach verwandt zu sein brauchen (wie dies bei den
>ioskuren, oder bei den Geschwistern Sonne und Mond der Fall ist)
3wie Zählung (freilich in den bescheidenen Grenzen der Dreiheit) treffen
'ir schon bei Tacitus. Die Unterscheidung von dei und semidei setzt
ordanes für die alten Goten voraus, allerdings vielleicht mit Unrecht,
'enn nicht wirklich die Benennung »Äsen« von Odins halbgöttlichem
iefolge auf seine gesamte Umgebung übergegangen ist; das wäre also
:hon Klassifikation. Und Namen häuf un gen wie im Merseburger Spruch
526 Siebentes Kapitel.
weisen früh wenigstens auf den Weg der Sammlertätigkeit, der zur Kodi
kation führt.
Indessen ist der eigentliche Betrieb erst auf nordischem Boden
erweisen, von gewissen, praktischen Rücksichten entsprungenen Versuch
in christlichen Abschwörungsformeln und Missionsanweisungen abgeseht
Die Theologie setzt einen festen Priesterstand wohl mit Notwendigk
voraus, außerdem aber eine gewisse Reife der mythologischen Entwicklur|i
Ehe die Götterverehrung erreicht ist , kommt sie wohl niemals zustanc i
Aber auch das scheint nicht zu genügen ; vielmehr ist wohl erst e i
Gegensatz von Religionsparteien, wie wir sie freilich auch schon in Deutsc
land (Wodan contra Tiu) treffen , der rechte Nährboden solcher B t
strebungen. Die Priester interessieren sich für Herkunft und Umgebui
ihrer Götter, suchen ihnen genealogische Vorrechte, bestimmte Gefol jd
schaft, eine höhere Stellung zu sichern. Die Nebenbuhlerschaft weckt d«*
Ehrgeiz, was auch schon beim Merseburger Spruch (Wodan als alleinig
Heilgott) mitsprechen konnte.
Ferner wirken die übrigen literarischen Gattungen ein. Die Genealog
bietet von jeher der Heldensage die nötigen Scharniere, um verschiedei
Sagen zu verbinden; auch hier wird die innerlich geforderte Verwanc
schaft (Hildebrand und Hadubrand) durch die künstliche (Helgiliede
weit überboten. — Die Zählung ist ein uraltes Hilfsmittel der G n o m i 1
sie sammelt die drei besten oder schlimmsten Dinge usw. Dazu komr
aus dem religiösen Ritus selbst der Gebrauch der heiligen Zahlen. D
Klassifikation hat endlich ihre stärkste Wurzel im praktischen Leben,
der Erfahrung von den verschiedenen Wirkungen und Kräften der Dämonei
auch die Anfänge aller Wissenschaft (z. B. in der Unterscheidung d
Heilpflanzen) liegt hier; vor allem aber ist die immer strenger durc
geführte soziale Gliederung1) Vorbild.
Die theologischen Bestrebungen greifen naturgemäß auch in die volk
tümliche Anschauung über. Vor allem Genealogie und Zählung sinj
auch dem Laien erwünschte Ordner. Wie die Völuspä die Götterfeinc
in drei Heere aufteilt und die Schlacht in Zweikämpfe auflöst, so h;
schon die Volkssage aus Loki und Heimdall ein eng verbundenes Feinde
paar gemacht; wie die Grimnismäl die Heime, die Alvissmäl die Welten auj
teilen, so wird die Wendung von den »neun Welten« (ohne bestimml
Unterlage) schon volkstümlich gewesen sein2). Aber von hier ist doc
noch weit bis zu dem »Abriß der altnordischen Götterlehre in dialogische
Form«3), der in das Märchen von Gylfis Verblendung gehüllt ist, od<
zu den Noctes Atticae der Bragaroedur! —
!) Vgl. Heusler, Arch. f. n. Spr. 116, 171.
2) Völ. Str. 2-, Vaf. Str. 49; vgl. Golther S. 519.
3) Gering S. 16.
§ 29. Systembildung. 527
Wir betrachten zuerst die Genealogie. Die Annahme von Ver-
wandtschaften (wozu wir hier auch die Verschwägerungen nehmen) bildet
in uraltes Mittel zur Verbindung und Ordnung der Götter; ich erinnere
tur an Hesiod x). Wie nahe sie liegt, beweisen die zahlreichen über Kreuz
tnd Quer ohne festes Ergebnis gehenden Götterverwandtschaften im Veda 2).
Vuch die hellenische Mythologie hat es zu einer völligen Entwirrung der
göttlichen Verwandtsverhältnisse nicht gebracht: Enyo z. B. steht zu Ares
n allen überhaupt möglichen Verwandtschaftsbeziehungen 3). — Innerhalb
ler nordischen Mythologie steht besonders Thor in unklaren Verhältnissen
mit seinem unwahrscheinlichen Vater Odin, zwei Frauen, verschiedenen
(indem.
Zu unterscheiden sind mythologische Verwandtschaften, d. h. solche,
iie im Mythus selbst begründet sind, und theologische, d. h. konstruierte
r>der erfundene.
Als ursprüngliche mythologische Verwandtschaftsverhältnisse
werden wir ansehen können: Erstens im Mythus enthaltene Verwandt-
schaften: die Abstammung der drei Stammväter Ing, Isto, Irmin (sie
Dedingt schon bei Tacitus einen bestimmten in verschiedenen Lesarten
/orliegenden Stammbaum, der übrigens nirgends die Mütter nennt); das
3rüderpaar der Alces. Zweitens vom Mythus umgeschaffene: vielleicht ist
rst durch mythische Fortbildung mythischer Gestalten das Geschwister-
oaar Njord-Nerthus (das ja nie innerhalb derselben Epoche begegnet) ent-
standen — durch Auflösung eines einheitlichen Prinzips wie vielleicht bei
Apollo und Artemis. Ferner bringt die Fortdichtung der Baidersage Hod
und Wali als seinen Mörder und seinen Bruder in notwendige Beziehungen
zu ihm; ebenso wird Odin sein Vater, Frigg seine Mutter. Drittens vom
Mythus nachträglich geschaffene Verwandtschaften: Frigg wird Odins
jattin; Frey erhält eine Schwester Freyja; Njord und Skadi werden ver-
biählt. Späterhin: die »Teufelsbrut« Lokis. — Endlich ist an die mystischen
'Verwandtschaftsverhältnisse der Rfgsthula zu erinnern.
Theologische Verwandtschaften sind schon früh entstanden.
'■Mit Odins Prinzipat verbindet sich die Vorstellung, er sei Vater der
Götter — was gerade wie bei Zeus zu schwierigen Komplikationen führt.
Wir können nicht sehen, daß diese Vaterschaft, außer bei Balder, irgend
x) Vgl. Preller 1, 14 f. Sie fiel als mythologische Eigenheit schon den
alten Bekehrern auf: Daniel von Winchester an Winfried bei Schnürer, Bonifacius,
IMainz 1909, S. 41.
2) Ein halb Dutzend von Vaterschaften kann Agni aufweisen (Macdon eil
iS. 91; Soma ist Indras Vater oder Bruder (ebd. S. 57) usw. Übrigens wird
einmal von den Söhnen von Indras Bruder ebenso undeutlich geredet wie Vol.
iStr. 63 von den Söhnen der Brüder Tveggis: Macdon eil a. a. O.
3) Preller 1, 338 Anm. 2.
528 Siebentes Kapitel.
mythologisch zur Geltung käme. Auch wird Frigg keineswegs als al
gemeine Göttermutter aufgefaßt.
Rein theologisch erscheint die ganze Sippe des durchaus junggeseller
mäßig auftretenden Thor, ausgenommen vielleicht seinen Sohn und Rächer (1
Magni J) ; denn die Vorstellung mit dem großen Wappen 2) ist ironisc
gemeint. So ergibt sich denn auch hier die Verwicklung, daß Thor
Mutter Jord auch Odins Tochter sein soll3), so daß er gut ödipodeisc
seines Feindes Sohn und Enkel zugleich wäre. — Oder Frey wird 4) zun
Sohn des Njord.
Ganz auf Erschließung und Phantasie sind Snorris Genealogien gebaut
Uli Stiefsohn des Thor5); Forseti, der gar nicht zu den Äsen gehö
Sohn des Balder und der Nanna6); die Stammbäume des Loki7), b
denen die Kontamination (»außerdem hatte Loki noch andere Kinder«) kla
zutage liegt usw.
Bei Saxo treffen wir wieder andere Verwandtschaften, was unte
diesen Umständen nicht Wunder nehmen kann; die Verwandtscha
zwischen Balder und Hother ist aufgehoben usw. — Jung scheinen auc
Gestalten, die erst spät in den Götterkreis eingehen, genealogisch an
geschlossen zu sein: Ran an Ägir, Idun an Bragi. — Isoliert bleibe
besonders Tyr und Heimdali, der aber wenigstens neun Mütter hat; di
alte Einsamkeit der Götter hat nur der älteste von ihnen gewahrt, Tyr. Den
Hymir als Vater und die anonyme Riesin als Mutter sind gewiß erst spät
Erfindungen8); die Hym. wollte den anderen göttlichen Drachenbekämpfei
dem Thor gesellen und mußte das motivieren.
Über die rein fabulosen Brüder Odins (Wili und We) ist oben ge-
sprochen9); Hönir und Loki werden seine Blutsbrüder, noch ehe die
theologische Ehestifterei in Schwung kam. — Die »Schwestern« des
Zweiten Merseburger Spruchs sind vielleicht nur metaphorisch zu ver-
stehen ; jedenfalls liegt hier gar kein Akzent auf der Verwandtschaft 10). —
Auch bei der Zählung11) haben wir primäre und sekundäre Zählung
wohl zu unterscheiden. Die mythologische Zählung ist von
doppelter Art: seltener durch Aufteilung eines einheitlichen Begriffs,
*) Skäldsk. cap. 1: Gering S. 360.
2) Härb. Str. 9. 3) Golther S. 355.
4) Mogk S. 320.
5) Gylf. cap. 31: Gering S. 321.
6) Ebd. cap. 32. 7) cap. 33: S. 323.
8) Hym. Str. 5. 8. 9) Vgl. o. S. 272.
10) Zu einer wahren Wissenschaft hat sich die Genealogie bei den Priester-
schaften der alten jüdischen Tempel entwickelt (vgl. Holzinger, Genesis, S. 269
nach Stade).
n) Über die Zählung als allgemeines ordnendes Hilfsmittel vgl. o. S. 19,
über die Dreiheit und Zweiheit insbesondere Olrik, Ztschr. f. d. Alt. 52, 4f. 5 f.
§ 29. Systembildung. 529
äufiger durch Gruppierung ursprünglich selbständiger Einheiten ent-
tanden.
Die Aufteilung ist wohl selten ganz primitiv. Doch ist die Auf-
*ilung der Menschenschöpfung in das Verleihen von Atem, Seele, Lebens-
yärme x) so alt, daß vielleicht von hier die Dreiheit Odin — Hönir — Lodur
bzuleiten ist2). Eine analoge Aufteilung liegt in der Dreiheit der Nornen
or, die aber nicht alt ist. Dagegen ist uralt und schon ererbt die Drei-
ieit Himmel — Erde — Unterwelt, die aber nirgends betont wird.
Die Gruppierung ist äußerst beliebt, primitiv jedoch nur bei der
'w ei zahl3) und bei der Drei zahl4). Die Drei5) wird ursprünglich
ls »vollkommene und jede Überbietung ausschließende Vielheit« gefaßt,
n diesem Sinne ist sie für die Weiterbildung der früheren Religionsstufen
richtig: wir sahen, wie häufig für eine unbegrenzte Zahl von Geistern
►der Dämonen symbolisch die Dreizahl eintritt — gleichsam ein zahlen-
mäßiger Beleg für die Annäherung der primitiven Formlosigkeit an die
reifbare Gestaltung reiferer Perioden. Wir treffen sie aber auch auf
Höherer Stufe, mit verschiedenem Ursprung. Manchmal ist sie aus ein-
■acher Addition tatsächlich nebeneinander bestehender Einheiten entstanden,
ivie bei den Amphiktyonien (oder griechisch den drei Hören). Oft scheint
:ie das Ergebnis eines Kompromisses (wie die Zweizahl, s. u.), so bei
ilen drei großen Opfergöttern Odin, Thor, Frey. Oder sie ist im Sinne
ler »Andachtsgruppe« gemeint: zwei kleinere Figuren zu beiden Seiten
ler Hauptfigur 6), wie bei Moses zwischen Aaron und Hur oder christlichen
Sante Conversasioni ; so im Kult: Thor zwischen Odin und Frey7),
)der zwischen Thorgerd und Irpa8); Mars Thingsus zwischen den
Maisiagen. — Etwas seltener als die Dreizahl ist die Zweizahl. Durch
Aufteilung scheint sie bei der Spaltung Ymirs gewonnen zu sein9). Sie
Rentiert sich an dem Dual der menschlichen Gliedmaßen10), die durch
J) Vol. Str. 18.
2) Prell er (1, 48) bezeichnet ein solches Zerlegen als »ein sehr gewonn-
enes Gesetz der griechischen Mythendichtung« ; so seien die verschiedenen Akte
ies Gewitters, das Leuchten, der Schall und das Einschlagen, auf die drei Glieder
ler Kyklopen- und Hekatoncheiren-Gruppe verteilt. Vgl. z. B. buddhistisch
>Himmel— Erde— Mensch« Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 534.
3) Usener, Zwillingsbildung, Strena Helbigiana S. 315: Dioskuren usw.;
Dlrik S. 5 u. 6.
4) Usener, Dreiheit, Bonn 1903 und Rheinisches Museum N. F. LVIII.;
Dlrik S. 4.
5) Usener S. 358.
6) Dibelius, Die Lade Jahves, S. 84. 110.
7) Siehe o. S. 289.
8) Vgl. Golther S. 210.
9) Vgl. Janus: Usener S. 321.
10) Vgl. Hamd. Str. 15—16.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. &*
530 Siebentes Kapitel.
die häufige mythologische Zerstörung (Odin einäugig, Tyr einhändig) nui
noch stärker betont wird. — Hierher gehören wohl auch die Alces mit
ihrem Götterdual.
Die Addition ist oft durch Kompromiß gewonnen : Thor und Odin x)
Odin und Thor2), Frey und Njord8), Frigg und Thor4). Einen be-
sonders deutlichen Kompromißcharakter trägt die Zweiheit Thor -Odin.
Hallfred spielt in seinen Dichtungen nach der Taufe (996) auf seinen
früheren Odinskult an; als man aber Verdacht auf sein Heidentum hegt,
findet man bei ihm ein Thorsbild. Ebenso spricht Kjartan von Thor
und Odin ; und ebenso hatte Hallfred selbst schon früher beide als Haupt
gottheiten von Island genannt5).
Aber selbst Häkon verehrt neben der Thorgerd noch Thor und
Odin 6)), was Finnur Jönsson 7) sogar geneigt ist, für Norwegen und Island
allgemein anzunehmen, schwerlich mit Recht: Thors häufigere Nennung
sei nur im Stoff der Erzählungen begründet8). — Ganz ebenso glaubt
Helgi der Magere an Thor und Christus9). Es können aber auch zum
Teil Aufteilungen sein: die Gottheiten der männlichen und weiblichen
Arbeit, des Nah- und Fernkampfes usw.
Höhere Zahlen scheinen unursprünglich, oder nur heilige Zahlen
ohne abgezählten Inhalt (wie die neun Welten). Als besonders altertümlich
erscheint Gruppierung ohne Zählung, wie bei den drei Scharen der Idisi
im ersten Merseburger Spruch. —
Die theologische Zählung ist in beständigem Fortschritt be-
griffen. Die Zw ei zahl ist nicht sehr beliebt, kommt aber durch die
Wirkungen der Alliteration doch wohl zustande: Wali und Widar, Modi
und Magni; oft kleine Sondergruppen, reimend und alliterierend, in den
Namenlisten. Die Drei zahl ist Lieblingszahl10): drei Riesentöchter11)!
dreimalige Verbrennung 12), drei Welten unter Yggdrasils Wurzeln ; schließ-
lich gar die ganz junge, der Dreieinigkeit nachgebildete Dreiheit Hdr„
Jafnhär, Thridi, »der Hohe«, »der Gleich-Hohe«, »der Dritte« 13). —
x) Vgl. Golther S. 212; v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 100.
a) Hyndl. Str. 41.
3) Golther S. 321, Mogk S. 323.
4) Mogk S. 371.
B) Vgl. Craigie S. 19.
6) Finnur Jönsson, Ark. f. nord. Fil. 13, 244.
7) a. a. O. S. 2191, vgl. bes. S. 246.
8) S. 235.
9) Ebd. S. 69; vgl. dazu Heusler, Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1902 S. 237.
10) Vgl. meine Altgerm. Poesie, S. 83.
") Vol. Str. 8.
12) Str. 21.
13) Gylf.; Gering S. 299, Golther S. 355.
§ 29. Systembildung. 53 1
Die heilige Zahl Neun1) ist ursprünglich nur eine Potenzierung der
Dreizahl, wo sie nicht aus Nachahmung stammt (die neun Nächte Odins
den neun Monaten der Schwangerschaft entsprechend): so bei den neun
Welten ; bei dem Ring Skirnirs, der jede neunte Nacht acht neue gebiert,
vereinigen sich beide Momente. — Später versucht man auch diese sym-
bolische Zahl zu einer » ikonischen < , Wirklichkeitsnachbildenden zu
machen und zählt die Namen von Heimdalls neun Müttern auf.
Den Gipfel der theologischen Zählung bildet die Zwölfzahl der
Äsen, vielleicht erst bei Snorri2), dessen eigene Listen aber 14 Götter
und 18 Göttinnen aufweisen3). Das antike Muster steht hier völlig fest.
Die Grimnismäl haben4) wirklich 12 Götter, 9 männliche, 3 weibliche —
taber Tyr fehlt5). Ebenso erwähnten die Hyndl. 6) die Zwölfzahl: nach
I Balders Tod sind nur 1 1 Götter da ; aber selbst wenn man die kurze Vol.
jnicht mit Finnur Jönsson7) nach 1150 ansetzt, kann dies von keiner
I mythologischen Konsequenz begleitete Addieren der verschiedenartigsten
1 Größen nicht alt sein8).
Höhere bestimmte Zahlen sind wohl nur durch gelehrte Rechnung
zustande gekommen: in den Eddaliedern in dem Panegyrikus auf Odin
540 Tore in Walhöll9); 800 Einherier10) — etwas viel Tore für etwas
wenig Krieger! sogar das berühmte ägyptische Theben wird nur »hundert-
torig« genannt. Vielleicht ist die 40 alt, da 4 doch immerhin eine alt-
germanische Zahl ist11); dann würden durch jedes Tor 20 Recken reiten — ■
aber auch 20 ist keine alte Zahl, 500 erst recht nicht. — 100 treffen wir
zum Ausmessen des Feldes Wigrid12). — Auch die 144 Pfeile auf Ubbo13)
sind wohl willkürlich.
Altertümlich ist es, daß die Bußen (z. B. für Otrs Tötung in den Reg.)
niemals mit Zahlenwerten angegeben werden, sondern ganz primitiv durch
*) K. Wein hold, D. mythische Neunzahl b. d. Deutschen, Berl. Sitzungs-
berichte 1897.
2) Mogk S. 313.
3) Meyer S. 291. 4) Ebd.
B) Vgl. o. S. 461. 6) Str. 30.
7) Und Golther S. 199.
8) Nachleben in der Heldensage? Vgl. Detter-Heinzel, PBB. 18, 544.
In der indischen Religion kommt man auf 33 Götter (Macdon eil S. 19) und
i sogar auf 27 oder 6333 Gandharven (Macdonell S. 136).
9) Str. 23; ebenso viel in Bilskirnir, fügt ein Thorverehrer eifrig hinzu.
10) Ebd.
u) Meine Altgerm. Poesie S. 77; vgl. allgemein W. H. Röscher, Die
Tessarakontaden u. Tessarakontadenlehre d. Griechen u. and. Völker, Leipzig
1909. Sehr lehrreich aus neuerer Entwicklung E. Mackel, Über den bildlichen
Gebrauch von quatre, Arch. f. n. Spr. 123, 145 f.
12) Siehe o. S. 473.
18) Saxo S. 263, Herr mann S. 352.
34*
532 Siebentes Kapitel.
Aufwiegen, Bedecken, Umhüllen gegebener Gegenstände1); so bei And-
vari 2) oder bei Handwans Lösung 3). —
Eine gewisse Klassifikation ist ohne weiteres durch die Sprache
gegeben: sie unterscheidet belebte Wesen von unbelebten (Neutris) und
wieder die belebten in männliche und weibliche; sie schafft Benennungen
für jede Klasse von Wesen: Menschen, Riesen, Zwerge, Elfen, Götter.
Es ist aber zu bemerken, daß eine allgemeine Benennung für alle über-
menschlichen Wesen (»Dämonen«) nicht erreicht worden ist. Stell-
vertretend kann dafür der Ausdruck »Götter« gebraucht werden4).
Eine ethisch begründete Scheidung zwischen guten und bösen Wesen
existiert nicht (auch die von Licht- und Dunkelelfen scheint nicht von
vornherein ethisch) ; ein gemeinsamer Begriff für die Götterfeinde existiert
ebensowenig5). Stellvertretend wird von Riesen und Riesinnen gesprochen
(z. B. bei den Unholdinnen, die Thor bekämpft), was deshalb nicht immer
wirklich verstanden zu werden braucht: eine »Riesin« wie die, die sich
auf der Hadesfahrt Brynhilds aufrichtet, oder die »Riesin« Thökk6) braucht
nur ein »unheimliches Wesen« zu sein.
Die genauere Einteilung in die verschiedenen Kategorien dämonischer
Wesen lebt zwar in der Vorstellung (doch nicht ohne Vermischung be-
sonders von Zwergen und Elfen, Äsen und Wanen), wird aber nirgends
streng durchgeführt. Gelegentlich finden sich aber einzelne Begriffe auf
die Welten verteilt: Nornen für die Äsen — Elfen — Zwerge7); Runen
für die Äsen — Elfen — Zwerge — Riesen — (Menschen ?) 8) — beides
jüngere Stellen. Ferner in einem alten Lied9) die Frage, ob ein Bote
zu Elfen — Äsen — Wanen gehöre10). — Eine systematische Ausbeutung
') Vgl. z. B. J. Grimm, Rechtsaltertümer, 4. Aufl. 2, 236 f.
2) Reg. nach Str. 5.
3) Saxo S. 23, Hermann S. 30.
4) So auch in lateinischer Wiedergabe: fas est belligerum hello prosternere
divum; Saxo 66, 23: im Kriege darf man auch einen kämpfenden Gott nieder-
werfen — die entgegengesetzte Anschauung wie bei Theognis ; vgl. meine
Altgerm. Poesie S. 457. — Diese einfache Einteilung in Götter und Menschen ist
uralt. So scheidet man bei den Hebräern früh die Wohnsitze von Göttern und
Menschen (Boehmer, Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 307). — Vedische Ansätze
zur Klassifikation der Götter bei Macdon eil S. 19.
5) Dafür Teilbegriffe wie die »Leute der Hei« Völ. Str. 51.
ö) Loki; Gylf. cap. 49: Gering S. 346.
7) Fäf. Str. 13; vgl. Mogk S. 284.
8) Häv. Str. 142.
9) Skirn. Str. 17.
10) Vgl. u. Häufig sind nachdruckslose Formeln wie »Äsen und Elfen«
(Skirn. Str. 7; meine Altgerm. Poesie S. 253). Nachklänge dazu noch spät in
christlich-altenglischer Dichtung im Wade-Fragment (Brandl S. 1085).
§ 29. Systembildung. 533
der kosmologischen Klassifikation versucht erst der Dichter der Al-
vissmäl 1).
Eine Klassifikation anderer Art besitzen wir in dem Denkvers über
die »besten Dinge« in der Götterwelt2). Nach dem Muster der Gnomen
über die gefährlichen Dinge3) werden hier ein paar Kimelien heraus-
geholt, Götter, Werkzeuge und Tiere in buntem Gewühl. Daß übrigens
Bifröst die beste der Brücken sei, ist sogar dem Gangleri4) zweifelhaft
geblieben.
Eine gewisse Störung der Klassifikation tritt dadurch ein, daß Personen
aus einer Welt in die andere übergehen. Zwischen Äsen und Wanen
(wo Geiseln getauscht werden) ist ja überhaupt keine so scharfe Scheidung.
Aber auch zwischen Göttern und Riesen besteht commercium und con-
nubium: Gerd5) ist eine Riesin, wogegen allerdings auch öfters6) Miß-
heiraten zwischen Göttern und Riesen oder Zwergen abgelehnt werden.
Riesentöchter sollen die Nornen (?) sein , die 7) zu den Äsen kommen ;
Mimir, Odins Beirat, ist kein Gott. — Halbgöttliche Wesen wie die Wal-
küren, Freys Diener Byggvir und Beyla, Ägirs Diener Eldir und Fimafeng^
Thors Begleiter Thjälfi treffen wir durch alle Perioden hindurch. Auf-
fallend ist aber, daß Freys Diener Skfrnir, als ihn Odin ausschickt (der
wohl seinen eigenen Boten haben könnte), ein »Mann« heißt8). Heinzel-
Detter halten ihn auch wirklich9) für einen mennskr madr , einen
richtigen Menschen10). Sie weisen auf Str. 18, wo Skirnir erklärt, er sei
weder Elfe noch Asensohn noch Wane — aber deshalb kann er doch zu
den Äsen gehören, nur eben als ihr Gefolgsmann, wie die Walküren
keine Asentöchter sind11). Allerdings wendet Skirnir12) den Schicksals-
spruch auf sich an : auf Einen Tag sei sein Leben bemessen 13) ; aber auch
göttliche Wesen können sterben 14), Balder selbst, und durch Ragnarok (das
wohl aber zur Zeit dieses Gedichts noch eine schwankende Vorstellung
x) Über seine Gruppierung vgl. meine Altgerm. Poesie S. 469; über die
allgemeineren Grundlagen solcher Einteilungen ebd. S. 43. Daß wirklich nur
eine systematisch geordnete »Synonymenlektion« vorliegt, zeigt (gegen Schütte,
Indogerm. Forschungen 17, 444f.) Helm, PBB. 32, 103f. 117.
2) Grim. Str. 44, auf »der Schiffe bestes« (Str. 43) aufgepackt.
3) Häv. Str. 80. 84 f. 89.
4) Gylf. cap. 13: Gering S. 307.
B) Skirn. 6) Thrymskv., Alv.
7) Vol. Str. 8.
8) Gylf. cap. 34: Gering S. 324.
9) 2, 199.
10) Wie übrigens auch Byggvir und Beyla Lok. Str. 42 f.
n) Vgl. über die halbgöttliche Gefolgschaft der Götter o. § 15 S. 153f.
12) Str. 13.
13) Vgl. Heinzel-Detter S. 197.
14) Gullveig: Vol. 21.
534 Siebentes Kapitel.
war) wäre ja allen Göttern des Lebens Ende bestimmt. Doch Skirnin
führt sich wohl einfach mit einem geläufigen Sprichwort ein, gerade wiej
Odin bei Vafthrüdnir *). — Endlich weisen Heinzel und Detter selbst2))
darauf hin, daß von der Riesin Gerd wie von einem Menschenkind ge-j
sprochen wird3). Mir scheint denn auch jene Annahme unmöglich.
Ein Mensch als Jugendfreund eines Gottes4) — das widerspricht der
germanischen Art, die Rangverhältnisse zu behandeln ; bei uns findet sich
kein Tantalus, kein Tithonos5). Die Analogien unserer Edda-Kommen-
tatoren6) zeigen auch nur menschliche Hilfe bei Menschen.
Die stärkste Grenzüberschreitung der Klassen aber berichtet diel
Rigsthula. Auch hier möchte man zweifeln, ob die naive Vermischung
menschlichen und göttlichen Ursprungs in Epochen voller Reflexion noch
denkbar war?
Endlich bildet den Gipfel der Klassifikation mit ihren Scheidungen
und Berührungen wieder die Weltesche mit ihrer Vergleichung der Wesen
und Welten 7).
J) Vaf. Str. 10. 2) S. 200.
3) Skirn. Str. 26. *) Skirn. Str. 5.
5) Preller 1, 441. 6) Heinzel-Detter S. 199.
7) Auf der Scheidewand zwischen religiöser Systembildung und gelehrter)
Theologie steht es, wenn besondere Klassen der Kompetenzgötter konstituiert
werden wie bei den 14 christlichen Nothelfern und vor allem bei den lateinischen
dii indigetes : »indiges bezeichnet einen in einer bestimmten menschlichen Handlung,
Tätigkeit, in einer bestimmten Sache, Verbindlichkeit usw., und zwar nur in dieser
einen und in keiner anderen Handlung usw. wirkenden Gott« (Peter in Roschers
Lexikon 2, 1, 133; Verzeichnis S. 134).
Achtes Kapitel.
Altnordische Theologie,
Wir sahen die »Theologen« früh am Werk, bei der Entwicklung
-eligiöser Keime, wie bei der Systembildung in all ihren Formen; aber
>o recht am »sausenden Webstuhl der Zeit« sind sie doch erst auf
lordischem Boden tätig gewesen. Bei der religiösen Evolution ist vor
dlem die Volksseele bestimmend, und ihren Schwankungen darf der
Theolog nur mit Vorsicht folgen. Die äußere Entwicklung freilich, die
Herstellung von Verwandtschaften, das Zählen, das Klassifizieren ist schon
wesentlich Arbeit der Einzelnen, der Priester oder interessierten Laien —
2ben der »Theologen«; denn kein Druidenstand hat bei uns die Kennt-
nisse von den Götterverhältnissen eifersüchtig allein behütet. Aber die
Führung hat auch hier noch das Volk; die Gläubigen geben das Muster,
das die Theologen nur nachbilden und ausbilden.
Gehen wir aber zu den letzten Umformungen des religiösen Stoffes,
so neigt sich die Wage immer mehr auf die Seite der Einzelnen. Einzelne
laben überall das Heidentum mit ethischem Gehalt erhellt; Zarathustra,
Buddha, hebräische Propheten, stoische Philosophen *). Noch folgte ihnen
las Volk vielfach, ohne die naive Bevorzugung des stärkeren Gottes,
aochte er der »bessere« sein oder nicht, ganz aufzugeben. Aber wenn
i>ie sich dann an die eigentliche Gottesgelahrtheit machten, die Grübler
und Forscher, wenn sie die Namen und Charaktereigenheiten symbolisch
festzustellen suchten oder zu einer vollständigen Sammlung des mytho-
logischen Stoffes fortschritten — dann ließ die Gemeinde die Theologen
im Stich und verschob den Dank für diese frommen Bemühungen; er ist
denn auch bei den Mythologen und Theologen neuerer Zeit nicht aus-
geblieben, die bei aller religiösen Aufgeklärtheit der Mythologie gegen-
über es gegenüber den Mythologen an Glauben und frommer Ergebung
nie haben fehlen lassen. Und wenn man die Axt an manch Götzenbild
*) Über »Religionsstifter vgl. Arch. f. Rel.-Wissensch. 10, 101 f. Das beste
Beispiel Zarathustra (vgl. Bartholomae, Die Gathas des Awesta, Straßburg
1905, S. 132.
536 Achtes Kapitel.
von dieser Art legt, werden zwar auch oft nur Mäuse herauslaufen wie ii
den Zeiten der christlichen »Götzendämmerung« und Hammerphilosophie
aber auch noch an den Trümmern läßt sich die geschickte Arbeit, de
hingebende Fleiß und der gute Wille der altnordischen Theologen er
kennen !
§ 30. Moralisierung.
Die Grundzüge der Moralisierung reichen in urgermanische Zei
hinab. Balder muß immer der helle, sympathische, reine Gott geweser
sein, den der dunkle, böse Feind verfolgte. Vor allem : das Dienstverhältnis
zwischen Gott und Mensch trägt in sich die Keime einer gegenseitiger
Läuterung und Veredlung; Treue, Dankbarkeit, Hilfsbereitschaft wird vor
beiden Seiten gefordert und geboten.
Schon indogermanisch schien uns Eine moralische Forderung mii
der Mythologie verknüpft: über der Heiligkeit des Eides wachen die
Götter, und schwere Strafe in der Unterwelt trifft den, der gegen ihre
Bürgschaft gesündigt hat. Aber eigentlich ist auch dies nur ein Sonder
fall der ältesten Tugendforderung: der nach Treue bei freiwilliger Ver-
pflichtung. (Bei der erzwungenen Verpflichtung, im Krieg oder bei
Oberlistung, denkt kein naives Gemüt an Treue.) Man hat sich mit einei
bestimmten Formel den Göttern (oder einzelnen: den Eidgöttern) ver-
pflichtet; sagt man nun nicht die Wahrheit, so läßt man sie im Stich wie
den greisen Beowulf seine feigen Mannen.
Die nächste Stufe zur ethischen Durchdringung der mythologischen
Anschauungen schließt unmittelbar an: es ist die Forderung des Rechtes,
der Gerechtigkeit. Die orientalischen Völker sehen nicht in politischer
Klugheit, kaum in allgemeiner Erkenntnis die Weisheit Salomos oder
Harun AI Raschids, sondern in treffenden Richtersprüchen. Die älteste
ethische Gottheit des Veda, Varuna, haßt und straft die Lüge und die
Falschheit1) und ist milde gegen die, die nur aus Gedankenlosigkeit
sündigen 2). Nur auf die Zuverlässigkeit legt umgekehrt der Gläubige bei
den Göttern Gewicht3) — außer noch natürlich auf ihre Kraft!
Das Zutrauen zu der Gerechtigkeit der Götter liegt implicite in ihrer
Befragung mit Los und Gottesurteil. Aber wiederum liegt etwas wie
Mißtrauen darin, wenn besondere Schützer des Rechts unter ihnen auf
erstehn, wie in der nordischen Religion Thor und außerhalb der (deshalb
wohl rezipierte) Fosite. Und so hören wir ja auch, daß insbesondere
Odin den Ansprüchen an Gerechtigkeit nicht genügt, den Schlechteren
siegen läßt, treulos seine Lieblinge aufgibt, ja sogar meineidig wird4). —
Hier setzt dann die spezifisch theologische Kritik ein, die sachkundige
2) Macdonell S. 26. 3) Ebd. S. 27.
?) Ebd. S. 19. 4) Häv. Str. 109.
§ 30. Moralisierung. 537
jläubige an fremden, d. h. von ihnen nicht zum pilltrüi gemachten
jöttern üben. Damit an Odin und Thor1) eine so einschneidende
noralische Kritik geübt werden konnte, damit der Dichter der Lok. alle
jötter auf Tapferkeit, alle Göttinnen auf Sittsamkeit Revue passieren
assen kann, muß man schon lange über anstößige Erlebnisse der hohen
lerrschaften diskutiert haben — mit dem Behagen Saxos, mit der Sachlich-
keit Snorris, mit der moralischen Entrüstung der Lokasenna. — Bei einigen
jottheiten zeigen sich Ansätze zu rein moralischer Haltung; doch ist
iie Charakteristik der Snotra2) als »fein und weise« erst dem letzten Be-
irbeiter zuzuschreiben 3).
Aber indem jenes Bedürfnis nach Gerechtigkeit, nach Vergeltung
mmer mächtiger ward, sahen wir in dieser Angel die ganze Religion
des Nordens sich dröhnend bewegen. Die angesammelte moralische
Empfindung krystallisiert um den Gegensatz Balder - Loki und findet
überhaupt in Loki die unentbehrliche Verkörperung des negativen Ideals.
Und Ragnarök sammelt dann um Odin, der doch selbst Weiber betrog
und Könige im Stich ließ, die Guten, um Loki, der einst doch ein hilf-
reicher Geselle des strengen Thor war4), die Bösen. Die Völuspä ist
[getränkt von ethischen Anschauungen, sie nimmt nicht nur die Spuren
früherer moralisierender Mythologie eifrig auf5), sondern sie macht den
Sündenfall der Götter zum Hebel des ganzen Weltenschicksals6).
Snorri vor allem führt dann die Moralisierung weiter, worauf im
einzelnen hier nicht weiter eingegangen zu werden braucht. Für Loki hat
er statt der heimlichen Sympathie der Volksseele nur Abscheu und kann
sich in Höllenstrafen für den armen Teufel nicht genug tun; dagegen
sind alle Götter edel 7). Trotz alledem ist es auch bei ihm nicht gelungen,
diese Ethisierung so weit durchzuführen wie in der Heldendichtung, die
nach Uhlands schöner Schilderung ganz auf die Zweiteilung in Treue und
Untreue gestellt ist. Die altgermanische Mythologie bleibt selbst noch in
Snorris Darstellung eine hochstrebende Barbarei, großartig, kraftvoll, aber
die Fesseln der Moral zerreißend wie die Miltonischen Ungeheuer des
götterfeindlichen Heeres ihre Bande zerreißen.
!) Härb., z. B. Str. 38. 51. 2) Golther S. 436.
3) Vgl. u. 4) Thrymskv.
B) Vol. Str. 38; Golther S. 474.
6) Aus diesem Bedürfnis nach dem »rechten Recht«, aus der Gerechtigkeits-
liebe ist auch bei den Hellenen die stärkste Wurzel aller Moral erwachsen: die
Ehrfurcht vor der Wahrheit (vgl. Hirzels schöne Rede zur Feier der akadem.
Preisverteilung, Jena 1905, S. 5 f.). Bei den Hebräern scheint dagegen das bei
Hellenen, Ägyptern, Römern, Germanen (ebd. S. 8) sekundäre Verhältnis der
Wahrheit zu den Menschen (ebd. S. 15) primär zu sein; vgl. Gunkel, Genesis,
S. 25 über den Baum der Erkenntnis.
7) Vgl. u. über die Charakteristiken Snorris.
538 Achtes Kapitel.
Natürlich hat das große Tugend so wenig ausgeschlossen wie i|
irgendeiner Religion auch nur die bedenklichsten Vorschriften sie ui
möglich gemacht haben. Edle Männer werden uns geschildert wie jem|
Gisli Sürsson J). Aber selbst Starkads rauhe und bedenkliche Tugend ist merj
am Busen der heroischen Dichtung genährt als am Vorbild der Götte
und Gestalten wie die der Helgilieder, wie Sigurd, hat kein Gläubige)
und kein Priester aus dem wilden Eichenholz der Äsen und Wanen zj
schnitzen vermocht.
§ 31. Namengebung.
Außer Weinhold2) scheint niemand mit der mythologischen Namenl
gebung der Germanen sich systematisch befaßt zu haben; und auch e|
beschränkt sich auf das Äußerliche, worin sie mit der alten Namengebunj
überhaupt zusammenfällt: Binden von Namenpaaren durch Stabreim j
Endreim, rührenden Reim. Kaum daß die Elemente der Götternamen
gestreift werden.
Die Wichtigkeit der Einzelnamen ist nicht nur nie verkannt, sondern
sogar zumeist überschätzt worden; auf die generelle Wichtigkeit aber)
dieser Benennungen hat erst Usener3) mit Entschiedenheit hingewiesen.!
Für die Namengebung in der germanischen Mythologie lassen sich
die wichtigsten Gruppen zeitlich und inhaltlich nicht schwer scheiden.
Aus urgermanischer Zeit haben wir drei Gruppen von Götternamen:
1. ererbte oder neue von partizipialer Bedeutung, d. h. gebildet aus einem |
Verbalstamm mit irgendeinem Suffix für Nomina agentis: Tiuz-Tyr der
Strahlende, Wodan der im Sturm daherführt, Thonar der donnert, Bälden
der Leuchtende. Vermutlich wird auch Nerthus hierher gehören, deren Namen
allerdings Noreen und Kögel unter Zustimmung von Mogk und Leitzmann 4)
zu griechisch v£qt£qoi »untere Götter« stellen. Zwar der Plural könnte bei
dem Paar Nerthus: Njörd bestehen; aber lokale Bezeichnung germanischer
Gottheiten ist problematisch. 2. Neue Namen (d. h. so viel wir sehen
nicht ererbte), die wie Wurzelnomina aussehen und an irgendeine wahr-
scheinlich nicht verbale Wurzel direkt die Endungen fügen: Ingo, Isto,
Alces; vielleicht auch Irmin. Der deutliche Name Mannus (wie die jüngeren
Anologien Bur, Buri) kennzeichnet diese Namen als spezifisch gebrauchte
alte Nomina: »Mensch«, »Ankömmling«, »Herr« (Irmin?), die freilich von
uns zum Teil auch zu Verbis in Beziehung gesetzt werden, bei denen
aber ein lebendiges Nebeneinander von Verb und Nomen nicht mehr
gefühlt wurde. (Das gilt zwar für die urgermanische Zeit für den ur-
*) Olrik S. 96.
2) Altnord. Leben, S. 265.
3) Götternamen, Bonn 1896.
*) PBB. 32, 65.
§ 31. Namengebung. 539
rünglich »partizipialen« Namen Tyr auch.) — Der Verwendung eines
aminalstammes als Titel kommt Frija-Frigg, »die Geliebte«, schon nach.
Isolierte Namen mit einem spezifischen Suffix: Tanfana, wohl dem
äteren Badu-h-enna, Nehal-ennia (mit Suffixverschiedenheiten, wie sie
zischen dem ost- und westgermanischen Infinitiv bestehen) in der Bildung
rwandt; vermutlich Berufsnamen: die sich mit Opfern, Krieg, Schiffen
ischäftigen x). — Der Unterschied ist inhaltlich der: die erste Gruppe zeigt
e Götter in einer bestimmten Tätigkeit; die zweite im Besitz einer he-
mmten Eigenschaft oder Fähigkeit ; die dritte mit einem bestimmten Amt
rtraut. — Natürlich bleibt manches unsicher; Baduhenna ist — für so
ihe Zeit unwahrscheinlich — als Kompositum, Wodan als Amtsnamen
er die Aufsicht über die »Wode« benannten Geister hat, wie gotisch
iudans zu thiud) gedeutet worden.
Diese drei Namensklassen kommen überall vor. Verbal, participial
heinen (neben Zeus und Ju-piter) Apollon 2), Helios 3), Pan 4), vielleicht
ich Hermes 5) ; dazu Cognomina wie Jupiter Pluvius ; indisch Pushan 6),
udra7); in sehr deutlich partizipialer Verwendung Vivasvat8) u. a. —
ominale Namen (man verzeihe den Ausdruck!) sind vielleicht Ares9)
id, der Frigg genau entsprechend, Hera10); ähnlich Köre11), indisch Mitra
Freund«12). — Berufsnamen mit einem n- Suffix: Athena (zu Ab-
rennen)13); Varuna, der Herr der Himmelsdecke?14); Volcanus15);
ino16). — Das Suffix ist wohl wirklich identisch mit dem der späteren
mts- und Berufsnamen n).
Außer diesen drei indogermanischen Gruppen von Götternamen gibt
> nun aber eine Reihe von andern, für die ebenfalls eine ungefähre
Chronologie möglich scheint:
4. Für sehr alt können wir eine Reihe von unerklärten Namen an-
brechen wie Indra, Rhea 18), Priapos, Mars, Lar 19). Oberwiegend werden
x) Vgl Golther S. 459. 460. 463.
2) Preller 1, 232. 3) S. 429.
4) Der Weidende; S. 738. 5) S. 385 Anm.
6) Macdonell S. 37. 7) S. 77.
8) Ebd. S. 43. 9) Preller S. 335, 1.
10) S. 160. n) S. 748.
12) Macdonell S. 30. 13) Preller 186, 1.
14) Vgl. Macdonell S. 28.
16) Der über das Feuer gesetzt ist : velgo, glühen, leuchten (Fick, Indogerm.
Wörterbuch 1, 552.
16) Wissowa S. 115, zu der Wurzel von Juppiter.
17) Indisch räjan, König; lateinisch caupo , Gastwirt; griechisch t&kov,
immerer; gotisch nuta, Fischer: Kluge, Stammbildungslehre d. altgerm. Dialekte,
alle 1886, § 15; vgl. für Namen wie Wodanas Jiriczek, Göttinger Gel. Anz.
09 S. 95.
18) Preller 1, 638. 19) Wissowa S. 153.
540 Achtes Kapitel.
sie zwar zu dem Typus Alces x) gehören ; es ist aber gar nicht gesa|
daß sie überhaupt Etyma haben: es können dunkle Eigennamen se
lautsymbolischer Natur oder durch irgendein Geräusch, das der Gö
selbst von sich zu geben schien, oder wie sonst veranlaßt2).
5. Sehr alt sind auch Fetischnamen, die die Gottheit unmittelbar n
dem sie umhüllenden Gegenstand benennen: Hestia3) = Vesta4); Janus
vielleicht auch die römischen Augenblicksgöttinnen der Pest6) und cf
Fiebers7), die mit den Abstraktgottheiten8) nicht zu verwechseln sind:
gibt nur Eine Themis, aber jeder hat sein persönliches Fieber. Den Unt
schied zeigt die lateinische Victoria9), Augenblicksgöttin des Einzelsie
gegenüber der griechischen Nike10), der mit »Zeus untrennbar verbundene:
Siegesgewalt.
6. Nahe verwandt sind die Naturgegenstände, die ebenfalls als Hei
göttlicher Kräfte gelten: Eos, Selene, Gaia, Sürya11), Ushas 12), Prthivi (w
man sieht, griechisch und indisch zum Teil identisch) ; ferner die wichtige
indischen Gottheiten Agni und Soma.
7. Altertümlich ist auch die Benennung nach Ort oder Attribut: »d
mit den Rossen« 13), »die in der Vorratskammer« u), »die in der Höhle«11
Diesen sieben Gruppen alter Namen (isolierte Namen: verbale un
nominale; sekundäre Amtstitel ; Namen vom Sitz der Gottheit im Fetiscl
Wurzelnamen; Sitz im Naturgegenstand oder nach einer andern lokal
Bestimmung) schließen sich nun aber drei jüngere an:
8. Komposita, meist genealogischer Natur. Sie gehören bei d
Hellenen meist fremdbürtigen Gottheiten : Aphrodite die Schaumgeborene 16
Dionysos17); oder solchen, deren Gestalt erst später voll entwickelt wurd
Persephone 1S), Ganymedes19). Bei den Indern gehört hierher der charakt
ristische Brhaspati 20). Auch Patronymica wie Dioskuroi und Metronymic
wie Adityas21) sind hierher zu setzen. Im Veda gibt es eine ganz
Gruppe solche zusammengesetzter Namen epithetischer Art22).
!) Siehe o. S. 538.
2) Vgl. meinen Aufsatz Isolierte Wurzeln, »Wörter und Sachen 1, 34 f.
3) Preller 1, 422. 4) Wissowa S. 112.
5) Wissowa S. 112. 6) Lua; S. 171.
7) Febris; S. 197. 8) Siehe u.
9) Wissowa S. 127. 10) Preller 1, 494.
n) Macdonell S. 30. 12) S. 46.
13) Acvins; Macdonell S. 48.
u) Penates; Wissowa S. 145
15) Kybele? Preller 1, 640.
16) Preller 1, 353. 17) Vgl. ebd. S. 660.
18) Vgl. S. 755. 19) S. 499.
20) Macdonell S. 101.
21) Ebd. S. 45. 22) Ebd. S. 118.
§ 31. Namengebung. 54]
1 9. Neue durchsichtige Benennungen als Nomina agentis1) oder
Ijektiva 2).
10. Abstrakta: Themis, Nike, Hebe, Ate, Tyche, Eros und seine
DPe3); Fides4).
Natürlich kann ein alter Gott einen jungen Namen erhalten, wie
;nn der Beiname Silvanus5), allzu deutlich gebildet, sich von Faunus
t. Auch das Umgekehrte ist möglich: ein junger Gott kann einen
en Namen erben. Im Ganzen wird es für das Alter eines Gottes
gefähr einen Fingerzeig bieten, ob sein Name der einen oder der
dem Schicht angehört. Freilich bleiben nationale Eigenheiten zu be-
bten; bei den Römern, die mehr altertümlich isolierte Götternamen
ben als irgendein anderes indogermanisches Volk, sind daneben die
)strakta früh eingeführt; bei den Hellenen sind sie später, dann aber
erwuchernd beliebt, bei den Indern niemals. — Indogermanische
imonen haben zumeist Namen vom Partizipialtypus wie der Lichtgott
raus oder die Elfen — Ribhus6). — Ich möchte diese Art überhaupt
* die älteste halten: sie benennt die unbekannte Macht nach ihrer Art,
;h kundzugeben. Die Namen mit -n scheinen der ältesten Schicht
rentlicher Götternamen anzugehören : sie umschreiben zuerst eine Kom-
tenz, Aufsicht über das Feuer, die Schiffe, den Kampf usw. — Sehr
i müssen natürlich auch die isolierten Namen sein; sie scheinen alle
sprüngliche Namen von Dämonen, die zum Teil Götter wurden (wie
irs). Ganz so alt werden die Lokal- und Attributnamen nicht sein,
p schon eine feste Kultstätte und ein ungefähres Bild voraussetzen. —
e nominalen Eigennamen sind vielleicht alle aus verbalen abzuleiten.
>ch entwickelt sich aus ihnen (nach dem Typus Hera— Köre) früh eine
ae Kategorie: die Respektnamen.
An die indogermanische Nomenklatur der Götter setzt sich nämlich
di ein zweiteiliger Ast an, der in proethnischer Zeit erst zu keimen,
ftr noch nicht zu blühen scheint: 11. Aus Beinamen werden Eigen-
men, wie Silvanus; besonders oft in griechischen Lokalnamen: Kynthia,
fpris usw. (Es ist der gleiche Vorgang wie wenn Beinamen zu
imiliennamen werden: Fairfax, Langbein, oder Franke, Dühring, Sachs.)
> häufig bei den Indern7). 12. Von den nominalen Benennungen
x) Der Typus -tr; vgl. Macdonell S. 115: Tvastri; Savitri S. 34.
2) Daksha, »Geschickt«; ebd. S. 46.
3) Preller 1, 501.
4) Wissowa S. 123; vgl. allgemein für den Veda Macdonell S. 118; für
n Avesta Bartholomae, Die Gathas des Awesta, Straßburg 1905, S. VII.
5) Wissowa S. 175.
6) Macdonell S. 133.
7) Macdonell S. 118 f. — Vgl. allgemein Meillet, Einführung in d. vgl.
"am. d. idg. Sprachen, Leipzig 1902, S. 241.
I
542 Achtes Kapitel.
zweigen sich die Titel ab, ebenfalls zuerst neben dem Namen (wie
Dyauspitä-Juppiter), dann selbständig (wie christlich : der Herr) x).
Mit diesen sieben Kategorien der ersten, drei der zweiten, zwei
dritten Schicht ist die Klassifikation der Götternamen wohl im wese
liehen gegeben; natürlich können Sonderbildungen besondere Grupp
verlangen , wie z. B. die periphrastischen Namen 2) sich von den Ko
positis abzweigen, oder die Ortsnamen eine besondere Abteilung un
dem selbständig gemachten Beinamen fordern mögen. — Diese Obersi
der zwölf Klassen von indogermanischen Götternamen dient uns nun
der weiteren Prüfung der germanischen als Voraussetzung.
Aus römisch-germanischer Zeit haben wir Amtsnamen v
Baduhenna, Nehalennia3) und neue Abstrakta vom indischen tr-Typ
wie Sandraudiga (wenn wir es richtig deuten; zugleich Kompositut
Vercana (griechisch 'EQydvy, Beiname der Athene) — sie entspringen c
menschlichen Arbeitsteilung und sind für die Bildung besonderer Innung
oder Künste charakteristisch.
Beide Klassen deuten auf zunehmende Kompetenzteilung unter dl
Göttern.
Aus der jüngeren germanischen Periode stammt: Bald
ein Partizipialname. Aus der gleichen Periode alte nordische Name|
Frey, Titel (»Herr«), nachgebildet dazu Freyja; Hofud, wenn dies Heimda
älterer Name ist, ebenfalls Ehrenname: Haupt, Häuptling; Hönir, Lodi
Hod, wohl alte verbale Namen verdunkelten Ursprungs; ebenso Mim
vielleicht Ymir, Loki; nominal Bur, Buri; fremden Ursprungs vielleic
Skadi, Rfg.
Die deutschen germanischen Sonderentwicklunge
zeigen Komposita wie Saxnöt, Sinthgund, und Naturnamen: Sunn
Abstraktnamen: Volla. Im Nordischen ist von den großen Name
katalogen4) zunächst abzusehen. Dann blieben noch zahlreiche neu at
tauchende Namen: 1. Dunklen Ursprungs (wahrscheinlich symboliscl
Namen): Götternamen wie Widar5), Rind, Wali6); Dämonenname
wie Hrym, Surt7); unsicherer Bedeutung Hlyn8). 2. Verbal wohl Garr
Hei (eigentlich ein Abstraktum). 3. Nominal vielleicht Uli (Glanz),
Magni, Modi. 4. Berufsnamen mit -n: Hlödyn-Hludana9); vielleicht au(
Idun; Sigyn? 5. Appellativa: allenfalls könnte man Hei auch hierh
!) So finnisch ahti, »Gott«, als Eigenname (Ohrt, Kalewala, S. 216).
2) Indisch Apäm napät; Macdon eil S. 69.
3) Siehe o, S. 399 f.
4) Zwerge Völ. Str. 9 f., Walküren ebd. Str. 31; Nachkommen Rigs in d
Rigthula; allerlei Namen in Grim., Vaf., Alv.
B) Völ. 6) Veg. 7) Völ. 8) Völ.
9) Golther S. 461.
§ 31. Namengebung. 543
teilen. 6. Naturgegenstände: nicht vertreten. 7. Lokalnamen: nicht ver-
-eten. 8. Komposita: als einziger Göttername (wie oft bemerkt) Heim-
all; ferner Gullveig x); in Grfm. Heidrun, Eikthyrnir und viele andere;
i der Völuspä noch besonders Yggdrasil, Eggther. 9. Abstrakta : Heid 8) ;
ie drei Nornen3). 10. Neue durchsichtige Bildungen: Nominia agentis
/ie Forseti (durch Volksetymologie), Eldir, Byggvir, Beyla. 11. Alte Bei-
amen: nicht vertreten. 12. Titel: Bragi (wenn nicht entlehnter Personen -
ame). —
Wenn für diese Übersicht etwas charakteristisch ist, so ist es die
Systemlosigkeit«. So wenig wie die Völkernamen (wo man es versucht
tat), lassen sich die Götternamen mit Einem Schlüssel alle öffnen. Und
as ist recht so, wie bei jeder Namengebung. Man betrachte doch nur
|ie so streng geordnete Titulatur unseres Heeres! wie da alle Prinzipien
urcheinandergehen : absolute und relative Titel (Oberst — Leutnant), Amts-
ind Ehrenbezeichnungen (Wachtmeister, Feldwebel — Hauptmann), ein-
iche und zusammengesetzte Worte (Fähnrich — Feldmarschall), deutsche
nd fremde (Rittmeister — Major) und übersetzte (Gefreiter, was bei den
syrischen Hartschieren noch heut »Exempt« heißt; Marschall, mit Rück-
)/anderung). Und die Logik unterliegt auch, wenn zwar der Major ein
11t Teil mehr ist als der Leutnant, aber umgekehrt der Generalleutnant
iiehr als der Generalmajor; oder bei dem ganz jungen Titel General-
i>berarzt, der unter dem Generalarzt steht, obwohl der Oberarzt über dem
irzt steht. — Die Systemlosigkeit ist Beweis historischen Werdens; und wo
/ir einmal systematische Anordnung treffen (wie bei den Generalstiteln),
la haben wir jüngste Klassifikation. Und so ists bei den mythologischen
Jamen eben auch.
; Sonst ist zu der letzten Phase mythologischer Namengebung4)
ioch anzumerken: es fehlen ganz oder fast ganz die an bestimmte
Grundlagen geknüpften Namen ; Söl ist jung. Ebenso die Abstraktnamen
s auf die der Nornen; also haben die germanischen Götternamen sich
nmer den Charakter eigentlicher individueller Personennamen gewahrt,
lüle Komposita, alle deutlichen Begriffsnamen sind verdächtig, und machen
hre Träger verdächtig, soweit sie nicht erst übertragen sind (Heimdali,
rorseti). Und herrschend sind durch die gesamte germanische Religion
hindurch die drei Kategorien, die wir schon in der Urzeit fanden, samt
ler der isolierten Namen (zu denen von den urgermanischen die Alces
gehören könnte)!
Also eine große Gleichartigkeit der Namengebung. Echte alte Götter
md Dämonen haben isolierte Namen, oder primitive Wurzelnamen, oder
*) Vol. Str. 21. 2) Völ. Str. 22.
3) Völ. Str. 29. *) Doch vgl. u.
544 Achtes Kapitel.
»Kompetenznamen« mit n-Suffixen. Und alle anderen Kategorien, seil
die der Komposita deuten auf jüngeren Ursprung.
Mit diesem Schlüssel in der Hand betrachte man vorläufig einm
das durch seine Systemlosigkeit noch bestechende Verzeichnis der Asinn
bei Snorri *). Da finden wir noch immer alte symbolisch klingende
Namen wie Hörn, Syn, Gnä; einfache Komposita wie Mardell sind sehe
bedenklich, so oft man auch gerade für diesen Namen Lanzen gebrocht ich!
hat2). Daneben Abstrakta wie Fulla (auch althochdeutsch) und Eir, Wp
und Syn; Appellativa wie Hnoss (Schmuck), junge deutliche Bildungc
wie Snotra, Sjöfn, Lofn, die fast alle Snorri selbst erklärt. Auch s
können zum Teil dennoch alte Idisi sein, aber aus ihren Funktion*
sind dann eben junge Namen herausgezogen; dagegen sind Abstral«
namen wohl für Götter, aber3) nicht für dämonische Wesen zu b
anstanden; wie denn Fulla noch durch die althochdeutsche Parallele g
stützt ist4).
Und nun zu der eigentlichen theologischen Namengebung!
Zu den nordisch-theologischenGötternamen nehmen wi
wie immer, Namen von Dämonen, göttlichen Tieren, Attributen u. dgra
hinzu. al
Ich beginne mit den Katalogen in Eddaliedern. Völuspä, Erst< fe
Zwergenkatalog Str. 10 f. Systematische Bestandteile sind vorhanden: d ei
Namen der vier Weltrichtungen, Nyi und Nithi die Mondphasen 5). Danebee.
zahlreiche Appellativa wie Thekkr, Vitr, Litr und mit Zusammensetzung,
Nyräthr und Räthsvithr 6) ; Namen, die bei Zwergen (Litr Dainn) un
Menschen (A'nn) belegt sind7). Mit einem anderen Zwergen katalog stimnL
der unserige großenteils überein. — All das spricht gegen ganz neue Ei
findung. Die Theologen haben von überallher Namen gesammelt, di
für Zwerge dienten — oder dienen konnten; haben sie mit gehäufte
Reimklängen8) in Verse gebracht, wie Hesiod oder — Theodor Fontan
ihre nafnathuliir . Kein Zwergname ist beglaubigt, weil er im Dvergata'
steht ; da aber alte echte Zwergnamen überliefert scheinen, ist auch keine»
deshalb allein verdächtig.
stei
ie
jei
ie
ir
rer
1) Gylf. cap. 35: Gering S. 326.
2) Vgl. zuletzt Helm, PBB. 32, 109.
3) Vgl. o. S. 540.
4) Man muß noch bedenken, daß die Skandinavier eine wahre Leidenschaf
für das Namengeben zeigen : nicht nur Schiffe, Rosse, Schwerter werden benann
sondern auch einzelne Armringe (Wein hold, Altnord. Leben), besonders gut«
Äcker (»der gewisse Geber«, S. 85); ebenso bei den finnischen Nachbarn jede
einzelne Zauberpfeil (ebd. S. 206).
B) Heinzel-Detter S. 20.
6) Ebd. S. 21. 7) Ebd.
8) Vgl. meine Altgerm. Poesie S. 249. 303.
§ 31. Namengebung. 545
Zweiter Zwergkatalog Str. 15 f.: Viele deutliche Appellativa x) ; die
eisten kehren in einem anderen Dvergatal wieder. Aber hier haben wir
:hr verdächtige Stücke: den Hahn Fjalar, den Ring Draupnir; die späte
'ildung mit -thrasir2), den Odinsnamen Här; leicht veränderte Asen-
imen wie Skirfir (statt Skirnir), Yngvi (statt Ingvi); Komposita wie Hlewangr
id das (beiden Listen gemeinsame) Eikinskjaldi. Sicher echt ist hier
cht Ein Name; aber die ganze Liste kann erfunden sein — vielleicht
n einer lokalen Zwergensage3) eine Unterlage zu geben. — Aber
■lmerhin: eine systematische Namengebung ist auch dies nicht.
Walkürenverzeichnis Str. 31 f.: Es gibt eine ganze Reihe von Namens-
»ten der Schlachtenjungfrauen4). Ursprünglich waren sie namenlos, wie
e Idisi des Merseburger Spruches, wie noch Helgis Walküre5). Es ist
)er kein Zweifel, daß sie früh individualisiert wurden6), aus dem Kult
ie aus der Heldensage7). — In allen Listen finden wir Skoogul und Hild;
r das Alter des ersten Namens spricht auch seine metaphorische Ver-
endung8), sowie daß er in unserer Stelle selbst gleich noch als Kom-
>sitionsteil — in Geirskögul — wiederkehrt. Hild ist freilich ein Ab-
raktum, was ja aber bei einem nicht göttlichen Wesen kein Bedenken
it9). Damit sind denn auch Namen wie Gltd »Krieg«, wie Hild gerecht-
rtigt; auch der spätere Nornenname Skuld, der die Verpflichtung gegen
m Kriegsgott, den Schlachtentribut bedeutet. Auffallend ist, daß der gut
'^zeugte Walkürenname Herfjötur10) fehlt; aber er. mag lokal sein, oder
br Dichter wollte nur zweimal drei Walküren nennen 11). Wir werden
'so auch hier entscheiden dürfen: die thula beruht auf Sammeln, nicht
if Erfinden. Sonst wäre der Dichter auch nicht bei der kleinen Zahl
ihen geblieben.
Dann die G r i m n i s m ä 1 : auf die Namenmache dieses Gedichts haben
,r schon wiederholt hinzuweisen gehabt. Hier ist noch einmal das
*) Heinzel-Detter S. 24.
2) Vgl. ebd.
3) Str. 14; vgl. aber Heinzel-Detter z. St.
4) Vgl. Heinzel-Detter 2, 42.
5) Helg. Hjörv. Str. 6f.
6) Vgl. o. S. 159.
7) Sigrdrifa— Brynhild; vgl. Gering zu Faf. Str. 4. 5.
8) In men-skögol; Gering, Vollständiges Wörterbuch zu d. Liedern d. Edda,
alle 1903, S. 952.
9) Genau so hat Ares um sich neben der alten Enyo die Abstrakten Deimos
id Phobos, Furcht und Schrecken (Prell er 1, 338).
10) Golther S. 113.
n) Wie zu Helg. Hjörv. Str. 6 ihrer dreimal neun reiten (ebenso sonst in
einen zu drei, Golther S. 316, der sonderbarerweise die Norne Skuld unter
e Walküren einstellt).
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 35
II
546 Achtes Kapitel.
durchaus systematische Vorgehen bei der Taufe nachzuweisen. Zunäch
bei der Benennung der Heime. Gegeben sind Noatün und (als Pala<
Walhöll: »Schiff statte« — wohl nicht mehr etymologisch durchsichtig
und »Halle der Gefallenen«. Nach dem letzten Muster wurden Nameiid
gebildet, die den Sitz nach seinen Bewohnern bezeichnen: Alfheim »Elfei
heim«1), Thrymheim für die Riesen (der Riesenname Thrym nach b
liebtem Skaldengebrauch für den Riesen überhaupt), Folkwang »Volle v
gefilde« für Freyja, weil auch ihr viel Volks zukommen soll. (Deshal
auch die Halle Sessrümnir »an Sitzen geräumig«, mit Suffix -nir!, der
Übereinstimmung, mit Beinamen Pluton wie Ttolvdtxzrjg2), daher niclr
beweist.) — Oder noch lieber wird der Name aus dem Charakter d
Gottes abgeleitet: Thors Heim heißt »Welt der Stärke«, der Bezirk v
Walhall »Welt der Freude« , der Balders »weiter Glanz« , der Forset
(bei dem das Dach aus Gold und Silber motiviert ist) 2), »der Glänzende«§ii
Heimdall, der Himmelswächter, wohnt in der »Himmelsburg«. — Dritte
werden die Namen aus dem allgemeinen Typus der Tempelumgebun
gebildet: Sökkvabekk, wo der Bach herabstürzt, Widi Wald wiese (?); m
Spezifikation im Sinne der vorigen Gruppe verbunden Ydalir »Eibe
tal«. Endlich aus dem Namensteil von Walhall und dem Hochsi
Hlidskjälf wird der Bau Wälaskjälf aufgebaut. — Absichtliche Benennun
scheint hier unmöglich zu verkennen. Es ist ganz dieselbe Art, wie noc
heute Romandichter ajtmodischen Stils die Ortsnamen für ihre Handlun
erfinden.
Was die anderen Namensgruppen betrifft, möchte ich wetten, da
man drei Namen wie die auf -hrimnir3) nirgends findet, wo echte alt
Namengebung vorliegt. (Dagegen ganz von der gleichen Art der Brunnfe
Hvergelmir, der Urriese Örgelmir und sein Nachkomme Bergelmir4).
Deutliche adjektivische oder appellativische Namen mit überein
stimmender Suffixbildung zeigen ferner Freki und Geri, Muni und Hugii
(Str. 19—20). Älter könnten die Namen Sköll und Hati (Str. 39) für di
Sonnenwölfe sein. — Auch an die reimenden Umschreibungen für dei
Wolf Fenrir, Thiodvitnir (Str. 21) und Hrodvitnir (Str. 39), der ruch
bare Wolf, ist zu erinnern.
Vereinzelte Namen: Thund (Str. 21) für den angeblich Walhall um
strömenden Fluß — »die Schwellende« — , fast zu »passend zu den
x) Aber warum für Frey? Vgl. Gering zu Str. 5.
2) Much, Himmelsgott, S. 269.
3) Vgl. o. S. 429. 4) Str. 18; vgl. o. S. 455.
5) Vaf. Str. 261; Gylf. cap. 4 f.: Gering S. 300 f. Etwas anderes ist natür
lieh die Bindung mehrerer Gesippter durch den gleichen einfachen Namen
bestandteil, z. B. -vulf (meine Altgerm. Poesie S. 197) oder Gerwendill-Horwendi
(Saxo S. 86, Hermann S. 110).
§ 31. Namengebung. 547
olgenden« !). — Walgrind, die Totenpforte (Str. 22) zu Walhöll (Str. 23). —
ilskirnir (Str. 24): der milde Reinheit ausstrahlt? später eingeschobene
trophe; der Name vom Typus Glitnir, doch zusammengesetzt. — Heidrun
nd Eikthyrnir (Str. 25— 26) 2); dazu der Baum Läräd (Schutzspender??). —
lätte der Dichter die Namen erfunden, so hätte er sie durchsichtig
iemacht und untereinander in Beziehungen gesetzt3). Die Namen werden
üs der Zeit stammen, in der die Skalden sich des mythologischen Stoffes
emächtigten: es werden »kenningar« sein, poetische Umschreibungen
ie Yggdrasil auch. —
Fernere Kataloge: Eine ganze Reihe von »thulur«, Namenlisten, er-
illen Grimnirs Gesang im feurigen Ofen. 1. Stromkatalog Str. 27 f.:
:0 Götterflüsse, dann Flüsse der Menschen4). Einige wenige, wie Slfd,
ind auch sonst belegt; andere haben Abstraktnamen wie vielleicht » Ver-
weif lung« und »Hoffnung«5). Auf ein wirkliches Aufsammeln verlorener
lußnamen deutet das sonderbare »zwei Kerlaugflüsse« G). Die Flußnamen
ind überall besonders mannigfaltig 7). Im Ganzen haben wir wohl einfach
tue übliche thula: rechte und unechte Namen gehäuft (wieviel Reime und
anklänge sich sogar bei echten Ortsnamen ergeben, zeigen Fontanes
vlärkische Klänge8).
2. Die Rosse der Äsen (Str. 30) haben ganz junge Namen9).
3. Yggdrasils Bevölkerung: nur der Name Nidhögg scheint so alt
vie der von Yggdrasil selbst. Ratatosk, »Nagezahn«, ein künstlicher
teme, vielleicht einfach eine Kenning für das Eichhörnchen; vier mit D
lliterierende Namen für die Hirsche, zum Teil alte Zwergnamen (weshalb
x) Heinzel-Detter z. St.
2) Vgl. o. S. 463.
3) Der Name Heidrun kommt auch althochdeutsch als Chaideruna vor und
■drd Hyndl. Str. 44 f. appellativisch verwandt (Heinzel-Detter 2, 181).
4) Heinzel-Detter 2, 182.
5) Ebd. nach Falk.
6) Str. 29; »Kerlaug heißt sonst Wannenbad« (Heinzel-Detter), also
vielleicht Name eines dünnen Flüßchens; in Leipzig pflegten wir nach dem Bad
:u sagen: »jetzt geh ich in die Pleiße, um mich abzutrocknen«.
7) Kleine Probe bei Noreen, Ortnamnen i Sverge, Uppsala 1909, S. 11.
8) Vgl. R. M. Meyer, Euphorion, Erg. H. 8, S. 167. — Ähnlich in 1. Mos.2,8f.:
die geographischen Vorstellungen, die diesen Angaben zugrunde liegen, sind so
dndlich, daß es gänzlich verfehlt ist, dies Stromsystem in der wirlichen Geographie
>estimmen zu wollen . . . Das Weltbild des Verfassers ruht nur zu einem Teil
tuf der Wirklichkeit, zum anderen Teile aber auf Traditionen, deren Herkunft
edenfalls nicht in wirklichen geographischen Verhältnissen gesucht werden kann.«
junkel, Genesis, S. 7. — Allgemein vgl. H. Berger, Mythische Geographie,
juppl. 3 zu Roschers Lexikon.
9) Nicht genau wiederholt Gylf. cap. 15: Gering S. 310. Eine umfängliche
Sammlung von Namen für Pferde bei Wein hold, Altnord. Leben, S. 48.
35*
\
ich
esc
548 Achtes Kapitel.
solche gewählt?); Schlangen mit erfundenen Namen: »Gau- und Steppe $ic
bewohner«, »Nagewolf« und »Feldzernager«, »Graurücken«, »Schlinge ioldei
macher« und »Einschläferer« (von der betäubenden Macht des Schlange
blicks vgl. das Naturmärchen vom Basilisk) nach Gerings Verdeutschung. -
Wir haben kein Recht, hier auch nur Einen Namen für altüberliefert 2
halten: es liegt ganz systematische Namengebung vor.
4. Walkürenliste (Str. 36 f.): von der gleichen Art wie die in d
Vol.; hier auch Herfjötur. Die Reimspiele noch weiter ausgedehnt.
5. Bezirk der Sonne — Gegenstück zur Weltesche. Erfundene Name
mit durchsichtiger Bedeutung für die Sonnenrosse, den Sonnenschild ; noc g
unbenannt die Blasebälge; alt vielleicht1) die Namen der Sonnenwölf
6. Katalog der besten Dinge (Str. 44): späte Zusammenstellung mei:
junger Namen.
7. Verzeichnis von Odins Namen (Str. 46 f.): zumeist echte alte, isoliert
Namen (wie Grim, Oski, Omi) oder Beinamen (wie Herblindi, Heerverblendei
Siegvater, Härbard = Graubart). Diese prunkvolle Aufrollung des große
Wappens ist ja die eigentliche Spitze, auf die das ganze Gedicht gearbeite
ist: der verkannte Gott soll sich »in all seiner Furchtbarkeit« 2) offenbarer
und Geirröd, der ihn nun sieht (Str. 53), stirbt vor Entsetzen wie Semele*
oder durch den Fluch Odins (Str. 52) oder durch eine verhängnisvoll
Waffe, wie Much4) will. Hier denn haben wir eine sicher alte thula
Mag auch hier der theologische Sammeleifer interpoliert haben5) — in
Wesentlichen liegt eine echte priesterliche Prunkliste vor. Jeder diese
Namen bedeutet ja eine Kraft, eine Funktion oder eine Tat Odins: de
Gott verweist auf seine Werke wie Jahve bei Hiob6). Es ist eine Tafe
seiner Trophäen, die dem Zweifler entgegengehalten wird.
Ihren literarischen Ursprung haben diese Ruhmestafeln einerseits in
den uralten Selbstberichten der Fürsten 7), anderseits in den Litaneien, miil
denen ganze Götterreihen angerufen werden8). Solche» Taten« (res gestae/
liegen wohl auch dem Härbardslied zugrunde (Str. 16 f.)9). Damit konnten*
die Priester bei großen Festen und Opfern dem Gott schmeicheln undf
seine Anhänger betäuben. Ich erinnere etwa an den »Atlas Marianus
eines Jesuiten, der alle berühmten Wallfahrtsstätten der Jungfrau Maria [
!) Siehe o. S. 352.
2) Müllenhoff.
*) Preller 1, 661.
4) H. Z. 46, 313.
5) Vgl. Finnur Jonsson, Oldnord. Lit. Hist. 1, 146.
«) cap. 38.
7) Vgl. Misch, Geschichte der Autobiographie, Leipzig 1908; B. I.
8) Z. B. sechs Adityas: Geldner und Kaegi, Lieder des Rigveda, S. 21;
oder alle Götter: Graßmann, Rig-Veda 1, 40.
9) Vgl. Grim. Str. 49 f., wo jedem Namen eine Anspielung angehängt ist.
iei
:c
§ 31. Namengebung. 54g
ef;rzeichnet; oder an ihre Namenslisten wie in Konrads von Würzburg
ero Idener Schmiede1).
Dies etwa wird der Grundplan der Grimnismäl sein: Odin-Grimnir
mkt dem Agnar (Str. 1 — 3), sieht empor zu seinem Heim (Str. 4; die
Dpographie von Asgard angeknüpft — Str. 17) und schildert die Wonnen
tr Halle, die ihn und (einst) Agnar erwarten (Str. 19—20; erweitert
arch Str. 18, 2—24; echt vielleicht wieder Str. 25—26; angehängt das
lußverzeichnis Str. 27 — 30), und auch vielleicht die Schilderung von
ggdrasil, durch Str. 30 veranlaßt, Str. 31—35). Hier werden ihn die
Jfalküren empfangen (Str. 36; angehängt eine Kosmographie). Anrufung
'es Retters (Str. 42 ; an die Erwähnung des Kessels vielleicht der Katalog
er besten Dinge Str. 44 mit Doublette Str. 43 gehängt). Nun folgt die
nthüllung des Antlitzes (Str. 46—50) und die strafende Rede an Geirröd,
i der lobenden an Agnar das unentbehrliche Gegenstück (Str. 51 — 53;
igehängt oder wegen der Nennung »Odin« Str. 53 an falsche Stelle
eschoben eine neue nafnathula Odins (Str. 54).
So haben wir erstens ein Lied »von König Hraudungs Söhnen«, wie
ie alte Oberschrift lautet: Odin erscheint bei seinem Pflegesohn, um ihn
1 prüfen, wird schlecht aufgenommen und überträgt seinen Segen von
ieirröd auf Agnar; zweitens die Grimnismäl: Erweiterung dieses alten
iedes zu einem großen Kataloggedicht über die Welt (Str. 31 f.), den
limmel (Str. 37 f.), die Elemente der Erde (Str. 40 — 41); mit einer
etaillierten Schilderung von Walhall (Str. 18 f.) und seiner Umgebung
Str. 4 f.) samt den Himmels-, Unterwelts- und Erdenflüssen (Str. 27 f.).
cht aber und alt sind die Namen , die Odin selbst und seine Walküren
1 ihrer Pracht zeigen — auch von Reimschmuck bedeckt, aber von dem
^sinnigen Klingklang etwa der Zwerglisten frei.
Die Form der Einkleidung der Grimnismäl ist der heroischen Dichtung
sitlehnt: jenen »Rückblicksgedichten«2) wie dem Hrökslied: »Ein Held
bricht ... an fremdem Hofe von seiner ruhmreichen Vergangenheit und
ibt sich zu erkennen«3) — fast genau die Formel für unser Gedicht! —
)der ähnlich auch die Liebhaberei, sich im Aufzählen von Fertigkeiten
ithröttir) zu überbieten4). — Ich glaube schon deshalb nicht, daß man
lit Much 5) für die Rahmenfabel uralte mythologische Tradition (bis zum
laldermythus hin!) annehmen darf.
J) Vgl. Salzer, Die Sinnbilder und Beiworte Mariens, Linz 1893.
2) Heusler, Arch. f. n. Spr. 116,252: eine isländische Neubildung; Eddica
linora S. XXXII; XLI.
3) Ebd. S. XXXIV.
4) Wein hold, Altnord. Leben, S. 463.
5) Der Sagenstoff der Grimnismäl, Ztschr. f. d. Alt. 46, 309.
P
550 Achtes Kapitel.
Die Vafthrudnismäl sind von vornherein lehrhaft oder vielmeh
gelehrt angelegt. Odin berichtet dem Riesen von der Gegenwart, diese
ihm von Vergangenheit und Zukunft der Welt. Auf Kosmogonie un<
Eschatologie ist es also abgesehen; die Kosmologie steht nur ergänzen!
dazwischen.
Wir betonten wiederholt, daß das Gedicht viel gutes altes Materia
zu bergen scheint. Wo es aber neue Namen bringt, liegt die systematisch
Mache noch viel deutlicher als in Grim. zutage. Der Dichter hat seim
Lieblingsworte, die er suffixartig zur Bildung korrelater Namen verwendet
Skinfaxi und Hrzmfaxi (Str. 12—14), die Hengste mit leuchtender bzwf1
bereifter Mähne: die drei Brüller Bergelmir (wie ein Bär, Str. 29 — 35) JC
Thrüdgelmir (mit Kraft), Oergelmir (mit Macht) brüllend — alle woh v,e
von dem (selbst kaum alten) Hvergelmir (Grfm. Str. 26) erzeugt1) — m
thrasir »verlangend« : Lifthrasir (Str. 45) »nach dem Leben ver el0
langend« , das er als Lebensgefährtin Lif doch schon neben sich hat r
Mögthrasir (Str. 49) »Söhne verlangend«. — Eine andere Methode ist die )lei
gut skaldische, mythische Namen appellativisch als zweite Bestandteile zu"ie
verwenden2): so bildet er Hoddmimir (Str. 45). Oder er plündert sonsl^
die Mythologie; da Nidhögg Leichen frißt, gibt er höchst seltsamer Weise
dem Windgott den Namen Hraeswelg, »Leichenfresser«: ein Sarkophagos^1
in Adlergestalt am Himmelsrand, wo doch keine Leichen sind! Doch
könnte er auch den Namen aus der Eigenschaft des Adlers als Tier des
Schlachtfeldes genommen haben; es wäre eine Kenning Name geworden
wie (Str. 47) 3) in Alfrödul — »Elfenstrahl« für die Sonne. — Erfunden
scheint Wigrid, Kampfplatz, wenn es nicht auch einfach eine Umschreibung $
war. — Bleiben die Namen Ifing (Grenzfluß Str. 16), Delling und Nor
(Str. 25, aus dem Stabreim mit Dag, Tag und Nött, Nacht geboren;'"
Windswal , der Windkalte, Vater des Windes; und Svafud der Mildejf
Vater des Sommers (Str. 27). Will man aus all diesem Wust doch)
Einen Namen retten, so sei es Ifing (zu ify wenn, wie Idun zu id
abermals 4).
Ich glaube, wir haben die Namenfabrikation hier auf frischer Tat
erwischt. Bei allem Geschick der Anordnung macht das Gedicht zuweilen
einen fast komischen Eindruck; es erinnert an den braven Bauern, dem
*) Ebenso sind die willkürlich erfundenen Namen« der Titanen auf den
Grundton des Brüllens abgestimmt : Enkelados der Tobende , Lärmende
(Preller 1, 69) — auch als Name für Gebirgsbäche wie -gelmir für den Welt-
strudel (ebd. Anm. 3) — ; Polybotes der Brüller (ebd. S. 70).
2) Wiel öl-Gefjon: Golther S. 447, men-Skögul; ebenso Loddfäfnir Häv.
Str. 110 f.
3) Vgl. Skirn. Str. 4; Gering S. 67.
4) Wie vielleicht Vishnu px vi, fort ; vgl. M a c d o n e 1 1 S. 28.
§ 31. Namengebung. 55 \
weniger imponierte, daß man so viel über die Sterne herausgebracht hat,
s daß man erfahren hat, wie sie heißen.
Alvfssmäl. Die Alvfssmäl sind ehrlicher. Sie geben sich wirklich
s ein System erfundener Benennungen im poetischen Stil und machen
us »Riesenfeuerung« oder »Feldmähne« (Str. 29) keinen Eigennamen für
en Wald, in dem (Völ. Str. 40) die Alte saß. Aber merkwürdigerweise
at gerade dies Gedicht eine Anzahl einfacher »heiti«, Benennungen, er-
halten, die ursprünglich individuelle Meinung gehabt haben könnten : wie
kinna1) die Sonne, könnte Marr das Eine Meer bedeuten; Völlr2) scheint
/irklich der ursprüngliche Name des Feldes vor Walhall zu sein, wo die
jötterschlachten stattfinden3) — dies »Feld« hatte schlechtweg so geheißen
vie der Campus Martius einfach Campus4). Endlich Fune »Feuer«
önnte ursprünglich das »Zentralfeuer« bedeutet haben, das Feuer an
einem Sitz (später Muspellsheim). Aber an dem Wort Njött für Nacht
cheitert diese allgemeine Erklärung, die nur für Völlr wahrscheinlich
)leibt. Es wäre ein »Ehrenname«: wie ein Gott schlechtweg »Herr«,
ließe dies wichtigste aller Felder schlechtweg »Feld«. Und weshalb sollte
ier Mistelzweig nicht gerade diesem Schicksalsboden entsprossen sein5)?
So können wir die Namensgeschichte der altgermanischen
pottheiten ganz leidlich übersehen: wie sie vom Volk zu den Priestern
(«am, von den Priestern zu den Dichtern, von den Dichtern zu den Gelehrten.
Der Dichter der Grim. ist ein theologischer Sammler und Namenschmied,
ier der Vafthr. ein theologischer Namenschmied und Sammler. Und wie
>teht es mit dem mit Götterbildern überdeckten Hauptpfosten des alt-
germanischen Tempels: mit Snorri?
Seine Namengebung ist von höchster Bedeutung geworden. Im Ganzen
riegt ja auf der Hand, daß die Prosa-Edda vor allem Auszüge aus den Liedern
'erarbeitet; die Texte sind in Gerings Obersetzung der Edda bequem kenntlich
[gemacht Die Abhängigkeit ist, wo solche Quellen nachzuweisen sind (die
Snorri ja oft selbst als Verse zitiert), meist so groß, daß wir ihm in solchen
fällen wenig Spielraum zutrauen dürfen. Wenn z. B. gleich im Anfang
yon Gylfis » Augen verblenn'n« (um mit Fritz Reuter zu reden) zwölf Namen
angeführt werden, die Allvater in Asgard besaß6) und diese in Odins Ver-
klärung7) nicht alle stehen, so dürfen wir diejenigen, die den dort erhaltenen
*) In nordischen Gedichten nur hier Helm, PBB. 32, 107.
2) Vgl. Vaf. 17, 3; 18, 1. 4.
3) Vgl. Völ. Str. 24, 1; 66, 3; Grim. Str. 22, 1; nur Völ. Str. 32, 3 paßt an
ien von Helm angezogenen Stellen nicht sicher hierher. — Es wäre ein wichtiger
Beweis für die guten Quellen der Völ.
4) Vgl. Wissowa S. 130.
5) Völ. Str. 32.
6) Gylf. cap. 3: Gering S. 299.
"') Grim. Str. 46 f.
552 Achtes Kapitel.
völlig gleichartig sind, nicht für erfunden halten: er hat sie in andere« $
Namenslisten gefunden; bieten doch die Grim. selbst am Schluß eirpfl
Doublette. Freilich hat er oft falsch gefolgert und etwa Odins Nebeij
buhler *) Wili und We zu seinen Brüdern gemacht, um wie bei Frey ui
Freyja die Schuld zu erhöhen. (Immerhin könnte man anführen, di
Wili und We früher mit Wodan alliteriert hätten ; dann müßten sie wol
mit Hönir und Lodur zusammenfallen.) — Ebenso steht es mit seine|
Namenlisten wie (cap. 4) der der Ströme.
Wir halten deshalb viele Namen, die sich nur bei Snorri finden, fü|
echt; so bei der Weltschöpfung (cap. 6) vielleicht Audumla, sicher Bui
von dem Bui vielleicht nur eine Variante ist. Bolthorns Tochter Bestll
ist wohl aus Häv. Str. 140 aufs Geratewohl geholt. — Hlidskjd{hh
(cap. 9) wird nur in den Einleitungen zu Skirn. und Grim. genannt; e rzä
bedeutet einfach »Türbank«2) und gehört mit Wälaskjälf 3) zusammen, is ir
wohl aber älter. (Ach hätten wir erst Edward Schroeders Buch über du
Gesetze und die Entwicklung der germanischen Namen!) Narfi (cap. 10
stammt aus Vaf. ; daß aber ihr erster Mann Naglfari heißt nach Hrym
Schiff Naglfar4), spricht für die Deutung dieses Schiffes als »Totenschiff«
Folgen Namen aus vielerlei Quellen; daß uns für Isarnkol (cap. 11
keine solchen erhalten sind, macht Snorri noch nicht zum Lügner. Ver
dächtig sind zuerst die Namen der Mondphasen und ihrer Geräte : Eimer
und Stange, sowie ihres Vaters. Keinen Beleg in Eddaliedern hat weiter
die Halle Wingolf (cap. 14); die gewiß nicht volkstümlichen höheren
Himmel (aus falscher Deutung von upphiminn, Himmel über der Erde,
entstanden?) mit ihren wohlfeilen Namen (cap. 17); die sicher erfundenen,
aber nicht notwendig eben von Snorri erfundenen Pendantnamen der|n
Böcke Thors (cap. 21; Typus Skinfaxi und Hrimfaxi); der Name Sess-
rümnir »an Sitzen reich« für Freyjas Halle in Folkwang (cap. 29), natürlich
jung: sie muß viel Plätze für die halbe Wahlstatt haben. Hallinskidi und!
Gullintanni (cap. 27) sind Kenningar für den Widder, wie auch Heimdall 5) I
und auf Heimdall gewiß nicht erst von Snorri übertragen6). 3
Helblindi , wohl 7) Hod , wird von Snorri zuerst zu Lokis Bruder
gemacht, gewiß aber nicht so genannt sein. Ganz sein Konto aber werden
die systematisch gewählten allegorischen Namen für Hels Gesinde (cap. 34)
belasten. Ebenso wohl all die Requisiten von Lokis Fesselung: die Fesseln
Leding, Drömi und Gleipnir8); die Insel Lyngwi am See Amswartnir;
n
x) Lok. Str. 26. 2) Golther S. 324.
8) Grim. Str. 6. 4) Vol. Str. 50.
5) Vgl. Golther S. 360 Anm. 1.
6) Eine seltsame Beziehung zwischen dem (Widder-) Fell und (Heimdalls
Met, dem) Tau auch bei Gideon (Richter 6, 37—40).
7) Siehe o. S. 350. 8) Vgl. Kock S. 108.
§ 31. Namengebung. 553
is Schnurende (!) Gelgja und der Beschwerstein Gjöll sowie der Anker-
ein Thuiti; endlich der Speichelfluß Wan (cap. 34). Hier ist doch die
bsicht, alles mit Namen zu bestecken, gar zu deutlich. Woher die
amen stammen? Gleipnir, von dem Modetypus Mjölnir— Sleipnir— Glitnir—
ddbladnir — und wohl auch Leding und Drömi hat er sich vielleicht
clbst erlaubt; andere Namen mögen von einer Lokalität stammen, wo
okis Merlinsgrab gezeigt wurde x). — Ober die Asinnen (cap. 35) haben
ir ausführlich gehandelt; neu ist gewiß Gnäs Roß, der » Hufwerfer <
öfwarpnir mit dem neuen Suffix für göttliche Utensilien. Neu ist
ymirs Gattin Aurboda (cap. 37) 2) und Thjälfis Schwester Röskwa, die
asche (cap. 44) ; die allegorischen Namen in Utgard (cap. 45 f.) einschließ-
en des zu Ymir, Hymir, Gymir so gut passenden Skrymir(?); in der Hymir-
rzählung der Name Himinhrjödr »Himmelbrecher« (vgl. »skyscraper«
iir hohe Häuser in Amerika) für Hymirs Stier (cap. 48), wohl Leistung
Morris wie die Benennung von Balders Leichenschiff Hringhorni (mit
lindem Steven? cap. 49); die durchsichtigen Namen von Friggs Eber
mit goldenen Borsten« oder »mit schlimmem Gebiß«; Snorri gibt die
Zahl des Namens frei); die Wächterin Mödgud (Walkürenname) am
ilöllenfluß Gjöll.
Ähnlich in den Bragarödur, wo die gereimten Zwergnamen Fjalar
nd Galar, die Krüge »Sühne« und »Angebot«3), das Vorgebirge Hnit-
jörg (die zusammenstoßenden Berge, Symplegaden) 4) und mit anderen
[amen der des Bohrers Rati (cap. 4) neu sind. Und entsprechend werden
ir Snorri für Grids Stab Gridarwoll 5) für die Schwertnamen Hrotti und
efil (cap. 5) verantwortlich machen dürfen — doch da sind wir schon
i die Heldensage hineingeraten.
Zusammenfassend dürfen wir sagen: erstens: zwischen den Edda-
tfdern und Snorri ist der Prozeß der Benennung aller Anonyma Weiter-
ungen; nach Mjölnir war (schon in Veg.) Sleipnir genannt worden,
iin kamen dazu viele Namensvettern der Sippe -nir (ich nenne noch
Mlskinir, Salgofnir, Vidofnir). Man lokalisierte Lokis Fesselung; man
rächte alte Mythen6) und Märchen (wie das von Bölverk) zu den Göttern in
ielleicht neue Beziehungen. So kamen viele neue Namen in die Prosa-
idda. Zweitens: Snorri selbst ging auf diesem Pfade nur weiter, wo er
laubte, keinen Schaden anstiften zu können bei der durchsichtigen Allegorie
J) Vgl. die griechischen Unterweltspforten Preller l,*810f.
2) »Die Hingestreckte«? Gering S. 53.
3) Vgl. Kock S. 109.
4) Gering S. 355.
5) Skäldsk. cap. 2.
6) Wie vielleicht den von den Symplegaden ; vgl. auch Kuhn, Mythol. Studien,
135.
554 Achtes Kapitel.
der Wirtschaft Hels und bei seiner Liebhaberei, alle Werkzeuge zu taufer
Eimer, Stangen, Stäbe, Fesseln, Krüge, auch Rosse, Stiere und schließlic
nach heroischem Muster in der Heldensage, Schwerter.
Saxo nimmt wieder einen eigenen Standpunkt ein. In den meisten Fällei
bedient er sich ja überlieferter Namen1), wenn er sie auch gelegentlic
volksetymologisch umformt2). Auch verletzt ihn Namenlosigkeit nicht3
die Snorri so streng vermeidet. Für die Schwerter findet er schon über
Namen vor4). Aber einige Namen dürfte auch er erfunden haben. Un
dann nimmt er ganz abstrakte wie Scalcus (»Diener«)5) — wie sogar ei
Slawenkönig heißt6); Rostiophus (»Roßdieb«, für einen Finnen)7). Wed
(Vetka- Zauberin für eine solche)8), Thengillus (König)9) und Bolwi es
(Übelweise, für den schlimmen Ratgeber)10); Frakki (»Krieger«)11). Als« lii
reine Appellativa 12). — Oder er überträgt mythologische Namen: Uggerus
Yggr, Odinsname13), Gestiblindi (ebenso)14), Eggtherus (Hüter der Unter |
weit1-). — „c
Anhangweise noch ein paar Worte über die Namen der Götterliede j„
selbst16). Die meisten Gedichte sind so benannt, daß dem Namen de jr,
Hauptperson die Art des Gedichtes beigesetzt ist: Vafthrüdnismäl \\
Grimnismäl, Alvissmäl: Sprüche des Vafthrüdnir, Grimnir, Alviss; ent „■
sprechend Hävamäl, weil sie Här, d. h. Odin in den Mund gelegt sind
Thrymskvida: Erzählung von Thrym; Härbardsljöd, Lied von Härbard
Lokasenna — wenn man es kollektiv faßt: Lokis Scheltreden; Rigsthula
Namenverse, an Rigs Person geheftet. Eine Ausnahme machen wenige Ge|
dichte, die nach der Handlung benannt sind: För Skirnis, Skirnirs Fahrt (di
Handschrift A hat auch hierfür Skfrnismäl, die Sprüche des Skfrnir); Balderl
Draumar, Balders Träume (spätere Bezeichnung: Vegtamskvida, die Eli
Zählung von Vegtam) ; hierher auch Lokasenna, wenn man es als Handlung -t
1) Vgl Olrik, Kilderne 1, 19; über die Namensformen ebd. S. 84.
2) Ebd. S. 87: Starkadr als mit »Hader« komponiert.
3) Ebd. S. 19. B
4) Starkads »teutonisches Schwert« Snyrtir S. 69 bez. 82; Uffos Schwedt
Skrep S. 166 bez. 155; Olos Schwert, das Lögthi hieß, S. 254 bez. 338. ,,
5) S. 59. 161 f. bez. 77. 215t.
6) S. 51 bez. 66.
7) S. 78 bez. 100. — Wie etwa Lessing s Riccaut Seigneur de Pret-au-vol«!1
(Druckfehler: Pret-au-val) heißt.
8) S. 80 bez. 102. 9) S. 165 bez. 220.
10) S. 232 bez. 309. n) S. 185 bez. 275.
ls) Vgl. für Skalk Kilderne 2, 53; für Thengill S. 54; für Frakki S. 79. -
Anders (gegen Storm) Lathgertha; siehe ebd. S. 105.
1S) S. 158 bez. 211.
14) S. 160 bez. 215; vgl. Olrik a. a. O. S. 57.
15) S. 168 bez. 220.
16) Vgl. die Übersicht bei Heinzel-Detter I S. VIII f.
'li
!
§ 31. Namengebung. 555
immt: Lokis Wortstreit, und die späteren Titel : Hamarsheimt, Holen des
ammers, und Oegirsdrecka, Ägirs Mahl ; endlich, besonders charakteristisch :
hörr drd Mithgardsorm : wie Thor die Midgardschlange herauszog (in der
rnamagnäanischen Handschrift wieder dafür Hymiskvida, Erzählung von
(ymir). Die prosaischen »Hypothesen« haben im Codex Regius R be-
>ndere Titel: von den Söhnen König Hrauthungs (vor Grirn.), von Ägir
nd den Göttern (vor Lok.); ebenso »von Völund« (vor dem »von Völund
nd Nidod« betitelten Gedicht Völundarkvida; A unterscheidet dagegen:
von König Nidhod« die Prosa). — Entsprechend sind die Titel der
röteren Stücke: Hyndluljöd, Lied von Hyndla, Grogaldr Gröas Zauber-
esang, Fjölsvinnsmäl die Sprüche des Fjölsvidr; anders nur Grottasöng,
ühlengesang, nach der Örtlichkeit benannt.
Anzumerken ist zunächst: es gibt keine »theophore« Überschrift,
I. h. keine, die einen offiziellen Gottesnamen enthält — außer Hävamäl
nd Rigsthula, wo aber eigentlich auch schon ein Verkleidungsname vor-
Qgt Sonst werden die Götter nach den Namen ihrer Masken benannt:
:irimnir, Härbard, oder die Gegenspieler geben den Titel: Thrym, Hymir,
afthrudnir, Alviss. Anders steht es nur, wo das Gedicht nach dem
nhalt benannt ist: Skfrnis Fahrt, Thor zieht die Weltschlange heraus,
nd eventuell Lokis Wortstreit. Offenbar sollten die Götternamen nur da
Is Überschrift verwandt werden, wo der Gott allein spricht oder die
landlung führt: Hävamäl, Skirnismäl. Handelt es sich nur um ein Götter-
benteuer, so ist der Name des riesischen (oder zwergischen) Gegenübers
harakteristisch. — Dies führt nun zu der nur aus Zitaten bekannten Über-
bhrift Völuspä. An der Echtheit dieses Titels ist nicht (wie bei Aegis-
rekka statt Lokasenna) zu zweifeln. Ein halbgöttliches Wesen, eine
eherin, spricht ja den ganzen Inhalt. Zu beachten ist aber, daß trotzdem
iicht, wie bei den Hävamäl, die Bezeichnung -mal gewählt ist. Diese
cimlich wird gebraucht, wenn die vorgetragenen Sprüche als die Haupt-
iche erscheinen: die Mitteilungen des Vafthrüdnir, Grimnir, Alviss über
i/elt, Welten, Benennungen; die Weisheitssprüche des Hohen. Und so
rschien also den Späteren auch nicht die Fahrt Skirnirs als die Haupt-
ache, sondern seine Zaubersprüche. Dagegen sind bei den Abenteuern
ait Thrym und Hymir die Erlebnisse der Kernpunkt, die Reden Neben-
ache, und bei Härbardslied und Lokasenna der Wortstreit selbst, nicht
lie Reden im Einzelnen. Das ist alles ganz konsequent (für Grimnismäl
wenigstens in ihrer jetzigen Form). Und wenn also das erste Gedicht
die Verkündigung der Seherin« heißt, so liegt der Akzent auf der
landlung: auf der enthusiastischen Verzücktheit der Prophetin1). Die
*) Auf die ja auch wiederholt hingewiesen wird: Str. 28 f. wird ihre Er-
nnerung zur Vision; ebenso Str. 35 f. 64 — das Wort »sehen« herrscht in der
556 Achtes Kapitel.
völva schickt ihren Geist zu den fernen Zeiten; diese seine Fahrt ist d
Handlung, von der er die Sprüche mitbringt. Und so war es ursprünglic
gewiß auch bei Rigs Fahrt (är quadu ganga, »man erzählte einst vc
seinem Wandeln« vielleicht der ältere Titel) *); erst später werden die Denl ^
verse mit den Namen der Standespersonen (wie die Zaubersprüche bi1
Skirnir) Hauptsache — eine charakteristische Wandlung: vom Epos zui
Lehrgedicht 2).
§ 32. Charakteristik der Götter.
Die Mythen charakterisieren die Götter durch ihre H a n d 1 u n g e n 8 §
Aber daneben braucht man noch unmittelbare Mittel der Kennzeichnung ebe
Neben der von uns geprüften Benennung ist als eine verwandte Art de Jon
Kennzeichnung das Verleihen von Beinamen zu betrachten, d. h. di
Charakteristik durch Eigenschaftswörter4).
Beinamen sind im Norden ungemein beliebt, was sich schon aus deN
Häufigkeit der gleichen Namen erklärt; sie führte auch in Deutschland vor^
12. bis zum H.Jahrhundert zu dem Aufblühen der Beinamen, »in welche^
großenteils unsere heutigen Zunamensich entfaltet haben«5). Einer reicht
haltigen Übersicht bei Weinhold 6) ließ ein halbes Jahrhundert späte ßt
Finnur Jönsson seine äußerst sorgfältige erschöpfende Darstellung folgen7^1
Sie sind belegt besonders aus dem 9. — 10. und dann wieder aus denP
12. — 13. Jahrhundert. Finnur Jönsson nimmt8) aber an, daß sie gleichP
mäßig fortgedauert haben. Sie könnten doch wohl während des Nieder
gangs der altheimischen Dichtung auch selbst nachgelassen haben. — Ef
sind weitaus am häufigsten Substantiva, danach Adjektiva und Participia9)
t)(
zweiten Hälfte (Heinzel-Detter 2, 38). Auch die Arbeit des Besinnens wirc
vorgeführt: Str. 2. 21. 27. 29; und in dem Refrain »könnt ihr weitres verstehen« -
oder besser wohl: »Wollt ihr noch mehr wissen? und was?« (vgl. Heinzel-j
Detter 2, 37) — Str. 29 f. — wird versinnbildlicht, wie die Seherin, gleichsam
eine Improvisatorin der Weltkenntnis, ihren Geist auf bestimmte Punkte richtet
als hätte sie die Corona — Str. 1 — befragt.
*) Heinzel-Detter 1, 169.
2) Zum Namen Edda vgl. neuerdings Neckel, Anz. f. d. Alt. 50 (1908)
S. 159.
3) ygl. Olrik, Danske Studier 1904, S. 135.
4) Über die Berührung von Götternamen und Epithetis vgl. meine Altgerm.
Poesie S. 497; vgl. auch o. S. 541. Allgemein über Epithela der Götter vgl. für
die Griechen C. F. Bruch mann, für die Römer J. B. Carter in den Supplement
bänden von Roschers Lexikon, Leipzig 1902.
5) J. Grimm, Kl. Sehr. 2, 355.
6) Altnord. Leben S. 277 f.
7) Tilnavne i den islandske Oldliteratur, Kjobenhavn 1908; und in Aarböger
for nord. Oldkyndighed 1907.
8) S. 369. 9) S. 362.
§ 32. Charakteristik der Götter. 557
>n verschiedenartigstem Ursprung, nach Herkommen und Alter, körper-
:|:her Eigenheit, Rüstung und Kleidung, geistigen Eigenschaften, Beruf
nid Stellung gewählt; sie loben oder tadeln, dies noch häufiger. Sehr
|llten sind sie1) aus der Mythologie entlehnt: während deutsch2) die ent-
gehenden Namen aus der Heldensage sehr beliebt sind. — Formell ist
ri bemerken, daß der Beiname gern mit dem Hauptnameh alliteriert3):
rrafn hdvi.
Derartige charakterisierende Beinamen zu Personennamen
hlen schon der Edda nicht 4) und sind schon dort fest ; auch sie reimen
itürlich gern5). Aber wie schon hier die Absicht der Kennzeichnung
eben der des Rühmens zurücktritt (beide noch vereinigt, wie wenn wir
m »Friedrich dem Großen« unterscheidend sprechen), so ist doch gar
ei göttlichen Wesen das Epitheton völlig der idealisierenden Stilisierung
itertan 6). Die gewöhnlichen Beinamen geben dem idealisierenden
(auptnamen gern eine realistische Ergänzung 7) : Henricus dictus
Iselescop. Den Göttern gegenüber aber ist eigentlich jede Nennung
:hon eine Entwürdigung (weshalb so oft, z. B. bei den Juden, die
ennung des heiligen Namens verboten wird): hier muß also das Beiwort
'st recht »epitheton ornans« sein. Wo aber der Gott sich unter die
lenschen mischt, da wird auch er charakterisiert; so bleibt in der Hym.
iisbesondere kein Name ohne kennzeichnendes Beiwort: der weise, starke,
aürrische Hymin; der kluge, kühne, gewaltige Thor, die reizvolle Buhle
.es Riesen8) usw. — fast stets aus der Situation heraus. Grim. (be-
;>nders in der Nennung der Götter in den Heimen) und Rig. wahren
oenfalls bei enkomiastischer Tendenz noch einen Rest von Charakteristik
1
s der Situation heraus9).
Wichtiger sind indeß für uns diejenigen Epitheta, die einzelne Götter
ider Götterklassen) nicht aus einer epischen Situation heraus zu charak-
isieren versuchen, sondern aus ihrem allgemeinen Wesen — Beinamen
der Beiworte also, die einigermaßen denen der Sterblichen entsprechen,
»er doch eben ohne den für diese charakteristischen Realismus. An
ch wäre der ja nicht unmöglich : Odin könnte der einäugige Gott heißen,
yr der einhändige. Aber das geschieht nicht; denn es sind eben t h e o -
ogische Epitheta, d. h. solche, die die Sonderstellung eines Gottes
Ider einer Götterklasse betonen sollen.
*) S. 300. 2)J. Grimma, a. O. 3) S. 368.
4) Meine Altgerm. Poesie S. 198.
5) Helgi inn hugumstöri, der großdenkende Helgi, Helg. Hund. I. 1.
6) Meine Altgerm. Poesie S. 491 ; vgl. Heinzel, Stil d. altgerm. Poesie, S. 32.
7) Müllenhoff, Zur Runenlehre, S. 54.
8) Str. 27, ironisch, vgl. Str. 8.
9) Vgl. u.
558 Achtes Kapitel.
Zunächst Epitheta der Götter. Die Götter heißen ginnheili%n
god1); es kommt daneben auch die Zusammensetzung ginnregin j
hohen Mächte« vor. — Die Worte stehen in einem für die erste Hälil
der Vol. charakteristischen »Stef«, einer Halbstrophe, die als Gegenrefra ies
dient2). Vergleicht man die Stellen mit ginnregin*), so lehren sie, dz J
beide Bezeichnungen nur verwandt werden, wo es sich um kollektive ur us
auf gemeinschaftlicher Beratung beruhende Dinge handelt. — »heilag \&
heilig, wird nie für die Götter gebraucht, denn es bedeutet »geheiligten!
für unverletzlich erklärt4). So sind Bezirke, Bäume, das ganze Land dunl
Äsen wie ihre Tempelpforte »geheiligt«; so auch die Menschen, »die deit;
heiligen Tempelfrieden unterworfenen Geschlechter«5); die Götter abejlu
von denen diese Unverletzlichkeit ausgeht, können sie nicht besitzen - isl
wer sollte sie ihnen verleihen? (Nicht einmal auf Balder ließe sich denf
Terminus anwenden.) or<
Somit bedeutet dies einzige Epitheton der Äsen als solcher — naceai
Hinzutritt der Wanen wird es nicht mehr gebraucht — die heilige Raun
Versammlung der Götter: die Götter in einer durch ihre Gemeinschaf
durch den »Tempelfrieden« geheiligten Versammlung — deren Friedet
dann eben (Str. 24. 26) die Hauptgötter brechen, die eben auch considun^
armati% ihre Waffen zum Thing mitbringen.
Verstehe ich also das Beiwort recht, so bezeichnet es die Götter
gemeinde als eine geschlossene höhere Instanz über den Einzelgötterr
als solche auch über den Streit zwischen diesen (Äsen — Wanen) erhaber
Vielleicht soll mit dem »bis die drei Nornen kommen« (Str. 6) geradezi
ausgedrückt werden, daß das Äsen -Thing die höchste Instanz war, bi
die Schicksalsgöttinnen auch den Göttern ihren Willen aufzwangen. Dam
mögen sie noch weiter Runen erfinden 7) — mit der regelmäßigen par
lamentarischen Weltregierung ist es aus; die hat nur der goldenen Zeil
gehört, als man noch mit goldenen Tafeln spielte8). '
Die Nornen werden an jener Stelle (Völ. Str. 8) mit dem Epithetorf
dmpttugr belegt, das sonst9) nur den Riesen zukommt: »von Stärke
strotzend« übersetzt es Gering. Es soll wohl auch hier nur allgemeir
*) Völ. Str. 6. 9. 23. 25; Gering übersetzt »die heiligen Herrscher« (in
Vollständ. Wörterbuch S. 337 »hochheilig«).
2) Vgl. Heinzel-Detter 2, 15; meine Altgerm. Poesie S. 347 f.
3) Häv. Str. 78 und 142, Hym. Str. 4, auch Lok. Str. 11, Alv. Str. 21. 31.
4) Vgl. Gering, Vollständ. Wörterbuch, S. 409; charakteristisch auch gunn
heilagr, jemand, den man im Kampfe zu schonen verpflichtet ist, ebd. S. 364
nach Hamd. Str. 28.
5) Müllenhoff zu Völ. Str. 1; Gering a. a. O. S. 409.
6) Tac. Germ. cap. 11. 7) Häv. a. a. O.
8) Über die »reichen mächtigen Götter« Thrymskv. Str. 13; vgl. u.
9) Heinzel-Detter z. St. nach Skirn. Str. 10, Grim. Str. 11.
§ 32. Charakteristik der Götter. 559
fofre riesische Stärke hervorgehoben werden, da in der Situation ein
isonderer Grund nicht liegt, sie zu betonen.
Dagegen sind die folgenden Epitheta wieder episch bestimmt: Heid
e sinnvolle Zauberin (Vol. Str. 22), die streitbaren Wanen (Str. 24) x), Thor
1|)11 trotzigen Mutes (Str. 26), der arge Loki (Str. 35), der heitere Eggther
us der Unterwelt ! Str. 42), während die beiden parallelen Bezeichnungen
ridars als »der große Sohn Siegvaters« (Str. 54) und Thors als »der
urliche Sohn der Hlödyn« (Str. 55) mit der epischen Charakteristik eine
litnkbare Verbeugung vor den Heldengöttern vereinen. Besonders wichtig
h aber (Völ. Str. 32) die proleptische Bezeichnung Balders als des
blutigen Gottes«; verbunden mit der (zur Sache gleichgültigen) des
■ istelzweiges als »sehr schön«. Hier ist es durchaus die persönliche Mit-
npfindung des Dichters, die durchbricht, die das Leiden des Gottes
>raussieht nnd selbst den bösen Zweig durch die Verbindung mit ihm
jadelt meint, wie wenn ein Hymnendichter von den »glänzenden Pfeilen«
1 Leib des heiligen Sebastian reden wollte!
Dies ist eine der wenigen Stellen, wo Gerings sonst so treffliche Uber-
ftzung irre leiten kann. Er setzt zu: »der edle Balder«. Aber abgesehen davon,
iß dies Wort leicht zu heroische Vorstellungen erweckt, wird auch die Wirkung
rdorben, die die Gegenüberstellung der hohen schönen Mistel mit dem blutig
irniederliegenden Gott erzielen soll (vgl. Gud. I. Str. 18).
Theologisch klingt es, wenn (Veg. Str. 2) Odin »der alte Meister
mannt wird 2) : der Gott von Urbeginn. Aber auch hier spielt die Situation
it: daß der Erfahrenste noch die »kluge Hexe« (Str. 4) um Rat fragt.
Ungemein adjektivfroh ist die Thrymskvida; sogar Dinge erhalten
ei worte: der Brustschmuck der Freyja (Str. 12, 14 f.: das breite Schmuck-
ind; dagegen sind die Bei worte für den Hammer Str. 1, den Hof Str. 11
I a. von Gering zugesetzt). Freyjas Schönheit wird (Str. 11) betont wie
ir. 28 f.) die Schlauheit der »Magd« Loki. — So werden wir in diesem
pede das »mächtige Götter« (Str. 11) als episch auffassen müssen. Wohl
isid auch hier die Götter in Beratung; aber der theologische Sinn tritt
inter der Meinung der Situation zurück: alle Äsen mit all ihrer Macht
itlos! Deshalb darf man auch (Str. 14) das »huitastr äsa« nicht allzu-
|;hr pressen: Heimdall ist der »glänzendste der Äsen«, weil er die Zukunft
rhellt, und eben deshalb gibt er hier Rat.
Nur episch-charakterisierend3) sind die Epitheta in der Lok. (auch die
mrede an die Götter Str. 7: »ihr hochmütigen Götter!«): Ebenso in
x) Was sie durchaus nicht generell charakterisieren könnte!
a) »gautr«, Schöpfer?, Gering, Veg. Str. 2; »Redner?«, Vollständ. Wörter-
luch; übrigens liegt ein Verderbnis vor: Heinzel-Detter 2, 587.
3) Über die Arten der Epitheta vgl. meine Deutsche Stilistik, München
908, S. 46 f.
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560 Achtes Kapitel.
Skirn. (Str. 1 — 21) Freys Bezeichnung als »klug, tüchtig«, in Vaf. (»d
weiseste Riese« Str. 5), in Alv. (Str. 8 höhnisch: »weiser Gast»), in \\i
(Str. 14: der sinnreiche Fjalar, Str. 96 die sonnenhelle Tochter Billig
vgl. Grim. Str. 11 Skadi die schöne Götterbraut) und die Lobworte Ri
(Str. 1, 33 usw.).
Ergebnis: von allen Epithetis sind nur ginnheilag für die Gö
und vielleicht aldinn für Odin theologisch, d. h. zur dauernden Chara
teristik der Klasse oder der Individualität bestimmt; alle anderen sir
episch, homerisch, Epitheta ornantia oder wie man die Eigenschaftswort
sonst nennen will, die eine bestimmte Situation deutlicher illustrieren
Und nun vergleiche man mit diesen Anfängen der theologische
Charakteristik Snorris Art, von den Eigenschaftsworten Gebrauch 2
machen.
Wir brauchen dazu bloß die Liste der Gylfaginning zu betrachter
die entsprechenden Einzelstellen sind von der gleichen Art. — Völli
deutlich ist es, daß der Verfasser systematisch eine differenzierende Charal
teristik der Götter versucht — selbstverständlich im Anschluß an die Tex
und zum Teil auch gerade an die dort gebrauchten Bezeichnungen.
1. Odin ist der höchste uud älteste der Äsen (cap. 20).
2. Thor ist der stärkste der Äsen (und stärker als alle Götter und Menschen
cap. 21).
3. Balder, der gute . . ., von ihm ist nur gutes zu berichten. Er ist de
beste Gott und alle loben ihn (cap. 22) — ... wie schön sein Haar und sei
Körper beschaffen sind. Er ist der weiseste der Äsen, versteht am schönsten zi
reden und übt am liebsten Barmherzigkeit; doch ist das Eigentümliche dabe
daß keiner seiner Urteilssprüche in Kraft bleibt (ebd.).
4. Njord ... ist so reich und begütert, daß er jedem Land und fahrend
Habe geben kann, wem er will (cap. 23).
5. Frey ist einer der trefflichsten unter den Göttern.
6. Freyja ist die ausgezeichnetste der Asinnen (cap. 24).
7. Tyr ist überaus kühn und mutig (cap. 25).
8. Bragi ist ausgezeichnet durch Weisheit, besonders aber durch Rede e
klugheit und Sprachgewandtheit (cap. 26).
9. Heimdall wird der weise Ase genannt und ist groß und heilig (mikil
ok heilagr; cap. 26).
10. Hod ist blind, aber außerordentlich stark (cap. 27).
11. Widar nennt man den schweigsamen Äsen. Er besitzt einen dicken
Schutz und ist beinahe so stark wie Thor (cap. 28).
12. Ali oder Wali ist kühn in den Schlachten und kann vortrefflich schießen
(cap. 29).
13. Uli ist im Bogenschießen und im Schlittschuhlaufen so tüchtig, daß
niemand darin mit ihm wetteifern kann. Schön ist er von Angesicht und besitzt
alle Vorzüge eines Kriegsmanns (cap. 30).
14. Forseti . . . hat die beste Gerichtsstätte (cap. 31).
15. Loki ist schön und anmutig von Aussehen, aber böse von Gemütsart
und höchst unbändigen Wesens (cap. 32).
p
§ 32. Charakteristik der Götter. 55 1
Man sieht: es genügt Snorri nicht, einfach wiederzugeben, was über
ie Funktionen der Götter berichtet wird (wofür man Frey oder Uli an-
gjufen soll; was Bragi oder Heimdall unter den Äsen leisten). Das ist
pm nicht einmal die Hauptsache: auf Rangordnung und Charakteristik
:ommt es an. Daß die anderen Götter dem Odin dienen wie Kinder
hrem Vater, daß die Asinnen nicht minder heilig und ihre Macht nicht
geringer ist als die der Äsen (cap. 20), würde schwer zu beweisen sein;
laß Freyja die ausgezeichnetste der Asinnen sei (cap. 24), verträgt sich
Schlecht mit dem Satz, Frigg sei die höchste (cap. 35 ; vgl. cap. 20). Aber
lie Rangordnung ist Snorri so wichtig, daß er lieber zwei höchste
jöttinnen ansetzt, als gar keine. Nichts ist bei den alten Theologen von
lieser Schärfe der hierarchischen Ordnung zu merken, natürlich von Odins
Stellung abgesehen.
Ferner: wir sahen, daß ein allgemeines Epitheton für die Götter als
;olche früher fehlte. Der Christ Snorri führt »heilig« als allgemeines
Drädikat ein : Heimdall ist (wie der Gott der Christen) »groß und heilig«,
3ie Asinnen sind (in charakteristischer Umschreibung) »nicht weniger
leilig als die Äsen« *).
Und wie er die Götter als Klasse mit einem Terminus festlegen will,
>o jeden einzelnen Gott. (Nur die Götterfrauen Skadi cap. 23 und Idun
:ap. 26 bleiben ohne Adjektiva; dafür kaum eine der kleinen Asinnen
:ap. 35: Hnoss ist schön, War weise und wißbegierig, Snotra weise.)
Das ist rechte Theologenart : Odin ist der höchste und Frigg die höchste ;
Thor der stärkste und Widar der zweitstärkste; Balder ist schön, aber
Loki auch (was meines Wissens nirgends bezeugt ist; aber es wird
schon stimmen: man denke nur, wie Stuck die Sünde malt!). Im
Motfall ist ein Gott weise (Bragi), stark (Hod, ganz willkürlich), kühn
iWali, Ullr) oder eben einfach trefflich (Frey). Denn eben, wo Be-
griffe fehlen, da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. — Die
dirliche Bemühung Snorris, sein Versuch eines heidnischen Katechismus
sozusagen (»wer ist der stärkste Ase? und nächstdem?«), seine Philo-
logie — und seine Unbehilflichkeit im Ergänzen kommen hier recht
deutlich zum Ausdruck. Nebenbei noch die natürliche Sympathie des
Christen mit dem am ausführlichsten charakterisierten Balder. Und so
ist christliche Schulung, wie in der ganzen Art, so in Einzelheiten durch-
sichtig.
So die Erklärung der vielen Namen Odins cap. 20 : alle Völker hätten
seinen Namen nach ihrer Sprache umgemodelt, um selber zu ihm beten
zu können. Also der norwegische Adelsgott in einen Universalgott um-
7) Über die Entwicklung des Wortes »heilig«: Henning, Deutsche Runen-
inschriften, Straßburg 1889, S. 31; vgl. Delehaye, Sanctus, Bruxelles 1908.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 36
fei
allen
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reli,
In
562 Achtes Kapitel.
gedichtet. — Die Freude am Märchenhaften wagt sich dagegen fast m
bei Heiindall cap. 27 ausgiebig hervor.
§ 33. Kodifikation.
Die letzte Tätigkeit des Theologen ist die Kodifikation : die Sammlun
und Verarbeitung des gesamten Materials. So bereiten bei den Griechei ^'e
Einzelarbeiten über Lokalsagen, lokale Kultformen, mythologische Grund
lagen der Dichtung das Werk des Apollodor über die hellenische Religioi *0[
vor1), und jedes einzelne Gedicht konnte diesem Zweck durch di
viiofrtoeig (seit Aristophanes von Byzanz) dienstbar gemacht werden -
Inhaltsangaben mit Bericht über abweichende Sagenformen, gerade wi<
wir sie in den prosaischen Einleitungen und Schlüssen der Edda (z. B. zi
Lok, zu Rig, zu Heldenliedern ; besonders merkwürdig zu Vkv.) auch be ^
sitzen 2). — Bei den Römern geht in charakteristischer Eigenart ein< P
Literatur über die Feste3) der antiquarisch - historischen und juristischer
Literatur4) voraus, während die mythologische Dichtung angeblich für die p!
römische Religionsforschung überhaupt nicht in Betracht kommen soll5)
Dagegen durchdringen sich bei den Indern6) kultische, mythologische
gelehrte Literatur. Bei den Germanen kommen die ersten Ansätze au K(
fremde Rechnung. Tacitus (und erst recht Cäsar) hat natürlich kein voll-
ständiges Lehrbuch der germanischen Religion geben wollen; immerhin*'1
bringt die Germania erstaunlich vielseitige Nachrichten: Götternamen, V'
Mythen, Kosmogonie, Opferberichte, Festnachrichten, Auskunft über Priester,
Kultstätten, Riten — völlig läßt sie uns nirgends im Stich. Denn bei
ihm verbindet sich mit dem praktischen ein ausgeprägt wissenschaftliches
Interesse. — Lediglich praktischen Interessen dient der Götterkatalog des
sächsischen, der Opferkatalog des fränkischen Taufgelöbnisses 7) oder der
Indiculus superstitionum 8). Aber auch die einheimischen Denkverse9) sind
nur praktisch gemeint.
Eine Richtung auf die Kodifikation hatten wir schon mehrfach zu
beobachten: in der Zählung der zwölf Götter (die nicht gelang), in dem
Aufbau der Burgen im Heiligen Lande (der verunglückte), in den »Hypo-
thesen« der Lieder, durch die sie dem allgemeinen Zusammenhang eingefügt
werden sollen; schließlich in der Einfügung von allerlei Namenslisten in
l) Preller 1, 20. 2) Preller 1, 21.
3) Wissowa S. 3. 4) Ebd. S. 4f.
5) S. 8; doch vgl. Useners allgemeine Abwehr, Keraunos S. 30.
6) Macdonell S. 3f.
7) MSD. LI -LH.
8) Heyne, Kl. niederdeutsche Denkmäler N. 81.
9) Bran dl, Gesch. d. altengl. Lit., S.946f.; Heusler, Arch. f. n. Spr. 116,256;
Eddica minora S. XC.
§ 33. Kodifikation. 553
iie erzählenden Gedichte. Die wichtigste Vorarbeit indeß leisteten noch
lie großen »kosmologischen« Gedichte: Vaf., Veg., Alv., Völ. h. sk., vor
illem die Völuspä.
Auf die wichtige literarhistorische Frage, ob derartige Dichtungen
luch außerhalb des Nordens vorlagen, kann hier nicht eingegangen werden.
Die These ist von Kögel *) aufgestellt und von Heusler, Siebs, Seemüller,
jolther, Kauffmann, Helm2) verworfen, von Schütte3) eifrig verteidigt
vorden — wie auch mir scheint ohne Erfolg, da die Annahme, bestimmte
-ormeln und Denkverse seien überall vorhanden gewesen 4), einfacher ist,
/ollkommen genügt und unserer sonstigen Kenntnis von den Phasen der
•eligiösen Entwicklung bei den Germanen weit besser entspricht. — Aus
ihnlichen Ursachen glaube ich das »dritte mythologische Lehrgedicht« 5)
ablehnen zu müssen, das Müllenhoff6) aus Grim. Str. 40 f. (für den
ersten) und Fäf. Str. 12 f. (für den zweiten Teil) erschloß: es sollte im
wesentlichen von Loki und seiner »Gegenschöpfung« handeln. Eine
engere Zusammengehörigkeit der beiden Strophengruppen läßt sich meines
Erachtens nicht erweisen, wohl aber ihre Verwandtschaft mit anderen
Lehrversen. Von dieser Art sind auch die »Spuren einer altfriesischen
Kosmogonie« 7).
Indem nun aber auf all dies Material Snorri seine Tätigkeit als »der
einzige wirkliche Forscher als Mytholog« stellte8), ward er zugleich der
Vollender der altnordischen Theologie, deren Bestrebungen auf dem Gebiet
der Namengebung, Charakteristik und Kodifikation er glänzend zu Ende
führte, und der Begründer der Wissenschaft von der altgermanischen
Religion. Seine Snorra-Edda enthält, soweit sie uns hier angeht, drei
Teile: Gylfaginning, in Form einer Forschungsreise vom Typus Baldrs
Draumar oder Vafthrüdnismäl eine zusammenhängende Darstellung der alt-
nordischen Religion auf Grund der Eddalieder, einzelner Skaldengedichte
und anderer Überlieferungen gebend9); Bragaroedur, als ein Vortrag
4es Götterskalden Bragi bei Ägirs Festmahl nach der Erzählung in der
Lok. erdacht und eingekleidet, inhaltlich ein Bericht über die Entstehung der
Dichtkunst; Skäldskaparmäl, eine Analyse der Skaldenkunst nach dem
!) Gesch. d. d. Lit. 1, 32 f. 42 f.
2) PBB. 32, 99.
3) Idg. Forschungen 17, 444f.; vgl. Helm a. a. O.
4) Siehe u.
5) Neben Völ. und Völ. h. sk.
•) D. Alt. 5, 1591 246f.
7) J. Grimm, Ztschr. f. d. Alt. I. lt.; vgl. Koegel a.a.O. S. 42. Analoge
langelsächsische Spuren vgl. ebd. S. 1321 nach MSD. 2 S. 271; Kauffmann,
Ztschr. f. d. Phil. 25, 401 (nach Daniel von Winchester).
8) Olrik, Altnord. Geistesleben, S. 145.
9) Die er ergänzte; siehe o.
36*
564 Achtes Kapitel.
Ursprung ihrer poetischen Ausdrücke *). Diese drei Teile gehören syste
matisch zusammen : »das Werk soll alles enthalten, was ein Skäld wisset!
muß« 2) und der zweite Abschnitt ist als Vermittlung zwischen der »reinen
und der »angewandten« Mythologie3) unentbehrlich. Man hat es deshal
aufgegeben, mit Peter Erasmus Müller und Wilken4) Snorri als Verfasse
der Skälda von den Verfassern von Gylfaginning und Bragaroedur 5) zi
trennen.
An dieser Stelle haben wir es nur mit dem Versuch einer syste
matischen Darstellung der Mythologie zu tun 6). Gylfaginning, dei [<
älteste und auf Jahrhunderte der einzige Entwurf einer Gesamtdarstellung i»
der neueren nationalen Mythologie, ist rein wissenschaftlich gemeint bis^t
auf eine kurze epische Vorrede und einem ebensolchen Nachklang im
märchenhaften Stil von Brentanos Gockel, Hinkel und Gackeleia: »was!"
bleibt zu wünschen übrig, als daß wir alle Kinder wären und die ganze 3'
Geschichte ein Märchen , und Alektryo erzählte uns die Geschichte« 7).
Damit soll also nochmals der Trugcharakter der ganzen Äsen weit ein
geschärft werden 8).
Snorri hat augenscheinlich hier die Lieder der Edda exzerpiert9), wie
für die Skäld. Skäldenlieder10). Er hat zur Verarbeitung wiederholt Anlauf p1
genommen, wie die vier verschiedenen Götterlisten11) und andere Wider
sprüche12) beweisen. Aber Gylf. ist die endgültige Darstellung, auf deren
Einkleidung auch 13) nicht wenig Mühe verwandt worden ist.
Die Anordnung scheint mir folgende14): 1. Odin (ajove principium! ;
cap. 3); 2. Schöpfung (cap. 4 — 13); 3. Kosmologie (cap. 14 — 13; central
Yggdrasil cap. 16); 4. die Götter (cap. 20 — 32); 5. die Gegengötter
(cap. 33 — 34); 6. die Göttinnen (cap. 35 — 36); 7. Erlebnisse der Götter:
a) Frey und Gerd (cap. 37); b) Odin und die Einherier (cap. 39 — 41);!
c) Einschub: das beste Roß und das beste Schiff (cap. 42 — 43); d) Thors la
Abenteuer (cap. 44—48); e) Balders Schicksal (cap. 49—50); f) Welten-1
w
*) Eine vollständige Übersicht der gesamten Snorra-Edda bei Wilken,,
Untersuchungen zur Snorra-Edda, Paderborn 1878, S. 11; Keyser, Efterladle ^
Skrifter, Christiania 1866, S. 67 f.
2) Golther, Nordische Literaturgeschichte, Leipzig 1905, S. 118.
3) Vgl. Olrik a. a. O. 4) a. a. O. S. 159.
5) Und dem grammatischen Teil Mals listarrit vgl. Wilken S. 2.
6) Über Snorris Stellung in der mythologischen Wissenschaft siehe u.
7) Vgl. den Schluß der Erzählung von Thor in Utgard cap. 47 S. 342.
8) Über den mythologischen Standpunkt der Gylf. vgl. Wilken S. 68 f.
und bes. S. 163; das Christentum tritt nicht selten hervor (vgl. ebd. S. 175 Anm. 60).
9) Die Zitate bei Wilcken S. 57 Anm. 108; vgl. allgemein S. 136.
10) S. 137. n) Ebd. S. 93.
12) Vgl. z. B. ebd. S. 161. ,3) Ebd. S. 169f.
14) Anders Wilcken S. 69f.
r»
\'ai
loi
M
1
§ 33. Kodifikation. 565
chicksal (cap. 51 — 53). — Wie man sieht, eine ganz einfache glatte
)isposition: am Anfang die Schöpfung, am Ende der Weltuntergang;
azwischen die Welt nach ihrem Bestand ; die Götter und ihre Erlebnisse,
jv'äre die Erzählung von Sleipnir und Skidbladnir besser untergebracht,
o wäre alles ganz schön; denn da Loki zu den Äsen gerechnet wird,
ehört das Kapitel von ihm und den Seinen wirklich vor das von den
isinnen.
Was man in jener Zeit von einer Mythologie fordern konnte, war
•eleistet. Auf Kult und Ritus, auf Tempel und Priester, auf Gebetformeln
nd Kompetenzfragen systematisch zu achten, lernte erst eine viel spätere
'eit. Das Wichtigste über die zentralen Begriffe jeder Mythologie war
gesagt: über Götter, Kosmogonie, Eschatologie, und Verhältnis der Menschen
u den Göttern. Ja sogar Volkssagen und volkstümliche Züge — wie die
Benennung eines Krautes nach Balder — waren berücksichtigt, so daß
lan selbst in diesem Sinne an J. Grimms Mythologie erinnern dürfte.
Wiederum für jeden einzelnen Gott eine kleine systematische Monographie:
teme, Genealogie, Charakteristik, Funktion, Heim und Attribute, Anek-
lotisches; mit leisen Varianten der Reihenfolge (doch stehen die drei
rsten Punkte fast stets voran). Quellennachweise fehlen nicht, Varianten
werden zuweilen (wie bei Walis Namen cap. 30) angegeben. Der wissen-
chaftliche Charakter ist streng durchgeführt; und die allgemeine Beurteilung
rsetzt die spezielle Kritik: der dreifache Gott Odin hat den Menschen
rrugbilder vorgegaukelt; vgl. Grim. Str. 45, von welcher Stelle vielleicht
lie ganze Fiktion der Gylf. ausging, wie von dem Schluß der Strophe
lie der Bragaroedur: die Namen Här und Thridi in der gleichen Strophe,
afnhär Str. 49.
Dies ist der Höhepunkt der Kodifikation im Norden. Ein Hesiod
knd sich nicht; aber wenn dem Snorri auch nicht die Bienen Honig auf die
Lippen gelegt hatten (»der größte Skalde während mehrerer Jahrunderte«
^ard er doch)1)! — als Gelehrter steht er um so höher2).
Mit Saxos geistig viel größerer Gewandtheit steht es anders. Sein
\uge ist weder auf reine noch auf angewandte Mythologie gerichtet,
jondern auf Historie. Schon seine »Trockenheit in religiöser Hinsicht«3)
unterscheidet ihn von dem aus christlicher Demut selbst gegen die Heiden-
Götter frommen Welcker des Altertums, neben dem er wie das Paar
-obeck-Lehrs steht, mit Lobecks rationalistischer Schärfe, mit Lehrs' künst-
lerischer Auffassung. Er ist ein wirklich bedeutender Historiker mit
starkem kulturgeschichtlichen Interesse, ein glänzender Schriftsteller, der
') Olrik S. 145.
2) Vgl. über seine Objektivität Wilken S. 163; doch ebd. S. 175 auch über
1ie Grenzen seines wissenschaftlichen Interesses.
3) Ebd. S. 162.
566 Achtes Kapitel.
alte Verse mit der Eleganz eines Macaulay in seine klassische Spracl
bringt; er ist eine bedeutende Persönlichkeit — ein Theolog ist er nicr
nicht einmal so weit, wie es jeder Bearbeiter wissenschaftlicher Mytholog
sein muß. Wie es Heusler *) teils im Anschluß an Olrik, teils im Wide
spruch mit ihm ausgesprochen hat: »seine Mythologie ist die is
ländische um 1200, vielfach mißverstanden und verderbt«
nur eine Quelle für Geschichte und Kulturgeschichte war ihm die euheme
ristisch 2) umgedeutete Mythologie. Saxo gehört nicht in die Geschieht
der mythologischen Entwicklung, sondern in die Geschichte der mythe
logischen Wissenschaft — Snorri in beide. Und in jene Geschieht
gehört er eigentlich nur zufällig hinein, wie etwa der Indiculus supei
stitionum. Die altnordische Mythologie aber endet mit dem großen Doppel
denkmal der beiden Edden: der Prosa-Edda des Snorri (um 1222 — 23) 8]
der Lieder -Edda, um 1250 abgeschlossen, mit ihrer systematischei
Sammlung und Anordnung, mit ihren kommentierenden Prosastücken, mi
ihrer Kritik des Weglassens unser Codex Regius im höchsten Sinne de
Wortes !
Lieder, die im Volke umliefen, begann man seit dem 12. Jahrhunder
zu sammeln. So entstand vermutlich in der zweiten Hälfte dieses Jahr
hunderts4) ein erstes »Liederbuch«5). Es umfaßte die »kosmologischer
Dichtungen«, auf die Snorri seinen Tempel gebaut hat: Völuspä, Vaf
thrudnismäl, Grimnismäl, Alvissmäl; vielleicht auch die später zum Tei
in die Hyndluljöd aufgenommene kleine Völuspä6). Dies wäre die gemein
schaftliche Quelle für beide Edden 7). — Es sind vier (oder fünf) Dichtungen
des 10. Jahrhunderts, von denen drei8) unerschöpfliche Schatzkammern füi
mythologische Namen bilden, das bedeutendste aber für alle mythologische
Anspielungen die tatsächliche und chronologische Grundlage bietet. Inj
dieser Hinsicht stehen sie völlig allein. Die Veg, sonst vergleichbar, hat
wenig Inhalt und fast gar keine Namen; Härb. und Lok. bieten reichen
Stoff, aber in nicht unmittelbar zugänglicher Form. — Einzellieder wie
Skirn. (erst in einer Interpolation benutzt), Hym., eventuell die Rig. mußten
ausscheiden; denn offenbar sollte schon diese Sammlung dem gleichen
ir
J) Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1902 S. 238.
2) Wie von Saemund und Snorri: ebd.
3) Golther a. a. O. ; Wilken S. 166 versuchte die Gylf. noch dem 12. Jahr
hundert zuzuweisen.
4) Vgl. Finnur Jönsson, Oldnord. Lit. Hist., S. 116, der allerdings den
ganzen Codex Regius — als Sammlung — so früh ansetzt.
5) Ein Ausdruck Müllenhoffs, den Finnur Jönsson (S. 118 Anm. 2)
allerdings verwirft.
6) Vgl. Wilken S. 58 Anm.
7) Finnur Jönsson S. 116.
8) Vaf., Grim., Alv.
§ 33. Kodifikation. 567
Zweck dienen wie später Snorris großes Werk: es sollte ein Hilfsbuch
ur Skalden sein.
Vielleicht ist dies Corpus von »Weltschöpfungsgedichten« l) noch in
Jerfder späteren, umfassenderen Sammlung wiederzuerkennen, für die Finnur
isijönsson2) Müllenhoffs Prinzip der Anordnung3) verwirft. Sie würden den
t Grundstock des Codex Regius bilden ; nur wäre an das erste Hauptgedicht,
nekiie Vol., gleich das zweite, die Häv., als das umfassendste angeschlossen —
hflzunächst, was ich4) noch immer glaube, weil die Lieder-Edda die all-
10 gemein orientierenden Gedichte den speziellen vorausstellt5); sodann,
ltfweil dies Gedicht die »alte Kunde« tatsächlich zu enthalten schien, von
;ivder sowohl in der Völ. gegen Ende (Völ. Str. 60; ursprünglich dem Ende
;knoch näher, ehe die letzten Strophen interpoliert werden !) als die Vaf. im
^Anfang6) erzählen. — Die Alvissmäl wären ans Ende gerückt oder viel-
mehr alle anderen Götterlieder zwischen sie und das Vierblatt Vol., Häv.,
i
ijjVaf., Grim. eingeschoben worden, weil sie sich sämtlich auf einzelne in
$Grim. benannte Persönlichkeiten beziehen — Frey, Odin, Thor in der
alten Reihenfolge; Loki, Thrym, Walküren — während die Alv. über all-
gemeine Ausdrücke für Naturgegenstände handelt.
Jedenfalls wird man gut tun, mit Finnur Jönsson eine gemeinschaftliche
Grundlage für Snorri und die Lieder-Edda anzunehmen. Hätte Snorri diese
schon gekannt, so hätte er sich die Benutzung der Lok. gewiß so wenig ent-
gehen lassen wie er (meiner Ansicht nach) die der einzelnen Strophe von
Wili und We verschmäht hat, — wenn er deren Inhalt nicht von anderswoher
kannte. Hätte umgekehrt der Sammler der Lieder Snorris Buch gekannt7),
so würde z. B. in der Prosa nach Lok. Kwasir8) schwerlich fehlen. Über-
haupt aber scheinen mir diese prosaischen Umrahmungen zu Skirn., Lok.
Reg. usw. an sich der beste Beweis, daß zu ihrer Zeit ein allgemein
orientierendes Werk über die Mythologie, über Lokis Schicksale oder
Freys Liebe noch nicht vorhanden war. — Auf das Verhältnis der beiden
Edden in bezug auf die Heldensage können wir hier selbstverständlich
nicht eingehen9).
Aus solchen kleineren Sammlungen stellt ein unbekannter einzelner
Sammler10) eine große her — natürlich nicht der berühmte Saemund
1) Helm, PBB. 32, 107 nach Schütte.
2) S. 117 f. 8) D. Alt. 5, 234.
4) Trotz Finnur Jönsson a. a. O. S. 119f.
5) Vgl. f. d. Heldenlieder Ztschr. f. d. Alt. 32, 402 f.
6) Vaf. Str. 1.
7) Was Bugge zu erweisen suchte; doch vgl. Finnur J önsson S. 115f.
8) Gylf. cap. 50: Gering S. 346.
9) Vgl. z. B. Wilken S. 140 f., vor allem aber die Literatur zur Heldensage.
10) Finnur Jönsson 1, 118 Anm.
568 Achtes Kapitel.
(gest. 1133), dem Bischof Brynjulf Sveinsson 1643 die Edda zuschriel
schon Schloezer erkannte 1773 x), daß dieser »Vielkundige« und unsei
»Vielkundige« nichts miteinander zu tun haben: vielmehr gehört er als Ve
fasser der Lieder-Edda in die große, bei Tageslicht verschwindende Walhall,
in der die Büsten Keros, des Verfassers der Benediktinerregel; Heinrich
von Ofterdingen und des Kürnbergers, der Dichter des Nibelungenliedes
Walthers von der Vogelweide, des Autors von Freidankes Bescheidenhei
und Caedmons sowie Cynewulfs in mehrfachem Autorschaftsverdach
stehen. Ebensowenig hat die »Edda Saemundi tnultisciü ein Rech
eine Edda, d. h. Poetik, zu heißen wie Snorris Buch2), und als Ganze
wird sie auch schließlich nicht die »Ältere Edda« heißen dürfen, da si
doch wohl3) erst gegen 1250 abgeschlossen wurde.
Aber es ist doch hübsch, daß eine wenn auch falsche Benennung
die »beiden Edden« zusammengerückt hat, gleichsam als das Alte unc
Neue Testament des nordischen Heldentums. Denn wie innerlich Snorri«
wirkliche Edda, ist äußerlich des Unbekannten angebliche Edda der Triumpr
der theologischen Sammelkunst der nordischen Philologen. Wir dürfen an-
nehmen, daß der Kanon mindestens so glücklich war wie der, dem wir im
Wesentlichen unsere Kenntnis des attischen Dramas verdanken ; wir sehen
eine kluge Ordnung, und Einleitungen, die zweckdienlich sind, auch wo
sie in Wirklichkeit nur aus dem Lied selbst ihre Weisheit schöpfen. Wie
arm stehen wir Deutschen da mit unseren zwei »Resten germanischen
Heidentums!« und fehlen die Vandilier in dem libellus aureus des Tacitus,
so sind die Ostgoten dafür die glücklichen Besitzer der beiden anderen
Haupturkunden altgermanischen Schrifttums: des Codex argenteus von
Ulfilas' Bibel, und des Codex Regius, der größten vorchristlichen Lieder-
sammlung, die irgendwo vaterländischer Eifer und philologisches Geschick
einer dankbaren Zukunft gerettet hat.
n
x) Vgl. ebd. S. 114.
2) Vgl. z. B. Golther S. 69.
3) Trotz Finnur Jönssons Widerspruch; siehe o. S. 566, 4.
3
Neuntes Kapitel.
Geschichte der germanischen Mythologie.
Die Mythologie ist, wie die Medizin, eine der ältesten und eine der
ngsten Wissenschaften. Als praktische Disziplin ist sie von Priestern
ld Gläubigen schon in einer Zeit geübt worden, in die nur eben noch
e (mit ihr zusammenhängenden) Anfänge von Heilkunde, Rechtskunde,
ernenkunde hinabreichen. Als methodische Wissenschaft ist sie so jung,
iß nur etwa noch die neuere Literaturwissenschaft ihre jüngere Schwester
iißen darf.
An diesem ungeheuren Abstand zwischen Mythologie (als Wissen-
:haft) im alten und im neuen Sinne liegt es, daß so unendlich viel
undgelehrte, oft sehr gescheite, nicht selten berühmte Werke für uns
lur noch von historischem Interesse« sind, d. h. weder gelesen werden
Dch gelesen zu werden brauchen. Sie haben innerhalb der Geschichte
er deutschen Philologie ihre verdiente Würdigung zu suchen ; an dieser
teile wollen wir nur in kurzen Zügen auf diejenigen Arbeiten hinweisen,
se für die moderne Auffassung unmittelbare Bedeutung haben. Wir
Ünnen dies umso eher, als an vorzüglichen Darstellungen der Geschichte
tx germanischen Mythologie in weiterem Sinne kein Mangel l) ist.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm.
Volkstümliche Tradition ist nur für die Zaubersprüche, Heilformeln
. dgl. vorauszusetzen, die wohl früh von Zauberern und Hexen ge-
») E. H. Meyer S. 11, Golther S. lf., Chantepie S. 7f., Mogk a S. 238 f.;
. Symons, De Ontwikkelingsgang der germaansche Mythologie, Groningen
592. — Allgemein R. v. Raum er, Gesch. d. germ. Phil, München 1870. Als
ortsetzung: Ergebnisse u. Fortschritte d. germanistischen Wissenschaft im letzten
ierteljahrhundert, her. v. B. Bethge, Leipzig 1902 (Mythologie: S. 506 f. von
chullerus). H. Paul, Gesch. d. germ. Phil., in seinem Grundriß d. germ.
hil. 2. Aufl. S. 9 f. — Geschichte der vergleichenden Mythologie: Sehr ad er,
prachvergleichung u. Urgeschichte, 3. Aufl., S. 415f.; vgl. auch Lang, La
tythologie, S. 13f. ; seit dem Altertum: Hardy, Zur Geschichte d. vergleichenden
eligionsforschung, Arch. f. Rel.-Wissensch. 4, 45 f. 97 f. 193 f.
570 Neuntes Kapitel.
sammelt wurden, wie der Dichter der Häv. Sprüche sammelt zt
praktischen Gebrauch. Sie haben sich zum Teil seit unvordenklict
Zeit fortgepflanzt. Für die treue Wahrung der Form ist zu bedenk
daß zur Stütze des Gedächtnisses die symbolische Handlung dient. W( 0
und Wort hielten sich gegenseitig x).
Priesterliche Tradition, vermutlich früh mit Aufzeichnung verbünd
hält die wichtigsten Punkte der mythologischen Dogmatik fest; so c
uralten, feierlich bewahrten Verse über das Chaos2).
Eine eigentliche Verarbeitung von Material scheinen zuerst in prin
tiver Form Namensammlungen zu geben, wie sie Häv. Str. 158 vorausset
Einen vierzehnten (Spruch) kenn ich, wenn dem Volke der Menschen
Ich die Himmlischen herzählen soll.
Die Äsen alle und Eiben kenn ich,
Nur ein Weiser weiß das so gut.
Ifli
jm
er
Ihre praktische Bedeutung liegt in Litaneien, bei denen alle Götter a
gerufen werden sollen3). Sie entwickeln sich im Norden zu ein
Spezialität : der thula, dem Hersagen möglichst vieler Namen in metrisch
Form. Diese »Katalogverse« 4) gehen bald auch in die geschichtliche ur
sagenhafte Tradition über, gestützt durch Stammbäume der Könige f
Dies sind unsere Pindarischen Dithyramben : das Hyndlalied und ähnlicl
Sammelbecken für allerhand Helden- und Götternamen«6), wie die
Vol. und besonders Grfm. aufgenommenen Verzeichnisse oder die d
Rfg. überwuchernden Namenphantasien 7).
Der unmittelbare praktische Nutzen geht allmählich in einen mitte
baren über: schon die Grfm. nennt Jessen 8) »eine Vorratskammer myth<
a
J) Meine Altgerm. Poesie bes. S. 381 f. 388. 494; Kögel, Gesch. d. d. Li
S. 82f., und in Pauls Grundriß 1. Aufl. 2, 165f.; M. Müller, Stilform
altgerm. Zaubersprüche, Gotha 1901; O. Ebermann, Blut- und Wundsegen i
ihrer Entwicklung dargestellt, Berlin 1903.
2) Wessobruner Gebet Str. 1; Völ. Str. 6; vgl. MSD. S. 252. Vgl. allgemein
über solche Memorialverse Müllenhoff, D. Alt. 5, 248; altnordisch: Vigfussop
und Powell, Corpus Poeticum Boreale, Oxford 1883, II. § 1 S. 75 f.
3) Vgl. o. S. 438.
4) Vgl. H e u s 1 e r und R a n i s c h , Eddica minora, Dortmund 1903, S. LXXVII
B ran dl, Altengl. Lit., S. 957; über ihre Verwendung in der Saga Heuslei'f
Arch. f. n. Spr. 116, 261.
5) Vgl. J. Grimm, Mythologie 3, 3771
6) Heusler-Ranisch S. XC.
7) Für die Litaneien vergleicht Kögel (Gesch. d. d. Lit. 1, 31) das römisch
Arvallied, natürlich nur in der ganzen Anlage; eine Art negativer Litanei ist da
sächsische Taufgelöbnis (MSD. LI; vgl. Kelle, Gesch. d. altdeutschen Lit. 1,4
siehe o. S. 60).
8) Über die Eddalieder Ztschr. f. d. Phil. 6, 74.
/
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 571
bischer Spezialia, die man in solcher Form memorieren wollte« *).
^nn man darf das Gedächtnis der alten Sänger und Spielleute nicht
Verschätzen. Hierüber gibt im Anschluß an die Untersuchungen Radioffs
f>er die Lieder der Kirgisen John Meier 2) interessante Nachrichten.
lr sollte eben neben der schriftlichen Oberlieferung die durch be-
smmte Katalog- und Registerverse als Hilfsmittel berücksichtigt werden;
jr Volkssänger «memoriert nicht wie unsere Schauspieler«3), aber er
emoriert Stichworte — das sind in diesen Dichtungen die Namen.
imit ist die Stufe der dichterischen Verarbeitung erreicht, wie wir sie
den »theologischen Gedichten« Vai, Veg., Gnm., Völ. h. sk., Rig.,
auch der Völ. finden, bis endlich in den Alv. die Namendichtung
eder zu der ursprünglichen Form zurückkehrt: das Memorieren von
Zeichnungen wird wieder Selbstzweck. — Ein genaueres Eingehen auf
ese Stufen und ihre Entwicklung in den uns erhaltenen Resten gehört
die Literaturgeschichte.
Neben diesen poetischen Denkversen hat es gewiß auch prosaische
aditionen gegeben, mythologisch von noch größerer Wichtigkeit, uns
er verloren: rituelle Vorschriften für Gebet und Opfer, Weihen und
ihnen usw., mit Berücksichtigung eng lokaler Verschiedenheiten, wie
is diese Literatur indisch4) so überreichlich bewahrt ist. Auf die
eiteren Berührungen der theoretischen mit der praktischen Mythologie
mnen wir dann nicht noch einmal eingehn5); es ist ja klar, daß ein
streben, die richtige Überlieferung festzustellen, eine Kritik an neueren
sarten, Gebräuchen, Rangordnungen sich einstellen mußte. Gedichte
e Härb. und Lok. stehen recht eigentlich auf der Grenze zwischen der
erfechtung eines bestimmten Glaubens und der wissenschaftlichen Fest-
?1lung seiner Grundlagen. Die letzten Leistungen der Theologie, die
:hlung, Charakteristik, vor allem die Kodifikation sind dann schon wirk-
W\ wissenschaftliche Großtaten.
So ist in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts6) ein Höhepunkt
ir germanischen Religionswissenschaft erreicht, wie er erst nach 600 Jahren
Dch einmal erreicht wurde, nach einer langen, langen Götterdämmerung,
ichdem die Kälte der früheren Anhänger, die Hitze der Konvertiten und
is natürliche Herabsinken aller Vorstellungen zur Hei die alte Götter-
elt zerstört hatte. Endlich kam 1835 der mächtige Herrscher zum
*) Vgl. über die Anwendungen solcher Hilfsmittel "für das Gedächtnis z. B.
einhold, Altnord. Leben, S. 363.
2) Werden und Leben des Volksepos, Halle 1908, S. 51.
3) Steinthal, Ztschr. f. Völkerpsychol. 5, 3.
4) Vgl. Hillebrandt, Ritualliteratur.
5) Vgl. o. S. 53 f.
6) Snorris Edda ca. 1225, Lieder-Edda bis etwa 1250.
r
5C
572 Neuntes Kapitel.
Gericht und zum Wiederaufbau der alten Welt, die er zu schön mit Gc
deckte. Aber bis dahin war noch lang; ehe die Erde in frischem Gr
aufstieg, kam noch einmal das Chaos, und die Sonne wußte nicht, wo ;
Wirkung hatte, der Mond nicht, welche Macht er besaß. — Und da c
Feinde von allen Seiten kamen, von Norden, von Osten, von WestA
so müssen wir im folgenden hin und wieder auch die außergermanisc die
Mythologie (worunter wir jetzt immer die mythologische Wissenschaft
verstehen) streifen.
Snorri bedeutet den Punkt, an dem die lebendige Entwicklung d
Mythologie in tote Wissenschaft übergeht. Er selbst, wie wir schon b
tonten, steht noch in der Entwicklung: der fromme Christ führt religio
Tendenzen des Heidentums mit innerem Anteil fort. Saxo dagegen h
keinerlei religiöse Empfindung; er ist ein großer Gelehrter, der die Rlel
ligion der Vorfahren in seine Dänische Geschichte einfügt. fi
Unsere jetzige Kenntnis Saxos beruht ganz auf den Arbeiten Olri ks is
»Wir hören von Saxos Chronik zum erstenmal um das Jahr 1 1 8 jdr
und . . . erst im Jahr 1216 arbeitet er an der Vorrede zu dem große in
Werk« 2). Saxo schreibt im Auftrag des großen Erzbischofs Absalon3), dul
den »Sohn und Enkel von Adelsleuten, die in Waidemars Heer gekämped
hatten«, seinen Schreiber, geeignet fand, »mit Waffen des Geistes für daii
Vaterland zu kämpfen«. Seiner Geschichte Dänemarks gab er seinen breitet
Unterbau in jenen neun Büchern, die für uns an Wichtigkeit nahe an di
Edda heranreichen4). Olrik wies nach, daß Saxo für diese neun Bücher durcr
aus wissenschaftlich verfahren ist. Er sammelte Berichte von zwei Seiten: au
Norwegen und aus Dänemark. Ob nun Olriks Annahme endgiltig ist, ffi
die norrönen Quellen habe er nur Einen Gewährsmann gehabt5), steh
dahin. Ich glaube, das Bedürfnis, die Lehrer Saxos von Auge zu Aug
zu sehn, hat den unvergleichlichen Meister der Analyse hier zu weit i
der Synthese gehen lassen; der Arnald Torvaldsson, dem er6) ein so große!1
Verdienst an Saxos Werk zuschreibt, und der ihm als Vermittler zwischeif
Dl
*) Forsög pa en Tvedeling af Kilderne til Sakses Oldhistorie (Versucl
einer Zweiteilung der Quellen von Saxos Geschichtswerk) Kopenhagen 1892
als »Tvedeling« zitiert; Sakses Oldhistorier; norröne Sagaer og danske sag]
(Norwegische Sagas und dänische Sagen), ebd. 1894, als »Kilderne« zitiert; Dan
marks heltekdigtning (Dänische Heldensage), ebd. 1903; dazu Märchen in Sax<
Grammaticus, Ztschr. d. Ver. f. Volksk. II. (1902) S. 117f. 252f. 367 f.; Altnorc
Geistesleben S. 160 f.
2) Altnord. Geistesleben S. 160.
3) Ebd. S. 1581
4) P. Herrmann, Erläuterungen zu den ersten 9 Bücher der Dänischei
Geschichte des Saxo Grammaticus I, Leipzig 1901.
5) Kilderne S. 275, vgl. S. 286.
6) S. 288 f. 313.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 573
>rwegen und Dänemark1) fast symbolische Bedeutung erhält (obwohl
rif sich bewußt bleibt, daß er nur der Vertreter einer allgemeinen Strömung
s2), mag doch vielleicht das Schicksal anderer großer nur erschlossener
d rsönlichkeiten teilen, und wenn nicht mit Keysers Thorgeir Afrädskall 3),
ch mit Reichs Philistion4) das Glück einer kurzen Unsterblichkeit teilen.
:|elleicht hat er nicht mehr zu bedeuten als Lucas der Engländer5): ein
richterstatter wie die des Tacitus gewesen sind; ein Erzähler, nach dem
i eigentliche Tat doch erst zu tun war.
Denn in zwei Punkten, glaube ich, hat Olrik durch die Entdecker-
ude des Sagenforschers sich zu weit führen lassen. Er unterschätzt die
»iderweitigen Quellen Saxos — und noch mehr seine eigene Leistung.
l; Zwar weist er selbst auf Märchen bei Saxo hin und nimmt sie6) für
|e Sigridsage als unmittelbare Quelle an. Auch auf Berührungen mit
r Stimmung des Volksliedes weist er 7) hin. Aber zuerst sucht er doch
is als Vorlage Saxos nur Erzählungen nachzuweisen8); können aber
bht Volkslieder unmittelbar vorgelegen haben? Wenn der Goldschmied
ti Stand übrigens, den Starkather — oder auch Saxo besonders gehaßt
I haben scheint, wie Euripides die Herolde; vgl. die Scheltworte des
dichts!) sich von der edlen Jungfrau die Flöhe suchen läßt9), so ent-
richt dies mehr lebens- als anmutsvolle Detail mehr dem Stil des Volks-
des als der Saga:
Er spreit sein Mantel in das Gras,
Er bat sie, daß sie zu ihm saß,
Er sprach: sie sollt ihm lausen,
Sein gelbes Haar zerzausen10).
Wichtiger indes gerade auch für uns ist die Frage nach Saxos eignem
iteil an der Verarbeitung.
Olrik läßt hier dem Mönch fast nichts übrig. Er spricht ihm aller-
<gs ein besonderes Naturgefühl zu n) — gleich aber erklärt er es aus der
;nantischen Stimmung der Zeit, die auch Volkslieder zeigen. Sollte
!) S. 288. 2) S. 314.
3) Keyser a. a. O. S. 424f.; widerlegt von Grundtvig.
4) A. Reich, Der Mimus, Berlin 1903, I. 2, 4271 u. ö.
5) S. 309.
6) Ztschr. d. Ver. f. Volksk. S. 257.
7) Kilderne S. 157.
8) Einheimische geschriebene Quellen zweifelt er an (Tvedeling S. 117),
utsche läßt er zu (Kilderne S. 313).
9) S. 192; Herrmann S. 257.
10) Uhland, Volkslieder 1, 142. — »Mit viel Behagen ließen sich die
rdischen Männer von ihren Weibern den Kopf krauen und waschen: Egilss.
p. 56 mit Thorkelins Anmerkung«, sagt Wein hold (Altnord. Leben, S. 181)
it gelehrter Naivität.
») Kilderne S. 157. 181.
574 Neuntes Kapitel.
man dem Patrioten, der die Deutschen verabscheut *), nicht auch das Ze
bild des Hildegisil2) direkt zuschreiben dürfen3)? eine Etymologie \
die von Hadersleben4) nicht auch? Aber selbst wo die VerantwortlhP
keit Saxos sich aufzudrängen scheint, wie bei der Anpassung von Pau
Diaconus' Bericht5), bei Sagenversetzungen6), bei der Rationalisieru
von Märchen 7) schiebt Olrik sie der »dänischen Oberlieferung« zi o 2
oder weicht wenigstens einer unmittelbaren Haftbarmachung Saxos aus. ei
Ich glaube, der glänzenden Analyse norwegischer und dänisct inn
Quellen müßte noch eine zweite zur Seite treten, die scheidet, 1. vuf
Saxo empfing, 2. was er daraus machte. Und hier darf keine isolier
Betrachtung, herrschen. Saxo muß verglichen werden nicht nur mit d^
Historikern, die ihm als Vorbild dienten, wie Baeda, oder die er t 1
benutzte, wie Paulus Diaconus (der ihm bei all seiner Naiviät so n iioi
verwandt ist: »wir verdanken ihm die Bewahrung jenes reichen, durjei
keine spätere Gelehrsamkeit verfälschten Sagenschatzes«, sagt Wattenbach) $01
nicht nur mit Dudo und Galfred von Monmouth10), sondern vor allen
auch mit den großen Philologen des Mittelalters. Jene Männer , c U
in der reproduzierenden Technik die unscheinbaren Vorläufer unsere
Brüder Grimm, Lachmann, Uhland waren, hatten eine bestimmte Techni hr
die an den (freilich sehr verschiedenen Epochen angehörenden) Meistech
einmal im Zusammenhang studiert werden sollte: für England an Baediet
für den Norden an Snorri und Saxo, für Deutschland an den »Neidhai
dichtem« n). ir$
Diese Technik beruht im wesentlichen auf zweierlei Verfahren : Kon itt
binieren und Ausfüllen. Die Kombinationen werden geleitet entwed()n
(häufiger) von den Namen der Hauptpersonen, oder von dem Inhalt di^
Erzählungen; die Ergänzungen werden von der speziellen Absicht q|
Sammlers bestimmt. je
In dieser Art geht auch Saxo vor. In der Verknüpfung der Sagen *>
geht er im allgemeinen von einer festen Grundlage aus: der Geschieh^
der Skjöldungen 13). Im einzelnen aber benutzt er vielfach äußerliche MirM
Zwei verschiedene Ebbo verbinden die Geschichte von Sygritha unj|
!) »Deutsche Üppigkeit« S. 204, Herrmann S. 273.
2) S. 232 bez. 309. 3) Gegen Kilderne S. 246.
4) Ebd. S. 251. 5) Ebd. S. 263. 6) Ebd. S. 276.
7) Ztschr. d. Ver. f. Volksbildung S. 273.
s) Kilderne S. 263.
9) Deutschlands Geschichtsquellen, 4. Aufl. 1, 140.
10) Kilderne S. 315.
1J) Vgl. Ztschr. f. d. Alt. 31, 64f. — Vgl. jetzt R. Meißner, Römveriasag
Berlin 1910, bes. S. 183 f.
12) Vgl. allgemein Kilderne S. 276:
13) Ebd. S. 278.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 575
ritha (S. 224. 225 bez. 298. 299), obwohl der zweite Ebbo nur Vaters-
me des Helden Otharus ist. Auch Ethascoug, das Versteck des Räubers
inno, und die Jarlstochter Esa (S. 250. 251, bes. 334. 837) hat vielleicht
ähnliche Klang benachbart gemacht. Öfters verbindet Saxo Er-
llungen gleichen Inhalts: von Berserkern (S. 221. 223 bez. 294. 296),
n zwei überkeuschen Mädchen (S. 227. 228 bez. 302. 303 *) handeln
ei sich folgende Geschichten; oder die eine von einer Verkleidung in
innertracht, die andere in Mädchentracht (S. 228. 232 bez. 304. 309).
r Name Ursa führt vielleicht dazu, das Motiv des Trinkens von Bären-
11t anzubringen (S. 55. 56 bez. 72. 73). Dies führt zu den Hauptsache:
Art, wie Saxo ausfüllt.
Offenbar schwebt ihm für die ältere Zeit das Ideal einer kultur-
itorischen Schilderung vor. Gern gibt er Notizen über die früheren
^eikämpfe (S. 56 bez. 73), über die Schwertmädchen (S. 230 bez. 306,
sonders breit ausgeführt). Oder er verflicht in die Erzählung Kuriosa,
:: er historisch festlegt mit oder ohne Berechtigung: Einbalsamieren von
ichen (S. 171 bez. 228), Abstufung der Leichenfeier (S. 156 bez. 209),
akel (S. 181 bez. 242: »in alter Zeit herrschte die Sitte — «), über
brittschuh (S. 229 bez. 305), Bogenschützen (S. 263 bez. 352), Trunk-
;:ht (283 bez. 379), Hungersnot und Abhilfe (S. 284 bez. 281); ebenso
er hibernische Tracht und finnische Zauberer (S. 169 bez. 226).
In diesen Zusammenhang nun gehören auch seine mythologischen
rstellungen. Sie sind nicht um ihrer selbst willen da, sondern als
'ttel des kulturhistorischen Kolorits — gerade wie in neueren historischen
imanen oder in den gelehrten des 17. — 18. Jahrhunderts. So wird das
irsprechen von Menschenopfern (S. 263 bez. 352; S. 304 bez. 409)
ch unter die kulturhistorischen Momente gestellt werden können; gerade
die immer wiederkehrenden Sagenzüge: das Abschneiden von Kopf
126 bez. 168; 274 bez. 368) und Nase (S. 58 bez. 76), das Ab-
slagen von Beinen (S. 149 bez. 200), Bein und Hand (S. 179. 281
239. 377), rechter Hand (S. 223. 262 bez. 298. 351) — was des-
lb Olrik in einem Einzelfall2) wohl zu sehr urgiert. Aber ebenso
1 auch der häufige Gewitterzauber wirken (S. 128. 327 bez. 170.
0 u. ö.), die Erzählungen vom Festmachen der Menschen (S. 219
z. 291) und Stumpf machen der Schwerter (S. 187. 223 bez. 250. 297);
: Geschichten von Riesen, die Knaben oder Mädchen rauben (S. 178.
2 bez. 239. 296). Er sucht sie irgendwo auf, im Märchen (wie das
ehen der Schüssel S. 129 bez. 173, das Swinegel-Motiv auf Guwara
gewandt S. 148 bez. 198), im Anekdoten schätz (wie die Geschichten
!) Vgl. Kilderne S. 235. 244.
2) Kilderne S. 258.
AS
576 Neuntes Kapitel.
von Hugleks Geiz S. 185 bez. 248); in der Verbindung beider wie 1
Amleths weisen Sprüchen *). Da er seine Zettelkästen plündert, wiederh
er sich oft2), gerade wie er als richtiger Notizenmensch auch mal ei
Hauptsache vergißt3). Die Anekdote von dem verschämten Armen wi
zweimal vorgebracht (S. 57. 296 bez. 74. 399); ebenso daß Vögel Brand stift
(S. 25. 120 bez. 30. 159); daß die Schiffsplanken durchlöchert werden
Zweimal lassen kluge Feldherren ihre Feinde die ganze Munition vi
schießen. — In vielen Fällen stammt die Doppelung ja natürlich aus
Quellen; daß sie es immer tut, haben wir kein Recht anzunehmen. Vi
ein solches mehrfach gesetztes Motiv (das Durchlöchern des Schiffs t
gegnet viermal !) nicht nachzuweisen ist, wird er es eben eingefügt habt)
Ebenso seine Lieblingsmittel, die Personen zu verbinden: die Pfleg
väterschaft5); oder die Kriegslisten6). Denn daß z. B. Starkadr
deutschen Königin das Band zweimal ins Gesicht geworfen habe (S. 2
207 bez. 295. 297), wird wohl trotz der berühmten Analogie in Hebb
»Herodes und Mariamne« niemand annehmen.
So also entwirft Saxo ein Bild der frühhistorischen Periode. Er ko
biniert, er ergänzt; er gebraucht das beliebte Kunstmittel, die Leser sich
zu machen, indem er an unbedeutender Stelle die beiden Oberlieferung |
nebeneinander stellt (S. 225 bez. 300 — gerade wie Snorri, wenn |
zwischen Ali und Wali die Wahl läßt, oder etwa noch Macchiavelli, wei j
er über den Namen »Firenze« plötzlich kritische Betrachtungen anstellt
In diesen kulturhistorischen Hintergrund müssen sich nun auch c
Göttergeschichten fügen. Der Euhemerismus , den man gewöhnlich L
bezeichnend allein anführt, ist nur Fortsetzung der dänischen Auffassung j
Daß er an den von Starkadrs Körper ausgehöhlten Stein nicht glau j
(S. 198 bez. 263), gehört einfach zu seinen beliebten moralisierenden B
trachtungen, diesmal über die Leichtgläubigkeit der Menschen, wie soii,
über andere Schwächen. Er selbst glaubt ja an die meisten Wunder, 1,
Sturmzauber, an das wunderbare Totenreich (S. 288 bez. 387) und sogir
an das Haar des Utgardaloki mit seinem todbringenden Geruch (S. 2^
bez. 398). Manchmal rationalisiert er freilich : Asmund im Grabe (S. 1
!) Ztschr. d. Ver. f. Volksk. S. 119f.
2) Vgl. Herrmann S. 4791
3) Kilderne S. 111.
4) Vgl. Herrmann S. 483.
5) Vgl. Tvedeling S. 72.
6) Die allerdings nur in norrönen Sagen begegnen, wie Olrik entdeckt h
(Kilderne S. 47 Anm.) — wie die falsche Todesnachricht (S. 162. 245 bez. 2
325 u. ö.).
7) Die Florentinische Geschichte, übs. v. Joh. Ziegler (C. F. Meye
Schwiegervater), Karlsruhe 1834, S. 53.
8) Tvedeling S. 35.
ns
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 577
iz. 216) wurde wohl ursprünglich vom wirklichen Tode erweckt; der
nochen, den Starkader dem Pfeifer gibt (S. 203 bez. 272), war wohl
•sprünglich ein Musikinstrument (wie das des Wäinämöinen). Aber hier
: auch wieder er nicht der Erste. Vielmehr deckt sich seine Grund-
ischauung mit der seiner Zeitgenossen. Die Zeit vor Christus (Ende
m Buch V) und die der Christianisierung des Nordens (Ende von Buch IX)
\ der späteren gegenüber dunkel und unheimlich — mag sie auch in
)litischer Hinsicht den Glanzpunkt der dänischen Geschichte vorstellen x).
\t Äsen sind nicht gerade Götter — im Gegenteil, er äußert sich ja
fern ironisch über solche Götter und ihre Gattinnen (S. 25 bez. 31).
•ber so recht eigentlich Menschen sind sie doch auch nicht — von dem
oben Euhemerismus etwa der Adelung und Schlözer2) steht er weit
>. Es sind »Zauberer« — Gott hatte die Zügel noch locker gelassen,
id die Menschen konnten noch Wunder tun. Es war Blendwerk (S. 70
f:z. 88), es waren »Larven« (S. 74 bez. 94); blendende Nebel (S. 215.
II bez. 291. 377) — aber eigentlich glaubt Saxo sie selbst zu sehen,
'ehr jedenfalls als der Verfasser der Gylfaginning !
1 Diesen Standpunkt, glaube ich, muß man immer berücksichtigen. So
>r allem in dem wichtigsten Fall: in der Baidersage. Ein Rationalist
itte den Mythus einfach wiedergeben können: Balder erregt durch Schön-
nt unter seinen Brüdern Neid wie Joseph, wird von den Schlimmsten
die Grube geworfen, aber wieder herausgeholt und vor seinen Vater
'din gebracht u. dgl. Saxo aber ist die Gestalt Balders unheimlich,
!rade weil er sie einigermaßen für historisch hält. Sie kommt ihm zu
in ans Christentum heran. Deshalb dreht er resolut die Geschichte zu-
msten des Hotherus um, der wenigstens kein böser Zaubererer ist, und
!>cht sich aus dem Mythus (nach Goethes Lieblingsausdruck) ein »Gefäß«,
gl alles Mögliche hineinzustopfen: Walküren (die er besonders liebt3),
subernahrung, die beliebten Kriege mit wechselndem Ausgang usw.,
|r allem die Götterschlacht als Parade, damit doch einmal alle Äsen
»rgeführt werden. Kurz: je näher ein »Gott« dem neueren Begriff,
$to stärker ändert er. Othinus bleibt erkenntlich, als Zauberer, Kriegs-
istifter, Fürstengönner; über Balder muß ein historisch-mythologischer
oman gedichtet werden4).
Soll ich noch versuchen, Saxo als Menschen zu schildern, so erscheint
x) Tvedeling S. 126.
2) Garde Grundtvigs Mytologi, Kopenhagen 1897, S. 6.
3) Vgl. Kilderne S. 89.
4) Im einzelnen über die Mythologie bei Saxo: die Äsen Tvedeling S. 32,
din S. 30, Walküren S. 52, Kilderne S. 19, Riesen S. 46, Berserker S. 56, das
oernatürliche überhaupt S. 26f.; Hoder und Balder S. 141; Kilderne S. 13f. 45;
er Hoder noch ebd. S. 32.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 37
578 Neuntes Kapitel.
mir der große Gelehrte (das war er) und glänzende Schriftsteller nie
allzu sympathisch. Zurückgedrängte Lüsternheit (S. 80 bez. 102) hat vii
leicht auch die Verkleidungen in Mädchen- und Männertracht bei ihm i
besonders beliebt gemacht (Frotho S. 41 bez. 52; Odin S. 50 bez. 10
Hagbarth 232 bez. 309; der Trabant S. 253 bez. 339; Alvild S. 2\
bez. 304) — die Auswahl stand ihm doch frei ! — Sein hochmütig
Spott läßt ihn doch den Wundern der Magie gegenüber nicht frei d
stehn, während Snorris frommere Art sich zwar dem »isländischen Ration
lismus« x) nicht verschließt, aber dadurch die Möglichkeit gewinnt, d:
»Blendwerk« wie ein historisch gegebenes Bild sachlich vorzuführen. -
Sympathisch berührt dagegen sein starker Patriotismus, der gegen Enc ^
der Dänischen Vorgeschichte immer kräftiger hervortritt (S. 169. 267. 27
285. 305 bez. 226. 357. 369. 383. 410), womit sich naturgemäß eini£
Abneigung nicht nur gegen die Deutschen 2) sondern auch gegen d
Schweden und Norweger verbindet: von der Flucht der tapfersten Schwede
(S. 227 bez. 303) oder der Sklaverei durch den »Hund« (S. 240 bez. 31!
erzählt er mit entschiedenem Behagen. — So hat auch seine (von Olri
hervorgehobene) Naturempfindung (S. 87. 102. 285 bez. 112. 134. 38:
ein vaterländisches Gepräge: es ist die idyllische dänische Frühling«
landschaft, die ihn bezaubert. Die vorschriftsmäßigen ritterlichen Ge
fühle3) wollen wir ihm dagegen so wenig wie die üblichen moralische
Betrachtungen zum besonderen Verdienst rechnen.
Es bleibt eine starke Persönlichkeit, der wir eine bestimmte Auswa
wohl zutrauen dürfen. Die Heldensage läßt er oft zusammenschrumpfe
(ebd. S. 305) — die Novellen (vgl. S. 254. 308) reizen ihn, das Kultu:
historische (nicht das Psychologische Tvedeling S. 38), das »Interessante«4]
das Merkwürdige in neuerem Sinn. Aber für die alte Religion hat
kein Herz und für die Sage kein Verständnis. So zeigt er den weitet;
Abstand von Island und Dänemark im 13. Jahrhundert. Ein isländische^
Sagamann5) hätte sich über diesen Ton wohl entsetzt, der norwegische
den Olrik6) als Vorgänger Saxos voraussetzt, hätte doch wohl anders ge|
ordnet. Saxo mit seinem Stil (schon fast dem des 14. — 15. Jahrhunderts
ebd. S. 292), der Auffassung, mit seiner souveränen Behandlung des Stoff«
ist der rechte Totengräber der altgermanischen Mythologie. —
Etwa 400 Jahre lang ruht die Beschäftigung mit der germ. Mythologi
vollständig, im Norden wie in Deutschland und England mindestens h
man Spuren von solcher Beschäftigung in dem Zeitraum etwa zwisch
1250 und 1640 nicht aufgedeckt. Das Interesse an der alten Literat
x) Olrik, Altnord. Geistesleben, S. 147.
2) Siehe o. S. 574, 1. 3) Kilderne S. 157.
4) Kilderne S. 67. 5) Ebd. S. 91. «) Bes. S. 26.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 579
I md Kultur erwachte naturgemäß früher als das an den verachteten Resten
kes Heidentums. Übrigens muß ich gestehen, daß ich auf das Aufsuchen
olcher Zeichen persönlich keine Bemühungen verwandt habe.
In der Mitte des 17. Jahrhunderts beginnt man in Dänemark und
sland systematisch zu sammeln. Wie für die Beschäftigung mit den alten
Sprachdenkmälern die Wiederentdeckung des Codex Argenteus und seine
Veröffentlichung durch Franciscus Junius x), so macht für die mit den
Jrkunden der Mythologie Brynjulf Sveinsson mit seiner Entdeckung der
Edda des Saemund« (1643) Epoche. Der Bischof von Skalholt sammelt
ind sendet seine Handschriften 1662 dem dänischen König; diese Codices
egii, verbunden mit der Sammlung des Arni Magnusson (1690 — 1728)
>ilden in Kopenhagen den Grundstock der ersten germanischen Fach-
jibliothek. Zugleich stiftete Arni auch ein noch heut wirkendes großes
Legat für diese Studien; noch die letzte große Edda- Ausgabe ist sumptibus
egati Arnimagnaeani geleistet worden. An jenen Kopenhagener Stock
iber setzten sich wichtige Fortsetzungen 2).
Unmittelbar auf Brynjulfs Fund folgt, fast genau 400 Jahre nach den
;ddischen Mythologien, die erste deutsche Mythologie: Elias Schedius3)
chreibt de diis Germanis sive veteri Germanorum , Britannorum,
Vandalorum religione % erschienen 1648.
Golther charakterisiert das Werk wie folgt: »Trotz des beträchtlichen
Jmfangs von 505 Seiten steht von echtgermanischem Götterglauben fast
lichts in dem Buche. Wir begegnen nur Tuisco und der Irminsäule;
cu dies Mercurii wird bemerkt, die Niedersachsen und Westfalen würden
ilafür Wodanstag sagen. Natürlich ist der Verfasser nicht im Stande,
liinter die interpretatio romana zu schauen. Um so mehr gallische
Ind wendische Götternamen tauchen auf. — Ebenso sind die gelehrten,
meist haarsträubender Etymologie entstammenden Götzen der Chronik-
rdireiber des 16. Jahrhunderts berücksichtigt.«
Die Irminsäule hat übrigens auch in Deutschland früh besonderes
interesse erregt; Harsdörffer im Specimen philologiae Germanicae (wo
bekanntlich der Ausdruck »germanische Philologie« zuerst gebraucht wird,
wohl als erster Fachausdruck einer nichtklassischen Philologie), Nürnberg
1646 — zitiert »Meibomius in Irminsula« 5). Ich weiß nicht, welcher von
Jen vielen, schon durch ihren folkloristischen Namen (Maibaum!) zu
polchen Studien prädestinierten Mitgliedern der Helmstedter Gelehrten-
idynastie6) das ist.
*) 1665; R. v. Raumer S. 118.
2) Vgl. Chantepie S. 9.
3) Aus Kadan in Mähren 1615-41; vgl. Bolte, ADB. 30, 662.
4) Golther S. 2, Chantepie S. 8.
5) S. 269. 6) ADB. 21, 187f.
37*
580 Neuntes Kapitel.
i
Es folgt eine Reihe verwandter Untersuchungen und Darstellungen
In Deutschland versprach J. G. Eccard 2) in der Historia studii etymologu
lingua Germanicae 1711 eine deutsche Mythologie3), die aber nicht zi
stände kam. Es wären wohl auch nur Etymologien in Harsdörffeij
Manier ( — gund von gönnen : Hermanngund cui miles favet S. 257
geworden. — Den Abschluß dieser rein buchmäßigen Verarbeitunge
bildet ein berühmtes Werk, wieder, wie 100 Jahre früher das des Schediu:
von einem Ausländer verfaßt: des Genfers Mall et Monuments de h
Mythologie et de la Poesie des Celtes et particulierement de
Anciens Scandinaves 1756% Mallet hat die Anschauung der nordische
und deutschen Dichter auf ein halbes Jahrhundert beherrscht. Insbesonder
geht auf ihn seines Kopenhagener Nachbarn Klopstock teutonische Mytho
logie zurück 5), wenn er auch gelegentlich auf des Resenius Edda- Ausgab
(die erste, 1665) zurückgriff ö). Mit dem in Fällen solcher Entdeckungei
nie fehlendem Instinkt für das Unechte7) griff er vorzugsweise späte Er
scheinungen heraus: die Götter Idun, Bragi und den angeblichen Got
Hermod, die dann von ihm die »Barden« Kretschmann und Denis um
von diesen Fr. O. Gräter, der erste eigentliche »Germanist« 8), übernahm
den Hain Glasir9) usw. Mallet selbst hatte trotz älteren richtigen An
gaben keltische und germanische Mythologie vollständig zusammen
geworfen10), wie später Holtzmann — es gibt eine ewige Wiederkehl
der wissenschaftlichen Hauptirrtümer11).
Außerhalb des germanischen Gebiets waren inzwischen die erster!
epochemachenden Taten auf dem Gebiete der wirklichen Religionsforschung
geschehen, und zwar durchweg in Frankreich, das im 18. Jahrhundert
auch hier so unbestritten an der Spitze der Wissenschaft marschiert wie
im 19. Jahrhundert Deutschland. Schon 1676 hatte allerdings auf ger-1
manischem Boden Benedictus Spinoza »ein rein historisches, von theo-
logischen Vorurteiten wie von rationaler Willkür sich fernhaltendes Ver-
fahren« gefordert und auf das alte Testament selbst angewandt12). Aber
eine wissenschaftliche Textkritik beginnt erst mit dem Oratorianer Richard
Simon und seiner Historie critique du vieux Testament — 1685 geschrieben^
aber nach dem fast einzigen vor der Zensur Bossuets und der feierlichen
J) Golther S. 3f.
2) Vgl. über ihn R. v. Raumer S. 168 f.
3) Golther S. 4.
4) Raumer S. 272, Golther S. 6.
5) Fr. Muncker, Klopstock, Stuttgart 1888, S. 377 f.
6) a. a. O. S. 378. 7) Vgl. o. S. 283.
8) Vgl. Raumer S. 284 f.
9) Muncker S. 378. 10) Ebd. S. 377.
n) Vgl. allgemein Paul in seinem Grundriß 2. Aufl. I. S. 67.
12) H. Holzinger, Genesis, Freiburg i. Br. 1898, S. X.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 581
i/erbrennung auf dem Scheiterhaufen geretteten Exemplar erst nach einem
Rollen Jahrhundert 1785 allgemein zugänglich gemacht. Denn noch Tabaraud
zi in der Biographie universelle Michaud1) hält das System des Autors für
fe;ehr geeignet, »die Gewißheit und Authentizität des ältesten Depots der
Offenbarung zu erschüttern«. Simon »hat anerkannt, daß die Entstehung
Jdes Pentateuchs ein literarkritisches Problem ist« 2) — was für die Edda
loch vor 150 Jahren nicht anerkannt wurde. — Auf Simon folgte 1753
ier Arzt Jean Astruc3) mit einer der genialsten religionsgeschichtlichen
md literarhistorischen Entdeckungen: der Unterscheidung von Quellen
der Genesis nach der Anwendung der Gottesnamen Elohim undjahve4).
9£in paar Jahre später machte einer der bedeutendsten Männer der Auf-
idärungszeit, Charles de Brosses, Mitbegründer der wissenschaftlichen
«Etymologie5), Vorläufer Goethes in der Gesamtwürdigung Italiens, hervor-
ragender Jurist und Beamter, den ersten großen Schritt zu einer allgemeinen
und vergleichenden Religionswissenschaft: in dem Buch Du Culte des
fiieux fetiches 1760 stellt er den Fetischismus als eine bestimmte Stufe
,der religiösen Entwicklung fest und identifiziert Bräuche der ägyptischen
Religion mit Neger- Aberglauben 6).
Für den Rückschritt der Religionsforschung in der Restaurationszeit
sind die drei Biographien bei Michaud charakteristisch. Simon hat die
Konzilien und Kirchenväter »de la maniere la plus indecente«. be-
handelt7); Astrucs Arbeit gehört8) in die »Metaphysik«, und er selbst war
»mit einem geraden, aber kalten und wenig erfinderischen Geist begabt« ;
Brosses umgekehrt hat9) eine »conjecture anti - historique , anti- philo-
sophique«. aufgestellt .... So die Herren Tabaraud, Chaussier und
Adelon, Michaud selbst und Foisset der Jüngere. — Auch wenn man
nicht gerade ein Jean Astruc oder ein Charles de Brosses ist, bleiben
solche religionsgeschichtlichen Parallelen tröstlich; sie beweisen, daß nicht
Jede Hypothese, die nicht sofort buchstabenmäßig bewiesen werden kann,
deshalb schon erledigt ist, weil ein autoritativer Kritiker sie vom hohen
Stuhl als »unwissenschaftlich« abtut.
Während so in Frankreich durch Simon die literarischen, durch
Astruc die religionsgeschichtlichen Schichten des Alten Testaments und
durch de Brosses die mythologischen Schichtungen überhaupt aufgedeckt
wurden, stand man in Deutschland noch in dem Zeitalter, da (nach
Lichtenbergs Ausdruck) das Wissen am Kopf vorbei aus einem Buch ins
andere zog. (Allerdings waren auch der Mediziner Astruc und der Jurist
x) 39, 374. 2) Holzinger a. a. O.
3) Bibl. Univ. 2, 343f. 4) Holzinger S. XI,
B) Biogr. Univ. 5, 617. 6) Ebd. S. 616.
7) 39, 355. 8) 2, 344. 9) 5, 617.
582 Neuntes Kapitel.
de Brosses Laien ; wie die Theologen auch in Frankreich dachten, bewei
Bossuet!) Als ein Beispiel aber, auf welchem Standpunkt am Ende d
18. Jahrhunderts in diesen Fragen die deutsche Theologie stand — d
ja noch allein für solche Probleme kompetent war — sehe man sie
Gottfried Leß' Buch »Ober die Religion. Ihre Geschichte, Wahl unj
Bestätigung« von 1786 an. — Der Verfasser, Kgl. Großbritannischd
Konsistorialrat und Primarius der Theologie zu Göttingen, war das HauA^
jener berühmten Fakultät der Georgia Augusta, die von Johann Gottfriejp
Herder ein Kolloquium zur Ermittlung seiner Rechtgläubigkeit forderte
von ihrem Standpunkt aus übrigens nicht ohne Berechtigung, denn defccl
wissenschaftlichen Synkretismus war der Autor der »PersepolitanischeiU
Briefe« mindestens so schuldig wie moderne Verfechter des Panbabylonis
mus. — Der Primarius der Theologie glaubt allerdings, daß es »besser
Begriffe« unter den Aufgeklärteren gab1); den großen Haufen aber lie
man in seiner Ignoranz und Aberglauben; »und diese waren in der TaP
äußerst traurig«2). »Dieser Götzendienst war nicht etwa ein bloß spekulrf
lativer Irrtum, sondern mit den schändlichsten und schädlichsten Meinungen^
und dem quälendsten Aberglauben verbunden.« Folgt ein schaurige»
Gemälde der Moral und des Aberglaubens selbst bei den feinsten Nationer ii
des Altertums3). Die Veden, die Besseres lehren sollen, ist der mi
einemmal sehr kritische Autor schon deshalb, weil nicht einmal der Name des die
Buchs überall gleich geschrieben wird, geneigt überhaupt zu leugnen 4),iei
was die Annahme einer Entlehnung aus 2. Mos. 19 nicht ausschließt. öi
Aber auch bei den Indern weiß er nur ein paar Klagen über »läppische w
Fabeln«5) anzustimmen. Hierauf fährt er in blumenreicher Sprache fort:
»An das fruchtbare und diamantenreiche Indien grenzt das kaufmännische
zeremoniöse und betrügerische Sina« und ist abermals verzweifelt, wenn
die Jesuiten von der hohen Weisheit der heiligen Bücher der Chinesen Ig
reden6). — Von den Germanen ist gar nicht erst die Rede. i
Dies ist der »historische Sinn« bei einem Theologen, den zwar die*/
ganz strengen Orthodoxen auch schon des Latitudinarismus beschuldigten 7),
der aber zu den »flachen Aufklärern«, über deren Mangel an historischem
Sinn man mit soviel Mangel an historischem Sinn klagt, jedenfalls nicht
gehört hat8)!
*) 1, 84. 2) S. 90. 3) S. 92.
4) S. 423. 5) S. 424. 6) S. 428.
7) Bertheau,ADB. 18, 445.
8) Es ist lehrreich, mit Less' Machwerk eine moderne Arbeit zu vergleichen,
wie die Religion der afrikanischen Naturvölker von W. Schneider (später
Bischof von Paderborn) , Münster 1891 , die bei durchaus christlicher Grund-
anschauung doch sogar die Negerreligion (S. 6 f.) gegen »unbillige Beurteilung«
verteidigt.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 583
e, Im Norden stand es nicht anders. Finn Jönsson *), nach einem Jahr-
hundert Brynjolfs Nachfolger auf dem nun protestantischen Bischofssitz in
di|<alholt, »erklärte die Edda für eine Mischung aus christlichen Ideen und
sicjcan dal Ösen Erfindungen« (1772).
Jt][ Im Grunde war das auch noch die Auffassung deutscher Gelehrten:
Adelungs, der »die Götterlehre der Edda für eine bloße Erdichtung, für
ipne Nachbildung christlicher Ideen« erklärte2), und Runs' in seiner »Ge-
iejzhichte der Religion, Staatsverfassung und Kultur der alten Skandinavier«
-1801). Golther hebt8) mit Recht in den Behauptungen des ersten Berliner
Je ieschichtsprofessors 4) einen gesunden Kern heraus: Rühs unterscheidet
eiils erster Volksglauben und Kunstdichtung. Nun aber geht er gleich zu
is/eit und löst in seiner Übersetzung der Prosa-Edda5) den »größten Teil
n er mythischen Geschichten« von der Volkstradition ab6). Dem wider-
sprach Friedrich Majer, ein Schützling Goethes7) — aber auch er nahm
a eben dem volkstümlichen ein fremdes »System« der Mythologie an, das
r phantastisch von dem indischen Buddhismus ableitete; noch schlimmer
tls Rühs, der8) doch nur den Namen »Äsen« für eine Mönchserfindung
iiielt, die mit der Lehre von der asiatischen Einwanderung zusammen-
nänge !
Die nächsten Jahre zeigen nun einen leidenschaftlichen Kampf um
lie »Echtheit«, d. h. den nationalen Ursprung der Edda und überhaupt
ler nordischen Mythologie. Rühs 9) bekämpft die Phantasien von
jrundtvig10) ungefähr wie Voß n) Creuzer bekämpft; aber er übersieht
wie dieser, was gesund an der unwissenschaftlich durchgeführten Meinung
war. Grundtvig ist einer der ersten Vertreter der deutschfeindlichen
Chauvinismus 12), dessen leidenschaftliche Ausbrüche der deutsche Gelehrte
m sachlich wie 18) die von Rask zurückweist. Aber aus diesem National-
^efühl erwuchs ihm auch zuerst die Auffassung der Mythologie als einer
Einheit, als eines in sich (im Wesentlichen) einheitlichen Ausdrucks
nationaler Denkweise und Empfindung 14):
*) Chantepie S. 11.
2) 1797; Golther S. 8. 3) S. 9.
4) Pyl, ADB. 24, 624. Rühs war in seinen Anschauungen von seinem
Lehrer Schloezer abhängig; vgl. Frensdorff , Von und über Schloezer, Berlin
1909, S. 109.
5) Die Edda. Nebst einer Einleitung der nord. Poesie u. Mythologie, 1812.
6) S. 280.
7) Mytholog. Dichtungen und Lieder der Skandinavier, 1818, S. XII.
8) a. a. O. S. 10. 9) S. 154.
]0) Nordens Mytologi 1808; vgl. Chantepie S. 11.
u) Siehe u. 12) Vgl. Rühs S. 157. 13) S. 7 Anm.
14) Liebevolle Charakteristik von Axel Garde, Grundtvigs Mytologi, Kopen-
hagen 1897.
584 Neuntes Kapitel.
Um diese prinzipielle Frage wurde gekämpft — gerade wie zwisch
Bang und Bugge auf der einen, Müllenhoff auf der anderen Seite siebz
Jahre später, nur mit veränderter nationaler Frontstellung: diesmal war«
es gerade die Nordleute, die gegen die »Echtheit der Edda« schriebei
Aber auf die Seite von P. E. Müller, dem dänischen gelehrten Bische
der für die »Echtheit der Asalehre« 1812 gegen Rühs eintrat, stellte siel
alsbald auch ein junger deutscher Forscher, durch den jene Anschauun
von der nationalen Bedingtheit der Mythologie ein selbstverständliche^
Besitztum der Wissenschaft werden sollte: J. Grimm1).
Handelte es sich hier um einen Streit um die allgemeine A u f I
fassung, so begann inzwischen auch der große Kampf um di
Methode sich vorzubereiten. Im Vordergrund stand der Streit übefci
den Ursprung, der in unseren Tagen ebenfalls so lebhaft erneuen
worden ist2): einheitlicher oder vielfacher Ursprung oder, mit anderer
Worten, geographische oder psychologische Erklärung. Das Problem
wurde aktuell, seit Herder auf die Wege der vergleichenden Religions-
geschichte gewiesen hatte. (Vor ihm vielleicht schon Hume, der de Bross(
angeregt haben soll.)
Wieder geschah der erste Schritt in Frankreich, höchst voreilig und!
gewaltsam, aber doch nicht ohne daß ein richtiges »Apergu« (nach Goethes)
Terminologie) zugrunde gelegen hätte.
Für den allezeit »simplifizierenden« Geist der Franzosen liegt diel
monistische Tendenz immer nahe. Er wird immer zentralisieren, immer
Einen Mittelpunkt aufsuchen, wie La Rochefoucauld im Eigennutz die |
Triebfeder aller menschlichen Handlungen sah und Beyle- Stendhal in der
Eitelkeit. So schreibt C. F. Dupuis3), wieder einer jener vielseitigen
Menschen der Aufklärungszeit, Erfinder eines Telegraphen, Mitglied des
Konvents, 1794 sein Buch »Origine de tous les Cultes ou Religion Uni-
verselle« 4). Er ging von den Konstellationen aus, kam zu astronomischen
Ableitungen zunächst der ägyptischen Religion, dieses liebsten Versuchs-
objekts der alten Mythologen, dann zur Verallgemeinerung und deduzierte
in jenem Werk, alle Mythen seien Naturmythen. Er zog alle Kon-
sequenzen, erklärte5) auch Christus für einen alten Sonnengott, wobei ihm
das allegorische Bild des Lammes als Vermittlung diente, und nahm so
die neueste Entdeckungen von A. Drews 6) voraus . . . Der Schlüssel war,
*) Seit 1812; vgl. Golther S. 9.
2) Vgl. meine Kriterien der Aneignung, Leipzig 1904; vgl. auch o. S. 27.
3) 1742—1809; vgl. Biogr. Univ. 12, 51.
*) Neudruck Paris 1869.
5) Neudruck S. 188 f., vgl. S. 250.
6) Die Christusmythe, 1909; vgl. über Petrus dens. in der Zeitschrift »Das
Freie Wort« 1909 S. 174f. und »Die Petruslegende«, Frankfurt a. M. 1910.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 585
:Wie jeder Schlüssel, der alle Schlösser öffnen will, ein gefährlicher Dietrich ;
feber die Einfachheit bestach. Noch am Weihnachtstag 1867 schreibt der
eiegelianische Philosoph Arnold Rüge an seinen Sohn: »Die Lösung der
'ftijeheimnisse der Dogmatik hat Dupuis FOrigine de tous les cultes und
'oi:euerbach im Wesen des Christentums und Hegel in der Phänomenologie
'eingeben « J). Was Wunder , daß die Mythologen von diesem Zauber-
Schlüssel nicht wieder ablassen wollten und nur noch Spezifikationen
gestatteten: W. Schwartz deutete alles meteorisch, Max Müller solar2)
imd — wenn man bedeutenden Namen den seinen beifügen darf ! — Siecke
f illes lunar.
lif» Später hat Dupuis seiner universellen Hypothese noch eine geo-
etirraphische hinzugefügt: seine Babylonier waren die Pelasger3), von denen
rman ja auch in der Tat noch viel weniger weiß. Auf Dupuis folgte
ntveniger geistreich, aber gelehrter, 1805 J. Ant. Dulaure (1755 — 1835),
niibenfalls »conventionnel, archeologue, Historien, et Van des ecrivains
:es plus feconds de notre e'poque« 4) mit dem Buche Des Divinites
^dndratrices^). Er trieb die Rückkehr zur Natur noch weiter als sein
Konventsgenosse und sah überall Lingam — gegenüber den allzu sublimen
Vorstellungen deutscher Mythologen vielleicht keine überflüssige Reaktion,
iber eben auch fast zur fixen Idee gesteigert; so sieht er denn6) auch
bei den alten Germanen eigentlich nichts als den Priapus des Frey. Er
hält übrigens diesen Gott wie Odin und Thor für Entlehnungen von den
Römern : auch hier Annäherung an die geographische Erklärung.
Diese Manier, aus Einem Gott alle abzuleiten, war auch nicht aus-
zurotten. Nicht nur hat C. H. Barth alle möglichen Göttinnen 1835 auf
Isis-Hertha zurückgeführt7), sondern selbst J. Grimm ist in seiner Kon-
struktion des germanischen Liebesgottes8) weit gegangen, freilich nicht
o weit wie Spätere, die aus Einem Himmelsgott, Lichtgott, Waldgott
beliebig viele Götter »ableiteten«. In der Regel ward dabei der Begriff
Emanation« eingeschoben, deren Ergebnis man seit Usener mit einem
^eigentlich grammatischen) Terminus »Hypostase« nennt. Aber ich glaube
die methodische Forderung aufstellen zu dürfen, daß man von solchen
Emanationen eines Gottes nur dann sprechen darf, wenn eine greifbare
Begründung der Spezialisierung vorliegt. Ein Gott, der unter anderem
Heilgott ist, mag einen speziellen Heilgott als seine Hypostase erzeugen,
oder der lokale Kult einer Gottheit mag ihr ein neues Gesicht geben;
{) A. Ruges Briefwechsel und Tagebuchblätter, her. v. P. Nerrlich,
Leipzig 1886; 2, 324.
2) Vgl. Mogk S. 240. 3) Biogr. Univ. S. 52.
4) Biogr. Univ. 11, 483. 5) Neudruck Paris 1905.
6) Neudruck S. 180. 7) Nach Chantepie S. 116.
8) Kl. Sehr. 2, 314.
586 Neuntes Kapitel.
aber ohne solche umgestaltende Faktoren einfach aus Ähnlichkeit auf AI
stammung zu schließen, ist Willkür. Wieviel Emanationsfälle sind den
überhaupt sicher bezeugt?
Man sieht, daß mit dem Beginn der Mythenvergleichung gleich auc
ihre wichtigsten Fehlerquellen hervorsprangen. Und dazu gehörte vc||
allem auch die Neigung der Mythologen, ins historische Gebiet übe
zugreifen. lurct
Man erkannte die Gefährlichkeit dieser Tendenz zur »MythisierungP
sofort. Gegen Dupuis schrieb Jean Baptiste Peres 1827 seine sehr witzig1
Satire »The Grand Erratum« *), in dem er Napoleons Nichtexistenz bewies
(Er lehnte sich 2) an die ältere Satire des berühmten Erzbischofs Whatel;
an, der 1819 gegen Humes Skeptizismus seine »Historischen Zweifel b
treffs Napoleon Bonaparte« gerichtet hatte)3). Solche Parodien sind seitde
oft geschrieben worden: Fr. H. v. d. Hagen hat 1838 den »Luther-Mythus
Beweis daß Dr. Martin Luther nie gelebt hat« verfaßt4); Baethgen ha
gegen die Mythisierung Simsons eine von Karl dem Großen gestellt5)
G. Lasson gegen die Verfechter von »Babel und Bibel« einen Nachweis
daß Kaiser Wilhelm II. eine mythische Gestalt ist6). So hat sich di< i
Warnung vor dem »Mythifizieren« immer wieder nötig gezeigt. DenrP
zwei Fehlschlüsse 7) suchen immer wieder geschichtliche Gestalten der t
Mythologie zu gewinnen: erstens: es wird von ihm Mythisches erzählt
folglich ist er eine mythische Person; zweitens: er hat Ähnlichkeit mit)
einem Gott — folglich ist er ein Gott. Aber jeder Heilige wollte und
sollte Christus ähnlich sehen8), ohne deshalb eine Hypostase Christi zu
sein. Und trotz aller mythischen Berichte ist Buddha9) ein Mensch und
Zarathustra auch einer10).
Dies unbestimmte Schweben zwischen Geschichte und Mythus war]'
nun aber gerade für die junge Wissenschaft der Mythologie verderblich.^
_____ i
x) Neudruck in Evans The Napoleon Myth, Chicago 1905, S. 11 f.
2) Evans S. 5.
3) Neudruck: Famoros Pamphlels ed. by G. H. Morley , London 1886; gegen
Kalthoff erneuert von Henke, Bremer Beiträge, Okt. 1906, S. 40 f.
4) Neudruck Leipzig o. J.
5) Vgl. Stahn, Simson, S. 48.
6) Kirchliche Wochenschrift, Jan. 1903, Lit. Beiblatt.
7) Die in Jensens Moses, Jesus, Paulus (Frankfurt a. M. 1909) so über-
deutlich zu Tage treten.
8) Vgl. z. B. W. Goetz, Die Quellen zur Geschichte des hl. Franz von
Assisi, Gotha 1904, S. 259.
9) Den Senarts höchst gelehrter Essai sur la legende de Buddha, Paris
1875, zu einem Sonnengott machen wollte; vgl. Oldenberg, Buddha, Berlin
1881, S. 73.
10) Barthol omae, Die Gäthas des Awesta, Straßburg 1905, S. 133.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 587
A|ei den Bahnbrechern der nordischen Religionsgeschichte hatte Saxos
uhemerismus Nachklang gefunden: der ältere Grundtvig hielt zwar nicht
»din für einen König, glaubte aber, ein Dichter habe sich Odins Rolle
igemaßt1) — der jüngere sollte sich später Müllenhoffs begeisterte Zu-
immung verdienen, als er die Bravallasch lacht, die in der Starkardsage
eine große Rolle spielt, für mythisch erklärte. Die Unsicherheit, verstärkt
urch die nicht wie bei hellenischen Göttern festen und bestimmten Um-
sse der Gestalten, war groß genug. Sie wurde noch verstärkt durch die
eue romantische Art der Mythenvergleichung.
Wir sahen die Franzosen von der psychologischen Erklärung aus-
ehen : gewisse Erscheinungen zwingen dem Menschen gewisse mythische
usdrucksformen auf. Nur subsidiär verwenden Dupuis (Pelasger) oder
[»ulaure (Römer) die Wanderhypothese. Sie wird dagegen beherrschend
ei den deutschen »Symbolikern«.
Aus der Stimmung der Romantik heraus erwuchs die Mythen-
ergleichung der Creuzer2), Görres3), Kanne4). Sie machten dreierlei
'oraussetzungen : erstens : in den Mythen liegt ein geheimnisvoller höherer
inn verborgen, der zweitens überall wesentlich der gleiche ist und deshalb
rittens von einem bestimmten asiatischen Zentrum ausgeströmt sein muß.
läufig spielte dabei noch die Vorstellung von einer geheimen Bewahrung
hristlicher Uroffenbarung mit, wie denn die »retrospektive Christiani-
ierung« zu den typischen Entwicklungsstufen der Religionsgeschichte zählt5).
Man kann nicht leugnen, daß sie es einigermaßen toll trieben. Gegen
>euzer6) schrieb J. H. Voß seine Antisymbolik 1824, massiv, äußerst
rob, aber im Grunde recht vernünftig. Es war keine jener Auseinander-
etzungen, wie später, kaum minder herb, zwischen Eduard Meyer und
;ohde, oder zwischen Usener und Wissowa ; es standen sich hier wirklich
acht prinzipielle Auffassungen gegenüber, sondern Wissenschaftlichkeit
i?id Phantastik. Voß packt mit sicherer Hand 7) den Ausgangspunkt auch
*) Vgl. Rühs S. 156, ähnlich Majer.
2) Symbolik und Mythologie, 1810—12.
3) Mythengeschichte der asiatischen Welt, 1810.
4) Pantheum der Naturphilosophie, 1811; vgl. Chantepie S. 14.
5) Kaum war der Zendawesta entdeckt, so erklärte ein so kluger Kopf wie
er Abbe Galiani, er sei modern und stecke voll Christentum und Moha-
nedanismus (II pensiero dell' abbate Galiani, Bari 1909, S. 176). Den Homer hat
Slägelsbach der christlichen Theologie nahegebracht (doch vgl. ADB. 23, 225),
den Plato Fr. L. Stolberg zum Mitgenossen einer christlichen Offenbarung ge-
macht; und wie hat man es gar mit dem Buddhismus bis zu van den Bergh
/anEysinga (Indische Einflüsse auf evangelische Erzählungen, Göttingen 1904)
erst in diesem, dann freilich auch im umgekehrten Sinn getrieben!
6) Vgl. die Charakteristik von C. Preller, Hallische Jahrbücher 1, 801 f.
7) S. 41.
588 Neuntes Kapitel.
von Rohdes umwälzenden Forschungen : das Totenreich ; er amüsiert sich
köstlich über »alles mythische Rindvieh, das auf einer symbolischen i||jjj
durcheinander hüpft« und über »die gesamte Eselschaft der Mytholoj
und der Bibel« insbesondere, womit der voreilige Schluß aus dem Attribj
auf den Gott und die doktrinäre Annahme von Totems auch bei dj
Neuesten getroffen wird; er stellt den Sublimitäten Creuzers recht gn
aber gar nicht so unzutreffend den »Göttersultan«2) entgegen, stimil
freilich auch der Meinung Blackwells3) mit Belegen zu: »Die gemeins|
(ja!) und wahrscheinlichste Meinung von den Sirenen ist, daß es liederlicl
Weibspersonen waren, die sich den Schiffern feilboten.« — Und so merl
er in seinem Haß gegen alles Romantische4) denn auch nie, wo CreuzJ
fruchtbare Ideen äußert, wie über heidnischen Ursprung der Geburtsfeiu
Christi5) — ein Punkt, an den, in ganz anderem Stil freilich, Useneij
Religionsgeschichtliche Untersuchungen wieder angeknüpft haben. Ui
schließlich sagt, vielleicht zu lobend, L. Urlichs6): »Obgleich die Aus
führung der Aufgabe der scharfen Kritik vielfach Blößen darbietet, di
philosophische Behandlung teilweise von Schelling, die historische vofl
O. Müller, Welcker überholt worden ist, darf man doch sagen : der neuere!
Mythologie im weitesten Umfang ist von Creuzer das Ziel gezeigt, dij
Wissenschaft von ihm begründet worden.«
Man wird wahrscheinlich finden, ich sei auf diese Erscheinungen vi<
ausführlicher eingegangen, als im Rahmen einer altgermanischen Religions
geschichte berechtigt sei. Ich glaube dem widersprechen zu dürfen. Füi
uns hat die merkwürdige Episode der Creuzer - Görresschen Mythen-
symbolik eine dreifache Bedeutung. Zunächst läßt sie uns völlig J. Grimm«
Werk verstehen : aus dieser Atmosphäre ganz unmittelbar ging die größte
aller mythologischen Leistungen hervor, und nicht bloß an ihren Schwächen»
ist das zu merken. Zweitens sehen wir in diesem Wirtschaften mit ent-.
legenen Ähnlichkeiten ohne Prüfung der Vermittlungswege, in diesemj
Ignorieren nationaler Eigenart, in diesem Umdeuten unverständlicher Ge-
bräuche wie im Spiegelbild moderne Verirrungen; denn ob das »mytho-
logische Vieh« sich auf symbolischer Au herumtummelt oder auf folk-
loristischer, macht keinen großen Unterschied; und ob die abgrundtiefe
Gelehrsamkeit, die hinter mythischen Verkleidungen steckt, aus Indien
hergebracht ist oder aus Irland, macht auch nicht viel aus. Und drittens
gab der Streit zwischen »Symbolikern« und »Philologen« zu der ersten
gründlichen methodischen Auseinandersetzung über Wesen und Betrieb
der Mythologie Anlaß.
*) S. 61. 2) S. 203.
3) S. 297. 4) S. 353.
5) S. 144. 6) ADB. 4, 595.
i
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 589
Dieser Gedankenaustausch liegt vor in den Briefen über Homer
*nd Hesiodus vorzüglich über die Theogonie von G. Herrmann und
r. Creuzer 1818 x). Hier haben wir aus dem Munde des Ritters Herrmann
ne Reihe wichtiger Aussprüche: »Ich halte die griechische Mythologie für
ne vielartige, zwar ihrem Ursprünge nach verwandte, aber keineswegs
n System ausmachende Masse«2); die Anerkennung gelehrter Mythen
lfeben volkstümlichen3) und den Begriff einer eigenen »mythologischen
ls prache« 4), die er freilich noch viel zu sehr wie eine willkürliche Geheim-
^prache ansieht. Auch kündet sich bei ihm die besonders von Müllenhoff
o erfolgreich vertretene Anschauung bereits an, Mythen seien nachträglich
an wirkliche Örter und Personen angeknüpft worden« 5). Demgegenüber
un Creuzer mit seiner gut theologischen Meinung von der »doppelten
Ansicht«6): «Jeder durchgreifende Nationalmythus hatte bei den ältesten
Völkern, schon von frühe, seine doppelte Ansicht und ward in
•e d e r konsequent gedacht, und fortgepflanzt : eine inneretheologische
wenngleich im Geiste alter Naturreligion hauptsächlich) und eine
ußere, volksmäßige«7). Man sieht: wo Hermann scheidet, wirft
>euzer zusammen, und er würde in dem gelehrten Mythus von Iduns
\pfeln so gut einen volksmäßigen Kern sehen, wie in dem volkstümlichen
on den Sonnen wölfen einen theologischen.
Zu diesem fortdauernd wichtigen Gegensatz kommt ein anderer,
iermann, der große Grammatiker, geht von dem Material aus, das ihm
las festeste scheint: den Namen der Götter. Er ahnte noch nicht, welch
:erbrechlicher Stoff gerade dies ist. (Ebenso hat Virchow gern die archäo-
ogischen Funde gegen die Linguisten ausgespielt: »wir Anthropologen
laben gern etwas Festes in der Hand« hörte ich ihn in der Anthropo-
logischen Gesellschaft sagen ; ja, wenn nur auch die Deutung etwas Festes
väre!) Er erkannte sehr richtig die überwiegend appellative Bedeutung
ier Götternamen und schloß daraus8), diese bedeuteten »Prädikate der
Matur«. Damit war der Grundirrtum der vergleichenden Mythologie (erster
Stufe) gegeben, die man ohne diese Vorgeschichte nicht richtig verstehen
kann. — G. Hermann forderte deshalb genaue Etymologie — ein un-
geheurer Fortschritt: denn Creuzer (an der gleichen Stelle, wo er geist-
x) Vgl. allgemein H. Stein thal, Geschichte d. Mythologie in d. neuern
Philologie, Arch. f. Rel.-Wissensch. 3, 2971; bes. G. Hermann S. 302, Vors
S. 307, Creuzer S. 309; über den Briefwechsel S. 311.
2) S. 61. 3) S. 87. 4) S. 86.
5) S. 87; über seine mythologische Methode überhaupt S. 59 f.
6) Etwa wie Otfried nach den Kirchenvätern eine mehrfache Auslegung
der Bibel fordert; vgl. Steinthal S. 309.
7) S. 41 ; Unterstreichungen im Original.
8) Vgl. Steinthal S. 303.
590 Neuntes Kapitel.
reich aus einem Instinkt für die epische Psychologie Günther mit Ka
daules und Rhodope mit Kriemhild vergleicht) erklärt1): »Tradition ur
Mythe müssen zufrieden sein, den Reichtum der Ideen in einer Zahl vc
Worten wiederzugeben, die eine Ähnlichkeit des Lautes haben.« Ogyg
und Gyges — wenn sie nur beide »mit dem Wasser zu tun haben«.
Wie es nun mit der Etymologie von Götternamen nicht nur bei J. Grini
und Simrock, sondern auch bei Bugge (völva — Sibylla) und E. H. Mey
steht, das weiß man; und wenn v. Wilamowitz den heutigen Philolog
gewünscht hat, sie möchten so viel Griechisch lernen, wie Gottfried Herman
gekonnt hat2), so wäre es auch weiter wünschenswert, daß sie es beir
Etymologisieren nicht nur lexikologisch verwendeten!
Endlich glaubt auch Hermann3) an Herodots Aussage, die Götte
der Griechen stammten von den Barbaren (wie Dulaure und Spätere da
allgemein oder speziell gelehrt haben), und kann also so wenig wie Creuze
mit seinem »Ton und Laut der allgemeinen Natursprache« 4) zu eine
individuellen Erfassung der nationalen Mythologie gelangen.
Solche allgemeinen Vorstellungen beherrschten auch noch den be
deutendsten Vorarbeiter J. Grimms bei der Mythologie: F. J. Mone5) bej
seiner Geschichte des Heidentums im nördlichen Europa 1822. »Er such
allerwärts System«, sagt Scherer6); er sucht überall die Ideen der Spekula
tiven Philosophie, sagt Chantepie7). Immerhin brachte seine Anwendung
Creuzerscher Grundsätze auf die germanische Mythologie ein stattliches
Material zustande. Und dasselbe Jahr zeigte auch, daß man in Deutsch-
land anfing, sich einem fruchtbaren Einzelstudium mythologischer Tatsachen
zuzuwenden; freilich blieb eine Arbeit wie H. Leos Ȇber die Verehrung
Odins in Deutschland« 1822 8) mit ihrem Versuch, die Grenzen der
Wodansreligion (wie wir jetzt sagen) zu bemessen, auf lange Zeit ver
einzelt — fast bis zu Henry Petersen.
Aber auch der größte Name, den die Geschichte unserer Mythologie
neben dem Jacob Grimms zu nennen hat, gehört noch dieser ihrer prä-
historischen Periode an. LudwigUhland9) ist fast gleichzeitig mit Grimms
Mythologie mit der ersten großen Spezialuntersuchung über einen ger-
manischen Gott hervorgetreten: dem Mythus von Thor 1836. In Vor-
lesungen hat er vieles gleichzeitig mit ihm behandelt: Odin (erst in den
!) S. 105 Anm.
2) Homerische Untersuchungen, Berlin 1884.
3) Vgl. Steinthal S. 305.
4) S. 97; vgl. Steinthal S. 312.
5) R. v. Raum er S. 500. 588.
•) J. Grimm, Berlin 1885, S. 275.
7) S. 15. 8) Chantepie S. 23.
9) Vgl. Golther S. 15, Chantepie S. 23.
§ 34. Germanische Mythologie vor J. Grimm. 591
chriften Bd. 6 nach seinem Tode erschienen), Umriß der nordischen
Göttersage1), älteste Spuren der deutschen Göttersage2). Er hat als einer
er ersten die nordischen Religionen gesondert, »den Unterschied des
orwegischen Thorkultes, des schwedischen Freykultes und endlich auch
las Eindringen Odins im Norden«3) hervorgehoben; hatte, wie Golther4)
iiübsch hervorhebt, den Einfluß der norwegischen Naturumgebung auf
lie nordischen Göttergestalten, vortrefflich erfaßt. Seine klare Darstellung,
teine kritische Behandlung der Quellen, vor allem seine Kunst einheitlicher
Erfassung machen auch aus diesen Studien Meisterstücke wissenschaftlichen
ptils. Aber sie haben deshalb nur umsomehr geholfen, den einseitig
laturmythologischen Standpunkt zu befestigen. Wenn Chantepie5) meint,
[ieine Aufsätze über Thor und Odin seien von der allegorisierenden Tendenz
licht frei, die alles auf der Grundlage der Naturphänomene erklären möchte,
iiind sie schieden die verschiedenen Elemente nicht scharf genug, die in
jiie Formung eines Mythus eintraten, so ist dies wohl noch zu matt aus-
gedrückt: in Wirklichkeit mußte gerade ein Dichter wie Uhland, ein Mann
der Reflexion, des Feilens und Vereinheitlichens für jene Methode die
allergefährlichsten Talente mitbringen. Der bestechende Zauber, den die
Persönlichkeit des herrlichen Mannes über alle seine Werke breitet, hat
diesen Auslegungen jedes Attributs, jedes episch oder psychologisch not-
wendigen Zuges im Sinne einer künstlichen Mythensprache fortwirkende
Kraft selbst da gegeben, wo die gröbere Übersetzung aus der mythischen
Anschauung in die atmosphärische Allegorie versagte6). — Einen eigent-
lichen Fortschritt bedeutet Uhlands Mythenforschung für die Zeit, in der
er sie trieb (1830 f.) nur durch die Verarbeitung, nicht durch die Inter-
pretation des Materials; denn daß er die Priorität der Dämonen erkannt
habe7), kann ich nicht finden, und die bessere Individualisierung der
Götter 8) gab er eben nur als der nachfühlende Dichter, der den gesamten
Stoff feinsinnig belebt, nicht als individualisierender Forscher wie Henry
Petersen. — Für die Zeit, in der sie (außer dem »Thor«) erschienen,
haben sie, gerade durch die Vorzüge eines dichterischen Übersetzens und
einer klaren Sprache, hemmend gewirkt. Hier war das Größte und Schönste,
was die naturmythologische Erklärungsweise leisten konnte; eben darum
hat dies Experiment die Unzulänglichkeit der Methode erwiesen. —
Nichts, was wir hier zu verzeichnen hatten, ist für die folgende Zeit
bedeutungslos geblieben. Die christliche Tendenz bei Snorri und dem
*) Ebd. 7, 16f. 2) Ebd. 7, 473.
3) Sic; Golther S. 39. 4) S. 15. 5) S. 24.
6) Vgl. z. B. die Auslegung des Kampfes Thors mit Hrungnir: Uhland
Schriften 6, 27 f.; Golther S. 269.
7) v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 25.
8) Ebd.: »Uhlands Liebe galt vorzugsweise den einzelnen Göttern».
592 Neuntes Kapitel.
Aufzeichner der Vol.; die voreilige Autorschaftsverleihung bei Brynjul
die antiquarische Häufung von Stoff; die falsche Systematisierung; d
allzu dichterische Auslegung und Umkleidung bei Grundtvig und Unland
die allzu rationalistische bei Voß *) und Rühs — alles ist wiedergekommei
zum Teil mit Porträtähnlichkeit: den Sämund hat Brynjolf zum Verfasse
der Liederedda, E. H. Meyer 2) wenigstens zu dem der Völuspä gemacht. -I
Daneben aber sind auch die guten Tendenzen, und sie erst recht, fori)
wirkend geblieben: die eifrige Hingabe, das patriotische Interesse; de
historische Sinn eines Saxo und die philologische Schulung eines Gottfrietl
Herrmann ; die große Auffassung eines Grundtvig und das Bedürfnis de
Franzosen nach psychologischer Ableitung : die zum Einfühlen in so fern \
Kulturen unentbehrliche Anpassung eines Mallet und die dichterische Feinl
heit eines Unland. Die Heerscharen waren zum Kampf wider die Mächt«
der Dunkelheit und Kälte nicht umsonst aufgeboten werden!
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm3).
1 . Epoche machte die beschreibende Mythologie: Ii
Jahre 1835 erschien J. Grimms Deutsche Mythologie. Am schönster
hat Scherer4) das Werk charakterisiert; auch Chantepie5) und v. d. Leyen6)
wägen die Vorzüge und Mängel gerecht und liebevoll ab, während]
Golther 7) eine am Äußerlichen haftende Darstellung von Grimms Methode
mit sauersüßer Anerkennung begleitet, wie sie nur dem »epigonsten|
Epigonen« (um mit Lagarde zu reden) zu Gesichte steht8).
J. Grimm wollte eine Deutsche Mythologie geben und nahm das]
Wort hier nicht (wie in der »Grammatik«) im weiteren Sinne, sondern
wirklich im Gegensatz zu »skandinavisch«: »Ich habe unternommen, alles,
was von dem deutschen Altertum jetzt noch zu wissen ist, und zwar mit
Ausschluß des vollständigen Systems der nordischen Mythologie selbst, zu
sammeln und darzustellen.« Die skandinavischen Berichte sollten also,
wie man richtig bemerkt hat, zunächst bloß subsidiär herangezogen werden;
') Vgl. Steinthal a. a. O.
2) Völuspä S. 276 f.
3) Vgl. allgemein Mannhardt, Wald- und Feldkulte, Bd. IL, S. XHIf.;
Schullerus, Ergebnisse u. Forschritte d. germ. Wissensch., S. 508 f . ; v. d. L e y e n ,
Sagenbuch, S. 13 f.
4) Jacob Grimm S. 276f.
5) S. 19f. 6) Sagenbuch S. 21. 7) S. 16f.
8) Wie es denn überhaupt für G o 1 1 h e r bezeichnend ist, daß er die Schwäche
sachlicher Kritik durch die Stärke der persönlichen wettzumachen suchte: Si mrocks
Darstellung heißt (S. 24) »unübersichtlich verschroben« und Müllen hoff »tat
sich mit groben, polternden Ausfällen gegen die historische Erklärung (!) hervor «
(S. 44).
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 593
JMerzu aber glaubte Grimm sich in weitem Umfang berechtigt, weil er1)
1 tm der ursprünglichen Einheit überzeugt war und 2) die Möglichkeit
}i »äteren Austausches nicht genügend berücksichtigt — die ja übrigens
ich nur bei dem Wodanglauben eine stärkere Rolle spielt, und auch
'er nur in der Umformung einer schon urgermanischen Gottheit. —
3 ist aber keineswegs zu leugnen, daß J. Grimm die germanische
Einheitlichkeit überschätzt, die nationale Ausprägung bei den großen
iämmen unterschätzt hat. Und dies hing mit seiner ganzen Methode zu-
mmen.
Diese Methode nämlich ist bereits in voller Blüte die der »ver-
lachenden Mythologie«, die durch Kuhn und Schwartz nur eine andere
khtung, nicht eine andere Methode erhalten hat. Der Unterschied ist
diglich der, daß die beiden Dioskuren (sie waren wirklich Schwäger,
ie die beiden Grimm bekanntlich Brüder; was jedenfalls mythische Zu-
immenhänge ahnen läßt!) die Religion der Indogermanen erschließen
ollten — wobei der Terminus »Indogermanen« zu seinem vollen Rechte
am, da sie vorzugsweise indische und germanische Mythen verglichen — ,
Grimm aber die urgermanische und deutsche. Also ein Unterschied,
rie zwischen der Erschließung der indogermanischen Ursprache, etwa
urch Schleicher, und der urgermanischer Formen, wie sie jeder deutsche
hilolog mit linguistischer Methode vornehmen muß. Denn die Methode
eruht eben darauf, daß man durch Vergleichung bekannter Formen die
nbekannte herausrechnet.
Speziell nun auf mythologischem Gebiet war im wesentlichen folgender
atsachenvorrat gegeben: einmal eine Anzahl von Namen. Wie G. Her-
lann, stellte J. Grimm sie an die Spitze und ging von ihrer Etymologie
us. Dies wurde bei Kuhn, Schwartz, M. Müller u. a. zu einer gefahr-
enen Fehlerquelle, weil appellative Götternamen wie »Herrscher«, »der
glänzende« u. dgl. sehr verschiedenen Göttern zukommen können: unter
Jmständen kann euphemistisch erweise sogar der Gegenpart so gut wie
ier lichte Gott selbst einen lobenden Namen führen; und weil gleiche
jötter verschieden benannt sein können, indem aus einem größeren
^amenschatz hier dieser, dort jener bevorzugt wird (Ing und Frey); ferner
veil verschiedene Götter denselben Namen erhalten können, indem sie in
leue Funktionen hereinwachsen. Schließlich kam noch die Gefahr falscher
ityrnologien hinzu. — Trotz dieser Gefahren und trotz aller Unhaltbar-
st von Hermeias-Sarameyas und — vielleicht! — Uranos-Varuna hätte
loch die Etymologie der Mythenvergleichung keine schlechten Dienste
erwiesen, wenn sie auch nur die berühmte »Eine Säule« Zeus — Dyaus —
upiter — Tyr aufgerichtet hätte — eine Irminsul, die den kräftigen Schlägen
*) 1, 9. 2) Golther S. 18f.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 38
594 Neuntes Kapitel.
auch der letzten Missionäre wider die vergleichende Mythologie1) kräf
widerstanden hat. — Aber auf dem germanischen Gebiet allein war c
Etymologie viel weniger bedenklich, da erstens die Namen hier seit
ganz so isoliert sind wie dort, und zweitens, wo sie übereinstimmen, c
Zusammengehörigkeit viel wahrscheinlicher ist. Wer hat denn auch
die Identität von Wodan und Odin, von Thonar und Thor bezweifel
und wenn die des althochdeutschen und des nordischen Balder so lanj
mit Überkritik und zuletzt mit einem gewissen Eigensinn bezweifelt word<
ist, so waren derartige Zweifel selbst bei dem schwierigeren Proble
Nerthus : Njord unmöglich.
Gegeben war ferner eine bestimmte Anzahl von Berichten üb
Gottesdienst, Kultgebräuche, Formeln. In viel höherem Gra
als die meisten Nachfolger hat J. Grimm auch diesen Dingen seine Au
merksamkeit zugewandt. Aber gerade hier hat unsere Kenntnis sich durc
neuere Forschung und noch mehr durch neuere Vergleichung auße
ordentlich ausgedehnt ; unter den Germanisten hat zuerst Weinhold nach
drücklich auf die Bedeutung dieser Dinge hingewiesen, die für die antik
Mythologie schon längst eine beherrschende Stellung einnehmen (und ai
die Wissowa gar seine ganze Darstellung der römischen Religion bei
schränkt). Immerhin war es etwas völlig Neues, daß die Mythologi)
überhaupt aus fortlebenden Gebräuchen zu lernen suchte. Daß hierfüj
erst noch eine strengere Methode gefunden werden mußte — und is
sie denn gefunden worden? — darf dem sein Verdienst nicht minderr
der die Scheidewände zwischen Gestern und Heute auch hier, wie in de
Grammatik, durchbrach. Die gesamte Volkskunde als Wissenschaft, mi
ihr die folkloristische Methode in der Mythologie stammt von Jacol
Grimm.
Mythenvergleichung im engeren Sinne hat er Verhältnis
mäßig weniger getrieben; wie sicher er die Grundlinien der typischer
Mythensprache erfaßte und deutete, beweist etwa der Abschnitt über der,
Sonnenuntergang2) oder die Beobachtungen über Schlaf und Krankheil
der Götter3). Wo er aber Mythen vergleicht, wie etwa bei den Nornen4)
weiß er sofort auch das Unterscheidende hervorzuheben5) — was eben
die Mythenvergleicher von Beruf fast immer vergessen oder vernachlässigen.
So gut wie neu entdeckt hat J. Grimm die ungemeine Bedeutung
der indirekten Zeugnisse: der Orts- und Personennamen, Pflanzen-
namen, Benennungen von Tagen und Jahreszeiten, und ganz besonders
auch der formelhaften Überbleibsel in der Dichtersprache — und vor allem
*) Bremer; vgl. o. S. 51.
2) 2, 616. 3) 1, 275. 4) 1, 343.
5) Sehr fein z. B. bei dem Sitz im Himmel 1, 113.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 595
a"*i der Sprache selbst. Die grundlegende Bedeutung der volkstümlichen
'erminologie, die Fingerzeige der Synonymik, der Wortvorrat überhaupt *)
/urden ebensoviel reich fließende Quellen der Erkenntnis, die er mit
einem Stabe weckt.
Zuletzt, als ein nicht zu unterschätzendes Hilfsmittel, besitzt er eine
e us liebevollster, eingehendster Kenntnis gewonnene Vorstellung von Wesen
"Und Art unseres Volkes, seiner Epochen, seiner Sprache — eine Ein-
fühlung in den nationalen Stil des Denkens, die ihn wohl hier und da
l{ :u allzu begeisterten Auffassungen führen mag, ihn aber wenigstens vor
ler Hohlheit leerer Spekulationen sicher schützt. »Vor der Verirrung,
lie so häufig dem Studium der nordischen und griechischen Mythologie
Eintrag getan hat, ich meine die Sucht, über halbaufgedeckte historische
Daten philosophische oder astronomische Deutungen zu ergießen, schützt
nich schon die Unvollständigkeit und der lose Zusammenhang des Rett-
wen. Ich gehe darauf aus, getreu und einfach zu sammeln, was die
ruhe Verwilderung der Völker selbst, dann der Hohn und die Scheu der
Christen von dem Heidentum übrig gelassen haben 2).«
Natürlich hat J. Grimm zuviel retten wollen. Der Meister jener
^produzierenden Epoche in unserer Wissenschaft, der die ungeheure
Aufgabe gestellt war, alles wiederzuerschaffen , was bei dem traditions-
'losesten der Kulturvölker verloren gegangen war: die alte Sprache, Rechts-
wesen, Sitte, Literatur, Glauben, hat so wenig wie Karl Lachmann
■beim Volksepos der Versuchung widerstehen können, zuviel zu erschließen.
Aber wie tapfer hat er auch hier mit eisernem Besen Kehraus gemacht!
Hätte Golther nicht so viel daran gelegen, mit mehr landsmannschaft-
lichem als historischem Eifer Unland3) gegen J. Grimm auszuspielen, so
würde er wohl nicht so höhnisch dessen Charakteristik4) gerade mit
einigen unglücklichen Hypothesen vermeintlicher Göttinnen geschlossen
laben. Wer weiß denn, ob unsere Tanfana so gar sicher eine Göttin ist?
ind der Hercules Saxanus ist noch in unseren Tagen falsch gedeutet
worden. Ebenso hat J. Grimm den Quellen gegenüber eine Kritik nicht
immer angewandt, die uns durch die Tätigkeit von Herausgebern und
Literarhistorikern erleichtert ist, übrigens allerdings seine stärkste Seite
nicht war. Und vor allem hat er von der Oberfülle des Stoffs sich auch
oft selbst verwirren und beirren lassen. Aber reicher an genialen Ver-
mutungen ist keines seiner Werke; und alle Augenblicke begegnet es,
daß man beim Blättern in dem nie auszuschöpfenden Werke Gedanken
schon längst ausgesprochen findet, die andere oder auch — man selbst
mit Hochgefühl für ganz neue hielt. (Um ein ganz kleines Beispiel für
x) Z. B. in dem Abschnitt »Zauberei« 2, 861 f.
2) 1, 10. 3) S. 15f. 4) S. 21.
38
596 Neuntes Kapitel.
mich selbst anzuführen, gestehe ich, daß ich mir auf meine Beobachtunge
über den Wagen der Götter ein wenig zu gut tat; nachher stand (
längst bei Grimm!)
So schuf er in der Mythologie ein Werk, das an Sicherheit de
Methode seine Grammatik — die genialste seiner genialen Taten, gerad
weil alles scheinbar auf der Hand lag in Materialbeschaffung, Anordnung
Deutung — keineswegs erreicht, sonst aber ihr ruhig zur Seite treten dari
Völlig neu waren in diesem Buche: erstens der unendliche Reichtum de
Stoffes, an dem alle Mythologen der Welt zehren. Wie ärmlich unc
dürftig sind daneben alle Vorgänger und ach! fast alle wir Nachfolger
Dann die große Auffassung, die sich in der vielberufenen »Andacht zum
Unbedeutenden« gerade so stark zeigt wie in den Versuchen, die Volks
seele selbst zu erfassen; weiter mit beiden untrennbar verbunden die Mannig-
faltigkeit der Gesichtspunkte. Welcher Mytholog hat früher so über
Götterverhältnisse gehandelt1)? hat die Anschauungen über den Tod2),
das Mittel der Personifikation3), die Arten des Aberglaubens4) wie er
einer systematischen Prüfung unterzogen? die sozialen Verhältnisse so gut
wie die klimatischen berücksichtigt? Dazu kommt die liebevolle Innigkeit des
Einfühlens, die gewiß oft modernisierte, öfter idealisierte, aber aus einem]
Tal voller Gebeine eine Welt lebender Gestalten und nachzuempfindender
Anschauungen machte, und deshalb auch endlich die lebensvolle Darstellung
und nie ermüdende Freude am Stoff. J. Grimm ist einer der ganz wenigen
großen Gelehrten und genialen Forscher, bei denen es so gut wie keine
»toten Stellen« gibt; er durfte es sogar wagen, ein Wörterbuch zu
schreiben.
Es ist lange genug an dem wunderbaren Werk herumgemäkelt worden —
woran selbst Scherer nicht ganz ohne Schuld ist; seinem kräftigen Tat-
sachensinn war dieser Hypothesenreichtum unbehaglich. Die Gefahren,
die in einer unmittelbaren Nachfolge lagen, sind längst überwunden; die
Vorteile, die es bietet, das Buch nocturna versare manu versare diurna
sind noch nicht erschöpft. So wollen wir uns wieder ungetrübt seiner
* lebendig reinen Schöne« erfreuen. —
Als eine Ergänzung von J. Grimms Werk muß mit Dank W. Müllers
Geschichte und System der altdeutschen Religion genannt werden,
j. Grimm wollte geben, was Uhland gab, wenn er über den Minnesang
oder das Volkslied schrieb: Beschreibung, Wiedergabe des Vor-
handenen in wissenschaftlich geordneter Darstellung. System oder Ge
schichte zu geben lag deshalb außerhalb des Planes, obwohl die Keime
J) 1, 263 f. 2) 2, 700 f.
3) 2, 733 f. 4) 2, 925 f.
di
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 597
künftiger Evolutionen öfter hätten aufgezeigt werden können x). Aber nun
lußte auch systematische Übersicht und historische Entwicklung gegeben
/erden; und J. Grimm war aus sachlichen und persönlichen Gründen
ngerecht gegen dies von einem sorgsamen Bearbeiter angehängte Schluß-
apitel seines Werkes2).
Als Fortsetzungen und Ergänzungen von Grimms Werk faßt man
uch am besten die verdienstlichen Arbeiten einiger nordischer Forscher3)
uf. W. M. Petersens Nordisk Mythologi 1849 sucht die Gestalten der
jötter stärker individualisierend herauszuarbeiten4) und die nationale Be-
deutung der Mythologie als einer Offenbarung der Volksseele5) klarzu-
egen, bleibt aber in seiner übersichtlichen Darstellung — trotz gelegent-
icher Hinweise auf Ägypten und die Bibel — allzusehr von den eddischen
3erichten abhängig. Henry Petersen dagegen6) tut in doppelter Hinsicht
;inen tüchtigen Schritt vorwärts. Er macht für den Norden ernst mit
ener alten Unterscheidung volkstümlicher und gelehrter, künstlicher Mytho-
ogie und beweist sie besonders auch 7) an dem Zurücktreten des in der
Edda herrschenden Odin hinter Thor in der Verehrung des Volkes. Auch
lat er vielfach neue Hilfsmittel zur Feststellung und Beurteilung von
<ulten angewendet: theophore Namen8), Runensteine9), Gerichtstage10)
and andere mittelbare Zeugnisse aus dem Volksleben.
Und nicht nur als keine Fortschritte, sogar als Rückschritte müssen
die beiden Mythologien zweier übrigens verdienter Männer angesehen
werden. Karl Simrock hatte für sein Handbuch der deutschen Mytho-
logie mit Einschluß der nordischen (zuerst 1853) einen sehr hübschen
Plan : eine Art gelehrter Völuspä schwebte vor, eine epische Erzählung von
Welt, Göttern, Gottesdienst. Aber leider kam bei ihm, ganz anders als
bei Uhland, der Dichter dem Forscher gar sehr ins Gehege, und »dieser
Versuch, die ganze Götterlehre der Edda als eigensten poetischen Besitz
unserer Voreltern ,auf den offenen Markt der Nation zu bringen', bezeichnet
vielmehr einen entschiedenen Rückschritt gegen J. Grimm, den Simrock
durch Mehrung des mythologischen Wissensschatzes, voreilige Deutung und
geistige Verwertung überbieten wollte« n). — Und Holtzmann, dessen
J) Gelegentlich ist es, trotz Golthers Leugnen, natürlich geschehen, z. B.
im Kapitel vom Tod 2, 705.
2) W. Müllers zweites mythologisches Buch, Die Mythologie der Deutschen
Heldensage, 1886, hat mit seinem Einen Gedanken, überall heroische Dichtung
auf den Mythos zurückzuführen, keine wissenschaftliche Förderung mehr gebracht.
3) Golther S. 40f.
4) Thor S. 318, die rylgje S. 143 usw.
B) S. 353.
6) Om Nordboernes Gudedyrkelse og Gudetro i Hedenold, 1876.
7) S. 85 f. 8) S. 41. 9) S. 50 f. 10) S. 67 f.
") Edward Schroeder, ADB. 34, 384.
598 Neuntes Kapitel.
1854 — 1866 gehaltene Vorlesungen Alfred Holder 1874 herausgab1
verdarb durch den Leichtsinn einer prinzipiellen Gleichsetzung von keltische
und germanischer Mythologie (wieMallet!) alles, was er durch eine som |
noch nicht übliche Vorsicht hätte verdienen können. (»Der Deutung diese
Mythen enthalte ich mich«2). »Hermodr . . . Im Beowulf kommt zwa
ein Heremöd vor, kann aber ein anderer sein«3). — Daneben kühn
Vermutungen, wie daß Tuistonetn bei Tacitus Teutonem zu lesen sei4)
Beachtung verdient aber, wie bei dem älteren Petersen, die eingehenden
Betrachtung der zugrunde liegenden Weltanschauung5).
Inzwischen waren längst neue verheißende Pfade eingeschlagen worden
J. Grimms Methode ist, wie wir ausführten, durchaus die der vergleichender,
Mythologie. Deren Charakteristika — Betonung der Etymologie, Ver
nachlässigung der unterscheidenden über den übereinstimmenden Merk-
malen, rascher Obergang von der Ähnlichkeit zur Identität — sind nun
auch noch den beiden Richtungen eigen, die unmittelbar von J. Grimm
selbst ausgehen: eben der spezifisch sogenannten vergleichenden Mytho-
logie selbst, und der Müllenhoffs. Aber wenn J. Grimm von seiner Ver-
gleichung vorzugsweise germanischer, doch auch anderer indogermanischer
Zeugnisse einer beschreibenden Reproduktion der deutschen Mythologie
zustrebte, so wollen die beiden neuen Richtungen eine Entwicklungs-
geschichte geben. Und zwar wiederum auf verschiedenen Wegen : Müllen-
hoff, indem er von der Heldensage zum Mythus zurückging, Kuhn und
seine Schule, indem sie von indogermanischen Mythen der historischen
Zeit zu solchen der Urzeit zurückschritten. Das Ziel war also für Müllen-
hoff (wie für J. Grimm) ein germanistisches: die Evolution der deutschen
Mythologie sollte aufgedeckt werden; für Kuhn ein indogermanistisches:
der Zustand der proethnischen Mythologie (der Mythologie vor der
Trennung der einzelnen indogermanischen Völker) sollte erschlossen
werden. Müllenhoff wollte einen historischen Verlauf, durch wirklich ge-
schichtliche Ereignisse festgelegt, darlegen ; Kuhn und Schwartz, die aller-
dings hauptsächlich wieder auf Beschreibung ausgingen, einen prä-
historischen Verlauf. Was für den einen Ausgangspunkt war, bildete für
die anderen den Zielpunkt; und so gingen sie auch in diesem Sinne,
wie in Methode und Gesamtauffassung, nach verschiedenen Richtungen
von J. Grimms Deutscher Mythologie aus.
2. So entstand die historischeMythologie. Müllenhoff heißt
bei Chantepie6) »nächst Grimm die imposanteste Persönlichkeit auf dem
J) Deutsche Mythologie 1874.
2) S. 50. 3) S. 115.
4) Lehre von der Unsterblichkeit S. 195 f.
5) S. 37. 6) S. 32.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 599
jebiete der mythologischen Forschung«1). Sein großes Hauptwerk, die
Kleider Fragment gebliebene großartige Deutsche Altertumskunde2), sollte
on jie Entstehung der deutschen Nationalität darstellen , nach ihren geo-
$ graphischen, ethnologischen, historischen, geistesgeschichtlichen Faktoren.
i ^on diesem Standpunkt aus betrachtete Müllenhoff auch die Mythologie.
Sein Vorbild war mehr noch Wilhelm als Jacob Grimm, und die regesten-
mäßige Anlage von W. Grimms Deutscher Heldensage hat ihm vielfach
\\s Vorbild gedient. Aber dem älteren Bruder glich er mehr in der
leidenschaftlichen Großheit seiner Auffassung, der mächtigen Ausdehnung
,seiner Gelehrsamkeit (unter anderem ist er der beste Linguist unter den
jMythologen gewesen, und ein noch größerer Kenner der antiken Quellen
-als Jacob Grimm), dem hochgespannten Ziel, das wie dieser zu erreichen
ihm freilich die heroische Entsagung fehlte, die (nach des amerikanischen
Sprachforschers Whitney Wort) weiß, daß jedes Buch nur ein Kompromiß
ist zwischen dem, was es werden sollte, und dem, was es werden kann.
Als Leitgedanken Müllenhoffs in seinen mythologischen und heroo-
logischen Arbeiten hebt Schullerus 3) einen Satz der Vorrede zu Mannhardts
Mythologischen Forschungen heraus: »jede Sage sei an dem Ort festzu-
halten, an dem man sie finde; — jede Sage sei ein bestimmtes, historisches
Produkt, nicht nur von der Seite ihres Ursprunges, sondern auch der
ihres Inhaltes betrachtet, und die Anschauung, die sie enthalte und wieder-
gebe, sei nicht von der Stelle, an die die Überlieferung sie setze, zu ver-
rücken.« Damit war gegenüber der umherflatternden Mythenvergleichung
die Ortsgebundenheit der Sage fast zu stark betont. Es kam darauf an,
beide in die richtigen Beziehungen zu bringen. Natürlich nicht, indem
man einfach alle Heldensage mythisch deutete, wozu nach Mone Uhland
neigte4) und was Wilhelm Müller durchführte. (Das entgegengesetzte Extrem
vertritt v. d. Leyen, nach dessen Ansicht5) sich Heldensage und Mythus
bei uns selten berühren.)
Müllenhoff hat (seit 1844) in zahlreichen Untersuchungen die Ver-
bindung zwischen Heldensage und Mythologie hergestellt (besonders
wichtig außer dem von uns6) ausführlich behandelten Aufsatz über das
Brisingamen noch das Buch über Beowulf)7). Seine Methode ist immer
die oben mehrfach charakterisierte: etymologische Deutung des Namens,
J) v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 26; vgl. allgemein W. Scherer, Karl
Müllenhoff, Berlin 1896.
2) B. V. über die Edda, gegen Bu gge.
3) Fortschritte d. germ. Wissenschaft, Leipzig 1902, S. 514.
*) Vgl. Moestue, Stud. zur vgl. Lit.-Gesch. 9, 232.
5) Sagenbuch S. 26.
6) Siehe o. S. 21 5 f.
7) Beowulf, Untersuchungen über das angelsächsische Epos, 1882.
600 Neuntes Kapitel.
1 1
der unmittelbar als Aussage genommen wird; Vergleichung der Myth
nach den Hauptbestandteilen der epischen Handlung; Rückführung ai
mythische und besonders naturmythische Vorstellungen. In letzterem Pun
ist er vorsichtiger als die meisten unter seinen Mitforschern (etwa Uhlan
Schwartz, auch J. Grimm selbst); dagegen tritt die Gefahr der Übe
Schätzung mythologischer Namen bei ihm besonders stark hervor 1). Aue
die Emanationstheorie wird sehr häufig angewandt, besonders so, daß d
Sonnengott als zentrale Ausstrahlung erscheint. — Müllenhoff besaß ei
so mächtige wissenschaftliche Phantasie, daß mit ihren Vorzügen sich auc
Nachteile verbinden mußten. Er sah so stark und deutlich, daß sein
eigenen Mythen ihm leicht erschlossene Tatsachen wurden. Aber s<
glänzende Entdeckungen wie in bezug auf die Alces und ihr Fortlebeil
in der Heldensage, so schöne Deutungen wie die des Sceaf im Beowul
sind kaum noch einem geglückt. Dazu kam eine von seinem zweiter
Hauptlehrer, Carl Lachmann, erlernte Meisterschaft der »höheren Kritik
die wohl auch überscharf sein konnte, aber in den Analysen von Völ
und Häv. 2) doch etwas für die mythologische Quellenkritik völlig Neue
leistete. Von den frühesten Berichterstattern über das neuentdeckte Ger
manien bis zu den spätesten Skalden standen alle Zeugen deutlich und
greifbar vor seinen Augen, aber so auch die Götter und Heroen; eine
solche mythologisch-heroische Personenkenntnis wie er hat kein Zweiter
besessen. Aber ebenso genau kannte er, was seine Vorgänger und fast
alle seine Genossen bis auf die neue Generation der nordischen Forscher
vernachlässigten, die sachlichen Quellen : Handschriften, Ausgaben, Samm-
lungen. Die Wege der Oberlieferung zu studieren — der große Ge-
danke, den für die klassische Philologie der Verwirklichung näher ge-
bracht zu haben Ludwig Traubes unsterbliches Verdienst ist — hat er
erst begonnen. Es wird lange dauern, bis der Schatz seiner Anregungen
nur annähernd so weit erschöpft ist wie der von J. Grimms Mythologie,
und die Erkenntnisse, die wir ihm verdanken, in ähnlichem Maße ver-
arbeitet.
Die Leidenschaftlichkeit des großen Nordalbingiers vermochte wissen-
schaftliche und moralische Bedenken nicht zu trennen: was ihm un-
methodisch schien, war ihm unsittlich. Wie Thor verstand er es nicht,
lange zu warten, ehe er zuschlug, und wie Thor hat er durch zu heftiges
Zuschlagen die ruhige Entwicklung gefährdet. Es mochte auch wohl
einmal von ihm gelten, was Tacitus von den alten Germanen sagt: daß
sie Treue nennen, was nur Hartnäckigkeit ist. Aber bedeutete nicht auch
das etwas, daß die Auslegung jener von den Gottfried Leß und Finn
*) Vgl. meine Kriterien der Aneignung S. 34; ferner o. S. 214, 1.
2) D. Alt. V.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 601
''fiütönsson verachteten »lächerlichen Fabeleien« jetzt ein Gegenstand geworden
ai/ar, um den tiefe und starke Naturen gleich Karl Müllenhoff und Sophus
Ul#ugge wie um den Nibelungenhort kämpften? zwei Männer, die beide,
aiind zumal der zweite, in unserer Wissenschaft auch großen Schaden ge-
stiftet haben ; aber wer sie nicht beide zu lieben vermag, der ist um eine
uc [er höchsten Freuden betrogen, die das Studium gerade auch der deutschen
dtvlythologie bietet: der Freude an dem Anblick großer, reiner Persönlich-
keiten, einer Freude, welche den Menschen erhebt, wenn sie den Menschen
ermalmt x).
Seit Jakob Grimm hat auch niemand die Entwicklung unserer Mytho-
sjiogie in gleichem Grade beeinflußt wie Müllenhoff — ein großer Philolog
öirewiß in dem Sinn, wie er selbst einen solchen schön beschreibt2). Zwar
;ein »größter und größerer Schüler«3), Wilhelm Scherer, hat sich, durch
fine natürliche Arbeitsteilung mit dem Meister, mit Mythologie nur wenig
eschäftigt; tat er es aber, so beweisen Aufsätze wie der über Mars Thingsus,
wie er auch hierzu vorbereitet war. Andere Schüler, wie der Däne
ifioffory, den wir so früh verlieren mußten4), wie Edward Schroeder,
Roediger u. a. haben die charakteristische Verbindung von Philologie
im engeren Sinne (linguistische Etymologie, Handschriftenkenntnis, genaue
Interpretation) mit Mythologie, und dieser mit der Heldensage gewahrt.
Allgemein aber ist vor allem diese letztere durch Müllenhoff Gemeingut
der Wissenschaft geworden.
3. Ich komme jetzt zur vergleichenden Mythologie und habe
schon klargelegt, daß die Mythenvergleichung ein unentbehrliches Hilfs-
mittel aller Mythologie geworden war. Trotzdem empfindet man die
Gruppe, der Adalbert Kuhn, Wilhelm Schwartz, E. H. Meyer in Deutsch-
land, Max Müller in England, Michel Breal in Frankreich, der viel ge-
ringere de Gubernatis in Italien u. a. angehören, mit Recht als eine
gesonderte Klasse von Forschern5).
Was ihre Sonderstellung schafft, ist in doppeltem Sinne der lingui-
stische Faktor. Einmal nämlich, indem sie unmittelbar der Sprach-
vergleichung eine analoge Disziplin der Mythenvergleichung zur Seite zu
J) Den ersten Anstoß zu der neuen Anfechtung der »Echtheit der Asalehre«
gab schon 1836 der Däne M. Hammerich, Om ragnaroksmythen (vgl. G o 1 1 h e r
S. 40). Es war die erste in dänischer Sprache erschienene Dissertation, lange ehe
eine in deutscher Nationalsprache herauskam (Thomsen, Videnskabens Faelle-
sprog, Köbenhavn 1905, S. 25 Anm. 2); ob man die Meinung im christlichen
Sinn rasch verbreiten wollte? — Über Bu gge und seine Methode vgl. noch
Wundt S. 522.
2) D. Alt. 3, 43.
3) Wie Hoffory sich ausdrückt.
*) Vgl. über ihn Heusler, Ark. for nord. Fil. 10 (1898) S. 206.
h) Vgl. v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 27.
602 Neuntes Kapitel.
stellen suchen, die mit etwa denselben Mitteln etwa dasselbe Ziel erreicl
die Erschließung eines indogermanischen Urzustandes (denn das galt c
mals noch als die Hauptaufgabe der Linguistik), gerade wie gleichzeit
auch die »linguistische Paläontologie«, zum Teil in denselben Hand
(J. Grimms, Kuhns, dann Raoul Pictets, Victor Hehns u. a.) eben di
erstrebte. Dann aber, indem sie tatsächlich über der Beschäftigung mit de
sprachlichen Elementen der Mythologie mehr und mehr die ander
die epischen sowohl wie besonders die realen, aus den Augen verlor. S
bildeten insofern kollektiv ein Gegenstück zu ihren Vorgängern, de
Mythenvergl ei ehern Creuzerscher Richtung, die über dem Inhalt dei
Mythen alles andere vergaßen. Auch die dritte Einseitigkeit durfte spät«
nicht fehlen, für die Kult und Ritus den allein berechtigten Kern all
Mythologie ausmachen sollten!
Die Arbeitsweise war in der Regel die, daß man zunächst zu einerj|
mythologischen Namen (als Ausgangspunkt dienten gewöhnlich solche a
den Veden) ein sprachliches Äquivalent suchte; hierauf die Etymologi
gab (wobei man sich von einiger Rücksicht auf den Mythus nicht frei
halten konnte), alsdann die verschiedenen den betreffenden mythischer |
Persönlichkeiten geltenden Berichte zu einer möglichst einfachen Forme'
integrierte, und endlich diese selbst in die Sonnen-, Wetter- oder Mond
spräche übersetzte1). Während in unseren Alvissmäl nur gefragt wird
welche Synonyma für bestimmte Naturerscheinungen in den verschiedene
»Welten« vorhanden sind, wird hier eine völlig unbegrenzte Zahl sym-
bolischer Benennungen vorausgesetzt. Im übrigen ließ das Verfahre
nicht nur in Bezug auf das (jederzeit erreichbare) Ziel Freiheiten. Adalberl
Kuhn2) war nicht bloß der Chronologie nach der Erste unter den Ver
tretern dieser vergleichenden Mythologie, sondern auch an Kritik und!
Feinheit den meisten überlegen, der Einzige fast, der auch die unter-
scheidenden Merkmale methodisch verwertete. Wilhelm Schwartz3) be-
gann sehr glücklich mit der Unterscheidung der »niederen Mythologie«
als allgemeiner Unterlage und der »höheren« als nationalem Hochbau
und wußte so J. Grimms Verwendung des Volks- und Aberglaubens
methodisch nutzbar zu machen4); später vergröberte er die Methode
Kuhns, dem er weder an Sprachkenntnis noch an Vermögen des Ein-
x) Gegen das Allheilmittel solarer und lunarer Deutung z. B. Wundt
S. 232. 238. 263 und bes. S. 282 und 317. Schon 1868 wehrte sich Nietzsche
gegen die Aufspürung versteckter Sonnenhelden und ähnliche »Erfindung von
Rebus«: Schriften 17, 65 Anm.
2) 1812—1882; vgl. über ihn Leskien, ADB. 17, 335.
3) 1821-1877; vgl. Golther S. 26.
4) »Der heutige Volksglaube und das Heidentum«, 1849; »Ursprung der
Mythologie«, 1860.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 603
eiclihlens nahe kam, und ward der Hauptvertreter jener mythenforschenden
^Ideologie, die von jedem Ausgangspunkt rasch und sicher am Gewitter-
7-i immel (oder auf der Sonne usw.) landete.
Der berühmteste Repräsentant der Schule aber ward Max Müller1),
fee Vornehmtuerei, die der Oxforder Professor sich früh angewöhnt hatte,
d'at sich an ihm gerächt, indem man jetzt ihn vornehm abzutun liebt.
'9uich spielt die Abneigung derer, die nie fertig werden, gegen jeden
Produktiven Geist mit, und Max Müller hat wirklich sehr viel geschrieben,
indessen sollte man auch die Bücher wägen und nicht zählen; sonst
d ann man schließlich über Gleim und Goethe, über Meiners und J. Grimm
äu dem gleichen Urteil kommen. Der Mann, der die große Gesamt-
ausgabe der »Heiligen Bücher des Ostens« durchgeführt hat, sollte nicht
lur nach seinen »Schnitzeln aus einer deutschen Werkstatt«2) beurteilt
verden; um so mehr, als er auch hier seine beiden sympathischsten
Eigenschaften entfaltet: den Universalismus neben dem tiefsten deutschen
Patriotismus. Max Müller hat mehr noch durch seine Erscheinung, die
i/on dem in England verlachten Typus des »deutschen Professors« (wie
latte man sich doch über Ehrenberg, ja auch über Ranke ihrer Umgangs-
ormen wegen amüsiert!) nichts, ja zu wenig zeigte, als durch seine
»Letters ort the War« 1870 der deutschen Sache, dem deutschen Namen
drüben gedient. Wie zu gleicher Zeit Friedrich Siemens deutsche Technik
und Aug. Wilhelm Hofmann deutsche Chemie (einst nach dem Aus-
spruch von Adolphe Wurtz »une science toutfrancaise«. !), hat er deutsche
Sprachwissenschaft jenseits des Kanals heimisch gemacht; freilich wohl, ohne
an methodischer Sicherheit den beiden gleich zu kommen. Vor allem hat
er, ganz besonders durch seine Essays, in der ganzen Kulturwelt ein neues
starkes Interesse für religionswissenschaftliche Probleme erweckt, hat durch
»eine öffentlichen Vorlesungen in England zuerst eine rein wissenschaftliche
Behandlung dieser Fragen ermöglicht und durch seine Lehrtätigkeit die
bedeutenden englischen Folkloristen, Tylor, Lubbock, Frazer, Hartland teils
direkt teils indirekt erzogen. Wir sollten uns hüten, unsere geistigen
Kolonien im Ausland so rasch preiszugeben, bloß weil sie von der fremden
Sprache und Art zuviel gelernt haben!
In seiner Religionsforschung3) setzt er sich als Ziel nicht, wie
Kuhn und Schwartz, die Erschließung der indogermanischen Urreligion,
sondern er will, wie Dupuis und Dulaure, auf eine allgemeine Grundlage
x) M. Winternitz, Biogr. Jahrb. 5, 273, Aus meinem Leben, übs. von
H. Groschke, Gotha 1902.
■) Dies der englische Titel: »Chips of a German Workshop«; deutsch als
Essays, 4 Bde., 1869 f.
3) Einleitung in die vergleichende Religionswissenschaft, Straßburg 1874.
604 Neuntes Kapitel.
aller Religionen kommen x). Dies war eine nicht nur berechtigte, sonde
notwendige Ergänzung der Religionsvergleichung, und ihre Früchte sir
eben in den Folkloristen hervorgetreten, die von Max Müller mindeste!
so stark bedingt sind wie von dem freilich gründlicheren Mannhardt. Uni
imposant war es doch auch, wie der Mann da auf seinem Hlidskjälf a]
dem Isis-Flusse saß und von hoher Warte bald über das Studium d
Zendavesta in Indien 2) berichtete, bald über volkstümliche Geschichten ai!
dem Nordischen3) oder über Indianer-Mythologie4) — immer feinsinni
und geistreich, und immer mit großen Gesichtspunkten. Gewiß gehört t\
jener Generation von Forschern an, die sich besser auf die Antezipation a
auf das Erzwingen von Erkenntnissen verstanden5), und die sich a
Programme noch besser verstanden als auf Entdeckung neuer Lautgesetze
(was doch eine Zeitlang eine beinah so leichte Sache schien als das Entdecke
neuer urarischer Gottheiten); der Generation der Lazarus7) und sogar de
Renan. Aber ähnliches hat man von Größeren sagen können, von Baco
von Herder, von Fr. Aug. Wolf; und wir sind doch sonst gerade heu
nicht geneigt, über den Columbus die Toscanellis zu vergessen, treibe:
sonst sogar einen wahren Kultus mit den »Vorläufern« !
Die wirkliche Bedeutung und auch die Tragik des so berühmten
einflußreichen, glücklichen Mannes aber liegt darin, daß er tatsächlich ai
der Grenzscheide zweier Epochen stand. Der wirksamste Vorarbeiter de
folkloristischen Mythologie ist zugleich, freilich durchaus wider Willen,
der Totengräber der alten »vergleichenden Mythologie« geworden. Denn
gerade er trieb den linguistischen Standpunkt auf die Spitze und kam
schließlich so weit, aus der Entwicklung der Mythen das epische, das
ethische, das psychologische Element beinah zu eliminieren und alles auf
Pathologie der Sprache zurückzuführen8). So wird eine Welt von Ge
danken, Anschauungen, Empfindungen zuletzt auf eine kontinuierliche
Eulenspiegelei reduziert, auf ein beständiges Wörtlich nehmen der Metaphern
und Übertragen der Appellativa. Welches Talent diese Doktrinäre doch
haben, luftleere Räume herzustellen, wo eben noch Leben und Bewegung
war! Uns schaudert es bei dieser seelenlosen Wortentwicklung wie bei
1) »Natürliche Religion«, »Physische Religion«, »Anthropologische Religion<
1890, 1892, 1894; »Theosophie oder Psychologische Religion«, 1895; vgl. Winternitz
S. 285.
2) Essays 1, 112. 3) 12, 208. 4) 1, 302.
5) Obwohl er selbst ein unermüdlicher Arbeiter war; vgl. Winternitz
a. a. O. S. 282.
6) Ebd. S. 283.
7) »Völkerpsychologie«; vgl. meinen Aufsatz »Wissenschaftliche Repräsen-
tation« Neue D. Rundschau 17, 1326.
8) Vgl. bes. den charakteristischen Aufsatz »Vergleichende Mythologie«,
Essays 2, lf.; »Mythos« = Wort S. 75.
dl
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 605
sn armen kranken Urmenschen, die, wenn sie zum Himmel aufblickten,
i ihrer Sonnenblindheit nie etwas anderes als den Mond sahen, oder gar
*i den ungeheuren Zeiträumen entleerter Weltgeschichte, in denen die
ölker, weil nie ein Moses, Christus, Paulus auftrat, sich immer nur
ie verwitterte Gilgameschfabel x) (wenn auch mit den tollsten Varianten !)
iederzuerzählen wußten.
Freilich kann man auf Max Müller im Gegensatz zu manchem Mit-
>rscher den Chiasmus anwenden, unter dessen Schere Fr. D. Strauß
(egel und Schelling nahm: Schwartz' System »war klüger als er«, aber
l. Müller, »der war klüger als sein System«. So hat er denn auch selbst
*i der gerade heut wieder sehr bemerkenswerten Studie ȟber falsche
knalogien in der vergleichenden Theologie« 2) damals moderne wissen-
:haftliche Religionsmischerei mit dem Dilettantismus des Vossius (1688)
nd Huet verglichen; inzwischen aber hat das System der »Ur-Offen-
arungen«3) neue Orgien gefeiert. Er selbst trat mit seinen »Beiträgen
u einer wissenschaftlichen Mythologie«4) noch einmal auf den Plan:
Es gilt ein Heiligtum zu verteidigen«. Seine eigene Richtung bezeichnete
dabei als die der »etymologischen oder genealogischen Schule«; ihr
•egenüber sah er die »ethnologische Schule« (wir nennen sie die folk-
Dristische) und die »analogische«, »welch letztere innerhalb des Gebietes
erwandter Sprachen, ohne Rücksichtname auf die Identität der Namen,
us der Ähnlichkeit der Schicksale und Taten der Helden auf gemein-
chaftliche Quelle und gleichen Sinn schließt: die sagenvergl eichen de. Er
'ühlte nicht, wie nah beide seiner eigenen Schule verwandt waren.
Eine besondere Stellung freilich unter den Religionsvergleichern weist
hantepies kluge und kenntnisreiche Einleitung5) mit Recht dem fast ver-
gessenen J. G. v. Hahn 6) zu, dessen »Sagen wissenschaftliche Studien« (1876),
statt die Lösung mythologischer Probleme ausschließlich in Etymologien
ix suchen, die Erzählung analysierten, die verschiedenartigen Elemente ver-
liehen und kombinierten und die nahe Verwandtschaft zwischen Götter-
mythen, Heldensagen und Volksmärchen vollständig anerkannten7).« Er
ist der Ahnherr jener Schule von stilleren Gelehrten, die in unschätzbarer
Arbeit den Gesamtinhalt aller volkstümlichen Literatur vom Mythus der
Urzeit bis zum Fliegenden Blatt von heut auf Motive, Verarbeitung und
J) P. Jensen, Das Gilgamesch-Epos in der Weltliteratur I. 1906; Moses,
[esus, Paulus 1910.
2) Religionswissenschaft S. 261 f.
3) S. 264.
4) 1898; vgl. Schul lerus S. 513; O.Gruppe, Arch.f. Rel.-Wissensch. 2, 269.
5) S. 27.
6) 1811-1869; Fr. v. Halm, ADB. 10, 367.
7) Dagegen Mannhardt, Feldkulte 1, XXXI Anm.
606 Neuntes Kapitel.
Filiation der Elemente, Verbreitung und Verbreitungswege zu analysier
unternahmen. Neben ihm hat vor allem der unvergeßliche Wilhel
Hertz1) diese Beziehungen zwischen Mythologie und Sagenkunde v<
folgt2), während andere, wie der über alle Möglichkeit gelehrte Reinhc!
Köhler3) und sein würdiger Erbe Johannes Bolte neben vielen tre
liehen Mitforschern besonders in Deutschland (Felix Liebrecht), England (Jol
Dunlop), Frankreich (Jos. Bedier), Italien (Gius. Petre — um immer
einen Namen zu nennend vorzugsweise das Gebiet der »niederen Volk
literatur« (wenn man diese so der «höheren« der Mythologie gegenübe
stellen darf) mit gesegnetem Fleiß durchackert haben. Zu einer de;
Mythologen besonders wichtigen Abteilung dieser Sagenforschung en
wickelte sich die Legendenforschung4), die dann später von Usen<
wichtige Impulse empfing. — Die Aushängebogen von v. Hahns »Alb;
nesischen Märchen« (1864) waren das letzte, was J. Grimm auf dei
Totenbette las5); so knüpft sich auch hier fast mit mythischer Pünktlich
keit Epoche an Epoche6).
*) 1835-1902; R. Weltrich, W. Hertz, Stuttgart 1902; Otto Günttet
Biogr. Jahrb. 10, 291.
2) Ges. Abhandlungen, her. v. Fr. v. d. Leyen, Stuttgart 1905; Aus Dichtun
und Sage, her. v. K. Vollmölier, Stuttgart 1907.
3) 1830—1892; Erich Schmidt. ADB. 51, 317. — Aufsätze über Märchei
u. Volkslieder, her. v. J. Bolte und Erich Schmidt, Berlin 1894; Kleinen
Schriften zur Märchenforschung, 3 Bde., her. v. J. Bolte, Weimar 1898.
4)Delehaye, La legende hagiographique, Bruxelles 1905. H. Günter
Legenden-Studien, Köln 1906. — Eine mythologisch wichtige Einzelstudie z. B
de Kerval, L'evolution et le developpement du merveilleux dans les legendes
de St. Antoine de Padoue, Paris 1906; methodologisch interessant Völlers
Chidher, Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 234. — Allgemein A. van Gennep, La|
formation des legendes, Paris 1910.
B) Fr. v. Halm a. a. O. S. 368.
6) Eine Fortsetzung von J. G. v. Hahns spezifischer Methode der Sagen-
forschung (im eigentlichen Sinne; v. d. Leyen S. 13 f. versteht darunter irre-
führend die Mythologie) in ihrer Anwendung auf die Mythologie stellen die
Arbeiten von Fr. v. d. Leyen dar, insbesondere sein Deutsches Sagenbuch«
(München 1909; Rez. Mogk, D. Lit.-Ztg. 1903 S. 1936). Der allgemeine Stand-
punkt ist der, daß »die Edda bloß alt ist, unsere Volksmärchen aber sind mehr,
sie sind altertümlich« (S. 31). Dieser (vgl. o. S. 64) nicht unbedenklichen Auf-
fassung entspricht aber im Großen die Praxis nicht; an den entscheidendsten
Stellen urteilt v. d. Leyen nicht anders als wir, glaubt die Fesselung Lokis »mit
märchenhaften Beigaben ausgeschmückt« (S. 104) und hält von den Thor-Legenden
viele für jung (S. 160). Allerdings stellt er den Volksmärchen die Eddadichter
als bewußt schaffende Autoren, die eigentlich erst die höhere Mythologie hervor-
gebracht haben, gegenüber (S. 203. 226. 234; vgl. dagegen Finnur Jönsson
und Heusler; siehe o.), und diesen literarischen Einflüssen schreibt er sogar
manches zu, was uns volkstümlich-märchenhaft dünkt, wie die Versuche, Balder
zu erlösen (S. 117). — Das anregende Buch läßt sich seiner Tendenz nach
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 607
ei Denn freilich hatte die Vergleichende Mythologie (ich setze immer
e! inzu: im alten Sinne) abgewirtschaftet; nicht ohne vorher noch das Gift
i> ier Ansteckung auf Epigonen der Müllenhoffschen Richtung zu über-
ragen, etwa auf Ferd. Sander, der in der Schrift »Das Nibelungenlied,
riiegfried der Schlangentöter und Hagen von Tronje« l), aus einem Gleich-
i iis in einem Lied des Claudianus das Recht herleitete, Regin zum Herrscher
les oströmischen Reiches zu machen2). Freilich — die Epoche war zu
linde, wie es eben wissenschaftliche Richtungen zu sein pflegen: auf Zeit.
Ist die Art Müllenhoffs von Voretzsch u. a. in wissenschaftlichem Sinn
;rneut worden, so die der Schwartz und Max Müller leider im unwissen-
schaftlichsten; diese neuesten Leistungen, wo der Mond den Mond ver-
schlingt, infolgedessen den Mond gebiert und nun den Mond heiratet,
im den Mond zu erzeugen, wäre auch den Dupuis allzu märchenhaft
gewesen, zu viel »mondbeglänzte Zaubernacht», wo wir Licht verlangen 3).
1 Im übrigen wollen wir wie gegen die Verdienste, so auch gegen die
Methode der Mythenvergleicher nicht ungerecht sein und die beliebte
Manier, mit uns erst die Sonne aufgehen zu lassen, andern überlassen.
Das Gebot, daß man Vater und Mutter ehren soll, ist auch für die
Geschichte der Wissenschaften geschrieben. Adalbert Kuhn, Wilhelm
Schwartz, Max Müller, Michel Breal haben uns (mit Ratzel zu sprechen)
erst die unentbehrliche »Weiträumigkeit« der Mythologie geschaffen, haben
auf Grundtatsachen, Hauptmotive, Verknüpfungsformen hingewiesen. Sie
haben uns erst gelehrt, Mythen zu vergleichen — auch durch ihre Ober-
l dahin charakterisieren, daß es die neuere folkloristische Richtung durch die Sagen-
forschung mildert, d. h. ihrer starken Bewertung der Kulthandlungen, Märchen
und anderer auf »breitester demokratischer Basis« ruhender Erscheinungen eine
last gleich starke Schätzung der bewußten literarischen Produktion oder doch
wenigstens der Erzählung als solcher zur Seite stellt. Die Anschauung: das
Volk habe sich die Dämonen geschaffen (»Halbgötter« sagt v. d. Leyen S. 25.
)3. 95 weniger gut), aber die Götter kämen fast ganz von den Gebildeten und
Gelehrten, nähert sich der adoptionistischen , nur daß hier eine fast als Kaste
aufgefaßte Gemeinschaft die Stellung einnimmt, die für Golther die Römer und
für Gruppe Ägypter und Babylonier haben. Vgl. auch v. d. Leyen, Die
Entwicklung in den Göttersagen der Edda, Germ.-Rom. Monatsschrift 1, 284. —
Auch operiert er zu viel mit dem gefährlichen, so leicht anachronistischen Mittel,
Ironie oder Spott anzunehmen. In dem gleichen Gedicht (Grim.) soll es feierlich
und verklärt wirken, wenn Odin mit Saga trinkt, Spott aber liegt in dem Trinken
Heimdalls (S. 151 bez. 221). Und in dem harmlos-gemütlichen Spiel mit Thors
Stärke und Schwäche sieht er (S. 160 u. ö.) immer nur beabsichtigten Hohn.
Den hätten die Thorverehrer im Volk schwerlich geduldet, wo er sich nicht (wie
in Härb.) unter den Schutz eines stärkeren Gottes stellte.
l) Stockholm 1895. 2) S. 91.
3) Der »wissenschaftliche Astralkult» wird jetzt von den Ethnologen prote-
giert; vgl. bes. Ehrenreich, Ztschr. f. Ethnol. 38, 5401, bei dem alles »der
608 Neuntes Kapitel.
eilungen. Und selbst ihr Ausgangspunkt — war er methodisch so falsch
Schließlich haben die meisten mythologischen Namen doch tatsächlic
eine aussagende Bedeutung, und wenn wir wüßten, wie Heimdall eigen
lieh hieß, wüßten wir mehr von ihm.
Daher kehren Rückwendungen zu der Vergleichenden Mytholog
alten Stils auch immer wieder. Die letzte bedeutende Erscheinung diese
Art ist Muchs große Studie über den Germanischen Himmelsgott, eigen
lieh über die gesamte germanische Götterwelt1), mit ihren kühnen Vei
gleichen nicht nur der Motive, sondern auch der Gestalten bei de
Mythen von Dido und Gefjon, Gullveig und Pandora, Wölund unii
Daidalos, Sigmund und Asklepius; ihren Deutungen germanischer Göttel
aus isolierten keltischen und slavischen Götternamen; ihrer Auffassun
des Wanenkrieges als eines Kampfes zwischen »hellenisch-indogermanische
und phönikischer oder aboriginischer Religion2) — um so bedeutsamer
als sie in ihrem nahen Anschluß an Müllenhoff dessen Beziehungen zui
Schule J. Grimm-Adalbert Kuhn noch einmal deutlich hervortreten läßt
4. Aber heute regiert die Folkloristische Mythologie3). Von dei
Vergleichenden Mythologie gingen Wilhelm Mannhardtund E. H. Meyei
aus, die in verschiedener Richtung für die Fortentwicklung unserer Wissen-
schaft bedeutend werden sollten. Wie die Korrekturbogen von J. G. v. Hahns
Werk das letzte waren, was J. Grimm las, so ist die biographische Skizze
über Mannhardt das letzte gewesen, was Müllenhoff »geschrieben oder viel-
mehr seiner Frau diktiert hat« 4). Wilhelm Mannhardt5) wurde für Deutsch-
Hauptsache nach Naturmythe« ist (S. 550) und der einen großen Katechismus
der Mondmythologie (S. 555 f.) Entfaltet, überall das Unbeweisbare voraussetzend;
vortrefflich darüber und dagegen A. van Gennep, Moeurs et legendes, Paris
1909, S. 1381 — Ehrenreich hat denn auch solch einen Nachfahren der Mythen-
vergleichung in Schutz genommen, wie jenen Friedrichs, über dessen »Grund-
lage, Entstehung u. genaue Einzeldeutung der bekanntesten germ. Märchen, Mythen
u. Sagen«, Leipzig 1909, eine glückliche Selbstparodie der lunaren »Methode«,
Bolte, Ztschr. d. Ver. f. Volksk. (1909) 19, 459 zu vergleichen ist.
*) Abhandlungen zur germ. Phil. S. 189—278; vgl. darüber Heus ler, Anz»
f. d. Alt. 1909 S. 92.
2) S. 273.
3) Schullerus S. 508. — Zur Theorie: Hardy, Glaube und Brauch oder |
Brauch und Glaube?, Arch. f. Rel.-Wissensch. 2, 177, und seine Rez. von
Robertson Smith' bahnbrechendem Buch »Die Religion der Semiten« (1899)
ebd. 3, 207, auch über Mythus und Kultus Wundt S. 599.
4) W. Mannhardt, Mythol. Forschungen, her. v. H. Patzig mit Vorreden
v. K. Müllenhoff u. W. Scherer, Straßburg 1889, S. XII.
5) 1831—1880; vgl. Müllenhoff u. Scherer a. a. O.; Scherer, ADB.
20, 203; E. H. Meyer, Anz. f. d. Alt. 11, 141; Chantepie S. 27; Golther
S. 29 f.: v. d. Leyen (Sagenbuch S. 37), der ihn als Begründer der »Allgemeinen
Mythologie« bezeichnet; W. Röscher, Vier Briefe Mannhardts — zu den »Wald-
und Feldkulten« — , Arch. f. Rel.-Wissensch. 2, 300.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 609
md der eigentliche Begründer der »Volkskunde« als Wissenschaft und
berhaupt der folkloristischen Mythologie. Mit den Namen von J. Grimm,
lüllenhoff und Usener gehört der des armen kranken Mennoniten als
er vierte zusammen : diese haben aus der neueren Mythologie, trotz allen
Verdiensten der Engländer, eine »deutsche Wissenschaft« gemacht.
Wie v. Hahn mit »Mythologischen Parallelen« (1859) begann er
(*1858) mit »Germanischen Mythen«, Parallelen zwischen Indra und Donar.
)ann ging er bei Müllenhoff in die Schule1), und es entstand in ihm
er große Plan, die gesamten realen Grundlagen der volkstümlichen An-
chauungen systematisch zu studieren — also gerade das, was seine Lehrer
uhn und Schwartz (nicht so J. Grimm) außer acht gelassen hatten. Wie
/lüllenhoff aus der Heldensage auf die Mythen, wollte er aus den Volks-
küchen auf die Kulte zurück und zwar, hierin der vergleichenden Schule
;etreu, auf die der indogermanischen Urzeit. Die »niedere Mythologie«
•ollte in ihrem vollen Umfang ermittelt werden; sie aber besitzt wenig
pische, unendlich viel rituelle Zeugnisse. Dies erkannt und hierauf eine
pezielle Mythologie begründet zu haben, ist das erste Verdienst Mann-
ardts. Er wandte sich speziell dem an Gebräuchen reichsten Gebiet zu,
lern des Ackerbaus. Hierfür ersann er eine neue Forschungsart, »ließ
fnassenhaft Frageblätter drucken « und versenden und leitete so zum ersten
Mal die ungeheure Aufgabe einer vollständigen Aufnahme mytho-
logischer Oberlebsel oder Fortsetzungen ein. (Das riesige Material lagert
fuf der Berliner Bibliothek.) Dies führte ihn auch zu dem Ethnographen,
ler zuerst systematisch eine solche Aufnahme primitiver Anschauungen
ind Gebräuche angestrebt hatte: zu Theodor Waitz2), in dem sogar die
Philosophie für die Völkerkunde fruchtbar geworden war. (Von den
lachfolgern Waitz', die mehr der Ethnologie aus der Mythologie gedient
aben, nenne ich besonders R. Andree3). Noch fruchtbarer war es, daß
•372 Müllenhoff Mannhardt hinwies auf den bedeutendsten noch lebenden
■olkloristen: auf Edward Burnett Tylor in Oxford4). Gemeinschaftlich
nit Sir John Lubbock, jetzt Lord Avebury5), aber wissenschaftlich tiefer
grabend als dieser, hatte Tylor aus einem Ungeheuern Vorrat ethnologischer
fatsachen eine bestimmte Reihenfolge mythologischer Stufen festzulegen
») ADB. S. 204.
2) 1821—1864; G. Gerland, ADB. 14, 629; »Anthropologie der Naturvölker«
869 f., ein überaus reichhaltiges Werk.
3) Ethnographische Parallelen und Vergleiche, I. Stuttgart 1876, II. Berlin
889; Die Sintflutsagen, Braunschweig 1891. Vgl. allgemein die Ztschr. f. Völker-
psychologie, her. v.Lazarus und Steinthal, und ihre Fortsetzung, die Ztschr.
1. Berl. Ver. f. Volksk., her. von Weinhold, dann von J. Bolte.
4) Urgeschichte der Menschheit, Leipzig 1867; Anfänge der Kultur, Leipzig 1873.
5) Die urgeschichtliche Zeit, Jena 1874; Die Entstehung der Zivilisation,
ena 1875.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 3J
610 Neuntes Kapitel.
begonnen. Außer den Anregungen Max Müllers mögen wohl Herb
Spencers soziologische Schriften1) diese Entwicklung gereift haben, vi«
leicht auch die geregelte relative Chronologie in der Prähistorie seit de
Durchdringen von Lisch' Dreistufentheorie: Stein, Bronze, Eisen. — V
allem war es der Unterbau, der Tylor und Lubbock wie Mannhar
fesselte : der aristokratischen Göttermythologie stellte sich die demokratiscl
Geister- und Dämonenmythologie selbstherrlich zur Seite. Müllenhoi
Hinweis auf den »sehr gescheiten und sehr verständigen (im Origin
unterstrichen, Müllenhoff wußte wohl warum!) Tylor«2) schlug sofort b
Mannhardt ein3). Seine Hauptwerke, die »Korndämonen« (1868) eine
seits, die »Wald- und Feldkulte« (1875/77) anderseits trennt die epoch
machende Bekanntschaft. Die englische Religionsforschung zahlte zurüc
was sie durch J. Grimm und Max Müller empfangen hatte4). Andere sin
Tylor gefolgt: Frazer5), Andrew Lang6); und ebenso ist in Deutschlati
die Nachfolge reich gewesen: ich nenne außer E. H. Meyer noc
H. Pfannenschmidt7).
Mannhardt ist von Tylor nicht zu trennen, nur daß er eben di
spezielle Mythenvergleichung beibehielt, wo Tylor nur die allgemeine
Formen des primitiven Glaubens aufsuchte: er ging, auch hier gut deutscl
doch noch mehr auf die mythischen Individuen aus, die einzelnen Korr
dämonen und Waldgeister — der Engländer auf das ganze Volk de
Geister und Dämonen. Ferner bleibt Mannhardts besonderes Verdien«
*) Vgl. z. B. Andrew Lang, La mythologie, S. 11.
2) Mytholog. Forschungen S. XXII.
3) Vgl. seine Wald- und Feldkulte II. S. XXII.
4) Man könnte in der neueren wissenschaftlichen Mythologie drei Well
reiche unterscheiden. Nachdem lange nur jede Nation für sich mit größeren',
oder geringerem Eifer antiquarische Mythologie getrieben hatte, übernahm in
17. und 18. Jahrhundert Frankreich auch auf diesem Gebiet die Führung; ihn
folgte in der größeren Hälfte des 19. Jahrhunderts Deutschland, um dann durcl
England abgelöst zu werden (Übergangsfigur Max Müller). Nun scheint siel
wieder eine Zerspaltung anzubahnen; wenigstens in Deutschland tritt neben de!
»englischen Schule« (Preuß, Kauff mann, neuerdings auch Mogk, v. d. Leyer
u. a.) eine deutsche (die Useners und Rohdes) kräftig hervor. Frankreich
tritt (trotz Hubert und M a u s s und vanGennep) neuerdings auffällig zurück
Man könnte auch nach den Lieblingsgöttern einteilen, wobei ein beständigei
Wechsel von Todesgott (in Wackernagels Zeit wie in der unsern) und Licht-
gott (Max Müller — Kau ff mann, Golther und andere Ziuwäri — ) sich,
wie recht ist, ergeben würde.
5) The golden bough, London 1890.
6) Mythology; mit Zusätzen in der Übersetzung von L. Parmentier: La
mythologie, Paris 1886; Custom and Myth, London 1884, und viele andere ein-
flußreiche Schriften; besonders charakteristisch noch The making of religion,
London 1900; siehe u.
7) Germanische Erntegebräuche, Berlin 1875.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 6 1 \
-jene Tendenz auf Vollständigkeit der Aufnahme, und endlich neben Tylors
"(auch von ihm hervorgehobener) »Nüchternheit« der wärmere Ton, der
Hhm von der Schule Grimms und Müllenhoffs her geblieben war.
Der folkloristischen Schule eignet eine Methode, die der unserer
(von ihr so gern angefeindeten oder verlachten) älteren Mythenvergleicher
sehr ähnlich ist; nur die Objekte sind verschieden. Statt von einem Götter-
namen geht man von einem Kult oder einer Volkssitte aus, sucht
-dazu Parallelen, deutet sie und kommt von da zu gewissen animistischen
(oder dämonistischen Grundvorstellungen (z. B. Sündenbock, Austreiben
der bösen Geister, sympathetischer Zauber u. dgl.). Die Gefahren sind
'nicht geringer als bei jener Schule. Denn die Interpretation einer Hand-
lung ist mit nichten unzweideutiger als die eines Namens: dieselben
Elemente, Opfer, Tanz, Ekstase, Schmücken oder Zerstören folgen sich
auch hier; die Überfülle des Stoffes gibt auch hier zu wilden Vergleichen
'Gelegenheit.
Schon früh gab diese allzu rasche Mythisierung der Realien Anlaß
]zu ironischer Polemik. In einem öfter zitierten als beachteten Aufsatz
rüber »die Hündchen von Bretzwil und von Bretten« x) spottete schon
1856 Wilhelm Wackernagel über das Unwesen, in jedem Hund den
»gesteigerten Hund« Cerberus2) zu sehen und3) überall den Begriff des
Todes als »die festere Grundlage« der historischen gegenüberzustellen4) —
was doch wieder die neueste Leidenschaft geworden ist. Heut blickt
wieder v. d. Leyen5) mit mitleidigem Spott auf die Zeit zurück, in der
kein Holzhauer in der Sage mit der Axt Späne vom Holze abschlagen
konnte, ohne daß die Axt für Donars Hammer und der Span für einen
ursprünglich goldenen, mit der Sonne offenbar zusammenhängenden Span
erklärt wurde — aber ich kann nicht finden, daß wir diese Epoche schon
überwunden hätten !
Gleich die berühmteste Einzelleistung der Folkloristen, die Deutung
des Opfers durch Robertson Smith6), ist keineswegs unangefochten ge-
1 blieben und ist wohl sicher viel zu allgemein. Einseitigkeit in der Auffassung
ist überhaupt hier so häufig wie dort: wenn Schwartz überall Gewitter
sah, so sah Lippert7) überall Seelen; und welcher Mißbrauch mit der
' kultischen Erklärung von Mythen getrieben werden kann , hat selbst an
*) Wieder abgedruckt Kl. Sehr. 3, 423 f.
2) S. 424. 3) S. 428.
4) S. 428, vgl. S. 429.
5) Sagenbuch S. 21.
6) Robertson Smith, Religion der Semiten, übs. v. Stube, Freiburg 1899.
Über den Verf. (1846—1894) vgl. J. Bryce, Studies in Contemporary Biography,
London 1903, S. 311.
7) Allgem. Gesch. d. Priestertums, 1883; vgl. Golther S. 33.
39*
612 Neuntes Kapitel.
Frazers so wertvollem Werk Kauffmanns Weiterführung Frazerscher Ideen
gelehrt.
Die Folkloristen leisten das Beste, soweit sie sich wirklich an gan
primitive Verhältnisse halten; in ihrer Ausbeutung modernen Aberglauben
sind sie kaum vorsichtiger als J. Grimm. Man kann das bis ins einzeln
in ihren Mythologien verfolgen: Mogk, der die folkloristische mit de
historischen Methode vereinigt, ist doch die Darstellung der niedere
Mythologie am besten gelungen, E. H. Meyer aber, der ganz zu
Folklorismus übergegangen ist, versagt in der Schilderung der Götter o
vollständig. Dies ist auch natürlich, denn die fundamentale Voraussetzung
der ganzen Richtung ist die Annahme einer ursprünglichen Gleichheit de
menschlichen Natur. An Stelle der geographischen Herleitung ist hie:
durchaus die psychologische getreten (daher auch gern Exemplifikatione
aus der Kinderstube), an Stelle der monogenetischen Hypothese etwa dei|
asiatisierenden Romantiker die polygenetische. Ich glaube, mit vollen^
Recht; aber eben nur bis zu einem gewissen Punkt, wo die national
Sonderbildung und Sonderentwicklung einsetzte.
Ja es bleibt sogar immer noch strittig, wie weit die absolute primitiv
Gleichheit zuzugeben ist2). Die alte theologische Meinung schied die
Völker der Offenbarung streng von allen anderen; so hebt denn auch
z. B. Leß die Juden allein aus seiner Verdammnis der nichtchristlichen
Völker heraus. Später macht etwa der starr ultramontane, geistvoll ultra-
doktrinäre Joseph de Maistre den Unterschied zwischen »Wilden« und
»Barbaren«3): der »Barbar« ist der primitive Mensch, in dem die zu
künftige Erleuchtung schlummert, der »Wilde« (den er mit mehr als
Leßschen Farben ins dunkelste Schwarz malt) hat keine Hoffnung. Diese
Zweiteilung bildete später Graf Gobineau zu einer ganzen Stufenleiter der
Rassenanlagen aus4), worin ihm vergröbernd H. St. Chamberlain gefolgt
ist. Aber auch aus der vergleichenden Geschichtsbetrachtung her hat man
ähnliche Unterscheidungen vorgenommen; so nennt Kurt Breysig5) be-
stimmte Völker die »Völker ewiger Urzeit« — eine geistreich gewählte
Benennung für die, die immer primitiv bleiben. Irgendeine solche Unter-
scheidung wird gewiß auf die Dauer nicht zu vermeiden sein: man wird
auf der allereinfachsten Grundlage schon sehr früh differenzierende Momente
aufdecken. Aber diese werden eben in die psychologisch notwendige
Stufenfolge zu verrechnen sein, die Tatsache einer typischen Entwicklung
!) Und Muchs Kritik beider; vgl. o. S. 329.
-) Vgl. die Darstellungen der primitiven Psychologie bei Fritz Schultze,
Vierkandt u. a.; siehe o. S. 73.
3) Entretiens de St. Petersbourg, 2. entretien; Edition Garnier, Paris o. J.; 1, 84.
4) Essai sur l'inegalite des rasses humaines 1853; übs. v. L. Sehern an n 1898.
B) Geschichte der Menschheit B. 1, Berlin 1907.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 613
aber (wie sie im welthistorischen Zusammenhange Karl Lamprecht, so
auch in seiner Deutschen Geschichte, betont) werden sie schwerlich
aufheben.
Die Erkenntnis oder auch nur das Vorgefühl solcher Gefahren bei
der neuen Methode führte wiederum zu neuen Entwicklungen. — Wie
von J. Grimm, so spalteten von Mannhardt und Tylor zwei Wege ab.
J Entweder nahm man zu der psychologischen Ableitung die geographische
hinzu (S. Bugge, E. H. Meyer), oder die historische (Rohde, Usener);
.wobei wiederum im letzteren Falle noch ein doppeltes Verfahren möglich
blieb: mehr philologisch (Rohde) oder mehr historisch (Usener). — In
-all diesen Fällen hatte man den Vorteil, die zu große Allgemeinheit der
volkskundlichen Typen durch Gebilde von mehr spezifischem Charakter
ersetzen zu können; in allen ist es geglückt — außer auf dem Wege
einer künstlichen Verbindung der psychologischen mit der geographischen
Methode.
Als eine Sonderrichtung innerhalb der folkloristischen Schule be-
trachtet sich eine Gruppe, die sich der »an im istischen« gegenüber als die
»dynamische« bezeichnet1) und der K. Th. Preuß, Sidney Hartland,
Hubert und Mauss, van Gennep angehören. Sie unterscheidet bei den
geheimen Kräften solche, die belebt gedacht werden und solche, die rein
dynamisch, eben nur als Kräfte wirken. Ferner betont sie die Zauberei
so stark, daß van Gennep2) geradezu die gesamte »Technik der Religion«
als Magie bezeichnet. — Mir scheint praktisch eine große Verschiedenheit
zwischen den beiden Gruppen nicht zu bestehen; übrigens würde ich die
zweite lieber die »magische« nennen, denn eine »Kraft« ist der »Geist«
doch auch; das »belebte« ,Mana* hört doch durch sein Plus nicht auf
eine Macht zu sein!
5. Doch zunächst kam noch einmal die geographische Methode
allein zum Wort: in der adaptionistischen Mythologie.
O.Gruppe3) schrieb eins der selbständigsten und anregendsten Bücher,
die auf dem Felde der Mythologie in neuerer Zeit erschienen sind. Alle
Schwächen der vergleichenden Mythologie stellt er (S. 79 f., 97 f.) über-
sichtlich zusammen, und verzeichnet treulich all ihre Mißerfolge; alle
Bedenklichkeiten im Verfahren der »Dämonologischen« (S. 184 f.) spürt
er auf; gegen die Grundanschauungen Mannhardts (S. 187), Max Müllers
1) Vgl. z. B. A. van Gennep, Les Rites de Passage, Paris 1909, S. 8;
dazu meine Rezension Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1910 S. 117.
2) S. 17.
3) Die griechischen Kulte und Mythen in ihren Beziehungen zu orientalischen
Religionen I. 1887. Mehr nicht erschienen; vgl. Golther S. 35, Chantepie
S. 40; vom Standpunkt der griechischen Philologie aus Bethe, D. Lit.-Ztg. 1906,
S. 2606.
614 Neuntes Kapitel.
(S. 200), Andrew Längs (S. 206) bringt er scharfsinnige Einwände. Be-
sonders hat er überall ein scharfes Auge auf die Verwendung der Etymo
logie, mag es sich nun um griechische (S. 624) oder ägyptische (S. 505)j $
handeln. Den Einfluß der Brüder Grimm und der deutschen Philologie
hält er (S. 50) für schädlich; das Auftreten der Religion findet er (S. 194)
überall unterschätzt. Überall, wo er kritisiert, ist er sehr zu beachten, oft
anzuerkennen. Kommt man nun aber zu seinen eigenen Anschauungen,
so findet man selbst Angriffspunkte genug für die Kritik. Daß die
Mythen (S. V) schlechterdings nur »Teile der Literatur« seien, ist un-
richtig: die Vergleichung der literarisch überlieferten Mythen, die Er-
schließung aus Andeutungen läßt uns vorliterarische Mythen oft genug
erkennen; Mythen gibt es auch bei unliterarischen Völkern. — Daß ein
Übergang aus niederer in höhere Mythologie nirgends bewiesen sei
(S. 193), ist unrichtig; der dämonische Ursprung gewisser Gottheiten liegt
völlig deutlich da in der indischen, hellenischen, nordischen Literatur. —
Daß die Kulten und Mythen der einzelnen indogermanischen Völker, ja
noch der einzelnen Urvölker mit ihrem Kulturzustand in unlöslichem
Widerspruch stehen (S. 151), ist so wenig richtig, daß vielmehr der wilde
Urgrund vieler mythologischen Anschauungen noch blutig oder seltsam
in späte Kulturepochen hineinragt. — Endlich das Hauptargument, gemein
menschlich sei nicht eine bestimmte Religion, auch nicht eine bestimmte
religiöse Anlage, sondern eine passive Potenz, eine Empfänglichkeit, nicht
eine Kraft (S. 259 vgl. S. 257) schlägt nicht durch, da eben die Empfäng-
lichkeit vollkommen genügt, um überall irgendwelchen Erklärungen und
Vorschriften den Weg zu bereiten.
Den eigenen Theorien Gruppes aber, denen wenigstens von der Ent-
stehung der Religion (S. 270 f.), haftet ein zu doktrinäres Gepräge an, als
daß sie gegen die Empirie aufkommen könnten; und denen von der
Religionsübertragung (S. 262 f.) und der Anpassung an die jedesmaligen
Verhältnisse der Entlehnenden (»Adaptionismus« S. 267 f,) steht zweierlei
entgegen : erstens : daß eine derartige Gesamtübertragung nun einmal
nirgends für frühe Zeiten bezeugt ist, bei denen die Schwierigkeit des
Verkehrs, das Mißtrauen gegen Fremde, die sprachlichen Hindernisse sie
auch fast undenkbar machen; zweitens: daß kein Grund aufzuweisen ist,
weshalb, was in Ägypten oder Vorderasien möglich war, nicht auch sonst
hätte entstehen körinen. — Allerdings hat schon der geistreiche Oscar
Peschel J) mit einer besonderen »Zone der Religionsstifter« experimentiert —
als ob es nicht von Amenophis bis zu Joe Smith und von Zoroaster bis zu
Miß Eddy überall von Religionsstiftern wimmelte!; aber — sie umfaßt Gruppes
Gebiet gar nicht. — Auch im Einzelnen zeigen sich die Schattenseiten
*) In seiner »Völkerkunde«, 5. Aufl., Leipzig 1881, S. 304.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 615
on Gruppes literarischem Aktenstandpunkt (»quod non est in actis,
on est in mundo«), z. B. (wie Golther mit Recht bemerkt) in der
teurteilung der altgermanischen Religionsanfänge1).
Vor allem aber ist die bei Gruppe mit erstaunlicher Gelehrsamkeit,
ielem Geist und großer Umsicht aufgebaute Wanderungshypothese durch
hre neuesten Nachfolger heilloser kompromittiert worden, als Kuhn und
[ejkhwartz durch ihre Epigonen : seitdem alles von Babel herstammt, seitdem
iie Assyriologen die Wege des geistigen Verkehrs auf Eine Straße ein-
geengt haben, wagt man ein so ernstes Buch wie das Gruppes kaum
-fioch eingehend zu würdigen. —
Nicht, wie Golther 2) meint, zu Gruppe schnurstracks entgegengesetzten
Ergebnissen, sondern zu ganz verwandten kommt das geistreiche, voll
hohen Schwungs geschriebene Büchlein von Vodskov Saeledyrkelse og
Natur dyrkelse (Seelen- und Naturkult) Bd. 1 : Rigveda og Edda, Kopen-
hagen 1890 — leider auch in der Unvollständigkeit, im Steckenbleiben
jenem Werk verwandt^3). Freilich schließt er seine glänzende Einleitung 4)
mit der ironischen Grabschrift auf das »wandernde Kulturvolk«, das überall
hin »so viele Tonnen Nephrit und Bronce, Weisheit und Kraft« importiert
habe; aber an diese Handelsreisenden der Kultur glaubt ja auch Gruppe
nicht. Aber Vodskov, genau wie Gruppe, leugnet die Gemeingültigkeit
der religiösen Entwicklungsformen; »Ortsgebundenheit« ist sein Haupt-
wort, die unbedingte Abhängigkeit vom Naturleben 5) sein Hauptargument.
Geographisch ist auch seine Erklärung: jedes Volk hat die Religion, die
ihm aus klimatischen und historischen Bedingungen zukommt. Die »hohe
Kultur, die die meisten Sprachforscher und alle vergleichenden Mythologen
dem indogermanischen Urvolk beigelegt haben«, bestreitet auch er6). An
die glauben auch wir nicht; aber eine weit fortgeschrittene Präformation
der Sonderkulturen scheint uns erwiesen — für den Götterglauben gerade
so gut wie z. B. für die älteste Metrik, die gewiß erst nach der Völker-
trennung sich festigte, aber ohne proethnische Ansätze zu weitgehenden
Übereinstimmungen nur durch » prästabil ierte Harmonie« bestehen könnte7).
Und da nun einmal später große Übereinstimmungen auch zwischen
Edda und Veda nachzuweisen sind, so würden sie bei völlig isolierter
Entwicklung der Skandinavier und Inder wieder nur durch den künst-
lichsten, nachträglichen »Adaptionismus« erklärt werden können. —
Unabhängig von Gruppe vertritt die Theorien von Wanderung und
Anpassung in spezifischer Anwendung auf die Symbole das bei uns nicht
genügend beachtete Werk des Grafen Goblet d'Alviella La Migration
J) S. 180. a) S. 37.
3) Rez. Kauf f mann, Anz. f. d. Alt. 18, 21 f.
4) S. CXLVIII. 5) Z. B. S. XLIII. 6) S. LXXXIV.
7J Vgl. Usener, Altgriechischer Versbau, Bonn 1887.
616 Neuntes Kapitel.
des symboles1). Er nimmt einen einheitlichen Stammbaum (S. 86) fü
das Hakenkreuz an 2) und zeichnet (S. 328) geographische Hauptwege fü
die Wanderungen (vgl. S. 266. 270); doch gibt er (S. 208, vgl. 213
abstrakt die Möglichkeit unabhängigen Ursprungs zu. Die Regel abe
sieht er in nachheriger Umgestaltung oder Umdeutung bei gleiche
Ursprung (S. 109), die durch Anpassung (transmutation des Symbole
S. 21 7 f., der wichtigste Abschnitt, vgl. S. 108 f.), Verschmelzung (S. 228]
vgl. S. 250) und absichtlichen priesterlichen Synkretismus (S. 331) bewirkt
wird. Außer der Svästika (das Kreuz S. 143 f.) behandelt er besonders
das Sonnenrad (S. 220 f.), den Heroldstab (S. 280 f.) und namentlich den
Lebensbaum (S. 205 f.)3).
6. Eine neue Begegnung getrennter Tendenzen schafft die fo lkl or ist isch-
adaptionistische Mythologie. Golther4) lehnt Gruppes Anschauungen
bezüglich der niederen Mythologie zwar völlig ab, hält sie aber betreffs der
höheren Mythologie im wesentlichen für richtig. Dieser merkwürdige Stand-
punkt, daß zwar das Einfache, Gemeinverständlichste nicht entlehnt sein
könne, wohl aber das Individuelle und Nationale, ist eigentlich überhaupt
unbegreiflich. Gerade in Göttergestalten wie Indra, Athene, Thor, gerade in
Kulten wie dem Soma-Opfer und der Speerweihe, gerade in »hieratischen
Mythen« wie denen von Asklepius oder Brhaspati pflegen wir ja den
spezifischen Ausdruck nationaler Eigenart zu sehen. Es ist, als wollte
man sagen: die Kinder haben natürlich alles aus sich selbst; aber die
Gedanken der Erwachsenen werden wohl geborgt sein. — Indeß, bei
Golthers Autoritäten, Sophus Bugge5) und E. H. Meyer, steht die Sache
anders und verständlicher.
Sophus Bugge ist in seiner Methode durch und durch ein Nachfahr
der vergleichenden Mythologie — so sehr, daß ich nicht einmal von einer
Beimischung des Folklorismus bei ihm zu sprechen wagen dürfte, wenn er
nicht in Einzeluntersuchungen sein Interesse an Volksleben und Volksart
x) Paris 1891.
2) Vgl. dagegen K. v. d. Steinen, Prähistorische Zeichen und Ornamente,
Berlin 1896, aus der Bastian-Festschrift; E. Grosse, Anfänge der Kunst, Frei-
burg 1893, S. 116f.; Verworn, Anfänge der Kunst, Jena 1909, S. 54.
3) Unbrauchbar dagegen Aug. Wünsche, Die Sagen vom Lebensbaum
und Lebenswasser, Leipzig 1905.
4) S. 36.
5) 1833—1907; vgl. AxelOlriku. M. Kristensen, Danske Studier 1907,
S. 77f. ; Hj. Falk, Ark. f. nord. Fil. 24, 222; E. Mogk, Journal of German
Phil. 7, 105. — Bugge, Populaer-videnskabelige Foredrag, Kristiania 1907. 1889
erschienen die Studien über d. Entstehung d. nord. Götter- u. Heldensagen. —
Über seine Methode: Mogk Mythologie, S. 245; Schullerus S. 510; Bugge
selbst Ark. f. nord. Fil. 19, 91 ; v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 40; Chantepie S. 37 f.;
Golther S. 44f.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 617
gewiesen hätte. Vor allem aber erstrecken sich seine Forschungen nur
iiuf die höhere Mythologie, lassen also hier die im Norden damals wohl
(schon allgemein geltende folkloristische Anschauung unberührt. Wie die
[Mythenvergleicher, ging Bugge zunächst von der Etymologie aus, die er
jooch kühner als jene handhabt (selbst Golther1) gibt seine Wortableitungcn
[preis!) und die Betrachtung von Fremdworten u. dgl. spricht bei ihm
(wie bei einigen späteren nordischen Forschern, z. B. Schytte) jederzeit
bine besondere Rolle. Ferner ist seine Art, von der Edda aus in der
Mythologie aller Perioden und Völker herumzugreifen und dann zwei
unvereinbare Berichte auf eine übereinstimmende Formel zu bringen,
völlig die von Max Müller oder — Schlimmeren. Endlich ist auch die
Interpretation in einem durch bestimmte Grundanschauungen beeinflußten
Sinne durchaus im Geiste jener Schule. Ja, die Art, wie er urchristliche,
altjüdische, gelehrt -antike Einzelmotive von zum Teil abgelegensten Ge-
bieten her an Odin und Balder heranholte, konnte oft wie ein Atavismus in
die Zeit Creuzers und Görres' zurückweisen2).
Was nun aber Bugge zu diesen Anschauungen brachte, war gerade
das von seinen Vorgängern in der vergleichenden Mythologie ver-
nachlässigte nationale Element. Bei liebevollster Versenkung in die Edda-
dichtung hatte der große Kenner der gesamtnordischen Eigenart mancherlei
Züge bemerkt, die ihm zu dem allgemeinen Bild der germanischen Mytho-
ogie nicht zu stimmen schienen, das J. Grimm entworfen und seine
Nachfolger nicht verändert hatten. Ja, sie schienen sogar aus dem Ton
herauszufallen, den unter den Händen der Vergleichenden die gesamte
indogermanische Mythologie angenommen hatte. Hierin nun täuschte sein
feiner Sinn sich gewiß nicht; es lagen wirklich an jenen Stellen höchst
eigenartige Sonderentwicklungen vor, deren ethische und intellektualistische
f ärbung wohl an christliche und gelehrte Einflüsse denken lassen konnten.
Sie waren aber doch wieder mit diesen viel schwerer als mit dem Gesamt-
habitus der nordischen Mythologie in Übereinstimmung zu bringen; der
Odin, der neun Tage am Baum hängt als ein Opfer und dann alle Weis-
heit besitzt, stand dem Odin, der mit Mimirs Kopf spricht oder zu Vaf-
thrüdnir fährt, gewiß näher als dem gewiß nicht um der Gewinnung von
Weisheit willen und auch nicht »sich selbst« geopferten Christus. — Aber
die vergleichende Mythologie hatte eben über das ganze Gebiet, das sie mit
ihren Parallelen beherrschte, eine so gleichmäßige Färbung gebreitet, daß
man eine so eigenartige Evolution von innen heraus nicht anzunehmen
wagte. So ward Bugge in doppeltem Sinne ein Opfer der Vergleichenden
*) S. 44.
2) Die im Norden sonst so heftig abgewehrte Anschauung von christlichem
Einfluß auf die Edda hatte für die Eschatologie schon 1836 M. Hammerich
(Om Ragnaroksmythen) behauptet; siehe o. S. 601, 1.
618 Neuntes Kapitel.
Mythologie. Es mußte nun also Entlehnung angenommen werden um
zwar von einem außerhalb des indogermanischen Mythenkreises stehendei
Bezirk (oder deren mehreren). Und nun ward er weiter ein Opfer seine
Gelehrsamkeit und eines (wie bei so vielen Mythenvergleichern) durcl
kein genügendes Unterscheidungsvermögen kontrollierten Kombinations
talentes.
Nun aber mußten doch Wege für die Übermittlung des fremder
Gutes gesucht werden, gerade weil es sich um Import von fremden Kultur
kreisen handelte. Hier nun wiesen ihn seine historischen Studien auf dte
Beziehungen der Wikinger zu Irland. Gewiß ein wichtiges Moment: sein
Sohn Alexander Bugge, daneben Axel Olrik haben in der Tat irische
Einflüsse auf die nordische Sage und Dichtung wahrscheinlich gemacht:
auf das Gedicht von Rig, die Götterschlacht, die Schilderung von Thors
Asenzorn. Aber immer sind das Einflüsse von Volk zu Volk. Daß di
irischen Mönche die Belesenheit, die Bugge ihnen in Unterschätzung
seiner eigenen ganz exzeptionellen Gelehrsamkeit zutraut, fahrenden Kriegern
hätten übermitteln können, bleibt so gut wie undenkbar. Wären selbst
statt der zusammenhanglos von Bugge verbundenen Einzelheiten größere
Entlehnungen anzunehmen — diese Wikinger, die am meisten nordischen
Nordmänner, waren gewiß nicht reif, auch diese griechisch-römischen
Schatzkammern zu plündern!
Dem Drama fehlte nicht das Satyrspiel: Carus Sterne1) leitete als
umgekehrter Bugge alle griechischen Sagen und Mythen aus nordischen
Quellen ab« 2). Später hat dann diese Reaktion bis zu der Leugnung
der Existenz Christi geführt; und der neue Hardouin wird nicht aus-
bleiben, der da nachweist, alle Antike sei überhaupt nur eine Fälschung
der Mönche3).
Auch Elard Hugo Meyer4) kam von der vergleichenden Mythologie
her. Er hat J. Grimms Mythologie neu herausgegeben und hat in zwei
Bänden Indogermanischer Mythen5) die Kentauren mit den indischen
Ghandarven verglichen und6) den Peleus- und Achilleusmythus auf eine
indogermanische Grundform 7) zurückzuleiten versucht. — Bald darauf
*) Eigentlich Ernst Krause: Die Trojaburgen Nordeuropas, 1893, u. a.;
vgl. Hantzsch, Biograph. Jb. 8, 307.
2) Schullerus S. 518.
3)Jean Hardouin, 1646 geb., Jesuit, suchte zu erweisen, daß bis auf
Cicero, Plinius, die Georgica Virgils, die Satiren und Episteln des Horaz alle
antiken Schriftsteller untergeschoben seien (Biogr. Univ. 18, 450).
4) Gest. 1908; Nekrolog von Kluge, Münchener Allg. Ztg. 1908, Beilage
S. 631; Roediger, Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 18, 237. — Golther S. 47;
Schullerus S. 509.
5) Berlin I. 1883, II. 1887.
6) 2, 569 f. 7) 2, 654.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 619
elangt er, unabhängig von Bugge1), zu ähnlichen Ergebnissen wie dieser2).
allerdings ist sein Ausgangspunkt ein anderer. E. H. Meyer lebte vor
fllem in der Anschauung der »niederen Mythologie« ; hierfür haben seine
eiden Mythologien Vortreffliches geleistet; und später hat er sich, mit
|em schönsten Erfolg, ausschließlich der Volkskunde gewidmet3). Von
ieser Gewöhnung aus kam ihm jede mythische Gestaltung, die systematisch
ussah, verdächtig vor — wo Bugge der Inhalt stutzig machte, ward er
urch die Form beunruhigt. Unzweifelhaft war auch dies ein berechtigter
vusgangspunkt. Wie wird nun aber die Lösung des Problems durch-
eführt! welche Unmasse abstrakter Gelehrsamkeit haben die armen
ddischen Dichter schlucken müssen ! Und wieder die wilden Etymologien :
us fjLtkavlnnog, schwarzes Pferd, ist — ein »Reifmähne« mit meldropum,
autropfen, geworden4), wo also glücklich die Silbe mel stimmt! Und
velches wüste Arbeiten mit ungefähren Anklängen! und welche Logik,
vo dann wieder5) etwas unecht ist, weil es »die Tendenz hat, die
rieidnische Färbung zu verdächtigen«! — Das Beste, oder auch das allein
brauchbare sind hier die dämonistischen Deutungen 6). In seiner Dämono-
ogie sehe ich überhaupt7) sein größtes mythologisches Verdienst, und
)ositiv ein großes. Chantepie hält die Herleitung der Götter aus Dämonen
licht für erwiesen. Aber wo sollen sie denn überhaupt herkommen, da
Zhantepie ja nicht8) Gruppes Theorie annimmt? Spätere Götter können
yewiß unmittelbar entstanden sein, wenn das Bild einmal gegeben war —
iie frühesten mußten sich aus niederen Stufen entwickeln. Mit dieser
\nschauung haben auch schon vor E. H. Meyer z. B. Hoffory in der
germanischen Mythologie, viele in der griechischen gearbeitet; und bei
Gestalten wie Rudra, Pan, Loki glaubt man die Entwicklung aus dem
Dämon förmlich vor Augen zu sehen9).
7. Eine andere Verbindung besitzen wir in der folklorist i seh-
est ori sehen Mythologie. Wiederholt hatte man schon den Versuch
r) Völuspä S. II.
2) Völuspä, Berlin 1889; Die eddische Kosmogonie, Freiburg i. Br. 1891;
vgl. die Besprechungen von Detter, Ark. f. nord. Fil. 7, 89 f. bez. 8, 304; für
die Völuspä noch Niedner, Ztschr. f. d. Alt. 41, 34.
3) Deutsche Volkskunde, Straßburg 1898; Badisches Volksleben im 19. Jahr-
hundert, ebd. 1900.
4) Kosmogonie S. 105. 5) Völuspä S. 134.
) Z. B. ebd. S. 176. 7) Gegen Chantepie S. 714.
) Wie E. H. Meyer z. T.: ebd. S. 43.
) Vgl. für diese Gruppe noch z. B. Mogk, Menschenopfer, S. 621. Auch
Sophus Müller in seiner trefflichen Urgeschichte Europas (übs. v. Jiriczek,
Straßburg 1908) steht wesentlich auf dem Standpunkt der Anpassungshypothese
und läßt den Germanen die Götter von den Römern zukommen (vgl. dagegen
Much, Gott. Gel.-Anz. 1909 S. 95f.
Gl
Ol
620 Neuntes Kapitel.
gemacht, auf der Grundlage der vergleichenden Mythologie nationale Mytrlu
logien entstehen zu lassen. Dies war der Grundgedanke Adolf Bastians, c~
in unendlich wirren Deduktionen den »Völkergedanken« als spezifisch
Faktor die allgemein menschlichen Vorstellungen nationalisieren ließ. Die«
Anschauung näherte sich auch Karl Weinhold1). Er ging von J. Grim
aus und suchte in seinen Hauptwerken2) wie Uhland und Grimm h
schreibende Kulturgeschichte zu geben. In seinen mythologischen Arbeiten
versuchte er die spezifischen klimatischen und kulturellen Verhältnisse c^
Nordländer als differenzierenden Faktor einzuführen. Wieviel mehr häl
darin ein solcher Kenner der Volkskunde tun können! aber es ist mer
würdig, wie isoliert alles bei diesem vielseitigen Gelehrten blieb. W
er, etwas pedantisch, seinen Schreibtisch jeden Abend abräumte und jed
Buch wieder an Ort und Stelle einschob, so war auch der Folklori
kaum noch zu merken, wenn der Mytholog das Wort hatte4).
So blieb der Ruhm, diesen Weg eingeschlagen zu haben, de
klassischen Philologen und Historikern.
Den ersten Rang nimmt der letzte der großen Mythologen ei
Hermann Usener5). In einer langen Reihe von Arbeiten 6) hat Usen
Ein Ziel klar und fest im Auge behalten. Mehr als ein Früherer erkann
er, daß die Mythologie nichts Festes ist, sondern ein ewiges Fließen, ei
»energia«, wie es für W. v. Humboldt zuerst die Sprache, für SavignL
zuerst das Recht war7). Als echter Historiker wollte er das Werden de
Mythen beobachten — nicht vereinzelt, wie das jeder Mythenvergleiche
und fast jeder ernsthafte Mytholog anstreben muß, sondern generell. Di
typischen Stufen des religiösen Empfindens, die Phasen der mythologische!
Evolution waren ihm nur Hilfsmittel, um diese beständigen Umformungei
,
5) 1823—1901; Fr. v. d. Leyen, Biogr. Jahrb. 6, 47.
2) Altnordisches Leben, 1855; Die deutschen Frauen in dem Mittelaltei
1851, stark umgestaltet 1882.
3) Oolther S. 39; Chantepie S. 33: Die Riesen im germ. Mythus, 1858]
Der Mythus vom Wanenkrieg, 1870 u. a.
4) Ähnlich Heusler. Ark. f. nord. Fil. 19, 197.
5) 1834—1905; P. Wendland, Preuß. Jahrb. 122 (1905) S. 373; Alber
Dieterich, Arch. f. Rel.-Wissensch. 8, 1 f. — Vorträge und Aufsätze, Leipzig 1902
6) Legenden der heiligen Pelagia, Bonn 1879; Das Weihnachtsfest, Bonr
1889, dazu sehr charakteristisch P. de Lagarde, Altes und Neues über das
Weihnachtsfest, Göttingen 1891; Götternamen, Bonn 1896; Die Sintflutsagen
ebd. 1899; Dreiheit, ebd. 1903; Aufsätze im Rheinischen Museum, im Arch. f,
Rel.-Wissensch. u. a.
7) Auf dem Wege zu dieser Anschauung war besonders Müllenhoff;
vgl. Much, Himmelsgott, S. 189; ferner Mannhardt, sein Schüler, der die
Bedeutung der »mythenbildenden Kraft« (v. d. Leyen, Sagenbuch, S. 33, vgl.
S. 90) hervorhob und in der Entwicklung der Mythen ihr eigentliches Leben
finden wollte (ebd. S. 33), bei dem es aber auch mehr Theorie blieb.
ichi
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 621
stzuhalten, in denen er als Erster das Wesen der Mythologie erblickte. —
ierzu nun schuf er sich ein eigenes Werkzeug. Wie die indogermanische
Fachwissenschaft die romanische Philologie vor sich hat, in der die
>rt nur postulierte Ursprache mit dem Vulgärlatein tatsächlich gegeben
t, so besitzen wir umgekehrt in einem nicht geringen Teil des christ-
:hen Legendenschatzes das Ergebnis einer greifbaren Umgestaltung antiker
lythen, in einem nicht geringen Teil des katholischen Ritus die im
inzelnen festzustellende Umbildung römischer oder griechischer Riten
!;. B. der Wasserweihe). Hier also setzte Usener ein von der Pelagia bis
i dem posthumen Heiligen Tychon l). Nicht die Herleitung der einzelnen
egende war Selbstzweck, sondern die Ermittlung der Gesetze der Um-
andlung. Ebenso ist auch z. B. Useners merkwürdige Entdeckung der
Augen blicksgötter« oder »Sondergötter« (in den »Götternamen«) nur
eshalb für ihn von Bedeutung, weil hier einmal der mythenbildende Akt
Inmittelbar vorzuliegen scheint.
Von einem allgemeinen »Adaptionismus« ist nicht die Rede, sondern
[üese Christianisierung ist nur ein methodisch besonders wichtiger Einzel-
ill der auch im nationalen Innenleben unvermeidlichen Umbildung. Sie
iat Usener in den wichtigen, noch keineswegs genügend ausgebeuteten
Vufsätzen wie »Keraunos« und »Heilige Handlung« erforscht. Dabei kam
Jas nationale und historische Moment zu seinem selbstverständlichen Recht,
gerade wie die alten Hilfsmittel auch: Etymologie, Mythenvergleichung.
Usener war eine leuchtende Natur, die die funkelnde Arbeitsfreude
Kid Entdeckerfreude fast mit der Frische eines J. Grimm in seine Schriften
rüg; ein großer Philolog, was vor ihm von allen Mythologen, die wir
lier zu nennen hatten, außer J. Grimm nur Gottfried Hermann gewesen
^ar; ein Meister fesselnder Darstellung. Von seinen Schülern nenne ich nur
pe beiden bedeutendsten: Hermann Diels2) und Albert Dieter ich3).
Weiterhin sind z. B. Friedrich Kauffmann innerhalb der germanischen
Philologie, Gelehrte wie Wendland, Reitzenstein, Deißmann und die meisten
Vertreter der neueren philologischen Bibel- und Religionsgeschichte von
dem herrlichen Mann mittelbar oder unmittelbar beeinflußt.
Eduard Meyer ging in seiner Geschichte des Altertums4) weiter.
Ihm galt es, die Mythologie in die Gesamtheit der nationalen Lebens-
iußerungen einzureihen; dadurch wurde die nationale und historische
Sonderentwicklung ohne weiteres gefordert. Er stellte sich wesentlich auf
en Boden der vergleichenden Mythologie in ihrer durch die neuere Kritik
!) Leipzig 1907.
2) Sibyllinische Blätter, Berlin 1890.
3) 1866—1908; Wünsch, Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 161. — Mutter Erde,
Leipzig 1907.
4) 1884; der Einleitungsband in der 2. Aufl. als »Anthropologie«, Leipzig 1909.
622 Neuntes Kapitel.
eingeschränkten Form, betonte aber mehr als die früheren Mytholog
den unmittelbaren Einfluß von Staat und Priesterstand und wirkte
frischend durch die gesunde Nüchternheit, mit der er moderne Einseiti
keiten abwehrte x). Zu den Entwicklungsmythologen ist auch er zu zähl
obwohl die Darstellungsweise ihn öfter den älteren Forschern nähert, den
die einzelnen Stufen zum Selbstzweck werden.
Erwin Rohde2) gab das erste große Beispiel einer mythologische!
Entwicklungsgeschichte in seiner »Psyche« (1890). Der allmä|^
liehe Wandel der Vorstellungen von Seele, Tod und Unsterblichkeit a
hellenischem Boden wird mit philologischer Gründlichkeit, umfassend!
Gelehrsamkeit, psychologischem Feinsinn und dichterischer Kunst des Ei
fühlens verfolgt. Mit diesem großen und ertragreichen Beispiel war d
Sieg der neuen Richtung endgültig entschieden. Gerade auch auf d
germanische Mythologie hat Rohdes Psyche mächtig eingewirkt; wie se
freilich auch hier die Unsterblichkeitsfrage den Angelpunkt der Entwicklunji
bildet, scheint mir noch nicht genügend anerkannt.
Eine Sonderstellung unter den Vertretern dieser Richtung nim
noch Ulrich v. Wilamowitz-Möllendorff ein. Ich möchte ihn a
den Bahnbrecher der stilkritischen Mythologie bezeichnen, die ebe
eine Unterform der philologisch-folkloristischen ist. Der folkloristischei
Methode müssen wir den Schüler von Usener und Wellhausen trotz seine
gelegentlichen Ärgers über »Eskimo-Philologie« zuweisen. Dahin gehör
sein starkes Betonen des novellistischen Elements in der Sage3), seine früh
Erkenntnis der Einwirkungen der Heldensage auf die Mythologie4), vor allefr'
seine Art, religiöse Vorstellungen in allgemeine kulturelle Zusammenhäng
einzubetten5) und seine, freilich bei den klassischen Philologen nicht seltene)
starke Betonung des Kultus, der dämonistischen Vorformen, der Beziehungen]
zu anderen Übungen der volkstümlichen Phantasie, z. B. in der Kunst
Der Schüler Useners aber zeigt sich noch besonders in der Betonung der
unaufhörlichen Entwicklung; »Auch für die Sage ist die Ruhe der Tod.
Sie ist ein Strom geschmolzenen Metalls. Es rinnt dahin, verzehrend und
einschmelzend, was in seinen Weg kommt, Schlacken abstoßend, Blasen
werfend, bis die Hitze verflogen ist: dann liegt es starr und kalt und tot:
aber es bewahrt nur in dieser Starrheit seine Form. — So können wir
die Sage nur in dem erstarrten Zustande erfassen, der ihr ermöglichte, zu
!) Vgl. meine Rez. Ztschr. d. Ver. f. Volksk. 1909 S. 328.
2) 1845—1898; O. Crusius, Erwin Rohde, Tübingen 1902; E. Weber,
Biogr. Jahrb. 6, 450.
3) Hippolytos, Berlin 1891, S. 35.
4) Z. B. Herakles, Berlin 1889; 1, 100.
5) Z. B., schon vor Rohdes Buch, die Unterweltsvorstellungen: Homerische
Untersuchungen, Berlin 1884, S. 204 f.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 623
lauern, während sie, so lange sie lebte, dem Wechsel unterworfen war« *).
JFas er hier von der Heldensage verkündet (und fast mit denselben Worten
||»at es Max Burckhardt sehr hübsch in seinem sonst völlig wertlosen
3üchlein über die Nibelungensage ausgeführt), das gilt natürlich erst recht
ajür den Mythus, wo es zu Gruppes rein literarischer Auffassung, dem letzten
Nachklang des alten Härtens am Buchstaben der Aufzeichnung, den denk-
)ar kräftigsten und willkommensten Gegensatz bildet. Freilich ist nicht
'M bezweifeln, daß wir von der Heldensage her demnächst einen neuen
aASinbruch der aktenmäßigen Auffassung in die Mythologie erleben werden:
dnivas Voretzsch und besonders Bedier (von Boer nicht zu reden, der alle
ii Fühlung mit ungeschriebenen Realitäten längst verloren hat) mit gesunder
jt Reaktion gegen die allzu luftigen Zwischenführungen betont haben, was
1: sinnlich in gleichem Gegensatz John Meier für das Volkslied zu erhärten sucht
und neuerdings auf das Volksepos ausdehnt 2) — das wird in kurzem von
weniger bedeutenden, weniger urteilsfähigen Nachbetern in die Religions-
forschung übertragen werden und wir werden eine Zeitlang hören, Mytho-
logie und Religion entwickle sich nur von Buch zu Buch, und die
Geschichte der Konzilien und zumal der symbolischen Bücher der pro-
testantischen Kirche sei für das Verständnis der Edda weit wichtiger als
die aller Volksüberlieferungen. Denn welcher Irrweg wäre uns je erspart
geblieben ?
Aber zu diesen ererbten und erlernten Anschauungen kommt bei
Wilamowitz etwas Drittes. Vertiefen wir uns in seine größte mythologische
Leistung, die Geschichte des Herakles3), so finden wir etwas stark ent-
wickelt, was bei den Früheren nur leise anklang (bei Welcker, bei Lehrs,
bei Usener): das Stilgefühl als methodologisches Hilfsmittel. Gewiß,
^r spricht4) von einer Heraklesreligion wie wir von Thors- und Odins-
religionen ; aber selbst hier charakterisiert er sie nach stilistischen Werten :
als archaisch, als groß und einfach in der Gedankenhaltung — als pindarisch.
Es ist noch gar nicht lange her, daß bei uns die Bedeutung des Stils
für Untersuchungen zur Heldensage erkannt ist — ich meine natürlich
des Stils der Konzeption selbst, nicht bloß der literarischen Formgebung.
Der Engländer W. P. Ker5) und, ihn fortführend, Andreas Heusler6)
haben hier vor allem Epoche gemacht7). Eine wirklich fruchtbare An-
*) Herakles a. a. O.
2) Werden und Leben des Volksepos, Halle 1909.
3) a. a. O. S. 259 f. 4) S. 327.
5) Epic and romance, London 1897.
6) Lied und Epos in germ. Sagendichtung, Dortmund 1905; meine Bedenken
Arch. f. n. Spr. 115, 403; vgl. auch Panzer, D. Lit.-Ztg. 1908 S. 133.
7) Vgl. ferner bes. Panzer, Das altdeutsche Volksepos, Halle 1903;
Märchen, Sage und Dichtung, München 1905; Bethe, Mythus, Sage, Märchen,
J
'
624 Neuntes Kapitel.
wendung des Begriffs der »inneren Form« auf die Mythen, eine Stilist
der Mythologie in diesem Sinne, eine Formenlehre der religiöse
Anschauungen bleibt ein Wunsch an die Zukunft. Möge die Aufgal
nicht, wie bei uns so viele große Aufgaben, einem trocken registrierend*!
wissenschaftlichen Bürokraten oder gar einem kompilierenden Schneide!
gesellen zufallen!
8. Noch bleibt die psychologische Mythologie. Damit komme
wir zu einer letzten, noch recht schwach vertretenen »Richtung«. Fa
der Einzige, der innerhalb der germanischen Mythologie bisher in größerei
Maße von der Psychologie auszugehen versuchte, war der feinsinnige un j
liebenswürdige Ludwig Laistner (1845 — 1896)1). In echt dichterische
Weise versetzt er sich in die Stimmung, aus der im Nebel oder unte
dem Druck des Alps Mythen entstehen; nur daß auch er hier der
monistischen Fluch nicht entging und in dem zweiten Buch fast alles au
Einer Wurzel aufschießen ließ.
Die Völkerpsychologie, die Ableitung bestimmter Anschauungen au
der Volksseele ist, wie wir sahen, viel älter. Auch fehlte es lange ai
Hilfsmitteln, die die Psychologie des Durchschnittsmenschen für di
Religionswissenschaft hätten fruchtbar machen können ; dürftige Zusammen
Stellungen wie Sullys »Illusionen«2) oder Ribots »Phantasie«3) konnter
nicht genügen.
Als wichtige religionspsychologische Probleme der altgermanischen
Religionsgeschichte nenne ich die häufigen Visionen in Dichtung4) und
Sage (Odin und Thor erscheinen den Bekehrten); die Konversionen
selbst; die geringe Rolle des phallischen Elements und der berauschenden
Getränke; das Verhältnis der Verehrer Odins zu ihrem Gott; die Wand-
lungen des Unsterblichkeitsglaubens. Das interessanteste Problem auch in
diesem Sinne bietet die Entstehung der Völuspä: die Mischung von
Gelehrsamkeit und wirklicher Vision, etwa wie in den glücklichsten
Momenten bei Milton und Klopstock5). — Auch hier ist die vergleichende
Leipzig 1905; W. Wundt, Märchen, Sage und Legende als Entwicklungsformen
des Mythus, Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 200; vgl. auch Kauffmann, Arch. f.
Rel.-Wissensch. 11, 110.
x) Nebelsagen, 1879; Das Rätsel der Sphinx, 1889; Golther S. 14.
2) Leipzig 1884.
3) Übs. v. W. Mecklenburg: Die Schöpferkraft der Phantasie, Bonn 1903;
ferner E. Lucka, Die Phantasie, Wien 1908.
4) Walküren: Helg. Hjörv. Str. 6; Helg. Hund. I. Str. 15—16; Walkürenlied
aus der Njälssaga: Eddica minora S. L; Verstorbene: Helg. Hund. II. Str. 39 f.;
eine Erscheinung Odins wird erwartet in den Bjarkamäl (vgl. Eddica minora
S. XXII); u. a.
5) Das Problem hat schon die alten Angelsachsen beschäftigt, wie die
Legenden von Caedmon (vgl. Brandl, Altengl. Lit., S. 1030) und von Godric
(S. 1096) — in christlicher Zeit — beweisen.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 625
teligionsgeschichte am Werk: Holzinger1) konstatiert das Überwiegen
lächtlicher Theophanien beim Elohisten (während z. B. die Vision
on Damaskus bei Tage stattfindet).
Von Amerika kam eine starke Strömung. Die empirische Religions-
j^sychologie wurde geschaffen2). Früher hatte man nur die Höhepunkte
sorgfältiger studiert3). Nun begann man, die gesamte innere Welt des
Religiösen Menschen zu studieren, gerade auch die intermittierenden
3j> Trocken heitszustände« (deren klassische Vertreterin in unserer Dichtung
\nnette v. Droste war), gerade auch die langsamen Wandlungen.
Diese Wege hatte Wilhelm Wundt schon früher mit der Kollektiv-
Psychologie zusammengeführt, und in seinem großen Werk Völker-
psychologie« 4) versuchte er, einen vollständigen Kosmos des zu geistigen
Äußerungen bewegten Menschen zu geben. Das bedeutsame Werk leidet
im einer gewissen rechnerischen Methode, die zu gern aus den gegebenen
Daten mittlere Linien zieht, und daneben an der philosophischen Neigung
oi »vollständigen« Entwicklungen; aber vor allem, wo es sich um Be-
rührungen mehrerer Ausdrucksformen — wie Kunst und Mythus —
wandelt, wird man die Enzyklopädie der Volksseele nie ohne Ertrag auf-
schlagen. Um für unsere Zwecke vollkommen nutzbar zu sein, müßte Wundt
,yon Müllenhoffs oder Laistners Gabe der mythologischen Anschauung mehr
besitzen, als dem gelehrtesten aller Philosophen gegeben ist. Wer eine treff-
liche Logik schreiben kann, ist zum rechten Mythologen schon verdorben5). —
Zum Schluß ein Umblick. Suchen wir uns über den gegen-
wärtigen Betrieb der Mythologie klar zu werden, so wird allgemein die
Herrschaft der folkloristischen Richtung mit historischen Tendenzen an-
zuerkennen sein. Der Versuch, aus einer durchweg angenommenen
wesentlichen Gleichheit der Primitiven eine übereinstimmende niedere
Mythologie abzuleiten und aus dieser in historischer Entwicklung die
national gestaltete höhere Mythologie aufsteigen zu lassen, charakterisiert
/or allem die maßgebend gewordene semitische Mythologie unserer Tage :
tfon Robertson Smith und Wellhausen zu Stade und Gunkel6). Diesem
*) Genesis S. 177.
2) W. James, Die religiöse Erfahrung, übs. v. G. Wobbermin, Leipzig
1907; E. D. Starbuck, Religionspsychologie B. I., Leipzig 1909, mit einer Ein-
leitung vom Übersetzer, die nur in Übersetzung verständlich wäre.
3) Huguet, Celebres conversions contemporains , Paris 1882; vgl. W. A.
Heidel, Die Bekehrung im klass. Altertum, Ztschr. f. Rel.-Psychol. 3, 377;
Achelis, Die Ekstase, Berlin 1902; vgl. auch M. Buber, Ekstatische Kon-
fessionen, Jena 1909.
4) Leipzig 1900 f.
5) Auch an Pfleiderers Religionspsychologie auf geschichtlicher Grund-
lage (Berlin 1898) kann erinnert werden.
6) Genesis, 1901.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschichte. 40
626 Neuntes Kapitel.
Typus entsprechen auch die Lehrbücher der germanischen Mythologi
die an Stelle von Simrocks zu lange herrschendem Handbuch getreteHflt
sind; nur daß bei E. H. Meyer in konsequenter und bei Golther in inl
konsequenter Weise das »adaptionistische« Element, die Wanderun
hypothese hinzutritt, während Mogk und Chantepie de la Saussaye sie
auf durchaus folkloristischem Standpunkt halten, der erstere mit stärkere)
Betonung der spezifisch historischen Entwicklung. Von einer Würdigung
dieser Bücher x) möchte ich an dieser Stelle absehen , kann übrigens fü
Golther und E. H. Meyer auf frühere Rezensionen 2) verweisen 3). Person
lieh fühle ich mich der Hilfe Mogks am meisten verpflichtet, habe abe
auch von Golthers übersichtlicher, reicher Stoffsammlung und vor|
E. H. Meyers anschaulicher Schilderung zumal der niederen Psychologi
dankbar viel gelernt.
So glänzende Namen wie die orientalische und die klassische Mythologi
haben wir jetzt nicht aufzuweisen. Das Beste ist in neuerer Zeit auf Gebietei
geschehen, die unsere allgemeine Darstellung nicht berühren konnte: in
der Kritik und Interpretation der Quellen, wo vor allem Olriks Name
glänzt und die von Jessen4) und Finnur Jönsson 5) neben denen der aus-
gezeichneten Edda-Herausgeber Grundtvig, Bugge, Sijmons und der Edda
Erklärer Lüning, Müllenhoff, Hoffory, Heusler, Heinzel und Detter, Niedner,
sowie des Edda-Übersetzers Gering mit besonderem Dank zu nennen wären ;
dann in der Erörterung wichtiger Einzelfragen6); endlich in den Über-|
sichten, die Kauffmann zum Archiv für Religionswissenschaft beisteuert.
Als ein Beweis, wie sich eine allgemeine Methode dieser Disziplin heraus-
bildet, ist gerade diese (nach Achelis' unzulänglichen Anfängen) von
Usener und Dieterich neugegründete Zeitschrift auch für die germanische
Mythologie wichtig; während die Zeitschrift für Religionspsychologie (seit]
1907) noch nicht leistet, was wir glaubten erwarten zu dürfen.
Soll ich mir endlich auch ein Urteil über den gegenwärtigen Betrieb
unserer Wissenschaft erlauben, so wäre es das beunruhigte, daß wir wieder
!) Vgl. Chantepie S. 42 für Mogk, S. 45 für Golther, S. 27 für
E. H. Meyer.
2) Vgl. für E. H. Meyer Anz. f. d. Alt. 30 (1905) S. 1; für Golther Zs.
Ver. Volksk. 1896 S. 87 f.
3) Für Chantepie sei auf die Besprechung von Olrik, Ark. f. nord. Fil.
20, 97, hingewiesen (wo noch S. 99 besonders auf die bibliographischen Ver-
dienste des Buches hingewiesen wird); für Mogk auf Jiriczek, Arch. f. Rel.-
Wissensch. 5, 274.
4) Über die Eddalieder, 1871.
8) Den oldnordiske og oldislandske Literaturs Historie, Kopenhagen 1894 f.
6) Chadwick, The eult of Odin, Oxford; v. d. Leyen, Märchen in der
Edda, Berlin, beide 1899; Siebs, Der Gott Fosite und sein Land, 1910,
PBB. 35, 535.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 527
keinmal unter dem Zeichen der Übergescheitheit zu stehen scheinen1).
|ene »Furcht vor dem Trivialen«, die unsere Romantiker ruiniert hat,
schädigt nur zu viel unsere Untersuchungen2). Man hat zu selten den
Mut, einer unbedenklichen Aussage einfach zu trauen. Wie einst Müllen-
hoff hinter einem bedeutungsvollen Namen zu rasch etwas Mythisches
witterte, wie wir dann eine Zeitlang mit jedem runden Kuchen ein Sonnen-
Isymbol und mit jedem Kringel allegortce den Mond verzehrten, so steht
•jetzt das Gespenst der Kulthandlung über allem vergangenen Leben. Und
wenn zwei sich ohrfeigen, ist es eine symbolische Handlung; und wenn
'zwei sich küssen, vollziehen sie einen Zauberritus.
Nun ist die Luft von diesem Spuk so voll,
Daß niemand weiß, wie er ihn meiden soll.
Wie jene andern Doktrinäre die ganze Historie weghauchen, so weit
sie nicht Gilgamesch ist, so überfüllen diese sie mit Mythologie. Aber
auch in dem geheimnisvollsten Mythus ist nicht alles mythisch, und auch
an der künstlichsten Legende nicht alles legendarisch.
Ich habe dies Ausweichen vor dem Einfachen vor kurzem an einer
vielbelobten kleinen Studie zur mittelalterlichen Religionsgeschichte geprüft,
an Karl Wencks Vortrag »Die heilige Elisabeth«8). Es wird berichtet,
die Landgräfin Sophie sei ihrer Schwiegertochter Elisabeth feindlich
gesinnt gewesen. Solcher Aussage zu mißtrauen, liegt gar kein Grund
vor; denn trotz ihrer Häufigkeit im Lustspiel und Witzblatt kommen böse
Schwiegermütter auch in der Wirklichkeit vor, und muß alles buchmäßig
bewiesen werden, so sei dafür auf Otto Schraders Schriftchen mit dem
verfänglichen Titel »Schwiegermutter und Hagestolz«4) verwiesen. Aber
Wenck muß überall Legende sehen. Weil die alte Landgräfin eine
wohltätige Stiftung gemacht hat, weil sie ihres Gatten in — durchaus
typischen — Gebeten gedenkt — deshalb kann sie nicht nur nicht
»Elisabeths Gegnerin gewesen sein, sondern war sogar wahrscheinlich
ihre besondere Freundin und Lehrerin5)! Ist es wirklich angebracht,
in dieser Weise an Stelle unbedenklicher Berichte modernste Legenden zu
setzen? Denn natürlich gilt nun die »Sage von der bösen Landgräfin«
als »novellistisches Motiv«, und wir haben dafür den Mythus von der
Erziehung Elisabeths durch Sophie anzunehmen.
Es gilt auch hier Lachmanns großes Wort: »Sein Urteil befreit nur,
wer sich willig ergeben hat!«; es gilt bis zu einem gewissen Grad sogar
J) Häv. Str. 54. — Daneben fehlt es nicht an Skeptikern wie Meillet, Ein-
führung in die vergleichende Grammatik, Leipzig 1900, S. 246. 247.
2) Vgl. z. B. Kauff mann, Arch. f. Rel.-Wissensch. 11, 109 gegen Negelein.
3) Tübingen 1908; vgl. meine »Wissenschaftlichen Moden«, Nord und Süd 1910,
34, 43 f.
4) Leipzig 1904. 5) a. a. O. S. 4-6.
40 *
628 Neuntes Kapitel.
Tertullians paradoxes »credo ut intelligam«: ich glaube, um begreifei
zu können. »Nicht zu voreilig im Glauben, nicht zu voreilig im Un
glauben,« sagte der alte Zöllner in Leipzig — ein Wort, daß deshall
nicht weniger wahr ist, weil er es zur Verteidigung des Spiritismus sagte
Wer sich in überlieferte Verhältnisse nicht erst einmal andächtig hinein
denken kann, bis ihm zuletzt der Hammer Thors und die Luftfahrt dei
Walküren die natürlichsten Dinge von der Welt scheinen, der wird draußen
bleiben wie die gescheitesten Aufklärer. Und dann: wenn die Ästhetik
uns immer wieder (mit Recht) versichert, was wahr ist, brauche nicht
wahrscheinlich zu sein, so sollten wir Mythologen und Geschichtskritikerl
öfter bedenken, daß, was nicht wahrscheinlich ist, wahr sein kann (und
was »allzu wahrscheinlich« ist, auch!). Womit ich keinem frommen!
Wunderglauben, keinem kindlichen Märchenglauben das Wort geredet
haben will; ich wiederhole nur meinen alten Satz: Gründlichkeit ist
Respekt vor den Tatsache. Was kommt nicht alles vor! Das Leben der
sechs »großen Victorianischen Poeten« nimmt von Tennysons Geburt bis
zu Swinburnes Tod genau ein Jahrhundert ein: 1809 — 19091). Die
rundeste aller Zahlen kann eben auch einmal genau sein. Oder: wenn
uns die Geschichte von Goethes »Werther« aus dem Altertum überliefert
wäre — wer von uns würde daran glauben, daß Goethes Werther gerade
Goethes Albert um die Pistole zu der »vorhabenden Reise« gebeten hat?
Wir würden alle behaupten, dieser Zettel sei erst nachträglich an Kestner
addressiert worden, als der Roman Goethe und Jerusalem zusammen-
gebracht hatte. (Ausgenommen Boer; der würde beweisen, daß nur
Jerusalems Zettel die echte Grundlage sei, daß also dieser wirklich nur
eine Reise vorhatte, und daß erst die Literaten die üblichen Motive, Liebe,
verfehlten Ehrgeiz usw. auf den braven Sekretär übertragen hätten.) Und
was hätte E. H. Meyer aus dem Namen Jerusalem gemacht! und ein
rechter Sagenforscher aus der Duplizität der Lotten ! Es ist wirklich auch
im Leben nicht alles Legende oder künstlerische Absicht2).
Handelt es sich hier um eine Mode oder, sagen wir höflicher, eine
Stimmung, die sich der gesamten Geschichtsforschung unserer Tage be-
mächtigt hat (die Philologie ist mit Wilamowitz schon wieder viel kon-
servativer geworden), so sind noch einige spezifisch mythologische
Neigungen unserer Tage zu kennzeichnen.
Obenansteht die ganz begreifliche Überschätzung der niederen
Mythologie. Wenn Olrik in seiner Besprechung von Kauffmanns
Mythologie3) noch klagte, die Mythologie sei zu sehr »Götterlehre«, so
*) Mackail, Swinburne, Oxford 1909, S. 5.
2) Andere Beispiele in meinen »Kriterien der Aneignung«, bes. S. 42 f.
9) Ark. f. nord. Fil. 11, 210.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Grimm. 629
fängt sie bereits an, es zu wenig zu sein. Auch die neue »vergleichende
Mythologie« vergißt über dem Unterbau die Kuppel und über den all-
gemein menschlichen Übereinstimmungen die nationalen und historischen
Verschiedenheiten.
Speziell gilt das noch von der Überschätzung des Zaubers1). Ins-
besondere haben die höchst verdienstlichen Forschungen von Preuß nicht
nur ihn, sondern selbst so ruhige Sachkenner wie Mogk (in seiner Unter-
suchung über germanische Menschenopfer) zu Folgerungen verführt, deren
kühne Allgemeinheit an die Zeit vor hundert Jahren erinnert. Wären
Namenscherze nicht so streng verpönt — obwohl die Mythologie es stets
geliebt hat, mit Namen zu spielen ! — , ich könnte es mir unmöglich ver-
sagen, zu bemerken, daß wir bald keine Germanische, Römische, Griechische
Mythologie mehr haben werden, sondern nur Eine Preußische. Dabei
sind die Unterschiede in dem Ausmaß zauberischer Betätigung doch in
historischer Zeit so deutlich vorhanden! Wenn selbst für die keines-
wegs zauberfremden Norweger die Lappen das eigentliche Zauberervolk
blieben — man holte sich von ihnen Zauberer wie heut aus Deutschland
Generäle — , so werden wir wohl auch die religiösen Zustände der
Mexikaner nicht einfach als typisch ansehn dürfen — eines Volkes, das
so wenig primitiv war wie die alten Ägypter der vollen Priester- und
Zaubererzeit !
Wiederum eine Konsequenz dieser Grundanschauung ist die Neigung,
überall chthonische Gottheiten zu finden; als ob Lipperts Zurück-
führung aller Religion auf Ahnenkult nicht längst aufgegeben wäre. Man
kann es noch verstehen, wenn Wodan und Nerthus, Freyja und Loki für
ursprüngliche Totengottheiten erklärt werden, obwohl schon diese starke
Vertretung der Unterwelt im Himmel stutzig machen sollte; aber es liegen
da überall schwierige Verhältnisse vor und doch einige Anhaltspunkte für
die chthonische Auffassung. Aber nun sollen nach L. v. Schroeder u. a.
gar Rudra2) und die Maruts3), bei denen sich der Wind sozusagen mit
Händen greifen läßt, Seelendämonen sein! Dabei ist meines Wissens
noch nicht Einmal mit Sicherheit nachgewiesen worden, daß eine Unter-
weltsgottheit aufsteigt (behauptet hat man's hundertmal!). Wann sind
Pluton und Persephone, Hod oder Ran je zu mächtigen Gottheiten auf
Erden und im Himmel darüber geworden, wie Wodan und Freyja es
geworden sein sollen4)?
*) Arch. f. Rel.-Wissensch. 9, 418 f.; 10, 88 f.
2) Macdonell S. 77.
3) Ebd. S. 81.
4) Doch vgl. Wide, Arch. f. Rel.-Wissensch. 10, 2571, wo mir aber das
Aufsteigen von Hera und den Dioskuren keineswegs so sicher scheint wie S. 258
Zeus' Herabsteigen zur Unterwelt; vgl. bes. S. 267.
630 Neuntes Kapitel.
Es ist nur eine Frage der Zeit, daß man in Helios den Ursprung
liehen Unterweltsgott erkennen wird1); fährt er doch täglich hinab2
Ein Musterbeispiel dieser Verirrungen in der folkloristischen Mytho
logie scheint mir Schonings entschieden geistreiche Studie über daii
nordische Totenreich zu sein — alles chthonisch; alle späteren Berichte
allein altertümlich ; schließlich auch ein selten fehlendes Kennzeichen des
extremen Folkloristen — der Verfasser lector unius libri: zwar in dei
heimischen Mythologie ist er wohl bewandert, von den deutschen Schriften
aber zitiert er sehr gern Dieterichs allerdings wertvolle Nekyia — scheint
aber Rohdes Psyche nicht zu kennen! Schoning spricht denn auch3)
das folkloristische Fundamentaldogma von der allgemeinen Gleichheit des
Denkens schneidend aus — griechische oder nordische Atmosphäre, das
soll keinerlei Unterschied machen!
Auch sonst ist man mit naturmythologischen und folkloristischen
Deutungen zu rasch bei der Hand. Selbst Mars soll ein Ackerbaugott
sein4)! Auch die Sonnengötter sind noch in beständiger Vermehrung
begriffen; unter andern beliebigen Naturdeutungen (Windgott usw.) hat man
den Janus5) auch zu einem Sonnengott gemacht. — Dabei pflegt man
noch gewisse mythologische, keineswegs identische Funktionen zusammen-
zuwerfen: den Sonnengott, den Himmelsgott, neben denen sogar noch
besondere Gottheiten der Wärme, des Lichts gelegentlich auftauchen, viel-
leicht auch die aufgehende Sonne6), die sich bergende Sonne7).
Mit der folkloristischen Freude am Greifbaren, an den »Realien«
hängt eine gefährliche Neigung zusammen, einzelnen Gegenständen ein
zu großes Gewicht zu geben. Wir haben, wie in der Zeit der Schicksals-
tragödie, eine wahre Requisitenmythologie bekommen, und Tyrfings
Schwert, von Hand in Hand vererbt, ist nicht nur Bugges berühmtem
Widersacher Rydberg verhängnisvoll geworden. Es gibt eben in Mythus
und Sage mehr als Ein verhängnisvolles Schwert, und wenn alle Helden,
die durch die eigene Waffe fallen, identisch wären, wäre es schließlich
Cato von Utica mit dem Banditen Schweizer aus Schillers »Räubern«.
*) Wie umgekehrt Surt nach F. Magnussen ein gefallener Lichtgott ist;
vgl. Ark. f. nord. HL 21, 17.
2) Was ich hier nur im Scherz als Konsequenz der Mode postulierte, ist
wirklich auch geschehen, wie ich nachträglich bemerke: Stengel, Arch. f. Rel.-
Wissensch. 8, 204, hat Helios für einen chthonischen Gott erklärt! vgl. Ada
Thomson, Arch. f. Rel.-Wissensch. 12, 481. — Vgl. für Übertragungen des
Totenkults ebd. S. 489.
3) S. 18.
4) Vgl. dagegen Wissowa S. 130.
5) Dagegen Wissowa S. 95.
6) Vivasvat, Macdon eil S. 43.
"') Vishnu, ebd. S. 39.
§ 35. Germanische Mythologie seit J. Orinim. 631
Und so muß denn überhaupt vor der Art gewarnt werden, wie
wieder, wie in der bösen alten Zeit, einzelne Züge von überall hergeholt
werden, überall aus dem Zusammenhang gerissen, überall hinein-
gepaßt, als hätte Müllenhoff nie jene goldene Regel gesprochen *). Deutet
Iman nicht oft wieder alle germanischen Namen aus dem gefälligen
Keltisch der Sagensprache, statt zunächst nach heimischen Wurzeln zu
graben?
Die Zeit ist wohl vorbei, in der Noreen 2) bekaupten konnte, es ver-
ginge keine Woche oder gewiß kein Monat, ohne daß eine mythologische
Arbeit erscheint. Aber auch heut noch gibt es zu viel Mythologen —
und zu wenig. Denn wie man mit Recht von einem historischen Sinn,
einem prähistorischen Auge spricht, so gibt es auch einen besonderen
mythologischen Blick; und wenn es auch nicht gerade angenehm ist, hier
Creuzer zitieren zu müssen — recht hatte er doch, als er sagte, ein
Mytholog müsse geboren sein. Virchow bezeichnete Morgagni als den
Begründer des »anatomischen Denkens« ; und wer hat in Deutschland vor
Jakob Grimm mythologisch zu denken verstanden? Mythologische An-
schauungskraft, die den Kern des Mythus unter dem Beiwerk heraus er-
faßt, die das Wesen einer Göttergestalt unter alien Verwandlungen erkennt,
die den Sinn eines Ritus durch alles angewachsene Brimborium hindurch
findet — solche mythologische Anschauung hat die Jakob Grimm und
Adalbert Kuhn, die Rohde und Usener, die Müllenhoff und Olrik groß
gemacht. Man kann ein großer Gelehrter sein wie Sophus Bugge und
Friedrich Kauffmann und dieser Fähigkeit völlig ermangeln; man kann
ein geistreicher Literarhistoriker wie Schuck, ein ausgezeichneter Kritiker
wie Gruppe sein und sie nirgend beweisen. Oder sie ist einem Forscher
nur für einzelne Seiten gegeben, wie E. H. Meyer für die niedere Mytho-
logie; oder auch wieder: sie ist ihm im Übermaß gegeben, so daß er
selbst zum Mythendichter wird, wie Laistner und zuweilen auch Müllen-
hoff. Wer sie aber gar nicht besitzt, der zwingt dem Mythus und dem
Ritus mit Hebeln und Schrauben sein Geheimnis nicht ab.
Ich weiß wohl, wie gefährlich es ist, solche Rede zu führen, wenn
man sich selbst in dies Labyrinth hineingewagt hat. Was hilft es? dies
Buch beweist ja doch, daß ich mir mythologischen Sinn zutraue. Vielleicht
beweist es auch, daß ich mich geirrt habe. Aber lieber als nach Häv. Str. 6.
habe ich mich nach Häv. Str. 16 richten wollen. Der > Mut des Fehlens«
hat mir nie gemangelt; und die »ganz Exakten«, die sich entsetzen, mögen
es sich schließlich gesagt sein lassen, daß man auch ohne diesen Mut zu
fehlen imstande ist. Ich habe dieses Buch mit großer Freude geschrieben ;
*) Vgl. o. S. 599.
a) Fornordisk Mytologi S. 1.
632 Neuntes Kapitel.
es ist wohl möglich , daß sie unberechtigt war — aber ich habe kein|
Angst, daß ich dies dann nicht erfahren werde!
Wer kennt sich selbst? Wer weiß, was er vermag?
Hat nie der Mutige Verwegnes unternommen?
Und was du tust, sagt erst der andre Tag,
War es zum Schaden oder Frommen.
§ 36. Chronologie.
Ich gebe im Folgenden eine Reihe der wichtigsten Daten zur G<
schichte der germanischen Mythologie und der von ihr handelnden Wissen!
schaft. Die Verantwortlichkeit muß ich zumeist auf die Gewährsmann©
abwälzen. Die ältesten Daten sind nach Eduard Meyers Geschichte des)
Altertums 2. Aufl. I. Bd. 2. Hälfte1) gegeben, die ältesten germanischer!
Daten nach O. Bremer, Ethnographie der germanischen Stämme2), dia
Datierungen der Eddalieder nach Finnur Jönssons Literaturgeschichte, außen
wo ich damit durchaus nicht übereinstimmen konnte. Für die Datierung
der Eddagedichte sind besonders noch zu vergleichen Jessen 3), Vigfussonj
und Powell4), Heusler5), Neckel6).
A. Prähistorische Zeit.
Um 5000 v. Chr. Beginn der menschlichen Kultur7).
Um 2500 v. Chr. Loslösung der Indogermanen und Beginn ihrer Aus-
breitung 8).
Um 2000 v. Chr. Einzug der Arier in Indien und Persien; Trennung
von Ost- und Westindogermanen 9).
2000 — 1500 Entstehung der germanischen Nationalität10).
Um 1500 die ältesten Hymnen des Rigveda11).
Anfang des 14. Jahrhunderts werden die arischen Götternamen Mitra und
Varuna genannt 12).
Um 1000 v. Chr. das indogermanische Gebiet in drei große Gruppen
geteilt, von denen Germanen, Kelten und Lettoslawen die dritte
bilden 18).
*) Stuttgart 1909.
2) In Pauls Grundriß, 2. Aufl.; 3, 735 f.
3) Über die Eddalieder Ztschr. f. d. Phil. B. VI , und selbständig er-
schienen 1871.
4) Corpus Poeticum Boreale, Oxford 1883.
5) Heimat und Alter der Eddalieder, Arch. f. n. Spr. 116, 249.
6) Beiträge zur Eddaforschung, Dortmund 1909.
7) Meyer S. 842. *) Ebd. S. 765.
9) Ebd. S. 807. ie) Bremer S. 762. 768.
u) Meyer S. 807. 12) Ebd. S. 580. 802.
1S) Ebd. S. 795.
§ 36. Chronologie. 533
Jm 1000 v. Chr. der Sonnen wagen aus Seeland1).
jm 320 v. Chr. entdeckt Pytheas von Massilia die Germanen.
B. Historisehe Zeit.
1. Urgermanische Periode.
52 v. Chr. schreibt Caesar über die Germanen.
(m 1. Jahrhundert n. Chr. verdrängt Wodan, zuerst am Rhein, den Tyr
aus seiner Stellung als oberster Gott; im 3. — 4. Jahrhundert erobert
er diesen Rang bei den Niederdeutschen2) und kommt von da in
den Norden. In Süd deutsch land hat er noch im 8. Jahrhundert den
Widerstand der Tyr- Verehrer zu überwinden3).
98 n. Chr. die Germania des Tacitus.
Um 115 n. Chr. die Annalen des Tacitus.
2. Jahrhundert Denkstein für Requalivahanus4).
222—235 (Regierung des Alexander Severus) Altar für Mars Thingsus.
2.-5. Jahrhundert Entwicklung der hochdeutschen und anglofriesischen
Sprache 5).
Anfang des 3. Jahrhunderts Entstehung der Runenschrift am Rhein.
449 f. Eroberung Englands durch die Angelsachsen.
Um 500 wandert die Wodansreligion nach dem Norden ; etwa gleichzeitig
vielleicht, vermittelt durch die Haruden, der Nerthuskult aus Däne-
mark nach Norwegen und Schweden6).
2. Gemeingermanische Periode.
Gegen 600 hört die unmittelbare Verbindung zwischen Skandinaviern und
Westgermanen auf7).
Um 600 der »Wanenkrieg« zwischen dänischen Wodanverehrern und
schwedischen Freyverehrern.
7. Jahrhundert die Nordendorfer Spange (Anrufung von Wodan und
Thonar 8).
Zwischen 690 und 714 der hl. Willibrord vor dem Tempel Fosites auf
Helgoland 9).
Um 700 Beowulf10).
r) S. Müller, Urgesch. Europas, S. 116.
2) Vgl. Golther S. 297f.
3) Vgl. ebd. S. 205. 4) Golther S. 405.
5) Vgl. Bremer S. 926. .
6) Mogk, Menschenopfer, S. 684.
7) Müllenhoff, Ztschr. f. d. Alt. 10, 177; vgl. D. Alt. 5, 58.
8) Golther S. 245 Anm.
9) Ebd. S. 387 Anm. 2.
10) Zusammenstellung der mythischen Elemente bei Brand 1 in Pauls Grund-
riß, 2. Aufl.; 2, 991 f.
634 Neuntes Kapitel.
3. Altdeutsche Periode.
743 Indiculus superstitionum et paganiarum *).
Karl der Große zerstört 772 die Irminsul auf dem Eresberg in Wes
falen 2).
Nach 772 Aufzeichnung des Wessobrunner Gebets3)?
Nach 787 Paulus Diaconus Historia Langobardorum (Wodan und Frigg!
Gegen 800 Sächsisches Taufgelöbnis (Thuner ende Woden ende Saxnöt
800 — 850 Ibn Fadhlan berichtet über Riten der Germanen.
Nach 825 Aufzeichnung des Muspilli.
Vor 850 angelsächsisches Runengedicht (Ing)4).
10. Jahrhundert Aufzeichnung der Merseburger Sprüche.
4. Altnordische Periode.
Seit 783 Wikingerzeit.
Um 800 Bragi der Alte5).
Von 800 ab älteste Skaldenpoesie (mythologische Zeugnisse)6).
Nach 800 Besiedelung Islands.
Um 875 die Loddfäfnismäl der Havamäl7).
Gegen 900 entstanden Skfrnismäl, Thrymskvida; Völundarkvida?8).
890—920 Rigsthula9).
Anfang des 10. Jahrhunders Ljödatal der Havamäl10).
927 alte isländische Eidformel (Frey, Njord, Thor)11).
930 Harald Härfagr gefallen.
Nach 940 die Eiriksmäl (Odin und die Einherier 12), Balder) 13).
Gegen 950 H. Hund. II und Helg. Hjörv. 14).
Um 950 Ingjaldslied (Starkad) 15).
Nach 950 Lokasenna16), Harbardslied 17).
970—995 Häkon Jarl, der Verehrer der Thorgerd Hölgabrud.
980 — 990 Hüsdräpa (bespricht Balders Beisetzung) 18)
x) Myth. 3, 403. 2) Ebd. S. 210.
3) Kögel, Gesch. d. d. Lit. 1, 270.
4)Brandl in Pauls Grundriß, 2. Aufl.; 2, 964.
5) Golther S. 403.
6) Vgl. J ö n s s o n , Ark. f. nord. Fil. 9, 1 f.
7) Jönsson S. 289.
8) Jönsson S. 175. 148 u. 164. S. 148. — S. 212.
9) Ebd. S. 193; nach 1200: Heusler S. 278.
10) Jönsson S. 243. n) Golther S. 231.
ia) Golther S. 317. 13) Ebd. S. 369.
14) Jönsson S. 258 u. 251.
15) Olrik, Altnord. Geistesleben, S. 91; vgl. 190f.
16) Jönsson S. 186.
18) Welches Jönsson S. 152 auf 900 ansetzt.
18) Golther S. 369.
§ 36. Chronologie. ^35
[:nde des 10. Jahrhunderts Völuspä1), Vafthrüdnismäl und Grimnismäl 2) ;
Baldrs Draumar8), Kleine Völuspä4).
000 Übertritt der Isländer zum Christentum,
[uifang des 11. Jahrhunderts Alvissmäl5), Hymiskvida0).
017—1030 Olaf der Heilige bekehrt Norwegen.
[<Jach 1050 Gedicht von der Brawal laschlacht, das die alte mythologische
heroische Tradition abschließt7).
iJm 1069 Adam von Bremen im Tempel von Uppsala.
Jm 1150 Erik der Heilige vollendet die Bekehrung Schwedens.
150 — 1200 Abfassung der wichtigsten Sagas8).
185—1216 Saxos Gesta Danorum9).
:a. 1225 Snorris Prosa-Edda abgeschlossen.
1241 Snorri getötet.
:a. 1250 Abschluß der Liederedda.
5. Neue Zeit.
1643 Brynjulf Sveinsson findet die Liederedda.
648 Elias Schedius' erste germanische Mythologie.
1755 Mall et, Introduction.
801 Rühs, Geschichte der Religion, Staatsverfassung und Kultur der
alten Skandinavier.
1808 Grundtvig, Nordens Mytologi.
1812 P. E. Müller, Echtheit der Asalehre.
1822 Mone, Geschichte des Heidentums.
1835 J. Grimm, Deutsche Mythologie.
1836 Uhland, Der Mythus von Thor.
1842 N. N. Petersen, Nordisk Mytologi.
1844 W. Müller, Geschichte und System der altdeutschen Religion.
-1844 f. K. Müllenhoffs Aufsätze.
1853 Simrock, Handbuch der germanischen Mythologie.
1866 f. W. Mannhardts folkloristische Epoche.
1874 Holtzmann, Deutsche Mythologie.
1876 Henry Petersen, Nordboernes gudedyrkelse.
x) Jönsson S. 135: etwa 935.
2) 10. Jahrhundert: Jönsson S. 141. 145; 930—950: Sijmons; 1030-1050:
Heusler S. 270.
3) ca. 900: Jönsson S. 148.
4) 950—975: Jönsson S. 204.
5) Jönsson S. 167: 900-950; Heusler S. 266: um 1200.
c) Ende d. 10. Jahrhunderts : Jönsson S. 159; 12.— 13. Jahrhundert: Jessen.
7) Olrik, Ark. f. nord. Fil. 13, 228; anders Heusler, Arch. f. n. Spr. 116,2571
8) F. Jönsson, Ark. f. nord. Fil. 13, 228.
e) VgL Olrik, Altnord. Geistesleben, S. 160.
637 Neuntes Kapitel.
1889 Sophus Bugge, Studien über die Entstehung der nordiscl|
Götter- und Heldensage.
1889 E. H. Meyer, Völuspa.
1891 K. Müllen hoff, Deutsche Altertumskunde Bd. V.
1891 E. H. Meyer, Eddische Kosmogonie.
1891 ders. , Germanische Mythologie.
1891 Mogk, Mythologie (in Pauls Grundriß 1. Aufl.).
1894 Finnur Jönsson, Den oldnorske og oldislandske Litteraüfcj
Historie.
1895 Golther, Handbuch der germanischen Mythologie.
1899 Chadwick, The cult of Odin.
1899 v. d. Leyen, Märchen in der Edda.
1900 Chantepie de la Saussaye, Religion of the Teutons.
1902 Kauffmann, Balder.
1909 v. d. Leyen, Deutsches Sagenbuch.
[ Nachträge und Berichtigungen.
20. Zu den ätiologischen« oder »explikativen« Mythen vgl. jetzt
A. van Gennep, La formation des legendes, Paris 1810, S. 69 f.
21. Zu den etymologischen Mythen Thurneysen, Sagen aus dem alten
Island S. 21.
103. Zur Verehrung der Flußwirbel: Skylla, der personifizierte Meeres-
strudel«, Preller 1, 617.
113. Schwanenjungfrauen: interessante Parallelmythen in großer Zahl
bei Frobenius, Zeitalter des Sonnengottes, Berlin 1904, S. 304 f.
193. Zum Mythus von Sceäf macht mich H. Greßmann freundlichst auf
eine höchst merkwürdige Parallele aufmerksam. Von Tamus heißt es:
In seiner Jugend lag er in einem untergehenden Schiffe,
Als Erwachsener war er im Getreide untergetaucht und lag darin.
Greßmann, Altorientalische Texte und Bilder zum Alten Testamente,
Tübingen 1905, 1, 95). Ist unter dem »untergehenden Schiff« gar noch ein
»steuerloses« zu verstehen?
196. Frey als jüngere Form der Nerthus (und Freyja als Zwischenstufe) auf-
gefaßt: Chadwick, The origin of the English Nation, Cambridge 1907,
S. 247.
i. 204 f. Über den Kult des Nerthus Chadwick a. a. O. S. 234 f., leider nicht mit
der gleichen methodischen Schärfe wie im > Cult of Odin«. (Seeland als Insel
des Nerthus, ebd. S. 267).
|. 231. Ich bin in meinen Bedenken gegen das »Sonnenauge unzweifelhaft zu
weit gegangen und bedauere insbesondere den Ausdruck von der ins Ge-
sicht geklemmten Sonne« ; mit Recht weist mich Greßmann auf die »Grenzen
der Anschauung in der Mythologie hin.
S. 246. Der Tod des Eisens (wie bei Odinsverehrern der S p e e r t o d) von anderen
»Fällen des Schlachttodes auch im Gilgamesch - Epos geschieden: Greß-
mann, Texte S. 61.
S. 285. Zur Heilung von Thors Böcken vgl. das orientalische Verbot des
Knochenzerbrechens, Arch. f. Rel.-Wiss. 13, 153: die Kuh kann sonst nicht
wiederbelebt werden.
S. 296. Der Stein in Thors Schädel: vgl. die Legende von Conchobars Tod,
Thurneysen, Sagen aus dem alten Island S. 71.
S. 301. Die liturgische Formel vom Nahen der Götter vielleicht auch baby-
lonisch; vgl. Greßmann, Texte 1, 83 am Schluß der Anrufung.
S. 307. Zu Hludana war noch besonders Kauffmann, PBB. 18, 134f. an-
zuführen.
638 Nachträge und Berichtigungen.
S. 341, 6. Die dreistufige Belebung auch im Märchen; vgl. z. B. van Ge
nep, Formation des legendes S. 59.
S. 349, 13. Solche Gestalten wie Sigyn und Rizpa haben gewiß lebendijl
Modelle; vgl. z. B. die Gattin des Kaisermörders Rudolf v. Wart und ih
Wacht am Rad, auf das er geflochten war (Davidsohn, »Das Wissen fi
Alle«, 10, 70).
S. 395. Sol und Luna auch römisch erst spät : W i s s o w a S. 260.
S. 401. Allerlei. Fach- undWerkzeuggötter babylonisch: Ziegelgott zur E
neuerung der Häuser, Zimmermannsgott, Schmiedegott, Steinschneidegot
Greßmann, Texte 1, 25.
S. 404. Zu den angeblichen Gottheiten Hulda: vgl. Kauffmann, PBI
18, 145.
S. 439. Die Kultmythen der Griechen sind besonders wichtig: die Musen ar
fänglich Hüterinnen des Kultgesanges, Prell er 1, 489; die Teichinen Vei
fertiger der Kultbilder, ebd. 606 f.
S. 541. Appellativ wird Eigenname: Dea Dia, Wissowa S. 161.
t
]
Verzeichnis der besprochenen Stellen
I. Eddagedichte.
Völuspä (Gering S. 3).
Jber das Gedicht: S. 442f. 4551 503 f. 551, 3. 555. — Str. 1: S. 360, 9. 410, 11.
Str. 5: S. 453, 5. Str. 7: S. 425, 8. 439, 6. 472, 12. Str. 8: S. 156, 5. 449, 3.
476, 2. Str. 17: S. 302, 6. Str. 18: S. 249, 5. 339, 7. 340 f. 368 f. 529, 1.
Str. 19: S. 475, 4. Str. 20: S. 156, 6. Str. 24: S. 183, 8. 483, 4. 518, 4. Str. 25:
S. 517, 1. Str. 26: S. 293. 344. Str. 29: S. 230, 1. 476, 1. Str. 32f.: S. 316.
329, 4. Str. 34: S. 260, 2. 274. Str. 35: 349, 6. 449, 4. Str. 38: S. 537, 5.
Str. 39: S. 394, 8. 407, 5. 511, 4. Str. 40: S. 352, 1 u. 12. 471, 11. Str. 41:
S. 357, 17. Str. 42: S. 470, 11. Str. 45: S. 17. 517. Str. 46: S. 476, 1. Str. 50:
S. 357, 6. 471, 5. Str. 51: S. 350, 11. Str. 52: S. 354, 10. Str. 53: S. 203.
Str. 54: S. 373, 16. Str. 58: S. 373, 7. Str. 59: S. 343, 6. Str. 60: S. 505, 3.
Str. 62: S. 171, 7. 316. 370, 4. 517, 6. 523, 5. Str. 63: S. 344. Str. 64: S. 316, 7.
428, 12. Str. 65: S. 378, 2. Str. 72f.: S. 507.
I Baldrs Draumar oder Vegtamskvida (Gering S. 15).
Jber das Gedicht: S. 503 f. — Str. 2-7: S. 466. Str. 4—5: S. 252, Str. 11:
S. 309, 2. 376, 3.
J. Thrymskvida oder Hamarsheimt (Gering S. 18).
Jber das Gedicht: S. 283. 301. 503; vgl. S. 16. — Str. 3: S.. 162, 9. 212, 9. Str. 14:
S. 359, 3. 368, 2. 388, 6. Str. 30: 276, 9. 287, 4—5.
':■ Hymiskvida (Gering S. 23).
Jber das Gedicht: S. 302. 557. Hymir S. 123. — Str. 7: S. 470, 1. Str. 16: S. 295, 5.
Str. 37: S. 314,2.
5. Lokasenna oder Aegisdrekka (Gering S. 29).
Über das Gedicht: S. 290. 503 f. - Str. 9: S. 231, 4. 249. Str. 10: S. 373, 15.
Str. 11: S. 211, 11. 273, 11. Str. 11-16: S. 384. Str. 17: S. 384, 11. 387, 2.
Str. 19: S. 345, 3 f. Str. 20: S. 278, 4. Str. 22: S. 253. 480, 1. Str. 23: S. 347, 2.
Str. 26: S. 308, 7. 552, 1. Str. 27-28: S. 316. Str. 30. 32: S. 214, 6. 222, 9.
Str. 36: S. 223, 1. Str. 37: S. 198, 8. Str. 38: S. 188, 5. Str. 40: S. 188, 6.
Str. 42: S. 199, 3. 356, 1. Str. 43—46. 56: S. 203. Str. 47: S. 356, 8. Str. 50:
S. 212, 1. Str. 52: S. 295, 9. Str. 54: S. 306, 4. Str. 59: S. 294, 6. Str. 60 f.:
S. 291. 297. Str. 61: S. 295, 4. Schluß: S. 349, 9.
6. Härbardslied (Gering S. 32).
Über das Gedicht: S. 503f. — Str. 3: S. 280, 14. Str. 9: S. 528, 2. Str. 14: S. 295, 3.
Str. 15: S. 295, 6. Str. 16f.: S. 548. Str. 19: S. 293, 3. 294, 8. Str. 20: S. 271, 4.
640 Verzeichnis der besprochenen Stellen.
Str. 21 : S. 269, 12. Str. 23: S. 334, 3. Str. 24: S. 248, 8. 250. 511, 6. Str. 25\
S. 255, 14. Str. 29: S. 470, 5. 471, 9. Str. 55: 469, 12. Str. 60: S. 255, 8.
7. Skirnismäl (Gering S. 52).
Über das Gedicht: S. 503. Gerd: S. 108. Skirnir: S. 533. — Str. 9: S. 199. Str. 12
S. 122. Str. 15: S. 203, 1. Str. 16: S. 202, 16. Str. 19: S. 202, 11. 203, 2
Str. 21: S. 202, 9. Str. 37: S. 134. 136.
8. Vafthrüdnismäl (Gering S. 59).
Über das Gedicht: S. 503 f. 550. — Str. 16: S. 470, 14. Str. 17—18: S. 551, 2
Str. 26: S. 396, 2. Str. 43: S. 467. Str. 45: S. 445, 5. Str. 47: S. 352, 10
395, 12. Str. 51: 305, 4. 373. Str. 54-55: S. 314, 6. 324. Str. 58: S. 446, 5
9. Grimnismäl (Gering S. 68).
Über das Gedicht: S. 460 f. 503 f.; vgl. S. 260. 271. 545 f. — Einleitung S. 255. Str. 5:
S. 378, 5. 379. Str. 7 (nicht: 2): S. 259, 7. 269. Str. 8 f.: S. 268, 7. Str. 12: S. 316.
Str. 13: S. 251, 6. 471, 1, Str. 14: S. 213. 250f. Str. 15: S. 240, 5. 381, 2
Str. 18: S. 213, 1. 237. 458, 8. Str. 19: S. 236, 6. Str. 23: S. 269,9. Str. 24
S. 286, 4. 519, 2. Str. 25 f.: S. 474. Str. 29: S. 471, 10. Str. 30: S. 233, 4.
359, 6. Str. 32: S. 476, 10. Str. 37-38: S. 479, 6. Str. 38: S. 357, 12. Str. 44
S. 359, 7. 471, 6. Str. 45: S. 392, 10. Str. 46—50. 54: S. 236. Str. 49: S. 548.
Str. 53: S. 380, 6.
10. Alvissmäl (Gering S. 68).
Über das Gedicht: S. 503. 551.
11. Hävamäl (Gering S. 87).
Über das Gedicht vgl. S. 277, 8. - Str. 25: S. 480, 2. Str. 73: S. 367, 10. Str. 76:
S. 481. Str. 831: S. 254: 482. Str. 95 f.: S. 264, 6. 269. Str. 106: S. 264, 3.
Str. 128: S. 158, 9. Str. 138: S. 240. 2571 Str. 140: S. 260,4. 265,6. Str. 141:
S. 135. Str. 142: S. 258, 11. Str. 144: S. 139, 4. Str. 149: S. 158, 11. Str. 152:
S. 249, 8. Str. 153: S. 210, 4. Str. 154: S. 125. Str. 156: S. 90.
12. Rigsthula (Gering S. 110).
Über das Gedicht: S. 363 f. 505. — Str. 1: S. 363, 1. Str. 15: S. 231, 2. Str. 21:
S. 285, 1. Str. 27: S. 489, 7. Str. 35: S. 489, 11. Str. 36: S. 254, 10. 489. 9.'
13. Hyndluljöd mit »kleiner Völuspä- (Gering S. 17).
Über das Gedicht: S. 213. 503. — Str. 2: S. 267. 318, 2. Str. 2-3: S. 490, 2. 493, 7.
522, 7. Str. 3: S. 249, 6. Str. 6: S. 213, 3. Str. 20: S. 331, 7. Str. 23:
S. 397, 9. Str. 27: S. 241, 9. Str. 30-31: S. 316. Str. 31: S. 293, 4. 453, 2.
Str. 38: S. 360, 11. Str. 39—40: S. 364, 13. Str. 40: S. 360, 4. Str. 42: S. 347, 6.
350, 1.
14. Grögaldr (Gering S. 127).
Str. 6: S. 309, 3. Str. 4: S. 469, 11.
15. Fjölvinnsmäl (Gering S. 130).
Str. 13—14: S. 475. Str. 25—26: S. 348. Str. 38: S. 276, 2.
16. Völundarkvida (Cering S. 141).
Über das Gedicht: S. 505; vgl. S. 164 f. — Str. 1: S. 356, 14.
Verzeichnis der besprochenen Stellen. 541
1 Heldenlieder.
Helgakvida Hjövards Sonar (Gering S. 149).
tr. 6-7: S. 421, 6. 511. 545, 11. S. 7: S. 406, 3. Str. 30: S. 434, 6 Str 31-
S. 414, 4. 416, 4. Str. 35: S. 509, 2.
Helgas kvida Hundingsbana I (Gering S. 160).
tr. 2 f.: S. 158. Str. 52: S. 356, 14.
Helgakvida Hundingsbana II (Gering S. 171): 511,2.
)ag: vgl. S. 244, 13. Str. 29: S. 140. Str. 44: S. 248. 507, 2.
Sinf jötlalok (Gering S. 183).
gl. S. 250, 3.
Reginsmäl (Gering S. 195).
iinleitung: S. 342. 368, 8. Str. 5: S. 103. 221, 11. 532, 2 Str. 16 f.: S. 249, 7
Str. 18: S. 268, 2. Str. 31: S. 230, 6.
Fäfnismäl (Gering S. 202).
itr. 13: S. 155, 10. Str. 15: S. 471, 5. 473, 11.
Sigrdrifumal (Gering S. 210).
>tr. 6: S. 188, 2. 238, 14. Str. 15—17: S. 259. Str. 31: S. 107.
Helreid (Gering S. 238): S. 467.
>tr. 1: S. 467. Str. 7: S. 163, 5.
Oddruns Klage (Gering S. 351).
>tr. 23: S. 356, 34.
Hamdismäl (Gering S. 290).
5tr. 10: S. 529, 10.
IL Angelsächsische Dichtung:.
Runenlied v. 14: S. 489, 4.
III. Althochdeutsche Poesie und Prosa.
1. Das Wessobrunner Gebet (MSD. I): vgl. S. 51.
I. Muspilli (MSD. III): S. 444. 476.
|, Erster Merseburger Spruch (MSD. IV. 1).
Ober das Gedicht: S. 137, 1. Interpretation: S. 158.
4. Zweiter Merseburger Spruch (MSD. IV. 2).
Interpretation: S. 311; vgl. S. 324, 1. 331.
5. Straßburger Blutsegen (MSD. IV. 6).
5. 125. 200, 8. 312, 1.
6. Der heber gät in litun (MSD. XXVI): S. 116,8.
7. Himmel und Hölle (MSD. XXX): S. 390f.
8. Meregarto (MSD. XXXII): vgl. S. 371, 14.
9. Taufgelöbnisse (MSD. LI-LII). S. 562.
Meyer, Altgermanische Religionsgeschlchte. 41
Verzeichnis der besprochenen Mythen und Motive.
Mythische Schemata S. 16f. 20f. 55.
1. Trauer der Natur S. 18. 315, 2.
2. Relative Unverwundbarkeit S. 18 f.
318 f.
3. Der dienende Gott S. 18; vgl. S. 161.
270.
4. Unsterblichkeitstrank S. 40. 261 f.
5. Land der Götter S. 41.
6. Dämonenkämpfe S. 41. 518.
7. Himmel und Erde S. 51.
8. Schöpfungsmythen S. 56. 452 f.
9. Kampf um den Lichtschatz S. 56.
325 f.
10. Werbung um die Sonne S. 56.
11. Heilbringer S. 59. 192 f.
12. Seelentier S. 76.
13. Das wilde Heer S. 81.
14. Bergentrückung S. 82; vgl. S. 161.
15. Aktäon S, 116, 8.
16. Riesenbaumeister S. 124.
17. Tarnkappe S. 126, 2.
18. Kampf zweier Zauberer S. 149, 8.
19. Scheingötter S. 188, *5.
20. Schöpfung des Weibes S. 191, 9.
21. Steuerloses Schiff S. 193, 7.
22. Umfahrt S. 205.
23. Heilige Ehe S. 205.
24. Der leere Thron S. 205, 5.
25. Das erzwungene Lachen S. 21 1 . 349, 1 .
26. Dioskuren S. 215 f.
27. Der ungetreue Brautwerber S. 218, 11.
28. Sonnenauge S. 231.
29. Vögel als Boten S. 235.
30. Königsopfer S. 254.
31. Runenfindung S. 257 f. 289, 1.
42. Mischgeburten S. 265, 8.
33. Asenkraft S. 284, 5.
34. Götterschelte S. 290.
35. Der tragende Gott S. 294.
36. Sturm auf die Götterburg S. 29^
295. 519.
37. Nahen der Götter S. 301.
38. Gott als Mädchen verkleidet S. 301
39. Gegengötter S. 332 f.
40. Der gefesselte Unhold S. 335, 4.
41. Erklärung der Erdbeben S. 337, 5.
42. Dreiheit bei der Menschenschöpfund
S. 341, 6.
43. Verderbliche Macht des GoldeJ
S. 343.
44. Wunderrosse S. 351, 2.
45. Leichenfresser S. 351, 12.
46. Verschlingungsmärchen S. 353, 3.
47. Götterjugend S. 250.
48. Wächtergötter S. 362.
49. Erwachen aus der Dumpfheit
S. 363, 12.
50. Zauberzweige S. 369, 8.
51. Schöpfung aus dem Feuchten S. 372
52. In das Drachenmaul treten S. 374.
53. Göttermahl am Meeresstrand S. 393.
54. Götterlieblinge S. 440.
55. Der Unheil bringende Schuß S. 448, 4.
56. Vorzeichen des Jüngsten Gerichts
S. 450, 8.
57. Der Urmensch S. 456, 11.
58. Verstecknamen-Rätsel S. 462.
59. Die düstere Fahrt S. 469, 10.
60. Wächter der Unterweit S. 470.
61. Lokale Beinamen der Gottheite
S. 473.
62. Lokale Gebundenheit des Kultes
S. 491.
63. Theodicee und Teufel S. 507.
64. Mysterienglaube S. 510.
Emanationen S. 185.
.
Register.
(Autorennarnen sind nur bei näherer Besprechung angeführt.)
\egir 103. 392.
Afliae 402.
Ahnen 32.
Ahnengeister 86 f.
Ahnenkult 90f.
Alagabiae 402.
Alatervae 402.
Alces 217 f. 399f.
Alp 112.
Alpreiter 128.
Alviss 304.
Altnordische Mythologie
58.
Amphiktyonien 189 f. 195.
Amulette 71.
Angrboda 349.
Animismus 31. 50.
Annaneptiae 402.
Anpassung 49.
Anschaulichkeit 15.
Apotheose 91.
Arvagastis 402.
Asenkraft 284.
Asgard 466.
Astruc 581.
ätiologische Mythen 20.
Attribut 12. 173.
Attributmärchen 17.
Aufaniae 402.
Augenblicksgötter 30. 49.
66.
Aurvandil 293.
Ausdrucksformen der My-
thologie 13. 15.
Baduhenna 159. 399.
Balder 310 f. 514 f. 577.
Barth 585.
Bäume 69.
Beisetzung 87.
Bergentrückung 82.
besitzerklärende Mythen
21.
Berggeister 101.
Berserker 130.
Berufen 139.
Beschwörung 148.
Besessene 151.
Beyla 263.
Bifröst 471.
Bil 277.
Bilwis 131.
Blumengeister 97.
Bolte 606.
böser Blick 150.
Bragi 383 f.
Bragaroedur 563.
Brisingamen 215 f.
de Brosses 581.
Brunnengeister 107.
Bugge 327. 617.
Byggwir 203.
Byleipt 350.
ChantepiedelaSaus-
saye 485.
Christentum 2. 59.
Creuzer 587 f.
Dämonen Ulf.
Dämonenkämpfe 41. 51.
Dämonismus 36.
Darstellungen der Mytho-
logie 65.
Denkverse 571.
Detter 329.
Diels 621.
dienender Gott 18. 164.
Diener der Götter 42.
Dieterich 621.
Dioskuren s. Alces.
Drews 584.
Dulazre 585.
Dupuis 34. 584.
Eccard 580.
Edda 61. 567 f. 579.
Eid 408. 536.
Eir 276.
Elfen 115 f.
»Emanation« 585.
Entwicklung der Mytho-
logie 26 f. 29 f.
Entwicklung der germani-
schen Mythologie 58.
Epitheta 557 f.
Eostra 404.
Erde 51.
Erdgöttin 308.
Erfüllungsmythen 21.
Erinnerungsfeste 90.
Ethisierung 37. 43. 54. 536 f.
Etymologie 580. 593. 601 f.
etymologische Mythen 21.
Euhemerismus 45.
Färbauti 354.
Feldgeister 108.
Fennswolf 351.
Fensalir 274.
Feste 423.
Fetisch 30.
Fetischismus 30. 50. 67.
Feuer 52. 93.
Finnen 59. 281. 501.
Fjorgynn 307.
folkloristische Mythologie
27. 608 f.
Formeln, rituelle 54.
Forseti 332. 381 f.
Fortuna 404.
Fosite s. Forseti.
Frazer 610.
Frey 196 f.
Freyja 212 f. 251. 511.
Frigg 271 f.
Fulla 275.
fylgja 79.
Gabiae 278.
Garmengabis 278. 403.
Gavadiae 402.
Gebet 406 f.
Gefjon 224. 277.
Gefn 279.
Gegengötter 332 f.
Genealogie 526.
Geirröd 299.
geographische Richtung
27.
Gerechtigkeit 536.
Germanen 1. 57.
germanisch 2.
Gespenster 83.
Gestaltentauscher 131.
Gestirne 52. 104.
Gewitter 52.
Gewittergeist 99.
Gnä 276.
Gobineau 612.
Gobletd'Alviella615.
Goden 425.
41*
644
Register.
Ooldscheu 343.
Golther 626.
Görres 587.
Gott und Priester 46.
Götter 152 f. 168 f.
Götterbilder 37 f. 430 f.
Götterdiener 42. 203.
Götternamen 217, 1. 589.
Götterschlachten 48. 447.
Götterthron 205.
Göttertrank 261 f.
Gottesurteil 421.
J. Grimm 584. 592 f.
O. Gruppe 27. 613.
Gylfaginning 563 f.
v. Kahn 605.
Hain 70. 424.
hamingja 80.
Hammer, heiliger 71.
Hariasa 159. 403.
Harimella 159. 403.
Harsdörffer 579.
Hati 532.
Hausgeister 109.
Heilbringer 59.
Heilige 440.
Heiligkeit 53.
Heimat der Götter 40.
Heimdall 346. 358.
Hei 351. 390 f. 464 f.
Helblindi 350.
Heldensage 13. 23f. 481.
518:
Henotheismus 39, 4.
Herfjötur 159.
Heroen 153.
G. Herrmann 589.
Hertz 606.
Heusler 623.
Hexen 131 f.
Himmel 510,
Historisierung 45.
Hjuki 276.
Hlin 277.
Hlodyn 307.
Hlora 395.
Hod 325. 335. 387 f.
Holden 114.
Holtzmann 597.
Hönir 341. 368.
Hörn 279.
Hraesvelg 357.
Hrungnir 295.
Hymir 302. 357.
»Hypostase« 585.
Idealismus 13.
Idise 158.
Idun 385 f.
ikonische Mythen 21.
Indogermanen 47.
indogermanische Religion
48f.
Ingo 192.
Insignien 72.
Interpretation 25.
Irmin 192.
lrpa 394.
Island 523.
Isto 194.
iahreszeitmythen 56.
arnsaxa 305.
e n s e n 605.
örmungard 353.
Jünglingsweihe 421.
Kainszeichen 241, 1.
Kanne 587.
Kataloge 562. 570.
Kauffmann 329.
Kelten 59. 281. 501.
Ker 623.
Klassifikation 532.
Klopstock 580.
Kodifikaiion 42. 562 f.
R. Köhler 606.
Kontrast 20.
Körperteile 72.
kosmogonische Mythen
56.
Kosmos 459.
Kräfte 8 f. 10 f.
Kuhn 602.
Kult 5. 53. 405 f.
Kulthandlungen 5.
Kultmythen 438.
Kultstätten 53.
Laistner 34. 624.
Lang 43.
Legendenforschung 606.
Leiche 87.
v. d. Leyen 606 Anm.
Leß 582.
Lippert 611. 629.
Lodur 339.
Lofu 275.
Loki 212 335 f. 387 f. 508.
Los 421.
Lopt 333.
Lubbock 609.
Magni 305.
Mallet 580.
Mannhardt 608.
Märchen 14. 17.
Mars Thingsus 186.
Meergeister 101.
Meiti 305.
Meineid 391.
Menschenopfer 237. 289,
412 f.
Ed. Meyer 621.
El. H. Meyer 618. 631.
Midgard 468.
Midgardsorm 353.
|n
H
gis
Mimir 167. 325.
Mitodin 223.
Modi 305.
Mogk 422 626.
Mone 590.
Moralisierung 536.
Müllenhoff 29. 2151
251, 7. 599 f. 610.
M. Müller 34. 484. 503-
P. E. Müller 584.
W. Müller 596.
Müspell 356
Die Mütter 401.
Myrkwid 356.
Mythen 55.
Mythendeutung 26.
Mythenvergleichung 587 f
601 f.
Mythologie 3 f. 6 f.
Mythus 9.
Name 31.
Namengebung 421. 538 f.
Namenzauber 125.
Nanna 331.
Naturgeister 33. 93 f.
Nehalennia 399.
Nersithenae 402.
Nerthus 204 f.
Nidhögg 355.
Nixe 103.
Njord 204 f.
Nomen 154. 558.
Notfeuer 417.
Novellistik 57.
Odin 181 f. 425. 548; vgl.
u. Wodan.
Odinsreligion 238 f. 244.
Olrik 29. 63, 485. 572.
Opfer 407 f.
Opferzeiten 422.
Orientierung 426.
Paradoxie, mythologische
12.
Parodien 586.
Peres 586.
Periodisierung der Opfer-
feste 46.
Personifikation 9.
Petersen 63. 596.
Pfähle 69.
Phallus 68.
Poesie 13 f.
Präexistenz der Seele 85.
Preuß 629.
Priester 53. 435 f.
Psychologie 625.
Psychologie der Götter 10.
Psychologische Richtung
25. 27.
Quellen 60 f.
Register.
645
{agnarok s. u. Weltunter-
gang.
Ran 104. 392.
Rangzeichen, mytholo-
gische 11. 17.
- der Götter 38.
Rausch 78.
Recht 59.
Religion 5 f. 54.
Religionsgeschichte 6.
484 f.
Religionsstifter 59.
Requalivahanus 403.
Riesen 119 f. 334.
Riesenkämpfe 291.
Rinda 270. 309.
jRitus 5. 418 f.
Rohde 248. 622.
Römer 59.
Rune 133.
Runenfindung 2571
Runennamen 490.
Rückblicksgedichte 549.
Rühs 583.
Saga 259.
Saitcharnae 149. 402.
Sandraudiga 401.
Saxnöt 196.
Saxo 554 565 f. 572 f.
Sceäf 193.
Schutzgeister 110.
Schedius 579.
Scheingötter 168, 5.
Schemata, mythologische
Schiffsgeister 110.
Schlaf 77.
Schloezer 583, 4.
Schneegeister 104.
W. Schneider 582.
Schoning 121.
Sehr ad er 49.
Schuck 330.
Schwanenjungfrauen 104.
162.
Schwartz 34. 602.
Schwert 72.
Schwerttanz 185.
Seele 31. 73 f.
Seelenwanderung 85.
Segen und Fluch 138.
Siecke 34.
Sif 306 f.
Skirnir 203.
Sigyn 345.
Skudi 209 f.
Skäldskaparmäl 563.
Skoll 352.
R. Smith 61. 608 f.
Snorri 551. 560. 563 f.
Snotra 277.
Söl 276. 395.
R. Simon 580.
Simrock 597.
Sonne und Mond 51. 105.
Sonnenwagen 209, 1.
Spannung 19.
Spinoza 580.
Sprache der Götter 40.
SjDrache, poetische 13.
Steigerung 19.
Steine 68.
Stil des Mythus 15.
Stimmungsgötter 115, 7.
Suleviae 402.
Sumpfgeist 104.
Surt 355.
Symbolische Handlungen
Syn 276.
Syr 279.
Tabu 53.
Tacitus 205, 1.
Tag und Nacht 107.
Tanfana 309. 399. 404.
Technik, poetische 19.
Tempel 423 f.
Thjälfi 291.
Thor 100. 279 f. 3451
Thorgerd 158. 3931
Thrud 305
Thrym 301.
Tiergeister 35. 111 f.
Tiergestalt 39, 1. 76.
Tieropfer 414.
Totemismus 33. 92.
Totenklage 88.
Totenkult 32. 89 f.
Tradition 33.
Trankopfer 416
Traum 77.
Traumgeister 112.
Tylor 699.
Tyr 1781 192. 196.
Ueberschriften d. Gedichte
554
Uhland 590.
Ullr 378.
Umbildungen 44.
Umgebungsgötter 153.
Umzug 429.
Unsterblichkeitsglaube
506.
Unsterblichkeitstrank 40.
Unterwelt 121.
Unverwendbarkeit, rela-
tive 18.
Usener 25. 29. 620.
Utgard 297.
Vagdaverkustis 403.
Var 276.
Vapthiae 402.
Vatviae 402.
Vercana 401.
Vergleichende Mythologie
Vermenschlichung 39.
Verstümmelung 41.
Victoria 404.
Vihansa 159. 403.
Vingnir 305.
Vodskov 6!5.
Volksmythologie 22.
Völsi 67.
Völuspä 4421
Vor 276.
Vorzeichen des jüngsten
Gerichts 15.
Voß 5871
Wackernagel 611.
Waffen 70. 182.
Wagen 40.
Th. Waitz 609.
Waldgeister 94.
Walküren 157. 545.
Walhöll 268. 463.
Wali 376.
Wanen 198. 3881
Wanenkrieg 388. 494.
Wassergeister 101.
Weihen 53.
Weinhold 620.
Weissagung 141.
Weltanschauung 441 1
Weltschöpfung 452. 476.
5091
Weltschöpfungsgedichte
567.
Weltuntergang 444. 476.
516.
Werwolf 128.
Widar 372.
Wiedergeburt 84.
Wilamowitz 622.
Wildes Heer 81.
Windgeister 97.
Wotan 2241
Wode 227.
Wölund 164.
Wolkengeister 100.
Wundt 14. 625.
Yggdrasil 69. 474 f. 547 f.
Zählung 19. 528.
Zauberei 54. 145 1
Zauberer 1331
Zauberhandlung 137.
Zauberlied 125.
Zaubermenschen 1271
Zauberspruch 127.
Zeiten, heilige 78.
Zwerge 1251
Verlag der J. G. Cotta'schen Buchhandlung Nachfolger
Stuttgart und Berlin
Die altgermanische Poesie
nach ihren formelhaften Elementen
beschrieben von
Richard M. Meyer
Preis geheftet M. 10. —
Dies dem Andenken Wilhelm Scherers gewidmete Buch stellt
es sich zur Aufgabe, alles, was in den uns erhaltenen Resten alt-
nordischer (nichtskaldischer), angelsächsischer, althochdeutscher Poesie
typischen Charakter trägt , zu sammeln und in übersichtlicher An-
ordnung darzustellen. In zehn Kapitel gegliedert, steigt es von
den Begriffen und Worten zu den Wortgruppen, Versen, Vers-
gruppen, Sätzen und Satzgruppen auf; ein abschließendes Kapitel
fasst die Ergebnisse für die Charakteristik der poetischen Sprache,
die altgermanische Stilgeschichte, Poetik, Metrik und Literatur-
geschichte sowie für die vergleichende Literaturgeschichte zusammen.
Es existiert keine gleich vollständige Beschreibung irgend einer in
sich abgeschlossenen Poesie.
Es sei darauf hingewiesen, dass in verschiedenen Punkten An-
sichten, die hier als neu vorgetragen werden, seit dem Erscheinen
des Werkes von der Forschung teils bestätigt, teils wenigstens in
erneute Prüfung genommen worden sind; so die Vermutungen
über die Urform der altgermanischen Strophe, über die ältesten
Runen und Verse. Namentlich verdient das umfängliche Kapitel, das
über Formeln im engeren Sinn handelt (z. B. über solche der Be-
grüßung, der Verfluchung; aber auch über Formeln, die Anfang
oder Ende von Gedichten oder Gedichtabschnitten bezeichnen),
in unserer Zeit eines lebhaften Studiums von Stil und Volksart ein
besonderes Interesse.
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig
Grundzüge der Deutschen Altertumskunde, von Prof.
Dr. H. Fischer. 8°. 143 S. Geh. M. 1.— In Originallnbd. M. 1.25
„Wer künftig sich darüber unterrichten will, welches die Hauptfragen sind,
die die deutsche Altertumskunde zu beantworten hat, welche verschiedene Unter-
fragen dabei zu berücksichtigen sind, der greife getrost zu Fischers Büchlein.
Er wird hier seine Wünsche erfüllen können. Mit diesen Worten ist dem Buche
eine Empfehlung erteilt, die man in der Tat sonst keinem anderen Werke der
gesamten wissenschaftlichen und populären Literatur auf dem Gebiete der
deutschen Altertumskunde zuteil werden lassen kann. Fischer hat recht, wenn
er in dem Vorwort betont, daß es eine andere Darstellung des ganzen Gegen-
standes zurzeit nicht gibt .... Aus vollster Überzeugung empfehle ich dieses
handliche Büchlein den weitesten Kreisen zu eifrigem Studium, und ich bin
gewiß, daß es ein gutes Teil dazu beitragen wird, der künftigen umfänglicheren
Pflege einer wissenschaftlichen deutschen Altertumskunde die Wege bereiten
ZU helfen." Prof. Dr. Lauffer. Frankfurter Zeitung. Nr. 107. 1909.
Der Sagenkreis der Nibelungen, von Prof. Dr. g. Hoiz
in Leipzig. 8°. 131 S. Geh. M. 1.— In Originallnbd. M. 1.25
„Das ist ein ganz prächtiges Buch. Wer sich, sei es aus Neigung oder
Pflicht, mit diesem tiefsten unserer nationalen Sagenstoffe beschäftigt, der greife
zu diesem handlichen Führer, der in geistvoller Weise den geschichtlichen Grund-
lagen, den Wanderungen und Wandlungen des Stoffes nachspürt."
Schlesisclie Schulzeituug. Nr. 39. 1907.
Dem jungen Studiosen, der sich zum ersten Male mit den Fragen vertraut
machen will, die sich an das Nibelungenlied anknüpfen, dürfte es eine ebenso
willkommene Gabe sein wie dem Schulmanne, der vor der Lektüre des Liedes
mit seinen Zöglingen das Bedürfnis fühlt, in wenigen Stunden auch die neuesten
Ergebnisse der Forschung auf diesem Gebiete vor sich vorüberziehen zu lassen."
Neuphilologische Blätter. Heft 12. 1907.
DaS alte deutsche Volkslied nach seinen festen Ausdrucks-
formen betrachtet. Von Prof. Dr. Albert Daur. Groß 8°.
VIII und 200 Seiten. Broschiert M. 6.—
Verfasser, der sich lange Jahre mit den hier behandelten Problemen beschäftigt
hat, geht neue Wege durch ein altbekanntes Land. Die Ergebnisse, zu denen
er gelangt, werden Interesse für jeden haben, der sich mit der poetischen Technik
befassen will.
Unser DeUtSCh. Einführung in die Muttersprache von Friedrich
Kluge, Geh.-Rat Prof. an der Univ. Freiburg i. B. 8Ü. 2. Aufl.
ca. 160 Seiten. Geheftet M. 1.— In Originalleinenband M. 1.25
„Das Büchlein darf als eine vortreffliche Belehrung über das Wesen der
deutschen Sprache freudig begrüßt werden. Es enthält zehn zwanglose, aber
wohl zusammenhängende Kapitel, die sich gleichmäßig durch sichere Beherrschung
des Stoffes, klare Entwicklung der Probleme und Gesetze und frische An-
schaulichkeit der Darstellung auszeichnen. Diese Vorzüge machen die Schrift,
zumal an Belegen und Proben nicht gespart wird, zu einer anziehenden Lektüre
für jeden Gebildeten. Aber auch der Fachmann wird den Ausführungen nicht
ohne Genuß und Gewinn folgen. Man sieht, wie der Verfasser aus eigener
reicher Erfahrung heraus seine Ansichten und Forderungen formuliert und bemüht
ist, zukünftiger Forschung den Boden zu bereiten . . . Das Ganze wird beherrscht
von dem wiederholt ausgesprochenen Leitgedanken : Die Geschichte eines Volkes
ist zugleich die Geschichte seiner Sprache und umgekehrt. So verdient das
Büchlein warme Empfehlung." 0. L. Litorar. Centralbl. f. Deutschland. 5. Febr. 1903.
Theodor Körners
Briefwechsel mit den Seinen
8°. 300 Seiten mit zahlreichen Tafeln, Faksimiles und künstlerischem
Buchschmncke von A. Weßner. Herausgeg. von Dr. A. Steinberg.
In Originalgeschenkband M. 3.80
„Körners Lieder und Dramen sind in aller Munde, sein Leben ist jedermann
vertraut. Wenige aber wissen, daß er es selber in seinen Briefen mit farbigem
Stifte gezeichnet hat. Diese liegen nunmehr in einem prächtigen Bandle vor.
In frischer Unmittelbaikeit treten uns die Mitglieder des Körnerschen Kreises
entgegen : der Vater, Schillers Freund, als verständnisvoller Berater des Sohnes,
die liebevolle Mutter, deren Wendungen zuweilen an Frau Rats Urwüchsigkeit
gemahnen, sowie die stille, innige Natur der Schwester. Im Mittelpunkt aber
steht der junge Dichter, von seinen ersten kindlich-naiven Mitteilungen an die
Seinen bis an die letzten Tage seines kurzen, aber reichen Daseins."
Der Tag. Nr. 30. 1909.
Eine köstliche Gabe! .... wie im Drama die Spannung von Szene zu
Szene wächst, so zwingt auch die künstlerisch geschlossene Anordnung der Briefe
den Leser bis zum Eintritt der Katastrophe zu immer wärmerer Teilnahme. So
ist diese Briefsammlung nicht nur biographisch von höchstem Interesse, sondern
sie ist zugleich ein wertvoller Beitrag zur Zeit- und Kulturgeschichte der
napoleonischen Ära in Deutschland. L. Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung. Nr. 50. 1909.
„ . . . . ein Lebensbild des Dichters in seinen Briefen geboten , wie es
schöner gar nicht geschrieben werden kann .... Das Buch verdient unsere
besondere Beachtung, zumal es sich durch feine Wiedergaben von Bildnissen
und Handschriften vortrefflich zu einem Geschenk eignet."
Sächsische Schulzeitung. Nr. 10. 1909.
„Dieser Briefwechsel ist nicht eine ängstlich vollständige Wiedergabe der
Briefe an oder von Theodor Körner und all den Seinen, sondern er ist eine
feinfühlige Sammlung der hauptsächlichsten Niederschriften der Familienglieder
untereinander, die uns die einzelnen so nahe bringen, daß wir sie aus ihren
eigenen Worten lieben und achten müssen. Sie reden eine so zu Herzen gehende
inhaltreiche Sprache, daß wir sie mit Recht bewundern, und auch das Häusliche
in der Schilderung führt uns den Familienkreis so nahe, daß wir selbst darin
zu leben meinen." Dr. E. P. Dresdner Journal. 1. Dez. 1909.
„Die Sammlung ist mit großer Geschicklichkeit und Verständnisinnigkeit
zusammengestellt. Sie besteht zum größten Teil aus bisher unveröffentlichten
Briefen. Die Ausstattung im Geschmack der damaligen Zeit mit den feinen
alten Städtebildern als Kopfleisten und den fünfzehn Tafeln mit zum Teil wirklich
schönen Familienporträts kann auch den verwöhntesten Geschmack befriedigen.
Dabei ist der Band sehr wohlfei!. Jeder Leser, der an einem wirklich guten
Buche, das die Poesie der Wahrheit und Vergangenheit in sich trägt, Freude
hat, wird diese Briefe mit Genuß lesen; aber auch der Literaturhistoriker wie
der Kunsthistoriker werden manche Anregungen aus der Lektüre schöpfen
können," Marie Joachimi-Dege. Frankfurter Zeitung. 12. Dez. 1909.
ßilforifche Ileuerldieinungen
aus dem Verlage uon
: • Quelle & meyer in Leipzig • :
Bibliothek der
Geschichtswissenschaft
Herausgegeben von Prof. Dr. E. BRANDENBURG in Leipzig
unter Mitwirkung von
Prof. Dr. E. Brandenburg-Leipzig Prof. Dr. A. Conrad i-Leipzig Prof.
Dr. P. Darmstaedter-Göttingen Geh. Rat Prof. Dr. A. v. Domaszewski-
Heidelberg Prof. Dr. A. Fi seh er- Leipzig Prof. Dr. J. H. Hai ler- Gießen
Prof. Dr. K. H a m p e - Heidelberg Priv.-Doz. Dr. P. Herre-Leipzig Prof. Dr.
O. Hoetsch-Posen Prof. Dr. F. Keutgen-Jena Archivdirektor Prof. Dr.
H. Kretzschmayr-Wien Prof. Dr. G. Küntzel-Frankfurt Direktor Prof.
Dr. F. von Luschan Prof. Dr. H. Oncken- Heidelberg Prof. Dr. F. Rach-
f ahl-Kiel Prof. Dr. F. Salomon -Leipzig Prof. Dr. G. S t ei ndorff -Leipzig
Priv.-Doz. W. Struck-Berlin Prof. Dr. H. Waentig-Halle usw. usw.
I raktischen Zwecken will diese Sammlung historischer Grund-
risse in erster Linie dienen. Die einzelnen in sich abgeschlossenen
handlichen Bände sollen den Leser in knapper und doch an-
ziehender Darstellung einführen in die Geschichte der weltge-
schichtlich bedeutsamen Völker, in ihre politische, wirtschaftliche
und geistige Entwicklung. Sie wollen den Benutzer mit dem Stande
der Forschung vertraut machen und ihm die Mittel an die Hand
geben, tiefer in die einzelnen Probleme einzudringen, sowie seinen
historischen Gesichtskreis zu erweitern.
Zunächst erscheinen:
Einführung in die Geschichtswissen-
schaft.
Historische Hilfswissenschaften.
Ethnographie. Prähistorie.
Geschichte des Alten Orients.
Griechische Geschichte.
Der Hellenismus.
Römische Geschichte.
Die römische Kaiserzeit.
Rechts-, Verfassungs- und Wirtschafts-
geschichte der antiken Staaten.
DieGeschichte des antikenGeisleslebens.
Die germanischen Staaten im ersten
Jahrtausend.
Deutsche Kaisergeschichte im Zeitalter
der Salier und Staufer.
Deutsche Geschichte im späten Mittel-
alter.
Rechts-, Verfassungs- und Wirtschafts-
geschichte des Mittelalters.
Die Geschichte der christlichen Kultur
im Mittelalter.
BIBLIOTHEK DER GESCHICHTSWISSENSCHAFT
Deutsche Geschichte im Zeitalter der
Reformation (1517—1648).
Deutsche Geschichte im Zeitalter des
Absolutismus (1648-1806).
Deutsche Geschichte im 19. Jahr-
hundert (1806—1870).
Deutsche Geschichte der neuesten Zeit.
Rechts- und Verfassungsgeschichte der
Neuzeit.
Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit.
Die Entwicklung d. mod. Geisteslebens.
Brandenburg-Preuß. Geschichte.
Österreichische Geschichte.
Geschichte Frankreichs.
Englische Geschichte.
Geschichte Italiens.
Das Papsttum.
Die slavischen Staaten.
Die Staaten des Islam.
Die Vereinigten Staaten von Amerika.
Geschichte Ostasiens.
Die europäischen Kolonien.
Jeder Band von 10-12 Bogen in Leinenband je ca. M. 2.40 bis ca. M. 3.40
Prospekte unentgeltlich und postfrei.
Bisher erschienen:
Deutsche Kaisergeschichte im Zeitalter der
Salier und Staufer. Von Prof. Dr. K. HAMPE. (Bibliothek der
Geschichtswissenschaft.) 8°. 277 S. In Origllbd. Mark 4.—
„Des Verfassers Wunsch, dass sein Buch nicht nur belehren, sondern auch
anregen, nicht nur studiert, sondern auch gern gelesen sein möchte, wird voll-
auf erfüllt werden. Wissenschaftlichkeit und Volkstümlichkeit vereinigt
das Bändchen in vorbildlicher Weise . . . . Das Buch kann daher sowohl
als fesselnde Lektüre für Freunde der Geschichte, wie zum Lernen für Stu-
denten zur Vorbereitung für Lehrer aufs Wärmste empfohlen werden."
F. Fdch. Literar. Zentralbl. f. Deutschi. Nr. 4. 1909.
„Professor Hampe führt seine Leser auf die Höhen des deutschen Mittel-
alters, in jene Zeit, die noch heute wie wenige andere die Phantasie zu fesseln
vermögen, in die Tage der ersten Salier, des Investiturkampfes, da Heinrich IV.
nach Canossa pilgern musste, in die Tage Barbarossas und Friedrichs II. Die
Darstellung ist wohl berufen, in dem heutigen Gegenwartstreiben etwas von
dem tiefinnerlichen Anteil wiederzuerwecken, mit dem unsere Väter sich in
die vergangenen Zeiten deutscher Kaiserherrlichkeit versenkten."
Hamb. Nachr. 25. Dez. 1908.
Die Vereinigten Staaten von Amerika
Ihre wirtschaftliche, politische und soziale Entwicklung von Prof.
Dr. P. DARMSTAEDTER. (Bibliothek der Geschichtswissen-
schaft.) 8°. 248 S. In Origllbd. Mark 4.-
«Prof. Paul Darmstaedter schildert den Werdegang und die Entwicklung
der Vereinigten Staaten von Nordamerika sowie deren heutige Zustände und
ihre Aufgaben für die Zukunft. > Diesem Buche kann man uneingeschränktes
Lob erteilen, es ist glänzend geschrieben und erschöpft in kurzer Dar-
stellung das interessante Thema völlig ....
Univ.-Prof. Dr. Ottokar Weber, Prag. Neue freie Presse. Nov. 1908.
„Darmstaedters Buch zählt zu den besten, die mir seit langem zu Ge-
sicht gekommen sind. Verfasser hat offenbar aus dem Vollen geschöpft
und beherrscht seinen Stoff vollständig .... Ganz besonderes Lob verdient
die Darstellung der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung, die sehr vieles
enthält, das wir in größeren nationalökonomischen Werken vergebens suchen . . ."
Z. Hist. Jahrb. 1908.
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
Geschichte
der römischen Kaiser
von Geh. Rat Prof. Dr. A. von Domaszewski
2 Bände zu je ca. 336 S. mit 12 Porträts auf Tafeln in künstlerischer Ausführung.
Brosch. je M. 8.- In Originalleinenband jeM. 9.- In Halbfranzband je M. 10.-
Dieses monumentale Werk aus der Feder eines unserer besten
Kenner der Antike bringt uns die seit langem ersehnte Gesamtdar-
stellung der römischen Kaisergeschichte. Mehr als 400 Jahre reichster,
politischer, wirtschaftlicher und geistiger Entfaltung ziehen an dem
Leser vorbei, eine in der Geschichte einzigartige Epoche friedlicher
Entwicklung. Frei von allem gelehrten Apparate gibt Verfasser
in klassisch schöner, von dichterischem Geiste durchwehter Dar-
stellung ein Bild von den großen Persönlichkeiten und treibenden
Kräften jener Zeit. Den höchsten Grad der Anschaulichkeit zu
erreichen, war sein Streben. Die Persönlichkeiten der Kaiser treten
handelnd auf und die Ereignisse vollziehen sich in voller Wirk-
lichkeit. Dies gilt auch für jene Zeiten, wo die Kaiser bisher nur
leere Namen waren. So erschließt sich dem Leser die innere Not-
wendigkeit, welche den Verlauf der Kaisergeschichte beherrscht.
Besonders beachtenswert ist die Stellungnahme des Verfassers zu
seinen Quellen, denen er ein größeres Vertrauen entgegenbringen
zu müssen glaubt, als dies die Forschung bisher tat, weil selbst
den dürftigsten Nachrichten die Darstellung großer Meister der
Geschichtschreibung zugrunde liege.
Der römischen Kaisergeschichte hat sich die wissenschaftliche
Forschung der letzten Jahrzehnte immer mehr zugewandt; die reli-
gionsgeschichtlichen Fragen, die Papyrusfunde, die Ausgrabungen
usw. haben die Aufmerksamkeit aller gebildeten Kreise in steigendem
Maße auf diese Geschichtsepoche konzentriert. So wird dieses Werk
von allen Freunden und Forschern der Antike dankbar begrüßt werden.
Zur Kulturgeschichte Roms, von Prof
Dr. TH. BIRT. 164 Seiten. Geheftet Mark 1.- In Original-
leinenband Mark 1.25
Nicht nur ein gründlicher Kenner der Antike, sondern auch ein feinsinniger
Schriftsteller führt hier die Feder. Wir schreiten mit ihm durch die Straßen
des alten Roms, begleiten ihn in die Bäder, die Tempel, die Theater und die
Arena, wohnen rauschenden Festen bei und lernen so Leben und Treiben jenes
mächtigen Volkes kennen, das so lange die Welt beherrschte.
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
Die babylonische Geisteskultur in ihren
Beziehungen zur Kulturentwicklung der Menschheit. Von Prof.
Dr. H. WINCKLER. 8°. 156 Seiten. Geheftet Mark 1.- In
Origllbd. Mark 1.25
„Das kleine Werk behandelt die Fülle von Material, wie wir es nunmehr
zur altorientalischen Weltanschauungslehre besitzen, in übersichtlicher und zu-
gleich fesselnder Weise; es wird jedem Leser, der sich für diese Frage zu inte-
ressieren begonnen hat, ungemein nützlich werden."
C. N. Norddeutsche allgem. Zeitung. Nr. 287. 1908.
DaVid Und Sein Zeitalter. Von Professor Dr.
B. BAENTSCH. 8°. 176 Seiten. Geh. Mark 1.- In Origllbd. ;
Mark 1.25
Das Bändchen schildert David als Regenten, Kriegsmann, Politiker
und Menschen und eröffnet das Verständnis für die weit über das davidische
Zeitalter hinaus wirkende Bedeutung dieses Mannes, wobei der Verfasser be-
sonderes Gewicht auf die Darstellung der großen, geschichtlichen Zu-
sammenhänge des alten Orients legt.
Mohammed und die Seinen, von Prof
Dr. H. RECKENDORF. 8°. 138 Seiten. Geheftet Mark 1.-
In Origllbd. Mark 1.25
„Unter den in jüngster Zeit sich mit erfreulichem Fortschritte mehrenden
Darstellungen der islamischen Anfänge für weitere Kreise nimmt dieses Buch
eine ganz hervorragende und besondere Stelle ein. Es ist ein Versuch
die sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen, politischen und individuellen Grund-
lagen des beginnenden Islam zusammenhängend zu verdeutlichen.
R. Geyer. Wiener Zeitschrift für die Kunde des Morgenlandes Bd. XXI.
Grundzüge der Deutschen Alter*
tUmSkUnde. Von Prof. Dr. H. FISCHER. 8°. 143 S.
Geheftet Mark 1.- In Origllbd. Mark 1.25
Wer künftig sich darüber unterrichten will, welches die Hauptfragen sind,
die die deutsche Altertumskunde zu beantworten hat, welche verschiedene Unter-
fragen dabei zu berücksichtigen sind, der greife getrost zu Fischers Büchlein.
Er wird hier seine Wünsche erfüllen können. Mit diesen Worten ist dem Buche
eine Empfehlung erteilt, die man in der Tat sonst keinem anderen
Werke der gesamten wissenschaftlichen und populären Literatur
auf dem Gebiete der deutschen Altertumskunde zuteil werden lassen
kann. Fischer hat Recht, wenn er in dem Vorwort betont, daß es eine andere
Darstellung des ganzen Gegenstandes zur Zeit nicht gibt ... . Aus vollster
Überzeugung empfehle ich dieses handliche Büchlein den weitesten Kreisen zu
eifrigem Studium, und ich bin gewiß, daß es ein gutes Teil dazu beitragen wird,
der künftigen umfänglicheren Pflege einer wissenschaftlichen deutschen Altertums-
kunde die Wege bereiten zu helfen."
Prof. Dr. Lauffer. Frankfurter Zeitung. Nr. 107. 1909.
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
Aus den Tagen Bismarcks. politische
Essays von OTTO GILDEMEISTER. Herausgegeben von der
literarischen Gesellschaft des Künstlervereins Bremen, gr. 8°.
232 S. mit einem Porträt Gildemeisters. In Origllbd. Mark 4.80
„Die Herausgeber haben durch ihre Veröffentlichung damit Gildemeisters
Bedeutung als der eines führenden deutschen Prosaisten auf eine noch
breitere Grundlage gestellt, ihr eine größere Tragweite verschafft. Aber es
ist gleichwohl nicht die Form, die zumeist an diesen Artikel fesselt. Das
Gewicht ihres Inhalts überwiegt durchaus. Sie begleiten die wichtigsten Her-
gänge in einer an großen Ereignissen so überreichen Zeit. Kaum eine
der Fragen, deren Lösung über Wohl und Wehe unseres Volkes
entscheiden sollte, bleibt unberührt, und von den Persönlichkeiten,
die handelnd eingreifen, wird eine ganze Reihe wieder vor unseren
Augen lebendig .... Wir wüßten kein Buch gleichen Umfanges,
das so geeignet wäre, ohne Systematik politisch zu bilden und zu
erziehen ... Sie reden zum Bürger, aber noch mehr zum Menschen; sie
spenden staatsmännische Lehre, aber noch mehr Lebensweisheit. Sie holen ihre
Vergleiche und ihre Belege aus all den weiten Gebieten der Bildung, die ihr
Verfasser beherrscht. So spannen sie jeden, der für reiches und feines Geistes-
leben empfänglich ist. Prof. Dietrich Schäfer. Kölnische Zeitung. 16. Okt. 1908.
Barbara BlOlIlberg die Geliebte Karl V. und
Mutter Don Juans de Austria. Ein Kulturbild des 16. Jahr-
hunderts von Privatdoz. Dr. P. HERRE. 8°. 166 S. In Bütten-
umschlag Mark 3.60
Wie Barbara Blomberg, das Regensburger Bürgermädchen Kaiser Karls V.
Geliebte und Don Juans de Austria Mutter wurde, wie die interessante
Frau als Gattin eines Kriegskommissars in Deutschland und den Nieder-
landen lebte, wie sie dann als lebensfreudige und liebesbedürftige Witwe
zum habsburgischen Herrscherhaus in Gegensatz trat, der zu harten Kämpfen
mit Herzog Alba, dem Großkomthur Requesens und ihrem eigenen Sohne
führte, wie sie schließlich nach Spanien gebracht wurde, um zuerst in
klösterlicher Abgeschlossenheit auf der Castilischen Hochebene und später in
zurückgezogener Stille fern am biskaischen Meer ihr Leben zu beschließen; das
ist der Inhalt der auf streng wissenschaftlicher Forschung ruhenden Schrift. Der
Abdruck des für Kultur- und Kunsthistoriker gleich interessanten Inventars über
den Nachlaß Barbara Blombergs erhöht den kulturgeschichtlichen Wert des
Buches, das im Geschmack der Zeit nach Drucken des 16. Jahrhunderts reich
mit Titelrahmen und Leisten ausgestattet ist.
Der Kampf um die Herrschaft im
Mittelmeer. Von Privatdozent Dr. P. HERRE. 180 S.
Geh. Mark 1.- In Origllbd. Mark 1.25
Verfasser geleitet den Leser durch die gewaltige Geschichte des Mittelmeer-
gebietes von der ältesten Zeit bis auf die Gegenwart. Das Kommen und Gehen
der Völker, die Ablösung der einen Herrschaft durch die andere und die in
diesem Wechsel ruhende Bedeutung sind Hauptinhalt der Darstellung. Sie ver-
folgt nicht die Entwicklung des einzelnen Volkes, sondern richtet den Blick allein
auf die allgemeine, den Gesamtraum überspannende Entwicklung und auf die
sichtbaren und unsichtbaren treibenden Kräfte, deren Kampf die 4000jährige
Geschichte erfüllt und den heutigen Zustand hat emporwachsen lassen. Erst die
Ereignisse der letzten Monate haben gezeigt, welche Bedeutung der Mittelmeer-
raum noch heute in der Politik spielt.
ZUR RELIGIONSGESCHICHTE
Unsere religiösen Erziehen Eine Geschichte
des Christentums in Lebensbildern. Unter Mitarbeit von Prof.
D. J. Meinhold, Prof. D. Arnold Meyer, Prof. Lic. Dr.
G Clemen, Prof. D. E. Preuschen, Prof. D. A. Dorner,
Prof. D. S. Deutsch, Prof. Dr. K. Wenck, Lic. Dr. O. Clemen,
Schulrat D. Dr. Buddensieg, Geh. Rat Prof. Dr. Th. Kolde,
Dekan D. A. Baur, Prof. Lic. B. Beß, Pfarrer D. P. Grün-
berg, Prof. Dr. K. Seil, Prof. Dr. O. Kirn, Prof. D. O. Baum-
garten, Prof. D. W. Herrmann, herausgegeben von Prof. Lic.
B. BESS. 2 Bände zu je 280 S. mit Buchschmuck von Bruno
Heroux. Geschmackvoll broschiert je Mark 3.80 In Origllbd.
je Mark 4.40
Inhalt: Moses - Jesus - Paulus - Origines - Augustinus - Bernard von Clairvaux —
Franz von Assisi - Seuse - Wiclif und Hus - Luther - Zwingli - Calvin - Spener - Schiller
— Goethe — Schleiermacher — Bismarck.
„Die aus jeder einzelnen Biographie hervorleuchtende Bestätigung einer
solchen Auffassung vom Wesen der Religion macht die Stärke des vorliegenden
Werkes aus. Sein historischer Wert, auf den es an diesem Orte ankommt,
leidet darunter in keiner Weise. Dafür bürgen schon die Namen der Verfasser,
deren nicht wenige sich geradezu als Spezialisten und Autoritäten auf den
ihnen hier zur Bearbeitung zugefallenen Gebieten bewährt haben."
Historische Zeitschrift. H. 2. Bd. 101.
Katholizismus und Protestantismus
in Geschichte, Religion, Politik und Kultur. Von Prof. Dr.
KARL SELL in Bonn. gr. 8°. 335 S. Brosch. Mark 4.40
In Origllbd. Mark 4.80
„Ein eigenartiges und wertvolles Buch verdanken wir dem Bonner Kirchen-
historiker Karl Seil. Nicht nur polemisch oder apologetisch, sondern rein ge-
schichtlich will er das Wesen des Katholizismus und Protestantismus schildern . . .
Ich sehe die Hauptvorzüge des Buches in der überaus feinen psychologischen
Analyse des Wesens des Katholizismus und Protestantismus und in der ge-
schickten Art, mit der die Geschichte vor allem des modernen Protestantismus
und Katholizismus von dem Verfasser herbeigezogen wird. Es war dies nur
einem Kirchenhistoriker möglich, der gerade die Entwicklung des Katholizismus
und Protestantismus im 19. Jahrhundert aufs gründlichste durchforscht hat und
50 im Stande ist, ein lebendiges Bild beider Konfessionen zu zeichnen."
Prof. G. Grützmacher-Heidelberg. Historische Vierteljahrsschrift. 4. XI.
DaS Christentum. Fünf Vorträge von Prof. Dr.
C CORNILL, Prof. Dr. E. von DOBSCHÜTZ, Prof. Dr. W.
HERRMANN, Prof. Dr. W. STAERK, Geheimrat Prof. Dr.
E. TROELTSCH. 168 Seiten. Geh. Mark 1.- In Origllbd.
Mark 1.25
Die vorliegenden gedankenreichen und inhaltsschweren Vor-
träge . . . beabsichtigen die Entwicklung der isrealitisch-christlichen Religion
als einen. geschichtlichen Werdeprozeß im Leben des menschlichen Geistes zu
•.schildern." Prof. Dr. Holtzmann- Baden. Deutsche Lit.-Ztg. Nr. 49. 1908.
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
D
as literarische Porträt Alexanders des Großen im
griechischen und römischen Altertum, von Dr. w. Hoff-
mann, gr. 8. VIII u. 115 S. Geh. M. 4.—
Eine Analyse und Erläuterung der verschiedenen Beurteilungen des großen Makedonien in der
antiken Literatur von Aristoteles bis Julian.
F ahnlehn und Fahnenbelehnung im alten deutschen Reich.
Von Dr. J. BrUCkauf. gr. 8. VI u. 113 S. Geheftet M. 3.60
Die Untersuchung behandelt das Fahnlehn nach der Lehre der mittelalterlichen Rechtsbücher,
den Investiturakt und die Investitur bis zum Aufhören der öffentlichen Belebnungen Ende des
16. Jahrhunderts.
D
ie soziale Gliederung im Fränkischen Reiche, von Dr.
Josef Vormoor. gr. 8. vni u. 105 s. Geh. m. 3.50
Eine interessante, verfassungsgeschichtliche Studie aus der Zeit der Volksrechte.
Die Ministerialität in Köln und am Niederrhein, von Dr.
Jakob Ähren S. gr. 8. VI und 97 Seiten. Geheftet M. 3.50
Die Reichhaltigkeit des vorhandenen Materials und die frühe, kräftige Entwicklung Kölns
gestatten es dem Verfasser, wichtige Schlüsse auf die Entstehung und Entwicklung der Minis-
terialität überhaupt zu ziehen.
D
ie Gerichtsbefugnisse der patrimonialen Gewalten in
Niederösterreich. Von Dr. Paul Oswald, gr. 8. vm und 99 s.
Geheftet M. 3.40
Die Entstehung und Weiterbildung der Dorf- und Vogtobrigkeit in ihren ineinandergreifenden
Kompetenzen wird allseitig beleuchtet und in ihrer verfassungsgeschichtlichen Bedeutung auf-
gezeigt.
Die Naumburger Freiheit, von Dr. p. Keber. vi u. 91 s. Geheftet
M. 3.25
Eine topographische, rechtliche und wirtschaftliche Untersuchung zur Lösung der
Immunitätsfrage .
Adam VOn Bremen. Ein Beitrag zur mittelalterlichen Textkritik und
Kosmographie. Von Dr. Philipp Wilhelm Kohlmann. gr. 8. vin u.
135 Seiten. Geheftet M. 4.40
Aus dem Inhalt: Adam und sein Werk. -Textkritische Erläuterung zur Hamburgischen Kirchen-
geschichte.— Adams kosmographische Anschauungen. — Tabellarische Übersicht der von A. y. B.
benutzten Quellen.
Italienische Geschichtsschreiber des 12. und 13. Jahrhunderts
Ein Beitrag zur Kulturgeschichte von Privatdozent Dr. B. Seh meid ler.
Vni und 88 Seiten. Geheftet M. 2.75
Die Untersuchung ist nicht nur ein Beitrag zur Geschichte der Geschichtsschreibung, sondern
auch zur Forschung nach dem Ursprünge der Renaissance.
E
ZZelinO VOn Romano. Eine Biographie von Dr. F. Stiewe. vi u.
133 Seiten. Geheftet M. 4.50
Ezzelino ist der erste Tyrann der italienischen Frührenaissance und als Schwieger-
vater Kaiser Friedrich II. eine der interessantesten Persönlichkeiten jener Zeit.
D
ie venezianischen Relazionen und ihr Verhältnis zur
Kultur der Renaissance, von Dr. wiin Andreas, x und m Seiten.
Geheftet M. 3.50
„Es bietet sich in dieser Arbeit, die bei guter wissenschaftlicher Fundamentierung sich der
Form eines abgetönten Essays nähert, nicht nur ein wertvoller Beitrag zur Geschichte der
Diplomatie und zur Entwicklung des venezianischen Geistes, sondern auch eine interessante
Beleuchtung der Weltanschaung der Renaissance überhaupt von einer bisher weniger beachteten
Stelle. M. H. Münchener Neusten Nachrichten. Nr. 74, 1908.
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
z
K
D
A
ur Geschichte des Reichstags im XV. Jahrhundert.
Von Archivar Dr. Rudolf Bemraann. gr. 8. vin. u. 96. s. Ge-
heftet M. 3.25
Inhalt: Die drei Kurien, und ihr Verhalten zum Oberhaupt. Proposition und Ab-
schied. Der päpstliche Legat und die Fremden auf dem Reichstage. Festsetzung des
Reichstages und die Teilnehmer.
arl V. Plan zur Gründung des Reichsbundes.
Ursprung und erste Versuche bis zum Ausgange des Ulmer Tages
(1547). Von Dr. O. A. Hecker. gr. 8. ix. u. 101 s. Geheftet m. 3.40
Ein abgerundetes Bild des ganzen Projektes und seine Bedeutung.
ie Ligapolitik des Mainzer Churfürsten Johann
Schweikhard von Chronberg in den jähren 1604-1613
VOn Dr. W. Burger. gr*. 8. VIII u. 98 S. Geheftet M. 3.40
ugust der Starke und die pragmatische Sanktion
(1718 — 1755). Von Dr. A. Philipp. gr. 8. XV u. 160 Seiten. Ge-
heftet M. 5.—
Eine Darstellung der kursächsischen Politik in den letzten Jahren Augusts des
Starken.
ritische Forschungen zur Österreichischen Politik
vom Aachener Frieden bis zum Beginne des Siebenjährigen Krieges.
Von Privatdozent Dr. J. Strieder in Leipzig, gr. 8. vm u. 101 s.
Geheftet M. 3.40
Ein neuer Beitrag zu der so interessanten Periode europäischer Politik von 1748-1756
mit zwei unveröffentlichen Staatsschriften des Grafen Kanitz im Anhang.
K
BESTELLZETTEL
äsi:^
Bei der Buchhandlung in -
bestelle ich hiermit aus dem Verlage von Quelle & Meyer
in Leipzig:
Quellen zur lothringischen Geschichte und Altertums-
kunde. Band
Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte.
Band
Ferner
Name: Ort u. Datum:
ED. WOHLLEBEN (LÖWE & EHBOCKJ
Veröffentlichungen
der Gefellfchcift für
loihringifdie Ge*
fchichf e u. Altertumskunde
Protektor S. m.
Kaifer Wilhelm IL
Ouelletl zur ,0thring:ischen Geschichte und
,- Altertumskunde.
Jahrbuch (*er Gesel'schaft für lothringische
______ Geschichte und Altertumskunde.
Als Lothringen durch die Ereignisse des Jahres 1870 zum
großen Teile Reichsland geworden war, befand sich die
deutsche Geschichtsforschung diesem Lande gegenüber in
einer eigentümlichen Lage. Man hatte seine Geschichte bis-
her der französischen Forschung überlassen, und stand zu-
nächst einem gewaltigen Quellenmaterial gegenüber, das
sowohl durch sprachliche Schwierigkeiten, wie durch starke
fremde Einschläge dem deutschen Forscher seine Arbeit
außerordentlich erschwerte. Anderseits aber reizte dieses
Quellenmaterial durch seinen Reichtum auch für die älteren
Zeiten — war doch Lothringen seit der Römerzeit immer
ein Schauplatz wichtiger politischer Ereignisse und eine Stätte
hoher Kultur gewesen — und durch die eigenartige Be-
einflussung von zwei Kulturkreisen, die in ihm zum Aus-
druck kam.
Hier helfend einzugreifen, war das Ziel der im Jahre
1888 gegründeten Gesellschaft für lothringische Geschichte
und Altertumskunde. Aus der Natur der Sache ergaben
sich für sie zwei Aufgaben : einmal durch vorbereitende Unter-
suchungen die oben berührten Schwierigkeiten zu beseitigen
Verlag von Quelle & Meyer in Leipzig
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
und dann das neu erschlossene Material für die Kenntnis der heimat-
lichen Geschichte, zugleich aber auch der großen Kulturbeziehungen
zwischen Ost und West nutzbar zu machen.
In nunmehr 20 jähriger Arbeit ist die Gesellschaft diesem Ziel
nachgegangen; und als Frucht dieser Tätigkeit liegen heute zwei
große Serien von Publikationen vor: 20 Bände des „Jahrbuchs"
und 6 Bände der „Quellen".
v
Jahrbuch
Über Charakter und Inhalt des „Jahrbuchs"
orientieren am besten die in Band 13 und 20
veröffentlichten Gesamtregister. Den Altertümern von vorrömischer
bis spätmittelalterlicher Zeit ist eine große Zahl von Arbeiten
näher getreten und hat namentlich die große Bedeutung der
römischen Periode und des Merovingerreiches festgestellt. Als
besonders wichtig erwies es sich sodann, durch exakte hilfswissen-
schaftliche Forschung, dem fast überreichen urkundlichem Material
des Mittelalters gegenüber kritisch gesicherten Boden zu gewinnen.
Diese Aufgabe ist nunmehr durch eine größere Zahl von Unter-
suchungen zum guten Teil bereits gelöst. Sprachliche und siede-
lungsgeschichtliche Fragen haben in anderen Arbeiten ihre Be-
antwortung gefunden. Auf solche Vorarbeiten gestützt war es
einzelnen Forschern bereits möglich, größere Abschnitte der poli-
tischen und Kulturgeschichte Lothringens in zusammenfassender
Weise zur Darstellung zu bringen. Und daß bei all diesen Arbeiten
stets Gesichtspunkte allgemeiner Art bewahrt blieben, beweist der
Ruf, dessen sich das „Jahrbuch" heute erfreuen darf: es behauptet
ehrenvoll seinen Platz neben den ersten der übrigen größeren
territorialgeschichtlichen Zeitschriften Deutschlands.
Jeder Jahrgang 25 bis 30 Bogen mit
zahlreichen Abbildungen, Tafeln,
Plänen etc. Broschiert
Mk. 10.- bis 15.-
v
QUELLEN ZUR LOTHRINGISCHEN GESCHICHTE
Quellen
Als Ergänzung des „Jahrbuchs" sind die „Quellen
zur lothringischen Geschichte" entstanden. Er-
wies es sich doch als notwendig, die wichtigsten Quellen
Lothringens der allgemeinen Geschichtsforschung in kritisch zu-
verlässigen Ausgaben zugänglich zu machen. Da waren es
namentlich die Metzer Chroniken, die zum Teil wertvolle Bei-
träge zur Reichsgeschichte enthielten, aber von der Münchener
Akademie nicht in die Chroniken der deutschen Städte aufge-
nommen waren, deren Veröffentlichung in die Wege geleitet
werden mußte. Daneben galt es aber natürlich auch
das überaus reiche vorhandliche und sonstige
Quellenmaterial zu erschließen, das für
die allgemeine Geschichte von
größter Bedeutung ist.
Bisher erschienen:
Band I und II.
Vatikanische Urkunden und Regesten
zur Geschichte Lothringens. Herausgegeben von H. V. SAUER-
LAND. Teil 1: 1294-1342. XII u. 441 Seiten. Broschiert
Mark 10.-. Teil 2: 1343-1370. XII u. 373 Seiten. Brosch.
Mark 12.-
„Die Gesellschaft für lothringische Geschichte und Altertumskunde darf
sich beglückwünschen, daß sie in H. V. Sauerland, einen der besten Kenner des
päpstlichen Urkundenwesens im 14. Jahrhundert, einen kundigen Bearbeiter des
in Betracht kommenden Materials gefunden hat. Jeder, der einmal mit Ur-
kundenpublikationen zu tun gehabt hat, wird gerade diese mit besonderem Ver-
gnügen zur Hand nehmen, da sie ihm Belehrung nach den mannigfachsten
Seiten hin bietet." Historisches Jahrbuch 1903 (Jansen).
„Der reiche Ertrag dieser beiden Fortsetzungen zweier wertvoller Publi-
kationen ist doppelter Art. Einmal wird die Kenntnis der einzelnen politischen
und kirchenpolitischen Begebenheiten der Landes- und Reichsgeschichte durch
manches Stück der beiden Sammlungen wesentlich vertieft. Sodann aber
wird uns ein umfassendes neues Material für die Schilderung der kirch-
lichen Zustände vorgelegt."
Korrespondenzblatt der Westdeutschen Zeitschrift 1905.
QUELLEN ZUR LOTHRINGISCHEN GESCHICHTE
Band IV.
Die MetZer Chronik des Jaique Dex über die
Kaiser und Könige aus dem Luxemburger Hause. Heraus-
gegeben von Geh.-Rat Dr. GEORG WOLFRAM. XCV und
533 Seiten. Broschiert Mark 15.—
„Der 4. Band bietet in mustergültiger Ausgabe, die von dem Metzer Archiv-
direktor mit größter Sorgfalt besorgt ist, die bisher unedierte, umfangreiche
Chronik der Kaiser und Könige aus dem Luxemburger Hause."
Jahrbuch der Görresgesellschaft. 1907.
„Das deutsche Mittelalter wird kaum eine zweite Quellenreihe von solcher
Reichhaltigkeit für die Geschichte des Volksempfindens in einem bestimmten
Zeitraum aufweisen; als solche sind sie wohl noch höher einzuschätzen, als der
Herausgeber es tut." Mitteilungen aus der historischen Literatur. 1908. (Müsebeck.)
„J'ajouterai que l'editeur a rempli sa täche d'une maniere exemplaire.
L'introduction, qui ne comprend pas moins de xcv pages, est un modele de
critique ferme et penetrante, et de discussion ä la fois sobre et exhaustive. Un
glossaire, que recommande le nom de l'auteur, M. F. Bonnardot, et une table
des noms de personnes et de lieux achevent la toilette de cette publication, qui
fait honneur ä la fois ä la societe sous les auspices de laquelle eile parait et ä
l'erudit qui lui a consacre ses soins intelligents." Archives Beiges. 1906. (S. Kurth.)
„It is an acquisition to the history of Europe, and its author, identified
by Dr. Wolfram, becomes a new and vigorous personality among the chronic-
lers Of the closing middle age." Scottish Historicel Revier. 1907. (Nelson.)
Band V und VI.
Die Metzer Bannrollen des xiii. Jahrhunderts.
Herausgegeben von Dr. KARL WICHMANN. Band 1: LXXXII
und 441 S. Brosch. Mark 20.-. Band 2: Im Druck, ca. Mark 20.-
Seit im Jahre 1861 W. Arnold zum ersten Male die Fülle wichtiger
Probleme, die sich aus den wirtschaftlichen und rechtlichen Verhältnissen des
städtischen Eigentums im Mittelalter ergeben, teils gestellt, teils auch beantwortet
hat, ist die Forschung auf diesem neuen Pfade wissenschaftlicher Erkenntnis
rüstig weitergeschritten. Die große Zahl seitdem veröffentlichter Urkundenbücher
erschloß ungeheueres, meist noch kaum berührtes Material; und besondere Quellen-
publikationen zur Erkenntnis der städtischen Gesundheitsverhältnisse traten hinzu.
Die darstellende Geschichtsforschung blieb nicht zurück und vertiefte die von
Arnold behandelten Probleme durch eine große Zahl von Einzeluntersuchungen.
In der Erkenntnis der Bedeutung dieses Zweiges der Geschichtsforschung
für die Rechts- und Wirtschaftsgeschichte, aber auch der Lokalgeschichte, hat die
QUELLEN ZUR LOTHRINGISCHEN GESCHICHTE
„Gesellschaft für lothringische Geschichte" beschlossen, einen Teil der hierher
gehörigen Metzer Quellen, die Bannrollen für das 13. Jahrhundert, der allge-
meinen Kenntnis zugänglich zu machen. Dr. K. Wichmann hat die mühsame
Arbeit der Beschreibung des gewaltigen und unhandlichen Materials (für das
13. Jahrhundert liegen 7894 Einzeleintragungen auf 17, z. T. über 8 Meter langen
Rollen vor) übernommen, und als erste Frucht des langjährigen Editionswerkes
liegt der erste Band der Bannrollen nunmehr vor.
Band IX.
Cahiers de doleances des communautes en
1789. I. Bailliages de Boulay et de Bouzonville. Publie par
N. DORVAUX et P. LESPRAND. XV u. 547 Seiten. Brosch.
Mark 20.-.
Es gibt nur wenige Quellenschriften, die von so lebendigem Interesse und
von so großem Nutzen für die Erkenntnis vergangener Zustände sind, wie die-
jenigen, welche der genannte Band für einen Teil des Bezirks Lothringen uns
zugänglich macht. Es sind die Beschwerdehefte der einzelnen Gemeinden
der Ämter (bailliages) Bolchen und Busendorf, die als Grundlagen für
die Beschwerden des dritten Standes des ganzen Amtbezirks dienen sollten; es
sind also die Äußerungen der Bevölkerung selbst, die „ursprünglichsten Kund-
gebungen des Willens der Wähler des dritten Standes". Allerdings muß die
Benutzung mit einiger Vorsicht geschehen, da bei dem niedrigen Stande der
Bildung, bei der herrschenden Unkenntnis der Schrift Und bei der allgemeinen
politischen Unerfahrenheit namentlich die gutmütigen Bewohner des flachen Landes
häufig von mehr oder minder ehrenwerten Persönlichkeiten stark beeinflußt
wurden, auch, wie nachgewiesen und ausdrücklich überliefert ist, gedruckte
Muster von Beschwerdeheften, wie sie.- beispielsweise Philipp von Orleans
massenhaft verbreiten ließ, vielfach zu Grunde lagen. Aber wenn man sie der
Einzelkritik unterwirft und sorgfältig sichtet, so ersteht aus den hochwertigen
und auch aus den nur teilweise wertvollen Beschwerdeheften ein Gemälde der
Kultur in den einzelnen Teilen Frankreichs von 1789, wie es klarer und farben-
reicher nicht gedacht werden kann.
Band XII.
Wörterbuch der Deutsch * lothrin*
I gischen Mundarten. Bearbeitet von m. f. foll-
MANN. XVI u. 571 Seiten. Broschiert Mark 32.-
Das Wörterbuch faßt den Wortschatz der heutigen Volkssprache in den
deutsch redenden Teilen des Bezirks Lothringen wissenschaftlich bearbeitet zu-
sammen und verzeichnet dabei besonders die von der Schriftsprache abweichenden
Wörter und Wendungen; wo es nötig ist, werden diese auch erklärt. Die Sprache,
QUELLEN ZUR LOTHRINGISCHEN GESCHICHTE
die auf diesem Gebiete gesprochen wird, ist eine fränkisch-alemannische Misch-
sprache mit überwiegend fränkischen Elementen im Nordwesten, die allmählich
stärkeren alemannischen Bestandteilen Platz machen, je weiter man nach Süd-
osten vorrückt. Es kommen folglich von deutschen Mundarten in Betracht:
Das Mittelfränkische oder die Sprache der Ripuarier und Moselfranken, das Süd-
fränkische oder die Sprache der Oberfranken und das Alemannische. Unter den
französischen Bestandteilen befinden sich zunächst solche Wörter, die auch
in vielen anderen deutschen Mundarten vertreten sind und heute noch fortleben.
Zu dieser Gruppe kommt aber noch eine stattliche Reihe von französischen Ent-
lehnungen, die den lothringischen Grenzmundarten allein eigentümlich sind.
So ist dies Wörterbuch des deutsch-lothringischen und Metzer Dialektes nicht
nur für Germanisten und Romanisten von größtem Werte, sondern es wird
auch in geschichtlicher Beziehung zur Klärung der Siedelungsfrage beitragen.
In Vorbereitung: befinden sich:
:: Die Metzer Bischofschronik (15. Jahrhundert) ::
:: Metzer Schöffenchronik (15. Jahrhundert) ::
Die Chronik des Philipp von Vigneulles (16. Jahrhundert)
Die Chronik des Praillon (16. Jahrhundert) ::
Die Cölestiner-Chronik (15. Jahrhundert) ::
Dictionaire du Patois Messin
Metzer Bischofsregesten ••
Protokolle des Metzer Domkapitels vom Jahre 1344 bis 1461
VERLAG VON QUELLE & MEYER IN LEIPZIG
Veröffentlichungen der Gesellschaft
für
fränkische Geschichte
Die Gesellschaft für fränkische Geschichte hat sich die Auf-
gabe gestellt, die bisher unveröffentlichten, wertvollsten Quellen
zur Geschichte Frankens den modernen Anforderungen der Ge-
schichtswissenschaft entsprechend herauszugeben und einschlägige
Forschungen auf dem Gebiete fränkischer Geschichte anzuregen
und zu fördern.
Im besonderen sollen die chronologischen Aufzeich-
nungen der fränkischen Städte, die Urkunden der Kolle-
giatstifter und Klöster, der städtischen Gemeinwesen
und Adelsgeschlechter der Forschung zugänglich gemacht
werden; interessant werden namentlich die Quellenpublikationen
und Bearbeitungen aus dem Gebiete der Wirtschaftsgeschichte
sein: Rechnungsbücher, Urbare, Zins- und Lehenbücher
der Herrschaften, Weistümer und Stadtrechte, Rats- und
Zunftbücher harren der Veröffentlichung, die Landtagsakten
der verschiedenen fränkischen Territorien der Bearbeitung.
Eines besonderen Hinweises auf die Bedeutung all dieser
Publikationen bedarf es für den Fachmann nicht. Lag doch Franken
fast im Mittelpunkt des alten Reiches. Neben Schwaben, Ale-
mannien und den rheinischen Gebieten war hier der vornehmste
Schauplatz der Wirksamkeit unserer Könige und Kaiser. Die öffent-
lich-rechtlichen und privatrechtlichen Einrichtungen dieses Ge-
bietes haben im weiten Umkreise als Muster gedient. So dürften
diese Publikationen auch wichtige Beiträge zur allgemeinen deutschen
Geschichte bringen.
Bisher erschienen:
Chroniken der Stadt Bamberg. Erste
Hälfte. Nach einem Manuskripte von TH. KNOCHENHAUER
neu bearbeitet und herausgegeben von Prof. Dr. ANTON
VERÖFFENTL. D. GESELLSCHAFT F. FRANK- GESCHICHTE
CHROUST in Würzburg. gr. 8. LXXII und 368 Seiten. Ge-
heftet Mark 15.— Subskriptionspreis Mark 12.— Zweite Hälfte.
Von DEMS. gr. 8. ca. 400 Seiten. Geheftet ca. Mark 15.-
Subskriptionspreis ca. Mark 12.—
Diese älteste Geschichtsaufzeichnung bürgerlicher Kreise, die
uns aus Bamberg erhalten ist, betrifft die Streitigkeiten, die sich
insbesondere im vierten Jahrzehnt des 15. Jahrhundert zwischen
der Bürgerschaft des Stadtgerichts und dem Klerus in Bamberg
wegen der gesetzlichen Immunitäten zugetragen, zum Einschreiten
von Kaiser, Papst und Baseler Konzil und zu einem Zusammen-
prall dieser Gewalten führten. Eine richtige Ergänzung des natür-
lich parteiisch gefärbten Berichtes bilden die im Anhange mit-
geteilten Urkunden, die interessante Aufschlüsse über rechtliche
und wirtschaftliche Verhältnisse geben.
Der zweite, in Vorbereitung befindliche Halbband, dem auch
das Register des ersten beigegeben wird, enthält zwei Berichte
über den Bauernaufstand in Bamberg (1525) und zwei über Bam-
bergs Schicksale in der Markgrafenfehde (1553).
Zusammen bilden diese Aufzeichnungen die Fortsetzung
der von der Historischen Kommission in München herausgegebenen
Chroniken der deutschen Städte.
„Auch sonst ist seitens des Herausgebers alles geschehen, um das Werk
durchaus musterhaft zu gestalten, im Einklang mit der ganzen äußeren Aus-
stattung, die in jeder Beziehung gediegen genannt werden muß."
P. Albert. Alemannia. Bd. 9, Heft 1. 1908.
„Die Publikation, die eine mustersriltisre Edition genannt werden darf,
verdient trotz des rein lokalen Inhalts die Beachtung weiter Kreise".
Frz. Knöpfler. Literarisches Centralblatt für Deutschland. 28. März 1908.
Geschichte des fränkischen Kreises.
Von Dr. FR. HÄRTUNG. Bd. I. ca. 290 Seiten. Geheftet
ca. Mark 9.— Subskriptionspreis ca. Mark 8.20
Verfasser gibt zunächst eine allgemeine Darstellung der Entwicklung des
Einheitsgedankens in den einzelnen deutschen Landschaften von den ersten An-
fängen des XI. Jahrhunderts bis 1521. Daran schließt sich die Geschichte des
fränkischen Kreises im besonderen von 1521 — 1559. Im Anhang wird eine
Auswahl der wichtigsten Akten mitgeteilt.
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